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Kein Entgegenkommen in Sicht
Zwei Meldungen über Julia Timoschenko gingen kurz vor dem Gipfel durch die ukrainischen Zeitungen. Aber weder die eine, noch die andere wird die EU-Gesandten milder stimmen. Erstens: In Julia Timoschenkos Krankenzimmer wird die Kamera abgebaut, hat Präsident Janukowitsch verfügt. Zweitens: Julia Timoschenko braucht angeblich keine medizinische Behandlung mehr, sagt der ukrainische Gesundheitsminister, was bedeutet, die populäre Gefangene muss zurück in die Frauenhaftanstalt Charkow.Die Nachricht, die den Ausgang des Treffens hätte verändern, die zu einer Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der Ukraine in diesem November in der litauischen Hauptstadt Vilnius womöglich hätte führen können, wäre ihre Begnadigung oder vorzeitige Haftentlassung. Doch davon ist keine Rede. Nicht beim Präsidenten, nicht beim ukrainischen Botschafter in Deutschland, Pawlo Klimkin:"Gemäß der ukrainischen Gesetzgebung kann man so was nur machen, wenn ein Antrag auf Begnadigung gestellt wird. Und dieser Antrag ist – soviel ich weiß – nicht da."Statt die ehemalige Regierungschefin zu begnadigen, sieht Präsident Janukowitsch zu, wie gerade ein neues Verfahren eröffnet wird. Nach der ersten Anklage wegen Amtsmissbrauchs, der zweiten wegen Steuerhinterziehung lautet die dritte nun Mord."Es gibt den Verdacht im Falle des Mordes an einem Abgeordneten. Aber die Ermittlungen laufen und auf Spekulationen werde ich auf gar keinen Fall eingehen."Ein Verfahren, das jetzt noch einmal aufgerollt wird, das 2003 bereits eingestellt worden war, weil Timoschenko keine Beteiligung an dem mafiaähnlichen Überfall auf den Geschäftskonkurrenten nachgewiesen werden konnte.Polens Präsident Komorowski, traditionell ein Anwalt der Ukraine in der EU, erinnert seinen Amtskollegen in Kiew diplomatisch verklausuliert daran, dass er sich bewegen muss."Ich möchte meinen persönlichen Optimismus äußern, wenn es um die Gesten und Entscheidungen geht, die Präsident Janukowycz angekündigt hat. Sie sind mit zwei Namen verbunden – Tymoszenko und Lucenko."Letzterer ist der ehemalige Innenminister der Regierung Timoschenko, ebenfalls in Haft. Kiews Mann in Berlin hat die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen geleitet, es ist auch sein Abkommen, und erst dann ein wirklicher Erfolg, wenn die Tinte darunter trocken ist. Doch die Unterschriften wird es ohne Bewegung im Fall Timoschenko nicht geben, lautet die klare Ansage aus Brüssel, der Vorwurf: selektive Justiz. Kiew dagegen möchte die Dinge voneinander trennen. Erst das Abkommen unterschreiben, dann Reformen. Umgekehrt, sagt die EU, erst die Reformen, dann das Abkommen, denn sie hat zum Beispiel im Fall Bulgarien und Rumänien Schiffbruch erlitten.Timoschenko im In- und Ausland schlechtzumachen, ist nicht schwer. Die ukrainische Regierung verweist auf das von ihr mit Putin ausgehandelte Gasabkommen, unter dem die Ukraine ächzt. "Die Preise sind die höchsten in Europa. So eine Menge brauchen wird nicht. Aber auch wenn die Wirtschaft normal läuft. Deswegen verhandeln wir mit Russland, dass wir einen neuen, fairen Vertrag abschließen können."Sieben Jahre Haft hatte Timoschenko dieses Gasabkommen eingebracht. Begründung: Amtsmissbrauchs. Der Ukraine nimmt das teure Gas die Luft zum Atmen, zumal die veralteten Schwerindustriebetriebe Energiefresser sind. Seit 2009 wird Energie gespart, wo immer möglich. Effekt: Der Verbrauch sank auf die Hälfte, wozu auch die Krise beigetragen hat. Kiew nahm Russland nur die Hälfte der vertraglich vereinbarten Menge ab. Soll jetzt aber, getreu dem Motto "take or pay", die volle Summe zahlen.Noch ist offen, ob das ukrainische staatliche Naftogas-Unternehmen gerichtlich gegen die russischen Zahlungsforderungen für das nicht abgenommene Gas vorgeht.
Von Sabine Adler
Beim EU-Ukraine-Gipfel geht es um Reformen und Handel. Die EU bietet der Ukraine die Ratifizierung eines wichtigen gemeinsamen Handelsabkommens an. Im Gegenzug verlangt die EU Reformen vor allem im Justizsektor.
"2013-02-25T08:10:00"
"2020-02-01T15:08:56.971000"
https://www.deutschlandfunk.de/kein-entgegenkommen-in-sicht-100.html
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Du alter Streber!
Mittags halb eins: Große Hofpause am Kant-Gymnasium in Leipzig. Die Schüler hier wissen ziemlich genau, was sie unter einem Streber verstehen, in jedem Fall nichts Gutes:Benjamin (11. Klasse): " Bei mir ist ein Streber jemand, der immer zuhause hockt, immer lernt und andauernd den Lehrern in den Arsch kriecht soweit es irgendwie geht. Die melden sich auch immer sobald der Lehrer was wissen will. "Jonas (9. Klasse): " Die mag halt keiner, weil die nur am Lernen sind und den ganzen Tag nix anderes machen. Klar, für die Noten ist es gut, aber wenn man sich nicht mit Freunden trifft, find ich das nicht so gut. "Alexandra (10. Klasse): " Jemand der sich bei den Lehrern total einschleimt, die anderen von oben herab anguckt als wäre er was Besseres und immer wirklich jede Aufgabe gemacht hat. Und der eben permanent nur Einsen hat. "Rahel (5. Klasse): " Wir haben so einen in unserer Klasse auch drin. Der hat zwar ein paar Freunde, aber die sind auch so komisch. Die hopsen beim Melden immer so hoch und sind alle ein bisschen komisch. "Kein Zweifel, das Phänomen "Streber" ist bekannt an deutschen Schulen. Aber: Jeder hat so seine eigene Interpretation des Begriffs. Eine objektive Definition gibt es nicht, oder doch? Katrin Rentzsch, Psychologie-Diplomandin TU Chemnitz: " Wie unsere Befunde zeigen, ist ein typischer Streber jemand, der sehr gute Noten und relativ wenig Freunde hat, vielleicht auch etwas unattraktiv ist, keinen anderen Aktivitäten wie Sport oder so nachgeht, sondern wirklich nur lernt. Aber das ist wirklich nur das Bild, was man von einem Streber hat, ein Stereotyp. Das entspricht nicht dem, wie die Schüler dann tatsächlich auch sind, die als Streber bezeichnet werden. "Katrin Rentzsch muss es wissen. Die 22-jährige Psychologie-Absolventin hat gerade an der TU Chemnitz eine Diplomarbeit geschrieben - über Streber. Ein bisher weltweit fast unberührtes Forschungsland. " Es gab zwar schon einmal eine Studie dazu in Deutschland, die sich aber mehr mit Noten und Leistung beschäftigte. Und wir versuchen nun, das ganze Phänomen zum ersten Mal abzudecken - also, mit welchen Merkmalen es einhergeht, welche Definition man finden und wie weit diese gefasst werden kann. "Rund 320 Chemnitzer Schüler hat Katrin Rentzsch dafür befragt. Ihre Ergebnisse liefern den Beweis, dass weit mehr Jugendliche mit dem Strebervorwurf leben, als vermutet." Allein 22 Prozent der Schüler wurden manchmal bis häufig als Streber bezeichnet. Und 33 Prozent aller Schüler nannten andere Streber, also waren in dem Sinne die Hänselnden. Und wir fanden auch, dass fast ein Viertel aller Schüler Angst hat, als Streber bezeichnet zu werden. Also es scheint doch bei den Betroffenen mit einem gewissen Leidensdruck einherzugehen. "Angst davor, als Lehrerliebling abgestempelt und von den anderen gemieden zu werden. Die Vorsitzende der GEW-Sachsen, Sabine Gerold, sieht das Problem zwar nicht als vordergründig im Schulalltag, weiß aber um dessen Existenz." In einer Leistungskultur, wo Einige es als gerecht oder ungerecht empfinden, entstehen natürlich auch Stigmatisierungen unter den Betroffenen, die Leistung erbringen sollen. Und in diesem Kontext entsteht auch die Bewertung derer, die im Besonderen Maße nach guten Leistung streben. Und das wird negativ besetzt und der Begriff Streber von Schülern auch als Schimpfwort benutzt. "Oder anders ausgedrückt, gute Leistungen erzeugen Neid und Missgunst. Warum das so ist, kann auch Katrin Rentzsch nicht sagen. Sie vermutet aber, dass es am deutschen Gesellschaftssystem liegt, welches eher auf Gleichheit abzielt." Und wenn dann eben Einer eine sehr gute Leistung zeigt, dann kann es vorkommen, dass derjenige abgewertet wird, weil er eben aus der Reihe springt, weil er nicht konform mit den anderen ist. Und deswegen wird er abgelehnt und deswegen könnten auch derartige Phänomene zustande kommen. "Kritisch wird es dann, wenn der Strebervorwurf als verbale Gewalt empfunden wird, eine Art Vorstufe von Mobbing also. Wenn aus der Angst als Streber zu gelten plötzlich eine Angst vor guten Noten wird." Natürlich kann man jetzt beim Strebervorwurf nicht direkt gleich von verbaler Gewalt sprechen, aber es scheint schon so zu sein, dass diejenigen mit sehr guten Noten versuchen, ihre Leistungen nach unten zu korrigieren, weil sie Angst vor dem Strebervorwurf haben. Sie zeigen schlechtere Leistungen, als sie eigentlich haben könnten. Und das ist schon relevant, insbesondere wenn unsere Gesellschaft nach guten Leistungen verlangt. "In diesem Punkt tragen Schüler, Eltern und natürlich auch Lehrer eine besondere Verantwortung, meint Sabine Gerold von der GEW." Unsere Kollegen haben die Aufgabe - und viele meistern das auch in dem gegliederten System sehr gut - die Anforderungsniveaus im Unterricht so zu gestalten, dass alle Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen Erfolgserlebnisse haben. "Denn wo das geschafft wird, entstünde auch kein Neid auf vermeintlich Leistungsstärkere. Und dann wäre das Thema "Streber" auch keines mehr unter den Schülern. Wer sich angesprochen fühlt, kann sich auf der Webseite: Ich war ein Streber näher über das Thema informieren. Hier gibt es nützliche Tipps, wie man sich als Schüler oder Student verhalten kann, wenn man von anderen nicht als Streber bezeichnet werden möchte. Außerdem hat Katrin Rentzsch hier in einem Gastartikel noch einmal Kernpunkte ihrer Diplomarbeit zusammengefasst.
Von Michael Naumann
Sie werden gehänselt, gemieden und als Außenseiter diffamiert - für so genannte Streber kann der Uni- oder Schulalltag schnell zur Qual werden. Als Professoren- oder Lehrerlieblinge beschimpft, erleben sie nicht selten einen sozialen Spießroutenlauf. Und dabei zeigen Streber doch eigentlich nur die Leistung und den Eifer, die in Deutschland immer wieder gefordert werden. Doch statt Anerkennung schlagen ihnen Neid und Missgunst entgegen.
"2007-01-27T13:05:00"
"2020-02-04T11:23:26.045000"
https://www.deutschlandfunk.de/du-alter-streber-100.html
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"KZ-Gedenkstätten sind auch Zeitzeugen"
Ort des Verbrechens: Gedenkzeichen im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen (Deutschlandradio / Ann-Kathrin Büüsker ) 76 lange Jahre ist das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Europa mittlerweile her. Mehrere Generationen sind seitdem groß geworden und längst ist es an den sogenannten Kriegsenkeln oder sogar Kriegsurenkeln, die Erinnerungen an den Holocaust wach zu halten. Welche Rolle dabei den einstigen Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, den heutigen KZ-Gedenkstätten, zukommt – das ist in diesen Tagen das Thema einer internationalen Konferenz, zu der die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten eingeladen hat. "Digitalisierung ist notwendig" Stiftungsdirektor Axel Drecoll sagte im Dlf, die permanent hohen und teilweise sogar steigenden Besucherzahlen zeigten, dass KZ-Gedenkstätten nach wie vor ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur seien. Vieles spreche dafür, dass die "verräumlichte Erinnerung" umso wichtiger werde, wenn uns diejenigen, die die persönliche Erinnerung tragen, verlassen. Sieht "große Herausforderung von rechts": Axel Drecoll, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen (dpa / picture alliance / Ralf Hirschenberger) Der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen betonte außerdem, dass die Digitalisierung in der Gedenkstätten-Arbeit eine immer wichtigere Rolle spiele: "Die Digitalisierung ist notwendig, weil sich das Rezeptionsverhalten der Besucherinnen und Besucher erheblich verändert hat." Man wolle die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Außerdem finde Zivilgesellschaft zunehmend im Netz statt und die KZ-Gedenkstätten "wollen selbstverständlich Teil dieser Zivilgesellschaft sein." "Starke Herausforderung von rechts" Dennoch stehe die Arbeit am historischen Ort nach wie vor im Zentrum der Gedenkstätten-Tätigkeiten: "Unsere Bildung ist maßgeblich darauf ausgerichtet, am historischen Ort Geschichte zu analysieren und zu diskutieren." Das könne man auf Dauer nicht eins zu eins im virtuellen Raum ersetzen, so Drecoll im Dlf. Mit Blick auf die jüngsten antisemitischen Vorfälle in Deutschland sagte der Gedenkstättenleiter: "Es gibt eine starke Herausforderung von rechts. Was uns da besonders Sorge bereitet, ist der Umgang mit Sprache. Dass wir in den letzten Jahren zunehmend erleben müssen, dass im Alltagsgebrauch und auch in Parlamenten diskriminierende Äußerungen gegenüber Jüdinnen und Juden und anderen Minderheiten fallen, ist für uns ganz besorgniserregend."
Axel Drecoll im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Erinnerung wach halten, auch wenn kaum noch Zeitzeugen leben - vor dieser Aufgabe stehen KZ-Gedenkstätten in den kommenden Jahren. Umso wichtiger werde das "topografische Gedächtnis", sagte Gedenkstätten-Leiter Axel Drecoll im Dlf. Die Stätten seien "steinerne Zeugen" der NS-Verbrechen.
"2021-05-18T15:35:00"
"2021-05-19T13:59:08.101000"
https://www.deutschlandfunk.de/holocaust-erinnerung-kz-gedenkstaetten-sind-auch-zeitzeugen-100.html
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Der Marathon-Mann vom DOSB
Alfons Hörmann ist neuer Chef des deutschen Sports. Der 53 Jahre alte Unternehmer wurde am Samstag bei der 9. DOSB-Mitgliederversammlung in Wiesbaden mit überwältigender Mehrheit zum neuen Präsidenten und damit zum Nachfolger von Thomas Bach gewählt. "Mir ist klar, dass die vor uns liegenden Aufgaben nicht dem Format eines 100-Meter-Laufs entsprechen. Das Bild des Marathons ist stimmiger. Ich bin bereit, diesen Marathon anzugehen, sofern sich viele fleißige Helfer beteiligen", sagte Hörmann, der in seiner Vorstellung vor den Delegierten von einer "großen, großartigen Aufgabe" sprach. Er kann mit einem eindrucksvollen Vertrauensbeweis im Rücken sein Amt antreten: 434 Mitglieder stimmten für den einzigen Kandidaten, nur 25 gegen ihn - das entspricht einem Votum von 94,6 Prozent. "Mit diesem Vertrauensbeweis fühle ich mich gestärkt, den Marathon anzugehen", sagte Hörmann. Rückendeckung von Vorgänger Bach Der Allgäuer, der die Präsidentschaft von Bach zu Ende führen wird und sich deshalb schon in einem Jahr wieder zur Wahl stellen muss, hatte schon vor seiner Inthronisierung Rückendeckung von seinem Vorgänger erhalten. "Statten Sie Ihren neuen Präsidenten mit einem starken Mandat aus, das ihm erlaubt, unseren DOSB mit aller Kraft zu vertreten. Unterstützen Sie ihn, wie Sie mich in den letzten sieben Jahren unterstützt haben", sagte Bach, der das DOSB-Spitzenamt nach seiner Wahl zum IOC-Präsidenten am 10. September niedergelegt hatte. Bach selbst wurde ohne Gegenstimme zum DOSB-Ehrenpräsidenten gewählt - und kämpfte während seiner Dankesrede mit den Tränen: "Das ist ein weiterer emotionaler Moment für mich. Ich freue mich riesig über diese Wahl und diese große Zustimmung. Der DOSB ist und bleibt ein Teil meines sportlichen Lebens." Er dankte ausdrücklich Hans-Peter Krämer, der den DOSB nach seinem Rücktritt als Übergangspräsident geleitet hatte und nun bis Ende 2014 wieder als Vizepräsident Finanzen fungieren wird. Unternehmer aus Sulzbach und bislang Präsident des Deutschen Skiverbandes Hörmann, Unternehmer aus Sulzbach und bislang Präsident des Deutschen Skiverbandes (DSV), steht vor einem "Mammutprogramm", wie er selbst sagte. In zwei Monaten beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi, wo voraussichtlich 169 deutsche Athleten (82 Männer/87 Frauen) um Medaillen kämpfen werden. Doch vor allem die inhaltlichen Herausforderungen sind enorm. Finanzmangel macht dem deutschen Sport schwer zu schaffen, die Diskussionen über ein Anti-Doping-Gesetz sind im vollen Gange. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich machte Hörmann und dem kompletten DOSB Mut für die künftigen Aufgaben. Der CSU-Politiker setzte sich nach dem krachenden Scheitern der Münchner Bewerbung um die Winterspiele 2022 vehement für einen erneuten Vorstoß ein: "Olympische Spiele in Deutschland - das bleibt das Ziel. Olympische Spiele sind mehr als ein sportliches Großereignis, sie sind auch Gelegenheit für ein Land, sich zu präsentieren." Bundesinnenminister Friedrich erteilt Absage Friedrich sorgte aber auch für Ernüchterung. Der intensiven finanziellen Forderung des DOSB nach mehr Geld erteilte er eine klare Absage: "Ich glaube nicht, dass ein Zig-Millionen-Wunschzettel weiterhilft. Wir müssen uns im gesamten Bundeshaushalt fragen, wie wir die Gelder umschichten können. Diese Aufgabe kommt auch auf die Sportverbände zu."
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Der Deutsche Olympische Sportbund hat einen neuen Chef: Alfons Hörmann folgt Thomas Bach, der inzwischen Chef des Internationalen Olympischen Komitees ist. Es gab viel Grund zur Freude, Bundesinnenminister Friedrich sorgte aber auch für etwas Ernüchterung.
"2013-12-07T17:25:00"
"2020-02-01T15:49:43.397000"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-olympischer-sportbund-der-marathon-mann-vom-dosb-100.html
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"Beginn einer chinesischen Schaukelpolitik"
Der Direktor des Mercator Instituts für China-Studien (MERICS), Sebastian Heilmann, aufgenommen am 25.10.2013 in Berlin. (dpa/picture-alliance/Marco Urban) Jasper Barenberg: Aus Sicht Chinas war Deutschland bisher vor allem in einer Hinsicht wichtig und interessant: als Wirtschafts- und Handelspartner. Die Zahlen sprechen für sich: Wir exportieren so viele Waren in die Volksrepublik wie Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zusammen. In dieses Bild passt, dass mehr als 100 Wirtschaftsfachleute Chinas Staatschef Xi Jinping zu seinem Besuch heute begleiten. Auch diese Reise soll für Wirtschaftsabkommen und Geschäfte genutzt werden. Das Xi in Berlin aber auch eine Rede zu Chinas Rolle in der Welt halten wird, ist schon ein erster Hinweis darauf, dass es dieses Mal um mehr gehen könnte. Gerade erst hat Peking angekündigt, dass es sich als verantwortliche Großmacht betrachtet, die sich aktiver in die internationale Politik einbringen will. Der Konflikt um die Ukraine und um die Krim haben allerdings auch gezeigt, wie schwierig das auch sein kann. – Aus Berlin ist uns jetzt Sebastian Heilmann zugeschaltet, der Direktor des Mercator-Instituts für China-Studien. Schönen guten Morgen, Herr Heilmann. Sebastian Heilmann: Guten Morgen, Herr Barenberg. Barenberg: Kommt mit Xi Jinping ein Staatschef mit Ambitionen, auf der politischen Weltbühne stärker mitzumischen? Heilmann: Auf jeden Fall. Wir haben zum ersten Mal hier eine chinesische Administration vor Augen, die auch geostrategische Interessen formuliert, die wirklich eine aktivere Rolle in der Welt anstrebt und dazu auch steht, und dieser Xi Jinping verkörpert tatsächlich den Eintritt Chinas in die aktive Weltpolitik. Insofern hat dieser Besuch in Deutschland ein ganz neues Potenzial, eine neue Dimension. Bisher ging es fast immer ganz vornehmlich um Wirtschaftsbeziehungen, diesmal ist Sicherheitspolitik und Weltpolitik im Zentrum der Gespräche in Berlin. Barenberg: Und ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang wird natürlich die Ukraine sein, und da haben ja Beobachter sehr aufmerksam registriert, dass China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über das Krim-Referendum der Stimme enthalten hat und nicht an der Seite Russlands mit abgestimmt hat. Ein wie deutliches Zeichen für eine Distanzierung gegenüber Russland ist das denn? Heilmann: Das ist natürlich keine explizite Distanzierung, dass China sagt, was Russland gemacht hat ist falsch, sondern es geht hier darum, Spielraum zu gewinnen. Die chinesische Seite will natürlich nicht immer im Windschatten Russlands segeln in dieser internationalen Politik. Die Phase, denke ich, wird demnächst zu Ende gehen. Und insofern positioniert sich die chinesische Führung jetzt so, dass sie auch auf den Westen zugehen kann, jeweils abhängig von der Lage der Krise, die zu bearbeiten ist. Insofern würde ich jetzt damit rechnen, dass das nicht auf offener Bühne stattfindet, aber dass hinter den Kulissen auch heute in Berlin in den Gesprächen mit Angela Merkel tatsächlich sich neue Spielräume auftun. Wir haben also hier ein besonderes Zeitfenster, besondere Gelegenheiten, um China enger einzubinden in eine verantwortliche Bearbeitung von solchen Krisen wie in der Ukraine. Barenberg: Ein wichtiges Prinzip der chinesischen Außenpolitik war ja vor allem in der Vergangenheit dieses Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Nun hat ja das Moskau gerade verletzt. Insofern ist nachvollziehbar, dass China da ein bisschen auf Distanz geht. Aber anders herum gefragt: Wie weit sind denn dann die Spielräume, die Sie skizziert haben, gerade wenn es darum geht, sich der Haltung des Westens anzunähern? Heilmann: Das wird, denke ich, nicht so einfach sein. China wird natürlich versuchen, so eine Art Schaukelposition aufzubauen, wo die größten Vorteile jeweils zu finden sind in den Beziehungen zum Westen und in den Beziehungen zu Russland. Das heißt, Russland bleibt wertvoll für China natürlich als Partner, der notfalls beispringt, der dem Westen Paroli bieten kann, wenn die eigenen Interessen betroffen sind. Außerdem liefert Russland natürlich viele Rohstoffe, viel Energie. Da kann China durchaus jetzt auch mehr abbekommen, falls die Europäische Union ihre Bezugsquellen umsteuert für Energie und Rohstoffe. Dann kann China natürlich wahrscheinlich auf Energie aus Russland zurückgreifen. Das heißt, da ist ein großes Spiel im Gange, wo China versuchen wird, einerseits sehr gute Beziehungen zum Westen auch zu halten, die wirtschaftlich essenziell sind, unabdingbar sind, auf der anderen Seite aber auf keinen Fall einen offenen Bruch mit Russland herbeiführen wird. Wir sehen hier also den Beginn einer chinesischen Schaukelpolitik, die uns wahrscheinlich die nächsten Jahre begleiten wird. Barenberg: Sie sprechen von einer Schaukelpolitik. Man kann ja auch sagen, das ist ein Spagat, das ist ein Dilemma. Hat denn die Kanzlerin, hat Angela Merkel anders als andere vielleicht besondere Möglichkeiten, auch was den Ruf Deutschlands in China angeht, da etwas zu bewegen? Heilmann: Deutschland hat in der Tat in China den Ruf, ein ehrlicher Makler zu sein, und das beruht auch ganz einfach auf der Tatsache, dass wir keine geostrategischen Interessen in Ostasien haben. Das heißt, China fühlt sich keineswegs bedrückt wie etwa von Russland oder von den USA an den Grenzen. Das gibt es immer wieder, diese Ängste gegenüber gewissen anderen Mächten. Russland ist auch da kritisch. Deutschland gilt als ehrlicher Makler, der tatsächlich auch vermitteln kann, der Positionen vertritt, die nicht nur aufs eigene Konto gehen, nicht nur den eigenen nationalen Interessen dienen, und das ist ein Vorteil. Das ist tatsächlich jetzt heute in Berlin zu erwarten, dass man offener spricht, als das etwa zwischen Xi Jinping und dem amerikanischen Präsidenten Obama möglich wäre, weil Deutschland mehr Glaubwürdigkeit hat in dem Management solcher Krisen. Barenberg: Wie wichtig sind da denn persönliche Beziehungen und was kann man dazu überhaupt sagen, wenn wir über Angela Merkel reden, über Joachim Gauck und ihre Beziehungen zu dem neuen chinesischen Staatspräsidenten? Heilmann: Persönliche Beziehungen sind schon sehr wichtig. Wir haben eigentlich eine Geschichte von guten persönlichen Arbeitsbeziehungen auch zwischen den Bundeskanzlern in Deutschland seit den 90er-Jahren und den chinesischen Regierungschefs, zum Teil auch den Generalsekretären der Kommunistischen Partei, die ja auch als Staatspräsident Chinas dann fungieren. Das wird also eine erstrangige Aufgabe sein für Angela Merkel, wirklich gute, vertrauensvolle Beziehungen zu diesem Menschen Xi Jinping auch herzustellen, dass man offen reden kann, ohne dass man gleich einschnappt, wenn auch mal ein kritisches Wort fällt, und bisher hat Angela Merkel darin gegenüber chinesischen Führern ein großes Geschick bewiesen. Wir haben heute einen Test vor uns, das wird sehr interessant vom Ergebnis her zu sehen, wie das ausgeht. Barenberg: Und wenn wir diesen Test zum Schluss angucken, Herr Heilmann, müssen wir dann am Ende doch sagen, die Wirtschaftsbeziehungen, die Handelsbeziehungen sind für die chinesische Seite besonders wichtig und stehen an erster Stelle, beispielsweise wenn es um dieses Projekt „Neue Seidenstraße“ geht, ja ein offenbar wichtiges Handelsprojekt, was China gerade vorantreiben will? Heilmann: Das ist schon so, dass China natürlich sehr stark Außenpolitik auch in wirtschaftspolitischen Kategorien denkt, und beispielsweise dieses neue Seidenstraßen-Projekt ist ein Ausdruck davon, dass China eigentlich fest überzeugt ist, dass nur wirtschaftliche Entwicklung in Zentralasien, Westasien Stabilität auf Dauer schafft, also nicht Militäreinsätze, nicht Entwicklungshilfe, sondern wirtschaftliche Entwicklung. Die Gesellschaften müssen dort alle beteiligt werden am globalen Austausch, und dieses Interesse teilt China natürlich mit Deutschland und der Europäischen Union. Da gibt es wirklich viele neue Möglichkeiten der Kooperation. Barenberg: Ganz zum Schluss noch eine weitere Frage. Es heißt ja immer, der Staatspräsident ist sehr kritisch dem Westen gegenüber. Sie sind ziemlich optimistisch, was eine Öffnung des Herrschaftssystems angeht. Woher kommt dieser Optimismus? Heilmann: Eine Öffnung des Herrschaftssystems, da wäre ich nicht so optimistisch jetzt, dass das ausgelöst wird von der Führung, denn gegenwärtig haben wir innenpolitisch in China tatsächlich eher eine Rückwendung zum Zentralismus, zu stärker auch autoritären Steuerungsmechanismen. Aber was die Weltpolitik angeht, findet China momentan in eine neue Rolle hinein. Das ist insofern eine neue Phase unter diesem Xi Jinping. Und die werden zugehen müssen auf mehr Partner, sie werden sich einlassen müssen auch auf Krisenmanagement, müssen sich aktiv beteiligen, weil China überall in der Welt jetzt präsent ist. Das heißt, das ist ein ganz elementares Interesse, die eigenen Bürger zu schützen, die eigenen Unternehmen zu schützen, aber auch friedliches Umfeld zu haben, das diesen Aufstieg Chinas auch flankieren und unterstützen kann. Barenberg: Der Direktor des Mercator-Instituts für China-Studien heute Morgen live hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Sebastian Heilmann. Heilmann: Danke Ihnen, Herr Barenberg. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sebastian Heilmann im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Staatsbesuch des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping in Deutschland markiert nach Ansicht des Chinakenners Sebastian Heilmann den Beginn einer neuen Außenpolitik Chinas. Auf der Suche nach neuen Partnern glaube Peking, in Berlin einen "ehrlichen Makler" in der Weltpolitik zu finden.
