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Junge Ärzte im Hungerstreik
Ärzte einer Kinderklinik in Warschau sind im Hungerstreik (dpa / picture alliance ) Durch das Glasdach fällt viel Licht auf die Flure im Warschauer Kinderkrankenhaus - ein modernes Gebäude, in dem sich Ärzte und Patienten wohlfühlten, sagt Maciej Nowak, Arzt in Ausbildung: "Das hier ist eine große Ausnahme. Die allermeisten Krankenhäuser sehen anders aus: Die Kacheln und der Putz fallen von der Wand, es fehlt an Klopapier und sogar an notwendigen Medikamenten. Wir schämen uns, wenn wir Patienten oder ihre Familie in unserem heruntergekommenen Ärztezimmer empfangen müssen." Der 30-Jährige nimmt einen tiefen Zug aus der Wasserflasche. Drei bis vier Liter trinkt er pro Tag - dazu eine Elektrolytlösung, damit seine Gesundheit nicht zu sehr Schaden nimmt. Denn Maciej Nowak hungert, das zeigt das schwarze T-Shirt an, das er übergezogen hat. Seit fünf Tagen hat er keine Nahrung mehr zu sich genommen, aus Protest. Wie ein paar Dutzend andere Ärzte schläft er seitdem hier, mitten im Kinderkrankenhaus: "Ein junger Arzt wie ich verdient netto 2.200 Zloty im Monat, etwas mehr als 500 Euro. Damit er über die Runden kommt, muss er zusätzliche Schichten übernehmen. Wenn ich schon ein paar Schichten hinter mir habe, bin ich fast am Umfallen - und dann kommt der nächste Patient." Sieben Monate warten auf einen Facharzt-Termin Maciej Nowak legt sich wieder auf eine der Armeematratzen. Noch etwas mehr Kraft hat Agnieszka Debkowska; sie hat gerade erst mit dem Hungerstreik begonnen. Polen müsse endlich die Ausgaben für das Gesundheitswesen erhöhen, sagt die 29-Jährige. 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind es derzeit, nicht einmal halb so viel wie in Deutschland: "Es kann nicht sein, dass ein Patient sieben Monate warten muss, bis er einen Termin bei einem Facharzt bekommt. Es geht uns nicht in erster Linie um eine Gehaltserhöhung. Wir sind auch nicht gegen die aktuelle Regierung - die Probleme im Gesundheitswesen haben sich seit langem entwickelt." Agnieszka Debkowska zeigt auf die Blumensträuße und die Briefe: Ärzte und Patienten aus ganz Polen unterstützen den Protest der jungen Mediziner. Die Ärzte richten sich nicht gegen die aktuelle Regierung. Trotzdem hat die rechtskonservative Regierungspartei PiS sehr empfindlich reagiert. Zunächst versuchte sie, den Protest auszusitzen. Dann warf sie den Ärzten vor, undankbar zu sein, so die PiS-Sprecherin Beata Mazurek: "Wohl jeder würde gerne mehr Geld verdienen. Ich frage mich aber schon, ob dieser Protest nicht politisch inspiriert ist. Seit 2009 haben die jungen Ärzte keine Gehaltserhöhung mehr bekommen - und jetzt protestieren sie, obwohl wir ihre Gehälter anheben." Medien werfen Ärzten ein Luxusleben vor Die öffentlichen Medien, die unter dem Einfluss der PiS stehen, gehen viel weiter. Der Fernsehsender TVP beschuldigte die jungen Ärzte, sie hätten ein Luxusleben. Beweis: Eine der Protestierenden habe Urlaub in exotischen Ländern gemacht. Tatsächlich aber war die Ärztin als freiwillige medizinische Helferin unter anderem in Tansania. Auch im Parlament kam es zu einem Eklat. Mit einem Zwischenruf forderte eine PiS-Abgeordnete die jungen Ärzte auf, doch ins Ausland zu fahren, wenn es ihnen in Polen nicht passt. Worte, die schmerzen, auch Agnieszka Debkowska: "Ich habe schon viele Stellen-Angebote bekommen, aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Schweden, wo viel viel mehr Gehalt geboten wurde, als ich hier bekomme. Dazu Sprachkurse und eine Unterkunft. Solche Angebote kommen meistens per Mail oder auf einem Konto bei einem sozialen Netzwerk. Ich hab darüber nachgedacht, aber ich will meine Heimat nicht verlassen." Ärzte denken daran auszuwandern Schon jetzt gibt es in Polen - pro Einwohner - so wenig Mediziner wie in keinem anderen EU-Land. Und Umfragen zeigen, dass fast jeder dritte junge Arzt in Polen daran denkt auszuwandern. Deshalb rudert die PiS inzwischen zurück: Natürlich brauche das Land seine Ärzte, versichert die Regierung. Doch sie tut sich weiterhin schwer, höhere Ausgaben für Gesundheit zu versprechen. Denn seit Anfang des Monats greift die Rentenreform; die Regierung erlaubt den Polen, wieder früher in den Ruhestand zu gehen. Ein teures Geschenk, das den Staatshaushalt schon weitgehend ausreizt. Aufregung unter den jungen Medizinern im Kinderkrankenhaus: Sie dürfen einen Stock höher ziehen, aus dem Keller ins Erdgeschoss. Die Direktion hat ihr Okay gegeben, jeder packt seine Matratze unter den Arm. Auch Celina Kinicka, eine Ernährungswissenschaftlerin, denn inzwischen schließen sich auch andere Berufe an, die an die Krankenhäuser angebunden sind: "Die Patienten in Krankenhäusern bekommen zu wenig zu essen. Selbst Ärzte raten dazu, dass die Familie mithilft und Essen bringt. Aber was, wenn jemand allein ist? Dann wird der Patient doppelt so lange behandelt, weil der schlecht ernährt ist." Solche Argumente überzeugen immer mehr Polen, selbst erklärte PiS-Sympathisanten. Deshalb ist die Regierung inzwischen immerhin bereit zu verhandeln. Ihr Angebot: Die Ausgaben im Gesundheitswesen sollen auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen - aber erst 2025. Viel zu spät, meinen die Ärzte, und auch Ernährungsexpertin Celina Kinicka: "Bis dahin gibt es noch zwei Wahlen. Dann ist vielleicht eine andere Partei an der Regierung und verwirft das Gesetz. Die Ausgaben müssen jetzt steigen, jedenfalls nicht erst am St. Nimmerleinstag."
Von Florian Kellermann
Seit fast drei Wochen protestieren in Polen junge Ärzte, viele von ihnen sind im Hungerstreik. Sie wollen ein Gesundheitssystem, wo nicht mehr Angehörige den Patienten Essen bringen müssen. Das bringt die rechtskonservative Regierung in Bedrängnis, denn die hat nach einer Rentenerhöhung kein Geld mehr für das Gesundheitssystem.
"2017-10-21T06:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:57:15.698000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-junge-aerzte-im-hungerstreik-100.html
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Hochkultur inmitten des Grauens
Der Eingang des Konzentrationslagers Theresienstadt in Tschechien (picture alliance / dpa / Peter Kneffel) Er war eines der perfidesten Produkte nationalsozialistischer Propaganda, der kurze Streifen mit dem Titel: "Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet." Für die Beruhigung der Weltöffentlichkeit gedacht, zeigt der in dem Ghetto gedrehte Film ein selbstverwaltetes Leben in angeblich schönster kultureller Blüte. "Die reich ausgestattete Zentralbücherei enthält neben schöngeistiger auch reichhaltige wissenschaftliche Literatur und wird den verschiedensten Ansprüchen gerecht." In Wahrheit war die ehemalige Militärstadt unweit von Prag längst zum Konzentrationslager umfunktioniert worden. Ihr Hauptzweck, spätestens seit der Wannsee-Konferenz im Januar 1942: Ein Durchgangslager für den Transport in die Vernichtung, vor allem nach Auschwitz. Der Außenwelt, etwa dem auf eine Inspektionserlaubnis drängenden internationalen Roten Kreuz, versuchte man ein völlig anderes Bild zu vermitteln. "Musikalische Darbietungen werden von allen Kreisen der Einwohnerschaft gerne besucht. In einem Konzert wird ein Werk eines in Theresienstadt lebenden jüdischen Komponisten aufgeführt." Raum zum Komponieren und Musizieren Tatsächlich konnten jüdische Musiker, wenn auch unter extremsten Bedingungen, hier komponieren, proben und musizieren. Unter ihnen Pavel Haas, Victor Ullmann und Hans Krása, drei schon vor 1933 in der internationalen Musikszene bekannte Komponisten. Sie hatten eine große Zahl von qualifizierten Musikern, Sänger wie Instrumentalisten, zur Verfügung, und die SS gestattete der jüdischen Lagerleitung die Organisation von Konzerten, Theater- und gar Opernaufführungen. Von den von Pavel Haas in Theresienstadt geschaffenen Kompositionen ist keine erhalten, doch der Kollege Ullmann, im Lager auch als Musikkritiker tätig, beschrieb ein Konzert mit dessen Musik: "Haas' Musik ist durchaus zu bejahen, sie ist spielend-kraftvoll, ungezwungen mehrstimmig, durchsichtig im Klaviersatz, interessant und graziös. Ich gebe der kleinen Air den Preis, ohne darum die anderen Suitensätze herabsetzen zu wollen. Bernhard Kaff spielt die Partita mit Elan und meisterlich." Victor Ullmanns in Theresienstadt komponierte Oper "Der Kaiser von Atlantis", eine Allegorie auf die Diktatur, wurde zwar verboten, doch zahlreiche andere Werke erfuhren hier ihre ersten Aufführungen. Dies galt insbesondere für Kammermusik, etwa Ullmanns Klaviersonate Nr. 7. Es war eine ebenso skurrile wie grausame Situation: das Nebeneinander von Hochkultur auf der einen, Hunger und Krankheit, Tod und Verzweiflung auf der anderen Seite. Ein Widerspruch, der auch in einem Aufsatz Ullmanns mit dem Titel "Goethe und Ghetto" zum Ausdruck kam. "Ich habe in Theresienstadt ziemlich viel neue Musik geschrieben, meist um den Bedürfnissen der Freizeitgestaltung des Ghettos zu genügen. Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war." Tod in Auschwitz Eines der erfolgreichsten Stücke in Theresienstadt war die Kinderoper "Brundibar" von Hans Krása. Noch in Freiheit komponiert, erlebte das Stück um den Widerstand zweier Geschwister gegen die Kaltherzigkeit der Erwachsenenwelt erst im Ghetto seine Premiere - und weitere 52 Aufführungen. Die Schlussszene ist in jenem unsäglichen Propagandafilm festgehalten. Im Herbst 1944, nach Beendigung der Filmaufnahmen und zu der Zeit, als Ullmann seinen Aufsatz schrieb, hatten die Gerüchte vom Vorrücken der Roten Armee, dem gescheiterten Attentat auf Hitler und der Landung der Amerikaner auch die Insassen des Lagers erreicht. Die Hoffnung keimte auf, das Grauen könnte endlich ein baldiges Ende haben. Doch es kam anders: Ende September begannen die großen Deportationen, mit der vom 16. Oktober 1944 wurden auch die drei bekanntesten tschechischen Komponisten nach Auschwitz verbracht und wenige Tage später in den Gaskammern ermordet. Und mit ihnen starb ein Großteil der hier, gedacht zur Täuschung der Weltöffentlichkeit, fröhlich singenden Kinder.
Von Stefan Zednik
Die tschechischen Komponisten Pavel Haas, Victor Ullmann und Hans Krása waren im Ghetto Theresienstadt interniert. Hier schufen sie einige ihrer wichtigsten Werke, nahmen Teil am musikalischen Leben - bis sie am 16. Oktober 1944 in die Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht wurden.
"2014-10-16T09:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:08:35.460000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/theresienstaedter-komponisten-hochkultur-inmitten-des-100.html
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Brüssel findet deutsche Pläne "diskriminierend"
Gegen die Pläne für eine Pkw-Maut in Deutschland hat jetzt die EU-Kommission geklagt. (picture alliance / dpa / Danfoto) Die Klage der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die deutschen PKW-Mautpläne kommt nicht überraschend. Bereits im April hatte Brüssel den Druck verstärkt und einen blauen Brief nach Berlin geschickt – verbunden mit der Aufforderung, die PKW-Maut zu ändern, weil sie mit europäischem Recht nicht vereinbart sei. Doch Verkehrsminister Alexander Dobrindt ließ schon damals die Kommission kalkuliert abblitzen und zeigte sich von der eigenen Rechtsauffassung überzeugt: "Es gibt offensichtlich eine unterschiedliche Rechtsauffassung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der EU-Kommission. Okay. Aber dann wird die da geklärt, wo sie geklärt werden muss. Und das ist der Europäische Gerichtshof. Glauben sie mir – wir sind gerüstet für diese Auseinandersetzung beim EuGH. Wir wissen, dass wir im Recht sind." Maut ja, aber nicht so Ganz anders die Einschätzung der EU-Kommission, die deshalb heute Klage gegen die PKW-Maut vor dem EuGH eingereicht hat. Denn durch die Straßennutzungsgebühren würden Ausländer gegenüber den Angehörigen des Mitgliedslandes diskriminiert. Was wiederum mit den Regeln des EU-Binnenmarktes nicht vereinbar sei. Die Kommission kritisiert also nicht die Einführung der PKW-Maut, sondern ihre Konstruktion. So wurde zeitgleich mit dem Maut-Gesetz auch ein Gesetz verabschiedet, wonach ausschließlich die in Deutschland zugelassenen PKW von der KFZ-Steuer in Höhe der Maut befreit werden. Was faktisch zu einer De facto-Befreiung von der Straßenbenutzungsgebühr ausschließlich für in Deutschland registrierte Fahrzeuge führe – und damit Ausländer diskriminiere, so die Kritik der Kommission. Zudem stößt sich Brüssel an den vergleichsweise hohen Preisen für die Kurzzeitvignetten – auch dadurch würden gerade Ausländer, die solche Vignetten bevorzugt kaufen dürften, über Gebühr benachteiligt. Dobrindt bestreitet dies, jetzt haben die Richter am EuGH das letzte Wort. Bis zu einer Entscheidung dürften jedoch Jahre vergehen.
Von Jörg Münchenberg
Der Maut-Streit zwischen Brüssel und Berlin eskaliert. Nun sollen europäische Richter entscheiden, ob die "Infrastrukturabgabe" wegen Diskriminierung von Ausländern gekippt wird - oder doch noch kommen kann.
"2016-09-29T17:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:56:36.409000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-kommission-klagt-gegen-pkw-maut-bruessel-findet-deutsche-100.html
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"Wir werden endlich ein freies und unabhängiges Land sein"
"Vom 29. März 2019 an hat die EU in unserer Gesetzgebung keinerlei Macht mehr über das Vereinigte Königreich", sagt John Redwood (Bruce Adams/Solo Syndication/Daily Mail) Christoph Heinemann: Wie kann der Brexit-Stillstand im Parlament überwunden werden? John Redwood: Das Parlament hat zweimal sehr weise gesetzgeberisch entschieden: einmal mit dem Parlamentsbeschluss, der EU mitzuteilen, dass wir die EU am 29. März 2019 verlassen werden, indem wir den Brief zu Artikel 50 des Vertrages verschickt haben. Und es hat das EU-Rückzugs-Gesetz beschlossen. Damit wird der Inhalt des Artikel-50-Briefes in unser nationales Recht bestätigt: vom 29. März 2019 an hat die EU in unserer Gesetzgebung keinerlei Macht mehr über das Vereinigte Königreich. Wir werden endlich ein freies und unabhängiges Land sein. Worauf ich mich freue. Wenn das Parlament nun seine Meinung ändern möchte, und diese Veränderungen verschiebt oder abwandelt, dann wird es dabei Schwierigkeiten bekommen. Veränderungen oder Verschiebungen müssten mit der Europäischen Union abgesprochen werden. Und das wird sogar noch schwieriger. Heinemann: Die Labour Partei möchte einen ungeregelten Ausstieg im Parlament verhindern. Steht damit fest, dass es ein Abkommen geben wird? Redwood: Überhaupt nicht. Wenn Parteien im Parlament beantragen, dass sie nicht ohne Abkommen ausscheiden wollen, steht ihnen das frei. Das ändert aber nicht die Gesetzeslage. Die ist durch zwei Parlamentsbeschlüsse vorgegeben, die ich gerade beschrieben habe. Das Einzige, was uns daran hindern könnte, am 29. März 2019 auszuscheiden, ist ein Widerruf oder eine Änderung des Gesetzes. "Wir werden ohne ein Abkommen ausscheiden" Heinemann: Die Premierministerin möchte ein Abkommen. Warum ist Großbritannien nicht in der Lage, zu sagen, was es will? Redwood: Großbritannien hat gesagt, was es will. Aber die Europäische Union möchte das nicht gewähren. Und deshalb, das ist meine Sicht der Dinge, werden wir ohne ein Abkommen ausscheiden. Ich bin froh, dass wir ohne das Ausstiegs-Abkommen ausscheiden werden, weil es sich aus Sicht des Vereinigten Königreichs um ein sehr schlechtes Dokument handelt. Ich kann den Verhandlungsführern der Europäischen Union nur gratulieren: Sie haben alles in dieses Abkommen gepackt, was die EU irgendwie wollte. Aber das macht daraus ein extrem schlechtes Abkommen für mein Land. Mein Land hat mehrheitlich dafür gestimmt, die Kontrolle über unser Geld, unsere Gesetze und unsere Grenzen zurückzubekommen. Und der Deal verhindert, dass es dazu kommen kann. Deshalb hat das Parlament gegen dieses Abkommen in der Tat mit sehr großer Mehrheit Einspruch erhoben. Wir haben noch länger mit John Redwood gesprochen – hören Sie hier die Langfassung des Gesprächs Oder hören Sie hier: das Gespräch im englischen Original Heinemann: Was genau ist an diesem Abkommen schlecht? Redwood: Alles. Die Idee, dass wir uns für weitere 21-45 Monate europäischer Rechtsprechung unterordnen müssen. Dass wir der Europäischen Union große Geldsumme zahlen müssen. Dass wir eine weitere und sehr lange Verhandlung darüber führen müssen, wie unsere künftigen Beziehungen aussehen könnten. Ich kann in diesem Abkommen überhaupt nichts Gutes erkennen. "Keine Notwendigkeit" für Kontrollen an der irischen Grenze Heinemann: No Deal bedeutet Grenzanlagen und -kontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Mit welchen Folgen? Redwood: Nein überhaupt nicht. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat zu Recht gesagt, dass sie überhaupt keine Notwendigkeit sieht, neue Schranken zwischen Nordirland und der Republik zu errichten. Heinemann: Das wird aber die EU verlangen … Redwood: Dann wird die EU das der Bevölkerung der Republik Irland und von Nordirland erklären müssen. Das Vereinigte Königreich sieht das nicht so. Und wenn man bestehende Technologie nutzt, kann man damit grenzüberschreitenden Handel treiben – auch mit Abgaben – ohne Grenzanlagen, an denen Menschen Geld umrechnen. Heinemann: Grenzkontrollen, das haben Sie doch eben gesagt, sind Teil von take back control – die Kontrolle zurückbekommen … Redwood: Ja, und wir wollen unsere Kontrolle dazu nutzen, keine neuen aufdringlichen Grenzschranken zwischen Nordirland und der Republik Irland einzurichten. Es ist unser Recht, diese Entscheidung zu treffen. Und ich und andere haben es gründlich satt, wenn wir sehen, wie die Europäische Union versucht, daraus ein Problem zu machen, das unser Ausscheiden in einer vernünftigen und freundschaftlichen Art erschwert. Das ist kein wirkliches Problem. Es gibt überhaupt keinen Grund, neue strenge Kontrollen und Grenzvorrichtungen an dieser Grenze einzuführen. Und das sollten Sie verstehen. Heinemann: Die EU sagt, diese Notwendigkeit besteht. Und wir sollten daran erinnern: Großbritannien möchte die EU verlassen, nicht umgekehrt. Redwood: Na prima, dann sollte die EU das der Bevölkerung in der Republik Irland erklären, die immer gesagt hat, dass sie keine Grenze möchte. Und wir als große Freunde der Republik Irland bestätigen das. Wir sagen, wir werden für keine Grenzschwierigkeiten sorgen. "Nach dem Austritt wird die Wirtschaft zulegen" Heinemann: Mark Carney, der Gouverneur der Bank of England, sagte bereits im vergangenen Jahr, dass britischen Haushalten etwa 900 Pfund weniger zur Verfügung stünden, als das der Fall wäre, bliebe Großbritannien in der EU. 900 Pfund weniger – wofür? Redwood: Er irrt sich. Mark Carney, die Bank of England und das britische Finanzministerium haben eine ganze Reihe hoffnungslos falscher Vorhersagen veröffentlicht. Sie haben gesagt, uns stünde eine Rezession und der Verlust von 500.000 Arbeitsplätzen bevor. Und das nur als Ergebnis der Brexit-Abstimmung, also in den ersten Jahren nach der Abstimmung. Wir wissen heute, dass das restlos falsch war. Ich stehe diesen langfristigen 15 Jahre umfassenden Prognosen kritisch gegenüber. Ich rechne damit, dass wir außerhalb der Europäischen Union etwas besser dastehen werden als innerhalb. Meine eigene Prognose sieht einen Zuwachs von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den nächsten Jahren voraus, vorausgesetzt, wir verlassen die EU am 29. März 2019 ohne finanzielle Verpflichtungen. Heinemann: Der angesehene Gouverneur der Bank of England liegt vollständig daneben? Redwood: Ja, absolut. Das wissen wir. Und er musste erklären, warum seine Prognosen 2016 so hoffnungslos falsch waren. Und meine waren richtig. Und ich wiederhole: Wir werden etwas besser dastehen, wenn wir sauber aus der EU ausscheiden und ab dem 30. März dieses Jahres freundschaftlich mit Ihnen handeln werden unter den Bedingungen der Welthandelsorganisation. Heinemann: Die weitaus meisten jungen Menschen in Großbritannien wollen den Brexit nicht. Und sie werden in die EU zurückkehren wollen. Ist der Brexit eine teure Zeitverschwendung? Redwood: Ich stimme Ihnen auch dabei nicht zu. Viele junge Menschen haben sich an der Kampagne auf der Seite der Bexit-Befürworter beteiligt. In der Wahlkampfzentrale für den EU-Ausstieg waren sehr viele enthusiastische sehr junge Leute, die meinen Enthusiasmus teilen, angesichts der Aussicht, ihr eigenes unabhängiges Land so rasch wie möglich zurückbekommen zu können. "Kein Weg für ein zweites Referendum" Heinemann: Warum sollte es jetzt, wo die Fakten auf dem Tisch liegen, kein zweites Referendum geben? Redwood: Ich glaube, es gibt überhaupt keinen Weg für ein zweites Referendum. Dafür sehe ich im Parlament keine Mehrheit, es sei denn, die Opposition würde ihre Meinung ändern. Aber gegenwärtig unterstützen die Opposition und ihr Vorsitzender ein zweites Referendum nicht. Ein zweites Referendum könnte vor unserem Austritt am 29. März nicht durchgeführt werden. Insofern wäre die Fragestellung etwas schwierig. Die Mehrheit, die für den Austritt gestimmt hat, würde die Vorstellung sehr übel nehmen, dass sie ihre Absicht ändern sollten und zu dumm gewesen wäre, bei der ersten Abstimmung richtig zu entscheiden. Ich glaube, ein zweites Referendum ergäbe eine größere Mehrheit für den Austritt. Aber dazu wird es nicht kommen, denn ich glaube nicht, dass es genug Abgeordnete gibt, die dumm genug wären, ein zweites Referendum zu wollen. Heinemann: Käme es doch dazu, hieße das, der britischen Bevölkerung die Kontrolle zurückzugeben. War es nicht genau das, was die Brexit-Befürworter gefordert haben? Redwood: Ja, wir wollen die Kontrollen und haben dafür gestimmt. Und wir sagen dem Parlament: Ihr habt uns versprochen, uns die Kontrolle zurückzugeben, also müsst ihr jetzt liefern. Die Öffentlichkeit hat vom Parlament die Nase voll. Zwei Jahre und sieben Monate sind für viele Menschen viel zu lang. Wir haben uns im Sommer 2016 für ein Ausscheiden entschieden. Das müsste längst über die Bühne gegangen sein. Eine große Mehrheit der Öffentlichkeit besteht darauf, dass wir im März 2019 aussteigen. Sie haben gründlich die Nase voll von diesen Leuten, die mit der EU zusammenarbeiten, um den Brexit, für den wir gestimmt haben, zum Erliegen zu bringen oder zu verschieben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
John Redwood im Gespräch mit Christoph Heinemann
"Mein Land hat mehrheitlich dafür gestimmt, die Kontrolle über unser Geld, unsere Gesetze und unsere Grenzen zurückzubekommen", sagte John Redwood im Dlf. Der konservative Parlamentsabgeordnete wünscht sich einen Brexit ohne Abkommen, "weil es sich aus unserer Sicht um ein sehr schlechtes Dokument handelt".
"2019-01-25T05:25:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:50.846000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tory-mp-zum-brexit-wir-werden-endlich-ein-freies-und-100.html
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Coronakrise macht Defizite an den Schulen deutlich
Brandenburgische Schulen nutzen eine Cloud des Hasso-Plattner-Instituts (dpa / Monika Skolimowska) Thomas Nolte war als Lehrer an seinem Gymnasium in Moers am Niederrhein immer digitaler Pionier. 2018 ging er aber frustriert in Pension - drei Jahre vorzeitig. Zu oft fühlte er sich ausgebremst. "Auch ein WLAN in der Schule einrichten, was ja nötig wäre, um wirklich produktiv zu arbeiten, das scheitert dann an Sicherheitsproblemen, dass dieses WLAN dann von außen womöglich gehackt werden könnte. Oder dass sich da Leute rein begeben, die nicht zur Schule gehören und so weiter. Und deswegen ist das alles so schwierig. Ich hätte sehr gerne mit Schülern gearbeitet. Die Schüler wären auch dazu bereit gewesen, aber ohne WLAN kriegen sie das nicht hin." Bundesweit jeweils mehr als die Hälfte der Schüler bemängeln die schlechte technische Ausstattung und sehen den Einsatz von digitalen Medien als dringlichste Aufgabe, ergab eine repräsentative Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom - noch vor der Corona-bedingten Schließung. Logineo – seit zwölf Jahren Pilotprojekt in NRW Schon vor zwölf Jahren führte Noltes Schule als Pilotprojekt das in Nordrhein-Westfalen eigenentwickelte Lernsystem Logineo ein. Doch es stockte von Anfang an, wie Thomas Nolte berichtet: "Das läuft bis heute, hat allerdings auch so seine Mucken, dass E-Mails nicht ankommen oder dass der Server nicht erreichbar ist oder es ist überlastet. Ich habe das noch so mitbekommen, dass man es als Lernplattform hätte nutzen können. Aber das wollte an der Schule niemand. Wenn man Schüler fragt, die wären da wohl aufgeschlossen gegenüber digitalem Unterricht oder digital gestütztem Unterricht." Seit einer gesamten Schülergeneration wird in NRW an Logineo gearbeitet. 60 Millionen Euro hat das Land investiert, ohne dass es zufriedenstellend läuft. Von den 6.000 Schulen sind bislang 465 dabei, weitere 120 warten auf den Zugang zu einem deutlich gegenüber den Planungen abgespeckten System. Hasso-Plattner-Institut bietet Cloud für alle Länder In dieser Situation bietet nun das renommierte Hasso-Plattner-Institut HPI an, die mit Geld vom Bundesbildungsministerium geförderte Schul-Cloud in allen Bundesländern zu nutzen. Projektleiter und Direktor des Exzellenz-Zentrums, Christoph Meinel, sieht dadurch auch nicht die Kulturhoheit der Länder gefährdet: "Es sollte eine einheitliche Lösung für alle Bundesländer sein, weil das hat mit dem Bildungsauftrag noch gar nicht viel zu tun. Sondern das hat was damit zu tun, dass wir unsere Schulen in die Lage versetzen müssen auch digitale Angebote nutzen zu können, wenn das ein Lehrer aus pädagogischen Gründen für sinnvoll hält. Da gibt es technische Fragen zu klären der Infrastruktur und der Geräteanschluss, da gibt es die Notwendigkeit sie zu schaffen und auch natürlich eine ganze Reihe datenschutzrechtlicher Dinge zu beachten." Bislang arbeiten 128 Schulen in Brandenburg, Niedersachsen und Thüringen mit der Schul-Cloud. Sie ermöglichst es, digitale Lernangebote verschiedener Anbieter zu nutzen und bietet außerdem Tools für das gemeinsame Arbeiten zum Beispiel an Texten oder Präsentationen im Klassenverband. Meinel sieht sich in der Lage, an die Schul-Cloud in kurzer Zeit alle Schulen in Deutschland anschließen zu können: "Das ist natürlich alles jetzt mit einer gewissen Hektik. Die drei Bundesländern hatten da jetzt mehrjährige Programme aufgesetzt, um dieses Ausrollen der Schul-Cloud sicherzustellen. Jetzt soll das in wenigen Wochen geschehen. Wir geben uns die beste Mühe." Schulministerium NRW hält an eigenem Projekt fest Trotzdem würde es einige Wochen dauern, um den Anmeldeprozess für jede Schule und jeden einzelnen Schüler im System abzuwickeln. Zudem müssten auch die Lehrer auf das System geschult werden. Dafür hat das HPI eine eigene Plattform aufgebaut, sagt Meinel: "Da es in Deutschland in vielen Bereichen keine Erfahrung gibt, wie mit digitalen Inhalten im Schulunterricht gut umgegangen wird, braucht man schon noch auch ein Stück Weiterbildung oder Ideen, Best-Practice-Beispiele, um den Lehrern jetzt gerade in dieser schwierigen Situation, wo Schulen geschlossen sind, auch schon Hinweise zu geben, wie sie das machen können, wie sie das nutzen können." Im Schulministerium NRW äußert man sich skeptisch zu dem Angebot von der Bundesebene. Einerseits seien die Schulen selbst verantwortlich und man wolle keine Vorgaben machen, aber andererseits habe man mit Logineo NRW eine eigene Plattform für digitales Arbeiten und sicheres Kommunizieren entwickelt, hieß es aus dem Schulministerium NRW. Zitat: "Durch die Schaffung eines landeseigenen Angebots besteht aus Sicht des Ministeriums für Schule und Bildung kein Grund, den flächendeckenden Einsatz der HPI-Schul-Cloud von Seiten des Landes zu empfehlen." Studienrat Thomas Nolte kennt dies aus seiner Zeit als Lehrer nur zu gut: "Wir haben 16 Bundesländer und da macht auch wieder jeder seins." Trotzdem ist an den Schulen eine Aufbruchstimmung zu spüren, die Corona-Krise als Chance zu ergreifen, um die digitale Schulbildung voranzubringen.
Von Kai Rüsberg
Die Coronakrise macht ein seit Jahren bestehendes Problem an den Schulen deutlich: Viele Bundesländer schaffen es nicht, eine funktionierende digitale Schulplattform aufzubauen. Die Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts stünde zur Verfügung. Doch nicht alle Bundesländer wollen sie nutzen.
"2020-03-30T14:43:00+02:00"
"2020-04-01T09:34:05.993000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digitales-lernen-coronakrise-macht-defizite-an-den-schulen-100.html
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Mit Intensivcoaching zurück in den Job
Jobsuche und Weiterbildung - für Alleinerziehende nicht machbar, wenn niemand auf das Kind aufpassen kann (picture alliance / Julian Stratenschulte) "Vor dem Kind hab ich eine Ausbildung als Fachkraft im Gastgewerbe gemacht und hab im Hotel gearbeitet und irgendwann ging das nicht mehr nach der Schwangerschaft." Ab dann war die heute 24jährige Cynthia Mutter eines Sohnes, alleinerziehend und arbeitslos. "Ich musste erstmal überlegen, um wieder ins Berufsleben einzusteigen, man stellt sich da ein paar Fragen, wie wird das sein mit dem Kind? Wie entwickelt sich das mit dem Kind? Wie mach ich das auch? Als einteiliger Elternteil ohne den anderen Partner?" Hilfsangebot im Problemstadtteil Mit diesen Fragen und Bedenken kam die junge Frau vor rund einem Jahr in die Räume des Projekts "Jobclub Soloturn Plus" in Hamburg-Wandsbek. Das jährliche Einkommen liegt in diesem wenig wohlhabenden Stadtteil deutlich unter dem Hamburger Durchschnitt. Hier lebt die 24jährige mit ihrem Sohn:"Das waren für mich viele Fragen und viele Dinge, die ich mir erstmal überlegen musste, bevor ich überhaupt den Mut hatte, wieder ins Berufsleben einzusteigen."Der Jobclub, finanziert vom Europäischen Sozialfond und der Stadt Hamburg, will Alleinerziehende wie Cynthia auf dem Weg zurück in die Arbeit unterstützen. Ohne großen bürokratischen Aufwand, zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse: Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter helfen dabei, Kinderbetreuung zu organisieren, Kontakte zu Arbeitgebern herzustellen oder Sprachkurse ausfindig zu machen. Angebote der Arbeitsagenturen passen nicht Denn Alleinerziehende mit geringer Schul- und Berufsbildung, zu 95 Prozent sind es Frauen, können oft nicht an den etablierten Weiterbildungsangeboten der Arbeitsagenturen teilnehmen, weil sie niemanden haben, der auf ihre Kinder aufpasst. Sie fallen deshalb immer wieder durch alle Raster, erzählt Projektleiterin Beate Balzer:"Viele unserer Teilnehmerinnen wären gar nicht imstande, an so einer Maßnahme teilzunehmen, wie sie ganz viel angeboten werden: 15 Wochenstunden, Anwesenheit, mit einem festen Programm, wann was abgehandelt wird. Sondern das ist absolut niedrigschwellig und absolut an den Bedarfen der Teilnehmerinnen orientiert." Freiwillig und zeitlich nicht begrenzt Seit fünf Jahren ist der Jobclub Soloturn Plus ein festes Angebot in den Hamburger Problemstadtteilen. Dabei mitzumachen ist freiwillig und zeitlich nicht begrenzt. Idealerweise läuft das dann so ab: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen sich einmal pro Woche mit ihrem persönlichen Coach und planen gemeinsam und ganz individuell den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Beate Balzer: "Es gibt Frauen, die können wir in Vollzeitstellen vermitteln, die haben dann im Vorfeld allerdings schon viel mit der Kinderbetreuung selber regeln können, und die haben sehr genaue Vorstellungen, was sie leisten können, was realistisch ist. Andere kommen völlig ohne Idee." Schulden, Stress und Krankheiten Viele Alleinerziehende, die hierherkommen, haben weder eine gute Schulbildung, noch haben sie einen Beruf erlernt. Außerdem erschwerend im Gepäck: Das, was Sozialarbeiter "komplexe Problemlagen" nennen: Brüche im Lebenslauf, Probleme mit dem abwesenden Elternteil, Schulden, Stress mit der eigenen Herkunftsfamilie, Krankheiten. Und häufig auch ein Mangel an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zum Beispiel, sagt Balzer: "Dann gibt es Frauen, die brauchen sehr, sehr viel Zeit und andere Maßnahmen, bevor sie überhaupt stabil genug sind, um in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Das muss man einfach sehen, und für die gibt es in den Regelangeboten von den Jobcentern eigentlich gar nichts."Insgesamt keine idealen Voraussetzungen, um in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Trotzdem konnte der Jobclub bisher immerhin rund 25 Prozent der Teilnehmerinnen vermitteln. Die 24jährige Cynthia ist eine davon:"Im Moment arbeite ich im Einzelhandel, es macht mega viel Spaß." Coaching für Bewerbungen und Vorstellungsgespräche Projekt-Mitarbeiterin Petra Bauer hat die 24jährige monatelang als persönlicher Coach auf ihrer Arbeitssuche begleitet: "Dann haben wir angefangen Stellen zu recherchieren, Bewerbungsunterlagen zu optimieren und dann haben wir Anschreiben, Bewerbungen hingeschickt. Und wenn sie eingeladen wurde, dann haben wir auch das noch mal geübt vorab, so ein Vorstellungsgespräch: Wie reagiere ich auf entsprechende Situationen und Fragen." Mal liefen die Gespräche gut, dann wieder schlecht. Mal wurde Cynthia zum Probearbeiten eingeladen, dann klappte es nicht mit dem erhofften Praktikumsplatz. Petra Bauer aber war immer da und hat den schwierigen Prozess begleitet, erzählt die Alleinerziehende: "Sie hat mir auf jeden Fall viel, viel Mut gegeben, mehr und mehr Mut. Es gab auch Bewerbungsgespräche, die haben mich fertig gemacht, das lief so schlecht, von meiner Seite, da hab ich mich mit der Frau Bauer getroffen und hab ihr das erzählt und dann hat sie mir trotzdem Mut gemacht, sie sagte: Gut, man lernt daraus!" Bisher kriegt Cynthia alles hin: Haushalt, Arbeit - und ihrem vierjährigen Sohn die Mutter zu sein, die sie sein möchte. Eine Erfolgsgeschichte, die sich die Projekt-Mitarbeiterinnen für mehr Teilnehmerinnen wünschen.
Von Daniela Remus
Alleinerziehend und gering qualifiziert: Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen, um den Wechsel von Hartz IV ins Berufsleben zu schaffen - trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt. Betroffen sind überwiegend Frauen. Das Förderprojekt Jobclub Soloturn Plus in Hamburg kümmert sich um sie.