"2014-03-28T07:10:00"
"2020-01-31T12:33:17.062000"
https://www.deutschlandfunk.de/xi-jinping-in-berlin-beginn-einer-chinesischen-100.html
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RKI aktualisiert Liste der Coronavirus-Risikogebiete
Coronatest-Kontrollen am Flughafen (dpa / picture alliance / Christian Charisius) Seit Donnerstag, dem 3. März 2022, gelten keine Länder mehr als Hochrisikogebiete. Egal aus welchem Staat man nach Deutschland einreist, bestehen also keine Quarantänepflichten mehr. Grundsätzlich gilt bei einer Einreise nach Deutschland aber weiterhin die 3G-Regel. Ds heißt: Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss einen negativen Test vorweisen können. Diese Nachweispflicht gilt nun ab dem Alter von zwölf statt ab sechs Jahren. Künftig werden Länder nur noch dann als Hochrisikogebiete eingestuft, wenn dort Virusvarianten grassieren, die "besorgniserregendere Eigenschaften" besitzen als die hierzulande dominierende Omikron-Variante. Welcher ausländische Staat in die Liste der Virusvarianten- oder Hochrisikogebiete aufgenommen wird, entscheiden Experten aus dem Auswärtigem Amt sowie aus den Bundesministerien für Gesundheit und Inneres. Die vollständige Liste wird anschließend auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts veröffentlicht. HochrisikogebieteVirusvariantengebieteTest- und Nachweisregeln Hochrisikogebiete Als Hochrisikogebiete werden Länder oder Gebiete ausgewiesen, in denen nach Einschätzung der genannten Experten "ein besonders hohes" Risiko besteht, sich mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 anzustecken. Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden diese Kriterien näher erläutert. Dazu zählen zum Beispiel: eine regelmäßige 7-Tage-Inzidenz von deutlich über 100 eine hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit der Corona-Infektionen viele Krankenhausaufenthalte wegen COVID-19 und/oder eine hohe Rate an positiven Tests bei einer geringen Anzahl an Tests Zwischenzeitlich standen etwa drei Viertel der rund 200 Staaten weltweit auf der Liste der Hochrisikogebiete. Derzeit ist die Liste leer. Virusvariantengebiete Als Virusvariantengebiete werden Länder oder Regionen ausgewiesen, in denen verbreitet eine Variante (= Mutation) des Coronavirus SARS-CoV-2 auftritt, die nicht zum gleichen Zeitpunkt in Deutschland verbreitet ist und von der angenommen wird, dass von ihr ein besonderes Risiko ausgeht. Ein solches Risiko kann beispielsweise sein, dass die Virusvariante zu schweren Krankheitsverläufen führen kann und/oder dass die Immunität nach einer Impfung oder Genesung durch die Variante abgeschwächt ist. Zuletzt waren Großbritannien und mehrere afrikanische Staaten als Virusvariantengebiete eingestuft, weil dort die Omikron-Variante grassierte. Inzwischen hat sie sich jedoch auch in Deutschland stark ausgebreitet. Deshalb weist das Auswärtige Amt derzeit keine Virusvariantengebiete mehr aus. Test- und Nachweisregeln Personen müssen bei einer Einreise nach Deutschland grundsätzlich den Nachweis erbringen können, dass sie negativ auf das Coronavirus getestet, vollständig dagegen geimpft oder von einer Covid-19-Erkrankung genesen sind. Diese Nachweispflicht gilt für alle Personen ab zwölf Jahren - unabhängig davon mit welchem Verkehrsmittel sie nach Deutschland gekommen sind und aus welchem Land sie kommen. Die Nachweispflicht gilt also nicht nur dann, wenn man sich vor der Einreise in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet aufgehalten hat. Bei vorherigem Aufenthalt in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet werden allerdings zusätzlich spezielle Anmelde-, Nachweis- und Quarantänepflichten wirksam. Diese lassen sich auf der Webseite der Bundesregierung zur Digitalen Einreiseanmeldung nachlesen. Nach Eingabe des Reiseorts werden die jeweils geltenden Vorschriften angezeigt. Je nach Impfstatus gelten unterschiedliche Ausnahmen. Bei Einreise aus Virusvariantengebieten gilt – vorbehaltlich sehr eng begrenzter Ausnahmen – außerdem ein Beförderungsverbot für den Personenverkehr per Zug, Bus, Schiff und Flug direkt aus diesen Ländern.
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Robert Koch-Institut und Auswärtiges Amt beobachten fortwährend das Infektionsgeschehen weltweit. Abhängig davon können Staaten als Hochrisiko- oder Virusvariantengebiete eingestuft werden - mit Konsequenzen für die Einreise nach Deutschland. Hier der aktuelle Stand.
"2022-03-04T13:57:00"
"2021-11-12T21:48:36.990000"
https://www.deutschlandfunk.de/rki-aktualisiert-liste-der-coronavirus-risikogebiete-1016.html
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Piloten dürfen ohne Mütze fliegen
Piloten der Lufthansa dürfen nach einem Gerichtsurteil auch ohne Mütze ihrem Job nachgehen. (picture alliance / dpa / Boris Roessler) Piloten der Lufthansa dürfen nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt auch ohne Mütze ihrem Job nachgehen. Die Mützenpflicht für Männer, die der Arbeitgeber fordere, verstoße gegen den Gleichhandlungsgrundsatz. Der Kläger war im Dezember 2009 wegen einer fehlenden Pilotenmütze von einem New-York-Flug abgezogen worden und erhielt einen Eintrag in seine Personalakte. Gericht: Kleidungsunterschiede müssen "sachlich gerechtfertigt" sein Vor dem Bundesarbeitsgericht wehrte er sich dagegen, dass die blaue Cockpit-Mütze für männliche Piloten verpflichtender Teil der vollständigen Uniform ist. Für Pilotinnen sei sie dagegen lediglich ein freiwilliges Accessoire. Dies begründet die Lufthansa damit, dass eine Pilotenmütze nicht mit jeder weiblichen Frisur getragen werden könne. Die Richter entschieden dagegen, dass unterschiedliche Kleidungsvorschriften "sachlich gerechtfertigt" sein müssen. Nicht nur Frauen mit Langhaarfrisur, auch Männern mit Gel im Haar könne die verpflichtend zu tragende Mütze Schwierigkeiten bereiten. Gerichtspräsidentin Ingrid Schmidt befürchtete durch die Regelung zudem eine möglicherweise subtile Benachteiligung der Pilotinnen: Wenn drei Flugzeugführer, darunter zwei Männer mit Mütze, auf einem Flughafen zusammenständen, "wen halte ich für den Piloten?". Am Frankfurter Flughafen haben die Lufthansa-Piloten wieder ihre Arbeit niedergelegt. Langstreckenflüge fielen aus. (dpa / picture-alliance / Boris Roessler) Chaos wegen Pilotenstreik in Frankfurt bleibt ausWährend der Mützenstreit damit entschieden ist, schwelt der Tarifstreit zwischen Piloten und der Lufthansa weiter. Allerdings haben die erneuten Streiks vergleichsweise zu geringen Problemen geführt. Am wichtigsten Lufthansa-Drehkreuz in Frankfurt wurden - die Rückflüge eingerechnet - fast 50 Flüge gestrichen, etwa nach Singapur, Bangkok und Chicago. 32 Flüge wurden nach Angaben eines Sprechers mit Ersatz-Crews oder veränderten Abflugzeiten bestritten.Demnach konnten zahlreiche Passagiere auf andere Fluggesellschaften und Flughäfen umgebucht werden. Insgesamt sollen etwa 20.000 Kunden von dem Streik betroffen gewesen sein. Die Pilotengewerkschaft Cockpit hatte ihre fünfte Streikwelle bereits im Vorhinein auf Interkontinentalflüge beschränkt. Dafür dauerte der Ausstand fast doppelt so lange wie bei vorherigen Aktionen.(tj/lob)
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Der Streik der Lufthansa-Piloten hat zu weniger Ausfällen geführt als befürchtet. Für Aufmerksamkeit sorgt zugleich ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Danach können Piloten künftig auch ohne Kopfbedeckung fliegen. Die Mützenpflicht diskriminiere Männer, heißt es.
"2014-09-30T16:41:00"
"2020-01-31T13:06:16.307000"
https://www.deutschlandfunk.de/lufthansa-piloten-duerfen-ohne-muetze-fliegen-100.html
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Im Schatten der Ingenieure
Die Stanford Universität in Kalifornien. (picture alliance / dpa / Udo Bernhart) Sie seien in einer privilegierten Lage, sagt Debrah Satz, Philosophie-Professorin an der Uni Stanford, über sich und ihre geisteswissenschaftlichen Kollegen: In der Tat - mit überschaubaren 16.000 Studierenden, davon etwa die Hälfte Doktoranden, und einem Eigenkapital von 22 Milliarden Dollar geht es der Elite-Universität nicht schlecht. Die Hochschule ist auch so etwas wie die geistige Mutter des Silicon Valley, in dem sie liegt: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der Stanford-Professor Frederick Terman die Idee, seine Kollegen zum Gründen von Technik-Firmen zu ermutigen, die sich dann um die Uni herum ansiedelten - so entstand zum Beispiel Hewlett Packard - und später werkelten in Stanford die ersten Google-Server - die Suchmaschine entstand hier als Forschungsprojekt, und noch heute profitiert die Uni von den Google-Patenten. Doch wie sieht es mit den Geisteswissenschaften hier aus? Nur 13 bis 16 Prozent der Studierenden sind dafür eingeschrieben. "Wie wichtig die Geisteswissenschaften für Stanford sind und wie viele Studierende wir haben, das sind zwei verschiedene Fragen: Wir sind eine Hochschule der Freien Künste, und diese Idee halten wir hoch. Sie lernen hier in erster Linie nicht einen bestimmten Beruf, sondern Sie lernen fürs Leben. Aber gerade wegen unserer Lage im Silicon Valley denken wir viel natürlich darüber nach, wie wir mehr Studierende für die Geisteswissenschaften anziehen und so am Image der Uni arbeiten können.” Denn natürlich sind die Personalressourcen auch in Stanford endlich. "Wenn sich 60 Prozent der Studienanfänger für Informatik einschreiben, dann ist es schwer, für einen neue Professur in klassischer Philologie zu argumentieren, während die Informatik-Kollegen gleichzeitig von Erstsemestern überrannt werden.”# Hoher Druck für Studierende Für die Studierenden ist Stanford als private Universität nicht billig - fast 45.000 Dollar im Jahr. Mit Unterkunft und Lernmitteln kommen sogar mehr als 60.000 Dollar zusammen. Wobei die Uni sich zu Gute hält, dass niemand abgewiesen wird, nur weil die Eltern es sich nicht leisten können. Trotzdem, sagt Debra Satz, sei es nicht einfach für die Studierenden, ihren Eltern zu erklären, so viel Geld für ein geisteswissenschaftliches Studium auszugeben, während der Informatik-Kommilitone nebenan sich schon auf den hervorragend bezahlten Job bei Google freut. "Wir haben so viele Studierende wie nie zuvor in der ersten Generation - das also junge Leute, die die ersten in ihrer Familie sind, die an eine Uni gehen. Sie stehen unter einem extrem Druck ihrer Familien, nach dem Studium hier schnell ein gutes und sicheres Gehalt zu verdienen.” Doch wer sich wirklich für Facebook, Google und Co. als künftigen Arbeitgeber interessiert, der sollte vielleicht gerade die Geisteswissenschaften ins Auge fassen. Christopher Kark wurde in Stanford promoviert - in spanischer und portugiesischer Literaturwissenschaft. Danach fand er recht schnell einen Job. "Ich habe eine Weile bei Twitter gearbeitet - sie haben mich als Texter eingestellt, weil ich gut formulieren konnte. Ich war aber natürlich auch an Diskussion über Themen wie Datenschutz beteiligt - und da habe ich zum Beispiel gefragt: Was sagt diese oder jene Einstellung über unsere Firmenkultur aus? Die Kollegen betrachten die Dinge im neuen Licht, wenn Du Ihnen solche Fragen mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund stellst.” Mehr Geisteswissenschaften für Ingenieure Inzwischen arbeitet Kark wieder an der Uni. Die Geisteswissenschaften in Stanford haben einige Silicon-Valley-Größen hervorgebracht - so hat Yahoo-Chefin Marissa Mayer Symbolsysteme studiert, und Paypal-Gründer Peter Thiel hat einen B.A. in Philosophie. Außerdem wird den Ingenieursstudenten sehr ans Herz gelegt, auch über den Tellerrand zu schauen. Es sei sehr selten, dass ein Ingenieur seinen Abschluss macht, ohne jemals ein geisteswissenschaftliches Seminar besucht zu haben, sagt Dan Edelstein, Professor für französische Literatur. Die Chefin des US-Internetkonzerns Yahoo, Marissa Mayer, hat in Stanford unter anderem Symbolsysteme studiert. (ERIC PIERMONT / AFP) In diesem Jahr startet die Uni Stanford etwas, das es hier jahrzehntelang nicht gab: den sogenannten "Humanities Core”, eine Art geisteswissenschaftliche Grundausbildung, in Ansätzen vielleicht vergleichbar mit dem Studium generale früher in Deutschland. Das Programm startet in diesem Herbst, ist freiwillig und soll auch Ingenieursstudenten mit geisteswissenschaftlichen Themen in Berührung bringen. "Die Idee dahinter ist, dass wir den Studierenden aus dem Ingenieursbereich einen Weg in die Geisteswissenschaften öffnen. Viele von ihnen fühlen sich in der Fülle der geisteswissenschaftlichen Disziplinen sonst schnell verloren. Wir bieten einen großen Eingang mit blinkenden Neonlichtern, über dem nicht steht: 'Lasst alle Hoffnung fahren.' - Sondern 'Erkennt den Sinn und Zweck der Geisteswissenschaften.'” Doch natürlich wollen die Geisteswissenschaften auch in Stanford nicht nur Appetithäppchen für die Googler von Morgen sein - dafür ist ihre Tradition und ihr Ansehen zu groß - die Altphilologie hier ist zum Beispiel eine der größten und besten der USA, wenn nicht weltweit. Trotzdem bleibt Philosophie-Professorin Debra Satz bei ihren Zielen realistisch: Es gehe nicht so sehr darum, wie viele Studierende eine Geisteswissenschaft als Hauptfach wählen, sagt sie. Sondern eher, wie viele sich tief gehend mit geisteswissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen.
Von Wolfgang Stuflesser
Die Universität Stanford gilt als amerikanische Kaderschmiede für Ingenieure und Informatiker. In den Geisteswissenschaften sieht es dagegen mau aus. Mit einer neuen Grundausbildung will die Uni jetzt auch Ingenieursstudenten für Philologie und Philosphie begeistern.
"2016-10-14T03:05:00"
"2020-01-29T17:59:26.229000"
https://www.deutschlandfunk.de/geisteswissenschaften-in-stanford-im-schatten-der-ingenieure-100.html
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Genialer Doppelmörder
Meister provokanter Inszenierungen: der Regisseur Calixto Bieito (picture alliance / dpa) Musik: Gesualdo, In monte Oliveti Eine fahle Leuchte, ansonsten ist es dunkel in Hamburgs "opera stabile", Nebel schwebt im Raum. Ein Keller, ein Gefängnis? Auf einem schmalen Streifen – zu beiden Seiten sitzt das Publikum – liegt am Boden zusammengekrümmt ein nackter Mann. "incurvatus in se" – der auf sich selbst verkrümmte Mensch – so formulierte es der Kirchenvater Augustinus. Der Mensch, nackt wie ihn Gott geschaffen hat, der sich jedoch von Gott abwendet. Ein starkes, archaisches Bild. Auch bei Luther heißt es, der Mensch komme als Sünder auf die Welt. Musik: Gesualdo, In monte Oliveti Sieben solistische Sängerinnen und Sänger, schwarz-weiß gekleidet, bewegen sich aus den Ecken des Raumes auf die arme Kreatur zu, aus schwarzen Plastikbeuteln holen sie Erde und bewerfen ihn. Einer scheint Mitleid zu empfinden und legt sich zu dem Mann. Dann erhebt sich der Nackte, er ist kahlköpfig. Wer einmal ein Bild von Carlo Gesualdo gesehen hat, kann Ähnlichkeit feststellen. Der italienische Fürst lebte in der Nähe von Neapel, er soll seine Frau und ihren Liebhaber ermordet haben lassen. Fortan soll ihn seine Schuld gequält haben, er litt an Depressionen. Musikwissenschaftler und Psychologen deuten seine dissonanzenreiche Musik als Ausdruck seines Seelenzustandes. Musik: Gesualdo, "O dolorosa gioia" Calixto Bieito interessierte es nicht, ob Gesualdo selbst den Ehrenmord an seiner Frau begangen hat. Auch szenische Aspekte kamen ihm bei Gesualdos Musik erst relativ spät in den Sinn. Er habe zuerst an den Sinn des Lebens gedacht und sich daran erinnert, wie er als Kind gebetet habe aus einem unbegründeten Schuldgefühl heraus. Mit nur 12 Jahren sagte Bieito zu seiner Mutter, dass er nicht an die Institution Katholische Kirche glauben würde. Gleichzeitig habe er natürlich die katholische Erziehung gewissermaßen im Blut, und dabei sowohl die positiven als auch die perversen, negativen Aspekte. Calixto Bieito wurde - wie Gesualdo - von Jesuiten erzogen, er hat im Internat viele Grausamkeiten erlebt. Immer wieder hat er in Interviews betont, dass seine Regie-Arbeiten jedoch keine Trauma-Verarbeitung seien. Für die Hamburger Produktion ist das auch nicht wichtig. Wer andere Inszenierungen Bieitos kennt, weiß, dass "¡Gesualdo" an der Hamburgischen Staatsoper seine Regie-Handschrift, seinen Blick auf die seelischen Motivationen der Menschen in äußerst konzentrierter Form zeigt. Es ist der Kontrast von extremer Schönheit – durch die Musik – und extremer Grausamkeit – durch Handlungen der Sänger. Grausamkeit gehöre zur menschlichen Genetik, aber sie habe natürlich auch einen geschichtlich-sozialen Kontext. Doch der Mensch könne immer korrigierend eingreifen und sich für das eine oder andere entscheiden. Das mache ihn – manchmal wenigstens –, so Bieito, optimistisch. Musik: Gesualdo, Già piansi nel dolore Calixto Bieito hat 14 Stücke aus Gesualdos geistlichen Responsorien und späten, weltlichen Madrigalen ausgewählt. Immer wieder treten einer, mehrere oder alle Sänger auf den nackten Mann im Raum zu. Erst scheint er getröstet zu werden, doch im nächsten Moment schlägt Mitleid in Brutalität um. Er wird gekratzt, geschlagen, gestoßen. Immer mehr Blut und Speichel vermischen sich mit der Erde an seinem Körper. Zuletzt strömt Wasser von oben, die Sänger singen nun von einer Empore, sie werfen ihre Notenblätter nach unten – es geht im Text um Leid und Schuld und Sühne -, gierig, masochistisch fängt der arme Mann sie auf, und steckt diese "Schuldscheine" wenn man so will, in den Mund. Ein hartes, ein krasses Bild, mit dem das Publikum entlassen wird. Musik: Gesualdo, Dolcissima mia vita Musikalisch wurden die Sänger von einer kleinen Orgel, einer Gambe und einer Laute begleitet. Dabei hatten die zum Teil doch stark opernhaft ausgerichteten Stimmen anfangs Mühe, sich zu einem guten Ensemble-Klang zu mischen, was aber im Verlauf immer besser gelang. Dieser Abend ist eindrücklich und bizarr. Die Spannung durch die grausamen Bilder im Kontrast mit der berührenden Musik macht nachdenklich. Und das ist viel!
Von Elisabeth Richter
Er war ein genialer Komponist und ein ruchloser Mörder: Carlo Gesualdo ließ seine untreue Ehefrau samt Liebhaber umbringen. Das Thema Gewalt, das für Calixto Bieito in seinen Regiearbeiten eine wichtige Rolle spielt, findet in seiner neuesten Hamburger Arbeit durchaus ein Pendant.
"2017-01-16T19:10:00"
"2020-01-28T08:29:04.698000"
https://www.deutschlandfunk.de/calixto-bieito-inszeniert-gesualdo-madrigale-genialer-100.html
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Erinnerungen an SARS-Epidemie
Alltag während der SARS-Epidemie 2003: Der Mundschutz sollte vor einer Infektion schützen (PETER PARKS / AFP) "Ich war damals ein Krankenhausarzt im Notdienst. Ich kann mich noch gut erinnern. Am Nachmittag des 10. März 2003 schickte mich mein Chef auf den Flur 8A. Dort hätten mehrere Patienten Fieber. Angeblich fühlten sich auch einige Pflegekräfte krank." Nelson Lee sitzt in einem Büro im Hongkonger Prince of Wales-Krankenhaus, während er von damals erzählt. Hier lehrt er heute als Medizinprofessor. Hier ist er im Jahr 2003 als erster Arzt in der Stadt mit SARS-Patienten konfrontiert. Der Flur 8A ist bis heute in Hongkong berüchtigt. Der Ort des ersten Ausbruchs. Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, was los ist. Die Patienten und mehrere Kollegen haben schwere Lungenentzündungen. Nelson Lee setzt eine Gesichtsmaske auf, macht sich an die Arbeit, kämpft gegen einen unbekannten Feind. "Wir versuchten, die Infektion einzudämmen. Doch das Erschreckende war, dass binnen weniger Tage die Fälle immer mehr wurden. Wir waren Zeugen eines super-spreading event, einer Pandemie. Den Patienten ging es immer schlechter. Manche mussten künstlich beatmet werden. Vor allem während der ersten Woche war es ein Gefühl von Katastrophe." Das SARS-Virus hatte Hongkong schon einige Zeit früher erreicht. Das ist heute alles rekonstruiert. Die Schlüsselfigur ist ein infizierter Arzt aus der südchinesischen Provinz Guangdong. Dort treten schon seit November ungewöhnliche Fälle von Lungenentzündung auf. Chinas Behörden vertuschen die Infektionen aber, verhindern damit eine frühzeitige Eindämmung. Der Arzt mietet sich am 21. Februar im Hongkonger Hotel Metropole ein. Dort infiziert er mehrere Gäste und Besucher. Diese tragen das Virus weiter in die Stadt hinein, etwa ins Prince of Wales-Krankenhaus, und in die ganze Welt. Das Drehkreuz Hongkong ist der perfekte globale Infektionsverteiler. Die Angst hat sich tief eingegraben Angst erfasst die Stadt. In der Wohnanlage Amoy Gardens infizieren sich mehr als 300 Menschen, eventuell über das Abwassersystem. Die Hongkonger tragen Gesichtsmasken, waschen sich oft die Hände, gehen nicht mehr in Restaurants, fahren keine U-Bahn, Kinos sind leer. Die Wirtschaft verzeichnet Einbrüche. Die Immobilienpreise sacken ab. Der Schweizer Finanzjournalist Ernst Herb ist seit zwei Monaten in Hongkong, als die SARS-Krise beginnt. "Man konnte niemanden mehr treffen. Das war eine sehr einsame Zeit für mich. Selbst übers Telefon. Man hat nur jemanden angerufen, wollte etwas wissen. Überhaupt keine Verbindlichkeit. Die hatten Angst schon gehabt, man steckt sich übers Telefon an. Es war eine richtige Panik in der Stadt." Im April wird ein bis dahin unbekanntes Coronavirus als Ursache für SARS identifiziert. Im Laufe des Frühjahrs ebbt die Pandemie ab. Im Sommer gilt sie als nahezu überwunden. Die Bilanz zwischen März und Juli: weltweit mehr als 8000 Infizierte in 30 Ländern, 744 Todesfälle, davon 350 in Festlandchina, knapp 300 in Hongkong und über 40 in Kanada. Einige der Überlebenden leiden noch heute unter einer Knochendegeneration - eine Folge der damals verabreichten Medikamente. In Hongkong normalisierte sich die Lage schnell wieder. Der Irakkrieg und der Sturz Saddam Husseins verdrängten SARS damals aus den Medien. Doch die Angst hat sich tief eingegraben ins Gedächtnis. Das zeigt sich auch jetzt in der Reaktion auf MERS: Die Hongkonger Regierung hat als erste eine Reisewarnung für Südkorea ausgegeben - mit Alarmstufe Rot. Auch Chinas Behörden warnen vor deutlich gestiegenen Risiken durch MERS. Sie haben aus der Krise 2003 gelernt. Sie vertuschen nicht mehr, sondern tun das Notwendige. In Südchina ist ein koreanischer MERS-Patient in Behandlung. 75 Menschen, die Kontakt zu ihm hatten, seien in Quarantäne, heißt es.
Von Markus Rimmele
Südkorea ergreift drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Atemwegserkrankung MERS. Im nahe gelegenen China weckt das Erinnerungen an die SARS-Krise vor zwölf Jahren. Die Angst vor einer erneuten Epidemie ist deshalb groß. Die Stadt Hongkong stand damals im Zentrum - sie wurde zum globalen Infektionsverteiler.
"2015-06-11T03:05:00"
"2020-01-30T11:41:31.541000"
https://www.deutschlandfunk.de/mers-coronavirus-erinnerungen-an-sars-epidemie-100.html
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Trump verspricht Tausende neue Jobs
Donald Trump nach einer Rede in Washington DC im Juni 2016 (AFP / Molly Riley) "Im Ergebnis sind wir abhängiger vom Ausland als jemals zuvor. Es ist an der Zeit, wieder unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erklären." Allerdings muss der künftige Präsidentschaftskandidat der Republikaner ganz schnell zu Beginn seiner Rede einräumen, dass er als erfolgreicher Geschäftsmann bisher von der Entwicklung profitiert hatte: "Die Globalisierung hat die finanzielle Elite, die der Politik Geld spendet, sehr, sehr reich gemacht. Ich muss gestehen, ich war einer von denen. Aber Millionen Arbeitern blieb nichts als Armut und Schmerzen." Der Politiker Trump – nicht der Geschäftsmann – hält seine Rede zur Wirtschaftspolitik, als richte er sich an diese Millionen Arbeiter, an die Verlierer der Globalisierung. Der 70-Jährige steht vor einer Mauer aus Recycling-Müll in einer Fabrikhalle im US-Bundesstaat Pennsylvania. Er verspricht einen Kurswechsel und Tausende neue Jobs: "Amerikanischer Stahl und Aluminium werden wieder Teil des Rückgrats unserer Wirtschaft. Das allein schafft unheimlich viele neue Jobs. Gut bezahlte Jobs. Nicht das, was wir heute haben - keine schlechten Jobs." Auch die Mittelschicht ist zutiefst verunsichert Tatsächlich sind in den vergangenen 20 Jahren Millionen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe der Vereinigten Staaten verloren gegangen. Zudem warnen Organisationen wie der Internationale Währungsfonds vor der großen Zahl armer Menschen in den USA. Armut bremse die wirtschaftliche Entwicklung, so IWF-Chefin Lagarde vergangene Woche in Washington: "Die jüngsten Zahlen zeigen, dass beinahe 15 Prozent der amerikanischen Bevölkerung - 46,7 Millionen Menschen - in Armut leben." Das alles trägt zu einem Gefühl von großer Unsicherheit in der amerikanischen Mittelschicht bei. Vor allem auch bei denen, die noch einen Job haben. Und Trump bedient diese Stimmung: Der Republikaner wirft seiner künftigen Kontrahentin Clinton vor, als Politikerin im eigenen Interesse, aber nie im Interesse der US-Wirtschaft gehandelt zu haben: "Als Außenministerin blieb Hillary Clinton stumm, als China seine Währung manipulierte, als China eine weitere Billion zu unserem Handelsdefizit addierte und Patente im Wert von einigen hundert Milliarden US-Dollar klaute." Trump lobt an einer Stelle sogar den Protektionismus der Gründungsväter der USA. Er verspricht, das nordamerikanische Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada neu verhandeln zu wollen: "Und wenn sie den Neuverhandlungen nicht zustimmen, was passieren kann, dann werde ich nach Artikel 22-05 des Nafta-Abkommens vorschlagen, dass Amerika aus dem Vertrag aussteigen will." Trump richtet sich in seiner Rede an Arbeiter in für ihn wichtigen Bundesstaaten, sogenannten Swing States, wie Ohio und eben Pennsylvania. Wie das Silicon Valley in Kalifornien, Forschung und Wissenschaft oder Investitionen in Bildung helfen können, neue Jobs zu schaffen, war deshalb nicht sein Thema.
Von Torsten Teichmann
In einer Grundsatzrede zur Wirtschaftspolitik hat der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump der Bevölkerung Versprechungen gemacht. Um die Mittelschicht im Land wieder zu stärken, will er notfalls internationale Freihandelsabkommen aufkündigen. Seiner Konkurrentin von den Demokraten, Hillary Clinton, sprach er jegliche Kompetenz in Wirtschaftsfragen ab.
"2016-06-29T03:05:00"
"2020-01-29T17:38:06.892000"
https://www.deutschlandfunk.de/us-praesidentschaftswahlkampf-trump-verspricht-tausende-100.html
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"Ich musste meinen Sinn für Ironie mäßigen"
In Boyles Welt sind die Menschen meist einsam und isoliert. (dpa/picture alliance/Horst Galuschka) "Ich denke, ein Schriftsteller sollte seine Grenzen ausdehnen und fähig sein, ganz unterschiedliche Dinge zu erkunden. Man erwartet doch von einem Schriftsteller, dass er sich nicht ständig wiederholt. Also wollte ich ausprobieren, aus der Sicht von Frauen ein Buch zu schreiben, das ohne Komik auskommt. Außerdem wollte ich mich im Stil zurücknehmen, ihn gefühlvoll machen. Er sollte nicht so wild und komplex wie mein übliches Schreiben aussehen. Das war schwierig, wirklich schwer, denn ich musste viele meiner spontanen Regungen unterdrücken." Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle hat diesmal tatsächlich einen zumindest für ihn sehr ungewöhnlichen Roman vorgelegt. Es gibt keinen großen Plot, kein dramatisches Showdown, die Katastrophen sind zumindest für Boyle überschaubar und eher alltäglich. Geblieben ist die aus seinem letzten Roman bereits bekannte Szenerie - eine karge, nur mit niedrigem Gestrüpp und Gräser bewachsenen Insel im Pazifik vor der Küste Kaliforniens. San Miguel ohne Bäume nur mit Felsen, Gestrüpp und Gräsern überzogen taugt allein zur Schafzucht. Von ihr versprechen sich die beiden Familien ihren Lebensunterhalt, die auf die Insel ziehen und deren Geschichte T.C. Boyle erzählt. Die erste, die Waters kommen dort 1888 an, verlassen die Insel nach fünf Monaten und kehren dann für einige Zeit wieder zurück. Nachdem die Insel eine Weile unbewohnt geblieben ist, ziehen 1930 die Lesters nach San Miguel und bleiben dort 12 Jahre. "Diese Menschen haben tatsächlich gelebt. Die Waters-Familie aus dem ersten Teil des Buches weilt natürlich nicht mehr unter uns. Ich habe ein Tagebuchfragment von weniger als 50 Seiten benutzt, erfinde also im Prinzip die Figuren. Die zweite Familie, die Lesters hinterließen zwei ziemlich wunderbare Memoiren. Da habe ich also eine umfangreichere Geschichte vorgefunden. Eine der beiden Töchter, mit denen sie auf der Insel wohnten, ist immer noch am Leben und ich habe sie ein paar Mal getroffen. Sie hat ihre eigenen Erinnerungen aufgeschrieben. Als sie die Insel verließ, war sie erst neun Jahre alt. Sie stützte sich also auf das, was ihre Mutter ihr erzählt hat." "Die Situation durch die Augen der Figuren anschauen" Der Schriftsteller konnte sich also auf mehr oder weniger harte Fakten stützen, als er die Geschichte dieser beiden Familien aufschrieb. Marantha hat zum Beispiel in ihrem Tagebuch den Alltag auf der Insel aufgezeichnet und den hat Boyle übernommen: Was man gegessen hat, welche Arbeiten im Haushalt und auf den Schafweiden anfielen, wie man abends versucht hat, sich die Zeit zu vertreiben, denn es gab weder Zeitungen noch Radio noch Fernsehen, nichts dergleichen. Das gilt auch noch für die Familie Lesters. Das Festland war viel zu weit entfernt für Ausflüge. Man blieb unter sich, völlig isoliert von der Gesellschaft, eine Pionierfamilie wie aus der Zeit des Wilden Westens. Das machte sie zu einem willkommenen Objekt für die Medien. In Zeitungen, im Radio, in Kinowochenschauen wurden sie einer faszinierten Öffentlichkeit vorgeführt. "Die Lester-Familie wurde während der Depression überall in Amerika sehr bekannt. Das Look Magazin, das Life Magazin kamen auf die Insel und fotografierten die Familie. Während der Depression, als die Leute nichts zu essen und keine Jobs hatten, hielten die Lesters es für eine reizvolle Aufgabe, als Selbstversorger auf der Insel zu leben. Da gab es nun die Lesters mit ihren zwei kleinen hübschen blonden Töchtern und das ergab ein ziemlich idealistisches Porträt. Es stimmt: Beide Töchter haben erstmals mit fünf und sieben das Festland betreten. Sie hatten nie zuvor einen Baum gesehen, kein Auto, kein Gebäude. Die Presse folgte ihnen die ganze Zeit. Das war wunderbar: Ihr erstes Eis, das sie aßen, wurde fotografiert. Das stimmt also alles und ich habe es den Memoiren der Lesters entnommen. So wie bei der ersten Geschichte besteht meine Aufgabe darin, diese Geschichte zu dramatisieren. Wie fühlt man sich auf der Insel? Was sagt man zu seinem Ehemann, wenn er einen aus dem Leben herausreißt und auf diese abgelegene Insel bringt? Das genau macht das Vergnügen des Schreibens aus, die Situation durch die Augen der Figuren anzuschauen. Man bekommt den Rahmen der Geschichte. Indem man solche historischen Erzählungen aufgreift und sie dramatisiert, leuchtet man sie gewissermaßen aus und versucht sich vorzustellen, wie sie sich gefühlt haben." T.C. Boyles Roman erinnert an ein Bühnenstück mit kleiner Besetzung, das vor der Naturkulisse der Insel spielt. Wir sehen das Ehepaar Waters, ihre 15-jährige Tochter Edith, den Angestellten Adolph, das Hausmädchen Ida und den 15-jährigen Knaben Jimmie. Das größte Ereignis im Leben dieser kleinen Schar ist die Ankunft der Schafscherer. Die Isolation ist bewusst von den beiden Familienvätern gewählt, von dem Bürgerkriegsveteran Will und Herbie, dem Erste-Weltkrieg-Offizier, beide von ihren Kriegserlebnissen körperlich und psychisch geschädigt: "Beide Männer zogen auf die Insel, sowohl um wieder zu genesen, als auch, um die Natur zu beherrschen und von ihr zu leben und um sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Sie wollten keine Handelsvertreter sein oder für irgendjemand anderen arbeiten. Sie wollten unabhängig sein. Es gibt in der amerikanischen Seele diesen antiautoritären Zug. In der amerikanischen Kultur ist diese Art von Grenzlandeinfachheit und die Sehnsucht danach ziemlich wichtig: Komm mir bloß nicht zu nahe, Vorschriften akzeptiere ich nicht. Ich suche mir meinen eigenen Weg. Je kleiner die Welt wird, desto weniger ist es möglich, irgendetwas dergleichen zu unternehmen." "Aus dem Blickwinkel der Frauen geschrieben" Das Verhalten dieser verstörten Männer sehen wir Leser allerdings aus dem Blickwinkel der Frauen. Marantha, obwohl schwindsüchtig, versucht geradezu heroisch, ihre Krankheit zu ignorieren. Und doch muss sie ihrem Mädchen Ida vieles überlassen. Dass ihr Mann sie mit der Bediensteten dann betrügt, kränkt sie besonders schwer. Das unwirtliche, kalt-nasse Klima verschlimmert ihren Zustand so dramatisch, dass sie todkrank aufs Festland zurückkehren muss und kurz danach stirbt. Ihre Tochter Edith, die sich gerade überaus glücklich auf einer Schule für Musik und Schauspiel eingeschrieben hat, wird von ihrem Stiefvater gezwungen, die Ausbildung abzubrechen und wieder auf die Insel zurückzukehren. Sie ist jetzt für den Haushalt zuständig, sucht allerdings verzweifelt nach einer Möglichkeit zu entkommen. Das gelingt ihr schließlich auch. Die zweite Familie Lester hat weniger Konflikte auszustehen. Ziemlich erfolgreich betreiben sie die Schafzucht. Doch Herbie leidet heftig unter den Folgen seiner Kriegsverletzung, ist psychisch instabil, mal ein vergnügter Vater, voller Witz und Charme, denn wieder tief betrübt. "Wir kehren doch alle zu unseren Müttern zurück, nicht wahr? Meine Mutter war, wie ich vermute eine starke Frau, die die Familie beherrschte, als ich aufwuchs. Ich habe also diesmal versucht, etwas zu tun, was ich noch nie zuvor gemacht habe. Ich habe aus dem Blickwinkel der Frauen geschrieben. Aber dies ist ein sehr postmoderner Roman, der viele spielerische Aspekte und verschiedene Erzählebenen besitzt. Es ist meine erste längere Erzählung, in der ich meinen Sinn für Ironie mäßigen musste. Es gibt in ihm keine Ironie. Ich wollte die Geschichte so erzählen, wie sie sich ereignet hat. Mich hat fasziniert, dass diese Frauen wegen ihrer Männer leiden. Anfangs wollte ich den Roman aus zwei Perspektiven schreiben, und zwar aus der Sicht des Ehemanns und der Ehefrau. Aber als ich dann anfing zu schreiben, begriff ich, dass es für mich viel interessanter sein würde und auch für die Qualität des Buches, ausschließlich aus Sicht der drei beteiligten Frauen zu erzählen." Ein T.C. Boyle, wie er leibt und lebt Es sind einfühlsame Bilder, die T.C. Boyle ausmalt. Man spürt geradezu, wie sich die Frauen gegen die widrigen klimatischen Verhältnisse wehren, gegen Stürme, Regen, Schlamm und Staub, Hitze und Kälte ankämpfen. Sie haben einen Haushalt zu bewältigen, in dem es immer wieder an vielen fehlt, wie dem großstädtischen Komfort von Badezimmer und Toilette im Haus. Es mangelt an frischen Lebensmitteln, an Obst und Gemüse zum Beispiel. Die Frauen spenden den Männern Trost, erziehen und unterrichten die Kinder, halten die Angestellten bei Laune, kümmern sich um die Schafscherer. Es ist ein hartes Leben, entbehrungsreich und mühselig. Und der Lohn ist Unglück. "Was uns an einem Roman oder einem Film so fasziniert, insbesondere wenn schreckliche Dinge passieren und natürlich müssen schreckliche Dinge passieren, wo wäre sonst das Drama, ist doch die Vorzustellung, wie das wäre, wenn man in der selben Situation steckte. Das hat Voodoo-Charme. Wir hoffen, dass es uns nicht zustößt. Wenn Sie 'San Miguel' lesen und das Leiden von Marantha miterleben, Sie sitzen dabei möglicherweise am Feuer mit dem Buch in der Hand und ein bisschen Brahms spielt im Hintergrund im Radio und neben Ihnen liegt die Katze, dann denken Sie: Mein Gott, was für entsetzliche Dinge erlebt nur diese Frau. Ist das nicht was Schönes? Wenn Sie ein Shakespeare-Drama sehen und Sie gehen da raus, dann sind nicht Sie derjenige, der da mit dem Schwert umgebracht wurde." Das ist wieder ein T.C. Boyle, wie er leibt und lebt. Auch wenn seine Katastrophen diesmal eher auf häuslicher Ebene stattfinden, ohne sie wird er nie auskommen. Dazu hat er eine viel zu blühende Fantasie. Sie möge ihm erhalten bleiben. Jedenfalls hat er uns diesmal drei beeindruckende Frauengestalten geschaffen. T. Coraghessan Boyle: San Miguel, Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk von Gunsteren, Hanser Verlag München 2013, 444 Seiten, 22,90 Euro.
Von Johannes Kaiser
In seinem Roman "San Miguel" beschreibt T.C. Boyle das Leben zweier Familien Ende des 19. Jahrhunderts und in den 1930er-Jahren auf einer einsamen Insel vor der Küste Kaliforniens und weicht damit von seinem üblichen Stil ab. Boyle wollte ein Buch aus der Sicht von Frauen schreiben, "das ohne Komik auskommt".