"2019-09-24T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:11:52.834000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/projekt-fuer-alleinerziehende-mit-intensivcoaching-zurueck-100.html
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Ein weiteres Jahr in Afghanistan
Pascal, fünf Jahre alt, sitzt auf dem Schoß seines Vaters. Sie schauen auf einen Laptop. Fotos von staubigen Straßen und Panzern sind zu sehen. Die Bilder zeigen Männer mit Turban und Männer in Uniform. " Vater: "Ziemlich staubig."Sohn: "Weil's da nur Sand gab."Vater: "Da gab's nur Sand, das ist richtig."Sohn: "Bei Afghanistan."Vater: "In Afghanistan, Schatz."Sohn: "Da gibt's ganz schön viel Sand."Vater: "Da kann ich nix für." "Der kleine Pascal weiß, dass sein Papa bereits zwei Mal in Afghanistan war. Seit Dezember 2001 ist die Bundeswehr am Hindukusch im Einsatz. Vor Ort sind zurzeit rund 5000 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Morgen (28.1.2011) entscheidet der Bundestag über eine Verlängerung des Mandats. Pascals Vater, Stefan Wenzlowski, ist in Erfurt stationiert. Warum er nach Mazar-i Scharif musste? Mutter Nancy hat es ihrem fünfjährigen Sohn so erklärt. "Er weiß: Papa hilft den Kindern. Dann passt das. In einer Bevölkerung, die ärmer dran sind, wie wir."Pascal: "Er hat Afghanistan mit aufgebaut."Gut 5000 Kilometer von zuhause entfernt war Stefan Wenzlowski für die Fernmeldetechnik zuständig. Im Mazar-i Scharif hat der 34-Jährige Telefon- und Videoleitungen aufgebaut sowie Funkverbindungen hergestellt. Der Hauptfeldwebel ärgert sich, wenn die Leute in Deutschland reden, als wüssten sie über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan Bescheid. Die Medien, so klagt der Soldat, verbreiten vor allem schlechte Nachrichten. Er fände es besser, Journalisten von vor Ort würden mehr darüber berichten, was dort tagtäglich geschieht. "Dass wir halt nicht unten sind, um irgendwelche Leute zu erschießen, was halt meistens so hingestellt wird. Und dass die Aufbauhilfe ja auch ankommt. Die Bevölkerung ist ja froh. Weil: Nach 25 Jahren Krieg sind die froh, wenn es da unten mal ruhiger ist. Wenn da mal ein Brunnen gebaut wird, wenn Schulen aufgebaut werden, dass die Kinder Schulhefte bekommen, Stifte. Und das ist schon nicht schlecht."Stefan Wenzlowski nennt diese Beispiele, weil er hofft, dass sie verstanden werden. Natürlich weiß er, dass in Deutschland der Rückhalt in der Bevölkerung für den Einsatz der Bundeswehr bröckelt. Eine Umfrage des Magazins "Stern" ergab kürzlich, dass sich knapp zwei Drittel der Bundesbürger einen konkreten Abzugstermin wünschen - und zwar möglichst bald."Ich bin der Meinung, die sollen raus gehen.""Ich bin auch der Meinung, dass die Bundeswehr raus sollte. Aber Aufbauhilfe sollte geleistet werden.""Unsere Kulturen sind zu unterschiedlich.""Mein Gefühl ist: Die sollen raus gehen, aber ich kann's eben auch nicht begründen.""Wir können Wirtschaftshilfe schon geben. Also nicht, dass ich sage, die kriegen nichts von uns. Aber ich bin der Meinung: Das ist für uns zu weit weg."Berlin, Deutscher Bundestag. Vergangenen Freitag. Bei der ersten Beratung der von der Bundesregierung beantragten Mandatsverlängerung für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr hagelte es Kritik an der schwarz-gelben Koalition:"Sie haben irritiert, Sie haben provoziert und Sie haben sich zerstritten in der Regierung", "hielt der SPD-Sicherheitsexperte Rolf Mützenich der Regierung entgegen, nachdem dort Differenzen über den Fortgang des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch deutlich geworden waren. Während Außenminister Guido Westerwelle, dessen Haus die Federführung für das gesamte deutsche Afghanistan-Engagement obliegt, immer wieder für den Beginn des Abzuges deutscher Kampftruppen ab Ende 2011 plädierte, hatten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in der Terminfrage auffällig zurückgehalten. Besonders der junge Minister von der CSU hatte bei vielen Gelegenheiten und schließlich auch mit drastischen Worten deutlich gemacht: " Dass es die Lage erlauben muss und dass gleichzeitig auch kein Gefährdungstatbestand etwa für die verbleibenden Soldaten oder zivilen Mitarbeiter daraus erwachsen darf. Und vor dem Hintergrund ist es mir völlig wurscht, ob man das Jahr 2004 oder 2013, 2010 oder 2011 oder 2012 nennt - die Konditionierung ist entscheidend. Und die ist gegeben. Und das ist auch die Verantwortung und die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die wir gegenüber den Soldaten dort haben, die dort Leib und Leben riskieren." "Der Bundesaußenminister hingegen verbreitete vor einer Woche im Parlament erneut unverdrossen Optimismus, als er einen Vierstufenplan präsentierte:"In der ersten Hälfte dieses Jahres wollen wir damit beginnen, dass örtlich in Distrikten oder Provinzen die Sicherheitsverantwortung übergeben werden kann. Zweitens: Zum Ende des Jahres sind wir zuversichtlich, in der Lage zu sein, dass zum ersten Mal auch unsere Präsenz der Bundeswehr zurückgeführt werden kann. Drittens: Im Jahre 2014 soll es uns gelungen sein, dass die Sicherheitsverantwortung vollständig an Afghanistan übertragen wird. Das ist nicht nur unser Ziel. Es ist ausdrücklich auch das Ziel der afghanischen Regierung, dass es also von uns keine Kampftruppen mehr dann im Lande geben muss."Der vierte Punkt seines Planes war und ist dem Minister von der FDP besonders wichtig. "Auch nach dem Jahre 2014 muss sich Deutschland für die nachhaltige Sicherheit in Afghanistan engagieren. Täten wir das nicht, hätten die Taliban sofort wieder das Sagen. Sie brächten ihre Saat des Terrorismus in die Welt, und das gesamte Engagement zum Beispiel der Frauen und Männer der Bundeswehr wäre vergeblich. Wir wären da, wo wir waren. Es darf kein zweites Mal ein Vakuum in Afghanistan hinterlassen werden. Das ist das, worum es uns geht!"Die SPD-Fraktion will der beantragten Verlängerung des Bundestagsmandats für die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am ISAF-Einsatz um ein weiteres Jahr zustimmen, da das Mandat keine weitere Aufstockung des Bundeswehr-Kontingents vorsieht. Es soll bei maximal 5350 Soldaten bleiben, wobei 350 von ihnen als "flexible Reserve" betrachtet werden, die nur im Bedarfsfall und nur in Absprache mit dem Parlament zeitlich befristet eingesetzt werden soll. Im Übrigen sah die SPD schon bei der letzten Mandatsverlängerung vor einem Jahr, nach der Londoner Afghanistan-Konferenz und den dort eingegangenen Selbstverpflichtungen der Regierung Karsai, einen Großteil ihrer Forderungen durchgesetzt. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. "Unsere Erwartung: eine vermehrte Anstrengung beim zivilen Wiederaufbau, verstärkte Anstrengungen bei der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, bei der dortigen Polizei und bei der dortigen Armee. Unsere Erwartung ist aber auch, dass wir mit Blick auf das Jahr 2014, in dem Afghanistan volle Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen soll, dass wir mit Blick auf diesen Übergabezeitpunkt 2014 die Übergangsperiode jetzt glaubwürdig einleiten. Und deshalb sagen wir, der Rückzug deutscher Soldaten aus Afghanistan muss im Jahre 2011 glaubwürdig beginnen."Tatsächlich wird der Deutsche Bundestag morgen (28.1.2011) keinen konkreten Termin für den Beginn des Abzuges deutscher Kampfeinheiten aus Afghanistan beschließen. Im eigentlichen Mandatstext, über den die Abgeordneten zu befinden haben, ist davon mit keiner Silbe die Rede. Lediglich in der Begründung der Bundesregierung für die von ihr beantragte Mandatsverlängerung bis zum 31. Januar 2012 heißt es recht vage:"Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden."Damit ist in der von Deutschland geführten ISAF-Nordregion ab Ende dieses Jahres alles möglich, sogar der Beginn des Abzuges von Bundeswehr-Kampftruppen. Durch das Mandat vorgeschrieben ist er aber keineswegs. Im Klartext bedeutet das einen Rückschlag für den Versuch der FDP, im Superwahljahr 2011 angesichts verheerender Umfragewerte als Friedenspartei zu punkten. Dabei hatte die Bundesregierung selbst in ihrem ersten Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan, der dem Parlament kurz vor Weihnachten vorgelegt wurde, die Rückzugsfrage nur in aller Vorsicht angeschnitten. Dort war zu lesen:"Der Beginn der Übergabe in Verantwortung ist nicht gleichzusetzen mit dem Abzug der internationalen Sicherheitskräfte, sondern allenfalls deren Verringerung in bestimmten Bereichen. Transition ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess. Erst wenn die afghanischen Kräfte die Sicherheitslage tatsächlich beherrschen können, wird erfolgsabhängig eine Reduzierung der internationalen Präsenz möglich."Nur die kleineren Oppositionsparteien im Bundestag interpretierten derlei Kautelen am vergangenen Freitag mit der gebotenen Deutlichkeit: "Im Klartext: Das kann noch einiges länger dauern! Ich kann nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren: Ein eindeutiger, unmissverständlicher Abzugsplan sieht anders aus!", "so Paul Schäfer, der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, die das Afghanistan-Mandat grundsätzlich ablehnt. Die Bündnisgrünen hingegen unterstützen zwar prinzipiell den Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan für ein weiteres Jahr, dennoch werden deren Abgeordneten der jetzt beantragten Mandatsverlängerung mehrheitlich wohl nicht zustimmen. Ihr Sicherheitsexperte Frithjof Schmidt an die Adresse der Bundesregierung:" "Seit über einem Jahr beschwören Sie eine Abzugsperspektive. Legen Sie endlich einen konkreten, verlässlichen Plan vor! In anderen Ländern geht das doch auch. Sagen Sie, was Sie zwischen 2011 und 2014 machen wollen. Sagen Sie, wie die konkreten Schritte 2012 und 2013 aussehen sollen. Das wollen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wissen, und nur so werden wir Druck auf die afghanische Regierung erzeugen, dass sie ihre Seite des Fahrplans einzuhalten hat!"So denkt die Bevölkerung wohl nicht nur in Deutschland. Zweimal war Thies Bergmann in Afghanistan, zuletzt als Wahlbeobachter für die EU. Der Europaabgeordnete aus den Niederlanden ist einer der wenigen im Europäischen Parlament, der mit eigenen Augen gesehen hat, worum es in Afghanistan geht:"Der militärische Ansatz hat nicht funktioniert. Es gibt keine Sicherheit und keinen Sieg - etwas Grundsätzliches läuft da falsch. Wir sollten künftig unser Geld vor allem in die Ausbildung der afghanischen Polizei investieren, in Entwicklungsprojekte, in den Kampf gegen Korruption. Nur so bieten wir eine Alternative zu den Taliban."Diese Einsicht scheint inzwischen Mehrheitsmeinung zu sein im Europäischen Parlament. In seinem neusten Afghanistan-Bericht fordert es mehr ziviles Engagement, mehr Geld und Personal für EUPOL, die europäische Polizeimission in Afghanistan. Solche Forderungen lassen sich in Straßburg leicht formulieren. Etwas ganz anderes aber ist ihre Umsetzung in Kabul. Dort liegt hinter Betonsperren, Sandsäcken und Stacheldraht die Vertretung der Europäischen Union, in der sich - von nepalesischen Gurkas bewacht - EU-Botschafter Vigaudas Usackas mit seinen Mitarbeitern verschanzt. Sie leben wie in einer vom Terror belagerten Festung. Aber wer den Botschafter besucht, bekommt von ihm nur Positives zu hören: "Wissen sie, die EU wird von den Afghanen wirklich sehr respektiert, die Europäische Union wird eher als ein neutraler Faktor in diesem Land wahrgenommen, nicht als Kriegspartei. Die Leute schätzen unsre Aufbauarbeit im Gesundheits- und Bildungswesen - das wird uns von den Afghanen hoch angerechnet."Das ist die Einschätzung, die offizielle Sichtweise, mit der westliche Diplomaten und ihre Dienstherren die Lage beschreiben. Dazu werden die entsprechenden Zahlen geliefert: Sieben Millionen afghanische Kinder gehen dank des europäischen Engagements wieder zur Schule. 40 Prozent davon Mädchen. Und statt sechs Prozent im Jahr 2002 hätten nun 62 Prozent der Afghanen Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen, sagt Botschafter Usackas weiter, deshalb werde die EU so geschätzt. Dass die EU so viel zum Guten gewendet hat in diesem Land, müsste sich rumgesprochen haben bei den Afghanen, zum Beispiel auf dem alten Basar in Kabul. Dort verkauften die Händler in früheren Zeiten Silberschmuck und Lapislazuli an europäische Touristen.Schau, sagt der Silberschmied Marwas und zeigt auf den Jungen, der sich hinter ihm versteckt, das hier ist mein Sohn, der hat nie was anderes erlebt als Krieg. Er braucht keine Waffen, er braucht einen Stift und ein Heft. Für uns ist hier nichts gut geworden. Und wo sind die Europäer, fragt Marwas, angeblich sind sie ja hier; aber wir haben noch keinen gesehen. Das liegt an der Tatsache, dass europäische Diplomaten und Polizeioffiziere in Kabul in ihren gepanzerten Wagen nur wenige, klar definierte Ziele anfahren dürfen: Fünfsternehotels, Ministerien oder die Botschaft eines befreundeten Landes:"Sie Europäer leben in einer Blase, und sie bewegen sich von einer Blase zur anderen. Sie haben nichts zu tun mit der Realität meines Landes."Das sagt ein afghanischer Politikwissenschaftler, der anonym bleiben möchte. Er weiß, dass Brüssel in den vergangenen Jahren über 2,5 Mrd. Euro für den zivilen Wiederaufbau nach Afghanistan schickte. Gleichzeitig, sagt er, sind viele europäische Länder aber auch militärisch präsent: kämpfen, bomben, töten. "Die Absicht der EU mag gut sein, sie will wirklich etwas tun. Aber die Kämpfe vor allem auch im Norden, die vielen toten Zivilisten bringen die Leute generell gegen den Westen auf. Wenn dein Haus zerbombt wird, fragst du nicht mehr, ob das ein Amerikaner oder ein Europäer war."Das ist das eigentliche Dilemma, in dem sich die Europäer befinden. Sie wollen als ziviler Helfer auftreten und sich von den USA unterscheiden. Gleichzeitig führen ihre Mitgliedsländer aber Krieg in Afghanistan, und untergrabenen damit die Glaubwürdigkeit der EU als zivile Alternative zum militärischen Primat der Amerikaner. Aber die Europäische Union ist ohnehin nicht nur im Land, um Schulen und Gesundheitszentren zu bauen. De facto ist sie einer der wichtigsten Geldgeber der Regierung Karzai. Eines Regimes, das in den vergangenen Jahren nicht fähig und auch nicht willens war, die chronische Korruption in den eigenen Reihen wirkungsvoll zu bekämpfen:"Der Westen sagt: Wir wollen euch Demokratie bringen, Recht und Gerechtigkeit. Aber was wie Afghanen hier sehen, ist, dass der Westen mit einem korrupten Machthaber zusammenarbeitet. Mit ihm, mit dem Bruder des Präsidenten, mit solchen Leuten kollaboriert ihr. Mit Leuten, die nichts anderes sind als eine Mafia, und die mit Millionen aus dem Westen überschüttet werden."Um den Polizeiapparat und die Justizbehörden zumindest ansatzweise gegen Bestechung zu immunisieren, hat die EU über 400 Polizisten und Ausbilder aus Deutschland, Schweden und anderen Mitgliedsstaaten im afghanischen Einsatz. Doch nach Angaben der Organisation Transparency International belegte Afghanistan auch im vergangenen Jahr nach Somalia den vorletzten Platz auf der weltweiten Korruptionsliste. In seinem letzten Afghanistan-Bericht zeigte sich das Europäische Parlament sehr besorgt über die - wie es heißt - "mangelnde Transparenz bei der Verwaltung der Hilfe vor Ort. Dem könne er leider nicht widersprechen, sagt denn auch ein britischer Kriminalbeamter in Kabul. Der Superintendent wurde als Anti-Korruptions-Berater der EU in afghanische Ministerien entsandt. Ein harter Job: "Hier wird jede Gelegenheit genutzt, korrupt zu sein, zu nehmen, was man kriegt. Denn jeder weiß: Wenn dieses Regime stürzt, wirst du auf der Abschussliste seiner Nachfolger stehen."Zurück nach Deutschland. Stefan Wenzlowski ist in Erfurt stationiert. Der 34-Jährige war bereits zwei Mal in Afghanistan. Aufbauhilfe, erzählt der Hauptfeldwebel, sei das, was er zuhause im Freundes- und Bekanntenkreis erklären kann. Und militärische Intervention? Da werde es schwierig. Klar, sagt der Soldat, die Lage am Hindukusch sei mitunter brenzlig. Auch er hat vor dem Einsatz ein Testament gemacht. Am Laptop zeigt Wenzlowski einen kleinen Film, den ein Kamerad gemacht hat. Szenen aus dem Camp."Das war das Negative, was bei uns halt gewesen ist. Das waren halt die, die bei uns raus gefahren sind. Da gab's halt vier Verletzte, davon zwei schwer, zwei leichter. Und die sind halt zurückgekommen, da hat man sie - da haben sie halt Spalier gestanden als Empfang da."Neben ihm sitzt seine Ehefrau Nancy. Sie schluckt bei diesen Bildern. Gelegentlich, erzählt sie, müsse sie über die Arbeit ihres Mannes diskutieren. Mit wohlmeinenden Bekannten. Und mit sich selbst. "Ich meine klar, man lebt halt mit dem Gedanken, es kann was sein. Aber so darf man halt nicht an die Sache ran gehen. Meine Großeltern, meine Eltern, die Nachbarschaft, da habe ich von allen Seiten Rückhalt."Einen Rückhalt, den es gesellschaftlich so nicht gibt. In Thüringen, erzählt Stefan Wenzlowski verärgert, hätten sich die Menschen darüber aufgeregt, dass die Bundeswehr nicht beim Schneeschippen geholfen hat. Wenn aber am Hindukusch ein Krieg unterbunden werden soll, fehle das Interesse. Der Einsatz der Soldaten dort müsse sogar verteidigt werden. Wenzlowski findet es gut, dass wenigstens der Bundesverteidigungsminister etwas Öffentlichkeit für die Truppe herstellt. Der 34-Jährige ist vor Weihnachen an dem Tag heimgeflogen, als Karl Theodor zu Guttenberg mit seiner Frau nach Mazar-i Scharif kam. Er hat noch dessen Flugzeug gesehen."Das zeigt uns ja, das er hinter uns steht, dass es ihn interessiert, was wir unten im Einsatz machen. Und das ist schon wichtig. Und kommt auch sehr gut an. Er hat diesmal ja auch seine Frau mit gehabt. Ich fand das eigentlich ganz gut. Weil: Damit hat er ja gezeigt, dass er Vertrauen hat zur Sicherheitslage."Oberstleutnant Michael Weckbach kann dieser Aussage nur zustimmen. Er ist Pressestabsoffizier im Wehrbereichskommando 3 in Erfurt. Als Ansprechpartner für Journalisten war auch er in Afghanistan; in diesem Jahr wird er erneut dorthin fliegen. "Viele Soldaten, die hier raus fahren täglich, die quasi ihre Haut zu Markte tragen, die wollen eigentlich wenigstens wissen, dass sie die Rückendeckung haben. Wenn man so mit Kindern in deren Augen sieht, das ist einfach - das gibt einem etwas von dem zurück, was man in dem Einsatz investiert hat. Man hat das Gefühl: Die wollen, dass wir hier sind, dass sie vielleicht eine bessere Zukunft haben."
Von Martin Durm, Ulrike Greim und Wolfgang Labuhn
Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger wünscht sich einen konkreten Abzugstermin für die Bundeswehr aus Afghanistan. Das neue Mandat für den Einsatz am Hindukusch sieht zwar einen Fahrplan für den Abzug ab Ende des Jahres vor, allerdings nur, wenn die Lage es erlaubt.
"2011-01-27T18:40:00+01:00"
"2020-02-04T01:45:41.976000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-weiteres-jahr-in-afghanistan-100.html
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Vorwürfe gegen Fox-News-Star
Tucker Calson: Auf Fox News moderiert er aktuell die Sendung im US-Kabelnetz mit den meisten Zuschauerinnen und Zuschauern. (Imago Images / Zuma Wire) Autor Blake Neff hat in dem unter Jura-Studenten beliebten Online-Forum "AutoAdmit" jahrelang sexistische und rassistische Kommentare gepostet. Eine seiner harmloseren Aussagen dort war zum Beispiel diese: "Wenn Schwarze zu Hause bleiben und Video-Spiele spielen, dann hilft das enorm, die Kriminalitätsrate zu senken". Viele weitere Kommentare ließen sich öffentlich überhaupt nicht zitieren, so schlimm seien sie – sagt Reporter Oliver Darcy. Er konnte den anonymen User als Blake Neff identifizieren, einen der Haupt-Autoren der Tucker-Carlson-Show. Auf CNN berichtet Darcy: "Die Tucker-Carlson-Show sehen jeden Abend Millionen Menschen, sie hat aktuell die besten Einschaltquoten in der Geschichte des Kabelfernsehens. Und ein Haupt-Autor dieser Sendung hat also jahrelang diese rassistischen, fürchterlichen Kommentare gepostet. Und wir wissen, dass Präsident Trump gerne Inhalte der Carlson-Show weiterverbreitet." Die Macht von Fox NewsManchen Moderatoren des konservativen TV-Senders FOX News wird nachgesagt, dass sie einen größeren Einfluss auf US-Präsident Donald Trump haben als einige seiner engsten Berater. Dabei solle man die Macht des Senders laut Experten nicht überschätzen. Denn er bestätige nur bereits bestehende Sichtweisen. Wirklich "keine Verbindung zur Sendung"? Der Sender Fox News reagierte auf die Enthüllung. Man verurteile das "verabscheuungswürdige Verhalten" des Autors und habe dessen Kündigung "sofort akzeptiert". Tucker Carlson selbst sagte einige Tage später in seiner Sendung zwar, die Kritiker Neffs sollten sich vor Selbstgerechtigkeit hüten. Die Aussagen immerhin nannte aber auch er "falsch", sie hätten "keine Verbindung zu der Sendung": Eben das ist nun die Frage. Blake Neff hatte einst in einem Magazin seiner Universität geprahlt, alles, was Carlson on air sage, sei von ihm beeinflusst. Reporterin Sarah Ellison schreibt für die "Washington Post" über Medien und Politik und sieht sehr wohl einen Zusammenhang zwischen den Ansichten des Autoren und der Sendung: "Versatzstücke aus diesem Online-Forum sind am Ende in Tucker Carlsons Sendung aufgetaucht. Die User in dem Chatroom haben dann gefeiert, wenn sie ihre Formulierungen im Fernsehen gesehen haben. Kritiker sagen: Das, was Tucker on air formuliert, klinge doch eigentlich wie eine etwas abgeschwächte Version der Dinge, die Blake Neff in dem Online-Forum gepostet hat." Unterstützung der Alt-Right-Bewegung Tucker Carlson stand in der Vergangenheit mehrfach wegen diskriminierender Aussagen in seiner Sendung in der Kritik. So sagte er über die Bewegung Black Lives Matter, es gehe ihr sicher nicht um die Leben von schwarzen Menschen. "Denkt daran, wenn sie kommen, um Euch zu holen. Und das werden sie tun, wenn das so weitergeht." Im August 2019 sagte er, die Idee der "Weißen Vorherrschaft" sei kein Problem in den USA. Es gäbe tatsächlich nur sehr wenige Vertreter dieser Ideologie. Unter dem Konzept der "Weißen Vorherrschaft" versteht man die rassistische Weltanschauung, dass weiße Menschen anderen überlegen seien und daher mehr Rechte hätten. Wenn Weiße über Schwarze berichtenDie "Black Lives Matter"-Bewegung ist in den USA immer noch ein wichtiges Medienthema. Allerdings sind in den vergangenen Wochen mehrere Medien wegen ihrer Berichterstattung in die Kritik geraten. Doch nun scheint sich in einigen Redaktionen etwas zu ändern. Immer wieder bekommt Carlson öffentlich Unterstützung von bekannten Figuren der rechtsradikalen Alt-Right-Bewegung und Rassisten, sagt Reporterin Sarah Ellison. "So hat David Duke zum Beispiel Tucker zuletzt sehr gelobt und getwittert, er sollte doch Trumps Kandidat für den Posten des Vize-Präsidenten werden, das würde Trumps Wiederwahl bestimmt helfen. Duke hatte eine hohe Position im Ku-Klux-Klan inne und ist dort immer noch Mitglied. Außerdem ist er der wohl bekannteste Vertreter der ‚White Supremacy‘ in den USA." Fox News steht zu Carlson Einige Werbekunden haben nach diversen Skandalen ihre Spots aus der Tucker-Carlson-Show zurückgezogen. Doch er hat Rückhalt in seinem Sender. "Die Fox Corporation gehört der Murdoch-Familie – und der Patriarch Rupert Murdoch und sein Sohn Lachlan, der Geschäftsführer, sind beide große Unterstützer von Tucker Carlson und sehen ihn als eine Art Intellektuellen. Außerdem schätzt der Sender Fox News ihn natürlich für seine unglaublich guten Einschaltquoten." Am Montag haben zwei ehemalige Fox-News-Mitarbeiterinnen Klage gegen verschiedene Moderatoren des Senders eingereicht, unter anderem soll Tucker Carlson eine von ihnen sexuell belästigt haben. Fox News teilte mit, eine eigene Untersuchung des Senders sei zu dem Schluss gekommen, dass die Vorwürfe "falsch" seien. Dass sich an der Ideologie der "Tucker Carlson Tonight"-Show durch die aktuellen Skandale etwas ändert, scheint unwahrscheinlich – das Konzept der Sendung ist einfach zu erfolgreich.
Von Sinje Stadtlich
Nicht erst die Klagen ehemaliger Mitarbeiterinnen wegen sexueller Belästigung werfen ein schlechtes Licht auf Tucker Carlson: Die Show des Star-Moderators auf Fox News, die auch US-Präsident Trump gerne zitiert, wurde lange inhaltlich von einem Rassisten geprägt. Doch sein Sender hält zu ihm.
"2020-07-23T15:35:00+02:00"
"2020-07-24T10:01:07.803000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tucker-carlson-vorwuerfe-gegen-fox-news-star-100.html
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"Marine Le Pen wäre für Deutschland der Super-GAU"
Der ehemalige Bundesaußenminister, Joschka Fischer. (dpa) Marcus Pindur: Herr Fischer, wir befinden uns gerade zwischen zwei Wahlen, die sehr wichtig sind für Deutschland, die aber nicht in Deutschland stattfinden. In Frankreich wird nächstes Wochenende die Stichwahl stattfinden, der beiden Kandidaten Macron und Le Pen. Was steht da für Deutschland und für Europa auf dem Spiel? Joschka Fischer: Ich denke, es wird bei den französischen Wahlen für Deutschland um extrem viel gehen. Weil Frau Le Pen Frankreich aus der EU herausführen möchte, sie möchte Frankreich aus der NATO herausführen, sie möchte den Euro verlassen. Das wäre das Ende der EU, weil Frankreich ist unverzichtbar sowohl für die Gemeinschaftswährung als auch für das gesamte europäische Projekt. Eine Annährung Frankreichs an Putin, Austritt aus der NATO, würde eine große Sicherheitskrise auslösen. Das heißt, Deutschland wäre in einer Situation, nach dem BREXIT, nach der Infragestellung der amerikanischen Sicherheitsgarantie durch den amerikanischen Präsidenten, isoliert wie noch nie, seit der Gründung der Bundesrepublik, 1949, westorientiert, ohne einen Westen, und wir wären in einer extrem schwierigen Situation - von den wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Denn ein Kollaps des Euros hätte massive Folgen für unser Land und für andere Länder auch, ich glaube, für die gesamte Volkswirtschaft. Also, es geht bei diesen Wahlen um sehr viel. Deswegen nenne ich sie auch "Schicksalswahlen". Pindur: Was tut Deutschland denn oder wo ist, sagen wir, die Kanzlerin denn gut mit beraten, was sie tut, wenn es schiefgeht, wenn Marine Le Pen die Wahl gewinnt? Was wir nicht genau wissen und wir auch nicht hoffen wollen, aber was durchaus passieren kann, wie wir nach BREXIT, nach Trump und so weiter, gesehen haben. Fischer: Man kann es nicht ausschließen, auch wenn ich hoffe, dass es nicht soweit kommt. Denn wenn es soweit käme, wäre das eine grundsätzliche Veränderung mit fatalen Konsequenzen, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Art - das muss man klar sehen - und würde Deutschland in eine fast unmögliche Position bringen. Also, ich muss Ihnen ehrlich sagen, da kann ich Ihnen keine befriedigende – auch nur in Ansätzen mich selbst befriedigende – Antwort geben. Das wäre eine völlige Umkehrung der Realitäten. Ein Verlust Europas, darunter würde Deutschland extrem leiden, weil wir als Land ... wir sind nicht England, wir leben nicht auf einer Insel, wir haben eine andere Geschichte. Das heißt, zurückgestoßen zu werden in Isolation, in eine Debatte, ob wir eine Ostverschiebung des Landes brauchen - also Annäherung an Russland oder nicht -, schon das wäre eine Katastrophe. Aber all das zusammengenommen - vor allen Dingen auch die wirtschaftlichen Konsequenzen - wären der Super-GAU. Ich kann Ihnen darauf keine befriedigende Antwort geben. "EU ist seit langer Zeit blockiert" Pindur: Das ist einerseits erschreckend, andererseits verständlich. Nehmen wir mal an, es geht weiter mit der EU und Frankreich bleibt bei Deutschland - so wie Macron das ja will. Es ist immer wieder die Rede davon, dass sich die EU besser aufstellen muss, und dann sind immer wieder neue institutionelle Arrangements im Gespräch. Aber im Prinzip kann das ja nicht die Antwort sein auf das, was wir derzeit erleben? Fischer: Die EU ist seit langer Zeit blockiert und definitiv seit der Wirtschafts- und Währungskrise 2008. Und diese Blockade hat dazu geführt, dass der neue Nationalismus in weiten Teilen der Europäischen Union Zulauf bekommen hat. Ich denke, man kann aus den französischen Wahlen, aus der ersten Runde, bereits heute - in Antwort auf Ihre Frage - Konsequenzen ziehen. Erstens: Deutschland kann - wie nach 2008, nach der Finanzkrise geschehen - Europa nicht alleine führen. Das funktioniert nicht. Wir werden es nur im deutsch-französischen Tandem und unter der Hilfe anderer gemeinsam machen können. Weil schlicht und einfach die Konsequenz der tatsächlichen oder auch nur angenommenen alleinigen deutschen Führung führt dazu, dass sich Frankreich, dass sich dort fast die Hälfte der zur Wahl gegangen Bevölkerung für europaskeptische oder antieuropäische Parteien entschieden hat. Das darf man nicht vergessen. Wir müssen ein Interesse an einem starken, selbstbewussten Frankreich haben und nicht an einem schwachen. Anders funktioniert dieses Europa nicht. Und es würde auch ohne Deutschland nicht funktionieren - nebenbei gesagt. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass - ohne da jetzt eine ideologische Kontroverse lostreten zu wollen - das deutsche Rezept einer auf Austerität und Sparen setzenden Politik ganz offensichtlich das Wachstum jenseits unserer Grenzen nicht wirklich beflügelt hat. Auch wenn sich die Situation im Euroraum im Moment etwas aufhellt, aber es hat nicht dazu geführt, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In Deutschland ist das gelungen, aber eben unter ganz spezifischen Bedingungen. In anderen Ländern nicht. Und ich denke, da wird man nach den Bundestagswahlen - wenn Frankreich gutgeht - völlig neu nachdenken müssen. Es ist auch klar, es geht nicht nur um die Entscheidung jetzt. Wenn "business as usual" das Rezept heißt, also, weiter so wie bisher, dann wird man spätestens in fünf Jahren das Problem noch massiver haben, nach dem Ablauf der Wahlperiode, die jetzt mit der Wahl des französischen Präsidenten am 7. Mai beginnt. Und insofern wird man sich da bewegen müssen, aus meiner Sicht: Stabilisierung der Eurozone, Wachstum. "Deutschland hat existenzielles Interesse am Gelingen der EU" Pindur: Das heißt aber, dass man den Deutschen wiederum sagen muss: 'Ihr müsst unter Umständen für Fehlentscheidungen in anderen Ländern geradestehen.' Das ist politisch sehr schwer zu verkaufen. Fischer: Es ist nicht einfach. Aber wenn wir uns die aktuelle Situation anschauen, hat Deutschland ein fast schon existenzielles Interesse am Gelingen der Europäischen Union. Und es hat seine Interessen. Und das oberste Interesse ist dieses Europa. Weil, ohne dieses Europa sind wir isoliert und in einer fast nicht zu bewältigenden Lage. Also müssen wir ein Interesse haben und unsere Stärken dafür einsetzen. Das heißt nicht, dass man anderen Blankoschecks ausschreiben soll - da verstehen Sie mich völlig miss -, sondern dass man neue Kompromisse erarbeitet. Einen Kompromiss zwischen Nord und Süd. Es kann so nicht weitergehen - oder was glauben Sie, wie lange die Europäische Union Zustände, wie wir sie in den vergangenen Jahren hatten, aushält? Es wird sich nicht nur Deutschland bewegen müssen, es werden sich alle bewegen müssen. Aber hier spielen Frankreich und Deutschland eine besondere Rolle. Deswegen glaube ich, dass sich ein Fenster der Gelegenheit öffnet nach der Bundestagswahl - vorausgesetzt, am 7. Mai erleben wir keine Katastrophe. Das immer vorausgesetzt. Pindur: "Ein Fenster der Möglichkeiten nach der Bundestagswahl" - was sollte denn Ihrer Ansicht nach denn passieren? Fischer: Also, gestatten Sie mir, dass ich hier eine These wage. Ich glaube, ein Fehler, den sowohl Sarkozy als auch Hollande gemacht haben, war, dass sie im Verhältnis zu Deutschland zu nahe an der Bundeskanzlerin waren. Auch das kann man doch im Rückblick feststellen. Dieses Verhältnis - das deutsch-französische -, das so unendlich wichtig ist für das Gelingen Europas, setzt eher eine gewisse Distanz und auch eine gewisse Konfliktbereitschaft voraus. Lassen Sie mich so sagen: Eurobonds sind in Deutschland nie populär gewesen und sind es immer noch nicht, aus Gründen, die teilweise belastbar sind und teilweise aber auch aus ideologischen Gründen, die ich nicht für belastbar halte. Aber wäre Frankreich - das bezogen auf Eurobonds eine wesentlich positivere Haltung hat -, wäre Hollande hier in einen echten Konflikt mit der Bundeskanzlerin gegangen, dann, glaube ich, hätten die Anti-Europäer nicht eine so starke Position, wie sie sie heute haben. Das heißt, dieses Europa lebt auch von einer Kontroverse in der Sache, um sichtbar, um verstehbar zu werden, um auch Loyalitäten zu binden. Auch das werden wir in Zukunft, nehme ich an, stärker erleben müssen - nicht zum Schaden der deutsch-französischen Beziehung, sondern genau um sie zu stärken. Das war ja nicht ein "Gesangsverein Harmonie", sondern im Gegenteil, das war immer ein Streiten um den Kompromiss, um die richtige Fortentwicklung Europas. Und das muss es verstärkt wieder werden in Zukunft. "Zuchtmeister Deutschland" Pindur: Wenn ich das jetzt mal zuspitze, schlagen Sie vor, dass Deutschland sozusagen die Rolle der ökonomischen Vernunft, der Austerität, einer gewissen fiskalischen Strenge spielt, während Frankreich sozusagen die soziale Seite, die Ausgabenseite vertritt. Sie winken ab. Fischer: Nein, Exzellenz, ich schlage das überhaupt nicht vor. Sie beschreiben die Realität: dergestalt, dass die Sicht heute auf die Eurozone die ist: Da gibt es den Zuchtmeister Deutschland und die anderen. Es ist ja nicht nur Frankreich, es ist im Grunde genommen ein Konflikt zwischen Nord und Süd. Die deutsche Position ist ja auch in wesentlichen Punkten begründbar, was die Frage der Wettbewerbsfähigkeit, was die Staatsschuldenhöhe anbetrifft. Nur, ganz offensichtlich reicht diese Rezeptur nicht aus, um Wachstum zu kreieren. Insofern, das wird alles andere als einfach. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich bin nicht der Meinung: 'Die anderen haben Recht und Deutschland hat Unrecht', sondern es geht so nicht weiter. Das kann man feststellen - übrigens, von beiden Seiten nicht -, sonst geht Europa vor die Hunde. Das erleben wir doch jetzt! Wer hätte gedacht noch vor wenigen Jahren, dass wir in eine Situation kommen, wo die Entscheidung über die Präsidentschaft in Frankreich zu einer Existenzentscheidung für die Zukunft des europäischen Projekts wird. Es hätte doch keiner von uns - ehrlich gesagt - gedacht. Da sind wir aber hingelangt. Und so kann es demnach nicht weitergehen. Das ist alles, was ich sage. Und insofern werden alle Beteiligten hier völlig neu nachdenken müssen. Am gefährlichsten wäre, man würde einfach so weitermachen wie bisher, nach der Devise: 'Ist nochmal gutgegangen' - alte kölsche Devise. Nein, das darf es auf keinen Fall sein. Pindur: Die Frage nach der Rolle Deutschlands stellt sich auf jeden Fall also auch neu. Wenn man sich in den USA umhört, wird eigentlich immer mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass Deutschland sich auf eine Rolle als europäische Führungsmacht einstellen müsse - wie auch immer das dann aussieht. Sie haben aber ganz konkret im Blick, dass es nur mit einem Duo geht: Deutschland und Frankreich. Heißt das aber nicht auch, dass Deutschland sich insgesamt umorientieren muss und von einer, ich sage mal, wirtschaftlichen Führungsmacht auch in die Rolle einer politischen Führungsmacht stärker wachsen muss? Fischer: Ich sehe zwei große Herausforderungen - jenseits dieser Frage, die Sie gerade stellen, auf die ich gleich antworten will. Das Eine ist die Stabilisierung der Eurozone. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muss Wirkung zeigen. Das geht nicht so weiter, vor allen Dingen mit der Jugendarbeitslosigkeit. Das heißt, wir brauchen Wachstum. Und nicht nur im europäischen Norden, sondern auch in den südlichen Volkswirtschaften. Innerhalb der Eurozone wird das die große Herausforderung. Und wir stehen vor einer veränderten Sicherheitslage. Wer hätte von uns gedacht, dass der amerikanische Präsident die NATO für obsolet erklärt - mittlerweile sagt er, sie ist wieder gut. Aber Sicherheitsgarantien bedeuten, dass man an sie glauben muss, damit sie wirken. Wenn dann der Hauptgarantor diese Garantie selber erschüttert, hat das natürlich Konsequenzen. Das heißt, die Europäer werden mit Trump, Putin in Osteuropa, mit dem Krieg in der Ukraine und der Entwicklung mit Erdoğan im Südosten, wir werden die Frage unserer Sicherheit sehr viel stärker in Zukunft selbst beantworten müssen. Das geht nicht mehr national, das geht nur gemeinsam. Und insofern geht es nicht hier um Führung, sondern dass wir Beiträge leisten, dass wir uns instandsetzen, für unsere Sicherheit selbst Sorge zu tragen. Das ist nicht nur militärisch, es kommen da auch neue Dimensionen, wie die ganze Frage des Cyberwars und der Gefährdung durch Internet gegenüber Infrastruktur zum Tragen. Es ist die Frage der Inneren Sicherheit, mit Terrorismus, auch hier muss man sehr viel stärker zusammenarbeiten, aus meiner Sicht. Und es ist auch die Frage natürlich der Entwicklungspolitik, das ist die Frage auch des Transfers finanzieller Ressourcen Richtung dem Süden. Hier, denke ich, wird es einen Beitrag auch zur Sicherheit, der europäischen Sicherheit sein, hier verstärkt zusammenzuarbeiten und eine abgestimmte Politik zu machen. Das ist der zweite große Schwerpunkt. Und da denke ich, dass Deutschland und Frankreich eine besondere Rolle spielen werden im Anschieben dieser Politik. Das schließt andere nicht aus, im Gegenteil, das soll sie einschließen und wird sie einschließen. Pindur: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit Joschka Fischer, dem ehemaligen Bundesaußenminister. Sehen Sie dafür eine Perspektive? Also, ich komme jetzt mal ... ich fange jetzt mal mit den Flüchtlingen zum Beispiel an, mit der Flüchtlingskrise, bevor ich auch auf die militärischen Fähigkeiten zu sprechen komme. Bei den Flüchtlingen hat sich doch ganz klar gezeigt, dass es in Frankreich den Willen überhaupt nicht gab, Flüchtlinge aufzunehmen in nennenswertem Maße, als wir in dieser Krise uns befunden haben. Fischer: Das ist richtig. Pindur: Sehen Sie da eine Möglichkeit der Zusammenarbeit? Fischer: Wobei, Sie müssen sehen: Frankreich hat natürlich gegenüber Großbritannien eine große Verpflichtung übernommen. Also, Calais war eine sehr, sehr große Herausforderung. Und Frankreich ist in einer anderen Situation, ist demografisch in einer anderen Situation - was die Franzosen im Gespräch mit den Deutschen immer wieder betonen. Pindur: Das heißt konkret? Fischer: Das heißt konkret, dass Frankreich sehr viel mehr investiert hat in Kinder, in die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und deswegen eine andere demografische Entwicklung hat als Deutschland, Italien und sehr viele andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, auch in Osteuropa. Und Frankreich hat natürlich ein massives politisches Problem mit dem Front National - den gibt es ja nicht erst seit gestern - und der Ausbeutung, der innenpolitischen Ausbeutung der Fremdenangst. Das spielt eine Rolle. Hinzu kommt, die akute terroristische Bedrohung wird in Frankreich intensiver wahrgenommen, aufgrund der schrecklichen Terroranschläge, die es in Paris, in Nizza gegeben hat. Also, all das zusammen hat eine andere politische Konstellation geschaffen. Aber ich denke, in Zukunft wird es nicht einfach werden, aber es wird kein Weg daran vorbeiführen, weil Dublin nicht mehr funktioniert, als dass man nach und nach neue europäische Instrumente aufbaut. Und das setzt voraus: Gemeinsamer Schutz der Außengrenzen, aber auch dann die Verteilung derer, die kommen dürfen. "Orientierung an eigenen Interessen" Pindur: Aus Deutschland kommt oft der Vorwurf an die anderen, insbesondere in der Flüchtlingsfrage, aber Sie haben auch eben die Verschuldungskrise angesprochen, da kommt oft der Vorwurf, dass sich andere nicht, ich sage mal, "europäisch genug verhalten". Wir sehen aber selber, dass wir uns sehr an unseren Interessen orientieren, wenn es uns denn nützt - Stichwort "Dublin-Abkommen". Fischer: Der Vorwurf geht ja an uns selbst. Ich kann mich noch an die Bilder erinnern, als Matteo Renzi, der damalige italienische Premierminister, händeringend, fast auf den Knien vor seinen europäischen Kollegen liegend, um Solidarität angesichts des Flüchtlingsdramas vor der italienischen Küste gefleht hat. Aus Berlin kam da ein: 'Nein, das ist ein italienisches Problem' - was es natürlich nicht war und nicht ist. Wir waren da sehr kurzsichtig. Dass die Bundesregierung, bevor die große Flüchtlingswelle aus Syrien begann, die Unterstützung für den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zurückgefahren hat, war ein Auslösefaktor mit für den Beginn der Flüchtlingswelle. Das darf man auch nicht vergessen. Also, dass wir hier mit einer astreinen weißen, blütenweisen Weste dastünden, das kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen, angesichts der Fakten. Pindur: Also, wenn es Deutschland nutzt, macht es sich auch einen schlanken Fuß auf Kosten der anderen, um es mal etwas lax auszudrücken. Fischer: Also, wir unterscheiden uns hier nicht wirklich qualitativ von allen anderen. Was wir geleistet haben bei der Flüchtlingsaufnahme - damit Sie mich nicht missverstehen -, fand ich großartig. Die vielen Initiativen, die sich engagiert haben, die Menschen überall von Nord bis Süd, von Ost bis West, auch die Leistungen der Politik, der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin sei hier hoch veranschlagt. Aber wir können nicht behaupten oder mit dem Finger nur auf andere zeigen, da gibt es auch Einiges bei uns, das im Argen lag. Pindur: Kommen wir mal zum transatlantischen Verhältnis. Sie haben das eben angesprochen, das war in der Tat ein sehr beunruhigendes Signal, das Donald Trump, der neue amerikanische Präsident, gegeben hat, zunächst einmal. Und er hat ja über ein Jahr gesagt, die NATO sei obsolet. Dann auf einmal zog so etwas wie außenpolitischer Realismus oder, sagen wir mal, Pragmatismus ins Weiße Haus ein, mit dem neuen Nationalen Sicherheitsberater McMaster. Und dann sagte Donald Trump, nein, die NATO sei doch nicht mehr obsolet. Aber es ist einmal in Frage gestellt worden und das ist ein Problem für die europäische Sicherheit. Und da sind wir bei dem militärischen Teil relativ schnell. Denn Deutschland mit seinen 200 funktionierenden Panzern kann seine konventionelle Abschreckung nicht leisten - da machen wir uns wieder einen schlanken Fuß auf Kosten zum Beispiel Polens, das 2.000 Panzer hat. Jetzt sind Panzer nicht das Maß aller Dinge, aber Abschreckung, militärische Abschreckung ist ein wichtiger Faktor. Müssen da die Deutschen auch umdenken grundsätzlich? "Trump stellt Grundsäulen der Bundesrepublik in Frage" Fischer: Ich meine, ja. Und ich will das auch erläutern, warum. Die alte Arbeitsteilung ... und es ist ja nicht nur die militärische. Trump stellt zwei Grundsäulen, auf denen die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut wurde, in Frage. Das Erste ist die Sicherheitsgarantie, die im NATO-Vertrag festgeschrieben wurde. Und, wie gesagt, diese Garantie ist etwas, davon muss man überzeugt sein - Freund wie Feind gleichermaßen -, damit sie funktioniert. Und da finde ich, wir wissen nicht, was die Trump-Regierung am Ende an Strategie wirklich entwickeln wird und ob überhaupt. Aber was man sagen kann ist, es gibt in der amerikanischen Bevölkerung - und zwar nicht nur bei den Trump-Anhängern, sondern ich denke, das geht tief ins Lager der Demokraten rein - einen großen Überdruss mit der traditionellen Rolle, dass die USA sich engagieren soll für die Sicherheit von Bündnispartnern und anderen mit Geld, aber auch mit dem Leben ihrer Soldaten. Und das ist nicht nur Trump. Trump ist da eher Symptom. Ich nehme an, bei Hillary Clinton, die hätte den Satz mit "NATO ist obsolet" nicht gesagt, aber den Druck, den sie gemacht hätte, der wäre nicht sehr viel anders. Das heißt, die Notwendigkeit für die eigene Sicherheit mehr zu tun, das ist die Konsequenz daraus. Es war ja sehr bequem: Wir haben sozusagen den harten Teil unserer Sicherheit an die Amerikaner delegiert. Wir waren für die guten Dinge zuständig oder zumindest haben wir es uns eingeredet und die harten, etwas böseren Dinge haben wir den Amerikanern überlassen. Wissend darum, dass wir sie gerne kritisieren, aber gleichzeitig, dass unsere Cousins von der anderen Seite des Atlantiks da sind, wenn es ernst wird. Zumindest war das die Erfahrung in der Nachkriegszeit. Und das geht zu Ende. Egal, welche Politik und welches politische Lager sich innerhalb der Trump-Regierung durchsetzen wird, das geht zu Ende. Wir werden uns verstärkt selber engagieren müssen. Und ich sehe auch nicht, dass da ein Weg dran vorbeiführt, ehrlich gesagt. Wenn Sie mich fragen: Könnten wir uns heute selbst verteidigen? Ist die klare Antwort: Nein, können wir nicht! Und es gibt Nachbarn - Sie haben Polen erwähnt -, andere, die erwarten zu Recht unsere Solidarität, wie wir deren Solidarität erwarten. Im Übrigen: Deutsche Sicherheit auch nur zu denken, ohne dabei Polen einzubeziehen, ist nicht möglich. Genauso wenig wie französische Sicherheit gedacht werden kann, ohne Deutschland einzubeziehen. In diesem kleinräumigen Europa hängen wir da voneinander ab. Und deswegen denke ich auch, man sollte das nicht auf nationaler Grundlage machen, sondern in Abstimmung mit unseren engsten europäischen Partnern die Fähigkeiten entsprechend verstärken. Pindur: Herr Fischer, Sie haben die deutschen Wahlen angesprochen. Bis dahin werden wir uns noch gedulden müssen, bis sich hoffentlich "das Fenster der Möglichkeiten" noch einmal öffnet. Was erhoffen Sie sich denn von den deutschen Bundestagswahlen? Fischer: Dass sie stattfinden. Pindur: Davon gehen wir aus. Fischer: Ich habe eine Stimme. Und ich mache keinen Wahlkampf mehr, auch keinen vorgezogenen am Mikrofon des Deutschlandfunks. Sondern ich werde meiner Bürgerpflicht nachkommen und Wählen gehen. Wen - das verbietet das Wahlgeheimnis, das öffentlich zu bekunden. Und mein eigenes Wahlgeheimnis, zu sagen, ich mache keinen Wahlkampf mehr. Ich gehe wählen. Ich wähle eine demokratische Partei. Ich hoffe, wen immer die Bürgerinnen und Bürger wählen, sie wählen demokratisch und nicht die neuen Nationalisten. Das ist das, was ich für sehr, sehr wichtig halte. Aber ich denke, die Lage in Deutschland ist stabil und wir werden da keine jetzt großen Überraschungen erleben oder ein mögliches Drama, wie es in Frankreich etwa möglich ist. Pindur: Also, Sie können sowohl mit Frau Merkel als auch mit Martin Schulz als Kanzler leben? Fischer: Ich werde weder, wenn die Eine noch der Andere gewählt wird, Selbstmord machen, das kann ich Ihnen versprechen. Insofern: Ja, ich werde hoffentlich weiterleben - wie immer das auch ausgeht. Pindur: Herr Fischer, herzlichen Dank für das Gespräch. Fischer: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Joschka Fischer im Gespräch mit Marcus Pindur
Deutschland könne Europa nicht alleine führen, sagte der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer im Deutschlandfunk. Von daher sei es für die EU und Deutschland existenziell, dass Marine Le Pen, die Frankreich aus der EU führen will, nicht französische Präsidentin werde. Ein anderer Wahlausgang wäre katastrophal.