"2014-04-30T14:10:00"
"2020-01-31T12:38:26.888000"
https://www.deutschlandfunk.de/roman-von-t-c-boyle-ich-musste-meinen-sinn-fuer-ironie-100.html
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Lage in Saudi-Arabien für Journalisten katastrophal
Der UNO-Berichterstatterin Agnes Callamard zufolge gibt es glaubwürdige Hinweise auf eine mögliche persönliche Verantwortung von Kronprinz Mohammed bin Salman für den Mordfall Khashoggi (MARVIN RECINOS / AFP) Bettina Köster: Der Fall Khashoggi begleitet uns ja schon seit Herbst vergangenen Jahres. Sie erinnern sich sicher, das war der saudische Journalist, der von einem saudischen Spezialkommando in Istanbul ermordet wurde. Gestern nun hat die UNO-Menschenrechtsexpertin Callamard einen 101 Seiten langen Bericht vorgelegt, in dem sie eine mögliche persönliche Verantwortung des saudischen Prinzen bin Salman vermutet und fordert weitere Untersuchungen. Gleichzeitig läuft in Saudi-Arabien seit Anfang des Jahres ein Prozess gegen elf Verdächtige im Fall Khashoggi. Und die Regierung in Riad wies den Bericht der UNO-Berichterstatterin als unglaubwürdig zurück. Wir haben also eine Pattsituation. Die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen beschäftigt sich natürlich auch mit dem Mord an dem Journalisten Khashoggi und mit der mangelnden Pressefreiheit in Saudi-Arabien. Und mit dem Pressesprecher Christoph Dreyer bin ich jetzt in Berlin verbunden. Herr Dreyer, was passiert denn jetzt mit dieser Empfehlung der UNO-Menschenrechtsexpertin Callamard, Untersuchungen gegen den Kronprinzen einzuleiten? Christoph Dreyer: Ja, guten Tag. Zunächst mal liegt das natürlich an den Staaten, an den UNO-Mitgliedsstaaten, was sie mit diesen Empfehlungen machen. Die Sonderberichterstatterin hat ja an den UNO-Menschenrechtsrat berichtet, also werden dort vielleicht auch Beschlüsse gefasst. Aber letztlich liegt es an den Staaten auch Konsequenzen daraus zu ziehen und sich zu überlegen, wie sie politisch damit umgehen. "Die politische Verantwortung liegt klar bei Saudi-Arabien" Köster: Gibt es denn tatsächlich die Möglichkeit, so konkret auch gegen den Kronprinzen vorzugehen? Dreyer: Also im Moment sicher nicht. Also die Schlussfolgerung ist ja zunächst mal, dass sie die Verantwortung, die politische Verantwortung, klar bei Saudi-Arabien sieht, und es auch für gerechtfertigt hält, da jetzt nach der individuellen Verantwortung zu fragen. Allerdings deutet sie auch an, dass man das vielleicht gar nicht so letztgültig klären kann, wer jetzt da den definitiven Befehl gegeben hat, sondern dass es auch um die politische Verantwortung geht. Und die liegt klar bei Saudi-Arabien. Daraus, denke ich, muss man auf jeden Fall Konsequenzen ziehen. Wie die aussehen können, das ist allerdings noch ziemlich unklar. Köster: Weil die weisen ja alles zurück, wie ich eben auch gesagt habe. Dreyer: Ja, gut. Dass Saudi-Arabien da einen anderen Standpunkt vertritt, ist nicht so erstaunlich. Saudi-Arabien sagt natürlich, ja, wir haben ja Verdächtige, wir führen einen Prozess gegen die. Allerdings ist das eigentlich eher Teil des Problems als der Lösung, denn das ist vollkommen intransparent. Man weiß im Grunde nichts über den Prozess. Man weiß zum Teil nicht einmal, wer die Leute sind. Denen droht die Todesstrafe Das ist aus menschenrechtlicher Sicht jetzt kein so richtiger Gewinn, wenn da unter völlig obskuren Umständen Leute zum Tode verurteilt werden. Damit würde eigentlich die Frage nach der politischen Verantwortung eher unter den Teppich gekehrt. "Die Lage in Saudi-Arabien ist katastrophal" Köster: Callamard geht es ja nicht nur um den besonders viel Aufsehen erregenden Fall Khashoggi, sondern auch generell um die Situation, die prekäre Situation, für kritische Journalisten in Saudi-Arabien. Wird der Bericht Auswirkungen auf den Umgang mit kritischen Journalisten haben? Wie ist Ihre Einschätzung? Dreyer: Ob der Bericht in Saudi-Arabien Auswirkungen hat – also, ich hoffe nicht, dass er zu neuen Repressalien führt. Aber die Lage in Saudi-Arabien ist natürlich katastrophal. Es sind dort 30 Journalistinnen und Journalisten und Bloggerinnen und Blogger im Gefängnis zur Zeit, nach unserer Zählung. Wegen ihrer journalistischen Arbeit, zum Teil unter sehr, sehr schlechten Bedingungen. Da ist von Folter die Rede; in einem Fall glauben wir, dass derjenige wahrscheinlich sogar schon tot ist. Einem droht die Todesstrafe. Also die Bedingungen sind wirklich katastrophal. Und wenn dieser Bericht etwas erreichen kann, dann hoffentlich dass man da hinschaut und das zum Beispiel nächste Woche beim G20-Gipfel Saudi-Arabien vielleicht wieder ähnlich isoliert dasteht wie beim letzten G20-Gipfel im vergangenen Herbst. Ich glaube, über längere Zeit produziert so etwas schon eine Wirkung und merkt eine Regierung dann, dass sie da etwas tun muss. Köster: Das heißt, der Bericht kam in gewisser Weise zur rechten Zeit? Dreyer: Ja, er ist bestimmt nicht verkehrt. Ja, auch deshalb, weil natürlich die ganz große öffentliche Aufregung um den Mord an Jamal Khashoggi schon wieder abklingt. Und es ist wichtig, das im Gespräch zu halten, denn sonst geht man im Laufe der Zeit dann doch irgendwie zur Tagesordnung über, diskutiert zwar noch hier und dort, in Deutschland vielleicht, in Großbritannien, darüber, ob man jetzt eigentlich dann doch wieder Waffen ganz normal exportieren sollte nach Saudi-Arabien. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass sich das dann irgendwann abschleift und das Ganze letztlich doch in Vergessenheit gerät. Und das nicht zu tun, ist schon mal ein sehr wichtiger Schritt, und einfach zu signalisieren: Nein, dieses Thema ist auf dem Tisch – tut was! "Ein UNO-Sonderbeauftragter wäre ein Versuch, die vielen hehren Beschlüsse in die Praxis umzusetzen" Köster: Sie fordern ja als Journalistenorganisation einen Sonderbeauftragten bei der UNO. Was soll der leisten? Dreyer: Ja, das ist eine Forderung, die wir schon seit einigen Jahren inzwischen erheben und eine diplomatische Dauerkampagne betreiben und auch Unterstützung sammeln so nach und nach. Ein Sonderbeauftragter gegen Straflosigkeit für Gewalt an Journalisten hätte den Vorzug zum Beispiel gegenüber einen Sonderberichterstatterin, wie wir sie jetzt gerade hier in Aktion sehen, dass er schneller, permanenter, also schneller agieren könnte, permanent, nach Möglichkeit sehr nah am Machtzentrum der Vereinten Nationen beim Generalsekretär eingebunden wäre – das ist zumindest unsere Forderung – und dort sehr schnell Alarm schlagen könnte, zum Beispiel dann, wenn Journalistinnen und Journalisten akut bedroht sind. Nach Möglichkeit nicht erst dann, wenn sie schon ermordet sind. Und dass er zum Beispiel auch selbstständig ermitteln könnte, nicht erst, wie das jetzt bei diesen Sonderbericherstattern meist der Fall ist, warten muss, bis ihn eine Regierung einlädt und das dauert dann Monate und dann ist es im Grunde schon zu spät. Also das wäre ein Versuch, die vielen hehren Beschlüsse, die es da gibt, mehr in die Praxis umzusetzen und mit etwas politischem Zug zu verleihen Köster: Danke für diese Hintergrundinformationen. Christoph Dreyer war das, Pressesprecher der internationalen Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen in Berlin. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Dreyer im Gespräch mit Bettina Köster
Den Mord an Jamal Khashoggi soll laut UNO-Bericht der saudische Kronprinz verantwortet haben. Mit einem Sonderbeauftragten gegen Straflosigkeit gegen Gewalt an Journalisten hätte die UNO schneller Ergebnisse liefern können, sagte Christoph Dreyer, Pressesprecher von Reporter ohne Grenzen, im Dlf.
"2019-06-20T13:35:00"
"2020-01-26T21:58:15.880000"
https://www.deutschlandfunk.de/der-fall-khashoggi-lage-in-saudi-arabien-fuer-journalisten-100.html
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Staatsanwaltschaft ermittelt wegen sexueller Übergriffe
Pferd und Reiter beim Springreiten (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen) Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat Ermittlungen[*] gegen einen 20 Jahre alten Nachwuchs-Springreiter eingeleitet. Der Mann stamme aus dem Landkreis Neuwied in Rheinland-Pfalz, teilte die Behörde mit. Gegen ihn bestehe der vorerst pauschal erhobene Verdacht, dass er gegen junge Frauen sexuell übergriffig geworden sei. Auf Reitturnieren im In- und Ausland soll er allein oder mit weiteren Beteiligten die Frauen angegangen haben. Vorfälle bei der EM Grund für die Ermittlungen sind die Angaben eines Anzeigenerstatters, der sich wiederum auf Aussagen eines anderen Zeugen beruft. Nun soll die Polizei diesen Mann vernehmen. Der Spiegel hatte bereits darüber berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz Hinweisen nachgehe. Ein junges Mädchen soll bei den Europameisterschaften im slowakischen Samorin Opfer einer Vergewaltigung oder sexueller Nötigung geworden sein. Zudem sollen bei dieser EM zwei Nachwuchsreiter im Alkoholrausch ein Hotelbett zerlegt haben. Ob es sich bei den Ermittlungen um diesen Fall handelt, blieb zunächst offen. Einzelheiten noch unklar Es gebe nur ein Verfahren, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Ob und wo dieser Beschuldigte gegebenenfalls Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen haben könne, sei allerdings noch nicht geklärt und müsse im Laufe des Verfahrens erst noch ermittelt werden. Der Deutschen Reiterlichen Vereinigung liegt nach eigenen Angaben ein weiterer Fall aus dem Umfeld junger Springreiter vor, "in dem es um Vorwürfe aus dem Bereich sexualisierter Gewalt ging". Die Disziplinarkommission sprach eine 18-monatige Wettkampfsperre gegen den betroffenen Reiter aus. Die Entscheidung sei jedoch noch nicht rechtskräftig. [*] Anmerkung der Redaktion vom 21.9.2018: Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat das Ermittlungsverfahren eingestellt und teilt in einer Presseerklärung mit: "Nach den geführten Ermittlungen sind ... keine Handlungen des Beschuldigten erkennbar, die auf ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten hindeuten. Das Verfahren war deshalb mangels eines gegen den Beschuldigten gerichteten hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen."
Von Sebastian Trepper
Der deutsche Reitsport ist in Aufruhr. Das Magazin "Der Spiegel" berichtet über sexuelle Übergriffe und Alkoholexzesse. Dabei geht es um eine Gruppe hochkarätiger Nachwuchs-Springreiter. Nun wurde bekannt, dass gegen einen von ihnen auch offiziell ermittelt wird.
"2018-09-03T20:57:00"
"2020-01-27T17:09:14.887000"
https://www.deutschlandfunk.de/nachwuchs-reiter-staatsanwaltschaft-ermittelt-wegen-100.html
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Lissabon - ein modernes Babylon
Eine Illusion: Der Traum von einem besseren Leben in Lissabon. (picture alliance / dpa / Jan Woitas) Die Geschichte, die Luiz Ruffato in seinem neuen Roman erzählt, ist in ihren Grundzügen sehr alt, und sie kann an vielen Orten der Erde stattfinden. Bei Ruffato spielt sie in unserer Zeit, sie beginnt in Brasilien und endet vorläufig in Portugal. Der Held des Buchs und Ich-Erzähler Sérgio, Jahrgang 1969, ist unzufrieden mit seinem Leben in einer brasilianischen Kleinstadt. Die Leute haben kaum Geld, leben auf Pump, betrügen sich gegenseitig. Man wohnt auf engstem Raum nebeneinander, streitet ständig. Zu den harmloseren Vorfällen gehört es, dass eine Nachbarin die Hühner der anderen mit heißem Wasser begießt. Sérgio schwängert seine Freundin und muss heiraten. Die Hochzeit ist ein lausiges Ereignis: Lauter meckerndes Gesindel, das die Braut schäbig und den Bräutigam einen Idioten nennt. Die Ehe läuft nicht gut; Sérgios Frau wird gewalttätig, verrückt; sie muss in die Psychiatrie. Ihre Verwandtschaft übernimmt das Sorgerecht für den Säugling Pierre. Sergio selbst verliert seine Arbeit – es ist Zeit für einen Neuanfang. Ein Bekannter rät ihm, sein Glück in Portugal zu versuchen. Dort müsse er nur ein, zwei Jahre hart arbeiten, um zurück in der Heimat sorgenfrei mit seiner Familie leben zu können. Sérgios Reiseplan spricht sich herum. Neidische Nachbarn und Verwandte streiten, wer in der Zwischenzeit sein Motorrad fahren darf. Bei einem rauschenden Abschiedsfest wird er als mutiger Mann gefeiert. Mit weichen Knien besteigt er das erste Flugzeug seines Lebens, das ihn nach Lissabon bringen wird. Neuanfang in Portugal wird anders als gedacht Es ist vorhersehbar, dass in Portugal vieles ganz anderes abläuft, als erhofft – aber das Buch läuft keinesfalls mechanisch ab. Man liest diesen nuancenreich angelegten Roman voll Spannung; das vorbehaltlose Interesse von Ruffato an seinem sympathischen Helden überträgt sich auf den Leser. Luiz Ruffato, der 1961 geboren wurde, wird in Brasilien hoch geachtet; und seine Bücher verdienen auch hierzulande größte Aufmerksamkeit. Denn Ruffato greift die Ästhetik der klassischen Moderne auf und schreibt sie radikal fort. Dabei hat er eine eigenwillige, springlebendige, eine wilde und virtuose Sprache entwickelt. Der fünfteilige Romanzyklus "Vorläufige Hölle", von dem bereits zwei Bände übersetzt wurden, schildert das Leben in Brasilien aus dem Blickwinkel von Landarbeitern, Proletariern und Eingewanderten: Nicht paternalistisch, sondern solidarisch; dabei unpathetisch und ohne jede Sozialromantik zeichnet der Autor präzise, düster leuchtende Bilder, die unter die Haut gehen. Der "Höllen"-Zyklus ist polyphon angelegt, die Sprecher wechseln oft mitten im Satz. Eine dissonante, produktiv verstörende Partitur, die dem Leser einiges abverlangt. Wer einen einfachen Zugang zu Ruffato finden und dabei doch einen Eindruck von der Schönheit und Komplexität des Werks bekommen will, findet ihn jenseits vom Höllen-Zyklus in dem neuen Roman über Migranten in Lissabon. Lissabon als modernes Babylon "Ich war in Lissabon und dachte an dich": In diesem neuen Buch von Ruffato ist die portugiesische Hauptstadt ein modernes Babylon, in dem sich alle Sprachen und Nationalitäten mischen. Man sieht hier ganz unterschiedliche, schillernde Existenzen: Ein durchtriebener ukrainischer Kellner umgarnt deutsche Touristen mit einem Englisch, das aufhorchen lässt. Portugiesische Dichter lungern in den Cafés herum und hoffen darauf, eines Tages als Genies entdeckt zu werden. In Lissabon ernährt eine Angolanerin die Familie als Prostituierte, nachdem ihr Mann in Angola von einer Mine verkrüppelt wurde. Manche der hier aus aller Welt Gestrandeten verlieren den Kontakt zu ihren Angehörigen. Andere versuchen verzweifelt, die Verbindung zu halten, sie klammern sich in einer stickigen Telefonzelle an den Hörer – und als eine Frau während ihres Gespräch in Ohnmacht fällt, ahnen die Umstehenden, dass das nicht nur an der schlechten Luft liegt. Ruffatos Held Sérgio begegnet lauter entwurzelten Leuten, die aus Leibeskräften schuften und doch scheitern. Die Idee, mit harter Arbeit Geld zu verdienen, erweist sich bei den meisten als Illusion, als Naivität. Sérgio jobbt in einem Restaurant, er verliebt sich in die Prostituierte Sheila, die gern Lehrerin oder wenigstens Verkäuferin geworden wäre. Bei dem Versuch, ihr aus einer bedrohlichen Lage herauszuhelfen, verschwinden seine Papiere. Er verliert den Job, wird illegaler Handlanger auf Baustellen; er bleibt in Lissabon hängen. Schonungslose Darstellung der Realität Immer schon verließen Menschen aus Not ihre Heimat, aber unter neoliberalen Bedingungen nehmen die globalen Wanderungsbewegungen oft absurde, kafkaeske Formen an. Den ökonomischen Imperativen folgend, werden die Leute zu Objekten, die von da nach dort geschoben oder gelockt werden. Ruffatos große Kunst besteht darin, diese Realität schonungslos darzustellen - und gleichzeitig seine Helden als handelnde Subjekte zu zeigen. Er schildert ihre Not und ihre Wendigkeit; ihre Wut, ihren Witz, ihre Wärme. Kurz: Er zeigt die Würde der Verdammten dieser Erde.
Von Sabine Peters
Luiz Ruffatos jüngster Roman "Ich war in Lissabon und dachte an dich" ist in Zeiten von Flucht und Migration aktuell wie nie. Die Geschichte erzählt von Migranten, die aus aller Welt nach Lissabon kommen und dort ihr Glück suchen. Viele der entwurzelten Menschen arbeiten hart, scheitern aber trotzdem - so auch Ruffatos Held Sérgio.
"2016-03-21T15:10:00"
"2020-01-29T17:19:44.272000"
https://www.deutschlandfunk.de/schriftsteller-luiz-ruffato-lissabon-ein-modernes-babylon-100.html
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Endlager gesucht
Der grelle Lichtkegel eines Polizeihubschraubers sucht den Wald ab, Lagerfeuer spenden Wärme. Junge und alte Menschen sitzen auf Gleisen. Es ist dunkel, bei Temperaturen knapp unter null Grad. Im November 2011 blockierten 4000 Protestierer in einem Waldstück im Wendland die Gleise, über die zwölf Castorbehälter beladen mit radioaktivem Müll das Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben erreichen sollten. 2000 Polizisten standen bereit, um die Blockierer wegzutragen. Erst behutsam, später ruppig:Szenen wie diese haben sich tief eingeprägt ins kollektive Gedächtnis: Seit 1996 gab es elf Castor-Transporte ins Zwischenlager nach Gorleben. Insgesamt waren rund 200.000 Polizisten im Einsatz.Rückblende: Widerstand im Wendland gibt es seit mittlerweile fast vier Jahrzehnten. Es begann mit den heute wahnwitzig anmutenden Atompläne der niedersächsischen Landeregierung unter Ernst Albrecht: Im Landkreis Lüchow-Dannenberg sollte ein nukleares Entsorgungszentrum entstehen: eine Wiederaufbereitungsanlage, eine Brennelementefabrik, dazu ein Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe, eine passende Verpackungsanlage für Atommüll und – als Lösung für die massiven Entsorgungsprobleme Ende der 70er-Jahre – ein unterirdisches Endlager. Ministerpräsident Albrecht versprach der strukturschwachen, östlichsten Region Niedersachsen 3000 Arbeitsplätze. Doch schon 1978 versammelten sich rund 100.000 Demonstranten in Hannover, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. "Mein lieber Herr Albrecht! Überlegen sie sich gut, ob sie das riskieren wollen! Wenn wir uns mal alle hier so auf unsere Straßen setzen, wenn sie bei uns anrücken – glaubt ihr, dass sie uns wegkriegen? – [Nein]"Die Idee eines nuklearen Entsorgungszentrums wurde aufgegeben, weil sie politisch nicht durchsetzbar war. An den Plänen für ein Zwischen- und Endlager aber hielt man fest: Bautrupps rückten nahe der Gemeinde Gorleben an, es gab erste Tiefbohrungen, Waldstücke wurden gerodet. Heute zieht sich ein sieben Kilometer langes Stollensystem durch den Salzstock Gorleben. In 840 Meter Tiefe ist einer von neun geplanten Bereichen zur Lagerung radioaktiver Abfälle bereits erkundet. Diese Erkundungs-Arbeiten ruhen seit vier Monaten - auf unabsehbare Zeit. Über Tage ragt ein Förderturm in die Höhe. Ein paar Hundert Meter entfernt stehen – streng bewacht – in einer oberirdischen Halle bereits 113 Stahlbehälter mit radioaktivem Müll. Daneben wurde für rund 500 Millionen Euro eine sogenannte Konditionierungsanlage gebaut, in der strahlende Inhalt der Castoren endlagergerecht verpackt werden soll. Doch bis zum heutigen Tag gibt es Zweifel daran, ob sich der Salzstock wirklich als Endlagerstätte eignet. Denn radioaktiver Müll muss für eine Million Jahre sicher eingeschlossen werden. Geologen haben jedoch Gesteinsschichten im Salzstock gefunden, durch die Wasser eindringen könnte. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Castoren durchs Wendland rollten. Es sollen – vorläufig jedenfalls - die Letzten gewesen sein, die ins Zwischenlager Gorleben gebraucht worden sind. Morgen befasst sich das Bundeskabinett mit dem Entwurf für das sogenannte Endlagersuchgesetz, mit dessen Hilfe nach Alternativen zum Salzstock gesucht werden soll. Noch sind die Menschen im Wendland skeptisch, denn noch ist Gorleben nicht aus dem Rennen. Darauf weist Rebecca Harms hin. Die Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament hat den Widerstand von Anfang an mitgeprägt:"Es ist völlig klar, dass für die Lüchow-Dannenberger dieses Gesetz noch nicht der Beginn eines neuen Vertrauens sein kann. Die Enttäuschung darüber, dass Gorleben weiter im Verfahren bleibt, die Enttäuschung darüber ist riesig. Wenn es Vertrauen geben soll, dann ist es noch ein weiter Weg dorthin."Immerhin – eine erste Etappe ist geschafft. Am 09. April steht der Kompromiss: Nach anderthalb Jahren Verhandlungen - zunächst flüssig, dann stockend - einigen sich Bund, Länder, Union, FDP, SPD und Grüne darauf, dass die Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll von vorne beginnen soll.Gabriel: "Wenn uns jemand vor 20 Jahren gesagt hätte, da stimmt auch die CDU zu, das hätten wir ins Reich der Fantasie und der Illusionen verwiesen."Altmaier: "Es bietet die Chance, dass wir das letzte große strittige Thema im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie in einem parteiübergreifenden Konsens lösen."Trittin: "Wir machen mit diesem Gesetz den Ausstieg aus der Atomenergie vollständig, und wir sorgen auch dafür, dass die falsche Festlegung, die nicht nach sachlichen Kriterien erfolgt ist, in Gorleben überwunden wird."Sigmar Gabriel, Jürgen Trittin und Peter Altmaier, zwei ehemalige und der aktuelle Bundesumweltmister, sind äußerst zufrieden. Bis 2031 soll ein Standort gefunden sein. Gesucht wird bundesweit und ergebnisoffen. Jede Region, jede Gesteinsart soll mit einbezogen werden. Ausnahmslos, so der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann: Kretschmann: "Der Kompromiss war, dass Gorleben im Suchverfahren bleibt, aber dass entschieden darauf geachtet werden muss, dass Gorleben kein Referenzstandort ist, sondern dass wir eine weiße Landkarte haben, dass wir den Prozess so angehen, als ob es Gorleben überhaupt nicht gäbe."Daran wäre der Kompromiss am Ende fast noch gescheitert. Denn SPD und Grüne in Niedersachsen hatten im Wahlkampf versprochen, sich gegen Gorleben als Teil der Suche auszusprechen. Doch Union und FDP hätten das nicht mitgemacht. Der Preis für die Zustimmung von Rot-Grün in Hannover ist nun ein unvollständiges Gesetz. Wenn es, wie geplant vor der Sommerpause im Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird, werden wesentliche Details fehlen. Eine Bund-Länder-Kommission soll diese Detailfragen erst in den kommenden zwei Jahren ausarbeiten. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, SPD:Weil: "Aufgabe dieser Kommission sind die Beratung und Klärung grundlegender Fragen, die mit der Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe verbunden ist."Wie wird gelagert: Soll der Müll jederzeit wieder aus dem Endlager herausgeholt werden können oder nicht? Wo wird gelagert: in Salz, Granit, Ton oder gar über der Erde? Welche sicherheitstechnischen Anforderungen müssen beachtet werden? Wie viele Standorte werden überirdisch verglichen, wie viele unterirdisch? Und welche? All diese Fragen soll die Kommission klären. Besetzt werden soll sie mit 24 Persönlichkeiten, so Bundesumweltminister Peter Altmaier, CDU:"Zwölf davon Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Vertreter von Landesregierungen. Im übrigen Wissenschaftler, Umweltverbände, Arbeitgeber, Gewerkschaften und auch die Kirchen. Wir werden in dieser Kommission ein breites Mandat haben."Allerdings kein Verbindliches. Die endgültige Entscheidung trifft das Parlament. Der ehemalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin ist zuversichtlich, dass die Abgeordneten in zwei Jahren die Vorschläge des Gremiums übernehmen werden. Zuversichtlich, obwohl er in seiner Amtszeit auch schon einmal von einer Kommission Kriterien für eine Endlagersuche hatte erarbeiten lassen; Vorschläge, die nach dem Regierungswechsel 2005 allerdings wieder in der Schublade verschwanden: Trittin: "Wir holen mit diesem Gesetz die Endlagersuche aus den Hinterzimmern und den kleinen Verabredungen raus, die beispielsweise die Geschichte Gorlebens seit 35 Jahren geprägt hat. Alle wesentlichen Entscheidungen dieses Gesetzes, die werden künftig auf der offenen Bühne, nämlich der Bühne des Deutschen Bundestages und des Bundesrates durch den gewählten Souverän dieses Landes entschieden werden."Mit diesem Verfahren werde der zweite Schritt vor dem Ersten gemacht, kritisieren dagegen Umweltverbände. Das Gesetz dürfe erst verabschiedet werden, wenn die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hat, lautet die Forderung. Dass der Souverän die Vorschläge, die in der Kommission mit zwei Drittel Mehrheit beschlossen werden sollen, ignorieren könnte, glaubt wie Trittin auch Umweltminister Peter Altmaier nicht:"Es ist so, dass diese Enquete-Kommission durch ihre politische Autorität wirken wird. Und wenn sie zu guten Ergebnissen kommt, nach guter Beratung, dann wird es ganz schwer sein, davon abzuweichen."Es soll ein transparentes Verfahren sein. Die Kommission wird öffentlich tagen. Und auch die Klagemöglichkeiten der Bevölkerung sollen nicht eingeschränkt werden. Man werde, versichert der CDU-Minister, den Wunsch Niedersachsens aufgreifen.Altmaier: "Dafür Sorge zu tragen, dass ab Beginn der untertägigen Erkundung, die verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten sichergestellt sind."Unklar ist, wie die neue Endlagersuche finanziert werden wird. Laut Atomgesetz müssen die Betreiber der Atomkraftwerke die Kosten für den notwendigen Aufwand tragen - also RWE, Eon, Vattenfall und EnBW. Darauf verlässt sich die Politik. Doch das deutsche Atomforum, der Lobbyverband der Branche, weist darauf hin, dass schon 1,6 Milliarden Euro für Gorleben investiert wurden, und erklärt:"Für die Übernahme zusätzlicher Kosten durch die Betreiber infolge alternativer Standorterkundungen vor einer abschließenden Bewertung zur Eignung Gorlebens gibt es nach unserer rechtlichen Auffassung keine Grundlage."Es geht möglicherweise um weitere zwei Milliarden Euro. Am Mittwoch will der Bundesumweltminister mit den Betreibern darüber verhandeln.Zwei Jahre ist es her, dass Bewegung in die Endlagersuche kam. Kurz vor seiner Wahl zum ersten grünen Ministerpräsidenten erklärte sich Winfried Kretschmann bereit, auch in Baden-Württemberg nach einem Endlager für deutschen Atommüll suchen zu lassen. Für ihn eine logische Folge aus der Auseinandersetzung um Stuttgart 21:"Wenn schon ein unterirdischer Bahnhof solche Konflikte hervorruft, war mit klar, ein atomares Endlager zu suchen, zu finden und irgendwann auch zu bauen ist nicht möglich ohne einen nationalen Konsens."Hintergrund für Kretschmanns Mahnung ist: Der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen hatte einige Monate zuvor den von Rot-Grün im Jahr 2000 verhängten Erkundungsstopp für Gorleben wieder aufgehoben. Was zu neuen Protesten im Wendland führte. Nun nimmt der CDU-Politiker den Ball des Grünen auf und organisiert gemeinsam mit Kretschmann den Neustart der Endlagersuche. Am 11. November 2011 lädt Röttgen Vertreter aller Bundesländer zu einem Gespräch ins Bundesumweltministerium ein. Und alle kommen:"Allein diese Tatsache ist etwas besonders, weil es zur Frage der nationalen Verantwortung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle seit 35 Jahren ein solches Bund-Länder-Gespräch nicht gegeben hat."Auch das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bund und Länder setzen eine Arbeitsgruppe ein, die ein Gesetz für den Neustart der Endlagersuche ausarbeiten soll. Damals war noch David McAllister Ministerpräsident in Niedersachsen:"Unser gemeinsames Ziel ist, ein Endlagersuchgesetz im Entwurf bis zum Sommer 2012 auf den Weg zu bringen."Zunächst liegen die Verhandlungen im Zeitplan. Die Arbeitsgruppe kommt gut voran. Am 24. April 2012 - inzwischen sind auch die Bundesfraktionen von SPD und Grünen in Gestalt der beiden ehemaligen Umweltmister Gabriel und Trittin an den Gesprächen beteiligt - sieht alles nach einem baldigen Abschluss aus. Vor allem vier Punkte müssen zu diesem Zeitpunkt noch geklärt werden: Wie geht es weiter mit Gorleben, werden die Kriterien für die Suche ins Gesetz geschrieben oder erst später entwickelt, wie viele Standorte sollen unterirdisch erkundet werden und wer organisiert die Suche? Der Konsens ist zu greifen, sagt Röttgen an diesem Tag wörtlich und auch Trittin ist zuversichtlich:"Wir werden einen nächsten Termin machen und bei diesem Termin sehen wie eine Chance für eine Einigung."Doch diesen Termin gibt es zunächst nicht. Im Mai 2012 verliert Norbert Röttgen als Spitzenkandidat der CDU die vorgezogene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und muss den Posten als Bundesumweltminister räumen. Sein Nachfolger Peter Altmaier glaubt an ein Gesetz noch im laufenden Jahr und führt Gespräche mit allen Beteiligten. Im Juni lädt er Gabriel und Trittin sogar in seine Berliner Altbauwohnung ein, um die Verhandlungen voranzutreiben. Doch Gespräche in großer Runde gibt es nicht mehr, stattdessen Streit: SPD und Grüne werfen dem CDU-Minister vor, eine Lösung zu verzögern. Vor allem um die Frage, wer soll für die Suche zuständig sein, gibt es Zwist. Altmaiers Vorgänger Röttgen wollte ein wissenschaftliches Institut dafür schaffen; die Opposition das BfS, das Bundesamt für Strahlenschutz, damit beauftragen. Am Ende wird es nun zwei Behörden geben: Das BfS sucht und erkundet potenzielle Standorte. Und eine neue Regulierungsbehörde überwacht das Ganze.Auch Trittin und Gabriel bläst zeitweilig ein scharfer Wind entgegen. Parteifreunde fühlen sich übergangen. Die SPD hatte auf einem Parteitag beschlossen: Eine neue Suche darf es nur ohne Gorleben geben, was ihr Vorsitzender Gabriel schlicht ignoriert. Die Grünen in Niedersachsen beklagen intransparente Verhandlungen. Stefan Wenzel, damals Chef der grünen Fraktion in Hannover, schreibt in einem Brief an die Parteispitze:"Vor diesem Hintergrund sehen wir mit großer Sorge, dass Bundesvorstand und Bundestagsfraktion (…) nun eine Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses betreiben, ohne dass glaubwürdige und substanzielle Vorschläge zur Beteiligung der Zivilgesellschaft vorliegen oder geplant sind."Als dann die Landtagswahl in Niedersachsen Ende Januar näher rückt, liegen die Verhandlungen endgültig auf Eis. SPD und Grüne wollen das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten, Altmaier lässt sich darauf ein. Die abschließende Verhandlungsrunde wird auf das Frühjahr vertagt. Im Salzstock Gorleben wird derweil nicht weiter gearbeitet. Ende November des vergangenen Jahres hat Altmaier erklärt:"Diese Erkundungsarbeiten werden von jetzt an im Vorgriff auf eine Konsenslösung ruhen. Jedenfalls bis zur Bundestagswahl, und ich hoffe, darüber hinaus."Die Landtagswahl führt zum Regierungswechsel in Niedersachsen. SPD und Grüne in Hannover fordern noch einmal den Ausschluss Gorlebens und scheitern damit. Stattdessen wird die Bund-Länder-Kommission ersonnen, und es soll keine Castortransporte mehr ins Wendland geben, um Niedersachsen zu entlasten. Als Erster erklärt sich Robert Habeck, der grüne Umweltminister in Schleswig-Holstein, dazu bereit, einige der 26 Behälter mit deutschem Atommüll, die ab 2015 aus Frankreich und Großbritannien zurück erwartet werden, in seinem Bundesland zwischenzulagern. Vor der abschließenden Verhandlung am 9. April hofft der Minister noch, dass auch andere Länder sich solidarisch zeigen:"Es wäre sozusagen ein Kuhhandel, wenn man sagt, mit dem Atomklo Gorleben hören wir auf und machen daraus das Atomklo Schleswig-Holstein oder Brunsbüttel."Doch außer Winfried Kretschmann bewegt sich kein Ministerpräsident. Außer Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg scheint kein Bundesland bereit zu sein, Castoren auf dem Gelände seiner Atomkraftwerke zwischenzulagern. Habeck zeigt sich gegenüber dem NDR enttäuscht:"Ich fahr auch mit einer gewissen Verbitterung nach Hause wie hart die Länderegoismen doch durchgehen. Eigentlich fasse ich’s nicht."Eigentlich lebt Philippsburg - 30 Kilometer nördlich von Karlsruhe - seit 1979 gut mit der Atomkraft. Die EnBW verdiente jahrzehntelang gutes Geld mit den beiden Reaktoren am Ort – wovon über die Gewerbesteuer auch die Gemeinde profitierte. Das sieht man dem Städtchen auch an: Hinter dem historischen Rathaus schließt sich ein großzügiger Neubau an, die Sportvereine trainieren in modernen Hallen und der Marktplatz vor der Kirche ist gepflegt. "Ja sind die Befürchtungen halt da, dass noch mehr Castoren kommen von England oder von Frankreich und dass das Ding irgendwann voll ist und es nicht mehr reicht für den eigenen Dreck","sagt ein Herr, der im Eiscafé am Marktplatz sitzt. Von Kretschmanns Vorschlag, fünf Castoren aus La Hague, die ursprünglich nach Gorleben sollten, in Philippsburg zu parken, haben die meisten Menschen hier gehört. Verständnis dafür haben sie nicht: ""Ich bin ganz dagegen, weil wir schon überfordert sind, mit dem, was jetzt schon ist. Das wär‘ zu viel. ...Das darf nicht sein. Den eigenen Dreck behalten wir, aber den fremden nicht!"So sieht es auch Bürgermeister Stefan Martus. Das Zwischenlager am Standort habe man vor zehn Jahren zähneknirschend hingenommen. Und zwar, das betont der CDU-Politiker, weil die Politik den Bürgern damals eine begrenzte Lagerung nur von Atommüll aus Philippsburg zugesichert habe. Gegen die neuen Pläne der Landesregierung kündigt er zivilen Ungehorsam an. "Ich gehe mal davon aus, dass sowohl das antragsbedingte Genehmigungsverfahren mit Demonstrationen begleitet wird, als auch der Transport."Seine Parteifreunde im Stuttgarter Landtag weiß der Bürgermeister wohl hinter sich. Auch CDU-Fraktionschef Peter Hauk lehnt eine erweiterte Zwischenlagerung am Kernkraftwerk Philippsburg ab. Wie Bundesumweltminister Peter Altmaier auf die Haltung seiner baden-württembergischen Parteifreunde reagieren wird, bleibt abzuwarten. Landesumweltminister Franz Untersteller von den Grünen jedenfalls schüttelt nur den Kopf: "Wir reden über fünf Behälter mit mittelradioaktiven Abfällen. Und ich würde doch darum bitten, dass man da ein wenig abrüstet und wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückfindet. Es gibt die Riesenchance, einen Konsens in der Endlagerfrage hinzukriegen. Und die Frage der zurückkehrenden Castoren aus Sellafield und La Hague ein Teil. Und es wäre wirklich leichtfertig, sich der Lösung hier zu verweigern."
Von Christel Blanke, Michael Brandt und Axel Schröder
Vor zweieinhalb Jahren rollten die vorerst letzten Castoren durchs Wendland zum Zwischenlager Gorleben. Am Mittwoch befasst sich das Bundeskabinett mit dem Entwurf für das sogenannte Endlagersuchgesetz, mit dessen Hilfe nach Alternativen zum Salzstock gesucht werden soll.
"2013-04-23T16:40:00"
"2020-02-01T15:15:28.718000"
https://www.deutschlandfunk.de/endlager-gesucht-100.html
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Keines dieser Ismus-Ensembles
Das Londoner Riot Ensemble bei der Einspielung zu „Song Offerings“ im Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Deutschlandradio/Moritz Bergfeld) Das Riot Ensemble ist ein musikalisches Chamäleon. Es tritt in verschiedensten Besetzungen und Ensemblegrößen auf. Auch die Auswahl der Programme gestaltet sich denkbar facettenreich: "Wir wollen uns auf keine einzelne Strömung in der neuen Musik beschränken", sagt Aaron Holloway-Nahum, "weder auf Minimalismus, Spektralismus oder Konzeptualismus. Wir sind keines dieser Ismus-Ensembles." Über die Konzertprogramme entscheidet bei Riot ein "artistic board" von 18 Musikern. Die Mitglieder des Ensemble betrachten Flexibilität nicht als zufälliges Nebenprodukt, sondern als Kern ihrer Arbeit. Für ihre neue CD haben sie Liedzyklen junger britischer Komponisten zusammengestellt: Kompositionen von Samantha Fernando, Aaron Holloway-Nahum, Laurence Osborn sowie Tagore-Lieder von Jonathan Harvey. Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung 30 Tage lang anhören.
Am Mikrofon: Leonie Reineke
"An unserem Ensemble liebe ich, dass wir auch Musik spielen, die ich ablehne", sagt Aaron Holloway-Nahum. Der musikalische Leiter des Riot Ensembles beschreibt damit die Vielfalt und die Flexibilität der jungen britischen Formation. Ihre neue CD produzierte sie im Deutschlandfunk Kammermusiksaal.
"2020-08-08T20:05:00"
"2020-08-06T07:54:47.006000"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-dlf-produktion-keines-dieser-ismus-ensembles-100.html
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Finnland - ein starker Partner für die Allianz
Finnland kann im Ernstfall 280.000 Soldaten sowie 900.000 Reservistinnen und Reservisten mobilisieren – bei nur fünfeinhalb Millionen Einwohnern (dpa/picture-alliance/Kaisa Siren)
Köhne, Gunnar
Der NATO-Beitritt stand für Finnland aus historischen Gründen lange nicht zur Debatte – bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die geplante Norderweiterung der Allianz läuft den Interessen Russlands zuwider. Moskau zeigt sich zur Überraschung mancher vorerst aber betont gelassen.
"2022-06-28T16:40:00"
"2022-06-28T16:40:00.007000"
https://www.deutschlandfunk.de/schnelle-zeitenwende-im-norden-finnland-und-der-nato-beitritt-dlf-f9dbf36e-100.html
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"Wir sind in der Minderheit"
Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi (picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler) Der Islamismus sei eine Richtung im Islam, die zwar nicht viele Anhänger habe, aber auch bei ihm Angst auslöse, sagte Tibi. "Islamisten sind Muslime. Ich habe viele Fundamentalisten interviewt, das sind gläubige Muslime. Sie verstehen ihre Taten nicht als Verbrechen, sondern als Vollzug eines religiösen Aktes." Islamismus sei jedoch nicht mit Bomben oder der Polizei zu bekämpfen, sondern mit Aufklärung. Europäisierte Muslime - "Wir sind in der Minderheit" Den Islam nannte Tibi eine "tolerante Religion". Verse aus dem Koran, die zum Kampf gegen und zur Tötung von Andersgläubigen aufrufen, könnte heute nicht mehr gelten. "Es gibt eine Reihe von Koranversen, die man heute nicht vertreten kann. Das sind Texte aus dem siebten Jahrhundert, die muss man im historischen Zusammenhang sehen." Sein Konzept vom europäischen Islam sei immer noch keine Realität, bedauert Tibi. Es gebe in Europa drei Arten von Muslimen: Solche, die Parallelgesellschaften leben, aber auch integrierte Muslime, die sich jedoch fremd und ausgegrenzt fühlen. Und es gebe europäisierte Muslime, die das Wertesystem Europas in Einklang mit dem Islam bringen wollen. "Wie ich - aber wir sind in der Minderheit. Da bin ich Realist." Die Pegida-Bewegung schade der Integrierung von Muslimen "auf allen Ebenen", sagte Tibi. Der größte Schaden sei die Ausgrenzung. "Dadurch unterstützt Pegida Islamisten, weil Muslime so eher anfällig für Islamismus werden." Das Interview in voller Länge: Christine Heuer: Paris ist heute die Hauptstadt der Welt. Das hat Präsident Francois Hollande gestern beim republikanischen Marsch in der französischen Hauptstadt gesagt. Und in der Tat hat es solche Bilder wie die, die auch die allermeisten von Ihnen gesehen haben werden, noch nie gegeben: Untergehakte Regierungschefs, allein in Paris bis zu anderthalb Millionen Demonstranten für Freiheit und Demokratie, "Je suis Charlie Hebdo" wohin das Auge blickt. Der Islamforscher Bassam Tibi ist gläubiger Muslim. Er wurde 1944 in Damaskus geboren, kam 1962 nach Deutschland und ist seit 1976 deutscher Staatsbürger. Seine wissenschaftliche Karriere ist gewaltig. Unter anderem ist er es, der die Begriffe "europäische Leitkultur" und "Euro-Islam" erfunden und geprägt hat. Bassam Tibi setzt sich seit Jahrzehnten für einen Islam ein, der Demokratie, Pluralismus und andere westliche Werte integriert. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Tibi. "Einen einheitlichen Islam gibt es nicht" Bassam Tibi: Guten Morgen! Ich grüße Sie. Heuer: Thomas de Maizière hat in Reaktion auf die Anschläge in Paris relativ rasch gesagt, die hätten nichts mit dem Islam zu tun. Stimmt das? Tibi: Das Problem, dass die Politiker das wirklich gut meinen, also nicht nur Herr de Maizière, sondern vor ihm Herr Cameron. Der britische Premier hat gesagt, das sind keine Muslime, das sind Monster. Und Herr Hollande, der französische Präsident, hat dasselbe jetzt vor ein paar Tagen wiederholt. Ich arbeite seit 30 Jahren über den Islamismus. Einen einheitlichen Islam gibt es nicht. Es gibt innerhalb der islamischen Zivilisation verschiedene Richtungen und der Islamismus ist eine davon. Es ist eine Minderheit, je nach Land, zwischen fünf und zehn Prozent, maximal zehn Prozent. Aber die Islamisten sind Muslime. Ich bin ein Moslem, ich bin kein Islamist, ich bin Islamismus-Kritiker. Aber ich habe 2.500 islamische Fundamentalisten oder Islamisten interviewt in 20 verschiedenen Ländern, in den zehn Jahren vor meiner Pensionierung interviewt, und ich bin zum Ergebnis gekommen, das sind gläubige Muslime und sie verstehen das, was sie tun, nicht als ein Verbrechen, sondern als eine Vollziehung eines religiösen Akts. Man kann diese Islamisten nicht bekämpfen mit Bomben und mit Polizei, sondern mit Aufklärung. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam. Heuer: Herr Tibi, 47 Prozent der Deutschen - das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Bertelsmann-Studie - haben Angst vor dem Islam. Was am gelebten Islam in Deutschland ist denn gefährlich? Tibi: Ja, das ist der Unterschied zwischen Islam und Islamismus. Ich habe auch Angst vor Islamismus und ich kann Ihnen verraten, weil das jetzt länger zurückliegt, ich stand fünf Jahre lang unter dem Schutz des Bundeskriminalamtes, weil Islamisten versucht haben, in den 90er-Jahren mich zu ermorden. Ich habe Angst vor dem Islamismus als Moslem und die Angst ist nicht die richtige Antwort, sondern wir brauchen eine Sicherheitspolitik. Wir brauchen eine Sicherheitspolitik und wir brauchen Aufklärung. Die Aufklärung würde dazu führen, dass die Mehrheit der Deutschen und der Europäer verstehen, Islam ist eine Religion und eine tolerante Religion und vor dem Islam braucht man keine Angst zu haben. Heuer: Aber das ist er ja nicht nur. Es gibt im Koran Passagen, in denen die Ermordung Andersgläubiger bejaht wird. Tibi: Ja. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam und wir aufgeklärte Muslime treten für die Historisierung des Koran-Textes ein. Es gibt eine Reihe von Koran-Versen, die man heute nicht vertreten kann, unter anderem die Verse, die Sie angeführt haben, die aufrufen zum Kampf gegen Ungläubige und auch zur Tötung der Ungläubigen. Wir sagen, wir aufgeklärte Muslime, wir sagen, das sind Texte aus dem 7. Jahrhundert und man muss diesen Text im historischen Zusammenhang des 7. Jahrhunderts verstehen. Für das 20. Jahrhundert, für die Muslime im Allgemeinen, vor allem auch die Muslime in Europa gelten diese Koran-Texte nur im historischen Kontext. Sie können für Europa nicht gelten. "Europäisierte Muslime sind eine kleine Minderheit" Heuer: Herr Tibi, wie beliebt ist denn dieser aufgeklärte Euro-Islam, für den Sie sich so stark einsetzen, unter den Muslimen in Deutschland - und ich spreche über die Mehrheit der Muslime? Tibi: Ich bin ein ehrlicher Aufklärer, ein ehrlicher Moslem und sage, mein Konzept vom europäischen Islam ist übrigens in Paris entstanden. Ich bin 92 nach Paris eingeladen worden von der französischen Regierung, um ein Konzept für die Integration vorzulegen, und ich habe ein Papier in Paris vorgelegt, Institut du monde arabe, dieses Papier hieß "Die Rahmenbedingungen des Euro-Islam", und ich habe gesagt, eine europäische Deutung des Islam ist die Leitkultur der Muslime. Das ist eine Vision und leider ist es immer noch eine Vision. Eine Realität eines europäischen Islam gibt es nicht. Es gibt drei Richtungen in Europa für den Islam. Es gibt Muslime, die in Parallelgesellschaften leben. Gehen Sie nach Berlin, nach Neukölln, Kreuzberg, in bestimmten Teilen können Sie das sehen, Parallelgesellschaften. Dann gibt es Muslime, die integriert sind im Sinne, dass sie europäischen Gesetzen folgen, aber sie fühlen sich fremd, sie stehen draußen. Und es gibt europäisierte Muslime, die versuchen, das islamische Wertesystem mit dem europäischen Wertesystem in Einklang zu bringen. Dazu gehöre ich und ich bin ehrlich, wir sind eine kleine Minderheit. Heuer: Birgt denn der Terror in Frankreich jetzt die Chance, dass sich die gemäßigten Muslime zu Wortführern machen? Beginnt da eine Debatte in der islamischen Gesellschaft in Deutschland? Tibi: Es gibt zwei Verbände für liberale Muslime in Deutschland. Es geht nicht um einzelne Individuen, und das ist schon ein Fortschritt. Ein Verband wird vorwiegend von Frauen vertreten und ein Verband von Männern. Leider gibt es diese Trennung zwischen Männern und Frauen im Islam auch. Es gibt liberale Muslima-Verbände, Frauenverbände, und es gibt einen männlichen Verband. Aber in Frankreich, die Zentralmoschee in Paris, das ist die größte liberale islamische Einrichtung in ganz Europa. Der ehemalige Imam dieser Moschee, Dalil Boubakeur, ist Anhänger meines Konzepts vom Euro-Islam. Wir haben beide zusammengearbeitet. Heuer: Aber, Herr Tibi, wie groß schätzen Sie denn die Chancen ein, dass Sie sich jetzt mit dem Euro-Islam, mit dieser Idee bei der Mehrheit der Muslime durchsetzen? Tibi: Das hängt ab von zwei Gruppen. Eine Gruppe sind deutsche Politiker, denn Euro-Islam setzt sich nur durch im Rahmen der Bildung. Wir brauchen also Unterstützung der deutschen Politiker und wir brauchen auch eine Zustimmung des organisierten Islam. Einer der Vertreter dieses aufgeklärten Islam ist Professor in Münster, Professor Khorchide. Er wird leider bekämpft vom Zentralrat der Muslime. Weil er einen aufgeklärten Islam vertritt, haben die ihn aufgefordert, eine Reue zu bekennen. Reue wofür? "Der Euro-Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus" Heuer: Herr Tibi, hoffnungsvoll klingen Sie da nicht. Tibi: Ich bin nicht hoffnungslos. Ich bin nicht hoffnungslos, aber auch nicht hoffnungsvoll, weil ich Realist bin. Wir werden nicht unterstützt. Ohne Unterstützung kann europäischer Islam nicht verbreitet werden. Der europäische Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus. Sie können die Terroristen bekämpfen, die Islamisten, nicht alle Islamisten sind Terroristen, aber die dschihadistischen Islamisten sind Terroristen. Die können Sie bekämpfen am besten durch Aufklärung und Bildung und dazu brauchen wir die Unterstützung der Medien, der deutschen Politiker, und ich hoffe, dass auch die Vertreter des organisierten Islam nicht nur verbal verurteilen, was in Paris war, sondern dass sie mitarbeiten. "Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten" Heuer: Herr Tibi, Sie kommen selbst aus Damaskus. Wie erleben Sie denn die Pegida-Proteste gegen Zuwanderer und Flüchtlinge, die wir im Moment erleben? Tibi: Die Pegida-Bewegung tut Schaden auf allen Ebenen. Der größte Schaden dieser Pegida-Bewegung ist Ausgrenzung der Muslime und durch Ausgrenzung der Muslime unterstützt Pegida die Islamisten, denn die Islamisten sind gegen Integration. Integration der Muslime immunisiert die Muslime gegen die Verführung des Islamismus. Und wenn Muslime ausgegrenzt werden, dann werden sie anfällig für den Islamismus. Pegida trägt zur Anfeindung des Islams generell bei der deutschen Bevölkerung bei. Das ist ein großer Schaden. Für mich der größere Schaden ist die Ausgrenzung: Denn Muslime, die ausgegrenzt werden, sind anfällig für den Islamismus und da muss man Pegida dafür verurteilen. Pegida will Sicherheit, aber Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten. Eine größere Unterstützung der Islamisten kann nicht erfolgen ohne das, was Pegida tut. Heuer: Bassam Tibi, Islamforscher, Buchautor. Herr Tibi, ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen heute Früh. Tibi: Ich danke Ihnen auch für das Gespräch. Heuer: Einen guten Tag. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bassam Tibi im Gespräch mit Christine Heuer
Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi sieht seine Idee vom "Euro-Islam" weit von einer Umsetzung entfernt. "Das ist eine Vision, leider ist sie das immer noch", sagte Tibi im Deutschlandfunk. Terror und Fundamentalismus könnten nur mit Bildung und Aufklärung bekämpft werden, die Pegida-Bewegung unterstütze Islamisten dagegen indirekt.