"2017-04-30T11:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:32.586000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/joschka-fischer-marine-le-pen-waere-fuer-deutschland-der-100.html
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Bremen verschärft Umweltzone
In vielen Innenstädten soll die Luft in diesem Jahr besser und gesünder werden. Umweltzonen werden ausgeweitet und verschärft, um die Belastung mit gesundheitsgefährdenden Feinstaub in Grenzen zu halten. Die feinen Partikel können für Erkrankungen der Atemwege bis hin zu Lungenkrebs sorgen, Dieselruß aus Fahrzeugen ohne Partikelfilter ist eine der wichtigsten Quellen dafür. Auch in Bremen gelten seit Jahresanfang schärfere Bestimmungen für die Umweltzone, eine Ausnahmeregelung für Reisebusse ist ausgelaufen. Teile der Tourismus-Branche machen Front dagegen. Unsere Bremen-Korrespondentin Christina Selzer berichtet. Ab Januar dürfen nur noch Reisebusse mit einer grünen Umweltplakette in Bremens Innenstadt fahren. Das ärgert vor allem die, die ihr Geld im Tourismus verdienen. Interessenverbände warnen: Viele Reiseveranstalter könnten einen großen Bogen um die Hansestadt machen. Bremen müsste mit massiven Einbußen im Tourismus rechnen, glaubt zum Beispiel auch der Bremer Vorsitzende des Deutschen Hotel und Gaststättenverbandes Dehoga, Thomas Schlüter. Er betont: 40 Millionen Touristen besuchen Bremen pro Jahr für einen Tag. Allein der Weihnachtsmarkt wird nach offiziellen Angaben an jedem Adventswochenende von etwa 200 Reisebussen angesteuert. All das wird seiner Ansicht nach gefährdet. "Wir machen uns lächerlich. Andere Städte haben diese Regelungen nicht, die nehmen uns dankbar die Gäste ab, man muss gar nicht so weit gehen: Hamburg hat auch einen schönen Weihnachtsmarkt."Immerhin hat die Verkehrs-Behörde Entgegenkommen signalisiert. Auch Busse mit gelber Plakette dürfen weiterhin in die Umweltzone fahren - aber nur, wenn ihre Betreiber nachweisen, dass sich die Fahrzeuge nicht nachrüsten lassen. Für den Gesamtverband Verkehrsgewerbe Niedersachsen löst das das Problem aber nicht. Hauptgeschäftsführer Bernward Franzky betont, eine Umrüstung der Fahrzeuge sei teuer, sie koste bis zu 10.000 Euro. Die Umweltzone, sie schade dem Standort. "Wir haben aus ganz Deutschland viel Zuspruch bekommen. Man kann sagen: Bremen hat bundesweit seinen Ruf als Touristikstandort unter Busunternehmern ordentlich ruiniert."Das grüne Verkehrs- und Umweltressort denkt überhaupt nicht daran, die Regeln für die Umweltzone zu ändern. Gabriele Friderich, Staatsrätin für Umwelt und Verkehr: "Sie wissen, die Umweltzone ist 2007 beschlossen worden, mit allen Ausnahmeregelungen. Die Unternehmen konnten sich seit drei Jahren darauf einstellen. Das ist nichts, was plötzlich vom Himmel gefallen ist."Der Gesamtverband Verkehrsgewerbe Niedersachsen rät Busunternehmern, Bremen zu meiden und sich andere Ziele zu suchen. Wie groß der wirtschaftliche Schaden sein wird, kann derzeit niemand sagen.
Von Christina Selzer
In Bremens Innenstadt dürfen nur noch Reisebusse mit einer grünen Plakette fahren. Gut für die Umwelt. Allerdings befürchtet die Tourismusbranche einen massiven Einbruch bei den Touristenzahlen.
"2012-01-02T11:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:44:23.482000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bremen-verschaerft-umweltzone-100.html
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Museum feiert reiches jüdisches Leben
Der Innenbereich des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. (picture alliance / dpa / Eva Krafczyk) Die Hauptausstellung des Museums der polnischen Juden in Warschau würdigt die tausendjährige Geschichte und Kultur der einst größten jüdischen Diaspora: Der kulturelle Reichtum, die religiös-spirituelle Vielfalt, die politische und wirtschaftliche Rolle, die die jüdische Gemeinschaft in Polen spielte, steht im Mittelpunkt der Dauerstellung. "Ich hoffe, dass die nichtjüdischen Besucher die Leere begreifen, die die Deutschen mit dem Holocaust hinterlassen haben", sagte Marian Turski, einer der Initiatoren des Museumsprojekts und Auschwitz-Überlebender. "Und ich hoffe, dass die jungen Juden begreifen, dass sie nicht in ein Land voller Friedhöfe reisen, dass es ihre Vorfahren waren, die hier ein reiches Erbe hinterlassen haben." Kulturereignis des Jahres In Polen gilt die Eröffnung der Hauptausstellung durch die beiden Präsidenten Rivlin und Komorowski als das Kulturereignis des Jahres. Drei Tage lang wird mit Konzerten, Filmvorführungen und nächtlichen Museumsführungen gefeiert. Das Museum selbst öffnete bereits im März vergangenen Jahres am 70. Jahrestag des Warschauer Ghetto-Aufstands. Museumsdirektor Dariusz Stola geht davon aus, dass die Hauptausstellung mit acht Themengalerien jährlich eine halbe Million Besucher haben wird. Die ersten Ausstellungsabschnitte zeigen, dass jüdische Händler und Siedler von Anfang an in den mittelalterlichen Städten Polens eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben spielten. Um das jüdische Schtetl geht es in einem anderen Kapitel. Gemeint sind die vielen Städtchen, in denen Juden zwischen 30 und 70 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Zu den prächtigsten Exponaten der Ausstellung gehört eine mit historischen Werkzeugen und Materialien nachgebaute Holzsynagoge. Diskriminierung, Zwangsarbeit, Ausgrenzung, Mord Düster wird es, sobald die Besucher die Galerie Zaglada (Vernichtung) betreten. Die Ausstellung ist vor allem in schwarz-weiß gehalten, wie die Bilder alter Wochenschauen und Zeitungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. "Wir wollen die Geschichte aus der Perspektive der damaligen Menschen zeigen, die nicht wussten, was am Ende stehen würde", sagt der Museumsdirektor. "Diskriminierung, Zwangsarbeit, Ausgrenzung. Bis schließlich Ghettomauern gebaut wurden und die Züge in die Vernichtungslager rollten." Das letzte Kapitel der Ausstellung zeigt den schwierigen Neuanfang nach dem Krieg, als sich viele polnische Juden auch angesichts antisemitischen Drucks im kommunistischen Polen die Frage stellten, ob sie noch eine Zukunft haben in dem Land, das tausend Jahre lang ihre Heimat war. "Antwortet, wo seid ihr alle?" steht auf einer Wandseite, die mit Suchkarten des Roten Kreuzes bedeckt ist - symbolisch für die oft vergebliche Suche der Holocaust-Überlebenden nach Familie, Freunden, Nachbarn. Bis zur letzten großen Emigrationswelle 1968 verließen etwa 90 Prozent der 300.000 polnischen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, das Land. (tzi/sima)
null
Gemeinsam mit Israels Präsidenten Reuven Rivlin hat der polnische Staatschef Bronislaw Komorowski die Dauerausstellung im Museum für Geschichte polnischer Juden in Warschau eröffnet. Das Museum feiert das Leben: Tausend Jahre jüdischer Kultur sollen nicht auf den Holocaust reduziert werden.
"2014-10-28T14:19:00+01:00"
"2020-01-31T14:10:43.023000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dauerausstellung-museum-feiert-reiches-juedisches-leben-100.html
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"Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg"
Katarina Kruhonja sah den Krieg im zerfallenden Jugoslawien lange nicht kommen (Grit Eggerichs / Deutschlandradio) Maša und Lucija vom Tierschutzverein Pobjeda bauen einen Beamer auf. Rund 20 Jugendliche machen es sich auf Sofas bequem. Sie sind für eine Woche in der slawonischen Provinzhauptstadt Osijek, im Osten Kroatiens. Hier gab es während des Unabhängigkeitskrieges eine aktive Friedensbewegung, die noch immer für Frieden und Menschenrechte eintritt. Die Jugendlichen sind aus Zagreb und von der Adria angereist, um hier zu lernen, dass Frieden harte Arbeit ist. Sie haben Kriegsberichte gelesen, mit Friedensaktivisten gesprochen und die Stadt besichtigt. Gleich am ersten Tag hatten sie einen Kurs in gewaltfreier Kommunikation, erzählt Mihana, 19 Jahre alt. "Und ich muss schon sagen, das war schwierig. Wir sagen normalerweise, was wir denken und achten nicht darauf, wie das ankommen könnte. Ich habe jetzt gelernt, mich ein bisschen anders ausdrücken oder auch mal was nicht zu sagen." Mihana trägt als einzige Frau hier Hijab. Warum gewaltfreie Kommunikation? Neben ihr sitzt Sanel. Die beiden machen dieses Jahr Abi – an einem muslimischen Gymnasium in Zagreb. "Ich finde okay, wie wir kommunizieren. Aber die Leute aus dem Workshop haben gesagt, wir sollten vielleicht manchmal nicht ganz so direkt sein." Ich-Botschaften senden statt Vorwürfe zu machen; Komplimente lieber mal nicht aussprechen, denn sie könnten falsch verstanden werden. Das sind Ansätze, die nicht jeder und jedem sofort einleuchten. Es war aber auch zu wenig Zeit für den Kurs, sagt Katarina Kruhonja, die Seminarleiterin – etwas zerknirscht. "Es war mehr eine Präsentation als ein echter Workshop. Aber: Warum machen wir das? Ich glaube, dass gewaltfreies Agieren im Alltag notwendig ist. Von der persönlichen Beziehung bis hin zur Politik." Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Slawonien in Kroatien - Nicht nur Hinterland". Katarina Kruhonja hat vor 27 Jahren das Zentrum für Frieden, Gewaltfreiheit und Menschenrechte gegründet. Hier in Osijek, unter dem Schock des gerade ausgebrochenen Krieges: Kroatien hatte im Juni 1991 seine Unabhängigkeit erklärt. Die jugoslawische Zentralregierung in Belgrad war damit nicht einverstanden. Ihre Volksarmee griff mehrere Städte an. Auch Osijek. "Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg" "Ich bin Ärztin, ich habe im Sozialismus gelebt, ein ganz privates Leben mit meinen zwei Kindern, und das war für mich völlig okay. Ich habe den Krieg nicht kommen sehen. Selbst als wir die ersten Artillerieschüsse gehört haben, dachte ich noch: Kann nicht sein! Als mir klar wurde, dass wirklich Krieg ist, merkte ich, dass ich dafür mitverantwortlich bin. Durch meine ganze Passivität in der Zeit vorher. Und dann wollte ich etwas tun." Katarina Kruhonja erhielt bereits 1998 den Alternativen Nobelpreis für ihr "bedeutendes Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung auf dem Balkan" (Petric/EPA / picture alliance) Sie, die ethnische Kroatin, wollte in die umliegenden Dörfer mit serbischer Bevölkerungsmehrheit fahren und reden. Verbündete finden. Den Krieg noch verhindern. Aber es war zu spät. "Gestern waren wir noch Kollegen, heute sind die Serben und wir Kroaten. Die Stimmung war extrem feindselig." Katarina fand andere Osijeker, die dem etwas entgegensetzen wollten. Zusammen setzten sie sich in die Wohnungen serbischer Nachbarn, um zu verhindern, dass die kroatische Polizei sie vertreibt. Sie suchten den Kontakt zu serbischen Freunden und Verwandten – über die Frontlinien hinweg. Sie lernten, wie man gewaltfrei miteinander sprechen kann. "Frieden ist für uns nicht nur die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist: Beziehungen aufbauen zwischen Menschen, Gruppen, Staaten auf allen Ebenen. Und das schließt Menschen ein, aber auch Tiere und den gesamten Planeten." Schweigen und Abgrenzung statt Arbeit am Frieden Und deshalb hat sie Maša und Lucija eingeladen, von ihrem Projekt zu erzählen. Sie kümmern sich um Vierbeiner. Eine Initiative von Jugendlichen – die entdeckten in einem Osijeker Vorort 300 dahinvegetierende Hunde in einem stinkenden Hundeasyl. Sie begannen, die Tiere zu versorgen und die verwahrlosten Anlagen zu renovieren. "Es hat klein angefangen. Wir haben Spenden gesammelt, und die schrecklichen Bilder aus dem Tierheim gezeigt. Nach und nach haben sich immer mehr Leute engagiert, die etwas ändern wollten." Inzwischen ist die Initiative Teil der städtischen Tierschutzorganisation. 60 Freiwillige arbeiten regelmäßig im Tierheim. Seit über 20 Jahren herrscht offiziell Frieden zwischen Serbien und Kroatien. Wirkliche Versöhnung ist aber schwierig, wenn Politiker dafür keine Worte finden. Die serbische Minderheit wird von den gewählten kroatischen Volksvertretern selten auch nur erwähnt. Im April etwa wurde ein serbischer Lokalpolitiker in Rijeka brutal zusammengeschlagen. Premierminister Andrej Plenković reagierte erst, als der Angegriffene Wochen später seinen Verletzungen erlag. Dann erst verurteilte der Premier die "Gewalt gegen das Mitglied einer nationalen Minderheit". "Sie helfen lieber ihresgleichen als uns" Schweigen und Abgrenzung statt aktiver Arbeit am gesellschaftlichen Frieden. Sanel aus Zagreb merkt das auch im Alltag. "Ich wohne in einer Straße, in der fast nur Kroaten aus Herzegowina wohnen, und die sind wirkliche Hardcore-Patrioten. Wir sind die einzigen bosnischen Muslime dort. Und es ist schon so, dass sie lieber ihresgleichen helfen als uns. Und das ist ein Problem! Ich würde nicht sagen, dass es in Kroatien besonders viel Hass gibt – es ist dieses Gefühl von Zugehörigkeit: Ein Kroate würde eben eher einem anderen Kroaten helfen als jemandem, der einer ethnischen Minderheit angehört. Dabei müssten doch die Vielen den Wenigen helfen!" Friedensarbeit ist Sanel wichtig. Er findet überhaupt, es müsse mehr gesprochen werden in Kroatien – auch über unangenehme Wahrheiten. Ob gewaltfreie Kommunikation das richtige Mittel ist – da sind Sahel und Mihana nicht sicher. "Daran müssen wir noch arbeiten, das wird lange dauern, denn es ist wirklich kompliziert." Die beiden können mit dem Tierheimprojekt fürs Erste mehr anfangen als mit Methodenlehre. Gutes tun ist konkreter als gewaltfrei reden.
Von Grit Eggerichs
Als in den 1990er-Jahren der Krieg nach Kroatien kam, begann die Ärztin Katarina sich für Frieden und Verständigung zu engagieren. 20 Jahre nach Kriegsende bleibt ihr noch immer viel zu tun. Noch immer wird in ihrem Land stark entlang ethnischer Trennlinien gedacht.
"2019-07-10T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:36.525000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/friedensaktivistin-in-slawonien-frieden-ist-nicht-nur-die-100.html
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Die Insel und der Kontinent
Flaggen der Europäischen Union und von Großbritannien (imago / Ralph Peters) Und wo schimmert doch Europaleidenschaft durch? "Europa heute" schaut aus Anlass des EU-Referendums in Großbritannien auf das Trennende und das Einende, auf Geschichte und auf Gegenwart. Europa heute. Montag, 13. Juni 2016 Sandra Pfister Symbolisch aufgeladen Der Eurotunnel verbindet Großbritannien mit dem Kontinent Dienstag, 14. Juni 2016 Kirstin Hausen Wegweisende Worte Die Zürcher Europa-Rede von Winston Churchill Mittwoch, 15. Juni 2016 Jürgen König Die Türsteher des Kontinents Die französischen Präsidenten de Gaulle und Pompidou Donnerstag, 16. Juni 2016 Friedbert Meurer Einmischung der Justiz unerwünscht Großbritannien hat keine niedergeschriebene Verfassung und kennt kein Verfassungsgericht Freitag, 17. Juni 2016 Ruth Rach Camerons Vorbild Premierminister Wilson und die britische Methode des Nachverhandelns
Redaktion: Katrin Michaelsen
Am 23. Juni könnte die Europäische Union mit Großbritannien eines ihrer mächtigsten Mitgliedsländer verlieren. Ein Land, das seit 1973 dabei ist. "Europa heute" schaut vor dem EU-Referendum in Großbritannien auf das Trennende und das Einende, auf Geschichte und auf Gegenwart von Insel und Kontinent.
"2016-06-13T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:33:02.075000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/keine-einfache-geschichte-die-insel-und-der-kontinent-100.html
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"Kluge Migrationspolitik setzt nicht auf einseitige nationale Dauerlösungen"
Flüchtlinge in Lesbos gehen an Bord, um nach Dikili/Türkei gebracht zu werden. (AFP / Aris Messinis) Schulz: Herzlich willkommen hier bei uns zum Interview der Woche. Wenn der bayrische Ministerpräsident jetzt sagt über die geplanten Zurückweisungen, jetzt werde geltendes Recht wieder angewendet, ist das nicht aus Sicht eines Juraprofessors, sind das nicht ganz wunderbare Nachrichten? Thym: Ja, das scheint man in der Tat zu denken, aber leider hat Horst Seehofer nach meiner Überzeugung in diesem Fall nicht Recht, denn an der deutschen Grenze gelten seit vielen Jahren die Dublin-Regeln. Und die Dublin-Regeln sehen vor, dass man ein Asylverfahren durchführen muss, das dann in der Überstellung in einen anderen Staat münden kann, aber eine einfache Zurückweisung erlauben sie nicht. "Europarecht besitzt in Deutschland Anwendungsvorrang" Schulz: Aber wir haben den Artikel 16a Grundgesetz, der sagt, dass eben nicht politisches Asyl genießt, wer aus einem EU-Land einreist. Was ist das große Problem an diesen Zurückweisungen? Thym: Da haben Sie vollkommen Recht. Wir haben den Artikel 16 Absatz a, nur dieser Artikel 16 Absatz a wird heute durch europäisches Recht überlagert. Und das ergibt sich zum einen aus dem Grundgesetz selbst, denn der Artikel 16 Absatz a sagt in seinem letzten Absatz, Absatz Nummer fünf, dass die deutschen Regeln hinter europäische Regeln zurücktreten und das bestätigte auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 1996. Hinzu kommt, dass wir die europäischen Regeln seit 2003 in sogenannten Verordnungen niedergelegt haben im Rahmen der Europäischen Union. Und Europarecht besitzt in Deutschland Anwendungsvorrang. Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz (dpa / Jörg Carstensen) Schulz: Das Europarecht sagt das aber ja auch, dass sich die Menschen eben nicht aussuchen können, in welchem Land sie Asyl beantragen. Warum wird dann so ein großer Wert darauf gelegt, dass die Einreise in ein Land, in dem dann aber nicht Asyl beantragt werden kann, dass die dann erlaubt werden oder bleiben muss? Thym: Das sind nun aber die europäischen Regeln, so, wie sie heute existieren. Die Dublin-Regeln regeln in der Tat, dass in der Regel ein anderer Staat zuständig ist. Bei einer irregulären Einreise über das Mittelmeer sind das in aller Regel die Länder an den Außengrenzen, also etwa Italien, Griechenland oder Ungarn. Dorthin kann Deutschland Asylbewerber überstellen, aber die Krux ist nun, dass man diese Überstellung nicht irgendwie anordnen kann, sondern dass die in einem Verfahren geprüft und durchgeführt werden muss. Und Teil der Dublin-Regeln ist dann eben auch, wenn die Überstellung scheitert nach dem vorgesehenen Verfahren, dann muss Deutschland nach Artikel 29 Absatz 1 der Dublin-III-Verordnung das Asylverfahren übernehmen. Und, dass das so ist, das bestätigte auch der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen aus den vergangenen Jahren. "Blitzverfahren geht nicht" Schulz: Wenn aber schon klar ist, dass das Asylverfahren in einem anderen Land stattfinden wird, warum kann das Verfahren dann kein Blitzverfahren sein? Jetzt in dem Sinne, dass man sagt, einmal Fingerabdrücke nehmen und wer dann schon registriert ist, der hat das Verfahren durchlaufen und muss dann eben leider wieder zurück. Thym: Man kann bei dem Verfahren einiges beschleunigen, etwa durch bilaterale Vereinbarung mit den betroffenen Ländern, aber ein Blitzverfahren geht nicht. Hinzu kommt ja noch, dass in aller Regel gar nicht Österreich für die Asylverfahren zuständig ist, sondern etwa Italien oder Griechenland. Deutschland kann also in diese Länder, Italien oder Griechenland, zurücküberstellen und es kann auch versuchen, dies schnell zu tun, aber nach Österreich einfach so jemanden zurückschicken, das geht nicht. Schulz: So, jetzt habe ich verstanden, wie Sie begründen, warum die Einreise kein Rechtsbruch ist. Aber müssen wir nicht trotzdem festhalten, dass, wenn Flüchtlinge die deutsche Grenze erreichen, dass dem zumindest ja ein Rechtsbruch vorausgegangen sein muss, weil doch schon längst andere Mitgliedsländer das Asylverfahren hätten anlaufen lassen müssen? Thym: Ob das jetzt im engeren Sinne ein Rechtsbruch war, wenn etwa Kroatien oder Slowenien in der sogenannten Politik des Durchwinkens die Asylbewerber teilweise aktiv darin unterstützt haben, ins nächste Land weiterzureisen, das ist rechtlich schwer zu beurteilen. Klar ist jedoch, es widerspricht dem Geist von Dublin und das ist auch der Grund, warum der Europäische Rat seit zwei Jahren regelmäßig sagt, die sogenannte Politik des Durchwinkens muss beendet werden. Eine andere Frage ist jedoch, ob Deutschland deshalb von den Dublin-Regeln mit dem Überstellungsverfahren freigestellt ist. Der EuGH bekräftigte im vergangenen Jahr, dass das nicht der Fall ist. Auch die Politik des Durchwinkens ändert nichts daran, dass die Zielstaaten, wo die Leute dann irregulär hinwandern, nach den Dublin-Regeln überstellen müssen. Und die betroffenen Länder sind dann auch in der Verpflichtung, die Leute zurück zu übernehmen. Schulz: Läuft das nicht darauf hinaus, dass sich die einen dann ans Dublin-Recht halten müssen und die anderen nicht? "Reform der Dublin-Regeln" Thym: Wen meinen Sie jetzt mit "einen" oder "anderen"? Schulz: Ja, wenn man jetzt sagt, diese Zurückweisungen gehen nicht, das wäre ja dann das Argument, sonst wäre das ein Verstoß gegen Dublin, aber wir nehmen in Kauf, dass die anderen Länder ihren Dublin-Verstoß sozusagen schon längst in der Tasche haben. Thym: Das ist in der Tat ein Problem der Dublin-Regeln, dass die eine gewisse inhaltliche Asymmetrie aufweisen und in der Praxis ja häufig dazu führen, dass eben heute Deutschland, Österreich, Schweden, Niederlande, andere Länder, die nach der ursprünglichen Idee gar nicht zuständig sind, die Verfahren übernehmen müssen. Das ist nicht die Idee von Dublin, aber dem kann man nicht durch eine Rechtsmissachtung begegnen, sondern dem muss man durch eine Reform der Dublin-Regeln begegnen. Zurückweisungen nur möglich, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist Schulz: Aber Sie haben uns jetzt geschildert, warum aus Ihrer Sicht diese Zurückweisungen nicht möglich sind. Jetzt muss man dazusagen, dass es auch eine ganze Reihe anderer Juristen gibt, die es genauso sehen wie Sie, aber wie bei fast jeder juristischen Frage gibt es auch Experten, die es nun wieder genau anders sehen, die sagen, natürlich sind diese Zurückweisungen möglich. Lässt sich dieses Szenario noch ein bisschen genauer beschreiben, wie das dann eigentlich aussehen müsste, damit es faktisch überhaupt möglich ist? Wir bräuchten Grenzkontrollen an allen Übergängen und was noch? Thym: Also, erstens, auch ich würde akzeptieren, dass in Krisensituationen, etwa im Winter des Jahres 2015/2016, man nach Europarecht unter Umständen eine Ausnahmeklausel aktivieren kann, wenn das Asylsystem zusammengebrochen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet ist. Das mag während der Hochzeit der Flüchtlingskrise gegeben gewesen sein. Heute ist diese Voraussetzung aber nicht mehr gegeben. Dennoch gibt es einige Kolleginnen und Kollegen, meistens Kollegen, Juraprofessoren – so ist es nun mal –, die davon ausgehen, dass die Dublin-Regeln oder auch die Verfassung das dennoch erlauben. Die berufen sich dann entweder auf das Grundgesetz, haben manchmal vielleicht auch gar nicht sich intensiv mit den Dublin-Regeln beschäftigt. Der Europäische Gerichtshof jedenfalls sagt relativ eindeutig, was ich Ihnen vorhin schilderte. Schulz: Ja, Sie haben jetzt das Dublin-Abkommen ja als Dreh- und Angelpunkt genannt für dieses Thema, das sich jetzt in den letzten Wochen und Monaten und ehrlich gesagt ja schon Jahren zu einem Megathema in Europa entwickelt hat. Dieses Dublin-Abkommen, ist das überhaupt noch eine tragfähige Basis? Thym: Ich glaube, keiner wird behaupten, dass das Dublin-System auf Dauer eine vernünftige Regelung ist. Dafür ist das Dublin-System inhaltlich viel zu ungerecht, weil es die Außengrenzstaaten letztlich übervorteilt. Wenn es funktionierte, was es nicht tut, aber wenn es funktionierte, wären die Außengrenzstaaten übervorteilt. Die Regelungen sind auch viel zu komplex. Die Überstellungsverfahren funktionieren nicht. Deswegen wird das Dublin-System auf Dauer keine Zukunft haben. Wir müssen an einer Reform arbeiten, aber diese Reform kann nicht nationaler Alleingänge sein, weil in der Migrationspolitik nationale Alleingänge selten nachhaltig sind und nicht eine langfristige Lösung. "Nationale Maßnahmen und Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten" Schulz: Warum nicht? Thym: Das liegt letztlich daran, dass grenzüberschreitende Personenwanderungen an sehr vielen Faktoren hängen. Und diese Faktoren kann ein einzelner Staat, etwa die Bundesrepublik Deutschland alleine nicht kontrollieren. Und deswegen wird eine Migrationspolitik, eine kluge Migrationspolitik nicht auf einseitige nationale Dauerlösungen setzen, sondern mehrdimensional vorgehen. Von nationalen Maßnahmen, bis hin zur Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten. Und genau das versucht die Bundesregierung auch seit 20 Jahren. Letztlich ist das gesamte gemeinsame europäische Asylsystem auch der Wunsch gewesen, den deutschen Asylkompromiss der frühen 90er Jahre abzusichern, indem man durch Visa-Vorschriften, Rücknahmeabkommen und Kooperationen mit Herkunfts- und Transitstaaten erreicht, dass die Leute erst gar nicht in Deutschland ankommen. Schulz: Sie haben jetzt ein großes Wort gelassen ausgesprochen, nämlich eine "Reform des Asylrechts". Jetzt wissen wir alle um die massiven politischen Schwierigkeiten und auch um die, ja, Spaltung, um die unterschiedlichen Meinungen, die es in Europa gibt. Aber, wenn Sie eine Reform sozusagen am Grünen Tisch ersinnen könnten, was wären Ihre Vorschläge? Thym: Mein Vorschlag wäre, dass man versucht, die Probleme, an denen Dublin krankt, zu beseitigen. Und das sind im Wesentlichen drei Stück. Erstens sind die Regeln strukturell ungerecht, weil sie die Außengrenzstaaten übervorteilen. Das sagte ich gerade schon. Wir haben also ein Solidaritätsdefizit. Zweitens sind die Regeln zu komplex. Sie funktionieren in der Praxis nicht, insbesondere die Rückführung. Und drittens haben wir viel zu große Unterschiede zwischen Mitgliedsstaaten, etwa bei den Aufnahmebedingungen oder auch bei der wirtschaftlichen Attraktivität. Und eine ideale Lösung würde nun alle drei Probleme beseitigen. Und dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch. So, ich sage mal, die Außengrenzstaaten sollen künftig entlastet werden, indem man Asylbewerber automatisch umverteilt. Es soll also ein Solidaritätsmechanismus eingebaut werden. Zweitens möchte man doppelte Asylanträge verbieten. Deutschland müsste dann also Verfahren nicht mehr übernehmen, wenn jemand irregulär weiterwandert, anders als bisher. Und drittens versucht man, die Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen anzuschaffen (Anmerkung der Redaktion: gemeint ist anzugleichen). Das ist notorisch schwierig. Aber dennoch sind die Vorschläge auf dem Tisch, und wenn man will, kann man hier eine Einigung erreichen. "Niemand will eine australische Lösung" Schulz: Wir wissen aber auch jetzt schon, dass die Idee, Flüchtlinge gerecht über Europa zu verteilen, dass das ein rein theoretischer Vorschlag ist. Thym: Absolut. Und das liegt nicht nur an den Visegrad-Staaten, auf die oft verwiesen wird, sondern das liegt daran, dass letztlich alle europäischen Länder, ob man das jetzt mag oder nicht, möglichst wenig Flüchtlinge bei sich aufnehmen möchten heutzutage. Und das ist ein Grund, warum eine Lösung auch nie alleine auf Dublin setzen wird, sondern man wird parallel daran arbeiten, auch mit den Ländern jenseits der Europäischen Union Kooperationsmechanismen aufzubauen, die dann letztlich dazu führen, dass von vornherein weniger Flüchtlinge nach Europa kommen, denn, wenn weniger kommen, gibt es weniger zu verteilen und dann findet man auch leichter eine Lösung. Das ist politisch natürlich - wird nicht jedem gefallen, aber das ist das, wohin die Entwicklung leider geht. Schulz: Wir müssen jetzt noch mal die Szenarien durchdeklinieren, die eben jetzt in der Diskussion stehen. Es hat jetzt Anfang der Woche der EU-Ratspräsident vorgeschlagen, Auffangzentren außerhalb der Europäischen Union. Kann sich der Völkerrechtler vorstellen, wie das gehen soll? Thym: Ja, in der Praxis wird das hochkompliziert, aber undenkbar ist das nicht. Solange man sicherstellt, dass in den Zentren humane Aufnahmebedingungen herrschen und solange man zweitens sicherstellt, dass die Flüchtlinge dort eine Perspektive haben. Was sicher niemand will, wenn er auch humanitär denkt, ist eine sogenannte australische Lösung. Australien hat auf einer Insel im Pazifik seit zwei, drei Jahren über 1.000 Flüchtlinge untergebracht und die Menschen leben dort, haben keine Perspektive. Das kann niemand für Europa wollen. Man muss also dafür sorgen, dass diejenigen Personen, die dann in eventuellen Ausschiffungszentren untergebracht werden, auch eine Perspektive haben. Und für Flüchtlinge sollte das das Resettlement, das sogenannte Resettlement, also die Umsiedlung in Staaten sein, die Schutz gewähren. Und für Personen, die keinen Schutzbedarf haben, kann man dann die Rückführung in die Herkunftsstaaten organisieren, wo man im Idealfall dann auch durch Unterstützungsmaßnahmen eine ökonomische Perspektive bietet. "Man muss Ideen entwickeln, wie man vorankommt" Schulz: Ist das nicht eine sehr zuversichtliche Annahme, dass es möglich sein wird, in solchen Auffangzentren, die sicherlich auch den Charakter von Lagern hätten, dass man da humanitäre Zustände schaffen kann, mit denen man als Europäer mit europäischen Standards zufrieden sein kann, wenn wir wissen, dass es Zeiten gab, in denen nicht mal nach Griechenland zurückgeschoben werden konnte, weil man da gesagt hat, also das ist schlichtweg nicht zumutbar? Thym: Ich will Ihnen gar nicht widersprechen, dass es sehr schwierig wird, und dass es auch in der Praxis nicht einfach zu implementieren ist. Nur, wir brauchen in der Politik ja auch die Vorstellung dessen, was man noch erreichen kann. Wenn man nur sagt, es funktioniert alles nicht und man den Kopf in den Sand steckt, dann ist das ja auch keine Lösung, sondern man muss Ideen entwickeln, wie man vorankommt. Und da gibt es durchaus schon Projekte, die laufen. UNHCR, das UN-Flüchtlingskommissariat ist mit großer Unterstützung der Europäischen Union und der Bundesregierung, finanzieller Unterstützung, in Libyen etwa aktiv und fliegt dort schutzbedürftige Personen in den Niger aus, von wo aus diese dann nach Frankreich oder Deutschland resettled werden. Da geht es bisher nur um 1.000, 2.000 Personen, aber das Modell, wenn es funktioniert, könnte man fortentwickeln. Schulz: Okay, das sind jetzt sicherlich alles Szenarien, die einige Zeit brauchen werden. Die Zeit hat Angela Merkel jetzt im Moment nicht. Die selbstgesetzte, sagt sie, viele interpretieren es auch als Ultimatum, das ihr der Innenminister, Horst Seehofer, gesetzt hat. Das ist jetzt ja ein ganz erheblicher Zeitdruck. Bis nach dem Gipfel soll sie vorzeigbare Ergebnisse mit nach Hause tragen. Da fährt sie jetzt im Moment die Strategie, auf diese bilateralen Abkommen zu setzen. Können Sie sich vorstellen, dass die was bringen würden? Thym: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eine Dauerlösung ist das ganz garantiert nicht. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil damit Deutschland vielleicht auch ein Weg aus der schwierigen innenpolitischen Lage gewiesen wird. Es ist aber auch ein Schritt in die richtige Richtung, weil man damit in den nächsten Wochen, Monaten die bestehenden Regelungen vielleicht etwas effektiver anwendet, als es bisher der Fall ist. Langfristig wird es aber nicht an einer Dublin-Reform vorbeiführen. Französische Asylpolitik in der Praxis kein Idealfall Schulz: Wie sind die Erfahrungen, die es dazu bisher gibt? Es gibt diese Abkommen ja zum Beispiel zwischen Italien und Frankreich. Thym: In der Tat, wobei Italien und Frankreich dann auch ein Beispiel ist, wie man es idealerweise nicht machen sollte. Also, in Frankreich – die Praxis ist sehr vielfältig. Da wird auch nicht mit jedem Fall gleich verfahren. Aber es gibt Einzelfälle, in denen die französischen Behörden einfach Flüchtlinge zurück in einen Zug nach Italien setzen, ohne die Identität zu prüfen, ohne Fingerabdrücke zu nehmen, ohne zu fragen, ob besondere Gründe vorliegen, die etwa gegen eine Rückführung sprechen. Auch kein Dublin-Verfahren wird durchgeführt. So geht das nicht. Das ist rechtswidrig und das wurde auch von französischen Gerichten für rechtswidrig empfunden/erklärt. Schulz: Jetzt sind wir gedanklich in Italien. Da haben wir jetzt in dieser Woche zweimal das Szenario beobachtet, dass Italien Schiffen mit Menschen, die im Mittelmeer gerettet worden waren, es verboten hat, an Land zu kommen. Ist das rechtlich klar, dass es so nicht geht? Oder kann sich Italien da auch möglicherweise auf eine Art Notwehr berufen, weil es ja nach wie vor so ist, dass die Staaten an der Außengrenze mehr oder weniger auch mit dem Thema alleingelassen werden? Thym: Es ist wie so häufig im Recht. Ganz so eindeutig ist es nicht. Und das liegt im Wesentlichen daran, dass die meisten Personen sehr nahe der libyschen Küste gerettet werden. Das heißt, sie sind nicht im italienischen Hoheitsgebiet. Sie sind auch nicht in der italienischen Seenotrettungszone, die es gibt. Sondern offiziell ist Libyen für die zuständig. Nach Libyen kann man sie jetzt wohl nicht zurückschicken, weil da die Bedingungen zu schlecht sind. Aber, dass die Leute dann automatisch nach Italien kommen müssten, steht nicht fest. Man könnte sie ebenso nach Malta, nach Tunesien senden, die teilweise rein geografisch sogar näher am Rettungsort sind als Italien, sodass es nicht eindeutig feststeht, dass hier Italien zuständig ist. Fest steht nur, dass man die Leute irgendwo sicher an Land lassen muss. "BAMF-Skandal und der Fall Susanne F. haben die Bevölkerung retraumatisiert" Schulz: Ja, und da sind die Zeiten sicherlich vorbei, in denen man sagt: "Na, ich mache es schon." Das Interview der Woche mit dem Völker- und Europarechtler Daniel Thym. Jetzt wird dieser Streit um die Asylpolitik, um die Flüchtlingspolitik politisch mit den allerhärtesten Bandagen ausgetragen. Wir können jetzt - Stand Wochenende - nicht ausschließen, dass die Union sogar daran zerbricht. Aber auch rhetorisch ging es ja von Anfang an hoch her. Wir haben im Ohr dieses harsche Urteil von Horst Seehofer, es gebe eine Herrschaft des Unrechts, jetzt im Zusammenhang mit dem BAMF, da wird immer wieder gesagt, es gäbe ein Staatsversagen. Wie lädiert ist der Rechtsstaat? Thym: Der Rechtsstaat ist ein Begriff, das kann sehr viele Sachen umfassen. Zum Rechtsstaat gehören die Grundrechte, also auch die Rechte von Migranten. Zum Rechtsstaat gehört aber auch die Erwartung, dass der Staat Regeln, die er sich selbst gesetzt hat, durchsetzt. Und hier ist in der Krise sicherlich sehr viel nicht perfekt gelaufen. Und gerade die Entwicklung der letzten Monate mit dem Skandal in Bremen, mit dem fürchterlichen Mord an Susanne F. haben die Bevölkerung, wenn man so will, retraumatisiert. Sie haben in Erinnerung gerufen, dass der Staat, der deutsche Staat während der Hochzeit der Krise die Kontrolle teilweise verloren hatte. Und das ist sicher auch ein Grund, warum die Rhetorik jetzt so eskaliert ist. Schulz: Also, das ist aus Ihrer Sicht gar nicht nur Rhetorik, sondern das ist eine Beschreibung der Zustände? Thym: Teilweise ganz sicherlich. Also, mir ist aufgefallen in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die von einer Herrschaft des Unrechts oder einem Rechtsbruch reden, dass man da zwei Gruppen unterscheiden kann. Das eine ist die Gruppe der politisch Unzufriedenen, die den Begriff "Herrschaft des Unrechts" letztlich als eine Metapher meint, um auszudrücken, dass da viel falschläuft, dass die Dublin-Regeln nicht effektiv angewandt werden, dass die Abschiebung nicht funktioniert, dass die Identität häufig nicht geklärt wird. Das sind Leute wie Horst Seehofer, die gar nicht unbedingt meinen, dass letzten Endes ein Gericht zu dem Ergebnis käme, dass da konkrete Rechtsregeln verletzt würden, die aber dennoch meinen, dass da etwas schiefläuft. Das ist die eine Gruppe. Und die andere Gruppe, das sind die Systemkritiker, die dann mit dem Verweis auf das Recht auch letztlich das ganze politische System diskreditieren wollen. Dazu gehören dann Leute wie Herr Sarrazin und andere. "An Sachargumenten nicht mehr interessiert" Schulz: Ja, auf den wollte ich gerade kommen. Sie haben die Härte dieses Diskurses ja selbst auch am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie haben gegen Thilo Sarrazin und die Erklärung 2018 an-argumentiert, in der ja konservative Intellektuelle davon sprechen, dass durch illegale Masseneinwanderungen Deutschland beschädigt werde. Jetzt hat Thilo Sarrazin geantwortet und in einem Artikel, in dem er Sie nennt "Professor Unfug", er hat Ihnen vorgeworfen, Sie würden die Leser aufhetzen, welche Reaktionen haben Sie darauf erreicht? Thym: Ich habe sehr unterschiedliche Reaktionen erfahren. Zum einen natürlich Unterstützung durch Kollegen. Aber zum anderen habe ich auch gemerkt, dass es eben diese zwei unterschiedlichen Gruppen bei denjenigen gibt, die sich von einer solchen Rhetorik angesprochen fühlen. Zum einen die Unzufriedenen, die meinen, eben, dass was schiefläuft, was man besser machen sollte, das sind aber auch Personen, die man mit Sachargumenten noch sehr gut erreichen kann. Und die andere Gruppe sind dann diejenigen, die letztlich an einem sachlichen Diskurs gar nicht mehr interessiert sind und die letztlich auch das Recht als eine vermeintlich unpolitische Autorität rhetorisch nutzen, um das gesamte politische System zu diskreditieren. Die sind an Sachargumenten gar nicht mehr interessiert, sondern denen geht es letztlich darum, die bestehenden Parteien als generell illegitim darzustellen. Schulz: Und die Gruppe, wird die größer? Thym: Ja, das muss jeder Leser und jeder Hörer für sich entscheiden. Ich habe das Gefühl, dass die Gruppe existiert, und sehr wichtig ist wahrscheinlich, dass die Größe der Gruppe gar nicht mal feststeht, sondern dass die Art und Weise, wie wir über Migration sprechen, die Rhetorik, aber auch die Sachthemen, die wir ansprechen, mit darüber bestimmt, wie groß diese Gruppe sein wird. Es gibt viele Leute, die da in einer Grauzone sind. Die kann man noch erreichen und die muss man auch versuchen zu erreichen. Ich hatte etwa auf all die Rechtsargumente, die ich dann gegen Thilo Sarrazin vorgebracht hatte, auch Kommunikation etwa mit Rechtsanwälten, die mir zwei, drei Seiten lange Briefe geschrieben haben, wo ich dann auch wieder reagiert habe und wo ich das Gefühl hatte, die waren positiv angetan, dass jemand zumindest auf ihre Argumente reagiert hat zumindest, auch, wenn man dann letztlich nicht einer Meinung war. Schulz: Sie haben ja kritisiert, dass Ihnen diese ganze Diskussion zu sehr in Schwarz-weiß läuft. Was genau stört Sie da? Thym: In Migrationskreisen im engeren Sinne, da ist die Fraktion Sarrazin ja beinahe nicht vertreten. In der Community derjenigen, die sich mit Migration, im Migrationsrecht beschäftigt, ist eigentlich die andere Seite sehr viel präsenter. Und da ist mir aufgefallen in den letzten Jahren, dass die Argumente, die dort verwandt werden, auf eine ganz umgedrehte Art und Weise letztlich die ähnlichen sind. Man ist nicht bereit, über Migrationspolitik sachlich zu reden. Und man verweigert letztlich den Diskurs und man tut so, als ob es moralisch und teilweise auch rechtlich nur eine Lösung gebe, dass nämlich jeder Mensch, der das wünscht, nach Deutschland einreist. Und jeder Versuch des Staates, Migration zu steuern, zu ordnen und auch zu kontrollieren, wird dann aus einer semimoralischen, semirechtlichen Perspektive als illegitim dargestellt. Schulz: Also, jeder, der sich jetzt über diese Zurückweisungen aufregt, dem würden Sie entgegenhalten, ja, Moment, es ist aber nicht richtig oder falsch, sondern es gibt auch was dazwischen? Thym: In der Tat. Das würde ich da entgegenhalten. Die Menschen, die sich über die Zurückweisungen aufregen, regen sich ja nicht nur über die Zurückweisungen auf. Die kritisieren ganz genauso auch, dass man Flüchtlinge etwa nach Italien zurückführt, wo in der Tat auch in manchen Konstellationen, etwa Familien mit Kleinkindern, die Unterbringungsmodalitäten so schlecht sind, dass man Personen nicht zurückstellen kann. Aber, wenn wir es als Europäische Union nicht mehr erlauben, dass Flüchtlinge in ein Land wie Italien zurückgestellt werden, weil dort angeblich die Lebensbedingungen so schlecht sind, dass die Menschenwürde verletzt ist, dann ist auch das ein Problem im Diskurs. "Bürger wünschen sich einen handlungsfähigen Nationalstaat" Schulz: Wobei man jetzt der Vollständigkeit halber sagen muss, dass die Menschen, die sich über die Zurückweisungen aufregen, in der Minderheit sind in Deutschland. Das wissen wir seit dieser Woche. Da gab es diese Umfrage, die gezeigt hat, dass knapp zwei Drittel der Menschen in Deutschland die Zurückweisungen gut finden, die Horst Seehofer vorschlägt. Sie haben uns ja vorhin ziemlich genau erklärt, warum die juristisch nicht gehen. Also, das ist jetzt wieder so ein Punkt, an dem die juristische Expertensicht und die Mehrheitsmeinung aufeinanderprallen. Ist das auch Teil des Problems? Thym: Das ist sicherlich Teil des Problems. Und das ist vor allem ein Problem der Europäischen Union insgesamt, was sich in der aktuellen deutschen Debatte wie in so einem Mikrokosmos spiegelt. Wir haben auf der einen Seite sehr viele Entscheidungen nach Europa delegiert. Die sind in Rechtsregeln niedergelegt. Und diese Rechtsregeln gelten mit Anwendungsvorrang. Das ist auch kein Geheimnis. Jeder Jurastudent weiß das. Er würde durch Examen fallen, wenn er es nicht wüsste. Und diese sehr weitgehende Rechtsintegration, sehr viele Entscheidungen sind nach Europa delegiert, kontrastiert auf der anderen Seite mit einer politischen Situation, wo die Identifikation und das Selbstverständnis der Bürger noch sehr stark im nationalen Rechtsraum ist. Auch die Diskurse in den Medien sind schon aus sprachlichen Gründen ja national. Und das passt nicht mehr zusammen. In dem Augenblick, wo die Europäische Union Entscheidungen trifft, die die Bürger alltäglich berühren in der Eurokrise oder in der Finanzkrise, entsteht da ein Konflikt, an dem Europa durchaus auch zerbrechen kann. Und das wird in der aktuellen Debatte so sichtbar, weil die Bürger fühlen: Das kann doch nicht sein, dass das Europarecht all das vorgibt, was Experten natürlich immer schon wussten. Die Bürger wünschen sich einen handlungsfähigen Nationalstaat und Europa scheint das zu verhindern. Schulz: Und wer baut da jetzt die Brücken? Thym: Ja, die Brücken werden … heute versucht man in Brüssel, die Brücken zu bauen. Am Sonntagnachmittag treffen sich ja bekanntlich die Staats- und Regierungschefs und sie versuchen hier, Kompromisse zu bauen. Und das ist auch in der Sache letztlich alternativlos, auch, wenn man mit dem Begriff sicherlich vorsichtig sein muss, eben weil Migration nur dann sinnvoll gesteuert werden kann, wenn man miteinander kooperiert. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Thym im Gespräch mit Sandra Schulz
Horst Seehofer befinde sich juristisch mit seiner Forderung der Zurückweisung an deutschen Grenzen nicht im Recht, sagte der Europarechtler Daniel Thym im Dlf. Jeder Jurastudent wisse, dass europäische Regelungen hier die deutschen überlagerten. Das geltende Dublin-System habe aber auf Dauer keine Zukunft.