"2015-01-12T06:15:00"
"2020-01-30T11:16:30.023000"
https://www.deutschlandfunk.de/islamismus-debatte-wir-sind-in-der-minderheit-100.html
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Was die Symbole der US-Rechtsextremen bedeuten
Mit Südstaatenflaggen und Schulzschilden: Rechtsextreme Demonstranten in der US-Stadt Charlottesville (imago / Pacific Press Agency) Man sieht Anhänger des Ku Klux Klan auf der Straße marschieren, Menschen, die die Südstaaten-Flagge schwenken, andere heben die Hand zum Hitlergruß. Der Kampf der Rechten ist ein Kampf um Symbole. Die USA seien eine multiethnische Einwanderernation, man könne sich schwer auf eine gemeinsame Geschichte berufen – "also muss man sich auf Symbole berufen", sagte Michael Hochgeschwender, Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte. Neben der Fahne seien es Erinnerungen an historische Ereignisse, wie den Unabhängigkeitskrieg, die Verfassung, den Bürgerkrieg. Unter Trump verschärfte sich der Streit "Diese Symbole werden permanent umgedeutet", meint Hochgeschwender. General Robert E. Lee, dessen Statue in Charlottesville entfernt werden sollte, was der Stein des Anstoßes für die Proteste war, habe über 100 Jahre als Symbol der Einheit der Nation gegolten – auf Kosten der schwarzen Minderheit. "In dem Moment, wo man die schwarze Minderheit über die Bürgerrechtsbewegung stärker einbezieht, verliert eine Person wie Robert E. Lee ihren Status.", sagte Hochgeschwender. "Aber dann gibt es immer wieder Personen, die daran festhalten, dass er diesen Status behält." Unter Trump habe dieser Streit besonderen Zündstoff bekommen. Das Gespräch können Sie nach der Sendung mindestens sechs Monate lang als Audio-on-demand abrufen.
Michael Hochgeschwender im Interview mit Adalbert Siniawski
Ob in Nachrichten oder sozialen Netzwerken: Nach den Zusammenstößen in Charlottesville erreichen uns ideologisch aufgeladene Fotos mit historischen Bezügen wie der Südstaatenflagge. "Symbole und Bilder sind zentral identitätsstiftend für die USA", erklärte Historiker Michael Hochgeschwender im Dlf.
"2017-08-14T13:05:00"
"2020-01-28T09:45:52.518000"
https://www.deutschlandfunk.de/gewaltsame-proteste-in-charlottesville-was-die-symbole-der-100.html
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Fundament einer Fußballtradition?
Die katarische Fußball-Nationalmannschaft feiert ihren Sieg beim Asien Cup. (imago sportfotodienst) Der spanische Trainer Félix Sánchez Bas betreut die katarische Nationalmannschaft seit 2017. Er gilt als prägender Kopf des sportlichen Aufstiegs: "Ich arbeite nun schon lange in Katar. Für mich sind die Leistungen unseres Teams keine Überraschung. Wir haben eine gute Gemeinschaft, und die Spieler haben sich in den vergangenen Monaten sehr gut entwickelt. Sie haben noch Zeit, weiter zu wachsen." Félix Sánchez begann als Jugendtrainer beim FC Barcelona. 2006 wechselte er in die "Aspire Academy" in Doha, eines der größten Trainingszentren für Spitzensport der Welt. Die 2004 eröffnete Akademie ist das Zentrum für die wohl intensivste Talentsichtung der Fußballgeschichte. Hunderttausende Jugendliche wurden für Katar auf drei Kontinenten beobachtet. Die Vergabe der WM 2022 im Jahr 2010 habe das System auf ein neues Niveau gehoben, berichtet Florian Bauer, der für die ARD mehrfach in Katar recherchiert hat: "Mit unfassbar viel Geld, mehreren hundert Millionen Euro. Und vor allem mit externem Know-how. Und seitdem arbeiten dort Trainer von Manchester City, aus der Bundesliga, da kommen jede Woche Jugendmannschaften, vom VfB Stuttgart über Real Madrid über den FC Everton, Liverpool et cetera, und spielen gegen katarische Jugendmannschaften." Vier Spieler wurden nicht in Katar geboren Felix Sánchez führte 2014 die U19-Auswahl zum Gewinn der Asienmeisterschaft. Er lernte in der "Aspire Academy" jene Spieler kennen, die nun das Gerüst der A-Nationalmannschaft bilden. Ihr Durchschnittsalter aktuell: 24 Jahre. Etliche Nationalspieler haben Vorfahren in anderen Ländern, doch nur vier wurden nicht in Katar geboren. Darunter Almoez Ali mit Wurzeln im Sudan und Bassam Al Rawi, geboren im Irak. Beide seien nicht spielberechtigt, behauptete der Fußballverband der Emirate am Donnerstag, doch der Asiatische Verband AFC wies den Protest zurück. Die Richtlinien für Einbürgerungen sind im Fußball strenger als in anderen Sportarten. Und doch spielen Einbürgerungen in der katarischen Sportpolitik eine große Rolle, sagt der Politikwissenschaftler Danyel Reiche von der Amerikanischen Universität Beirut: "Die Anzahl der Menschen, die Sport treiben, ist sehr niedrig. Trotz aller Bemühungen in den letzten Jahren, gerade auch was den Schulsport angeht. Und insofern dienen die Einbürgerungen dazu, zu kaschieren, dass es vor Ort wenige wettbewerbsfähige Athleten gibt. Und halt um schneller Erfolge zu erzielen auf internationaler Ebene. Denn am Ende beispielsweise der Asienmeisterschaft guckt immer jeder auf das Medaillenranking und da ist Katar von allen Golf-Ländern das erfolgreichste Land, obwohl es ja so viel kleiner ist als zum Beispiel Saudi-Arabien." Ausbildungsstätte in Belgien Die traditionellen Fußballländer schauen wegen der Einbürgerungen kritisch auf Katar. Daher möchte der Verband die Aufmerksamkeit auf seine Langzeitplanung richten, zum Beispiel auf den KAS Eupen. 2012 hatten katarische Investoren den belgischen Verein gekauft. Die "Aspire Academy" schickte 19 Spieler nach Eupen, um Erfahrungen zu sammeln, darunter sieben aktuelle Nationalspieler. Und so ähnlich soll es weitergehen, sagt Ali Al Salat, Sprecher des katarischen Fußballverbandes: "Es ist unser Plan, dass unsere Spieler weiter in Europa spielen, um die großen Teams in den wichtigen Wettbewerben kennenzulernen. Wir möchten das Beste für unsere Spieler, damit sie für die WM 2022 in guter Form sind." Nach anderthalb Jahrzehnten produzieren die Spitzensportstrukturen die ersten sichtbaren Ergebnisse. Katar wird im Sommer als Gastmannschaft an der Copa América in Brasilien teilnehmen. Aber reicht das? Das Nationalteam repräsentiert die katarische Gesellschaft kaum. Von den 2,5 Millionen Einwohnern haben nur etwa zehn Prozent einen katarischen Pass, bei der Mehrheit handelt es sich um Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan oder Nepal. Sie bauen die WM-Stadien, sind aber für den geplanten Boom sonst kaum von Interesse. Nur 15 Prozent der Frauen sind sportlich aktiv Wenn Katar langfristig Erfolg haben wolle, brauche das Land eine Sportkultur, sagt der Wissenschaftler Danyel Reiche. Lokale Vereine, Breitensportgruppen und ungezwungene Straßenspiele gibt es bislang selten: "Allerdings wird insgesamt in Katar schon versucht, Sport aufzuwerten. Es ist eines der wenigen Länder, wo es einen nationalen Sporttag gibt. Ein Tag im Jahr ist ein Feiertag, der dem Sport gewidmet ist. Aber speziell bei Frauen ist das Problem groß: Laut der nationalen Sportstrategie machen nur 15 Prozent der Frauen regelmäßig Sport und gefragt danach, welchen Sport sie betreiben, haben 58 Prozent dieser 15 Prozent gesagt: Walking." Im März 1970 bestritt die katarische Fußball-Nationalmannschaft ihr erstes Länderspiel. Fast 50 Jahre später hat sie nun beim Asien Cup erstmals ihre Statistenrolle abgelegt. Ob das der Beginn einer Tradition ist, wird sich erst zeigen, wenn die heimische Liga im Schnitt mehr als ein paar Tausend Zuschauer anlockt.
Von Ronny Blaschke
Die Nationalmannschaft Katars hat zum ersten Mail die Asienmeisterschaft gewonnen. Zuvor hat sie bei neun Teilnahmen an dem Turnier insgesamt nur sechs Spiele gewonnen. Hinter dem Aufstieg steht unter anderem eine intensive Nachwuchsförderung. Bei der WM 2022 im eigenen Land wollen die jungen Spieler ihren Zenit erreichen.
"2019-02-01T23:00:00"
"2020-01-26T21:36:08.369000"
https://www.deutschlandfunk.de/katars-sieg-bei-der-asienmeisterschaft-fundament-einer-100.html
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Weckruf für die Bevölkerung
Die schwedische Regierung hat eine Broschüre an alle Haushalte in Schweden verschickt, um die Bevölkerung auf den Fall eines Kriegs oder einer Krise vorzubereiten (AFP / Pontus Lundahl / Arvid Steen) "Ein paar Tage würden wir mit unseren Vorräten wohl überleben können. Wir haben drei Dosen Fischbulletten, Tomaten und Champignons in der Dose, Bohnen. Und da hinten sehe ich noch Gulasch. Das sollte reichen. Aber wir könnten uns noch ein paar Trinkwasserkanister anschaffen. Die könnte man dann im Krisenfall auffüllen." Und so ein Krisenfall könnte schneller eintreten, als sich Christina Falck lange vorstellen konnte. Die Stockholmer Rentnerin geht von ihrer Küche auf den Balkon ihrer Drei-Zimmer-Neubauwohnung und zeigt auf eine Broschüre, die sie in ihrem Briefkasten fand: "Wichtige Information an alle schwedischen Haushalte: "Für den Fall eines Krieges oder Krise" steht auf dem Umschlag zu lesen. Dazu zwei Zeichnungen. Die eine zeigt Soldaten im Gefechtseinsatz, die andere eine Familie vor Transistorradio und gestapelten Lebensmittelvorräten. An alle 4,8 Millionen Haushalte des Landes ging das 20-seitige Heft. Nachdenklich blättert Falck darin: "Das war an der Zeit. Schweden hat allzulange geglaubt, sich auf einen Krieg oder andere Krisen nicht vorbereiten zu müssen. Klar, vor einem Jahr hat sich das noch niemand vorstellen können. Aber seitdem ist doch soviel passiert auf der Welt! Man redet jetzt viel mehr über die Bedrohungen, wenn auch eher in Form von Terror als Krieg." Bevölkerung in Bereitschaft Sie rückt ihre Brille zurecht und blättert weiter. Ihr Balkon zeigt auf einen Golfplatz. Ein paar Spieler ziehen mit ihren schweren Taschen über das satte Grün. In der Ferne blitzt das Wasser um die Schäreninseln auf. Ein friedliches Bild. 210 Jahre sind seit Schwedens letztem Krieg vergangen. Damals verlor das Königreich seine Provinz Finnland an die Russen. Doch auf einmal liegt sie schwarz auf weiß auf Christina Falcks Balkontisch: die Kriegsgefahr."Das hier ist ein guter Tipp: Dass man sich ein batteriebetriebenes Radio anschaffen sollte, für den Fall, dass die Stromversorgung zusammenbricht. Und auf dieser Seite werden die Sirenentöne des Katastrophenschutzes erklärt." Zehn Kilometer weiter westlich sitzt Niklas Granholm und zieht die Augenbrauen zusammen zu einem Gesichtsausdruck zwischen Zufriedenheit und Sorge. Für den stellvertretenden Leiter des Stockholmer Forschungsinstituts für Verteidigungsfragen – so etwas wie dem Think-Tank der Regierung in Sachen Krieg und Frieden - ist die Lage ernst. Aber die Regierung habe die Zeichen der Zeit glücklicherweise erkannt:"Wir haben das erste Mal seit langem unser Verteidigungsbudget erhöht, auch wenn es immer noch rund ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Wir haben eine neue Generation von U-Booten bestellt und neue Kampfjets der schwedischen Gripen-Serie. Und nicht zu vergessen: Wir haben die Wehrpflicht wieder eingeführt." Die schwedische Luftwaffe bekommt neue Gripen-Kampfjets und neue U-Boote, berichtet Niklas Granholm vom Stockholmer Forschungsinstitut für Verteidigungsfragen (AFP/ Jonathan Nackstrand) Russische Raketen in der Nachbarschaft Und die Liste, die Granholm an den Fingern seiner Hand abzählt, wird länger: Beistandsabkommen mit den Nachbarn Finnland und Dänemark, Gespräche mit Norwegen und Großbritannien über Abkommen gleicher Art, außerdem mehr gemeinsame Manöver mit der NATO. Während des Kalten Krieges galt in Schweden das strikte außenpolitische Credo: Blockfreiheit in Friedenszeiten und Neutralität in Kriegszeiten. Letzteres jedenfalls gilt nicht mehr: Schweden will sich nicht heraushalten, wenn es in seiner Nachbarschaft knallt. Granholm beugt sich nach vorne und schlägt mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis: "Die nordische und baltische Regionen und ihr Meer müssen als ein strategisches Gebiet begriffen werden. Denn die Reichweiten der Waffensysteme, denen wir gegenüber stehen, betreffen uns alle gleichermaßen." Eine Iskander-Rakete bei einer Militärparade in Kaliningrad: Russland stationiert die Flugkörper seit Anfang des Jahres in seiner Exklave an der Ostsee (picture alliance / Igor Zarembo/Sputnik/dpa) Warum nicht gleich der NATO beitreten? Gemeint sind die russischen Raketensysteme, unter anderem installiert in der Ostsee-Enklave Kaliningrad. Aber warum dann nicht gleich der NATO beitreten? Granholm hebt ratlos die Hände: "Dazu braucht es eine breite politische Zustimmung. Ohne die schwedischen Sozialdemokraten geht eine solche tiefgreifende Entscheidung nicht. Aber die Partei scheint noch immer nicht ihre Niederlage um die EU-Mitgliedschaft von 1995 überwunden zu haben, die viele von ihnen als Verrat an der Neutralität des Landes und ihren Idealen angesehen haben. Die Konservativen und die Zentrumsparteien dagegen haben sich in den vergangenen Jahren hin zu einer Pro-NATO-Haltung entwickelt. Klar ist: Im Falle eines offenen Konflikts in dieser Region würden wir ziemlich schnell die NATO-Mitgliedschaft beantragen." Aber so weit ist es noch nicht. Die Rentnerin Christina Falck, die auf ihrem Balkon vor der Bürgerbroschüre für den Ernstfall sitzt, würde eine NATO-Mitgliedschaft begrüßen. Wo doch selbst nach Ansicht der Regierung die Kriegsgefahr schon so groß ist, dass sie Informationsmaterial versenden muss. Die 65-Jährige klappt das Heft zu, setzt ihre Brille ab und schaut unschlüssig auf den Golfplatz hinaus: "Man wird sehen, ob dieses Heft dazu führt, dass die Menschen nun Hamsterkäufe tätigen und Wasser im Keller bunkern. Das glaube ich ja nicht. Aber es ist in jedem Fall ein Weckruf."
Von Gunnar Köhne
Batterien für das Radio, Wassertanks für den Keller, das Einmaleins der Sirenenklänge: Die Bevölkerung Schwedens wurde kürzlich mit einer Broschüre auf Kriegsszenarien eingestimmt. Die Sicherheitslage hat sich verändert, nicht erst seit Russland Raketen in Kaliningrad stationiert.
"2018-07-11T07:10:00"
"2020-01-27T17:00:39.478000"
https://www.deutschlandfunk.de/schweden-und-der-ernstfall-3-5-weckruf-fuer-die-bevoelkerung-100.html
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Die EU-Kommission und die Netzneutralität
Nach dem Wunsch des EU-Rats düften Provider für einen Videodienst beispielsweise einen Service anbieten, der ruckelfreie Bilder garantiert - realisiert durch eine Art Überholspur für Datenpäckchen. (picture alliance / ZB / Jan Woitas) Zur Streitschlichtung zwischen EU-Parlament und EU-Rat hat die EU-Kommission einen Kompromiss vorgeschlagen. "Diesen halten viele Parlamentarier aber für unakzeptabel", sagte IT-Journalist Peter Welchering. Inhaltlich sei die EU-Kommission mit diesem Kompromissvorschlag "erstaunlich nah bei den Vorstellungen des EU-Rates", so Welchering. Demnach dürfte das Netzwerkmanagement in die Verteilung der Datenpäckchen eingreifen, etwa um unerwünschte Inhalte wie Spam herauszufiltern, aber auch, um rechtlichen Verpflichtungen zu genügen. Ländern wie Großbritannien werde so letztendlich ein "Freibrief für deren Filterpolitik" ausgestellt. Im Vorfeld hatte das EU-Parlament sehr strikte Grenzen für die Zulassung von Spezialdiensten gefordert. Mit ihrem Kompromissvorschlag habe die EU-Kommission diese Grenzen ebenfalls stark aufgeweicht, sagte Welchering. Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate in unserem Audio-Archiv nachhören.
IT-Journalist Peter Welchering im Gespräch mit Manfred Kloiber
Während die meisten EU-Parlamentarier das Prinzip der Netzneutralität in den Mitgliedsstaaten durchsetzen wollen, haben die Regierungen im EU-Rat für die Einführung eines Zweiklassen-Internets gestimmt - inklusive Überholspuren für bestimmte Zusatzdienste. Einen nun von der EU-Kommission vorgelegten Kompromissvorschlag halten die Parlamentarier für unakzeptabel.
"2015-05-02T14:35:00"
"2020-01-30T11:34:51.016000"
https://www.deutschlandfunk.de/ungleiches-internet-die-eu-kommission-und-die-100.html
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Polizeichef von Dallas beklagt "Krieg gegen Cops"
Der Polizeichef von Dallas, David Brown, am Freitag bei einem Gedenkgottesdienst für die fünf getöteten Polizisten. (picture alliance / dpa / Erik S. Lesser) Das war eine schwere Woche für die USA – so begründete Präsident Obama im fernen Madrid seinen Entschluss, den Spanien-Besuch vorzeitig zu beenden und bereits am Sonntagabend abzureisen. Wie schwer diese Woche war und wie ihre blutigen Ereignisse nachwirken, das ist unter anderem auch an den zahllosen Demonstrationen in vielen Städten der USA abzulesen: In Louisiana und Minnesota, wo zwei Afroamerikaner kurz hintereinander von Polizisten erschossen wurden, kam es zu gewalttätigen Auseinandereinsetzungen - mit zwei Dutzend Verletzten und 100 Festnahmen. Dabei wurden Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen. In dieser äußerst angespannten Atmosphäre ist eine Debatte darüber entbrannt, wer in dieser Spirale der Gewalt die größeren Opfer bringen muss: die Afroamerikaner, die sich im Zeichen eines kollektiv verdrängten Rassismus verfolgt und diskriminiert sehen, oder die Polizeibeamten, die unter großem gesellschaftlichen Druck stehen und das Gefühl haben, dass ihre gefährliche Arbeit nicht gewürdigt wird. Gegeneinander der Bürgerbewegungen "Blue Lives Matter" setzen sie der Bürgerrechtsbewegung "Black Lives Matter" entgegen. Der Chef des nationalen Verbandes der Polizeiorganisationen spricht von einem "Krieg gegen Cops" und wirft Präsident Obama vor, für eine Kampfstimmung gegen Polizeibeamte gesorgt und damit den Boden für Dallas bereitet zu haben. Auch der Polizeichef von Dallas, David Brown, beklagt, dass die Polizeikräfte gewissermaßen unter rassistischem Generalverdacht stehen. Brown wurde nach den Todesschüssen von Dallas auf fünf seiner Mitarbeiter wegen seiner besonnenen und empathischen Art über Nacht zu einer Integrationsfigur in dieser Debatte wurde. Auch er beklagt die tiefen Gräben zwischen Polizei und Bürgern. Dabei machten 99 Prozent aller Polizisten einen großartigen Job und riskierten dabei ihr Leben. Dass sie jetzt so in der Kritik stünden, sei einfach nicht tragbar. Gefragt, was er den Demonstranten gegen die Polizeigewalt mit auf den Weg geben wolle, antwortete Brown: Wir sind darauf eingeschworen, Euch zu schützen und euer Recht auf Demonstrationen. Dafür sind wir auch bereit, unser Leben einzusetzen – wir würden aber gerne auch einmal hören, dass ihr das zu schätzen wisst. Das kann doch nicht so schwer sein. Obama wirbt erneut für schärferes Waffenrecht Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Debatte ist Präsident Obama darum bemüht, Brücken zu bauen und Gemeinsamkeiten zu betonen. Noch in Madrid sagte er, das ganze Land sei bei Weitem nicht so gespalten, wie das viele behaupteten. Das Land sei sich einig in der Ablehnung jeglicher Gewalt, sagte Obama. Eindringlich appellierte er an seine Landsleute, die Nöte beider Seiten zu sehen und sich gegenseitig besser zuzuhören. Im Übrigen sieht Obama nun auch in den Schüssen von Dallas einen weiteren Beleg für seine Forderung, endlich das laxe Waffenrecht zu verschärfen. "Wenn man für die Sicherheit der Polizisten sorgen will, kann man dieses Thema nicht beiseiteschieben und behaupten, das habe nichts damit zu tun." Am kommenden Dienstag wird der amerikanische Präsident ein zweites Mal binnen eines Monats an den Särgen von Gewaltopfern stehen: Nach dem Attentat von Orlando, das Besuchern eines Schwulenclubs galt, nun in Dallas, wo er an der Trauerfeier für die fünf getöteten Polizisten teilnehmen wird.
Von Thilo Kößler
Nach den tödlichen Schüssen auf Polizisten wird in den USA debattiert, wer die größeren Opfer bringen muss: Afroamerikaner oder Polizisten. Den "Black Lives Matter" wird ein "Blue Lives Matter" gegenübergestellt. Präsident Barack Obama sieht sein Land nicht so gespalten wie viele behaupten.