"2018-06-24T11:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:33.705000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europarechtler-zu-asyldebatte-kluge-migrationspolitik-setzt-100.html
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Euthanasieopfern eine Stimme geben
Der Holocaust hatte einen Vorläufer. Das war die "Aktion Gnadentod". Unter diesem Tarnnamen wurden zwischen 1940 und 1945 mehr als 200.000 geistig Behinderte ermordet. Ins öffentliche Bewusstsein gelangt ist nur die erste Phase dieses Verbrechens. Sie wurde am 24. August 1941 abrupt gestoppt - eben weil sie öffentlich gemacht worden war: Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, prangerte in drei Predigten an, was seit anderthalb Jahren in aller Stille geschah und nannte es beim Namen: Mord. Er hatte Erfolg. In dieser Phase - der Krieg gegen die Sowjetunion ging mühsam voran, die Engländer flogen Bombenangriffe auf Wohngebiete - wollten Hitler und Goebbels keine Unruhe im Reich. Sie bliesen die Aktion ab.Das bedeutete aber nur eine kurze Frist für das "lebensunwerte Leben", wie die NS-Ideologie den zur Vernichtung bestimmten Personenkreis umschrieb. Nach einiger Zeit ging das Morden wieder los, dezentral und noch verdeckter, in Deutschland und in besetzten Gebieten im Osten und traf bald nicht mehr nur Epileptiker und Schwachsinnige, sondern auch Tuberkulosekranke, sogenannte Arbeitsscheue, verwirrte Bewohner von Altersheimen, ja sogar Ausgebombte, die die Angst um den Verstand gebracht hatte. Sie wurden ermordet auch aus dem Grund, freie Betten zu bekommen für Verletzte der zunehmenden Bombenangriffe.Götz Aly, promovierter Politologe und Journalist, gehört zu den Forschern, deren Bücher zuverlässig für politische Kontroversen sorgen. Zuletzt hat er mit der These von der "Gefälligkeitsdiktatur" Aufsehen erregt, nach der die Ausplünderung der Juden einen stillen Konsens zwischen vielen Deutschen und ihrer Regierung herstellte. Auch in seinem neuen Buch fragt er, wie eine Gesellschaft beschaffen war, die humane Reflexe derart verdrängen konnte - indem sie ihre schutzbedürftigsten Mitglieder der Gaskammer, der Todesspritze oder dem Verhungern auslieferte und sich dabei noch weismachte, es sei für die armen Irren eine Erlösung.Aly hat diesmal auch ein persönliches Motiv: Er hat eine schwerbehinderte Tochter. Sie heißt Karline."Kurz nach ihrer Geburt 1979 erkrankte sie an einer Infektion, der heute mithilfe einer Routineuntersuchung vorgebeugt wird. Karline bekam eine Gehirnentzündung und erlitt einen schweren zerebralen Schaden. Bei aller Hilfsbedürftigkeit lacht und weint sie, zeigt Freude und schlechte Laune, liebt Musik, gutes Essen, gelegentlich etwas Bier und Gäste. Doch einfach hat sie es im Leben nicht."Kurz nach Karlines Geburt hat Götz Aly begonnen, die Euthanasiemorde (wie er sie in dankenswerter Klarheit nennt) zu erforschen, anfangs noch gegen Widerstand und Hinhaltetaktik der Archive. Viele Täter waren damals noch am Leben und durchaus aktiv: Einer der Gutachter, der Alys Tochter eine hohe Pflegestufe bescheinigte, war - wie er erst später herausfand - einst Oberarzt an der Heidelberger Universitätskinderklinik, von der aus Kinder in die Mordanstalt Eichberg geschickt wurden. Das jetzt vorliegende Buch ist die Frucht von 32 Jahren Arbeit. Nicht die erste Publikation Alys zu dem Thema, aber eine Summe, ein Abschluss.Alys eigene Betroffenheit trübt ihm keineswegs den Blick. Aber nie vergisst er, dass es sich bei den zum Tode bestimmten "Fällen" um Menschen handelte, die bei aller Behinderung Freude und Schmerz fühlten, die liebenswert waren und, da sie sich nicht selbst schützen konnten, den Schutz der Gesellschaft verdienten. Es geht ihm darum, sie von Fällen zu Menschen zu machen, ihnen einen Namen zu geben, eine Stimme. Immer wieder nennt er Geburts- und Sterbedaten von Ermordeten, zitiert er Briefe, die die psychisch Kranken an ihre Angehörigen schrieben, oder Pflegenotizen ihrer Betreuer, die dem Urteil "lebensunwert" Hohn sprechen. So lesen wir etwa im "Entwicklungsbericht" über den zwölfjährigen Rolf Pfunfke:"Rolf ist jetzt in der Lage, einzelne Worte schlecht artikuliert, mit leiser tonloser Stimme herauszuhauchen. Seine seltenen Äußerungen sind sinnvoll, sie beziehen sich auf primitive Vorgänge seine eigene Person betreffend. Kleine Vorgänge in seiner Umgebung hat er aufgefasst, Neues aber nicht dazugelernt. Charakterlich stehen die guten gemütlichen Fähigkeiten Rolfs im Vordergrund. Er ist anhänglich, freudefähig, dankbar. Rolf ist empfindlich und will gern beachtet sein. Seine Stimmungslage ist sorglos-unbekümmert, kindlich heiter."Der Bericht stammt vom 15. Oktober 1940. Am 28. Oktober wurde Rolf in der Gaskammer von Brandenburg ermordet.Alys Stil ist konsequent sachlich, um Erklärung der Zusammenhänge, der Zuständigkeiten und der individuellen Verantwortung bemüht, sogar um Verständnis für die Nöte der Eltern oder Lebenspartner, die ihre Kranken im Stich ließen. Aber es durchzieht auch kalte Wut diese Seiten, und dieser Ton steht dem Buch nicht schlecht an.Drei Gruppen sind am Euthanasiemord beteiligt: Opfer, Täter und Angehörige. Die Opfer bilden den emphatischen Mittelpunkt des Buches. Die Täter werden differenziert betrachtet, bei genauer Beleuchtung ihrer Verantwortung und ihres Handlungsspielraums. Der war enorm, und oft wurde er auch genutzt. Anders als beim Holocaust gibt es für die Euthanasiemorde eine eindeutige Anweisung Hitlers, die sogar schriftlich gefasst wurde und erhalten ist. Sie wurde auf den 1. September 1939, dem Tag des Kriegsausbruchs, datiert, bestätigte bereits mündlich gegebene Befugnisse, besteht aus einem einzigen Satz und lautet:"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Karl Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."Hitler ließ seinen Leibarzt Theo Morell eine Denkschrift zur Ausgestaltung dieser Anordnung aufsetzen. Darin findet sich auch die zynische Kalkulation, die hinter den Euthanasiemorden steht: Man will Pflegekosten sparen und sich derer entledigen, die nicht arbeitsfähig sind. Nutzlose Esser haben kein Lebensrecht im "Dritten Reich". Wörtlich rechnet Morell:"5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 Reichsmark = 10 Millionen jährlich. Bei fünf Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen."Entsprechend gigantisch musste die "Ersparnis" bei der von ihm geschätzten 70.000 potenziellen Todeskandidaten ausfallen. Morell vermutete in seiner Denkschrift, dass von den Angehörigen kein größerer Widerstand zu erwarten sei, und empfahl, die Sache nicht öffentlich zu machen, sondern als "amtsgeheime Anordnung" durchzuziehen. Die mit der Umsetzung befassten Ärzte bestanden aber auf einem Gesetz, das sie vor etwaigen Mordanklagen schützen würde, und ein solches wurde auch formuliert - aber nie veröffentlicht.Am 9. Oktober 1939 wurden in der Kanzlei des Führers die Weichen für die Umsetzung der Aktion gestellt. Federführend war eine sogenannte "Zentraldienststelle T4" - genannt wegen der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, die zuerst der Kanzlei des Führers unterstand, dann der Medizinalverwaltung des Reichsinnenministeriums. Später wurde die Mordbehörde in Reichsamt für die Heil- und Pflegeanstalten umbenannt. Sie war zuständig für die "planmäßige Erfassung" der Geisteskranken, für ihren Transport von den Heilanstalten in die Mordzentren und für die Gaskammern, in denen sie ermordet wurden. Diese Mordzentren befanden sich in Grafeneck bei Reutlingen, in Brandenburg an der Havel, in Bernburg an der Saale, in Hadamar in Nordhessen, in Sonnenstein bei Pirna und im österreichischen Hartheim. Später töteten die Ärzte ihre Kranken auch in ganz normalen Krankenhäusern, mittels Spritzen, oder sie ließen sie in speziellen Anstalten einfach verhungern.Die Spitzen der Kommunen und der Justiz waren in die Euthanasiemorde eingeweiht; bei einem Gemeindetag mit 200 Oberbürgermeistern und bei einem Treffen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte wurde über die Aktion informiert, allerdings um Geheimhaltung gebeten, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.Die Entscheidung über Leben oder Tod wurde auf viele Schultern gelegt, von der erfassenden Behörde über die Direktoren der psychiatrischen Anstalten, die Leiter der Mordzentren bis hin zu einzelnen Ärzten. Jeder hatte die Möglichkeit, einen Todeskandidaten zu retten - es gehörte kein Mut dazu, es gab kein Risiko, man musste es nur wollen. Noch vor der Gaskammer saß ein Arzt und verfügte über ein letztes Vetorecht. Maria Vollweider, eine depressive Patientin, berichtete 1947 vor dem Untersuchungsrichter, wie sie in die Todesanstalt Grafeneck gebracht wurde, aber nicht in die Gaskammer musste:"Ich wusste zwar nicht, dass ich nach Grafeneck käme, habe aber als ziemlich sicher angenommen, dass ich mich in einem Totentransport befinde. Mit mir verlegt wurde damals ein Fräulein Emilie Huf aus Karlsruhe und die Jüdin Selma Hauser aus Mannheim. Beide wurden später dann auch in Grafeneck getötet. In Grafeneck mussten wir die Omnibusse verlassen und wurden sofort in eine lange Baracke gebracht. In dem Raum war es sehr eng, und einige Patientinnen wurden unruhig. Die anwesenden Wärter gaben solchen Patienten sofort Spritzen. Nach einigen Stunden wurde mein Name gerufen. Nach Aufruf meines Namens wurde ich durch einen langen Gang in eine andere Baracke geführt. Dort saßen hinter Tischen etwa sechs Männer, möglicherweise waren es Ärzte. Von einem dieser Männer wurde ich eingehend ausgefragt. Ich schätze, dass es etwa eine Stunde gedauert hat. Nach etwa einer Stunde kam ein Wärter, ich musste meinen Rücken freimachen und der Wärter entfernte die Nummer auf meinem Rücken. Dann wurde ich in einem Personenwagen wieder nach Zwiefalten zurückgebracht. Von all den anderen Bekannten, die mit mir nach Grafeneck gekommen waren, habe ich in Zwiefalten niemand mehr gesehen, und ich muss annehmen, dass ich die einzige Überlebende von dem ganzen Transport bin. Von dem Warteraum, in welchem ich mich so lange aufhielt, hatte die Bretterwand zum Nachbarzimmer breite Ritzen. Ich konnte durch diese feststellen, dass in dem großen Nachbarraum eine große Anzahl völlig nackter Frauen sich befand."Die Ärzte hatten einen breiten Ermessensspielraum. Insbesondere die klare Anweisung, auf Nachfragen der Angehörigen zu reagieren und, wenn diese den Kranken zu sich nach Hause nehmen wollten, dies zu erlauben. Auch wurden solche Insassen, nach denen öfter gefragt wurde, die Besuch erhielten etc., eher von den Todestransporten meist ausgenommen.So fiel den Angehörigen die Schlüsselrolle bei der Frage "Leben oder Tod" zu. Anders als beim Judenmord, der prinzipiell keine Ausnahme kannte und von einem wahnhaften Rassenhass getrieben wurde, waren die Euthanasiemorde vornehmlich durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung motiviert. Zu den Kosten gehörte dann eben auch die Unruhe der Angehörigen, die sich schnell in ihrer Umgebung verbreiten könnte. So wichen die Täter beim geringsten Widerstand zurück. Umgekehrt bedeutet das: Wer starb, hatte keine Angehörigen oder keine, die sich für ihn einsetzten.Sie konnten sich dabei, nach dem perfiden Kalkül der Mordplaner, in einer Grauzone «zwischen Nichtwissenswollen und Nichtwissenmüssen» bewegen. Der Kranke wurde verlegt, kurz darauf kam dann die Nachricht von seinem überraschenden Tod - bei der Wahl der "natürlichen" Todesursache waren die Ärzte sehr erfinderisch. Auf dem Totenschein stand dann"Grippe, Pneumonie, Hirnlähmung, Erschöpfung, fieberhafte Bronchitis, Lungenentzündung, Herzschwäche, Darmgrippe, progressive Paralyse, Darmkatarrh, Darmverschlingung, Gesichtsfurunkel, Blutsturz, Schlaganfall, Altersschwäche, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Angina, Blutvergiftung, Diphterie, Masern, Erschöpfung, Durchfall."Wenige fragten nach oder protestierten; die meisten waren erleichtert. Manche reklamierten vor allem den Nachlass - bis hin zu einer verschwundenen Goldbrücke. Manchmal wurde die Reaktion der Angehörigen vorab getestet: Man fragte sie, ob sie einer sehr riskanten Therapie zustimmen würden, bei der das Sterberisiko bei 90 Prozent liege. Die meisten gaben ihre Zustimmung.Im selben Sinne war übrigens eine Umfrage ausgefallen, die lange vor der Machtergreifung angestellt worden war und auf die sich Hitlers Leibarzt Morell bei seiner Euthanasie-Denkschrift ausdrücklich berief. Der Obermedizinalrat Ewald Meltzer hatte sie 1920 unter Eltern und Vormündern psychisch Kranker durchgeführt. Die Angehörigen hatten auf die Frage, ob man diese "einschlafen lassen" solle, mit großer Mehrheit zugestimmt. Nur zehn Prozent hatten das strikt abgelehnt. Viele hatten ihre prinzipielle Zustimmung noch mit dem Zusatz versehen, lieber im Ungewissen über die Todesursache bleiben zu wollen:Im Prinzip einverstanden; nur dürften Eltern nicht gefragt werden; es fällt ihnen doch schwer, das Todesurteil für ihr eigen Fleisch und Blut zu bestätigen. Wenn es aber hiesse, es wäre an einer x-beliebigen Krankheit gestorben, da gibt sich jeder zufrieden.Aus solchen Aussagen konnte, die entsprechende Ideologie vorausgesetzt (und bei Ignorierung des Hippokratischen Eides) so etwas wie ein stiller gesellschaftlicher Konsens abgeleitet werden. Wer sich diesem Konsens entzog, tat dies meist auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes, nach dem auch ein "Armer im Geiste" Gottes Kind war. In derselben Predigt, in der er die Euthanasiemorde geisselte, wetterte Bischof Galen auch gegen lockere Sitten. Umgekehrt empfanden sich die Euthanasiemörder als Vertreter einer "modernen Psychiatrie" - und sie waren es auch, so Götz Alys verblüffender Befund. Dieselben Ärzte, die ihnen anvertraute Patienten kaltblütig zu Tode brachten, entwarfen musterhafte Heilanstalten und veröffentlichten Anleitungen zum liebevollen Umgang mit Kleinkindern. Darin lag eine perverse Logik: Man wollte sich der hoffnungslosen Fälle entledigen, um Kraft und Mittel auf die therapiebaren zu konzentrieren.Paul Nitsche etwa, einer der führenden Organisatoren der Euthanasiemorde, der deswegen 1948 in Dresden hingerichtet wurde, war ein Reformpsychiater. Er lehnte mechanische Zwangsmittel wie Fesseln oder Zwangsjacke ab und plädierte dafür, jedem Kranken individuell gerecht zu werden. Die Pfleger sollten den Kranken freundlich begegnen und eine angenehme Atmosphäre schaffen. Dies galt aber nur für die therapierbaren Fälle. Für die anderen war der "Gnadentod" gerade recht. So zogen er und seine Kollegen, anmassend und kaltherzig, eine Grenze zwischen "lebenswert" und "lebensunwert". Von Paul Nitsche ist der Ausspruch bezeugt:"Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun richtige Therapie treiben können."Zu solchem "Ballast" gehörten auch Kinder. Deutlich mehr als zehntausend fielen dem Euthanasiemord zum Opfer. Die Kapitel, die Götz Aly ihnen widmet, sind am schwersten zu lesen und zu ertragen. Ein eigens gegründeter "Reichsausschuss" besorgte sich die Daten aller Minderjährigen, die in Heil- und Pflegeanstalten sassen, und prüfte jeden Einzelfall nach Aktenlage auf Leben oder Tod. Dann erging die Anweisung an die jeweilige Anstalt, was zu geschehen hatte - nämlich nichts oder die Verlegung in eine Spezialanstalt, wo vergast oder gespritzt wurde. Dort prüfte ein Arzt das Dossier ein letztes Mal, hob oder senkte den Daumen.Die Zahl der Mittäter und Mitwisser an diesem Verbrechen, das sich zum Teil im ganz normalen Klinikalltag, als Routinevorgang, vollzog, war hoch; niedrig dagegen bis gar nicht vorhanden das Unrechtsbewusstsein. Dass die entsprechenden Kinder "Reichsausschusskinder" hiessen - natürlich, weil der Ausschuss sie begutachtete, aber für uns auch mit dem Nebensinn: dass sie als Ausschuss betrachtet wurden -; dass man von "behandeln" schrieb, wenn "töten" gemeint war: Das schmerzt noch beim Lesen und zeigt einmal mehr, wie sich das Verbrechen auch die Sprache vergiftet.Ein besonders finsteres Kapitel betrifft die innige Zusammenarbeit der Euthanasiemörder mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung in Berlin-Buch. Ein intensiver Daten- und Patientenverkehr sorgte dafür, dass man sich interessante Fälle oder ganze Versuchsreihen regelrecht bestellen konnte: Man forschte am kranken Kind, liess es dann töten und forschte am Gehirnpräparat weiter. Doktorarbeiten entstanden daraus. Das Max-Planck-Institut hat sich erst vor wenigen Jahren der verbrecherischen Geschichte seiner Vorgänger gestellt. Noch in den 80er-Jahren, erinnert sich der Autor, wurde ihm die Auskunft über eine Sammlung mit den Gehirnen ermordeter Kinder verweigert - mit dem grotesken Hinweis auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Nur dass hier der Arzt zum Mörder geworden war.Für Götz Aly sind die Euthanasiemorde ein Testlauf für den Holocaust; sie zeigten den Spitzen des Dritten Reiches, wie reibungslos mitten in Deutschland ein Massenmord zu organisieren war. In der Duldung bzw. Mittäterschaft durch die Angehörigen sieht Aly eine "Selbstverstümmelung" der Deutschen; einen wichtigen Schritt auf ihrem Weg in die Verrohung.Nach dem Krieg wurden diese Toten - totgeschwiegen; wer einen kranken Angehörigen preisgegeben hatte, wollte nicht daran erinnert werden. Photos gefallener Soldaten bekamen einen Ehrenplatz im Wohnzimmer; die vergaste verrückte Tante war peinlich. Götz Aly verurteilt die Angehörigen nicht, deren Handlungsspielräume er zuvor so genau vermessen hat. Er konstatiert, stellt fest, und versucht ihrer Lage gerecht zu werden."Wir Heutigen sollten uns nicht leichtfertig über die Eltern, Geschwister und Gatten erheben, die damals wankten. Sie lebten unter sehr viel schwierigeren Umständen. Anders als heute bestand, etwa im Fall der Geburt eines behinderten Kindes, keine Aussicht auf großzügige staatliche Hilfen, sondern die reale Bedrohung, dass die gesamte Familie als erblich belastet eingestuft und dauerhaft um ihre Zukunftschancen gebracht werden würde."So macht Götz Alys Buch über die untersuchte historische Periode hinaus auch den heutigen Leser nachdenklich. Die Einstellung des Menschen zu Behinderten, selbst zu eigenen Angehörigen, die oft eine schwere Last sind, ist ambivalent und stets gefährdet. Es kommt auf die Gesellschaft an, ob diese Ambivalenz zum Guten und Fürsorglichen ausschlägt oder ins Inhumane.Götz Aly: "Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte" S. Fischer, Frankfurt 2013, 320 Seiten.
Von Martin Ebel
"Aktion Gnadentod" - unter diesem Tarnnamen wurden zwischen 1940 und 1945 in der NS-Zeit mehr als 200.000 geistig Behinderte ermordet. Der Politologe und Journalist Götz Aly stellt in "Die Belasteten" die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung.
"2013-04-14T16:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:14:13.517000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/euthanasieopfern-eine-stimme-geben-100.html
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Nicht nur mehr Taschengeld für bayerische Asylbewerber
München, vor dem Sozialbürgerhaus in der Nähe des Ostbahnhofs. Macy, wie sie sich nennt, eine alleinerziehende Mutter aus Nigeria, kommt mit strahlendem Gesicht aus der Tür, in der Hand einige Geldscheine. Ein Jahr ist sie schon in Deutschland, ein Jahr lang mussten sie mit 40 Euro Taschengeld pro Monat aus kommen. "Damit konnte ich mir ein Monatsticket für 25,20 Euro kaufen. Aber wenn ich am ersten Tag des nächsten Monats wieder das nächste Taschengeld abholen wollte, konnte ich mir davor kein neues Monatsticket kaufen und musste die Fahrt zum Sozialbürgerhaus extra zahlen. Jetzt kann ich mir auch schon die Monatskarte für September kaufen, mit meinem Taschengeld."Und dabei hat Macy nur knapp 130 Euro bekommen. Statt 133 Euro, auf die sie laut bayerischem Sozialministerium nach dem höchstrichterlichen Urteil Anspruch hätte. Doch die Auszahlung von mehr Geld an Asylbewerber klappt nicht überall im Freistaat reibungslos. Im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen etwa erhalten die rund 500 Asylbewerber auch im August nur das alte Taschengeld in Höhe von rund 40 Euro. Der Grund hier: Die Softwareumstellung dauert und die Mitarbeiter müssen geschult werden. Dafür soll im September nachgezahlt werden. Auch wenn für Macy die drei Euro, die sie jetzt zu wenig ausbezahlt bekam, viel Geld sind – das große Problem liegt in Bayern woanders, auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat:"Bayern hat eine spezielle Asyldurchführungsverordnung. In dieser Verordnung ist ganz klar geregelt: Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern." Das heißt in Macys Fall: Sie lebt mit ihren beiden Söhnen in einem kleinen Zimmer in einer Art Baracke in einer Gemeinschaftsunterkunft in München."Ich war nie zuvor in so einem Lager und es gefällt mir einfach nicht."Sie zeigt auf uralte Flecken auf dem abgenutzten Teppichboden. Die schäbige Küche und das Bad müssen sich die Drei mit vielen anderen Asylbewerbern teilen. Macy wünscht sich mehr Privatsphäre, eine Wohnung oder einen Platz in einem Mutter-Kind-Heim. Und:"Wir hätten lieber Geld als Essenspakete. Weil manchmal weißt du nicht mal genau, was du für Essen bekommst. Wir können auf einer Liste Lebensmittel aussuchen, die wir wollen, aber wir verstehen teilweise nicht, was wir auswählen, weil wir kein Deutsch sprechen."Weg mit dem Sachleistungsprinzip – das fordern Flüchtlingsverbände, die Opposition und selbst der kleine Koalitionspartner in Bayern, die FDP. Und die CSU, der dominante Part der Staatsregierung? Noch vor knapp einer Woche sagte die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer:"Wir werden am Sachleistungsprinzip festhalten. Das hat ja übrigens auch immer an der Wertsteigerung teilgenommen und das Bundesverfassungsgericht hat das ganz ausdrücklich auch bestätigt, dass das in Ordnung ist." Doch jetzt scheint die CSU-Politikerin umzudenken: Die Sozialministerin plant ein Modellprojekt. Ab November sollen einige Asylbewerber obwohl sie in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen, keine Sachleistungen, sondern mehr Geld erhalten. Wie es in anderen Bundesländern gang und gäbe ist. Für Margarete Bause, Fraktionschefin der Landtags-Grünen, geht das Modellprojekt nicht weit genug:"Es braucht keine Modellprojekte, dass Essenspakete falsch sind, dass wir den Asylbewerbern Geldleistungen geben, damit die selber wählen können, was sie einkaufen. Wir wissen, dass es besser ist, dass es günstiger ist." Auch Elisabeth Ramzews von der Inneren Mission München ist grundsätzlich der Meinung: Weg mit dem Sachleistungsprinzip. Sie gibt allerdings auch zu bedenken: Seit es jetzt - wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts - mehr Taschengeld gibt, würden bayerische Asylbewerber besser dastehen als Asylbewerber in Bundesländern, die nur Bargeld auszahlen: "Weil wenn man jetzt mal alle Leistungen einbezieht, bekommt der Asylbewerber in der Tat mehr. Das kommt dadurch, dass wir noch das Sachleistungsprinzip in Bayern haben, dass also Kleidung und Essen nicht von diesem Taschengeld zu bezahlen sind." Der Schwenk der Hardliner an der Spitze der CSU hat übrigens nicht nur mit dem Karlsruher Urteil zu tun, sondern es gab Druck aus den eigenen Reihen. Auch, weil an der Basis der Unmut über die Behandlung von Asylbewerbern wuchs, machte die Staatsregierung kleine Zugeständnisse. Seit April beispielsweise dürfen Asylbewerber früher aus der Gemeinschaftsunterkunft aus- und in eine eigene Wohnung einziehen. Alexander Thal vom Flüchtlingsrat:"Ich denke dadurch, dass es sogar innerhalb der CSU Unmut über die Essenspakete gibt, kommt auch die Haderthauer nicht mehr dran vorbei, den Leuten Bargeld in die Hände zu geben." Besonders laut war der Unmut in der unterfränkischen CSU, vor allem im Kreisverband Würzburg. Denn dort waren iranische Flüchtlinge wochenlang im Hungerstreik, einige hatten sich sogar die Münder zugenäht. Es dürfte also kein Zufall sein, dass Sozialministerin Christine Haderthauer für ihren Modellversuch die Gemeinschaftsunterkunft in Würzburg vorschlägt. Doch dem dortigen CSU-Landtagsabgeordneten Oliver Jörg reicht ihr Schwenk noch nicht: Er will weiterkämpfen – für Deutschkurse und zwar vom Freistaat finanziert.
Von Lisa Weiß
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Bezahlung von Asylbewerbern hat auch den Fokus auf die bayrische Praxis gelenkt, wo bisher kein Bargeld ausgezahlt wird. Das Sachleistungsprinzip hebt die bayrische Sozialministerin Christine Haderthauer in einem Modellprojekt auf - auch auf Druck ihrer eigenen Basis.
"2012-08-02T19:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:54.804000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nicht-nur-mehr-taschengeld-fuer-bayerische-asylbewerber-100.html
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Polenz kritisiert Geheimhaltungspraxis für Rüstungsexporte
Jasper Barenberg: Nach der Debatte um Panzer vom Typ Leopard II erwägt die Bundesregierung offenbar möglicherweise ein weiteres Waffengeschäft mit Saudi-Arabien. Der "Spiegel" berichtet heute von einer offiziellen Anfrage, in der es um mehrere hundert Radpanzer des Modells Boxer geht. Schon rügt die Opposition das mögliche Geschäft.Darf Deutschland Kriegsgerät an ein autoritäres undemokratisches Regime wie Saudi-Arabien liefern und zeichnet sich ein Abschied von der bisher ausdrücklich zurückhaltenden Exportpolitik Berlins ab? Die Diskussion darüber ist abermals in vollem Gange. Am Telefon ist Ruprecht Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Polenz.Ruprecht Polenz: Einen schönen guten Morgen.Barenberg: Wir haben es ja gerade im Bericht aus Berlin gehört. Claudia Roth hält die mögliche Lieferung für eine Kumpanei mit Menschenrechtsverletzern und für eine Kumpanei gegenüber militanten Fundamentalisten. Was antworten Sie der Vorsitzenden der Grünen?Polenz: Zunächst einmal würde ich antworten, dass wir bisher keine verlässlichen Informationen darüber haben, was geplant sein könnte oder wie Anfragen vorliegen, denn das ist das Dilemma für uns Parlamentarier: Der Bundessicherheitsrat tagt geheim, offensichtlich oder möglicherweise aber wiederum nicht so geheim, dass nicht doch etwas durchsickert, woraus dann Presseberichte entstehen. Und es ist dann immer schwierig zu kommentieren, unter der Hypothese, dass der Pressebericht stimmt, würde man das und das sagen, möglicherweise stimmt er aber gar nicht. Deshalb habe ich in der Vergangenheit schon häufiger darauf hingewiesen, dass wir doch gemeinsam mit der Bundesregierung überlegen sollten, ob die bisherige Praxis, über solche Vorhaben erst sehr, sehr viel später mit dem jährlichen Jahresrüstungsbericht zu informieren, ob die so weiter beibehalten werden soll, oder ob man nicht zeitnäher informiert.Barenberg: Das heißt, Sie wären dafür, dass man öffentlich verlässliche Informationen seitens der Bundesregierung herausgibt?Polenz: Ich bin mir schon darüber bewusst, dass es auch vertrauliche Phasen bei solchen Rüstungsexportgeschäften geben kann, aber die jetzige Situation, dass über eine lange Zeit weg durch Spekulationen über das, was der geheim tagende Bundessicherheitsrat möglicherweise beschlossen oder vielleicht doch nicht beschlossen hat, das tut der Diskussion in der Sache nicht gut. Man muss über die Fragen grundsätzlich öffentlich reden können, auch über die Frage, die Frau Roth aufgeworfen hat: Sehen wir hier einen Wechsel in der restriktiven Rüstungsexportpolitik Deutschlands oder sehen wir ihn nicht. Ich würde es für richtig halten, wenn Deutschland grundsätzlich an der restriktiven Rüstungsexportpolitik festhält.Barenberg: Und das, um da gleich einzugreifen, sehen Sie schon in Gefahr, die Zukunft dieser restriktiven, sehr zurückhaltenden Exportpolitik?Polenz: Ja wir steigen jetzt in diese hypothetische Diskussion ein: Wenn, dann. Ich weiß nicht, ob und inwieweit diese Geschäfte angebahnt werden, gediehen sind. Wir könnten jetzt über die Region diskutieren, über die ambivalente Rolle Saudi-Arabiens, die einerseits, was die wirtschaftliche Zusammenarbeit, vor allen Dingen auch die Sorge um den Weltölpreis angeht, sehr in unserem Interesse ist. Die aber andererseits - das ist zurecht kritisiert worden - im Hinblick auf die arabischen Nachbarländer und das, was dort an Umwälzungen passiert, Gruppen wie die Salafisten unterstützt. Jedenfalls werden sie aus Saudi-Arabien unterstützt, wenn vielleicht auch nicht durch die saudische Regierung -eine Entwicklung, die uns Sorgen macht.Barenberg: Aber, Herr Polenz, ergibt sich aus dem, was Sie jetzt gerade dargelegt haben, nicht einfach eine ganz klare Haltung, dass es Waffenexporte deutscher Rüstungsgüter in ein solches Land nicht geben kann?Polenz: Nein, das würde ich gerne breiter diskutieren. Wir sehen eine Konfrontation in der Region auch zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Wir sehen eine relativ offensive iranische Raketenrüstung beispielsweise. Wir sehen Probleme zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen im dortigen Grenzbereich. Man soll darüber diskutieren. Grundsätzlich haben wir die Linie - und da knüpfe ich an Ihre Frage an -, dass wir in Spannungsgebiete nicht Waffen exportieren sollten. Wir müssen allerdings auch sehen, dass beispielsweise die Amerikaner in dieser Region und wohl auch andere Länder eine deutlich andere Rüstungsexportpolitik verfolgen. Es ist vor Jahren ein 60-Milliarden-Rüstungsdeal zwischen den USA und Saudi-Arabien abgeschlossen worden.Barenberg: Sie sind also schon dafür, das habe ich richtig verstanden, die Position, grundsätzlich keine Waffen in Spannungsgebiete, aufzuweichen?Polenz: Nein, dafür bin ich nicht, sondern wenn man in Spannungsgebiete Waffen liefert, muss man sich sehr genau anschauen, ob dadurch die Spannungen erhöht werden oder nicht. Es kann auch sein, dass bestimmte Rüstungsgüter zur Stabilisierung beitragen. Das was ich vermisse ist, dass wir über diese Fragen nicht grundsätzlich und offener diskutieren können durch diese bisherige Praxis. Das ist das Problem an der Sache. Was Saudi-Arabien angeht und die Region des Nahen Ostens kommt allerdings noch hinzu - und das ist ja eine Konstante deutscher Außenpolitik -, dass wir die Sicherheitsinteressen Israels im Auge behalten müssen und dass es von daher in jedem Fall auch eine enge Abstimmung bei solchen Überlegungen mit Israel geben sollte.Barenberg: Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, Ruprecht Polenz. Vielen Dank!Polenz: Bitte schön!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ruprecht Polenz im Gespräch mit Jasper Barenberg
Für eine offene Diskussion über geplante Waffenlieferungen in Spannungsgebiete sei eine frühere Information durch die Bundesregierung nötig als bisher, findet der CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz.
"2012-12-03T08:20:00+01:00"
"2020-02-02T14:36:05.063000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polenz-kritisiert-geheimhaltungspraxis-fuer-ruestungsexporte-100.html
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Neue Reproduktionsmethode polarisiert
Für das umstrittene Verfahren muss unter anderem eine künstliche Befruchtung durchgeführt werden. (Hubert Link, dpa) Fast das gesamte Erbgut eines Menschen steckt im Zellkern. Die Hälfte stammt aus einer der Eizellen der Mutter, die andere Hälfte aus einem Spermium des Vaters. Aber es gibt noch einen weiteren Ort für Erbmoleküle: Die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle. Sie besitzen eigene Erbinformation – wenn auch nur wenig. Es sind 37 Gene – gegenüber etwa 22.000 Genen im Zellkern. Sie spielen eine Rolle im Energiestoffwechsel. Ein Zusammenhang zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen konnten Genetiker bislang nicht finden. Wenn aber eines dieser Gene defekt ist, kann dies zu schweren Erbkrankheiten führen. Das ist bei etwa einem von 6.500 Neugeborenen der Fall. Die fehlerhaften Mitochondrien-Gene stammen aus der Eizelle der Mutter. Deshalb hatten Mediziner der Universität Newcastle die Idee, durch eine Art Mitochondrien-Spende solche Krankheiten zu verhindern. Dazu muss eine künstliche Befruchtung durchgeführt werden. Die Eizelle mit den defekten Mitochondrien und ein Spermium kommen zusammen. Bevor sie sich aber vollständig vereinigen, entsteht ein sogenannter Vorkern. Ein Embryologe entnimmt den Vorkern und verpflanzt ihn in die unbefruchtete Eizelle einer Spenderin. Ihr eigener Zellkern wurde entfernt. Aber sie besitzt funktionsfähige Mitochondrien. Die beiden Eltern liefern also den Zellkern, und die Eizell-Spenderin die gesunden Mitochondrien. Das Verfahren ist ein sogenannter Kerntransfer, genau wie bei Klonen. Das Ergebnis ist aber kein Klon. Stattdessen kommen der Zellkern von Mutter und Vater und die Mitochondrien der Eizell-Spenderin zusammen. Wird es ein Mädchen, kann es die Mitochondrien der Spenderin irgendwann an die nächste Generation weiter geben. Das bedeutet: Hier wurde die Keimbahn genetisch verändert. Genau das aber, war bisher stets tabu.
Von Michael Lange
In England wird ein Verfahren der Reproduktionsmedizin diskutiert, das Kinder mit drei biologischen Eltern ermöglicht: zwei Mütter und einen Vater. Das britische Unterhaus hat der Methode bereits zugestimmt. Befürworter sehen darin eine Möglichkeit, Paaren zu gesunden Kindern zu verhelfen, Kritiker hingegen eine Verletzung ethischer Prinzipien.
"2015-02-23T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:23:21.354000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kind-mit-drei-elternteilen-neue-reproduktionsmethode-100.html
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"Assad kann weiterhin Gebiete aushungern"
Laut Syrien-Expertin Helberg sind Assads "Lieblingsfeinde" die radikalen Dschihadisten des IS und der Nusra-Front. (Jan Kulke) Daniel Heinrich: Am Telefon ist die Syrien-Expertin und Buchautorin Kristin Helberg. Frau Helberg, das muslimische Opferfest hat begonnen. Die USA und Russland haben sich auf einen Waffenstillstand in Syrien geeinigt. Können die Syrer ungestört mit ihren Familien feiern? Kristin Helberg: Bis zu einem gewissen Grad ja. Ich denke, wir haben zwei positive Entwicklungen, auf die wir hoffen können. Einerseits wird humanitäre Hilfe wahrscheinlich endlich auch wieder belagerte Menschen erreichen in Syrien. Das sind wahrscheinlich etwa eine Million Menschen laut der Organisation Siege Watch (*) in übrigens 51 Orten, auch die vom Assad-Regime belagert und ausgehungert werden, und wir werden als zweite Entwicklung sehen, dass die wahllose Bombardierung von Wohngebieten mit Fassbomben, mit Brandbomben, Streumunition und Chlorgas durch das Regime erst mal zurückgeht. Das sind die positiven Entwicklungen, die sich auch schon andeuten. Heinrich: Sie haben den Abwurf von Fassbomben angesprochen. Kurz vor der Waffenruhe gab es noch diesen Abwurf. Wie realistisch ist es denn, dass dieser Abwurf jetzt tatsächlich gestoppt wird? Helberg: Tatsächlich ist noch nicht genau festgelegt, in welchen Gebieten das Assad-Regime gar nicht mehr bombardieren darf. Die USA und Russland wollen ja erst nach der Einhaltung in sieben Tagen sich darauf verständigen, wo sie nun die Nusra-Front, die sich umgenannt hat in die Jabhat Fateh al-Sham-Gruppe, weiter bekämpfen werden, und das ist ja auch der eigentliche Knackpunkt, dass man sagt, okay, wir konzentrieren uns auf den Kampf gegen den Terror. Russland hat den USA dieses Einverständnis abgerungen, das ist ein Punktsieg für Moskau ganz klar, denn jetzt werden international gemeinsam der IS und die Nusra-Front bekämpft werden, während alle anderen Rebellengruppen sich nun in dieser Woche distanzieren sollen von der Nusra-Front, was, wenn man sich die Realität am Boden anschaut, auch einigermaßen schwierig ist. "Beide haben sich nur darauf geeinigt, tatsächlich den IS und die ehemalige Nusra-Front zu bekämpfen" Heinrich: Den IS mal ausgenommen, die Nusra-Front mal ausgenommen - auf die können wir uns einigen, das sind die Terrorgruppen -, da gibt es doch noch eine ganze Reihe von anderen Gruppen. Wer ist denn damit gemeint? Wen möchte denn die USA, wen möchte denn Russland weiter bekämpfen? Helberg: Beide haben sich nur darauf geeinigt, tatsächlich den IS und die ehemalige Nusra-Front zu bekämpfen. Alle anderen Gruppen, also auch die radikal-islamistischen syrischen Gruppen, wie zum Beispiel Ahrar al-Sham in Aleppo, aber auch Einheiten der Freien Syrischen Armee, sollen sich jetzt distanzieren von der Nusra-Front. Das ist aber in der Praxis sehr schwierig, denn die Nusra-Front ist ihr wichtigster Verbündeter im Kampf gegen Assad. Und die USA haben keinerlei Garantien gegeben. Sie haben nicht angedeutet, wie sie die anderen Rebellengruppen dann unterstützen wollen im Kampf gegen Assad, sondern sie haben eigentlich nur gefordert, verlasst diese Nusra-Front, und jetzt stehen diese Kämpfer in Aleppo und sagen zu ihren Kameraden, mit denen sie gerade einen Korridor zur Versorgung Aleppos freigekämpft haben, tut uns leid, ab nächste Woche werdet ihr leider von Russland und den USA bombardiert, wir lassen euch jetzt hier mal stehen. Das ist schwierig, denn alle anderen Rebellengruppen befinden sich in einer Position der Schwäche, und da ist es für die eine oder andere womöglich ein politischer oder militärischer Selbstmord zu sagen, wir überlassen die Nusra-Front den Bombardierungen durch die USA und Russland. Das ist eine sehr schwierige Forderung, auch sehr einseitig, weil die USA eben nicht im gleichen Atemzug sagen, wir werden euch danach weiter unterstützen im Kampf gegen Assad. Heinrich: Ich höre da bei Ihnen sehr große Zweifel raus? Helberg: Ich habe Zweifel, weil diese Rebellengruppen natürlich auch schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Versprechungen seitens der USA, und jetzt sollen sie auf ihre Art Lebensversicherung, diese Nusra-Front, gerade verzichten als Unterstützer. Der Eindruck entsteht, dass sich Assads Wunschszenario in gewisser Weise erfüllt, nämlich die Rebellen, der zivile Widerstand sind ohnehin stark geschwächt. Sein Lieblingsfeind, nämlich die radikalen Dschihadisten des IS und der Nusra-Front, sind geblieben. Die werden nun vom Ausland bekämpft praktischerweise durch Russland und die USA. Das heißt, Assad kann sich darauf konzentrieren, in allen anderen Gebieten seiner Logik des sterbt oder ergebt euch zu folgen. Er kann weiterhin Gebiete aushungern, er kann weiterhin Gebiete nicht versorgen lassen durch die UNO, er kann weiterhin dort mit anderen Waffen womöglich versuchen, Rebellen auszuzehren und zur Kapitulation zu zwingen. Das haben wir gerade gesehen in dem Ort Darayya bei Damaskus, wo die letzten 8.000 Menschen sich ergeben haben, und dann hat eine politische Säuberung stattgefunden. Die Bewohner werden umgesiedelt, Assad loyale Bürger werden angesiedelt. Assad war gerade in dem Ort, stand auf Ruinen und hat erklärt, wer werde Syrien zurückerobern von allen Terroristen. Alle, die seine Macht infrage stellen, sind Terroristen. Und wenn man ihn bei dieser Strategie in Ruhe lässt, weil die USA und Russland nur den Terror im Blick haben des IS und der Nusra-Front, dann ist das für Assad ein gutes Szenario. Heinrich: Im Umkehrschluss heißt das, die USA unterstützen gerade Baschar al-Assad? Helberg: Nicht direkt natürlich. Aber indem sie sich nur auf den sunnitischen Extremismus konzentrieren - das ist aus Sicht vieler Syrer auch nicht nachvollziehbar, dass die diversen schiitischen extremistischen Gruppen in Syrien einfach ignoriert werden, denn auf Assads Seite kämpfen ja längst nicht mehr vor allem Syrer, sondern schiitische Milizionäre aus dem Iran, aus dem Irak, aus Afghanistan, der libanesischen Hisbollah. Alle diese Gruppen werden ignoriert. Sie werden als selbstverständlicher Teil der Assad-Front wahrgenommen, während man auf der anderen Seite sunnitische Extremisten bekämpft. Im schlimmsten Fall bringen wir damit die Sunniten insgesamt gegen den Westen auch auf. Die fühlen sich verraten und verkauft und dieser Eindruck, wenn der jetzt obsiegt, dann ist es tatsächlich so: In erster Linie wäre dann diese Waffenruhe oder diese Einigung erst mal ein Punktgewinn auch für Assad. "Eine Art letzte Chance für die Vereinten Nationen, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen" Heinrich: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass man sich so auf die Sunniten konzentriert? Helberg: Ich denke, dass kurz vor der US-Wahl im November John Kerry, der amerikanische Außenminister, noch mal versucht hat, irgendwie einen Fußabdruck zu hinterlassen in diesem Konflikt. Er stand vor der Wahl, entweder den Syrien-Krieg jetzt komplett Russland und dem Iran zu überlassen international, oder zumindest noch einmal etwas zu tun für die humanitäre Versorgung der Menschen. Ich sehe tatsächlich die Waffenruhe auch als eine Art letzte Chance für die Vereinten Nationen, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, Unabhängigkeit in Syrien zurückzugewinnen. Sie sind stark in der Kritik, gerade international, denn tatsächlich definiert Baschar al-Assad, wo und wem in Syrien geholfen wird. Die UN-Organisationen in Damaskus haben sich unterworfen diesem Mandat des Assad-Regimes und sie müssen jetzt die Waffenruhe dafür nutzen, tatsächlich alle abgeriegelten Menschen zu erreichen und nicht länger auf die Genehmigungen aus Damaskus zu warten. Auf die müssen sie nicht warten, es gibt UN-Resolutionen, die Hilfslieferungen zulassen auch ohne Okay aus Damaskus. Das haben die UN bisher nicht getan. Sie haben ihre Unabhängigkeit verloren in Syrien und sollten jetzt zumindest diese Chance nutzen, alle Menschen zu versorgen, egal ob Assad das gefällt oder nicht. Nur dann wären sie wieder glaubwürdig. Heinrich: Das sagt die Syrien-Expertin Kristin Helberg. Vielen Dank, Frau Helberg. Helberg: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. (*) In einer früheren Version der Abschrift war der Name der Organisation irrtümlich als "Seawatch" transkribiert worden.
Kristin Helberg im Gespräch mit Daniel Heinrich
Durch die von USA und Russland vereinbarte Feuerpause könnte sich Assads Wunschszenario erfüllen, meint die Journalistin und ehemalige Damaskus-Korrespondentin Kristin Helberg. Seine Lieblingsfeinde würden nun vom Ausland bekämpft. Dadurch könne sich der Machthaber in anderen Gebieten auf seine Logik "des sterbt oder ergebt euch" konzentrieren, sagte Helberg im DLF.
"2016-09-12T23:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:02.253000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/waffenruhe-in-syrien-assad-kann-weiterhin-gebiete-aushungern-100.html
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Verweigerte Comey Trump die Loyalität?
Im Januar wurden noch Hände geschüttelt: Donald Trump und James Comey. (imago/ZUMA Press) Die New York Times hat ihre Informationen aus dem Umfeld des entlassenen FBI-Direktors. Zwei Vertraute berichteten demnach, dass Trump Comey im Januar zu einem Abendessen ins Weiße Haus bestellt habe. Trump soll den FBI-Direktor dabei gefragt haben, ob er ihm die Treue schwört. Comey habe dies verweigert. Stattdessen versprach er Trump der Darstellung zufolge, stets ehrlich mit ihm zu sein. Wie Comeys Vertraute der Zeitung weiter berichteten, habe Trump den Behördenchef daraufhin zu einem Versprechen der "ehrlichen Loyalität" gedrängt. Comey soll dem Präsidenten geantwortet haben: "Die werden Sie haben." Trump hatte die Loyalität seiner Mitarbeiter während seiner Unternehmer-Laufbahn stets zur höchsten Priorität gemacht. Weißes Haus widerspricht dem Bericht Das Weiße Haus hat die Darstellung der Zeitung zurückgewiesen. Trump beschrieb den Verlauf des Abendessens in einem Interview mit dem Sender NBC anders. Er betonte, dass der FBI-Chef auf dem Treffen bestanden habe, die Frage nach der Loyalität aber nicht aufgekommen sei. Allerdings blieb unklar, ob der US-Präsident über dasselbe gemeinsame Essen sprach; andererseit sollen sich beide aber auch nur einmal dazu getroffen haben. Die beiden Vertrauten berichteten der "New York Times" zudem, Comey sehe Trumps Verhalten während des Abendessens als symbolisch für dessen Präsidentschaft. Der Unternehmer und Reality-TV-Star habe aufgrund seiner mangelnden Erfahrung mit öffentlichen Ämtern nicht verstanden, dass Direktoren der US-Bundespolizei traditionell keine politischen Loyalisten sein sollten. Nicht umsonst habe der Kongress in den 1970er Jahren ein Gesetz für eine zehnjährige Amtszeit von FBI-Chefs verabschiedet, um sie unabhängig vom Präsidenten zu machen. Der Bericht der "New York Times" sorgte auf Twitter für zahlreiche Kommentare:
null
Der gefeuerte FBI-Direktor James Comey soll sich bereits vor Monaten geweigert haben, US-Präsident Trump die Treue zu schwören. Die "New York Times" berichtet, Comey habe ihm lediglich versprochen, ehrlich zu sein. Das Weiße Haus widerspricht der Darstellung.
"2017-05-12T06:01:00+02:00"
"2020-01-28T10:27:27.365000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/entlassener-fbi-chef-verweigerte-comey-trump-die-loyalitaet-100.html
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US-Delegation will Vertrauen in Berlin herstellen
Der Leiter der kleinen Delegation, der demokratische Senator Chris Murphy versucht die Erwartungen klein zu halten. "Ich möchte nicht überbewerten, was man in einem zweitägigen Besuch erreichen kann", so der Amerikaner vor seiner Abreise gegenüber der Agentur AFP. Den vollständigen Beitrag können Sie in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
Von Sabrina Fritz
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind seit der NSA-Spionageaffäre belastet. Eine US-Delegation soll sich nun in Berlin, mit Außenminister Westerwelle, Innenminister Friedrich und Abgeordnete austauschen und das Vertrauen wiederherstellen.
"2013-11-25T00:00:00+01:00"
"2020-02-01T16:47:09.056000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nsa-spionage-us-delegation-will-vertrauen-in-berlin-100.html
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Europa im Alarmzustand
In Brüssel werden nach dem Anschlag auf eine Metro-Station Straßen evakuiert. Die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben. (dpa / picture alliance / BELGA PHOTO LAURIE DIEFFEMBACQ ) Nach den Anschlägen von Brüssel wurde schnell die Forderung erhoben, die Sicherheitsbehörden müssten besser zusammenarbeiten, um solche Vorfälle zu verhindern. Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, hält dies ebenfalls für notwendig. Er plädierte für einen engeren Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden in Europa. Es mangele jedoch an Ressourcen: "Wirklich Sicherheit zu produzieren kostet Geld", so Wendt. Auch der Grünen-Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht konstatierte, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden sei nicht dort, wo sie sein könne. Es brauche nicht noch größere und unnütze Datensammlungen, sondern eine echte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Außerdem müssten die EU-Mitgliedsländer bereits vereinbarte Regelungen in der Sicherheitspolitik endlich umsetzen. Was darüber hinaus fehle, sei eine Evaluation bereits bestehender Maßnahmen auf ihre Effektivität. Vorgehen des IS "sehr viel intelligenter" als früher Der Spiegel-Reporter Christoph Reuter warnte, der IS gehe mittlerweile "sehr viel intelligenter" vor als andere Terrororganisationen in der Vergangenheit. Attentäter seien den Behörden oftmals bis zu Anschlägen unbekannt. Die Rekrutierung von neuen Anhängern laufe sehr diskret ab - außerdem würden nicht nur Rückkehrer aus den Bürgerkriegsgebieten zu fanatischen Kämpfern rekrutiert. Genau an dieser Stelle setzt die Arbeit von Thomas Mücke an. Er arbeitet beim Violence Prevention Network, das junge Menschen frühzeitig vor einer Radikalisierung bewahren will. Man müsse deutlich mehr Aufklärung betreiben, so seine Forderung. Außerdem gebe es das Problem der Radikalisierung nicht nur unter sozial isolierten Gruppen. Die Propaganda des IS spreche auch Jugendliche an, die nicht aus schwierigen Verhältnissen kämen. Zur Diskussion live aus dem Deutschlandradio-Studio Brüssel Gesprächspartner: Jan Philipp Albrecht, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen Thomas Mücke, Violence Prevention Network Christoph Reuter, SPIEGEL-Reporter und Autor des Buches "Die schwarze Macht" Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft
Diskussionsleitung: Jörg Münchenberg
Schon wieder Terror in Europa: mitten in Brüssel, der europäischen Hauptstadt. Die Attentate mit vielen Toten und Verletzten zeigen, dass die Zeit der Terrorgefahr durch Islamisten noch lange nicht zu Ende ist. Politiker, Sicherheitsexperten und Bürger müssen sich fragen, wie freie Gesellschaften auf diese Bedrohung reagieren sollen.
"2016-03-23T19:15:00+01:00"
"2020-01-29T18:20:14.001000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-den-anschlaegen-von-bruessel-europa-im-alarmzustand-100.html
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"Ein religiöses Ritual"
Doch die Sängertradition ist für viele Esten Teil ihrer nationalen Identität (imago images / Scanpix / EESTI MEEDIA / MIHKEL MARIPUU) In der Altstadt von Tallinn liegt der Toompea, der Domhügel – Sitz des Riigikogu, des estnischen Parlaments. An diesem Abend wandern hunderte Menschen, teils in Volkstrachten den Berg hoch Richtung Riigikogu und singen. Die estnische Dirigentin Heli Jürgenson stimmt die Lieder an, der junge Nachwuchsdirigent Valter Soosalu trägt eine fast zwei Meter lange Fackel. Das Laulupidu steht bevor, das alle fünf Jahre stattfindende Sängerfest – und die estnische Hauptstadt bereitet sich darauf vor: mit einer Prozession, einem Fackellauf. Einer der Ecktürme des Riigikogu ist besonders berühmt, der Pikk Hermann, der Lange Hermann. Zweimal täglich ist er der Schauplatz eines Rituals. Die estnische Flagge wird jeden Morgen gehisst und abends wieder eingeholt. Jeden Abend läuft ein Auszug aus dem berühmten Lied "Mu isamaa on minu arm" des estnischen Komponisten Gustav Ernesaks. "Botschaft einer Gemeinschaft an sich selbst" An diesem Abend jedoch hat das Ritual eine besondere Bedeutung: Der Präsident des estnischen Parlaments nimmt die Fackel entgegen und lässt sie in den Pikk Hermann tragen, wo sie über Nacht bleibt. Seit Wochen wurde die Flamme durch das ganze Land getragen. In den kommenden Tagen wird sie – ähnlich wie beim Olympischen Feuer - zum Lauluväljak, zur Sängerwiese gebracht und dort bis zum Ende des mehrtägigen Festes gut sichtbar auf einem Turm Tag und Nacht brennen. Ähnlich dem Olympischen Feuer brennt die Flamme am Lauluväljak, der Sängerwiese, während des mehrtägigen Festes (imago images / Scanpix / MIHKEL MARIPUU / EESTI MEEDIA) "Es geht nicht nur um das Konzert, die Musik. Es ist eine Botschaft, es ist ein Ritual. Jedes kulturelle Ritual ist eine Botschaft einer Gemeinschaft an sich selbst. Das Ritual ist nicht für Außenstehende, es ist keine Performance." "Die halbe Nation teilt diese Erfahrung" Marju Lauristin ist eine der wichtigsten Figuren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung Ende der 80er-Jahre. Sie hat nicht nur die Singende Revolution selbst erlebt und aktiv mitgestaltet, die promovierte Sozialwissenschaftlerin hat die Bedeutung des Laulupidu für die estnische Gesellschaft in einem aktuellen Forschungsprojekt untersucht. "In einer repräsentativen Umfrage haben wir Leute zwischen 15 und 90 Jahren gefragt, was sie mit dem Sängerfest verbinden. Das Ergebnis hat selbst uns überrascht. 48 Prozent der Befragten haben bereits als Sänger daran teilgenommen. Heißt also, die halbe Nation teilt diese Erfahrung, auf diese Art miteinander verbunden zu sein. Auf die Stimmen der anderen zu hören, mit ihnen harmonisch zu klingen. Vor 150 Jahren hat diese Tradition begonnen, und in all diesen Jahren haben all diese Menschen die gleichen Erfahrungen geteilt." Rund 23.000 Sängerinnen und Sänger Der Lauluväljak, die Sängerwiese liegt am nordöstlichen Stadtrand von Tallinn, nahe der Ostsee. Die beeindruckende Laululava, die Bühne, ist wie eine gewaltige Muschel geformt und funktioniert dadurch wie ein riesiger, natürlicher Verstärker. Die Wiese steigt nach hinten hin leicht an, was den Effekt eines Amphitheaters erzeugt, was auch an Massengottesdienste bei Kirchentagen oder Papstmessen denken lässt. Nicht bei allen Liedern stehen alle der rund 23.000 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne. Der rasche Wechsel der unterschiedlichen Besetzungen ist ein organisatorischer Kraftakt. Die Bühne wirkt durch ihre Form wie ein riesiger Verstärker (Deutschlandradio / Benedikt Schulz) Die stundenlangen Konzerte folgen strengen Regeln, vor jedem Lied werden die Namen von Komponisten und Dirigenten genannt. Die Dirigenten werden dabei wie Stars gefeiert. Viele der Lieder – wie das des 1991 geborenen Rasmus Puur "Maa, mida armastan!", auf Deutsch: "Das Land, das ich liebe", handeln vom Vaterland, von der Sehnsucht nach der Heimat, vor allem aber immer wieder: von der Schönheit der estnischen Natur. Schauplatz der Singenden Revolution Das Laulupidu ist dabei keine Folklore-Veranstaltung, ganz im Gegenteil. Neben alten Liedern stehen in der Mehrzahl neue Kompositionen. Schon das erste Sängerfest vor 150 Jahren habe ein künstlerisch anspruchsvolles Repertoire gehabt, sagt die estnische Sozialwissenschaftlerin Marju Lauristin. Im Jahr 1989 demonstrierten Hunderttausende in einer mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette singend für Unabhängigkeit von der Sowjetunion. (dpa / picture alliance / Novosti) Der Lauluväljak, die Sängerwiese, ist ein wichtiger Schauplatz der Singenden Revolution. Hier kamen in den Monaten Juni bis September 1988 immer wieder tausende Menschen zusammen, um estnische Lieder zu singen, um die estnische Fahne zu schwenken. Etwas, was während der Zeit der sowjetischen Okkupation verboten war – in der Endphase der Sowjetunion aber möglich wurde. Das Sängerfest ist der sichtbarste Ausdruck dafür, welche Bedeutung das Singen für die Esten auch in der Gegenwart noch hat. Esten gelten im Allgemeinen als zurückhaltend, introvertiert, als wenig emotional. Doch auf dem Laulupidu erlebt man sie völlig anders. Wenn die Sängerinnen und Sänger "Mu isamaa on minu arm" singen, laufen ihnen die Tränen das Gesicht herunter. "Mu isamaa on minu arm", zu Deutsch: "Mein Vaterland ist meine Liebe" ist Estlands inoffizielle Nationalhymne und das zentrale Lied, das jedes Sängerfest seit Jahrzehnten beschließt. "Es ist wie ein religiöses Ritual" "Das Sängerfest ist wirklich ein Zusammenkommen des estnischen Volkes", sagt Sigrid Parts. Sie unterrichtet an einer Wirtschaftshochschule in Tallinn. "Wenn man sonst sagt, Esten sind sehr individualistisch, nicht sehr sozial, beim Singen, das ist wirklich etwas, was uns zusammenbringt, was wir alle gemeinsam verstehen. Wo wirklich alle ihre Seele öffnen und wo man machen kann, was unserem Volk ureigen ist, das Singen." Das Singen verbindet Generationen – und das Ritualhafte des Laulupidu, das gemeinschaftsstiftende Potenzial ist etwas, was die Religionsgemeinschaften im Land niemals erreicht haben. Es geht über Nationalismus hinaus und trägt selbst religiöse Züge. Die Esten sind stolz auf ihr Land und seine Traditionen (Deutschlandradio/ Benedikt Schulz) "Das Sängerfest ist eigentlich kein Chorfest. Es ist ein religiöses Ritual." Sagt der 1988 geborene estnisch-kanadische Komponist Riho Esko Maimets. Er hat für das Laulupidu 2019 das Lied "Mu arm", komponiert, basierend auf einem Gedicht des estnischen Dichters Ernst Enno. "Ernst Enno ist mein Lieblingsdichter, gerade weil er so tief spirituell ist. Und sehr religiös in der Art, wie er über die Natur, über Gott, über das Leben spricht." Spiritualität in einem atheistischen Land Estland gilt gemeinhin als atheistisches Land. Zwar ist die lutherisch-evangelische Kirche seit Jahrhunderten in der Region der heutigen baltischen Staaten präsent, aber vor allem in Estland spielt Religion laut Statistiken praktisch keine Rolle. "Ehrlich gesagt, glaube ich, diese Statistiken sind bedeutungslos. Nur weil du eine Kirche hast, weil du Christ bist, getauft bist, das alles sagt nichts darüber aus, ob du religiös bist oder nicht. In meinen Augen sind Esten ein tief spirituelles Volk. Sie gehen in den Wald um zu beten, sie haben eine Beziehung zur Natur, zum Meer, sie singen über die Natur, sie schreiben Gedichte darüber. Estland ist also im Gegenteil ein religiöses Volk. Das Sängerfest hat auch mit Politik nichts zu tun, es ist religiös, es ist ein zutiefst heiliges Fest. Gestern, als ich der Musik zugehört habe, hatte ich den Gedanken: Näher kommt man nicht ran an das, was es heißt, Este zu sein. Die Art wie der Klang vibriert - das ist die tiefste Essenz dessen, was uns Esten ausmacht. Es ist nicht politisch, es ist vielmehr wie ein Altar, an dem die Leute die Kommunion empfangen."
Von Benedikt Schulz
Vor 30 Jahren, am 23.8.1989, erlebte die "Singende Revolution" im Baltikum ihren Höhepunkt. Eine 600 km lange Kette singender Menschen erstreckte sich von Vilnius bis Tallinn. Die Esten sagen, sie hätten sich zur Freiheit gesungen. Singen ist ihnen wichtig, und das Sängerfest hat religiöse Züge.
"2019-08-23T09:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:20.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/saengerfest-in-tallinn-ein-religioeses-ritual-100.html
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Klare Absage an die Datengier
Facebook missbrauche seine beherrschende Stellung, hat das Bundeskartellamt befunden (dpa / Monika Skolimowska) Die Entscheidung des Bundeskartellamts ist eine klare Ansage an Facebook: Laut Behörde sammelt und verknüpft der Social- Media-Konzern zu viele Daten zum Beispiel über den "Gefällt mir"-Button auf fremden Websites oder über die eigenen Dienste wie Whatsapp oder Instagram. Das müsse sich ändern, so Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts. "Der Kern ist also eine Verhinderung der Zusammenführung all dieser Daten, die Facebook von uns sammelt. Die Daten verbleiben dann sozusagen, wenn man sich das bildlich vorstellen kann, bei diesem einzelnen Dienst und dürfen auch nur dort verarbeitet und auch nur dort genutzt werden." Drei Jahre hat das Verfahren des Bundeskartellamtes gegen Facebook gedauert, aus dem hervorgeht: Zwar dürfe Facebook Nutzerdaten weiter sammeln, aber, so Mundt: "Sie dürfen in Zukunft all diese Daten nur noch zusammenführen unter der Bedingung, dass der Nutzer in diese Zusammenführung wirklich einwilligt." Künftig ausdrücklicher Widerspruch möglich Konkret heißt das: Nutzer sollen in Zukunft ausdrücklich widersprechen können, dass zum Beispiel ihre Whatsapp-Daten mit ihrem Facebook-Profil verknüpft werden dürfen. Wie das konkret aussehen soll? Noch unklar. Mit etwa 30 Millionen privaten Nutzern jeden Monat und einem Marktanteil von 80 Prozent gäbe es keine Alternative zu Facebook. Der Anbieter besitze in Deutschland eine marktbeherrschende Stellung und missbrauche diese, so Mundt. "Was wir hier vornehmen, ist letztlich nichts anderes als eine Art interne Entflechtung oder Zerschlagung von Facebook hinsichtlich der Verarbeitung der Daten bei diesem Unternehmen." Facebook muss sein Geschäftsmodell ändern, so das Kartellamt. "Um das beanstandete Verhalten abzustellen" wie es heißt, gibt die Behörde dem Konzern zwölf Monate Zeit. Bereits in den nächsten vier Monaten soll Facebook erste Lösungsvorschläge präsentieren. Der Konzern selbst hat bereits erwägt, gegen die Entscheidung des Kartellamtes juristisch vorzugehen. Richtungsweisende Entscheidung Der Social-Media-Anbieter argumentiert, er habe keine marktbeherrschende Stellung und verstoße auch nicht gegen die EU-Datenschutzgrundverordnung. Ob diese eingehalten werde, dafür seien außerdem Datenschutzbehörden und nicht Wettbewerbshüter zuständig, so Facebook. Die Bundesjustiz- und Verbraucherschutzministerin Katarina Barley indes begrüßte die Entscheidung des Bundeskartellamtes, die Verknüpfung der Daten einzuschränken. Zustimmung kommt auch von Verbraucherschützern und vom neuen Bundesdatenschutzbeauftragen Ulrich Kelber: Das vorliegende Verfahren zeige, wie eng Datenschutz und Kartellrecht verwoben seien. Konzerne wie Facebook könnten nicht einfach so weiter machen wie bisher, so Kelber. Die Grünen sprechen von einer richtungsweisenden Entscheidung. Und die FDP betont, dass die "Absage an eine ungebremste Datensammelwut überfällig" gewesen sei.
Von Panajotis Gavrilis
Facebook darf nicht mehr ungebremst Daten von Internetnutzern sammeln und verwerten. Der US-Konzern hat nach Ansicht des Bundeskartellamts seine beherrschende Stellung als Internet-Netzwerk unrechtmäßig ausgenutzt. Während Politiker und Verbraucherschützer zufrieden sind, hat Facebook juristische Beschwerde angekündigt.
"2019-02-07T12:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:36:49.166000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/facebook-und-die-nutzerdaten-klare-absage-an-die-datengier-100.html
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Künstliche Befruchtung ohne Hormonbehandlung
Damit die In-Vitro-Fertilisation gelingt, müssen sich die Frauen, bevor ihnen reife Eizellen entnommen werden, erst einer Hormonbehandlung unterziehen, damit auch genügend Eizellen heranreifen. Das ist für die Betroffenen physisch wie psychisch gleichermaßen belastend. Vor allem, wenn der Erfolg ausbleibt.In Mannheim fand in der vergangenen Woche ein Kongress der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie statt, auf der es u.a. auch um diese Problematik ging. Carsten Schroeder interviewte Prof. Thomas Strowitzki, Kongresspräsident und Chefarzt der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Fertilisationsstörungen am Universitätsklinikum Heidelberg.sie können das Interview mindestens fünf Monate in unserem Audio-on-Demand-Player nachhören
Carsten Schroeder im Gespräch mit Prof. Thomas Strowitzki
Die In-Vitro-Fertilisation, also die Befruchtung im Reagenzglas, ist zwar ein scheußlicher Begriff, aber sie ermöglicht es ungewollt kinderlos gebliebenen Paaren, Nachwuchs zu bekommen. Allerdings ist der Weg dahin keineswegs so einfach, wie es in der Theorie klingt.
"2012-03-13T10:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:45:42.188000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kuenstliche-befruchtung-ohne-hormonbehandlung-100.html
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Korrupt und ungestraft
"1.000, 2.000, 3.000...", zwei Männer zählen offensichtlich Geldscheine. "12.000, zwei Millionen Pesetas", freuen sie sich am Ende über die Summe. Einer Strafanzeige der Vereinigten Linken zufolge zählen hier Alfonso Rus, Vorsitzender des Departements Valencia, und ein Vertrauter illegale Provisionen für die Vergabe öffentlicher Aufträge. Es ist nur ein Fall von vielen. Die seit Jahrzehnten konservativ regierte Region Valencia ist eines der Epizentren für die Korruption in Spanien. Und doch haben die Wähler vor vier Jahren die absolute Mehrheit des Partido Popular bestätigt. José Pablo Ferrandiz vom Meinungsforschungszentrum Metroscopia erläutert: "In unseren Umfragen zur Korruption fordern die Leute, dass die Parteien niemanden in die Wahllisten aufnehmen dürfen, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft. Und dann sagen sie trotzdem, dass sie mehrheitlich die Volkspartei wählen, also genau die Partei mit den meisten Korruptionsverfahren. Und wenn wir fragen: Wer verteidigt am glaubwürdigsten die Interessen der Menschen in Valencia? Da liegt die Volkspartei ebenfalls ganz weit vorne." Am Sonntag werden Valencias Konservative Umfragen zufolge zwar die absolute Mehrheit im Regionalparlament verlieren. Aber sie hätten mit mehr als 30 Prozent weiterhin das beste Wahlergebnis. In Andalusien wiederum regieren die Sozialisten. Hier sollen hohe Regierungsbeamte Fonds für Arbeitslose in die eigenen Taschen umgeleitet haben. Trotzdem haben die Andalusier bereits vor zwei Monaten die Sozialisten mit 36 Prozent der Stimmen wieder zur stärksten Kraft gemacht. Die beiden neuen Parteien Podemos und Ciudadanos – angetreten als Saubermänner – sind jetzt zwar für die Mehrheitsbildung wichtig, aber hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben. "In Andalusien sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land besonders groß. Ciudadanos und Podemos werden vor allem von Städtern gewählt. Aber in Andalusien leben viele Wähler auf dem Land. Dort sind die andalusischen Sozialisten besonders stark. Viele Menschen hängen dort von Jobs in der öffentlichen Verwaltung ab. Das mag man Korruption nennen. Sicher ist: Es ist sehr kompliziert, dass andere Parteien in diesen ländlichen Gebieten einen Wandel erreichen können." Auch in der Region Madrid bleiben die Anhänger den Politikern der Volkspartei in schwierigen Zeiten treu. Spaniens Konservative könnten zwar die Hauptstadt verlieren, aber im deutlich einflussreicheren Regionalparlament werden sie den Umfragen zufolge stärkste Kraft bleiben. Und das, obwohl hier sogar Ex-Vizeministerpräsident Francisco Granados in Untersuchungshaft sitzt. Auch er soll bei Auftragsvergaben mitverdient haben. Weder das Wahlprogramm der Partei noch ihre Politiker erwähnen das Thema Korruption. Trotzdem schwenkt dieser Mann weiterhin die Fahne des Partido Popular: "Schwarze Schafe gibt es überall. Diese Leute sind schon als Verbrecher auf die Welt gekommen und jetzt schaden sie der Volkspartei. Aber sie sind wenigstens im Gefängnis. Die Verbrecher der Sozialisten nicht." Etwas abseits stehen zwei Frauen mit ihren Hunden. Sie hoffen eher auf ein gutes Ergebnis für Podemos. Doch sie sind skeptisch. Eine von ihnen kommentiert die Umfragewerte mit einer spanischen Redensart. "Wer einen Kuli klauen kann, klaut ihn. Und wer ein Bündel Geldscheine mitnehmen kann, nimmt die Scheine. So war das bei uns schon immer. Anders kann ich mir das nicht erklären." "Wir stehen vor einer ganz neuen politischen Landschaft" Bei den landesweiten Kommunalwahlen wird die Summe der vergebenen Stimmen als wichtiges Stimmungsbarometer gewertet. Auch hier wird die Volkspartei die meisten Stimmen hinter sich vereinen, die Sozialisten werden zweitstärkste Kraft bleiben, prognostiziert Demoskop Ferrándiz. Dennoch glaubt er an einen Neuanfang: "Wir stehen vor einer ganz neuen politischen Landschaft. Selbst der vermeintliche Wahlsieger wird viel Macht in den Regionen und den Städten verlieren. Denn es kommen mit Podemos und Ciudadanos zwei neue landesweite Parteien hinzu. Alle werden miteinander sprechen müssen, die Zeit der absoluten Mehrheiten ist vorbei. Natürlich werden sich alle etwas Positives aus dem Ergebnis heraussuchen. Aber unterm Strich wird es trotz allem gerade für die Volkspartei ein Desaster." Ob die Parteien das Ergebnis jedoch auch als Quittung für die Korruptionsfälle verstehen werden, bleibt abzuwarten.
Von Hans-Günter Kellner
Im Regionalparlament in Valencia wird die spanische Partido Popular Umfragen zufolge stärkste Kraft bleiben - und das, obwohl es die Partei ist, gegen deren Mitglieder die meisten Korruptionsverfahren laufen. Und obwohl die Bevölkerung angibt, Korruption in der Politik eigentlich stärker bestrafen zu wollen.
"2015-05-21T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:38:00.774000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-den-regionalwahlen-in-spanien-korrupt-und-ungestraft-100.html
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Westbalkan blickt auf Katalonien
Auch in der bosnischen Teilrepublik Srpska wird die Entwicklung in Katalonien genau beobachtet. Der Präsident der bosnischen Serben Milorad Dodik droht seit Jahren mit einem Referendum über eine Loslösung seines Teilstaats von Bosnien Herzegowina. (picture-alliance/dpa/apa/Georg Hochmuth) Der ehemalige Präsident und Vater der slowenischen Unabhängigkeit Milan Kučan sieht nur wenig Parallelen zwischen der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung und dem Austritt seines Landes aus dem Bundesstaat Jugoslawien: "Wir hatten jedes Recht zu gehen, denn wir sind freiwillig beigetreten und freiwillig sind wir auch gegangen." Ähnliche Töne kommen auch aus Kroatien, dass sich 1991 für unabhängig erklärt. Es habe sich damals um den Zerfall eine Staates gehandelt, aus dem neue Staaten entstanden sind heißt es aus dem kroatischen Außenministerium. Kroatien halte den Fall für eine innerspanische Angelegenheit und hoffe, dass sich die Frage im Einklang mit der spanischen Verfassung lösen lässt. Vučić prangert "schreiende Doppelmoral" der EU an Auch Serbien stärkt der Madrider Zentralregierung den Rücken ist damit voll auf EU-Linie. Gleichzeitig empört sich Staatspräsident Aleksandar Vučić aber auch über die EU mit Blick auf die von Belgrad abgelehnte Eigenständigkeit der ehemals serbischen Provinz Kosovo: "Ich weiß, dass es jedem Serben schwer fällt, diese schreiende Doppelmoral anzusehen, die jeden Tag aufs Neue den Respekt vor der staatlichen Integrität einfordert. Weil zu mir kommen sie jeden Tag mit dem Satz: Du, Vučić, musst die territoriale Integrität des Kosovo respektieren. Moment mal, die Integrität Serbiens vor neun Jahren musste nicht respektiert werden?" Doch der Vergleich hinkt, sagt Professor Florian Bieber vom Grazer Zentrum für Südosteuropastudien. Der Unabhängigkeit Kosovos sei neben dem Krieg 1998 ein Jahrzehnt der Apartheid vorausgegangen. Damit sei eine Grundlage für die Abspaltung von Serbien geschaffen worden: "Das ist ein ganz dramatischer Unterschied zu Katalonien, wo zunächst einmal nicht einmal eine knappe Mehrheit für die Unabhängigkeit ist, wo viele Katalanen sich mit Spanien identifizieren, wo es in der jüngeren Vergangenheit keine Geschichte der Unterdrückung und der extremen Diskriminierung gegeben hat, wie das im Kosovo der Fall war." Auch die bosnische Teilrepublik Srpska will sich abspalten Auch in der bosnischen Teilrepublik Srpska wird die Entwicklung in Katalonien genau beobachtet. Der Präsident der bosnischen Serben Milorad Dodik droht seit Jahren mit einem Referendum über eine Loslösung seines Teilstaats von Bosnien Herzegowina. Im Gegensatz zum Kosovo wird er dabei von der internationalen Gemeinschaft nicht unterstützt. Darin erkennt auch er eine Doppelmoral: "Einmal geht es, ein anderes Mal nicht, ein drittes Mal geht es wieder, und wenn es um uns geht, wird es wieder nicht gehen." Die Republik Srpska ist bei der eigenen Unabhängigkeit auf die Unterstützung Serbiens angewiesen, was Serbien wiederum in einer schwierige Lage bringt, sagt Florian Bieber vom Grazer Zentrum für Südosteuropastudien: "Wenn man eine Anerkennung der Republik Srpska anstreben würde, kann man eigentlich kaum die Loslösung Kosovos ablehnen. Da besteht ein gewisses Spannungsverhältnis in der eigenen Vorstellung von einem zukünftigen Staat." Sympathien für Separatisten auch in anderen Provinzen Auch in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens gibt es auch heute noch separatistische Bewegungen, etwa in der kroatischen Provinz Istrien, der hauptsächlich von Muslimen bewohnten serbischen Region Sandžak oder der Vojvodina, die als autonome Provinz Teil Serbiens ist. Hier gibt es durchaus Sympathien für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung. In der Vojvodina wehten am Tag des dortigen Referendums gar katalanische Flaggen. Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien glaubt aber nicht daran, dass der Fall Katalonien auch in Südosteuropa ernste politische Folgen haben wird: "All diese Bewegungen sind im Großen und Ganzen nicht mehr relevant, das heißt es gibt dort kaum politisch relevante Akteure, die eine Loslösung von dem jeweiligen Staat anstreben Sie haben gesehen, dass man damit keine Chance auf Erfolg hat. Lediglich wenn Katalonien erfolgreich die Unabhängigkeit erreichen würde, dann wäre es vielleichteine Ermutigung, aber das lässt sich momentan kaum absehen."
Von Srdjan Govedarica
Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind in den vergangenen drei Jahrzehnten viele neue Staaten entstanden - bis heute gibt es in der Region separatistische Bewegungen. Die Entwicklung in Katalonien wird deshalb dort genau beobachtet.
"2017-11-02T09:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:59:13.311000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/seperatistische-bewegungen-westbalkan-blickt-auf-katalonien-100.html
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Der Export boomt, aber: Wie lange?
Es lag am guten Jahresauftakt 2012, dass die Billionengrenze beim Export diesmal schon einen Monat früher fiel. Doch insgesamt war der Jahresschluss eher trübe. Die Ausfuhren summierten sich im November 2012 auf gut 94 Milliarden Euro, die Einfuhren auf gut 77 Milliarden Euro. Die Importe legten leicht zu, die Exporte stagnierten. Kalender- und saisonbereinigt, so das Statistische Bundesamt, seien die Ein- und Ausfuhren gegenüber dem Oktober 2012 sogar um mehr als drei Prozent gesunken."Das war ja eigentlich schon absehbar. Denn wir hatten ja schon zuvor Rückgänge bei den Auftragseingängen insbesondere aus dem Ausland. Die Exporte haben hier eigentlich nur noch drauf reagiert."Sagt Stefan Mütze, Konjunkturbeobachter der Landesbank Hessen-Thüringen. Fast 38 Prozent aller Ausfuhren gingen zwischen Januar und November vorigen Jahres in die Länder der europäischen Währungsunion, gut 44 Prozent aller Importe kamen von dort. Die deutsche Außenhandelsbilanz mit diesen Ländern war ausgeglichener als früher. Denn die Exporte dorthin sanken. Die Einfuhren von dort nahmen dagegen zu. Das hat mit der Textilindustrie auch eine Branche gemerkt, die von morgen an die erste große Messe des Jahres in Frankfurt ausrichtet. Barbara Schmidt-Zock vom Verband der Deutschen Heimtextilienindustrie ist nicht so glücklich beim Blick zurück auf die Exportchancen ihrer Branche:"Unsere Industrie exportiert zum Großteil noch in den europäischen Raum. Insbesondere in Südeuropa spürten wir die Folgen der Eurokrise. Da lief es mit dem Export nicht wie erhofft. Wir hatten rückläufige Exportumsätze."Umgekehrt ist aber auch auf der Messe "Heimtextil" spürbar, dass die südeuropäischen Problemländer ihr Heil vermehrt im Export suchen. Messegeschäftsführer Detlef Braun beobachtete etwa bei den italienischen Textilfirmen:"In Italien - die Binnennachfrage geht zurück. Das heißt: Die italienischen Anbieter suchen Exportplattformen. Und da ist die 'Heimtextil' die internationalste Exportplattform."Die deutschen Exporteure, die in Südeuropa die Krise zu spüren bekamen und weniger absetzen konnten, wandten sich anderen Märkten zu, vor allem China und auch wieder Amerika. Das klappte gut. Die Exporte in die nichteuropäischen Drittländer schnellten – vor allem dank der anspringenden Konjunktur in den Vereinigten Staaten – zwischen Januar und November vorigen Jahres um mehr als zehn Prozent nach oben. Das könnte sich fortsetzen. Auch Helaba-Volkswirt Mütze setzt auf den Export als Konjunkturmotor im neuen Jahr:"Wir gehen davon aus, dass wir in den Ländern wie den USA weiteres Wachstum zwischen zwei und drei Prozent sehen werden. Bei China zum Beispiel haben wir auch bei den Frühindikatoren eine klare Trendwende nach oben. Also auch hier sind wir relativ optimistisch. Und bei den Problemländen gehen wir für 2013 davon aus, dass die Länder Italien und Spanien zwar noch einmal rückläufig sein werden. Aber nicht mehr so stark rückläufig wie im Jahr 2012."Aktuelle Daten passen dazu: Zwar haben die deutschen Industrieunternehmen im November 2012 weniger neue Aufträge erhalten als im Vormonat. Die Ordereingänge seien im Vergleich zum Oktober um 1,8 Prozent gesunken, teilte das Bundeswirtschaftsministerium heute mit. Doch Frühindikatoren wie der Ifo-, der ZEW- und der Sentix-Index haben zuletzt alle zum Teil deutlich zugelegt. Sie besagen: Vielleicht gehe es nicht schnell, aber die Wirtschaft werde wieder Tritt fassen.
Von Michael Braun
Die deutschen Exporteure haben im November 2012 Waren im Wert von mehr als eine Billion Euro verkauft – wie schon 2011. Doch die Freude darüber hält sich in Grenzen: Der kurzfristige Ausblick trübt das Wirtschaftsglück.