"2016-07-11T03:05:00"
"2020-01-29T17:40:18.273000"
https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-den-usa-polizeichef-von-dallas-beklagt-krieg-100.html
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"Es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben"
Der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht (Bodo Marks / dpa) Thielko Grieß: Ich begrüße Jan Philipp Albrecht am Telefon, Mitglied des Europäischen Parlaments, ein grünes Mitglied. Guten Tag, Herr Albrecht. Jan Philipp Albrecht: Ja guten Tag. Albrecht: Ich bin in meinem Abgeordnetenbüro im Europäischen Parlament, das ja wenige hundert Meter nur von dieser Metro-Station Malbeck entfernt ist, und wir sind auch alle gehalten, in unseren Büros oder in den Gebäuden zu bleiben, oder ganz zuhause zu bleiben für die, die noch nicht da sind. Grieß: Das Parlament hatte heute eigentlich einen normalen Arbeitstag vor sich? Albrecht: Wir hatten nicht nur einen normalen Arbeitstag, sondern mit einer sehr vollen Ausschusswoche, die ja auch sehr kurz ist wegen der Osterferien, viel auf dem Programm. Viele Termine werden jetzt kurzfristig abgesagt. Auch wir stehen natürlich jetzt vor der Herausforderung zu gucken, was können wir überhaupt noch leisten. Aber ich glaube, es ist auch richtig, nicht ganz in Untätigkeit zu verfallen, gerade für uns, die in dem Bereich Innen- und Sicherheitspolitik jetzt gerade arbeiten. "In dem Moment ändert sich das Stadtbild sofort" Grieß: Noch eine Frage zu Ihnen auch als womöglichen Augenzeugen. Was haben Sie heute Morgen auf dem Weg ins Parlament gesehen, beobachten können? Albrecht: Ich bin heute relativ früh schon hier zum Platz Luxemburg. Das ist der Platz direkt vor dem Europäischen Parlament. Wir hatten ein Frühstück mit unserer Parteichefin Frau Peter und da ist uns die Nachricht sozusagen direkt nach acht Uhr zu Ohren gekommen von den Anschlägen in Brüssel. Dann sind wir zu Fuß rübergegangen zum Parlament und in genau dem Moment muss es tatsächlich auch in dieser Metro-Station zu diesem Anschlag gekommen sein, und in dem Moment ändert sich natürlich das Stadtbild sofort. Die Menschen ziehen sich alle zurück und versuchen, ihre Angehörigen zu erreichen, das geht uns natürlich nicht anders, und versuchen, letztendlich allen Gefahrensituationen aus dem Weg zu gehen. "Wir sind in einer Europäischen Union, die im Fokus dieser Angriffe steht" Grieß: Wir bekommen hier, Herr Albrecht, gerade Eilmeldungen mit einem Statement des belgischen Premierministers Charles Michel, der in einer Pressekonferenz davon spricht, dass es sich bei diesen Anschlägen um Terroranschläge gehandelt habe. Richten sich diese Terroranschläge auf Belgien oder auf die Europäische Union? Albrecht: Ganz sicher lässt sich das nicht mehr trennen. Wir sind in einer Gemeinschaft europäischer Staaten, wir sind in einer Europäischen Union, die im Fokus dieser Angriffe steht. Unsere liberalen demokratischen Grundstrukturen, der Rechtstaat, die Grundrechte, die werden hier angegriffen, und ich glaube, das wäre falsch, wenn wir immer darin zurückfallen würden zu sagen, oh, hier ist in Frankreich was passiert, hier ist in Belgien was passiert und vielleicht auch mal woanders in Europa. Nein, es ist mitten in Europa. Wir sind zusammen in dieser Situation und wir müssen auch zusammenhalten, und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass jetzt die Behörden der EU-Länder ganz eng zusammenarbeiten und wir auch die Konsequenz daraus ziehen, dass wir uns nicht mehr nebeneinander her um diese Fragen kümmern können. Grieß: Ist dieses Nebeneinander denn nicht längst vorbei, spätestens seit dem 13., 14. November und Paris? Albrecht: Das ist ganz sicher der Fall. Wir haben zwischen den Behörden in Frankreich und Belgien insbesondere schon sehr gute Zusammenarbeit jetzt gesehen. Aber wir haben keine wirklich organisierte umfangreiche Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zwischen den Sicherheitsbehörden, noch immer nicht. Das kann sich auch nicht von heute auf morgen ändern. Das ist ein Prozess. Aber es ist wichtig, dass in diesem Prozess der politische Wille ganz deutlich geäußert wird, dass es in diese Richtung gehen muss und dass wir uns nicht zurückziehen in den Nationalstaat und sagen, wir machen die Grenzen dicht. Dieser international agierende Terrorismus, der hier auch nach Europa kommt, der zeigt mehr als deutlich, dass diese Grenzen uns nicht schützen. Keine ausreichende Ausstattung der Polizeibehörden Grieß: Und solange sich Europa im Prozess befindet, können Terroristen (mutmaßlich, fügen wir hinzu zu diesem Zeitpunkt) all dies ausnutzen? Albrecht: Es ist jedenfalls so, dass wir derzeit verwundbar sind. Das liegt auch daran, dass wir über Jahre in Systeme und Datenbanken investiert haben, die viel Geld und Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, ohne gleichermaßen oder auch stattdessen in die bessere Ausstattung von Polizeibehörden und die bessere Zusammenarbeit, den besseren Austausch von Informationen in Europa zu kümmern. Das muss jetzt zügig schnellstens nachgeholt werden und daran müssen wir jetzt arbeiten. Grieß: Und Belgien ist überfordert? Albrecht: Das glaube ich nicht. Ich glaube, Belgien hat gezeigt, auch der belgische Premier, dass sie hier mit dieser Situation umgehen konnten. Sie haben natürlich sehr deutlich nach dem 13. November auch reagiert mit der höchsten Terrorstufe, die ja auch jetzt wieder ausgerufen ist, so dass klar ist, hier versucht man alles, um dem Herr zu werden. Aber ich glaube auch, dass Belgien alleine das nicht wird lösen können. Wir brauchen die Unterstützung dort. "Es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben" Grieß: Aber da muss ich doch noch einmal nachfragen. Sie haben gerade gesagt, Belgien zeige, dass es mit der Situation umgehen kann. Heute Morgen hat es Anschläge gegeben, bei denen Menschen gestorben sind. Albrecht: Das ist absolut richtig. Aber der belgische Premier hat eben auch am Anfang gesagt - und das gehört mit zur Wahrheit dazu -, dass diese Bedrohung da ist, und er hat selbst im November letzten Jahres, als die Paris-Anschläge stattgefunden haben, deutlich gemacht, es wird auch in Belgien solche Anschläge geben. Wir können das nicht hundertprozentig ausschließen, es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben. Wichtig ist, dass man angesichts der Tatsache, dass wir diesen Terroranschlägen nicht hundertprozentig aus dem Weg gehen können, alles daran setzt, die Ursachen und die Rahmenbedingungen deutlich zu verbessern, und zwar gemeinsam in Europa. Daran müssen wir arbeiten, ohne gegenseitige Schuldzuweisungen jetzt neu anfachen zu lassen, oder auf einfache, vermeintlich einfache Lösungen zu setzen. Es wird eine harte Arbeit sein, die Sicherheit zu verbessern in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie, die wir ja gemeinsam verteidigen wollen gegen diese Angriffe. Grieß: Jan Philipp Albrecht, Mitglied des Europäischen Parlaments, grünes Mitglied dieses Parlaments, jetzt zugeschaltet aus Brüssel. Herr Albrecht, herzlichen Dank für Ihre Eindrücke und Ihre Analysen und Ihre Zeit heute Mittag. Albrecht: Gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jan Philipp Albrecht im Gespräch mit Thielko Grieß
Jan Philipp Albrecht, Mitglied der Grünen im Europäischen Parlament, war zum Zeitpunkt der Anschläge nur wenige hundert Meter von der betroffenen Metro-Station entfernt. Angesichts der Tatsache, dass man Anschlägen nicht hundertprozentig aus dem Weg gehen könne, müsse man in der EU jetzt alles daran setzen, den Terror gemeinsam zu bekämpfen, sagte er im DLF.
"2016-03-22T10:48:00"
"2020-01-29T17:20:00.450000"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-in-bruessel-es-kann-nie-hundertprozentige-100.html
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Hoffen auf den harten Brexit
Barry Legg, der Vorsitzende der Bruges Group, will, dass Großbritannien die EU ohne Vertrag verlässt (Imago) Ein hoher Festsaal mitten im Regierungsviertel. 100 vorwiegend ältere Herrschaften nehmen in den aufgestellten Stuhlreihen Platz. Auf dem Podium zwei Tory-Abgeordnete, die gleich flammende Reden für den Brexit ohne Deal halten werden. Und Barry Legg, der Vorsitzende der Bruges Group. Seit 1989 setzt sich die Denkfabrik für ein weniger zentralistisches Europa ein – so steht es auf ihrer Website. Fast genauso lange kämpft die Bruges Group für den Brexit. Übermorgen, am 29. März, sollte es endlich so weit sein. Aber Theresa May hat versagt. Nun soll sie wenigstens den nächsten Termin einhalten. "Unser neuer Tag der Befreiung ist der 12. April," verspricht Barry Legg. "Wir müssen die Europäische Union ohne Verzögerung verlassen," fordert er. Schräg neben ihm haben sie ein offizielles Porträt von Margaret Thatcher aufgestellt. Selbstsicher, zuversichtlich und entschlossen schaut die Premierministerin seligen Angedenkens ins applaudierende Publikum. Einst hat Thatcher selbst vor der Bruges Group gesprochen. May soll einfach mal gar nichts zu tun Jüngst war Jacob Rees-Mogg zu Besuch. Heute redet sich Sir Christopher Chope über seine eigene Parteichefin in Rage. Die andere Premierministerin – Theresa May. Und das fällt ihm zu ihr ein: Betrug, Verrat, Doppelzüngigkeit, Unredlichkeit, Inkompetenz und sein augenblicklicher Lieblingsvorwurf: Trickserei. Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen) Im Zorn sind sie vereinigt: Die Redner und ihr Publikum. Ihr Brexit steht auf dem Spiel, sie nennen ihn nicht No-Deal-Brexit, sondern WTO-Brexit. Schließlich geht es ihnen um Freiheit. Beim Empfang nach den Politiker-Reden gibt es nur ein Gesprächsthema. Die Gäste der Bruges Group wollen ihr Land wieder ganz allein für sich haben: "Ich kann es nicht leiden, dass unsere Gerichtsentscheidungen vom EuGH gekippt werden können.""Wir müssen die Kontrolle zurückgewinnen.""Wir wollen unser Land wieder selbst regieren. Wir sind keine Provinz oder Region der EU." Und im Parlament spielen sie Spielchen. Da sitzen die Remainer und versuchen den Brexit aufzuhalten. So sehen sie das hier. Und hoffen auf einen Kurzschluss. Darauf, dass der Brexit am 12. April ganz automatisch kommt, wenn Theresa May sich nur entschließen könnte, einfach mal gar nichts zu tun. Eine Regierungschefin, von der sie überhaupt nichts halten. Im Publikum heißt es: "Noch schlimmer als Merkel.""Sie ist feige und hat nur Schaden angerichtet.""Sie ist der schlechteste Premier in der britischen Geschichte."
Von Christine Heuer
Aus Sicht der Brexit-Hardliner besteht noch Hoffnung: Sie wollen, dass Großbritannien ohne Vertrag die EU verlässt. Das könnte gelingen, wenn es bis zum 12. April keine Einigung über den Brexit gibt. Premierministerin Theresa May sollte jetzt einfach mal gar nichts mehr machen, finden die No-Deal-Befürworter.
"2019-03-27T04:05:00"
"2020-01-26T21:44:14.974000"
https://www.deutschlandfunk.de/may-gegner-in-london-hoffen-auf-den-harten-brexit-100.html
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Passt Gott ins Büro?
Ein blitzblanker Arbeitsplatz. Religiöse Symbole stören, finden Politiker wie Nicolas Sarkozy. (Imago / Westend61) Staat und Kirche sind in Frankreich strikt getrennt. Das hat auch Folgen in der Arbeitswelt. Lehrer, Polizisten, Sekretärinnen in Behörden, Busfahrer in städtischen Transportunternehmen ... Wer für den öffentlichen Dienst arbeitet, ist zu Neutralität verpflichtet - auffällige Kreuz, jüdische Kippa und vor allem das Kopftuch sind dort verboten. Anders in der Privatwirtschaft: Dort gilt prinzipiell Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aber in einer Zeit, in der sich die Franzosen vor neuen Attentaten fürchten und schon ein Burkini am Meeresstrand als islamistische Aggression interpretiert wird, sind "les faits religieux", wie es in Frankreich heißt, die "religiösen Fakten" also, auch dort ein hoch sensibles Thema geworden. Lionel Honoré, Direktor der Beobachtungsstelle für religiöse Fakten in Unternehmen, hat für seine Studie 1.400 Manager und Führungskräfte befragt. Ihre Antworten bestätigten, dass Religiöses am Arbeitsplatz heute deutlich mehr Raum einnimmt als in den Vorjahren, sagt der Wissenschaftler. "65 Prozent aller Manager, die wir befragt haben, sind heute mit dieser Thematik konfrontiert. Vergangenes Jahr waren es erst 50 Prozent. Für zwei Drittel aller Manager ist es inzwischen ganz normal, dass sie Fragen, die mit Religion zu tun haben, regeln müssen." Religion kann zu ernsthaften Problemen führen Konkret handelt es sich dabei vor allem um das Tragen des islamischen Kopftuchs, danach kommt der Wunsch, an religiösen Feiertagen Urlaub zu nehmen oder aber die Arbeitszeiten anzupassen. Gelegentlich müssen die Manager auch entscheiden, ob ein Angestellter in seiner Arbeitspause beten darf. "Es sind also in erster Linie rein persönliche Anliegen, die nur geringen Einfluss auf die Arbeitsorganisation haben. Die Manager haben es gelernt, damit umzugehen." Oft gelinge es, einvernehmliche Lösungen zu finden, sagt Honoré. Die Führungskräfte müssen aber auch häufiger als zuvor Forderungen bewältigen, die das Arbeitsklima belasten oder gar gesetzeswidrig sind. Dazu gehören laut Lionel Honoré "die Stigmatisierung eines Kollegen aus religiösen Gründen, Bekehrungseifer, die Weigerung, bestimmte Tätigkeiten auszuführen, die Weigerung, mit einer Frau zusammen zu arbeiten." In neun Prozent aller Fälle sind die Manager mit Situationen konfrontiert, bei denen die Religion zu ernsthaften Problemen führt. So gibt es Angestellte, die ihre Firma wegen religiöser Diskriminierung anprangern wollen. Manche weigern sich, die Legitimität ihres Vorgesetzten anzuerkennen, mit Argumenten wie: Du hast mir nichts zu sagen, göttliche Vorschriften gehen vor. Arbeitgeber wollen Rechtssicherheit Die meisten Führungskräfte seien inzwischen so gut geschult, dass sie einen Großteil der Konflikte bewältigen könnten. Sie wollten daher auch keine staatliche Einmischung: Ein Gesetz, dass den Angestellten religiöse Neutralität vorschreibt, lehnen zwei Drittel aller Manager ab, sagt Lionel Honoré. Aber genau das sei nötig, um die Arbeitgeber endlich aus einer rechtliche Grauzone zu befreien, meint der Arbeitsrechtler Eric Manca. Als Rechtsanwalt berät er Unternehmer, bei denen religiös motivierte Forderungen der Angestellten mit den kommerziellen Interessen der Firma in Konflikt geraten – und kann ihnen da nicht immer weiter helfen. Eric Manca: "Die Frage lautet: Muss sich die Firma den religiösen Fakten anpassen? Muss sie ihre wirtschaftlichen Interessen hintan stellen? Unsere Mandanten wollen wissen, wo die Grenze liegt – und die ist völlig unklar, vor allem bei religiöser Kleidung. Religiöse Freiheit ist in Frankreich verfassungsrechtlich geschützt. Es gibt keinen Gesetzestext, der dem Arbeitgeber eindeutig erklärt, wie er sich verhalten kann." Wie brenzlig das Thema ist – und wie unterschiedlich die Gerichte entscheiden, zeigt der Fall Asma Bougnaoui. Als Software-Expertin in einer IT-Beratungsfirma hatte die Ingenieurin bei einem großen Kunden gearbeitet, einer Versicherung. Mit Kopftuch. Nach einem ersten Einsatz hatte sich der Kunde darüber beschwert. Aber die Muslimin weigerte sich, fortan ohne Kopftuch zu arbeiten. Sie wurde entlassen, worauf sie klagte. Europäischen Juristen sind sich auch nicht einig Zwei juristische Instanzen gaben ihrem Arbeitgeber Recht. Beim Berufungsverfahren jedoch weigerte sich der Oberste Gerichtshof, Stellung zu beziehen. Die Richter wandten sich stattdessen an den Europäischen Gerichtshof, baten um Klärung, wie die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU auszulegen sei. Aber die europäischen Juristen sind sich auch nicht einig. Im Gutachten über den Fall Asma Bougnaoui hat die Generalanwältin das Kopftuchverbot zu einer "rechtswidrigen unmittelbaren Diskriminierung" erklärt. Diese Position steht im krassen Gegensatz zum Gutachten in einem ähnlichen Fall, der Belgien betrifft: Da hatte eine andere Generalanwältin kürzlich die Ansicht vertreten, das Kopftuchverbot der Firma könne zulässig sein. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs soll vor Jahresende fallen, sie könnte auch für Deutschland Konsequenzen haben. Rechtsanwalt Eric Manca will mit seiner Lobbyarbeit erreichen, dass Frankreich ein Gesetz erlässt, welches den Arbeitnehmern freie Hand gibt, sofern Kunden im Spiel sind: "Sonst wäre es das Ende der unternehmerischen Freiheit. Eine Firma ist weder laizistisch, noch religiös – sie will schlicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handeln."
Von Bettina Kaps
Viele französische Unternehmen haben Leitfäden für den "Umgang mit religiösen Fragen in privaten Unternehmen". Politiker fordern einheitliche Regelungen, etwa ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz. Eine neue Umfrage unter Managern zeigt: Es gibt zwar Probleme mit Gläubigen, aber es gibt auch Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen.
"2016-10-13T07:35:00"
"2020-01-29T17:58:54.737000"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-passt-gott-ins-buero-100.html
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Was tun bei PIP-Brustimplantanten?
Peter Vogt ist Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen.Carsten Schroeder: Sie kennen sich ja nun in der Szene der ästhetischen Chirurgie aus. Waren Sie von dem Skandal um die französische Firma PIP überrascht. Oder gab es schon vorher Hinweise auf die mangelhafte Qualität?Das Interview ist bis zum 27. Juni 2012 abrufbar: Audio mit dem vollständigen Interview
Peter Vogt im Gespräch mit Carsten Schroeder
Peter Vogt, Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirugen, über die Frage, ob betroffene Frauen die Implantate der Firma PIP entfernen lassen sollten.
"2011-12-27T09:10:00"
"2020-02-04T01:25:13.144000"
https://www.deutschlandfunk.de/was-tun-bei-pip-brustimplantanten-100.html
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Mihalic: Ankerzentren der völlig falsche Weg
Erfahrene Polizeibeamte müssten sich zurückziehen, wenn die Umstände es nicht anders zuließen, so Irene Mihalic, selber ausgebildetete Polizeibeamtin (dpa/picture alliance/Bernd von Jutrczenka) Stefan Heinlein: Über die Vorfälle von Ellwangen und die neuerliche Debatte um die Asyl- und Flüchtlingspolitik möchte ich jetzt sprechen mit der Innenexpertin Irene Mihalic von den Grünen. Guten Abend, Frau Mihalic. Irene Mihalic: Guten Abend. Heinlein: Sie sind selber ausgebildete Polizeibeamtin, haben lange Jahre in Ihrem Beruf auch gearbeitet. Können Sie uns aus Ihrer Erfahrung berichten: Was geht in Polizisten vor, wenn sie wie gestern in Ellwangen von einem Mob bedroht werden und sich dann zurückziehen müssen? Mihalic: Ja, das ist natürlich kein Idealzustand. Das wünscht sich kein Polizist, wenn er zu so einem Einsatz gerufen wird und dann eine Maßnahme treffen möchte, dass er die dann am Ende auch nicht treffen kann, weil die Umstände es einfach nicht zulassen. Ich kann natürlich jetzt diesen Polizeieinsatz nicht im Detail bewerten, weil ich nicht dabei war und weil mir auch schlicht diese Detailkenntnisse über den Ablauf fehlen. Aber nach allem, was ich so mitbekommen habe, war der Rückzug, wenn man ihn so nennen will, absolut richtig und die Kolleginnen und Kollegen haben da wirklich sehr besonnen gehandelt, dass sie sich zunächst einmal zurückgezogen haben, um sich und andere auch nicht noch zusätzlich in Gefahr zu bringen. "Das sehe ich nicht als Kapitulation an" Heinlein: War es ein Fehler, dass Ihre Kollegen, diese Streifenwagen zunächst nicht in ausreichender Zahl offenbar vor Ort waren und ohne Spezialausrüstung versucht haben, diese Abschiebung durchzusetzen? Mihalic: Na ja, solche Abschiebungen finden ja regelmäßig statt und man kann auch nicht im Vorfeld damit rechnen, dass es am Ende so eskaliert, wie das jetzt in Ellwangen der Fall gewesen ist. Insofern gehe ich jetzt erst mal davon aus, dass die Beamtinnen und Beamten im Vorfeld alles dafür getan haben, dass der Einsatz auch gelingen kann. Dass es am Ende so eskalieren musste, das hat sicherlich so niemand vorhergesehen, und dieser Einsatz hat ja dann noch weitere Maßnahmen nach sich gezogen. Heinlein: Wie gefährlich, Frau Mihalic, ist es, wenn der Rechtsstaat vor einem Mob, egal ob das Neonazis sind, Hooligans oder jetzt Flüchtlinge, in die Knie geht? Mihalic: Ich würde das gar nicht so bezeichnen. Ich sehe nicht, dass hier der Rechtsstaat irgendwie in die Knie gegangen ist. Ganz im Gegenteil! Ein Polizeieinsatz muss natürlich immer von vornherein so geplant und auch angesetzt werden, dass alle Umstände, die zu diesem Einsatz gehören, auch berücksichtigt werden, dass er am Ende auch gut durchgeführt werden kann, auf der Basis unserer Gesetze. Das kann natürlich auch im Einzelfall erfordern, dass man sich zunächst einmal zurückzieht, wenn die Bedingungen andere sind, als man sie erwartet hat. Das sehe ich nicht als Kapitulation an, ganz im Gegenteil. Das erwarte ich von erfahrenen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten auch, dass sie sich dann auch zurückziehen, wenn es die Umstände nicht anders zulassen, um auch deeskalierend zu wirken, weil die Alternative wäre wahrscheinlich gewesen, dass Polizeibeamte verletzt worden wären, dass vielleicht auch Geflüchtete verletzt worden wären, dass es am Ende vielleicht zu einer größeren Eskalation geführt hätte, und wenn man sich dann zurückgezogen hat, kann man die Lage neu bewerten und dann auch mit verstärkten Kräften dort noch mal vor Ort tätig werden, und das ist ja dann am Ende auch gelungen. Insofern sehe ich nicht, dass hier der Rechtsstaat in irgendeiner Art und Weise in die Knie gegangen ist oder, wie andere gesagt haben, sogar kapituliert hätte. Das würde ich überhaupt nicht so sehen. Geplante Ankerzentren "scharf zu kritisieren" Heinlein: Innenminister Seehofer hat die Vorfälle von Ellwangen als Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung bezeichnet. Haben Sie eine Schlagzeile für die Bewertung von Ellwangen? Mihalic: Ich verstehe erst mal nicht, was Herr Seehofer damit sagen will. Wenn sich Menschen nicht gesetzestreu verhalten, dann ist das natürlich immer ein Schlag ins Gesicht gegenüber denjenigen, die sich rechtstreu verhalten. Aber Kriminalität ist jetzt nicht etwas, was sich jetzt auf diesen Vorfall in Ellwangen beschränkt, sondern das findet tagtäglich an vielen Orten in Deutschland statt. Das ist natürlich jetzt ein Ereignis, das hat viele aufgewühlt, da wird natürlich noch mal die Frage aufgeworfen, wie kann so etwas sein. Ich persönlich würde da eine andere Schlussfolgerung daraus ziehen. Ich würde vielleicht eher überdenken, wie man Geflüchtete unterbringt, ob man sie in solchen großen Sammelunterkünften unterbringt, weil das natürlich immer die Gefahr birgt, dass sich da organisierte Strukturen bilden, dass es da eine ungute Dynamik gibt und dass da auch ein hohes Gewaltpotenzial sich anreichert und dann auch zu solchen Auswüchsen führt. Deswegen sind aus meiner Sicht die geplanten Ankerzentren, wie sie von Herrn Seehofer ja jetzt favorisiert werden und auch durchgeführt werden sollen oder eingerichtet werden sollen, scharf zu kritisieren. Heinlein: In Ellwangen, Frau Mihalic, sind etwa 500 Menschen untergebracht. Was ist denn für Sie eine noch akzeptable Größenordnung für Asylunterkünfte? Mihalic: Das hängt natürlich von der jeweiligen Einrichtung ab. Aber ich glaube, es geht in erster Linie auch um die Dauer. So eine Sammelunterkunft kann ja wirklich nur ein erster Schritt sein bei der Aufnahme von Geflüchteten. Dann muss natürlich das Ziel sein, dass die Geflüchteten so schnell wie möglich dezentral auch in eigenem Wohnraum untergebracht werden, damit man nicht diese Dauerlösung mit großen Sammelunterkünften hat, wo dann auch die Probleme, so wie wir sie jetzt in Ellwangen erleben mussten, entstehen können. Das sollte, finde ich, auch der Maßstab sein, dass dort nicht solche großen Einrichtungen zum Standard werden, wo sich dann die Probleme, die es ohnehin schon gibt, auch noch verschärfen können. Ich befürchte, dass mit den Ankerzentren genau das geschieht, dass sich vorhandene Probleme, die in Sammelunterkünften sowieso an der Tagesordnung sind, auch noch verstetigen, auch noch verschärfen können, und ausbaden müssen es dann am Ende die Einsatzkräfte der Polizei, die dann mit entsprechenden Kräften Maßnahmen vor Ort treffen müssen, und das kann nicht Sinn der Sache sein. Deswegen, finde ich, kritisiert die Gewerkschaft der Polizei diese Ankerzentren auch völlig zurecht, weil das ist einfach eine unausgegorene Politik auf dem Rücken der Einsatzkräfte und auch auf dem Rücken von geflüchteten Menschen. "Sammelunterkünfte ein ganz großes Problem" Heinlein: Viele argumentieren genau umgekehrt. Sie sagen, gerade in diesen großen Sammelunterkünften lassen sich die Menschen besser betreuen, besser versorgen, aber auch besser unter Kontrolle halten, als wenn diese 500 Menschen dann an 50 unterschiedlichen Stellen untergebracht sind. Mihalic: Das kann ich so nicht bestätigen, weil auch das Bundeskriminalamt legt uns ja in regelmäßigen Abständen Zahlen vor, wie es zum Beispiel mit der Kriminalität im Kontext von Zuwanderung bestellt ist. Da stellen wir immer wieder fest, dass wenn Kriminalität festgestellt wird von geflüchteten Menschen, dass sie sich zu einem großen Teil in solchen großen Sammelunterkünften abspielt. Wenn es um Gewaltkriminalität geht, aber auch wenn es um Diebstahl geht oder andere Dinge, dann sind gerade auch diese Sammelunterkünfte da ein ganz, ganz großes Problem. Wenn wir uns jetzt dieses Beispiel in Ellwangen anschauen, oder andere Widerstandshandlungen, wenn ein Geflüchteter abgeschoben werden soll, dann ist das natürlich aus meiner Sicht ein weiterer Beleg dafür, dass in solchen Sammelunterkünften, wenn Menschen dort auf Dauer untergebracht sind und auch in großer Zahl, es zu solchen Problemen kommt, die sich dann natürlich mit der Dauer des Aufenthalts auch noch verschärfen können. Das kann ja nicht in unserem Interesse sein. Auch im Interesse derjenigen, die dort untergebracht sind, aber auch im Interesse der Einsatzkräfte sollte eine dezentrale Unterbringung auf jeden Fall das Ziel sein. Heinlein: Besteht sogar die Gefahr von rechtsfreien Räumen in diesen Asylunterkünften, wenn die Menschen auf Dauer dort untergebracht sind? Mihalic: Ich finde diese Rhetorik nicht richtig, immer von rechtsfreien Räumen zu sprechen. Mir ist in Deutschland kein Ort bekannt, der in irgendeiner Art und Weise rechtsfrei ist, weil letzten Endes wird das Recht überall durchgesetzt, von staatlichen Einrichtungen, von Institutionen, von Polizei und Justiz. Es gibt also keinen Raum, wo die Polizei oder auch die Justiz nicht in der Lage wäre, durchzugreifen und Gesetze zur Anwendung zu bringen. Rechtsfreie Räume, diese Rhetorik finde ich da auch völlig fehl am Platz in diesem Zusammenhang. Aber es gibt natürlich Probleme, die in solchen Einrichtungen auftreten, und deswegen sollten wir doch alles daran setzen, eine Politik umzusetzen, die diesen Problemen entgegenwirkt, und da sind die Ankerzentren aus meiner Sicht der völlig falsche Weg. Heinlein: Soweit die grüne Innenexpertin Irene Mihalic. Wir haben das Gespräch kurz vor dieser Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Irene Mihalic im Gespräch mit Stefan Heinlein
"Ich sehe nicht, dass der Rechtsstaat in die Knie gegangen ist", sagte die Grünen-Politikerin Irene Mihalic im Dlf zu den Vorfällen in Ellwangen. Zu überdenken sei aber die Unterbringung von Geflüchteten in Sammelunterkünften, weil dies die Ausbildung von Kriminalität begünstige.