"2013-01-08T13:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:03:46.736000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-export-boomt-aber-wie-lange-100.html
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CDU-Politiker kritisieren eigene Europagruppe
Protest gegen die Urheberrechtsreform am 23. März 2019 in Berlin. (www.imago-images.de) Der Essener Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer schrieb bei Twitter, dass die Demonstranten keine "Bots" seien, berechtigte Sorgen hätten, aus Überzeugung demonstrierten und sich zurecht über die Kommunikation der Union ärgerten. "Und das sage ich als CDU-Abgeordneter", fügte er hinzu. Das Social-Media-Team stehe für wiederholtes Zurschaustellen völliger Ahnungslosigkeit, schrieb er zuvor. Das schade den Schwesterparteien massiv. Mehrere CDU-Politiker teilen die Kritik Der Twitter-Account der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament hatte zuvor ein Interview des Gruppen-Vorsitzenden Daniel Caspary (CDU) mit "bild.de" verbreitet, in dem dieser unter anderem eine Bezahlung der Demonstranten von 450 Euro durch eine nicht näher bezeichnete Nichtregierungsorganisation in den Raum stellt. Auch der frühere Generalsekretär der CDU, Peter Tauber, pflichtete der Kritik seines Essener Kollegen bei. "Teile ich - #kopftisch", schrieb er als Reaktion. "Ich finde für diesen Irrsinn keine Worte mehr. Egal welcher Meinung man ist, man muss immer Respekt vor der Meinung Andersdenkender haben", twitterte der CDU-Digitalexperte Thomas Jarzombek. Mit Sebastian Steineke aus Neuruppin reiht sich ein weiterer CDU-Bundestagsabgeordneter in die öffentlich Kritik innerhalb der Union ein. "Die Kommunikation ist katastrophal", schrieb Steineke. "Den Protest so herabzuwürdigen, darf niemals unser Stil sein." Der CDU-Abgeordnete Tino Sorge twitterte: "Langsam wird es echt skurril. Ich würde anregen, etwas Sonntagsruhe in Brüssel zu nutzen, nochmal über Respekt vor anderen Meinungen nachzudenken." Der kritisierte Caspary ruderte inzwischen zurück: Vor den vielen Menschen, die für ihre Meinung auf die Straße gehen, habe er großen Respekt. Er bedauere, wenn ein anderer Eindruck entstanden sein sollte. Spott und Morddrohungen Europaabgeordnete der CDU wie Axel Voss hatten zuletzt stark für die Reform des Urheberrechts geworben und für ihre Äußerungen viel Widerspruch, Spott, aber nach eigenen Angaben auch Morddrohungen erhalten. Der Europapolitiker Elmar Brok kritisierte, dass es "eine massive und von Algorithmen gesteuerte Kampagne der großen Internetkonzerne" gegen das Vorhaben gebe. Das sei kein normaler demokratischer Prozess mehr, kritisierte Brok. Er sehe die Reform nun "auf der Kippe" Die Reform soll Urhebern für ihre Inhalte im Internet eine bessere Vergütung sichern. Kritiker befürchten, dass Anbieter-Plattformen wie YouTube in Zukunft bereits beim Hochladen überprüfen sollen, ob Inhalte urheberrechtlich geschütztes Material enthalten. Das ist nach ihrer Meinung nur über automatisierte Filter möglich, bei denen die Gefahr bestehe, dass viel mehr als nötig aussortiert werde. Gegen die die geplante Reform waren am gestrigen Samstag europaweit Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen.
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Katastrophal, schädlich und schlechter Stil: Mehrere CDU-Politiker haben die Kommunikation der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament zur Urheberrechtsreform kritisiert. Zuvor hatten Unions-Politiker wiederholt mit Vermutungen und Behauptungen für Unmut bei den Gegnern der Reform gesorgt.
"2019-03-24T12:16:00+01:00"
"2020-01-26T22:43:50.032000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/urheberrechtsreform-cdu-politiker-kritisieren-eigene-100.html
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Der Freiraum schrumpft
Junge Kirgisen am Nationalen Flaggentag 2013 (dpa / picture alliance / Igor Kovalenko) Es war ein Auftritt, wie er Donald Trumps würdig wäre. Almasbek Atambayev, der Präsident von Kirgistan, stauchte bei einem Pressetermin, der an sich bedeutungslos war, Woche die anwesenden Journalisten zusammen. Durch Vorab-Berichte zu den im November anstehenden Präsidentschaftswahlen in Kirgistan hatte sich Atambayev persönlich verleumdet gefühlt. Entsprechend harsch seine Reaktion. Journalisten, die falsche Informationen verbreiteten, so der Präsident, würden gegen das Gesetz verstoßen und müssten zur Verantwortung gezogen werden. Denn Freiheit, auch Pressefreiheit, ende dort, wo sie die Freiheit eines anderen einschränke. Eine Insel der Pressefreiheit Die Ansage und Drohung Atambayevs hat Brisanz. Denn Kirgistan ist bisher eine Insel der Pressefreiheit in Zentralasien – einer Region, die für ihre repressiven Regime und Despoten bekannt ist. Kirgistan belegt im Ranking der Pressefreiheit Platz 85 von 180 Ländern. Die Nachbarn Tadschikistan, Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan dagegen finden sich regelmäßig im unteren Viertel. Weil man in Kirgistan relativ unbehelligt arbeiten kann, sind in den vergangenen Jahren auch viele Journalisten aus den Nachbarländern in die Hauptstadt Bischkek geflohen. So, wie die Tadschikin Diana Rahmanova. "Unmöglich in Tadschikistan zu arbeiten" Im Keller eines Plattenbaus, einer alten Schneiderei, hat sie ihr Büro. Rahmanova, 27 Jahre alt, lebt seit 2011 in Bischkek. Sie hat eine internationale Journalisten-Ausbildung. Ihrem erlernten Anspruch an Objektivität und Quellenvielfalt habe sie in ihrer Heimat Tadschikistan nicht gerecht werden können. "Hier in Kirgistan verstehen Politiker, dass sie verpflichtet sind, Journalisten Rede und Antwort zu stehen. In Tadschikistan denkt man, du als Journalist willst etwas von mir? Dann lauf mir ruhig hinterher! Vielen Kollegen hat man es unmöglich gemacht, in Tadschikistan zu arbeiten, sie wurden sogar bedroht. Deshalb entschieden sich viele, hier zu arbeiten." Für kritische Journalisten aus Turkmenistan ist die Arbeit in ihrem Heimatland quasi unmöglich. Folter, Jahre lange Haft, selbst Übergriffe auf die Familie drohen. Zugang zu westlichem Know-how Die 55-jährige Naz Nazar lebt in Deutschland im Exil und hält Kontakt zu Kollegen in Kirgistan, die von dort für turkmenische Untergrund-Projekte arbeiten. "Bischkek ist wie eine Freiheitsinsel für die Turkmenen. Turkmenistan ist das meist unterdrückte Land in Zentralasien. Für die Turkmenen bedeutet Bischkek, dass sie Zugriff zu Informationen haben, zu westlichem Know-how. Dann werden sie dort nicht verfolgt, da die kirgisische Polizei sich nicht für ein paar Turkmenen interessiert, die da sind." Unabhängiger Journalismus auf dem Prüfstand Doch auch in Kirgistan schrumpfen die Freiräume für Journalisten. Habe man sich nach dem Umsturz 2010 gerne liberal gezeigt, werde die Regierung jetzt wieder zunehmend repressiver, so Christopher Schwartz, Dozent für Journalismus an der Amerikanischen Universität in Bischkek. Auch für ausländische Journalisten werde es ungemütlicher … "… weil du in den Fokus der kirgisischen Regierung geraten kannst: Entweder, um als Druckmittel im Clinch mit den Nachbarländern benutzt zu werden, oder weil die kirgisische Regierung sich selbst angegriffen fühlt, oder weil sie unabhängige Medien generell fürchten." Weil der unabhängige Journalismus derzeit auch im Westen auf dem Prüfstand steht, könnte diese Krise auch von Kirgistan dafür genutzt werden, die eigene Berichterstattung stärker als bisher zu kontrollieren. Schlechte Vorzeichen also nicht nur für die hierher geflüchteten Journalisten aus Zentralasien – sondern auch für die kirgisischen Kollegen selbst.
Von Edda Schlager
Weil lokalen Journalisten in den Ländern Tadschikistan, Turkmenistan oder Usbekistan Gefängnis und Folter drohen, hat sich das Nachbarland Kirgistan zum Zufluchtsort für Journalisten entwickelt. Doch in den letzten Jahren wird der unabhängige Journalismus in Kirgistan immer häufiger auf den Prüfstand gestellt.
"2017-03-28T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:20:06.054000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/journalismus-in-kirgistan-der-freiraum-schrumpft-100.html
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Erste US-Fabrik auf Kuba seit über 50 Jahren
Die traditionelle Landwirtschaft mit Ochsengespannen ist für Menschen und Tiere anstrengend und nicht sehr ertragreich (Imago/Blickwinkel) Die Kühle des Morgens nutzt Juan Ricardo Montes, um mit seinen beiden Ochsen ein kleines Feld in Havannas Vorort Alamar für die Gurken-Aussaat vorzubereiten. Seinen Pflug ziehen – wie auf vielen kubanischen Feldern – Ochsen. "Die Arbeit ist hart. Vor allem wenn die Erde trocken ist und verklumpt. Für die Tiere ist es anstrengend, aber auch für den, der hinter dem Pflug geht." Ab elf Uhr macht die Hitze die Arbeit unerträglich. Zwei US-Unternehmer wollen, dass es Landwirte wie Juan Ricardo Montes in Zukunft einfacher haben. Saúl Berenthal und Horace Clemmons haben in den USA bereits die ersten kleinen, roten Traktoren gebaut. Bald soll ihre Traktorfabrik Cleber LLC auch auf Kuba produzieren. Es ist das erste US-Unternehmen seit mehr als 50 Jahren, das die US-Regierung auf der Karibikinsel genehmigt. Sául Berenthal, einer der beiden Teilhaber, hat selbst kubanische Wurzeln: "Ich habe immer gedacht, dass sich die USA und Kuba eines Tages auf eine neue Politik einigen würden. Das passierte dann im Dezember 2014. Wir dachten, dass wir im Bereich der Landwirtschaft dem kubanischen Volk am ehesten helfen könnten". Kleine, wendige Traktoren für Felder von nur 20 bis 40 Hektar Clemmons und Berenthal bauten einen Trecker, für den ein US-amerikanisches Modell aus den 1950-ern Pate stand. Ein kleines, sehr wendiges Gerät, angepasst an die Erfordernisse der meist nur 20 bis 40 Hektar großen Felder kubanischer Bauern. Ihren Traktor tauften sie »Oggún«. Auf den Namen eines Gottes des afroamerikanischen Santería-Glaubens. "Wir wollten einen Traktor entwerfen, der nicht nur effizient ist, sondern auch leicht zu bauen und zu warten. Die Landwirte können ihn eigenständig reparieren oder neue Ersatzteile einbauen." Die rund 8900 Euro pro Traktor sollen die kubanische Regierung finanzieren, Exilkubaner, die ihre Familien auf Kuba unterstützen wollen, oder Hotels und Restaurants, die ein Interesse daran haben, dass die kubanische Landwirtschaft produktiver wird. Einen Teil der Erträge müssen alle kubanischen Landwirte an den Staat verkaufen. Saúl Berenthal: "Kuba importiert 80 Prozent seiner Lebensmittel. Also wenn man Kuba die Maschinen, die Technik gibt, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern, dann verringert man die Importe. Und das so eingesparte Geld könnte für andere Dinge ausgegeben werden, die für Kubas Wirtschaft wichtiger sind." Gemeinsam Geschäfte zu machen Wenn alle bürokratischen Hürden überwunden sind, will die Cleber LLC ab Ende 2017 in der Sonderwirtschaftszone des Hafens von Mariel, westlich von Havanna, ihre Traktoren produzieren. Saúl Berenthal möchte mit den Traktoren einen Beitrag zur Annäherung zwischen den USA und Kuba leisten: "Das ist die beste Art, die beiden Nationen zu versöhnen: Gemeinsam Geschäfte zu machen, die gewinnbringend für beide sind. So kommen sie einander am ehesten wieder näher." Dann kann sich auch der Exilkubaner vorstellen, auf die Insel zurückzukehren. Mit seiner Frau schaut er sich gerade nach einem Haus um.
Von Anna Marie Goretzki
Ein US-Amerikaner mit kubanischen Wurzeln plant den Bau einer Fabrik für kleine Traktoren auf Kuba. Sie sollen mithilfe der kubanischen Regierung, von Exilkubanern sowie von Hotels und Restaurants finanziert werden. Denn wenn die dortige Landwirtschaft produktiver wäre, müsste Kuba nicht länger den Großteil seiner Lebensmittel importieren.
"2016-05-26T13:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:31:33.703000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/traktoren-fuer-havanna-erste-us-fabrik-auf-kuba-seit-ueber-100.html
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"Es geht um Existenzsicherung"
Mario Dobovisek: Nach Jahren des Widerstands also scheint sich in der Union nun doch etwas in Sachen Mindestlöhnen zu bewegen, auch wenn es dort niemand so benennen möchte. Vielmehr sollen Kommissionen der Tarifparteien über Lohnuntergrenzen entscheiden, heißt es.Am Telefon mitgehört hat Grünen-Fraktionschefin Renate Künast. Atomausstieg, Wehrpflicht, Mindestlöhne, und damit wieder eine Kehrtwende in Ihre Richtung, Frau Künast. Wie nahe kommt die CDU damit den Grünen-Positionen?Renate Künast: Ach, das, Herr Dobovisek, ist mir noch gar nicht aufgefallen. Ich sehe das nicht unter dem Gesichtspunkt, sondern ich sage mal, die totale Realitätsverweigerung der CDU findet vielleicht ein Ende. Gerade hat ja ein CDU-ler gesagt, wenn über 30 Prozent der Kreisverbände und einige Landesverbände in der CDU sagen, da muss was passieren, kann sich deren Spitze dem nicht verweigern. Ich schaue allerdings auf den ganz konkreten Inhalt und ich stelle hier wirklich fest, dass die Koalition vielleicht unter dem Deckmäntelchen, oder ich sage besser die CDU unter dem Deckmäntelchen des Begriffs Mindestlohn uns eigentlich einen Käse mit vielen Löchern präsentiert, weil erstens muss ja mal die Einstiegshöhe stimmen, damit man von einem Vollzeitjob auch wirklich würdevoll leben kann und nicht noch aufs Amt rennen muss. Zweitens halte ich es für falsch, dann doch wieder die Tarifpartner mit reinzunehmen und Ausnahmeregelungen zu haben, sprich mit einzelnen Tarifverträgen, ob bei Service-Gesellschaften, oder bei christlichen Gewerkschaften, darf das Ganze doch noch unterlaufen werden. Und ich finde drittens das Angebot, dass nur die beiden Tarifparteien sich an den Tisch setzen und eine Kommission bilden, übrigens falsch. Die haben es ja jetzt schon im Tarifbereich nicht geschafft, einen richtigen Mindestlohn hinzukriegen, da müssen ja mindestens Wissenschaftler mit rein. Also kein löchriger Käse ist von uns gewünscht, sondern wir wollen wirklich einen flächendeckenden Mindestlohn, der per Kommission weiterentwickelt wird entsprechend der Lebenshaltungskosten.Dobovisek: Ist das also aus Ihrer Sicht nicht der Durchbruch, über den sich ja schon lautstark die Gewerkschaften freuen?Künast: Ja wenn Sie genau hingucken, Herr Dobovisek, sehen Sie, dass die Gewerkschaften auch Kriterien auf den Tisch legen. Ich sage mal, was draufsteht muss am Ende auch drin sein. Mir reicht es nicht, wenn eine Nebelkerze geworfen wird, behauptet wird, man entwickelt sich dort ein bisschen, um Terrain zu gewinnen, sondern es muss dann auch tatsächlich von der Höhe und für alle geltend und mit einer ordentlichen Kommission ausgestattet werden. Wir haben als Grüne da immer schon Vorschläge zu gemacht. Ich sage mal hier, Realitätsverweigerung geht offensichtlich nicht mehr komplett, aber es muss dann eben im wahrsten Sinne des Wortes auch drin sein. Und ich sehe jetzt schon wieder, kein Wunder bei Schwarz-Gelb, dass der Generalsekretär der FDP, Herr Lindner, auf den Koalitionsvertrag pocht und sagt, also wir gehen allenfalls gegen sittenwidrige Löhne vor.Dobovisek: Kommen wir aber, Frau Künast, bitte noch mal zurück auf das eigentliche Modell, das die CDU jetzt vorgeschlagen hat mit der Tarifkommission beziehungsweise den Kommissionen der Tarifparteien. Was ist daran falsch, die Beteiligten dazu zu bewegen, vielleicht doch noch mal mit ein bisschen mehr Nachdruck eine Lösung zu finden, statt gleich mit der gesetzlichen Keule zu kommen?Künast: Also einmal würde ich das Wort gesetzliche Keule bitte schön zurückweisen. Es geht um Existenzsicherung und es geht auch darum, dass nicht die öffentliche Hand und die öffentlichen Kassen jetzt und später bei der Altersarmut ausgleichen, was im Wirtschaftsbereich nicht gezahlt wird. Das ist sozusagen für mich Sozialstaat und nicht negativ eine Keule. Zweitens haben wir Grüne schon lange Zeit das Vorbild Großbritannien auf den politischen Tisch gebracht, wir haben eine Kommission vorgeschlagen, aber eben nicht nur mit den Tarifparteien, sondern dann auch mit unabhängigen Wissenschaftlern, die wirklich auch die Kostenentwicklung von Betriebskosten bis Lebenshaltungskosten ganz neutral rechnen. Das ist das britische Vorbild und das ist etwas, was wir nach einer guten Einstiegshöhe dann eben auch vorschlagen. Und ein anderer Punkt ist eben: nicht nach unten offen! Es muss dann wirklich für alle gelten und nicht heißen, wo zwei Tarifpartner schon was haben, was bei 3,50 Euro oder vier Euro liegt, gilt das dann trotzdem.Dobovisek: Werden Sie trotzdem die Kommissionslösung der CDU unterstützen?Künast: Wir haben einen anderen Kommissionsvorschlag, und den unterstütze ich. Ich sage mal, allein die Kommission macht es nicht. Höhe, Verbindlichkeit und eine Kommission, die gesellschaftlich breit aufgestellt ist, ist für meine Begriffe der Punkt, und dafür werden wir auch weiter kämpfen. Es geht nicht um Nebelkerzen, sondern dass es wirklich einen flächendeckenden Mindestlohn gibt, nicht die öffentlichen Kassen belastet werden, sondern man wirklich würdevoll für eigene Hände Arbeit einen angemessenen Lohn bekommt.Dobovisek: Anderes Thema, aber auch hier geht es um viel Geld. Bei der Bad Bank, der verstaatlichen Hypo Real Estate, tauchen offenbar aufgrund eines Buchungsfehlers plötzlich 55,5 Milliarden Euro auf. Was sagt uns das über eine Bank unter staatlicher Rigide?Künast: Ja, es hat offensichtlich nicht funktioniert. Ich wundere mich im übrigen auch, dass Herr Schäuble angeblich schon seit einiger Zeit von diesen fehlenden Rechentalenten bei der Hypo Real Estate weiß, ohne es öffentlich klar gemacht zu haben. Das heißt als allererstes, dass wir uns im Parlament nicht nur den Sachverhalt aufklären lassen wollen, sondern wir müssen auch checken und wollen darauf eine Antwort, wie wird denn unter staatlicher Ägide tatsächlich kontrolliert. Staatliche Ägide sollte ja auch heißen, dass man Zugriff auf Zahlen hat und auf ein ordentliches Rechenwerk hinguckt. Da können einem nur die Haare zu Berge stehen.Dobovisek: Spricht das gegen eine Verstaatlichung?Künast: Nein! Nein, das spricht nur dafür, es auch fachlich und personell gut zu machen, Herr Dobovisek. Die Verstaatlichung war für uns immer ein Punkt, wenn wir Geld investieren, dann musst du auch innerhalb des Geschäftsgebarens intern Einfluss nehmen können und dafür Sorge tragen, dass die nicht wie vorher wirtschaften: Gehälter hoch, Boni hoch für die Chefetagen und, und, und. Also Einfluss zu nehmen, wenn man finanzielle Verantwortung hat, das ist ja wohl das mindeste, was Staat bei einer Bank wollen muss. Aber man muss den Einfluss und die Kontrolle auch machen. 55 Milliarden ist ja schon eine Summe. So einen Rechenfehler kann man sich eigentlich nicht vorstellen.Dobovisek: Renate Künast, die Grünen-Fraktionsvorsitzende, im Deutschlandfunk-Interview. Vielen Dank für das Gespräch.Künast: Ich danke auch.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Links auf dradio.de:Regelung bringt Lohnniveau nicht durcheinander - Interview mit Karl Schiewerling (DLF)"Mindestlöhne sind weder eine Katastrophe noch ein Allheilmittel" - Interview mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen von der CDU (DLF)"Wir brauchen den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn als absolute Lohnuntergrenze" - Interview mit dem SPD-Politiker Hubertus Heil (DLF)Bund der Arbeitgeberverbände lehnt Lohnuntergrenze ab - Interview mit Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt (DKultur)Kommentar: CDU diskutiert über Lohnuntergrenzen (DLF)
Renate Künast im Gespräch mit Mario Dobovisek
Unter dem Deckmäntelchen des Begriffs "Mindestlohn" präsentiere die Union nichts als einen Käse mit vielen Löchern, sagt Grünen-Franktionschefin Renate Künast. Sie fordert, an der Ausarbeitung des Modells auch unabhängige Wissenschaftler zu beteiligen.
"2011-10-31T13:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:21:12.250000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/es-geht-um-existenzsicherung-100.html
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Vom Versuch, mit dem Tod Bekanntschaft zu machen
Gedenken auf dem Friedhof (Buchcover: Gütersloher Verlagshaus, Foto: picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger) Der deutsche Philosoph Ernst Bloch nannte den Tod die "größte Gegen-Utopie", und der österreichische Logiker und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein konstatierte 1921 im Rahmen seiner berühmten logisch-philosophischen Abhandlung "Tractatus Logico Philosophicus" mit Blick auf das Verlöschen eines Menschenlebens: "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist." Und auch der 341 v. Christus geborene Grieche Epikur fand dereinst Trost in der Vorstellung, "dass der Tod für uns ein Nichts ist. Beruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, dass der Tod ein Nichts ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich. Dieses Wissen hebt natürlich die zeitliche Grenze unseres Daseins nicht auf, aber es nimmt uns das Verlangen, unsterblich zu sein, denn wer eingesehen hat, dass am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Leben nichts schrecken. Sagt aber einer, er fürchte den Tod ja nicht deshalb, weil er Leid bringt, wenn er da ist, sondern weil sein Bevorstehen schon schmerzlich sei, der ist ein Tor; denn es ist doch Unsinn, dass etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird!" Der Tod ist kein Ereignis des Lebens Eine Sicht der Dinge, der sich die Wuppertaler Autorin Heike Fink, Verfasserin des Buches "Mein Jahr mit dem Tod. Wie ich den großen unbekannten besser kennenlernte", nur bedingt anschließen mag. Denn während Epikur im Tod den Anlass zur Feier des Lebens und des Augenblicks sah, sieht die 1968 in Schwaben geborene Autorin im Tod unverändert die große alles, überstrahlende Bedrohung, sodass sie auch jetzt noch, nachdem sie sich schreibend mit ihm und dem, wie er auf andere wirkt, auseinander gesetzt hat, im persönlichen Gespräch bekennt: "Ja, ich wollte etwas entdecken, und etwas lernen, wollte Erkenntnisse gewinnen. Ich wollte mehr wissen, und von anderen Leuten etwas wissen, die näher am Tod sind als ich bisher dran war. Ich denke mal in drei Jahren wird ein anderes Gefühl vorherrschen, vielleicht Gleichgültigkeit, dass ich den Tod gleichgültiger gegenüber bin. Und dann kommt auch vielleicht irgendwann die Annahme. oder das Verständnis. Verdrängen muss man einüben, und dann wird man aber oft hinterrücks überfallen vom Tod." Im Gespräch mit "Todeshandwerkern" Heike Fink führten in ihrem Bekanntenkreis hautnah erlebte Todesfälle zu einem tieferen Nachdenken über den Tod. Sie suchte daraufhin Menschen auf, die sie in ihrem Buch "Todeshandwerker" nennt - und für die der Tod zum Alltag gehört. Sie wollte wissen, was genau hinter dem Tod steckt, suchte nach Erklärungen bei ihren Interviewpartnern für das, was sie sich selbst nur schwer erklären - und noch schwerer ertragen kann: Den Tod als am Ende alles auslöschenden großen Zerstörer. So fahndete sie nach Antworten auf die sie umtreibenden Fragen unter anderem bei der Leiterin eines Hospizes, suchte einen Friedhofsgärtner und einen Physiker auf, um sich deren Sicht auf das Sterben und den Tod anzuhören. Wirklich umstimmen in ihrer Sicht auf beides aber konnten auch die von ihr sogenannten "Todeshandwerker" sie nicht. Sie sagt: "Also ich hab festgestellt, mit gibt die Beschäftigung mit dem Tod nichts. Und die Menschen, die ich getroffen habe, müssen sich entweder notgedrungen damit auseinandersetzen, weil sie sterben, wie beispielsweise meine alte Gesangslehrerin, die wirklich ein sterbender Mensch war, oder die sich dafür entschieden haben, ja, ich möchte mit Leuten zu tun haben, die zwar sterben, aber ich bin am Leben! Also fühlen sie sich vielleicht im Angesicht des Todes besonders lebendig. Nachdenken über das Leben Offen und mit dem Blick der Fragenden hat Heike Fink sich im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit dem "großen Unbekannten", wie sie den Tod nennt, ihrem Thema genähert. Und sie zeigt: ein Nachdenken über den Tod ist zuletzt immer auch ein Nachdenken über das Leben. Sie sucht in ihrem Buch nach Möglichkeiten, den Tod besser zu verstehen – um ihn auf diese Weise für sich zu ent-dämonisieren. So erklärte ihr der im Buch zu Wort kommende Physiker, der die Erfahrung machen musste, mehrere Minuten lang klinisch tot gewesen zu sein: "Manchmal denke ich darüber nach, mich unter Hypnose zu begeben, um meinen Tod noch einmal bewusst erleben zu können. Für mich als Wissenschaftler wäre das eine Bereicherung... Ich habe damals angefangen Physik zu studieren, weil es ein Versprechen nach Geheimnisaufdeckung verströmte. Dabei hatte ich weder die Erwartung, noch eine wie auch immer geartete Vorstellung, um welche Geheimnisse es sich handeln könnte." Trotzdem bleibt für die Autorin der Tod auch nach all den intensiv zum Thema geführten Gesprächen abstrakt und irrational, was sie zu der Frage führte: "Was am Tod ist denn rational? Außer der Tatsache, dass es ihn gibt? Physikalisch gesprochen bin ich ein instabiler, radioaktiver Atomkern, der mit Sicherheit zerfallen wird, ohne dass der Zeitpunkt des Verfalls vorausbestimmt werden könnte. Aber wer oder was ist der Tod? Warum ist der Zerfall naturgegeben und der Moment des letzten Zerbröselns ein absoluter, erbarmungsloser Zufall?" Grenzbezirke des Seins Fragen, auf die ihr Buch naturgemäß keine abschließenden Antworten liefern kann. Wie auch? Es führt uns vielmehr auf tastende Weise hinein in jene unbestimmten Zonen und Grenzbezirke menschlichen Seins und Fühlens, in denen die Antworten auf die sie umtreibenden letzten Fragen verborgen liegen. Und so liefert sich die Autorin eine halbwegs nachvollziehbare Erklärung für das Unerklärliche, indem sie sich selbst Mut machend formuliert: "Um die Angst vor dem Tod zu verlieren, muss ich begreifen, dass ich zerfalle, dass ich sterblich bin, dass es allem Lebendigen so ergeht und sterben also völlig normal und natürlich ist. Doch es bleibt der unerträglichste Gedanke meines Lebens, die schrecklichste Erkenntnis, die mich je heimgesucht hat: ich kann mir nicht vorstellen, NICHT zu sein." Wut statt Angst Heike Fink ist mit ihrer Erkundung in Sachen Tod am Ende weniger ein Antwort- als vielmehr ein Trostbuch geglückt, in dem es uns mit seinen gestellten Fragen nach den "Letzten Dingen" ins selbst Leben zurücklenkt, und uns geradenwegs an Albert Camus und dessen Diktum verweist, demzufolge "leben mit-leben" heißt - auch und gerade im Teilen unserer Ängste und unserem Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen-können. So kann sich die Autorin am Ende wenigstens teilweise damit arrangieren, nicht wirklich weitergekommen zu sein in ihrem versuchten Kennenlernen des großen Unbekannten, indem sie im Gespräch bekennt: "Doch es hat mir ganz viel gebracht, nämlich dass die Angst weg ist, und ich jetzt ein lebendiges Gefühl habe, nämlich Wut! Und das ist viel motivierender als Angst. Angst ist etwas extrem Lähmendes." Heike Finks Buch folgt in seinen Fragenstellungen einem radikal-egozentrischen Ansatz. Das kann man mögen – oder nicht. Doch hier schreibt eine Autorin nicht, um etwas zu verkünden, sondern um etwas zu erfahren. Ihr Buch ist eine Spurensuche, ein zögerliches sich Herantasten an das nur schwer Fassbare. Wer auf tiefergehende philosophische Erleuchtungen zum Thema Tod aus ist wird hier enttäuscht werden. Denn anders als hochkomplexe Werke von Vladimir Jankélévitch oder Jean Améry oder die zahllosen Ratgeber zum Thema, hält sich die Autorin ihre Ängste, die auch die unseren sind, weder mit vorgeschobenen Theorien noch mit billigen Trost- oder Kalendersprüchen vom Leib, sondern offenbart uns diese bisweilen geradezu kindlich-naiv. Und eben das ist es, was ihr Buch zu einer interessanten, gewinnbringenden Lektüre macht. Heike Fink: "Mein Jahr mit dem Tod. Wie ich den großen Unbekannten besser kennenlernte". Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2018. 318 Seiten, 20 Euro.
Von Peter Henning
Heike Finks Buch "Mein Jahr mit dem Tod" ist der sehr persönliche Versuch, dem Tod näher zu kommen. Am Ende ihrer Erkundung hat die Autorin sich selbst besser kennengelernt. Statt Angst empfände sie nun Wut. Für sie selbst sei das eine Befreiung.
"2018-07-24T16:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:05.653000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heike-fink-mein-jahr-mit-dem-tod-vom-versuch-mit-dem-tod-100.html
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Lula da Silva gewinnt Stichwahl ums Präsidentenamt
Bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien hat der linke Expräsident Lula da Silva gewonnen (picture alliance / dpa / Fernando Souza)
Herrberg, Anne
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"2022-10-31T05:07:10+01:00"
"2022-10-31T05:16:31.367000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brasilien-lula-gewinnt-stichwahl-ums-praesidentenamt-dlf-1c002ab2-100.html
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Der Anfang vom Ende des Krieges
Wandbild in der Stadt Cali in Kolumbien, wo das Ende des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Sicht ist. (dpa/picture-alliance/Christian Escobar Mora) Farc-Kommandeur Carlos Lozada rief "den letzten Tag des Krieges" aus, Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos schrieb auf Twitter: "Wir arbeiten für ein Kolumbien in Frieden - ein Traum, der beginnt, Realität zu werden". Im Laufe des Tages wollen Santos und Farc-Chef Rodrigo Londoño das ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen. Zu der Zeremonie in der kubanischen Hauptstadt Havanna werden auch Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon und mehrere lateinamerikanische Staatschefs erwartet. Das Abkommen sieht sieht vor, dass die Rebellen ihre Waffen niederlegen. Im Gegenzug garantiert die Regierung für ihre Sicherheit. Einzelheiten, wie etwa dem Zeitplan der Entwaffnung und zu Amnestieregelungen sollen bei der Unterzeichnung bekanntgegeben werden. Der Waffenstillstand gilt als Voraussetzung für einen Friedensvertrag, über den beide Seiten seit Ende 2012 verhandeln und der zügig unterzeichnet werden soll. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Kolumbiens Präsident Santos sagte, seiner Meinung nach könnten die Friedensgespräche bis zum kolumbianischen Nationalfeiertag am 20. Juli abgeschlossen werden. "Historisches Ereignis" Regierungen aus der ganzen Region begrüßten den Durchbruch in Havanna. Chiles Präsidentin Michelle Bachelet sprach von einem "historischen Ereignis für Lateinamerika". Boliviens Staatschef Evo Morales sagte, er hoffe, das sei der letzte bewaffnete Konflikt auf dem amerikanischen Kontinent gewesen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nannte die Einigung einen "entscheidenden Durchbruch auf dem Weg zum Frieden". Er versprach Kolumbien die Unterstützung der Bundesregierung bei der Aufarbeitung des Konflikts und beim Umgang mit Vertriebenen. Längster Konflikt Südamerikas Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) kämpfen seit einem halben Jahrhundert gegen den kolumbianischen Staat und Großgrundbesitzer. In dem blutigen Konflikt zwischen linken Rebellen, Paramilitärs, Drogenmafia und Armee wurden mehr als 260.000 Menschen getötet. 6,6 Millionen weitere wurden vertrieben. Derzeit haben die Farc noch etwa 7.000 Kämpfer unter Waffen. Vor knapp einem Jahr hatte die Farc bereits einen einseitigen Waffenstillstand verkündet. Die kolumbianischen Streitkräfte stellten daraufhin ihre Luftangriffe auf Stellungen der Rebellen ein. Die Intensität des Konflikts ließ dadurch spürbar nach.
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Die seit mehr als 50 Jahren andauernde Gewalt in Kolumbien soll endlich ein Ende haben: Die Farc-Guerilla will dem bewaffneten Kampf abschwören. Nach langwierigen Verhandlungen haben sich die Rebellen mit der Regierung auf einen Waffenstillstand geeinigt. Der Frieden ist damit in greifbare Nähe gerückt.
"2016-06-23T09:54:00+02:00"
"2020-01-29T18:36:57.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kolumbien-der-anfang-vom-ende-des-krieges-100.html
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Wie funktioniert VW?
Der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, Martin Winterkorn (r) und der Aufsichtsratsvorsitzende der Volkswagen AG, Ferdinand Piech. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte) Jetzt wollen sie miteinander reden, Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn angeblich in den nächsten Tagen. Und die Piëchs und die Porsches auch, der Familienclan also, der 50,7 Prozent der Stimmrechte bei VW hält und deren einer Repräsentant, eben der Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch, sich gegen Winterkorn gestellt hat. Der Porsche-Zweig scheint für Winterkorn zu sein, zumindest gegen Ferdinand Piëchs Alleingang. Auch der Enkel des legendären Käfer-Konstrukteurs beschwört in Sonntagsreden die Einheit im Unternehmen: "Mein Großvater hat mich bestimmt darin geprägt, nach guten Leuten Ausschau zu halten, denn einer allein ist nichts, denn nur ein gutes Team leistet etwas." So kann auch Martin Winterkorn reden, wenn er erklären soll, warum es der deutschen Autoindustrie und im besonderen VW sehr gut geht: "Erfolgsfaktor Nummer 1: Unternehmen, Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften haben gemeinsam für diese Wettbewerbsfähigkeit gesorgt, die wir heute haben. Das konstruktive Miteinander von Unternehmen, Beschäftigten, ist für den Standort Deutschland mittlerweile ein starkes Pfund." Geht Winterkorn ganz? Oder übernimmt der den Aufsichtsrat? In der Praxis weiß Piëch aber aus seiner Rolle als Vorstandschef von Audi, dann von VW, dann als Aufsichtsratsvorsitzender bei VW, dass jedes Team Führung braucht. Und dass die bei VW von ihm ausgeht, daran hat er bisher keinen Zweifel gelassen. Etwa als er seinem Nachfolger als VW-Vorstandschef, dem früheren BMW-Manager Bernd Pischetsrieder, 2006 einen neuen Vorstandsvertrag gab, ihn gleichwohl kurz darauf entmachtete. Auch als Porsche 2009 VW zu übernehmen suchte, damit auch Piëchs Führungsrolle bedrohte, gelang dem Porsche-Enkel Piëch ein erfolgreicher Gegenangriff. Professor Wolfgang Meinig von der Forschungsstelle für Automobilwirtschaft in Bamberg charakterisierte Piëch damals so: "Er macht keine halben Sachen, der spielt nicht, sondern der handelt." Nun handelte er gegen Martin Winterkorn. Warum? Noch weiß man es nicht. Analysten gehen aber davon aus, dass Winterkorn seinen Vorstandsvertrag im nächsten Jahr nun nicht mehr verlängert. Geht er ganz? Oder übernimmt der den Aufsichtsrat? Mit dem mitbestimmungsberechtigten Betriebsrat und – auf der Bank der Anteilseigner – mit den 20 Prozent des Landes Niedersachsen und dazu den Stimmen der Familie Porsche dürfte sich eine kaum überwindbare Phalanx gegen Ferdinand Piëch aufgebaut haben. Jürgen Pieper, Autoanalyst vom Bankhaus Metzler, kann sich jedenfalls erstmals vorstellen, dass Piëch die Grenzen seiner Macht erfährt: "Wenn alle Kräfte gegen ihn stehen, ob dann der Punkt kommt, wo er einlenkt: Das kann ich mir zumindest mal vorstellen. Erlebt haben wir es alle noch nicht, das ist richtig."
Von Michael Braun
Bisher schwieg Volkswagen-Chef Martin Winterkorn zu seiner öffentlichen Demontage durch Firmenpatriarch Ferdinand Piëch. Wie geht es im Machtkampf bei VW nun weiter? Und wie sehen die Machtverhältnisse im Aufsichtsrat aus?
"2015-04-13T13:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:31:28.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aufsichtsrat-aktionaere-piech-wie-funktioniert-vw-100.html
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Enttäuschung über Scheitern des NPD-Verbotsantrags
Der Vorsitzende Richter Andreas Voßkuhle verkündet neben seinen Kollegen Peter Müller (l) und Peter M. Huber das Urteil. (Kai Pfaffenbach / REUTERS POOL / dpa) Der Zweite Senat in Karlsruhe unter dem Vorsitzenden Richter Andreas Voßkuhle hatte den Verbotsantrag abgelehnt. Zur Begründung hieß es, die Partei verfolge zwar verfassungsfeindliche Ziele, habe aber nicht das Potenzial, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. In den Ländern, die den Verbotsantrag über den Bundesrat gestellt hatten, ist die Enttäuschung groß. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer nannte die Entscheidung "bedauerlich". "Ungeachtet der Tatsache, dass die NPD in keinem Landtag mehr vertreten ist, stellt sie als Partei mit ihren verfassungsfeindlichen und rechtsradikalen Bestrebungen eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar", hieß es in einer Mitteilung. Seehofer konnte dem Urteil aber auch Positives abgewinnen: Das Bundesverfassungsgericht habe bestätigt, dass das politische Konzept der NPD auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet sei. "Das ist erfreulich". Die Partei kann auch weiterhin gewählt werden: Wahlplakate der NPD (und der Linken) in Berlin. (pa/dpa/Pedersen) Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke betonte, man werde die NPD auch nach dem Scheitern des Verbotsantrags bekämpfen. Und: Er könne verstehen, dass es Menschen wütend mache, wenn die NPD weiterhin Anrecht auf staatliche Finanzierung habe. "Politische Dummheit lässt sich nicht verbieten." Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger erklärte, die NPD habe nicht mehr denselben Stellenwert und sei ins politische Abseits geraten. "Politik und Gesellschaft müssen jetzt dafür sorgen, dass das so bleibt." Der rheinland-pfälzische Ressortchef Herbert Mertin sagte: "Politische Dummheit lässt sich nicht verbieten." Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte, das Gericht habe so entschieden, weil sich die NPD in einem desolaten Zustand befinde. Andere Organisationen hätten ihr den Rang abgelaufen. "Kein Verbot allein beseitigt Ausländerfeindlichkeit und Rassismus." Die Bundesregierung nahm das Urteil zurückhaltend auf. Bundesjustizminister Heiko Maas erklärte, man nehme das Urteil mit Respekt zur Kenntnis. Zugleich rief er dazu auf, sich weiter gegen Rechtsextremismus einzusetzen. "Unabhängig vom konkreten Ausgang des Verfahrens bleibt es dabei: Kein Verbot allein beseitigt Ausländerfeindlichkeit und Rassismus." Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka meinte: "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist wichtig, denn nach 60 Jahren haben wir nun endlich eine klare rechtliche Handhabe". Auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Lau von der Linken und der Grünen-Politiker Beck riefen dazu auf, den Kampf gegen den Rechtsextremismus nun erst recht geschlossen zu führen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland sprach von einer "vertanen Chance". In einer Erklärung von Präsident Schuster hieß es, für die jüdische Gemeinschaft und andere Minderheiten wäre ein Verbot wichtig und ermutigend gewesen. Zudem hätte es all jene gestärkt, die sich gegen die NPD engagierten. Zugleich äußerte Schuster die Hoffnung, dass die Verfassungsrichter recht behielten mit ihrer Argumentation, die NPD sei keine politisch schlagkräftige Partei. Auf großes Bedauern stießt die Entscheidung der Verfassungsrichter bei der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. "Das Verbot einer offen rechtsextremen Partei wäre wichtig für die politische Hygiene in unserem Land gewesen." Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, sprach in der "Bild"-Zeitung von einem "tragischen Tag für die wehrhafte Demokratie". Ein Anhänger der rechtsextremen NPD. (picture alliance / dpa / Stephan Scheuer) Der Bischof der größten Evangelischen Landeskirche Deutschlands, der hannoversche Landesbischof Ralf Meister, sagte, seine Sorge gelte jedem Einzelnen, der sich von menschenverachtenden, ausgrenzenden, rassistischen, antijudaistischen oder islamfeindlichen Positionen verführen lasse. "Unsere Demokratie ist stark genug" Keine Stärkung der rechten Kräfte sieht in dem Urteil der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu: "Ich kann mit dem Ergebnis leben", sagte Sofuoglu der "Heilbronner Stimme". "Unsere Demokratie ist stark genug, um gegen rechtsextremistische Kräfte vorzugehen." Im Ausland löste das Urteil ebenfalls Enttäuschung aus - so etwa beim Jüdischen Weltkongress. Dessen Präsident Ronald Stephen Lauder erklärte in New York, leider hätten die Richter nicht die seines Erachtens begründete Einschätzung der Antragsteller geteilt, dass die NPD möglicherweise irgendwann erfolgreich sein könnte. Der NPD-Parteivorsitzende Frank Franz vor der Urteilsverkündung im Bundesverfassungsgericht. (Uli Deck / dpa ) Groß der Jubel dagegen bei der NPD selbst. Im Internet twitterte sie: "Sieg!"Ihr Bundesvorsitzender Frank Frantz sagte, man sei glücklich, dass die Partei nicht verboten worden sei. Jahrelang sei erklärt worden, die NPD brauche man nicht zu wählen, weil sie verboten würde. Dieses Argument verfange nun nicht mehr. Kann das Scheitern des Verbotsantrags der NPD zu neuem Aufschaung verhelfen? Der Politologe Matthias Micus vom Göttinger Institut für Demokratieforschung glaubt dies nicht: "Die Partei wird sich jetzt nicht revitalisieren. Das zeigen die Erfahrungen aus dem letzten gescheiterten Verbotsverfahren." Die NPD werde auch in Zukunft bei Wahlen keine Rolle spielen und auf keiner Ebene über die Fünf-Prozent-Hürde kommen. "Das Wählerklientel, das die Nationaldemokraten früher erreicht haben, ist jetzt von der AfD absorbiert worden". (mg/)
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Das Scheitern des NPD-Verbotsantrags vor dem Bundesverfassungsgericht ist in der Politik, aber auch von den Kirchen und Verbänden mit großer Enttäuschung aufgenommen worden. Die NPD selbst hingegen spricht von einem "Sieg".
"2017-01-17T13:04:00+01:00"
"2020-01-28T09:29:21.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesverfassungsgericht-enttaeuschung-ueber-scheitern-des-100.html
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Virtuoser Gitarrist mit musikalischer Vision
"2011 wurde mir klar, dass ich wieder Gitarre spielen und singen wollte. Beides hab ich nicht im Portico Quartet gemacht. Es war an der Zeit, mich zu verändern." Für Nick Mulvey bedeutet der Beginn seiner Solokarriere gleichzeitig auch das Wiederentdecken einer alten Liebe: der zur Gitarre. Aufgewachsen ist er in einem sehr musikalischen Haushalt. Seine Mutter ist Opern-Sängerin und sein Vater zupft auf der Gitarre Beatles-Klassiker. Der junge Mulvey fängt zuerst mit Schlagzeug an, wechselt dann zum Klavier und entdeckt schließlich die Gitarre. Auf dem Saiteninstrument lässt er seitdem Songs entstehen, die in ihrer Reinheit in manchen Momenten an die Musik von Nick Drake erinnern. Als der 30-jährige britische Künstler beim Portico Quartet aussteigt, sucht er nach einem Studio, wo er sich in Ruhe mit seinem neuen Projekt befassen kann. "Ich fand einen Raum für mich und mein Instrument. Jeden Tag ging ich dorthin und arbeitete an meinen Songs, übte und verfeinerte meine Gitarren-Spieltechnik. Die Songs gewannen an Substanz und allmählich entstand das Album "First Mind". Und gleichzeitig hatte ich die Idee, wenn ich diesen Raum betrat, dann quasi ins Album hineinzugehen. Es ging darum, diesen Ort wirklich auszufüllen und darin aufzugehen." Erstaunlich flinke Melodielinien Nick Mulvey hat die mantrahaft sich wiederholenden Perkussionsstrukturen vom Portico Quartet übernommen und trommelt zuweilen auch auf Gitarrenkorpus und Griffbrett ein. Er lässt auch immer wieder erstaunlich flinke Melodielinien aus den Fingern fließen, die ihn fast in die Nähe von alten Gitarrenhelden wie Mark Knopfler rücken. "Das Fingerpicking meiner rechten Hand steht im Zentrum meines gesamten Song-Universums. Es bestimmt alle weiteren Elemente dieses Stücks: Die Melodie, die Worte - die Instrumente wie Keyboards, Streicher oder Synthesizer finden dann ihren Platz. Dieses simple repetitive Muster der rechten Hand hat Einfluss auf den Aufbau des ganzen Songs." Fasziniert vom repetitiven Rhythmus Was Nick Mulvey schon immer fasziniert, ist der repetitive Rhythmus. Er hat Musikethnologie in Kuba studiert. Irgendwann fällt ihm auf, dass es fast keine Musik mit afrikanischen Wurzeln gibt, die ihm nicht gefällt. Er mag an diesen Rhythmen: Die Wiederholung, Hypnotik, Spannung und Entspannung – und vor allem die Tatsache, dass die Songstruktur immer einen höheren Stellenwert besitzt als die Harmonien. Deshalb liebt er beispielsweise die marokkanischen Gnawa-Rhythmen. Inhaltlich ist er auf der Suche nach Authentizität. "Als ich den Mut hatte, meine Songs mit Erlebnissen und Elementen meines realen Lebens zu füllen, wurden sie viel besser. Es tauchten wirkliche Personen und Orte auf. Es mussten aber nicht unbedingt immer nur autobiografische Elemente vorkommen. Wichtig war, einen tiefen Einblick in das Innere zu vermitteln." Suche nach Authentizität Im Titelsong "First Mind" zum Beispiel singt Nick Mulvey darüber, wie wichtig es ist, den eigenen Erfahrungen und Gefühlen zu verlassen. Die Hauptaussage des Songs steckt in der Frage des Refrains. Da heißt es: Warum hinterfragen wir immer wieder alles, obwohl wir doch genau wissen, dass der erste Gedanke der richtige ist. Wir müssen unserem Instinkt vertrauen. Nick Mulvey - ein äußerst virtuoser Gitarrist mit wirklich überzeugenden Songs und einer genauen musikalischen Vision. Nick Mulvey kommt nach Deutschland und tritt am 2. Dezember 2014 in Köln, am 3. Dezember in Hamburg und am 4. Dezember in Berlin auf und spielt Songs aus seinem im Mai veröffentlichten Album "First Mind".
Von Marlene Küster
Als eines der Gründungsmitglieder des Portico Quartets tourte Nick Mulvey bereits auf der ganzen Welt und heimste fürs erste Album der Band "Knee-deep In The North Sea" eine Nominierung für den Mercury Music Prize ein. Trotz des weltweiten Erfolgs beschloss der Brite 2010, sich von der Band zu lösen, um seine eigenen Songideen zu verwirklichen.
"2014-12-01T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:35.004000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nick-mulvey-virtuoser-gitarrist-mit-musikalischer-vision-100.html
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Sklavenarbeit auf Fischerbooten
Labae ist 48, seit vielen Jahren arbeitet er auf Fischerbooten. Er stammt aus dem armen Norden Thailands, er braucht Geld, das er zuhause nicht verdienen kann. Die letzten Jahre aber waren für Labae das Schlimmste, das er bisher erlebt hat. Er arbeitete auf einem indonesischen Boot, das für eine Thai-Firma auf Fang war. "Das ist Arbeit, die eigentlich keiner machen will. Wir hatten immer nur vier Stunden zum Schlafen, weil ständig die großen Netze geleert werden mussten. Wenn das Boot an die Küste kam, dann wollten alle weg. Ich nicht, ich wollte nur etwas Vorschuss für Geschenke, den hat mir der Kapitän verweigert. Da habe ich mir Fisch genommen. Das kam aber raus und ich wurde auf dem Schiff festgehalten." In Indonesien sind viele thailändische Fischkutter unterwegs, unter mit Schmiergeldern erkaufter indonesischer Flagge, das hat der Vorsitzende der Songkhla Fisheries Association der Nachrichtenagentur AP bestätigt. Auf diesen Booten wird in 20-Stunden-Schichten gearbeitet, kaum geschlafen und eine Schüssel Reis pro Tag gegessen. Manche Männer kommen monatelang nicht an Land. Labae war Steuermann auf seinem Boot und damit in einer privilegierten Position. Anderen erging es deutlich schlechter. Gok ist 42 und hat Jahre hinter sich, in denen er wie ein Sklave auf einem Fischerboot festgehalten wurde: "Am Anfang war ich zuständig dafür, den Fisch aus den Netzen zu nehmen. Ich bin ständig geschlagen worden. Man hat mich laufend beleidigt, meine Eltern beschimpft, ich habe das vier Jahre durchgehalten, dann wollten sie das ich noch länger bleibe und sie haben mich blutig geschlagen. Da bin ich dann im nächsten Hafen weggelaufen." Kaum Rechte und Lohn Den Männern werden am Ende eines langen Törns nur wenige hundert Dollar ausgezahlt, wenn überhaupt, sie besitzen keine Verträge, somit keinerlei Rechte, an Bord sind sie vollständig den Launen des Kapitäns ausgeliefert, nicht selten geht einer über die Reling. Das sei eine ganz eigene Welt, sagt Gok: "Auf dem Boot ist es wie in einem kleinen Land und der Kapitän ist der König. Er belohnt Loyalität mit besserer Behandlung und bestraft jeden Widerspruch." Bezahlt wird am Ende kaum etwas, manchmal gar nichts, auf jeden Fall aber zu wenig, 2,5 Millionen indonesische Rupien, etwa 170 Euro bekam Gok nach einem Törn von knapp drei Monaten. "Wir wollen jetzt versuchen, die Menschen, unsere Fischer zu schützen, unsere Freunde, die noch auf Booten sind. Es muss eine vernünftige Bezahlung geben, wir müssen mehr als eine Stunde am Stück schlafen können. Als ich vor einigen Wochen vom Boot herunterkam, habe ich gerade noch vierzig Kilo gewogen." Tausende, vielleicht Zehntausende illegale Seeleute sind draußen auf See, schätzen Experten. Sie werden häufig mit falschen Versprechungen an Bord gelockt, sagt Phil Robertson von Human Rights Watch. Er spricht von Zwangsarbeit an Bord: "Es gibt eingespielte Mechanismen, mit Agenten, die Menschen von Kambodscha und Myanmar anlocken und dann auf Boote zwingen, gegen deren Willen." Ein Problem: die Überfischung der Meere vor allem rund um Thailand. Der Fang in Thailand geht dramatisch zurück, nach aktuellen Zahlen in den vergangenen 50 Jahren um mehr als 80 Prozent. Die Meere sind überfischt, der ökonomische Druck wächst, kaum jemand will freiwillig die extrem harte Arbeit auf Fischerbooten verrichten - das ist der Nährboden für die aktuelle Form der Sklaverei, wie sie in Südostasien Alltag ist. Phil Robertson: "Thailand ist selber schuld, sie nehmen seit Langem alles, was man aus dem Meer holen kann, und zu diesem Verständnis gehört auch, Menschen zur Arbeit zu zwingen - ohne dass jemand Verantwortung übernimmt." Grundsätzlich aber, meint Sompong Srakaew vom Seafarers Action Center, gebe es die Zwangsarbeit an Bord, diese moderne Form der Sklaverei seit Langem, seit Jahrzehnten, erst seit wenigen Jahren, seit es ein Gesetz gegen Menschenhandel gebe, werde überhaupt darauf geachtet: "Moderne Sklaverei, das ist ein neuer Begriff, aber es geschieht seit Langem. Jetzt gibt es mehr Untersuchungen, aber in der Landwirtschaft, in der Fischindustrie gibt es keine Arbeitssicherheit, keine Rechte, keine Papiere, keine menschliche Behandlung." EU zeigt Thailand die sogenannte Gelbe Karte Die Europäische Union hat der thailändischen Regierung - in Thailand landet auch der Fisch von den indonesischen Kuttern - die sogenannte Gelbe Karte gezeigt, wegen der illegalen Fischerei, der Überfischung der Gewässer. Thailands Regierung gelobt Besserung innerhalb von sechs Monaten, man will alle Boote registrieren lassen und überwachen. Sompong Skrakaew hält die Gelbe Karte für hilfreich, bleibt aber skeptisch: "Die Gelbe Karte macht natürlich Druck, aber ob die Registrierung funktioniert, ist fraglich. Viele Boote bewegen sich weit außerhalb der Hoheitsgewässer, wie sollen die erfasst werden? Und wie sollen die Schiffe kontrolliert werden, auch auf einem registrierten Schiff können brutale Arbeitsbedingungen herrschen." Ein großer Teil des Fischs, vor allem der Meeresfrüchte, die möglicherweise von modernen Sklaven auf illegal fischenden Booten aus dem Meer geholt werden, landet in den Kühltruhen europäischer Supermärkte. Guter Fisch zu niedrigen Preisen. Europäische Verbraucher profitieren also - unwissend meist - von illegaler Fischerei und damit auch von den brutalen Arbeitsbedingungen in Südostasien. Das meint auch Gok, der Fischer: "Wer Fisch und Meeresfrüchte aus Thailand isst, muss wissen, dass viele meiner Freunde an Bord gestorben sind. Die Käufer essen guten, günstigen Fisch, aber gleichzeitig auch menschliches Fleisch."
Von Udo Schmidt
Ohne Vertrag und keinerlei Rechte - so arbeiten mitunter thailändische Seeleute auf Fischtrawlern. An Bord sind sie den Launen des Kapitäns ausgeliefert und bekommen am Ende kaum Lohn. Von dieser modernen Sklaverei profitieren auch europäische Verbraucher: guter Fisch zu günstigen Preisen.
"2015-06-06T13:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:40:45.201000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thailand-sklavenarbeit-auf-fischerbooten-100.html
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Streit um den Schlagbaum
Surrealistisch sei die Debatte um Schengen, fasste die linke französische Europaabgeordnete Marie-Christine Vergiat ihre Eindrücke zusammen: Da solle die Reisefreiheit von Millionen Europäern eingeschränkt und Grenzkontrollen wieder eingeführt werden, um einem nur vorgeblich massenhaften Zustrom von Flüchtlingen zu begegnen? Eigentlich müsste man darüber lachen, wenn die Konsequenzen der Politik nicht so real und dramatisch wären, findet die französische Europaabgeordnete.In Sachen Schengen ist sich das Europäische Parlament einig, mit nur ganz wenigen Ausnahmen: Die Abgeordneten warnten die Europäische Kommission und die 27 Mitgliedsstaaten, nicht an der Freizügigkeit zu rühren. Das sei eine der größten europäischen Errungenschaften. Ob polnischer Konservativer, dänischer Liberale, deutscher CSU-Abgeordneter oder spanischer Sozialdemokrat, alle warnten in Straßburg vor der Rückkehr von Grenzkontrollen in Europa. Fast alle Europaabgeordneten sehen mit Skepsis, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Migrationspolitik die Möglichkeit vorsieht, Grenzkontrollen wieder einzuführen, wenn ein Land nicht mehr fertig wird mit dem Zustrom von Flüchtlingen. Die Liberalen würden gegen eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen mit allen Mitteln kämpfen, kündigte deren Fraktionsvorsitzender Guy Verhofstadt an, und hofft dabei auf die Unterstützung des gesamten Europaparlamentes:"We will fight with all means and I hope the whole parliament is fighting!" Stattdessen forderte der liberale Fraktionschef, die Europäische Kommission solle eine strengere Einhaltung der geltenden Schengen-Regeln durchsetzen. Diese erlauben Grenzkontrollen ausnahmsweise nur bei der Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit. Das Vorgehen Italiens und Frankreichs bezeichnete Verhofstadt, selber früher belgischer Regierungschef, als Ping-Pong auf dem Rücken der Flüchtlinge – es habe Europa und seinem Image schwer geschadet. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Martin Schulz warf der Europäischen Kommission vor, mit ihrem Änderungsvorschlag zu Schengen auf den Populismus von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy und Italiens Premierminister Berlusconi einzugehen. 25.000 Migranten aus Tunesien seien noch lange kein Grund, die Reisefreiheit der Europäer einzuschränken."Der europäische Geist geht uns verloren. Wie kann es sein, dass Freizügigkeit aufgrund eines marginalen Problems von zwei Staatschefs mutwillig außer Kraft gesetzt wird? Wie kann das möglich sein?"Es gehe nicht darum, die Reisefreiheit für Europas Bürger einzuschränken, rechtfertigte José Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, die Änderungsvorschläge zu Schengen. Aber die Regeln müssten konkretisiert werden und es müsse eine europäische Aufsicht über die Umsetzung der Freizügigkeitsregeln kommen, so wie dies die Europäische Kommission schon im letzten Jahr vorgeschlagen habe, sagte Barroso den Europaabgeordneten:"Wir dürfen nicht blind sein und die Augen davor verschließen, dass die jüngsten Ereignisse ein Problem bei der Umsetzung von Schengen offenbart haben. Das müssen wir lösen. Wenn wir die bestehenden Mechanismen nicht verstärken, dann werden Mitgliedsländer weiterhin allein entscheiden. Die werden ja noch ermuntert, ohne Rücksprache allein Grenzkontrollen einzuführen. Da versorgen wir Populisten mit Argumenten und Ausländerfeinde, die die großartige europäische Errungenschaft der Freizügigkeit in Frage stellen wollen."Europa sollte auf den Zustrom von Migranten nicht mit einem Vorschlag zu neuen Grenzkontrollen reagieren, sondern mit Solidarität und Lastenverteilung der Länder untereinander, kritisierten vor allem Europaabgeordnete aus den südlichen EU-Staaten und die Grünen im Europaparlament. Daniel Cohn-Bendit, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, forderte, die EU müsse den tunesischen Migranten zeitlich beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen erteilen und auf eine solidarische Aufteilung der Flüchtlinge in der ganzen EU drängen. Nicht die Flüchtlinge aus Nordafrika, sondern die Europäer und ihre Unfähigkeit solidarisch zu handeln, seien das wahre Problem der EU. In Wirklichkeit werde auch eine Neuregelung von Schengen nur die anderen und nicht die EU-Bürger einschränken, sagte Cohn-Bendit:"Niemand wird sie oder wird mich kontrollieren. Aber dunkelhäutige Menschen, die, die anders sind, die werden kontrolliert werden. So schaffen wir ein Europa à la carte. Die Weißen dürfen rein, die Dunkelhäutigen bleiben draußen. Gegen dieses Europa wollen wir kämpfen!"
Von Doris Simon
Zuerst war es ein Streit zwischen Nachbarn: Italien hatte Flüchtlinge aus Afrika quasi animiert, nach Frankreich weiterzureisen. Paris machte daraufhin die Grenzen dicht. Mittlerweile diskutiert die gesamte EU: über Freiheit, Solidarität und den europäischen Geist.
"2011-05-11T09:10:00+02:00"
"2020-02-04T01:49:28.415000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-den-schlagbaum-100.html
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Zeuge belastet Medienunternehmen
Im Prozess zum 2015 aufgedeckten Korruptionsskandal rund um den Fußball-Weltverband FIFA müssen sich in New York mehrere Funktionäre vor Gericht verantworten. (FABRICE COFFRINI / AFP) Kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe gab es zunächst noch keine Reaktionen von Fox Sports. Als weiteres Unternehmen wurde bei dem Prozess in New Yorks Stadtteil Brooklyn auch die Grupo Televisa aus Mexiko genannt. Der Zeuge ist der frühere Chef eines argentinischen Sportvermarkters. "Blind vor Gier" Die Medienunternehmen selbst sind dabei in dem Prozess nicht die Beklagten, er richtet sich gegen drei ehemalige Sportfunktionäre aus Brasilien, Paraguay und Peru. Ihnen wird unter anderem Betrug, Verschwörung und Geldwäsche vorgeworfen. Sie sind die ersten drei prominenten Funktionäre, die im Zuge des 2015 durch die US-Justiz aufgedeckten FIFA-Skandals vor Gericht stehen. Sie seien geradezu "blind vor Gier" gewesen, wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor. Alle drei haben ihrerseits zu Prozessbeginn die Anklagepunkte bestritten.
Von Kai Clement
Brisante Aussage beim ersten Prozess zum großen FIFA-Korruptionsskandal in New York: Ein Zeuge der Anklage hat die Sport-Branche des US-Mediengiganten Fox und andere Medienunternehmen beschuldigt, für Fußball-Übertragungsrechte Bestechungsgelder gezahlt zu haben.
"2017-11-14T22:57:00+01:00"
"2020-01-28T11:01:01.526000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-prozess-in-new-york-zeuge-belastet-medienunternehmen-100.html
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Keine parteipolitischen Manipulationen bei der Nominierung Süssmuths zu sehen - CDU muss Personalfragen souveräner behandeln und Freiheit des Geistes respektieren
Lange: Darf sie, soll sie, will sie überhaupt und wenn ja unter welchen Bedingungen? Rita Süssmuth, die ehemalige Bundestagspräsidentin, ist innerhalb weniger Tage mit in eine Diskussion geraten, in der es um etwas ganz anderes geht als um ihre Person. Die Bundesregierung hat ihr angetragen, gemeinsam mit dem ehemaligen SPD-Chef Hans-Jochen Vogel eine Kommission zu leiten, die sich über eine künftige Einwanderungspolitik Gedanken machen soll. Das schmeckt der CDU nun gar nicht. Präsidium und Bundesvorstand haben sich gestern gegen die Teilnahme von Frau Süssmuth an den Beratungen dieser Kommission ausgesprochen. Dies sei die fast einhellige Meinung der CDU-Spitze gewesen, so Generalsekretär Ruprecht Polenz. Mit einem seiner Amtsvorgänger, mit Heiner Geissler wollen wir nun über den Meinungsbildungsprozess in der Union in Sachen Ausländerrecht, Einwanderung und Asyl sprechen. Guten Morgen Herr Geissler! Geissler: Guten Morgen Herr Lange. Lange: Herr Geissler, verstehen Sie die Bedenken Ihrer Parteiführung? Geissler: Nein, das kann ich nicht verstehen, denn wir haben ja schon in anderen Fällen die Situation gehabt, dass Persönlichkeiten gebeten worden sind, Kommissionen zu leiten, die Vorschläge ausarbeiten sollen. Ich erinnere an Richard von Weizsäcker oder Roman Herzog oder den Grafen Lambsdorff wegen der Kommission für die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Es kommt dabei nicht so sehr auf die parteipolitische Zugehörigkeit an, sondern auf die Qualität der Persönlichkeit, und ich finde, dass die Nominierung von Rita Süssmuth ein ehrenvoller Auftrag ist, unter der Voraussetzung, dass sie auch tatsächlich die Vorsitzende werden soll. Wenn es jetzt heißt, da gibt es einen Kopräsidenten, gleichberechtigt, dann würde ich das für keine gute Entscheidung halten. Dann sollte sie das auch nicht tun, denn dann wird sie mehr oder weniger zur Dekoration. Lange: Wie sehen Sie denn dieses Angebot an Rita Süssmuth? Ist das ernst gemeint oder nur eine taktische Finesse der Regierung in spalterischer Absicht? Geissler: Das kann man, glaube ich, so nicht sagen. Was heißt spalterische Absicht. Alle Parteien, auch die Regierung, auch die Union, müssen sich ja um ein Konzept bemühen, und es soll ja eine überparteiliche Kommission sein. Rita Süssmuth ist sicher nicht allein mit dem Hans-Jochen Vogel, sondern wie ich höre sollen überhaupt nur vier oder fünf Mitglieder aus den Fraktionen dabei sein und die anderen außerhalb des Parlaments, unabhängige Persönlichkeiten. Daraus kann sowieso keine parteipolitische Manipulation entstehen. Das Problem sehe ich nun gar nicht. Lange: Es könnte ja ganz einfach auch mit der Person Süssmuth zu tun haben, oder hätte es solche Vorbehalte auch gegeben, wenn das Angebot zum Beispiel an den bayerischen Innenminister Beckstein gegangen wäre? Geissler: Da rühren Sie sicher an einem wunden Punkt, aber ich finde, die Union ist eine große Volkspartei und keine Ansammlung von Kleingeistern. Wir müssen eine solche Frage souveräner behandeln. Die Freiheit des Geistes sollte eben doch überall geachtet werden. Eigentlich sollten die Zeiten vorbei sein, wo jemand deswegen richtig gemobbt wird, weil er für sich persönlich eine Entscheidung dieses Kalibers fällt. Ich glaube, es liegt bei den Kritikern eine Fehlentscheidung zu Grunde. Manche hoffen, dass sie möglicherweise wegen des Einwanderungsgesetzes oder wegen der Einwanderungskriterien Wahlkampfmunition bekommen könnten. Das halte ich nun für völlig abwegig und hoffe sehr, dass niemand auf die Idee kommt, den nächsten Bundestagswahlkampf mit dem Ausländerthema zu bestreiten. Dass es in Hessen einmal mit der Unterschriftenaktion gelungen ist, Leute zu mobilisieren, das ist nach meiner festen Überzeugung ein einmaliger Vorgang. Wir waren uns im Bundesvorstand der CDU damals auch einig, dass das ein "Ritt über den Bodensee" war und dass man so etwas eigentlich nicht wiederholen kann. Das haben wir ja in Nordrhein-Westfalen gesehen, wo die Einwanderung auch eine Rolle spielen sollte, aber der Union nun überhaupt nicht genutzt hat. Wenn der Vorsitz von Rita Süssmuth bei dieser Kommission also dazu dienen würde, die ganze Sache aus der parteipolitischen Auseinandersetzung herauszuhalten, dann wäre das ein zusätzlich positives Ergebnis. Lange: Herr Geissler, Ihre Partei hat sich in Sachen Einwanderungspolitik etwas bewegt. Nun hat der Vertreter des UNO-Flüchtlingskommissars, aber auch mehrere Menschenrechtsorganisationen nachdrücklich davor gewarnt, diese Einwanderungsdiskussion mit einer neuen Debatte über das Asylrecht zu verknüpfen. Warum finden diese Stimmen in der CDU so wenig Gehör? Geissler: Darüber ist in der CDU ja noch gar nicht entschieden worden. Es gibt Vorschläge, aber nicht nur innerhalb der Union, sondern auch der Bundesinnenminister hat sich ähnlich geäußert. Ich halte das für völlig unvereinbar, eine Diskussion über Zuwanderung aus ökonomischen Gründen zu verbinden mit einer Reduzierung der Zahl der politischen Flüchtlinge. Man kann ja Computersachverständige nicht aufrechnen gegen Menschen, die nach unserem Grundgesetz bei uns Zuflucht suchen, weil sie politisch verfolgt werden, weil sie in ihren Heimatländern aus politischen oder religiösen Gründen gefoltert werden. Das grenzt an einen Verstoß, an einen Verrat gegenüber dem Geist der Verfassung. Das kann man ja nicht akzeptieren. Was wir brauchen - und deswegen ist die Diskussion bei uns so schwierig. Ich habe schon seit langen Jahren darauf hingewiesen, dass wir natürlich ein Einwanderungsland sind, nicht in dem Sinne wie die klassischen Einwanderungsländer, aber dass wir aus ökonomischen Gründen Zuwanderung brauchen. Das hat auch der Bundesverband der Arbeitgeber immer wieder betont. Aber man hat ja kein Gehör gefunden aus lauter Angst vor den Rechtsradikalen, die möglicherweise durch eine solche Diskussion Zulauf bekommen könnten, was natürlich völliger Quatsch ist. Deswegen ist die notwendige Diskussion unterblieben. Die ganze Diskussion um die Zuwanderung krankt auch daran, dass wir als Einwanderungsland im Vergleich zu den Amerikanern, die auch ein Einwanderungsland sind, eben folgendes Manko haben. Der Unterschied besteht darin: Die Amerikaner haben ein Konzept und die Deutschen haben kein Konzept, sondern wir kurieren mal am Asylrecht herum, dann kommt wieder die "Greencard", dann kommt wieder etwas anderes und so wird punktuell an dieser schwierigen und für unsere Gesellschaft ja wirklich wichtigen Frage herumgedoktert. Deswegen kriegen wir dauernd diese Verwerfungen in einer Diskussion, die wir notwendigerweise sehr sachlich führen sollten. Ein solches Konzept muss erarbeitet werden. Es müsste mindestens vier Punkte haben. Lange: Herr Geissler, aber warum verbeißt sich Ihre Partei immer so in dieses Asylrecht? Das sind noch 100.000 Leute, die im letzten Jahr über das Asylrecht hier Zuflucht gesucht haben. Ist das noch eine nennenswerte Größe? Geissler: Nein, es ist keine nennenswerte Größe, vor allem weil auch relativ wenige anerkannt werden. Die Prozentsätze sind ja ganz niedrig. Das Problem ist eher, dass diejenigen, die nicht anerkannt werden, eben dann doch aus anderen Gründen in einer großen Anzahl hier in Deutschland bleiben. Man muss diese Frage ganz sicher ernst nehmen, aber das Asylrecht selber darf man auf gar keinen Fall ändern. Wir müssen natürlich sehen, dass wir innerhalb von Gesamteuropa hier eine Sondersituation haben. Europäisches Recht wird in dem Zusammenhang auch neu formuliert werden müssen. So weit sind wir ja noch lange nicht, und außerdem gilt eben die Verfassung. Wir haben auch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, aus denen hervorgeht, dass wir nicht einfach wegen Europa unsere Verfassung ändern dürfen. Lange: Aber dieses Grundrecht auf Asyl ist ja seinerzeit von Leuten durchgesetzt worden, die noch unter dem Eindruck der Verfolgung durch die Nazis standen und die selbst große Schwierigkeiten hatten, Asyl zu finden. Warum tut sich Ihre Partei so schwer, sich zu diesem Vermächtnis zu bekennen? Geissler: Die CDU tut sich da gar nicht so schwer. Ich habe auch aus der CDU selber noch keine ernsthafte Forderung vernommen. Es gibt Überlegungen, dieses Grundrecht umzuwandeln in eine institutionelle Garantie, aber das wäre eben gleichbedeutend mit der Abschaffung. Lange: Aber die kommen ja nicht von Hinterbänklern? Geissler: Nun ja, die Diskussion hat es schon vor zehn oder zwölf Jahren gegeben. In dem damals gefundenen Asylkompromiss ist dieses ausdrücklich abgelehnt worden. Die eigentliche Frage, wenn ich darauf noch mal zurückkommen darf. Die Sache mit der Grundrechtsänderung halte ich sowieso für eine relativ unerhebliche Diskussion, weil es dafür ja eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag bräuchte, und die sehe ich überhaupt nicht. Man soll nicht über Fragen reden, die letztendlich dann gar nicht gelöst werden. Wenn ich an den Asylkompromiss von vor zehn oder acht Jahren erinnere, dann ist dort auch ein ganz wichtiger Beschluss gefasst worden, dass man nämlich eine Gesamtkonzeption erarbeiten sollte. Dazu gehört eben nicht nur, dass man Kriterien erarbeitet für die Einwanderung, sondern dass man zum Beispiel auch die Ursachen für die Immigration beseitigt. Es hat ja keinen Sinn, ständig über die Immigration und ihre Auswirkungen bei uns in Deutschland zu jammern, wenn gleichzeitig nichts getan wird, um die Ursachen für die weltweite Migration einzudämmen. Die Ursachen für die Migration sind Bürgerkriege, sind Armut und ökologische Katastrophen. Bei den Bürgerkriegen ist in den letzten Jahren Gott sei Dank gehandelt worden. Der Einsatz der NATO und der Bundeswehr im Kosovo war ein Beitrag auch zur Eindämmung der Migration, weil wir es ja nicht akzeptieren können, dass auf der Erde Despoten mit ihren missliebigen Einwohnern gerade machen können was sie wollen und die dann zu hundert Tausenden in andere Länder flüchten müssen. Insoweit war der Einsatz der Bundeswehr und der NATO im Kosovo ein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung der Ursache von Migration. In der Armutsbekämpfung machen die reichen Industrieländer aber so gut wie nichts, und auch bei der ökologischen Frage sieht es nicht viel besser aus. Lange: Herr Geissler, jetzt muss ich Sie langsam bremsen. Gleich stehen die Nachrichten an. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und auf Wiederhören. Link: Interview als RealAudio
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"2000-06-27T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T13:27:46.599000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/keine-parteipolitischen-manipulationen-bei-der-nominierung-100.html
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"Wer mit dem Iran Handel treibt, unterstützt Terrorismus"
US-Botschafter Richard Grenell bei einem Besuch in Hamburg (imago / Chris Emil Janßen) Beim Atom-Abkommen mit dem Iran seien sich USA und Europäer einig, dass es darum gehe, zu verhindern, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen komme, sagte US-Botschafter Richard Grenell im Dlf. Nicht einig seien sie sich, was die Mittel angehe, um dieses Ziel zu erreichen. "Unsere Unterschiede betreffen nur die Taktik". Wichtig sei dabei auch, dass es sich bei dem Abkommen mit dem Iran nicht um einen Vertrag handele, der auch dem US-Senat vorgelegt worden sei, sondern um ein präsidentielles Abkommen. Der Iran übe in der Region einen unheilvollen Einfluss aus, sagte Grenell. Zudem sei die USA der Meinung, dass Handel mit dem Iran bedeute, die Mullahs und den Terrorismus zu unterstützen. Das Interview in voller Länge: Sandra Schulz: Der Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump, der hat Sie ja jetzt als seinen Repräsentanten, als den Repräsentanten der Vereinigten Staaten, nach Deutschland geschickt. Warum Sie? Richard Grenell: Ich glaube, um die Antwort zu bekommen, müssen Sie Präsidenten Trump selbst fragen. Ich bin jedenfalls hochentzückt, dass ich hier sein darf. Ich sehe mich mehr als Mitglied des Stabes, nicht so sehr als Botschafter. Damit meine ich, ich möchte Probleme lösen, ich möchte herausfinden, wo es derzeit hakt im Verhältnis zwischen USA und Deutschland. Und wissen Sie, ich habe mit dieser Aufgabe angefangen, nachdem ich acht Jahre bei der UNO gearbeitet hatte. Schulz: Haben Sie sich beworben dafür oder standen Sie auf seiner Liste? Grenell: Ich habe schon sehr früh den Präsidenten Trump als Kandidaten unterstützt. Er hatte mich auch schon kennengelernt, ehe der Wahlkampf begann, und ich habe auch ein bisschen für ihn gearbeitet über die UNO. Das heißt, er kannte mich schon, und als ich jetzt gefragt wurde, ob ich das übernehmen wollte, war ich natürlich sofort bereit, darauf einzuspringen. Schulz: Die nächste Frage, die da jetzt natürlich naheliegt für alle, die Donald Trump beobachten: Bringen Sie "America first" jetzt nach Berlin? US-Botschafter Richard Grenell beim Interview im Funkhaus Köln (Deutschlandradio / Bettina Fürst-Fastre) Grenell: Ich sehe meine Aufgabe eher als die eines Brückenbauers, als eines Problemlösers, und das sollten die Deutschen auch von mir erwarten. Sie sollten mich als jemanden sehen, der die Ärmel hochkrempelt, der sich eine Aufgabenliste erstellt und das dann Punkt für Punkt abarbeiten möchte, und am Ende meiner Amtszeit hier möchte ich dann imstande sein zu sagen, ja, vieles ist geschafft worden für die deutschen Unternehmen, für den Austausch mit Deutschland und auch für die amerikanische Wirtschaft, für den Austausch mit den USA. Ich sehe mich als jemanden, der Mehrwert schafft, weil ich eben Donald Trump und seine Regierung kenne, und ich möchte imstande sein, die bestehende enge Beziehung noch zu vertiefen und Probleme, die vielleicht da sind, zu lösen. In acht Jahren UNO habe ich doch eines gelernt: Vom ersten Tag an, als ich mit den Deutschen zusammenarbeitete bei der UNO, wir stehen immer exakt auf derselben Seite bei allen Problemen, ob es die Demokratie angeht, Menschenrechte, den Kapitalismus. Stets sind wir in einer engen Partnerschaft, und wir haben immer auf eine enge Zusammenarbeit hingearbeitet, und ich habe es doch erfahren: Wenn man die Deutschen miteinbezieht in solche weltumspannenden Probleme, dann findet man gut ausgebildete, strategisch denkende Partner, und das ist es doch genau, was wir suchen. "Großer Respekt auf beiden Seiten vorhanden" Schulz: Aber woran merken die Europäer das denn, dass wir Partner sind und dass diese Partnerschaft auch wichtig ist für Donald Trump? Grenell: Nun, das ist äußerst wichtig. Ich habe dabeigesessen, als Präsident Trump und Bundeskanzlerin Merkel im Weißen Haus alle diese Themen besprachen. Ich spürte, welch großer Respekt auf beiden Seiten vorhanden ist. Donald Trump hat verstanden, dass Kanzlerin Merkel eine sehr erfolgreiche Politikerin ist, dass sie eine der führenden Persönlichkeiten Europas ist, und er hat auch begriffen, wie machtvoll und einflussreich die deutsche Wirtschaft ist und wie wichtig die Menschen in Deutschland, die Innovationskraft Deutschlands für uns ist, und als enge Freunde, die wir nun einmal sind, können wir offen miteinander sprechen, und wir wollen alles tun, damit diese freundschaftliche Beziehung noch vertieft wird. Schulz: Sind nicht Respekt, Freundschaft, Vertrauen, sind das nicht auch Parameter einer Freundschaft? Grenell: Nun, Sie haben da eine ganze Reihe von Themen ausgespart, die wir ja miteinander abarbeiten. Ich sehe ein, dass es Aufgabe der Medien ist, vieles kritisch zu betrachten, aber es gilt doch das Ganze in dem viel größeren Kontext unserer Beziehungen einzubetten, und da erkennt man gleich, wir haben sehr viel mehr Gemeinsamkeiten als man gemeinhin zugibt. Was nun dieses Thema Iran angeht, das Sie angesprochen haben, auch hier gilt, dass die Europäer und die USA genau auf derselben Seite sind, wenn es darum geht, das Bedrohungspotenzial, das Iran darstellt, einzuschätzen. Die Erklärung der EU-3-Staaten zum Thema Iran-Abkommen hat eine Besorgnis über unseren Rückzug aus diesem Atomabkommen ausgedrückt, aber es war doch klar, dass die USA und die Europäer darin übereinkommen, dass dieses Abkommen verhindern soll und verhindern muss, dass der Iran Atomwaffen herstellt. Unsere Meinung ist, dass dieses Abkommen zu schwach ist, um den Iran wirklich daran zu hindern, Atomwaffen herzustellen und ein Atomprogramm fortzuführen. Wir stimmen also in der Zielsetzung, die wir verfolgen, überein, aber Europäer und Amerikaner sind nicht einer Meinung, was die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angeht. "Unsere Unterschiede betreffen nur die Taktik" Schulz: Jetzt waren ja Macron und Merkel im Washington und haben gewarnt vor dem Bruch des Nuklearabkommens. Es gab diese heftige Diskussion über die Strafzölle, die eingeführt werden sollen, und es gab auch die Warnung davor, die Botschaft nach Jerusalem zu verlegen in Israel. Aus europäischer Sicht scheint das ja alles überhaupt nichts geändert zu haben. Welches Gewicht hat die europäische Stimme denn? Grenell: Auch hier besteht Übereinstimmung in der Einschätzung des Bedrohungspotenziales, das der Iran darstellt. Unsere Unterschiede betreffen nur die Taktik. Nehmen wir auch die NATO: Auch von der Wichtigkeit der NATO sind wir überzeugt, und wir sind auch überzeugt, dass es wichtig ist, dass jedes Land zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigungsaufgaben aufwendet, und wir wollen, dass dies auch prioritär gesetzt wird, dass eben wirklich alle Länder in Europa zwei Prozent für die Verteidigung aufbringen, denn wir glauben, dass dieses Thema wirklich zählt. Schulz: Dann sind also die 1,5 Prozent, die Angela Merkel ja gerade angekündigt hat, die reichen dann nicht? Grenell: Nun, die Selbstverpflichtung Deutschlands lautet zwei Prozent. Das ist ihre selbstauferlegte Verpflichtung. Wir freuen uns jetzt darauf, einen Plan zu sehen, wie die Deutschen dieses Ziel der zweiprozentigen Ausgabe zu erreichen gedenken, und diesen Plan werden sie dann, so hoffen wir, in diesem Sommer den NATO-Verbündeten vorlegen. Schulz: Und jetzt nach dem Bruch des Iran-Abkommens: Wie wollen die USA da ihren Partnern denn noch sagen, was wir verabredet haben, das halten wir auch? War das nicht ein echter Vertrauensbruch? Grenell: Ja, das wäre in der Tat sehr wichtig, wenn es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag handeln würde. Vielleicht wissen Sie das nicht: Es handelt sich hier nicht um einen Vertrag, sondern nur um eine Präsidentenanordnung. Das ist nicht ein internationales Abkommen, das dem Senat vorgelegt worden wäre. Also es ist kein Vertrag. "Wir wollen starke, wirksame Vertragsklauseln, denen alle zustimmen können" Schulz: Aber es wurde ja als Verabredung gesehen. Wenn wir jetzt drauf schauen, wie verlässlich die USA sind, dann fragt man sich, warum sollte jetzt ein Kim Jong-un, um dessen Atomaktivitäten es jetzt ja auch geht, warum sollte der sich auf einen Deal mit Donald Trump einlassen, der ja gerade ein Abkommen gebrochen hat? US-Botschafter Richard Grenell beim Interview im Funkhaus Köln (Deutschlandradio / Bettina Fürst-Fastre) Grenell: Nun, ich darf Ihnen vielleicht erzählen, wie diese Nordkorea-Diplomatie jetzt begonnen hat. Ich war ja dabei bei der Sitzung des UNO-Sicherheitsrates im Jahr 2005, als die Staatengemeinschaft begann, Sanktionen gegen Nordkorea zu verhängen. Die Russen, die Chinesen, alle haben ihre Zustimmung signalisiert und haben gesagt, ja, wir werden Sanktionen gegen Nordkorea mittragen. Über die Jahre hinweg sahen wir dann, die Chinesen trotz ihrer Absichtserklärungen die Sanktionen nicht umgesetzt haben. Nordkorea konnte weiterhin Handel treiben und konnte weiterhin Schritte auf diesem Weg zu Nuklearwaffen gehen. Schon sehr bald, im Laufe von sechs bis acht Monaten, erkannten wir, dass diese Sanktionen wirksam sind, dass sie uns dem Ziel, Nordkorea an den Verhandlungstisch zurückzubringen, näherbringen, und das ist ja unsere Aufgabe als Diplomaten: Wir wollen sprechen, wir wollen die Parteien an den Verhandlungstisch zurückbringen, wir wollen starke, wirksame Vertragsklauseln, denen alle zustimmen können, und die uns dabei helfen, dann das Ziel zu erreichen. Schulz: Und jetzt haben wir die Situation, dass sich deutsche Unternehmen entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen. Sie haben eine Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen mit Ihrem Tweet. Wenn wir jetzt noch mal schauen auf die deutsch-amerikanische Partnerschaft, da ist doch der Grund, warum hier in Deutschland der Schreck ja so groß war über Ihren Tweet, dass man sich gefragt hat, ist das jetzt der Arbeitsmodus des neuen Botschafters, dass ein Botschafter in unser Land kommt und Anweisungen erteilt? Grenell: Es war keineswegs ein Befehl. Wir erkennen doch an, dass die deutsche Bundesregierung und die deutschen Unternehmen selbst entscheiden werden, mit wem sie Geschäfte treiben. Wir haben aber erkannt, dass der Iran in der Region einen unheilvollen Einfluss ausübt, dass man, wenn man mit dem Iran Handel treibt, die Mullahs unterstützt, dass man Geld an die Revolutionsgarden gibt, dass man Terrorismus unterstützt. Das ist unsere Meinung. "Wir sehen uns als Problemlöser" Schulz: Ist das jetzt der Ton? Viele haben es ja als Anweisung verstanden. Grenell: Das glaube ich überhaupt nicht, was Sie da sagen. Viele Menschen haben sich an uns gewandt und haben gesagt, sie begrüßen es sehr, dass wir eine klare Ansage machen, dass jeder Handel mit dem Iran ein Handel mit den Mullahs sei. Das ist die Position der USA. Es liegt bei den Deutschen, bei der deutschen Regierung und der deutschen Wirtschaft, zu entscheiden, mit wem sie Geschäfte treiben wollen. Ich weiß aber von vielen deutschen Unternehmen, dass sie offen zugeben, dass sie nicht mit dem Iran Geschäfte machen wollen, wenn das ihr amerikanisches Geschäft aufs Spiel setzt. Da gibt es einfach keinen Vergleich in der Größenordnung. Meine Aufgabe sehe ich darin, bei diesem Thema, das, wie ich meine, kein echtes Problem sein wird, zu erklären, was unsere Position ist, mit klaren, deutlichen Worten, wie man es gegenüber Freunden macht. Schulz: Was können wir Deutschen denn tun, um Sie besser zu verstehen? Grenell: Das ist eine berechtigte Frage. Ich würde Sie anders herum aufzäumen: Ich würde die Verantwortung bei mir, bei unserem Team sehen, und ich habe das auch dem Team in der Botschaft gleich zu Beginn gesagt, kümmert euch nicht allzu sehr um Meinungsumfragen, hört nicht allzu sehr auf das, was die politische Klasse, die Reporter und so weiter untereinander reden, sondern wir sehen uns als Problemlöser. Wenn man die Welt gesehen hat, wenn man etwas herumgekommen ist, dann wird man eindeutig erkennen, dass wir stets auf derselben Seite stehen und dass wir sehr, sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Schulz: Thanks a lot! Grenell: Thank you! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Richard Grenell im Gespräch mit Sandra Schulz
Deutsche und Amerikaner hätten sehr viel mehr Gemeinsamkeiten, als man zugebe, sagte US-Botschafter Richard Grenell im Dlf mit Blick auf die jüngsten Spannungen. Sie stünden eigentlich immer auf der gleichen Seite. Das gelte auch für das Iran-Abkommen. Nicht einig sei man sich bei der Wahl der Mittel.