"2018-05-03T21:10:00"
"2020-01-27T16:50:49.738000"
https://www.deutschlandfunk.de/ellwangen-mihalic-ankerzentren-der-voellig-falsche-weg-100.html
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"Der Euro ist nicht für alle gleich gut"
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (Imago) Tobias Armbrüster: Als Emmanuel Macron vor über einem Jahr in den Elysee-Palast eingezogen ist, da lag ihm als neuem französischen Präsidenten vor allem ein Thema am Herzen: eine Erneuerung der Europäischen Union, vor allem eine Erneuerung der Währungsunion. Er hat dazu mehrere Vorschläge vorgelegt, unter anderem für einen Europäischen Währungsfonds und größere Investitionen in den krisengeschüttelten Mitgliedsländern. Und danach hat er erst mal gewartet, wochenlang, monatelang. Und dann vorgestern, am Sonntag, da hat zum ersten Mal Angela Merkel so richtig geantwortet – nicht im Bundestag, nicht bei einer öffentlichen Rede, sondern im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Am Telefon ist jetzt Günter Verheugen. Er war von 1999 bis 2010 in verschiedenen Funktionen für die EU-Kommission tätig, unter anderem als Erweiterungskommissar. Schönen guten Morgen! Günter Verheugen: Guten Morgen! Armbrüster: Herr Verheugen, wie müssen wir uns das vorstellen? Hat diese Antwort von Angela Merkel Jubel und Begeisterungsströme ausgelöst im Elysee-Palast? Was schätzen Sie? Verheugen: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Die Reaktion aus dem Elysee war zwar positiv, aber doch sehr verhalten. Das Ganze wirkt ja wie eine Pflichtübung. Man hat das Gefühl, die Bundeskanzlerin habe gesagt, na ja, damit der Macron endlich Ruhe gibt, muss man jetzt endlich was machen. Aber es ist kein Konzept. Es ist keine, in die Zukunft weisende Orientierung, die mit diesem Interview gegeben wird, sondern eine ganze Reihe von Versatzstücken werden da angeboten und jedes einzelne dieser Versatzstücke, das die Kanzlerin anbietet, wirft eine ganze Menge von Fragen auf, die sie nicht beantwortet hat. "Es geht nicht nur um einen neuen Haushalt" Armbrüster: Können Sie uns da ein Beispiel nennen? Verheugen: Zum Beispiel: Sie haben ja eben schon hingewiesen auf die Idee eines Europäischen Währungsfonds und auf die Idee eines zusätzlichen Investitionshaushaltes. Wenn wir einen Europäischen Währungsfonds machen, was ist der Unterschied zum IWF? Werden wir dann aus dem IWF rausgehen, oder wie wird unsere Rolle im IWF sein? Und warum wollen wir einen Europäischen Währungsfonds in einem Projekt, bei dem es darum geht, die europäische Gemeinschaft zu stärken, der nicht innerhalb der Gemeinschaft organisiert wird, sondern zwischen den Staaten? Hier halte ich die Kritik der Grünen für absolut berechtigt zu sagen, das muss selbstverständlich, wenn überhaupt, eine Gemeinschaftseinrichtung sein. Was den zusätzlichen Haushalt angeht: Die Kommission gibt im Jahr zwischen 50 und 60 Milliarden Euro aus für die verschiedenen Strukturfonds. Und jedes Jahr wird verkündet, das sei ein großer Erfolg. Die Wahrheit ist völlig anders. Mit dem vielen, vielen Geld, was wir aus dem Gemeinschaftshaushalt ausgeben für die Strukturfonds, wird ein nur sehr geringer ökonomischer Effekt erzielt. Es geht nicht um einen neuen Haushalt. Worum es wirklich geht ist, die Mittel, die zur Verfügung stehen, sinnvoll und effektiv einzusetzen und zum Beispiel zu konzentrieren auf die Dinge, die die Kanzlerin genannt hat. Aber dazu brauchen wir gar keine neuen Mittel. Es sind genug da. "Ein fundamentales deutsches Missverständnis" Armbrüster: Wenn ich jetzt noch mal auf Ihre Einschätzungen zu sprechen komme. Müssen wir nicht, wenn wir sehen, was zum Beispiel in Italien derzeit passiert, Verständnis für all diejenigen haben, die sagen, lasst uns da mal mit solchen weitreichenden Plänen für weiteres Geld für Europa, möglicherweise für diese ganzen neuen Pläne, lasst uns mal einen Gang zurückschalten und auf Sparflamme fahren, weil so besonders ausgeprägt ist ja zurzeit die Solidarität innerhalb dieser Europäischen Union gar nicht? Verheugen: Ich würde es nicht so ausdrücken, aber im Grundsatz halte ich es für richtig zu sagen, das europäische Problem oder das Problem der Europäischen Union besteht nicht darin, wie wir Geld mobilisieren können für verschiedene Projekte. Wenn man sich die Europäische Investitionsbank ansieht: Die hat so viel Geld; sie weiß überhaupt nicht wohin damit. Es fehlt an brauchbaren Projekten. Es fehlt nicht am Geld. Insofern stimme ich zu zu sagen, die Diskussion geht in die falsche Richtung, wenn nur darüber geredet wird, wieviel Geld wir brauchen. Dahinter steckt ein grundlegendes fundamentales Missverständnis, gerade ein deutsches Missverständnis. Wir gucken immer auf den Haushalt und nichts sonst. Uns interessiert die schwarze Null und was weiß ich, dass ganz genau eingehalten werden die Vorschriften des Stabilitätspaktes. Aber wir verweigern den Blick auf die Lage der Realwirtschaft. Was ist wirklich in den Ökonomien der einzelnen Mitgliedsländer los. Da führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der Euro ist nicht für alle gleich gut. Und das ist nicht eine Folge der Politik, die diese Länder betreiben, sondern das ist ein Strukturproblem, das wir von Anfang an hatten, und wir tragen dazu bei als Deutsche, dieses Strukturproblem zu vergrößern, indem wir nichts, aber auch gar nichts tun, um unsere gewaltigen Exportüberschüsse abzubauen. Im Interview der Kanzlerin war auch davon mit keinem Wort die Rede, welchen Beitrag Deutschland leistet zur Destabilisierung der Wirtschaft in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern. Das fehlt hier. "Instrumente für gemeinsame Außenpolitik haben wir" Armbrüster: Was raten Sie dann Emmanuel Macron? Was sollte er zurückantworten? Verheugen: Wir befinden uns hier auf der Ebene der allerhöchsten Diplomatie. Da geht man höflich und freundlich miteinander um, normalerweise jedenfalls. Aber er konnte ja nicht viel anderes sagen als das, was er im Elysee-Palast jetzt gesagt hat: Wir sind zufrieden. Aber ich denke, dass im vertraulichen Gespräch er sagen muss, dass die einzelnen Punkte deutlich konkretisiert werden müssen. Es gibt ja noch einen anderen, der Macron sehr am Herzen liegt und wo die Kanzlerin erstaunlich vage geblieben ist. Das ist dieser ganze Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Es fällt ja auf, dieses Interview hat zwei wirkliche Schwerpunkte. Das eine ist die Zukunft der Währungsunion, das andere ist die Frage der Selbstbehauptung Europas, was die Kanzlerin interpretiert als die Fähigkeit zur gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, oder sie sagt Sicherheitspolitik. Interessanterweise sagt sie aber nicht, dass wir dahin nur kommen können, wenn wir in der Außenpolitik die Mehrheitsentscheidung einführen. Denn Instrumente für eine gemeinsame Außenpolitik, die haben wir ja in großer Zahl. "Nachsitzen und Nachbessern!" Armbrüster: Herr Verheugen, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Aber muss an dieser Stelle nicht spätestens dem französischen Präsidenten klar sein, dass er mit einer sehr zurückhaltenden Antwort rechnen muss, gerade von Deutschland, gerade von einem Deutschland, wo Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer extrem auf dem Prüfstand steht? Verheugen: Ja. Das ist nicht nur in Deutschland so. Das ist überall so. Ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass wir zu einer wirklich gemeinschaftlichen Außen- und Sicherheitspolitik kommen werden, bevor nicht eine Endphase in der Entwicklung der europäischen Integration erreicht wird. Aber einzelne Schritte kann man schon tun. Zum Beispiel ist es ganz vernünftig zu sagen, wir schauen uns mal an, was in den einzelnen Mitgliedsländern im militärischen Bereich gemacht wird, ob man hier nicht Synergieeffekte erzielen kann. Es ist allerdings vor 15 Jahren schon beschlossen worden, das zu machen. Die Ergebnisse sind zu besichtigen in Brüssel und sie sind sehr ernüchternd. Armbrüster: Wie lässt uns das jetzt alles zurück? Was heißt das für die deutsch-französischen Beziehungen, auch für diesen immer wieder beschworenen deutsch-französischen Motor in der Europäischen Union? Verheugen: Für mich heißt das Nachsitzen in Berlin. Dieses Interview, das kann nicht alles sein. Das bleibt auch unter dem Anspruch dieser Regierung zurück, unter dem Anspruch, den der Koalitionsvertrag erhebt, in dem ja die Europapolitik – und da waren die Akteure ja sehr stolz darauf – an erster Stelle steht. Die Europapolitik sollte das Markenzeichen dieser Großen Koalition sein. Da kann ich nur sagen: Nachsitzen und Nachbessern. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Günter Verheugen im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Zukunft der EU kritisiert. Deutschland verweigere den Blick auf die Lage der Realwirtschaft in den Mitgliedsländern und trage zu deren Destabilisierung bei, sagte Verheugen im Dlf.
"2018-06-05T06:10:00"
"2020-01-27T16:55:27.403000"
https://www.deutschlandfunk.de/guenter-verheugen-der-euro-ist-nicht-fuer-alle-gleich-gut-100.html
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Psychiater: "Arbeitsatmosphäre spielt eine große Rolle"
"Die Arbeitsatmosphäre oder der Führungsstil am Arbeitsplatz spielt eine große Rolle und da stehen die Dinge in vielen Arbeitsstätten in Deutschland nicht zum Besten", sagte der Psychiater Joachim Bauer (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg) Der Internist und Psychiater Joachim Bauer beschäftigt sich mit depressiven Erkrankungsformen und Angststörungen. Im Dlf wies er darauf hin, dass der Burn-out eine Vorstufe für eine depressive Erkrankung sein könne. Beides - sowohl Burn-out als auch depressive Erkrankungen - seien Folgen von psychischen Stressbelastungen. Bauer nannte drei wichtige Punkte, die kritisch seien für den Erhalt oder die Bewahrung der Gesundheit am Arbeitsplatz: 1. Anerkennung und Wertschätzung "Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass die Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung eine ganz kritische Balance ist, weil das menschliche Gehirn sehr sensibel reagiert, wenn wir Verausgabung zwar leisten müssen, aber keine Wertschätzung zurückbekommen. Das heißt: Die Arbeitsatmosphäre oder der Führungsstil am Arbeitplatz spielt eine große Rolle und da stehe die Dinge in vielen Arbeitsstätten in Deutschland nicht zum Besten." 2. Zeit und Leistungsdruck verdichten sich Nach Angaben des Psychiaters fühlen sich etwa die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland permanent gehetzt. 3. Ständige Erreichbarkeit Joachim Bauer wies auf die fehlende Trennung zwischen Berufswelt und Privatleben hin. "Das hat natürlich mit den digitalen Endgeräten und dem Internet zu tun, die uns ständig erreichbar machen, auch wenn wir zu Hause sind", sagte Bauer im Dlf. Das versetze in Stress und habe auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Nach Angaben des Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse sind Arbeitnehmer noch nie so häufig wegen psychischer Leiden krankgeschrieben worden wie im vergangenen Jahr. Psychische Erkrankung sind für rund 19 Prozent aller Fehlzeiten verantwortlich, so ein Sprecher der Techniker Krankenkasse. Betroffenen Berufsgruppen Während früher die körperliche Arbeit und damit der Verschleiß im Vordergrund gestanden hätten, würde sich die Belastungen heute vor allem im psychischen und mentalen Bereich abspielen. Für Burn-out und Depression besonders gefährdet seien Berufe, in denen Menschen anderen Menschen helfen. Bauer nannte Pflegekräfte in Kliniken und Seniorenheimen, Lehrkräfte in Schulen. "Wir haben hohe Belastungen aber auch mittlerweile bei den Erzieherinnen und Erziehern", unterstrich der Mediziner. Abschalten von der Arbeit zur Regeneration Es sei wichtig, das man abends abschalten könne. Studien hätten gezeigt, dass Menschen, die sich einerseits voll engagierten, aber abends abschalten können weniger betroffen wären. Ein deutlich höheres Risiko wiesen Menschen auf, die sich sehr stark engagierten, aber dann nicht abschalten könnten. "Die quasi im Kopf die Arbeit überall hin mitnehmen, in den Feierabend, ins Wochenende und manchmal sogar in die Ferien. Diese Überidentifikation, also diese Unfähigkeit zur Distanzierung von der Arbeit, die ist mit einem deutlichen Risiko für psychisch beziehungsweise mentale Störungen verbunden", sagte Bauer. Selbstfürsorge zur Stressvermeidung Zur Vermeidung von arbeitsbedingtem Stress seien eine angenehme Arbeitsatmosphäre und ein guter Führungsstil bedeutend. Auf Seiten der Beschäftigten sei eine gute Selbstfürsorge wichtig.
Joachim Bauer im Gespräch mit Britta Fecke
Permanent erreichbar, Leistungsdruck und keine Anerkennung - hohe Arbeitsbelastung kann krank machen. Viele Beschäftigte in Deutschland fühlten sich im Job permanent gehetzt, sagte der Psychiater Joachim Bauer im Dlf. Besonders hoch sei der Druck in Pflege- und Erzieherberufen.
"2020-02-02T06:05:00"
"2020-02-12T13:50:15.304000"
https://www.deutschlandfunk.de/depressiv-und-krankgeschrieben-psychiater-100.html
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Ethisch heikel oder unbedenklich?
Entnahme von Zellkernen aus embryonalen Stammzellen. (picture alliance / Westend61 / Andrew Brookes)
Schmude, Magdalena
Stammzell-basierte Embryonenmodelle können der Forschung dienlich sein. Doch ethisch wirft das Fragen auf. Die Laborphilosophin Jeantine Lunshof hält die meisten für unbegründet - solange bestimmte Grenzen nicht überschritten werden.
"2023-07-03T14:41:42"
"2023-07-03T15:26:44.238000"
https://www.deutschlandfunk.de/embryo-organoide-ethische-debatte-um-wissenschaftlichen-einsatz-dlf-5856f9f7-100.html
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Honigbienen können anderen Arten das Leben schwer machen
Für Imker eine Freude, für die weniger effizienten Wildbienen eine ernstzunehmende Konkurrenz: Honigbienen apis mellifera (imago / blickwinkel) Wer an Blümchen und Bestäubung denkt, denkt auch an Bienchen. Und zwar in den allermeisten Fällen an Honigbienen, also jene Bienenart, die in der Obhut von Imkern große Völker bildet. Doch wenn es um Artenschutz geht, greife das zu kurz, sagt Jonas Geldmann: "Es ist nichts daran auszusetzen, sich um Bienen Sorgen zu machen. Es ist aber falsch, sich nur um die Honigbiene zu sorgen. Die ist wichtig für die Landwirtschaft. Für die Natur aber spielt sie keine so große Rolle. Honigbienen sind vielmehr Nutztiere, die nur auf landwirtschaftlichen Flächen Sinn ergeben." Der Biologe von der Universität im englischen Cambridge weist darauf hin, dass intensive Landwirtschaft mit großen Monokulturen und Pestizid-Einsatz zwar auch Honigbienen zusetzen. Doch weil Imker sie umsorgen, geht es Honigbienen grundsätzlich gut. In Deutschland zum Beispiel wächst die Zahl der Bienenvölker seit ein paar Jahren kontinuierlich, weil wieder mehr Menschen imkern. Wildbienen oft viel weniger effizient Der Honigbiene gehe es sogar so gut, dass sie unter Umständen anderen Bestäubern Schwierigkeiten bereiten kann, findet Jonas Geldmann: "Honigbienen sind sehr effizient. Darum können sie so große Kolonien bilden. Sie fliegen bis zu zehn Kilometer aus, wenn sie Nahrung suchen. Und sie können ihren Nestgenossinnen sehr effektiv mitteilen, wo gute Nahrungsquellen zu finden sind. Dort treffen dann sehr rasch sehr viele Honigbienen ein. In natürlichen Lebensräumen treten sie auf diese Weise in direkte Konkurrenz mit wilden Bestäubern." Anders als die Honigbiene sind viele Wildbienen auf Pollen von Pflanzen einer bestimmten Gattung oder sogar einer einzigen Art angewiesen, um ihre Nachkommen aufzuziehen. Die Honigbienen fressen ihren wilden Verwandten aber Nektar und Pollen weg. Außerdem könnten Honigbienen Krankheitserreger auf ihre wilden Verwandten übertragen und die Populationen zusätzlich schwächen. "Honigbienen sind nah mit Wildbienenarten verwandt. Wenn sie dieselben Blüten anfliegen, können sie Krankheitserreger übertragen. " "In natürlichen Biotopen haben Honigbienen nichts zu suchen" Wenn Feldfrüchte wie der Raps blühen und Imker mit ihren Völkern dorthin wandern, um den Raps zu bestäuben und Honig zu produzieren, dann sei das natürlich in Ordnung. Im Sommer aber, wenn die großen Trachten verblüht sind, sollten Imker bei der Platzierung ihrer Völker Rücksicht auf wilde Bestäuber nehmen, sagt Jonas Geldmann: "In natürlichen Biotopen – also auf geschützten Flächen, aber auch auf manchen ungeschützten Flächen mit hohem ökologischen Wert und ohne Landwirtschaft – haben Honigbienen nichts zu suchen." Ähnlich sieht es Otto Boecking. Der Biologe vom Institut für Bienenkunde in Celle ist Experte für Wildbienen. Allerdings hält er die Forderung wegen der zerstückelten Landschaft in Deutschland für schwer umsetzbar: "Wir haben so eine Kleingliedrigkeit, dass eben auch die praktische Frage relevant wird: Wie kann ich es überhaupt verhindern, dass Honigbienen irgendwo hinkommen. Für uns ist es selbstverständlich, dass in einem Naturschutzgebiet, in denen zum Beispiel seltene Wildbienen vorkommen, Honigbienen überhaupt nichts zu suchen haben, und da erinnern wir auch die Imker immer wieder dran. " Kaum Mangel an Trachtquellen für Honigbienen Viele besonders artenreiche Biotope wie zum Beispiel Trockenmagerrasen bieten für Honigbienen gar nicht genügend Nahrung: "Ein Imker hat halt eben den großen Vorteil – und das kann man auch von ihm verlangen –, dass seine Völker mobil sind. Das gilt für die Wildbienen überhaupt nicht, die kann man nicht irgendwie woandershin transferieren. Die sind lokal, wenn sie vorhanden sind, auf ihre Umgebung angewiesen. Wir haben hier in Deutschland keinen Mangel an Trachtquellen für die Honigbienen, es sei denn, wir sind in einer Region, wo die intensive Landwirtschaft schon so weit ausgedehnt ist, dass dann in manchen Jahreszeiten nur noch der Raps blüht, aber da ist insgesamt die Bienenhaltung schwer. " Doch dort ist auch für Wildbienen längst kein Platz mehr.
Von Joachim Budde
Bei Bestäubung dürfe man nicht nur an Honigbienen denken, warnen Biologen der Universität Cambridge im Fachmagazin "Science". Denn es gebe viele andere wilde Bestäuber, die unter den Honigbienen mit ihren riesigen Staaten leiden könnten.
"2018-02-05T15:35:00"
"2020-01-27T16:38:03.162000"
https://www.deutschlandfunk.de/konkurrenz-der-bestaeuber-honigbienen-koennen-anderen-arten-100.html
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