"2018-05-18T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:52:47.736000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-botschafter-grenell-wer-mit-dem-iran-handel-treibt-100.html
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Aufarbeitung der Militärdiktatur
Militärische Ehre für den 1964 von den Militärs gestürzten Präsidenten Joao Goulart (picture-alliance/dpa/Fernando Bizerra Jr) Staatspräsidentin Dilma Rousseff, ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, dessen Vorgänger Henrique Cardoso und andere Repräsentanten der brasilianischen Staats: Sie alle hatten sich versammelt, als im November die sterblichen Überreste João Goularts exhumiert wurden, des letzten demokratisch legitimierten Präsidenten des Landes vor dem Militärputsch im Jahr 1964. Eine forensische Untersuchung soll klären, wie der am 6. Dezember 1976 verstorbene Goulart zu Tode kam: durch Herzversagen – oder durch einen Giftanschlag, ausgeführt von den Agenten der "Operation Condor“, eines Zusammenschlusses der Geheimdienste von Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Alle Länder standen damals unter der Herrschaft von Militärdiktaturen. Manches spricht dafür, dass Goulart ermordet wurde. Bewiesen ist es aber nicht. Bei der nun anstehenden Obduktion, erklärt João Vicente Goulart, der Sohn des verstorbenen Präsidenten, gehe es nicht allein um das Schicksal seines Vaters. Ebenso so wichtig sei noch etwas. "Es ist von größter Bedeutung, dass Brasilien sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Wir wollen nicht, dass die Erinnerung an die Diktatur durch die Perspektive der damaligen Militärs präsentiert wird. So verstehen wir die Exhumierung meines Vaters João auch als Beitrag zur Auseinandersetzung mit jener Zeit ganz allgemein." Erst im letzten Jahr wurde die "Commissão Nacional da Verdade", die "Nationale Wahrheitskommission", gegründet, die die Diktatur in den kommenden Jahren umfassend aufarbeiten soll. Dass es so lange dauerte, die Verbrechen aufzuarbeiten, hat konkrete Gründe, erläutert Maurice Politi, Direktor von Núcleo Memória, einem Zusammenschluss ehemaliger politischer Häftlinge und politisch Verfolgter. "Das Anliegen des Militärs war es, das Land zu befrieden und zugleich die alte Macht zu erhalten. Darum breitete es den Mantel des Schweigens über die Epoche. Man hörte sehr wenig über diese Zeit, und es wurde auch wenig getan, um sie bekannter zu machen." Die zögerliche Aufarbeitung habe Folgen, erklärt Politi. "In Deutschland offenbarten die Nürnberger Prozesse der ganzen Welt das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes. In Brasilien gab es eine solche Aufarbeitung nicht. Darum gibt es bis heute Fälle spurlos verschwundener Menschen. Das hat keine politischen Gründe mehr - heute verschwinden Obdachlose, Menschen aus den Favelas oder aus dem Umkreis des Drogenhandels. Das hat auch damit zu tun, dass die während der Diktatur begangenen Verbrechen nicht gesühnt wurden. So sind sich viele Menschen des Unrechtscharakters der Diktatur immer noch nicht bewusst." Inzwischen hat sich die brasilianische Zivilgesellschaft aber formiert. Sie schaut zurück, aber auch nach vorn. Für João Vicente Goulart hängen Vergangenheit und Zukunft eng miteinander zusammen. "Bald beginnt in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft. In ihrem Vorfeld erlebten wir große Demonstrationen und Proteste. Es ging um soziale Reformen, etwa im Bereich von Gesundheit und Erziehung. Die Brasilianer wollen, dass die sozialen Fragen genauso ernsthaft angegangen werden wie die Vorbereitungen der WM. Zeitlich fällt die WM mit dem 50. Jahrestag des Militärputsches zusammen. Beides ist Anlass, den Staat zu reformieren." Symbolisch hat Brasilien die Regierung Goulart nun wieder ins Recht gesetzt: Ende November beschloss der Nationalkongress, jene Sitzung des Jahres 1964, in der Goulart abgesetzt wurde, für ungültig zu erklären. An den politischen Folgen dieses Tages ändere dieser Entschluss zwar nichts, erklärte der 1930 geborene Kongressabgeordnete Pedro Simon, der bereits die Sitzung 1964 persönlich miterlebt hatte. Aber er gebe ihnen eine neue Deutung. Klar sei nun: An jenem Tag, an dem der Kongress sich herausnahm, den Präsidenten zu stürzen, missachtete er dreist den Willen der Bevölkerung.
Von Kersten Knipp
Um die Verbrechen der Junta aufzuklären, wurde in Brasilien eine Wahrheitskommission ins Leben gerufen. In diesem Zusammenhang steht auch die Exhumierung des 1964 von den Militärs gestürzten Präsidenten João Goulart.
"2013-12-07T17:30:00+01:00"
"2020-02-01T16:49:45.409000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brasilien-aufarbeitung-der-militaerdiktatur-100.html
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Bayern hält Union auf Distanz, doch die schielen auf die Champions League
Der FC Bayern München hat im Spitzenspiel gegen Verfolger Union Berlin für klare Verhältnisse gesorgt. Die Münchener landeten einen ungefährdeten 3:0-Sieg. (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
Baczyk, Stephanie
Bayern München hat den Auftritt gegen den direkten Kontrahenten Union Berlin sehr ernst genommen und "abgeliefert", sagte ARD-Kommentatorin Stephanie Baczyk im Dlf. Union spiele zwar nicht den attraktivsten Fußball, agiere aber sehr effektiv.
"2023-02-26T19:20:00+01:00"
"2023-02-26T20:50:17.679000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesliga-analysegespraech-bayern-vs-union-berlin-kampf-der-systeme-dlf-912e2ede-100.html
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Stichwahl unter schwierigen Bedingungen
Anhänger des amtierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita vor der Stichwahl am 12. August 2018 (AFP / Michele Cattani) In Mali findet heute die zweite Runde der Präsidentschaftswahl statt. Beim ersten Urnengang Ende Juli hat der Amtsinhaber, Präsident Ibrahim Boubacar Keita, rund 41 Prozent der Stimmen bekommen. Gegen ihn wird nun Soumaila Cissé antreten – er hatte knapp 18 Prozent der Stimmen erhalten. Beide Kontrahenten waren schon vor fünf Jahren gegeneinander angetreten. In der Zwischenzeit hat sich die Sicherheitslage im Sahelstaat allerdings dramatisch verschlechtert: Wegen der Gewalt konnte in Teilen Malis nicht gewählt werden. Tuareg-Volksgruppen rebellieren weiter gegen die Zentralregierung, Islamisten verüben mittlerweile auch im Zentrum des Landes tödliche Anschläge auf die malische Armee und die UN-Mission Minusma, an der auch die Bundeswehr mit mehr als 1000 Soldaten beteiligt ist. Mit Ergebnissen der Wahl ist voraussichtlich Mitte kommender Woche zu rechnen.
Von Alexander Göbel
In Mali findet heute die zweite Runde der Präsidentschaftswahl zwischen Amtsinhaber Keita und seinem Herausforderer Cissé statt. Aufgrund der prekären Sicherheitslage kann die Bevölkerung in manchen Landesteilen nicht zur Stimmabgabe gehen. Mit Ergebnissen ist voraussichtlich Mitte kommender Woche zu rechnen.
"2018-08-11T13:30:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:49.407000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mali-stichwahl-unter-schwierigen-bedingungen-100.html
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"Brauchen verbindliche Zusagen für Öffnung der Kulturorte"
Ein Mädchen beim Klavierunterricht: Viele Musikerinnen und Musiker leiden unter den Folgen der Corona-Pandemie (imago/ecomedia/Robert Fishman) Die Ergebnisse der Umfrage seien nicht überraschend, sagt Christian Höppner im Dlf. Die soziale Situation vieler Soloselbsständiger im Kulturbereich sei schon vor der Pandemie prekär gewesen. Durch die Pandemie habe sich die Lage aber verschärft. "Wir müssen dafür sorgen, dass das schon jahrzehntelang quälende Problem der sozialen Schieflage bei vielen Kulturschaffenden grundsätzlich neu angegangen wird. Gerade jetzt ist der Krise ist die Zeit dafür gegeben", so Höppner. "Was viele Musikerinnen und Musiker zermürbt, ist der hohe bürokratische Aufwand bei der Beantragung aber vor allem das Schauen von Monat zu Monat. Wir brauchen jetzt verbindliche Zusagen für die Öffnung der Kulturorte." Fachkräftemangel im Kulturbereich Die Folge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von jungen Musikerinnen und Musikern sei eine Verschlimmerung des schon jetzt bestehenden Fachkräftemangels. Zynisch könne man sagen, so Höppner, durch die anstehenden dramatischen Kürzungen im Kulturbereich werde "sich das Problem Fachkräftemangelproblem lösen lassen. Aber das hoffen wir nicht." Zu lindern wären die Folgen nur, "wenn wir bei den Kulturausgaben der Länder in eine Selbstverpflichtung kommen." Die Länder und die Kommunen sollten sich festlegen, die Kulturausgaben auf dem Niveau von 2020 für die kommenden vier Jahre festzuschreiben. Gravierende Einschnitte In Einzelgesprächen sei deutlich geworden, "dass die immateriellen Schäden noch viel zu wenig in der öffentlichen Wahrnehmung sind." Zum Beispiel das Erleben von Kultur vor Ort, ob es im Amateurbereich ist, die Band, das Orchester der Chor: Überall würden die Folgen der Pandemie gravierende Einschnitte mit sich bringen. Den Kulturschaffenden und auch den vielen Kindern und Jugendlichen müsse deutlich gemacht werden, "ihr habt eine Perspektive, Kultur ist das, was unser Zusammenleben ausmacht".
Christian Höppner im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Der Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Christian Höppner, fordert konkrete Zusagen für die Öffnung von Kultureinrichtungen. Eine Umfrage unter Musikerinnen und Musikern zeige, dass die schon vor der Krise schwierige soziale Situation sich verschärft habe.
"2021-02-18T17:30:00+01:00"
"2021-02-19T12:28:33.152000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-des-deutschen-musikrats-brauchen-verbindliche-100.html
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Lungenärzte haben sich verrechnet
Stickstoffdioxid und Feinstaub in der Atemluft sind gesundheitsschädlich - das lässt sich nicht wegrechnen (picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow) Der Journalist Malte Kreutzfeldt hat für die "Tageszeitung" (taz) nachgerechnet, wie der Initiator des umstrittenen Positionspapiers der Lungenfachärzte, der emeritierte Professor Dieter Köhler, zu den Zahlen gekommen ist, auf denen seine Kritik an den Luftschadstoffgrenzwerten basiert. Eine der Kernargumente Köhlers beruhte auf der Behauptung, dass ein durchschnittlicher Raucher, der am Tag eine Schachtel Zigaretten raucht, nach seinen Berechnungen eine Million Mikrogramm Stickstoffdioxid (NO2) am Tag aufnehme. Das wäre tausendfach mehr als das Außenluftgrenzwert von 40 Mikrogramm. Daraus schlussfolgerte Köhler, dass die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation WHO haltlos sind. Sonst müsste jeder Raucher sofort sterben. Kreutzfeldt stellte fest, dass sich Köhler um den Faktor Tausend verrechnet hat. Bei korrekter Rechnung hätte er zu der Schlussfolgerung kommen müssen: Wer 80 Jahre lang den NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm einatmet, inhaliert dieselbe Schadstoffdosis wie ein Raucher innerhalb von sechs bis 30 Jahren. Dass das zu ernsthaften Schäden führen kann, bestreitet kein Lungenarzt. Seinen Rechenfehler begründete Köhler gegenüber der taz unter anderem damit, dass er seit seiner Emeritierung keine Sekretärin mehr habe, die seine Veröffentlichungen überprüfen könne. Von den 112 Unterzeichnern seines Papiers hatte das offenbar auch keiner getan. Kritik an Grenzwerten unwissenschaftlich und unhaltbar Der Rechenfehler ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Kritik von Köhler an den Grenzwerten nicht haltbar ist. Schon kurz nach der Veröffentlichung des Papiers hatte sich herausgestellt, dass keiner der 112 Unterzeichner Experte dafür war, wie sich bestimmte Konzentrationen von Luftschadstoffen auf die Gesundheit von Millionen Menschen auswirken. Experten auf dem Gebiet sind Epidemiologen, die sich seit 30 Jahren in großangelegten Studien bei denen 100.000 Menschen einbezogen werden mit dieser Thematik befassen - und auf Basis solider wissenschaftlicher Studien zu dem Schluss kommen: Stickoxide und Feinstaub in der Atemluft sind gesundheitsschädlich. In einem langjährigen politischen Prozess hat man sich dann europaweit auf die Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub geeinigt, die jetzt gelten. Also für Stickstoffdioxid zum Beispiel die bekannten 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Atemluft. Zahlreiche wissenschaftliche Fachverbände haben sich inzwischen von Dieter Köhlers Positionspapier distanziert, das die Gesundheitsrisiken durch Stickoxide und Feinstaub relativiert. Begründung: Seine Argumentation sei wissenschaftlich weder fundiert noch nachvollziehbar.
Ralf Krauter im Gespräch mit Jule Reimer
Größtmögliche Verwirrung prägt die Debatte um die Gesundheitsbelastung durch Dieselabgase. Dazu beigetragen hat auch das Positionspapier von 112 Lungenfachärzten, das die EU-Grenzwerte in Zweifel zog. Nun hat sich herausgestellt: Das Papier basiert auf einem gravierenden Rechenfehler.
"2019-02-14T11:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:37:56.040000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stickoxid-grenzwerte-lungenaerzte-haben-sich-verrechnet-100.html
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Ein Zeichen setzen für die Unabhängigkeit
Ein Straßenfest in Barcelonas Arbeiterviertel PobleNou. Núria Serrano und Enric Porta stehen vor einem Stand mit Devotionalien der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung: T-Shirts mit der Aufschrift "Keep calm, speak catalan", Armbanduhren, Tassen, Unterwäsche mit katalanischen Emblemen. Die Wahl fällt auf den Klassiker: eine Estelada, eine gelbrot-gestreifte katalanische Fahne mit blauem Dreieck und weißem Stern, als Symbol für die Unabhängigkeit. "Wir müssen der Welt zeigen, wer wir sind und was wir wollen: einen eigenen Staat. Schon mein Vater hat so gefühlt wie wir, aber durch die Krise kommen jetzt auch noch wirtschaftliche Gründe dazu."Ihr Begleiter ergänzt:"Wir fühlen uns von Spanien misshandelt, vor allem in Wirtschaftsfragen: Wir geben Spanien Geld und bekommen nichts zurück. Wir wollen unser Geld selbst verwalten - und dann wird man ja sehen, wer ein Defizit hat." Um ein Zeichen für die Unabhängigkeit zu setzen, werden sich die beiden heute Nachmittag gemeinsam mit 400.000 Anderen in die "Via Catalana" einreihen, die gigantische Menschenkette, die sich nach dem Vorbild des "Baltischen Weges" von 1989 einmal quer durch die Region ziehen soll, durch Dörfer und Städte, über Berge und Täler. 800 Fotografen sollen das Ereignis vom Boden und aus der Luft dokumentieren - und die Bilder in alle Welt senden. Organisiert wird die Aktion von der Bürgerbewegung Assamblea Nacional Catalana - kurz ANC - , die bereits im letzten Jahr die Großdemonstration in Barcelona ausgerichtet hat."Seit damals hat das Land einen Riesenschritt nach vorne gemacht. Wir haben nicht nur die Massen mobilisiert, sondern es auch geschafft, dass die politische Klasse ihre Forderungen übernimmt und demokratisch und friedlich dafür kämpft, dass Katalonien ein eigener Staat in Europa wird. So eine rasante Entwicklung hat es in den letzten 300 Jahren nicht gegeben." Resümiert Mitorganisator Ferran Civit. Laut einer Umfrage des katalanischen Meinungsforschungsinstituts möchte inzwischen über die Hälfte der Katalanen einen eigenen Staat. Im katalanischen Parlament gibt es nach den vorgezogenen Wahlen im letzten Jahr eine klare Mehrheit für ein Referendum, im April hat das Parlament gegen den erklärten Willen Madrids eine Kommission eingesetzt, die eine Volksbefragung ausarbeiten soll. Mit der Via Catalana, so ANC-Präsidentin Carme Forcadell, wolle man nicht nur die Weltöffentlichkeit erreichen, sondern auch Druck auf die Regierung ausüben, einen Termin für das Referendum festzusetzen. Doch ausgerechnet die Partei, die sich mit den vorgezogenen Neuwahlen und dem Pochen auf der wirtschaftlichen Überlegenheit Kataloniens an die Speerspitze der Unabhängigkeitsbewegung setzen wollte, deutet kurz vor der "Diada", dem Nationalfeiertag, eine Kehrtwende an. Ministerpräsident Artur Mas von der konservativ-nationalistischen Convergènica i Unió erklärte, es frühstens 2016, am Ende der Legislatur, auf eine direkte Konfrontation mit Madrid ankommen lassen zu wollen. Eine Volksbefragung im Jahr 2014, symbolträchtige 300 Jahre nach dem Verlust der politischen Eigenständigkeit, scheint damit vom Tisch; stattdessen werden wohl die Verhandlungen um ein neues Finanzierungsmodell für die autonome Region wieder aufgenommen: ein Zugeständnis an die traditionelle Wählerschaft der Partei. Fast scheint es, als seien dem Zauberlehrling Artur Mas die Geister, die er rief, nicht mehr ganz geheuer.Während die Organisatoren der Via Catalana gute Miene zum bösen Spiel machen und diesen Kurswechsel als besonders gewiefte Strategie zu deuten versuchen, reagieren die Teilnehmer der Via Catalana mit Schulterzucken. Er habe Artur Mas den Separatisten sowieso nicht abgenommen, sagt Enric Porta. Die Unabhängigkeitsbewegung sei eine Volksbewegung - darauf müsse man sich eben wieder besinnen. Dann packt er die Fahne in die Tasche und macht sich auf den Weg zur Via Catalana.
Von Julia Macher
Die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens ist ins Stocken gekommen. Die nationalkonservative Partei Convergènica i Unió will frühestens 2016 auf Konfrontationskurs mit der spanischen Regierung gehen. Die Bürgerbewegung ANC wirbt weiter mit Demonstrationen für eine Volksabstimmung.
"2013-09-11T09:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:35:07.569000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-zeichen-setzen-fuer-die-unabhaengigkeit-100.html
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"Der Osten droht dauerhaft abgehängt zu werden"
Besonders in technischen Berufen fehlt es an Nachwuchs. (picture alliance / dpa / Andreas Arnold) Jörg Biesler: Die MINT-Lücke klafft seit Jahren schon in der Statistik - das ist die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot bei Arbeitskräften im Bereich Mathematik, Informatik, Technik und Naturwissenschaft. Derzeit ist sie so groß wie nie, sagt der MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft. Professor Dr. Axel Plünnecke ist einer der Autoren, guten Tag, Herr Plünnecke! Axel Plünnecke: Guten Tag! Biesler: Wie groß ist sie denn? Plünnecke: Wir haben im Moment eine MINT-Lücke von 212.000 Personen, das ist der Höchstwert, seitdem wir das aufzeichnen, seit Anfang 2011. "Zuwanderung hilft uns sehr stark, die Innovationskraft zu erhalten" Biesler: Wie ermitteln Sie das denn eigentlich? Zählen Sie die offenen Stellen und die arbeitslos Gemeldeten? Plünnecke: Genau. Wir haben die offenen Stellen und wissen, dass ein Teil der offenen Stellen über die Bundesagentur für Arbeit gemeldet wird, rechnen das dann hoch und ziehen davon die Arbeitslosen in MINT-Berufen ab und kommen so auf die MINT-Lücke - die noch deutlich größer wäre, wenn wir nicht die starke Zuwanderung in den letzten Jahren gehabt hätten. Biesler: Ja, man sieht ja bei Ihnen in der Statistik, dass insgesamt die Zahl der Beschäftigten im MINT-Bereich deutlich gestiegen ist. Dass zum Beispiel Zuwanderung stattgefunden hat, ist einer der Gründe dafür, dass das überhaupt möglich war. Plünnecke: Genau. Wir haben insgesamt in Deutschland unter den Erwerbstätigen alleine knapp 435.000 MINT-Akademiker, die zugewandert sind und in Deutschland erwerbstätig sind, dazu kommen noch mal knapp 1,2 Millionen beruflich qualifizierte zugewanderte MINT-Kräfte, und das hilft uns schon sehr stark, die Fachkräftesicherung, die Innovationskraft zu erhalten. Im Osten "stärker für Zuwanderung und Integration werben" Biesler: Die Zahl der Bewerber im MINT-Bereich, die ließe sich ja vielleicht auch deutlich erhöhen, wenn es nicht so viele Studienabbrecher gebe, gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern, und es gibt auch viele Absolventen, die dann doch was ganz anderes machen. Sind MINT-Berufe nicht attraktiv genug? Plünnecke: Doch, insgesamt sind sie sehr attraktiv, wenn Sie auf die Einkommen schauen. Die MINT-Berufe sind zusammen mit den Juristen und den Medizinern die topbezahlten Berufe unter den Akademikern. Ich denke vor allen Dingen, wir haben Abbrüche, weil doch Mathematikkenntnisse den ein oder anderen überfordern im Studium und da mehr Unterstützung notwendig wäre, damit diese Klippen gerade in den technischen Fächern dann auch übersprungen werden können. Biesler: Besonders groß ist die Lücke ja nach Ihren Berechnungen im Osten Deutschlands. Plünnecke: Ja, vor allen Dingen perspektivisch. Dort scheiden in den nächsten Jahren viele Fachkräfte altersbedingt aus, und gleichzeitig kann der Osten nicht so stark von der Zuwanderung profitieren. Zuwanderer gehen vor allen Dingen dahin, wo sie Netzwerke haben, und der Osten droht wegen fehlender Fachkräfte bei Innovation und Wachstum dann dauerhaft abgehängt zu werden. Da muss man gegenarbeiten und noch stärker für Zuwanderung und Integration in diesen Regionen werben. Biesler: Offensichtlich hat das aber auch was damit zu tun, dass die Quote der ausländischen Arbeitnehmer oder der zugewanderten Arbeitnehmer im Osten in dem Bereich deutlich kleiner ist als in westlichen Bundesländern. Plünnecke: Genau. Wir haben in Ostdeutschland nur rund zwei Prozent der Beschäftigten im MINT-Bereich, die Ausländer sind, im Westen sind das im Durchschnitt neun Prozent, in den wirklichen Wirtschaftszentren rund um München, in Baden-Württemberg, im Rhein-Main-Gebiet elf Prozent und mehr. Biesler: Ist vielleicht auch ein Imageproblem. Plünnecke: Auch ein Imageproblem, auch ein Problem, dass in der Vergangenheit wenig Zuwanderung stattgefunden hat in dieser Region. Und da ist es umso schwerer, aufgrund der fehlenden Netzwerke neue Zuwanderer in die Regionen zu holen. "Es ist deshalb wichtig, damit die Wirtschaft weiter brummen kann" Biesler: Statistik ist ja die eine Seite, das lernen wir auch gerade wieder bei den ganzen Bildungsstudien, die in diesen Tagen veröffentlicht werden, das andere ist, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Wirtschaft in Deutschland, die brummt ja trotz MINT-Lücke, Lücken gibt es auch an vielen anderen Stellen. Ist das vielleicht gar nicht so schlimm mit der MINT-Lücke? Plünnecke: Ja, generell haben wir eine Fachkräftelücke im Bereich Pflege, im Bereich Gesundheit, in technischen Fächern, bei den Lehrern, und das ist schon zentral, da gegenzusteuern. Da sind die Flüchtlinge, wo wir versuchen müssen, mit allen Anstrengungen die in den Arbeitsmarkt zu führen. Das sind die gering Qualifizierten, wo wir drangehen müssen und diese Potenziale noch zu heben, damit wir dann insgesamt die Lücken reduzieren können. Biesler: Aber ich habe gerade gesagt, die Wirtschaft brummt trotzdem, also ein ganz dringendes Problem scheint es nicht zu sein. Plünnecke: Ja, es ist deshalb wichtig, damit die Wirtschaft weiter brummen kann. Wir haben die Digitalisierung als großen Trend vor uns, wir wissen aus den Unternehmensbefragungen, dass die Unternehmen dort mehr technisches IT-Wissen brauchen, Kommunikation. Die Fachkräfte werden benötigt für die Energiewende, für viele Themen, die wir haben, bis schon, was wir wissen, dass wir Probleme kriegen, Autobahnen zu bauen, weil die Planungsingenieure knapp sind in der öffentlichen Hand. Und da müssen wir einfach ran, um weiterwachsen zu können, um so Wohlstand zu sichern. "Wir machen uns stärker Sorgen um die berufliche Bildung" Biesler: Ich frage das auch, weil es ja auch schon seit Jahren erhebliche Kritik an der MINT-Lücke gibt. Also vielleicht nicht an der MINT-Lücke, sondern besser gesagt, es wird gefragt, ob die wirklich so groß ist, weil das MINT-Berufsfeld ja eines ist, in dem die Arbeitnehmer zum Beispiel häufiger den Job wechseln. Und dann immer Stellen unbesetzt sind, weil jemand ein Unternehmen verlässt und auf eine freie Stelle wechselt in einem anderen Unternehmen und dass dann eine Kettenreaktion mit vielen freien Stellen, aber eigentlich ohne tatsächlichen Mangel. Wie sicher sind Sie, dass Sie tatsächlich das attestieren können, also dass das eine relevante Zahl ergibt? Plünnecke: Ja, wir messen zu einem Zeitpunkt, und wenn Sie zehn Personen haben und elf Stellen, dann haben Sie eine offene Stelle, die Sie nicht besetzen können. Und wenn dann ein Mitarbeiter wechselt, entsteht dort eine offene Stelle. Also wir messen da zu einem Zeitpunkt die Differenz von offenen Stellen zu Arbeitslosen und kommen auch mit anderen Einrichtungen wie die Bundesagentur für Arbeit zu ähnlichen Erkenntnissen, dass qualitativ im Bereich Technik, im Bereich Pflege/Gesundheit die Engpässe am größten sind. Was wir sehen, in der Tat, ist, dass im akademischen Bereich die Lage beherrschbar ist, hier haben wir mehr Hochschulabsolventen. Wir machen uns stärker Sorgen um die berufliche Bildung, wo es schwierig wird, einen hohen Anteil Älterer, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen durch wenig junge Leute, die nachrücken, und von denen ein kleiner Teil sich nur für diese technischen Berufe begeistern lässt. "Die Bildungsarmut an den Schulen reduzieren" Biesler: Was etwas damit zu tun hat, mutmaße ich jetzt mal, dass viele, die sich für einen solchen Bereich begeistern lassen, jetzt angesteckt worden sind davon, dass man möglichst die Hochschule besuchen soll und nicht unbedingt in eine andere fachliche Ausbildung gehen. Plünnecke: Sicherlich haben wir einen Bildungsaufstieg - viele, die früher in die Ausbildung gegangen sind, gehen an die Hochschule und studieren Informatik, Ingenieurwissenschaften. Wir sehen aber auch, dass wir einfach eine Gruppe haben, auch aus den Schulen, wo wir Schwierigkeiten haben, dass die die Ausbildungsreife für technische Berufe haben. Da müssen wir noch besser werden, die Bildungsarmut an den Schulen zu reduzieren - und dass es einfach schwer ist, diese Ausbildungsplätze auch zu besetzen, die wir da haben. Da sind zehn Prozent etwa unbesetzt, und da gilt es, noch stärker für diese Berufe auch zu werben. Biesler: Der MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft, Professor Dr. Axel Plünnecke ist einer der Autoren. Vielen Dank! Plünnecke: Herzlichen Dank! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Axel Plünnecke im Gespräch mit Jörg Biesler
In Deutschland fehlen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Technik und Naturwissenschaft so viele Arbeitskräfte wie nie zuvor. Besonders der Osten sei betroffen, sagte Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft im DLF. Dort gebe es weniger Zuwanderung. Die helfe aber "sehr stark, die Fachkräftesicherung und die Innovationskraft zu erhalten".
"2016-11-30T14:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:06:34.484000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fachkraeftemangel-in-mint-berufen-der-osten-droht-dauerhaft-100.html
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Die Entwicklungen vom 15. bis 20. April 2023
Dieses Foto hat der Gouverneur der Region Belgorod, Gladkow, auf Telegram veröffentlicht. Es soll den Krater nach einer Explosion in Belgorod zeigen. Ein russischer Jagdbomber hat den russischen Ort an der ukrainischen Grenze nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau versehentlich beschossen. (Uncredited / Telegram Channel of B / Uncredited) Zu den aktuellen Entwicklungen geht es hier. Donnerstag, 20. April +++ Estland hat vor den Gesprächen in Ramstein über westliche Militärhilfe für die Ukraine die Lieferung von weiteren Waffen an das von Russland angegriffene Land angekündigt. Das Hilfspaket umfasse Artilleriemunition vom Kaliber 155 Millimeter, teilte das Verteidigungsministerium in Tallinn am Donnerstag mit. Dies sei Estlands Beitrag zu einem Abkommen der EU-Staaten, der Ukraine eine Million Artilleriegeschosse zu liefern. Weiter will das baltische EU- und Nato-Land Nachtsichtgeräte und Munition für Handfeuerwaffen an Kiew übergeben. Die Ukraine wehrt sich seit knapp 14 Monaten gegen Russlands Angriffe und Besatzung und ist bei militärischer Ausrüstung weitgehend von westlicher Unterstützung abhängig. Am Freitag beraten die westlichen Alliierten im rheinland-pfälzischen Ramstein über weitere Hilfen. +++ Litauens Parlament hat ein Präsidentenveto gegen das Sondergesetz zu nationalen Sanktionen für russische und belarussische Bürger überstimmt. In der Volksvertretung Seimas in Vilnius stimmte eine Mehrheit der 141 Abgeordneten dafür, das Gesetz ohne die von Staatschef Gitanas Nauseda vorgeschlagenen Änderungen zu verabschieden. Das Parlament hatte die Regelung Anfang April als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beschlossen. Es sieht Sanktionen für Russen und Belarussen vor, die aber nicht in gleichem Maße für die Bürger beider Länder gelten sollten. Dies hatte Nauseda moniert. Dabei geht es etwa um Beschränkungen, litauische Visa zu erhalten oder ukrainische Griwna einzuführen. Für Russen gelten zusätzliche Regeln bei der Einreise nach Litauen und dem Erwerb von Immobilien im Land. Die Regelung soll am 3. Mai in Kraft treten und zunächst für ein Jahr gültig sein. Nauseda hatte sein Veto damit begründet, dass es aus Sicht der nationalen Sicherheit Litauens keine Grundlage für eine unterschiedliche Bewertung gebe. Russen und Belarussen sollten den gleichen Sanktionen unterliegen. Litauen grenzt an die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad und an Russlands engen Verbündeten Belarus. Russlands Invasion in die Ukraine wird in dem Baltenstaat als direkte Gefahr für die nationale Sicherheit gesehen. +++ Ungarn weitet Importverbote für Agrarprodukte aus der Ukraine aus und setzt damit die Europäische Union unter Druck. Neben dem bestehenden Einfuhrverbot für Getreide werden nun auch Honig sowie bestimmte Fleischprodukte nicht mehr importiert, kündigte der Chef des Ministerpräsidenten-Büros, Gergely Guylas, am Donnerstag an. Insgesamt seien 25 Produkte von dem Verbot betroffen, das zunächst bis zum 30. Juni gelten soll. Am Mittwoch hatte die EU Hilfsmaßnahmen für landwirtschaftliche Betriebe angekündigt, die wegen der ukrainischen Getreideimporte unter Druck geraten sind. Allerdings fordern Ungarn und Polen, neben Getreide auch andere Produkte zu subventionieren. +++ NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat bei einem Besuch in Kiew versprochen, dass beim Gipfel des Bündnisses in Vilnius über einen Beitritt der Ukraine beraten wird. Stoltenberg sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj, alle Verbündeten seien sich einig, dass die Zukunft der Ukraine in der NATO liege. Das Thema werde während des Gipfels im Juli oben auf der Agenda stehen. Priorität der Militärallianz sei es sicherzustellen, dass die Ukraine sich im Krieg gegen Russland durchsetze. Selenskyj forderte seinerseits eine baldige Einladung seines Landes in die NATO. Es sei an der Zeit für eine solche Entscheidung. Russland bekräftigte angesichts des Besuchs von Stoltenberg in Kiew sein Ziel, eine Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verhindern. Kremlsprecher Peskow sagte der Agentur Interfax zufolge, Russland sehe sich durch entsprechende Pläne bedroht. Nato-Generalsekretär Stoltenberg in Kiew. (Ukrainian Presidential Press Office via AP) +++ NATO-Generalsekretär Stoltenberg ist in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg ist in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen. Ein NATO-Vertreter bestätigte den ersten Besuch Stoltenbergs in der ukrainischen Hauptstadt seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Die NATO werde so bald wie möglich weitere Informationen veröffentlichen. Mehrere ukrainische Medien veröffentlichten Bilder des Chefs des Militärbündnisses im Zentrum Kiews. Unter anderem war er vor einer Gedenkstätte für getötete ukrainische Soldaten vor der Sankt-Michael-Kathedrale zu sehen. Über weitere Programmpunkte ist nichts bekannt. +++ Eine weitere Annäherung der Ukraine an das Militärbündnisses stößt in Russland auf vehemente Ablehnung. Kremlsprecher Peskow betonte heute vor Journalisten, dass eines der Ziele Moskaus in der Ukraine nach wie vor darin bestehe, das Land daran zu hindern, der NATO beizutreten. "Andernfalls würde dies eine ernsthafte Bedrohung für unser Land und seine Sicherheit darstellen", sagte er. Dmitry Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten Putin. (IMAGO / ITAR-TASS / IMAGO / Sergei Bobylev) +++ Die Ukraine bereitet nach den Worten von Präsident Selenskyj neue Truppen für den Fronteinsatz vor. Das kündigte er in seiner allabendlichen Videoansprache an. Konkret handelt es sich um Grenztruppen, die er am Mittwoch in Wolhynien im Dreiländereck der Ukraine mit Belarus und Polen besucht hatte. Schon jetzt sind Grenztruppen der Ukraine an den Fronten im Einsatz, unter anderem in der schwer umkämpften Stadt Bachmut in der Ostukraine. Seit Tagen wird spekuliert, wann die angekündigte ukrainischen Frühlingsoffensive beginnt. Die stelllvertretende Verteidigungsministerin Maliar hatte im Fernsehen von "komplexen Maßnahmen" gesprochen, die im Osten der Ukraine bereits im Gange seien. +++ Dänemark und die Niederlande wollen der Ukraine 14 Leopard-2-Panzer schenken. Beide Länder teilten mit, die Panzer sollten von einer dritten Partei gekauft und überholt werden. Die Lieferung sei Anfang 2024 geplant. Der dänische Verteidigungsminister Lund Poulsen sagte, für die Hoffnung auf ein friedliches und sicheres Europa dürfe man die Ukrainer nicht alleine kämpfen lassen. Zuvor hatten die USA weitere Militärhilfen in Höhe von umgerechnet 300 Millionen Euro angekündigt. +++ Aus der Ukraine werden schwere Kämpfe aus dem Donezk-Gebiet gemeldet. Nach Angaben des Generalstabs in Kiew gibt es Tote und Verletzte in der Zivilbevölkerung, ganze Wohnhäuser und andere Infrastruktur seien zerstört. Die Angaben können von unabhängiger Seite nicht überprüft werden. +++ Der russische Außenminister Lawrow setzt seine Lateinamerika-Reise fort. Er reist weiter nach Kuba. In Nicaragua hatte er den autoritären Präsidenten Ortega getroffen. Dabei berieten die beiden über US-Sanktionen gegen ihre Länder. Ortega eröffnete Lawrow, dass sich seine Regierung deshalb nicht sorge. Bereits Hunderte Vertreter des Landes befänden sich unter Sanktionen, sagte er: "Dies bereitet ihnen keine Sorge oder Angst mehr". Lawrow antwortete, Menschen in Russland sähen es als Nachweis ihrer Effektivität bei der Verteidigung der Interessen des Landes, wenn Sanktionen gegen sie verhängt würden. Russische Politiker und Oligarchen waren nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine vermehrt Ziel von Sanktionen geworden. +++ Kommunalverbände machen weiter Druck für mehr finanzielle Unterstützung des Bundes bei der Flüchtlingsversorgung. "Wir brauchen mehr direkte finanzielle Unterstützung vom Bund", sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Sager, der "Rheinischen Post". Seit 2022 fehlte jährlich zwei Milliarden Euro für die Unterkunftskosten anerkannter Flüchtlinge. Dafür müsse sich der Bund mit Blick auf den Bund-Länder-Gipfel am 10. Mai öffnen, um ein klares Signal der Unterstützung an die Landkreise zu senden. Bei dem Treffen im Kanzleramt soll es um die Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern gehen. FlüchtlingsunterbringungMinisterpräsident Kretschmer: "Es funktioniert nicht mehr" 11:05 Minuten31.03.2023 +++ Das renommierte Moskauer Bolschoi Theater hat ein dem Tänzer Rudolf Nurejew gewidmetes Ballettstück aus dem Programm gestrichen. Direktor Wladimir Urin begründete den Schritt mit einem russischen Gesetz, das angebliche "Propaganda nicht-traditioneller Werte" verbietet und auf Lebensformen und das Eintreten für LGBTQI+-Rechte abzielt. Das berichtete die Nachrichtenagentur Interfax. Das Stück von Kirill Serebrennikow, das 2017 Premiere feierte, touchiert auch den Umstand, dass der 1993 an Aids gestorbene Ausnahmetänzer Nurejew homosexuell war. Rudolf Nurejew, 1964 im Ballett "Schwanensee" in Wien. (picture alliance / brandstaetter images / Franz Hubmann) Mittwoch, 19. April +++ Die USA haben der Ukraine weitere Militärhilfen in Höhe von 325 Millionen Dollar zugesagt. Das sind rund 297 Millionen Euro. Wie das US-Verteidigungsministerium mitteilte, wollen die USA der Ukraine unter anderem Munition für Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars, Artilleriemunition und Panzerabwehrminen liefern. Die Sprecherin von US-Präsident Biden, Jean-Pierre, sagte, die Lieferungen seien Teil der Hilfen, damit die Ukraine sich weiter gegen "den brutalen Einmarsch" Russlands zur Wehr setzen könne. +++ Russland hat Südkorea vor Waffenlieferungen an die Ukraine gewarnt. Kremlsprecher Peskow sagte, Seoul habe "in der ganzen Angelegenheit" eine ziemlich unfreundliche Position eingenommen. Der "Beginn von Waffenlieferungen" würde Peskow zufolge für Südkorea "indirekt ein gewisses Maß an Verwicklung in diesen Konflikt bedeuten". Zuvor hatte Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol in einem Reuters-Interview eine grundsätzliche Bereitschaft zu Waffenlieferungen an Kiew erkennen lassen. Das mit den USA verbündete Südkorea hatte bisher jegliche Waffenlieferung an die Ukraine abgelehnt. Yoon sagte, wenn es eine Situation gäbe, die die internationale Gemeinschaft nicht tolerieren könne, wie einen groß angelegten Angriff auf Zivilisten, ein Massaker oder eine ernsthafte Verletzung des Kriegsrechts, könne es schwierig sein, darauf zu bestehen, nur humanitäre oder finanzielle Hilfe zu leisten. +++ Die Ukraine hat ihren Botschafter in Belarus aus Protest in die Heimat abberufen. Grund ist ein Treffen des belarussischen Präsidenten Lukaschenko mit dem Anführer der Separatistenverwaltung der ukrainischen Region Donezk, Puschilin. In einer Erklärung des ukrainischen Außenministeriums hieß es, das Treffen sei ein Versuch, einen Vertreter der russischen Besatzungsverwaltung in Donezk zu legitimieren. Dies sei ein weiterer unfreundlicher Akt der Republik Belarus, der darauf abziele, den Aggressorstaat Russland zu unterstützen. In der Ukraine hält sich derzeit kein Botschafter aus Belarus auf, den das Land hätte einbestellen können. Die belarussische Regierung hat bisher weder die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk noch deren illegalen Anschluss an Russland durch die im September vergangenen Jahres erfolgten Scheinreferenden anerkannt. Belarus gilt als engster Verbündeter Russlands und stellt dem Land im Krieg gegen die Ukraine unter anderem Flächen für Militär und Materiallager bereit. +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat die Grenze seines Landes zu Polen und Belarus besucht. Ziel des Besuches sei es, die Sicherheitslage an der belarussisch-ukrainischen Grenze zu besprechen, hieß es. Zudem wurden ukrainische Grenzbeamte mit Orden ausgezeichnet. Nach einem Treffen zum Thema Grenzschutzmaßnahmen im Januar sagte Selenskyj, die Ukraine müsse an der Grenze zu Belarus '"zu allem bereit" sein. In den vergangenen Wochen hatte Selenskyj auch mehrere Orte an der Front besucht. Gestern traf er sich mit den ukrainischen Truppen in der stark umkämpften Stadt Awdijiwka. +++ Wegen anhaltender Regenfälle stehen in der Ukraine seit Tagen mehrere Gebiete unter Wasser. Wie der Katastrophenschutzdienst des Landes berichtet, wurden gut 1.600 Haushalte in sechs Regionen, darunter Gebiete in Kiew, Tschernihiw, Kirowohrad, Tscherkassy, Poltawa und Dnipropetrowsk überflutet. Etwa 2.000 Menschen wurden aus den betroffenen Regionen gebracht. Auch etwa 21.100 Hektar Ackerland sind vom Hochwasser betroffen. Laut dem hydrometeorologischen Dienst des Landes wurden die Überflutungen durch den Anstieg des Wasserspiegels in mehreren Flüssen verursacht. Das Hochwasser soll noch mehrere Tage anhalten. Hochwasser in der Ukraine (IMAGO/Ukrinform/Mykola Miakshykov) +++ Nach Ungarn und der Slowakei will auch Bulgarien den Import ukrainischer Agrarprodukte vorübergehend verbieten. Das teilte der geschäftsführende Agrarminister Bulgariens, Getschew, nach einer entsprechenden Entscheidung der Übergangsregierung in Sofia mit. Der Importstopp soll demnach vom 24. April bis Ende Juni gelten. Betroffen sind unter anderem Weizen und Roggen sowie eine Reihe anderer Agrarprodukte wie etwa Buchweizen, Haferflocken, Soja, Honig, Milch, Obst und Gemüse, Fleisch und Wein. Der bulgarische Interimsministerpräsident Donew sagte, Bulgarien bleibe zwar weiterhin solidarisch mit der Ukraine, sehe sich aber gezwungen, diese nationale Maßnahme zu ergreifen. Bulgarien erlaube aber weiterhin den Transit von ukrainischen Agrarerzeugnissen durch das eigene Staatsgebiet. Bulgarische Landwirte hatten in den vergangenen Wochen mit Protesten und Blockaden der Grenzübergänge zu Rumänien einen Importstopp für ukrainische Agrarerzeugnisse gefordert. Sie beklagen, dass die günstigen zollfreien Agrarimporte aus der Ukraine die heimischen Produkte konkurrenzunfähig machen. Diese würden durch EU-Auflagen verteuert. +++ Deutschland stellt der Ukraine 111 Millionen Euro für den Wiederaufbau des Landes zur Verfügung. Nach Angaben des Entwicklungsministeriums sollen mit den Geldern insbesondere Wohnungen für Binnenvertriebene geschaffen werden. Zudem sollen ukrainische Gemeinden bei der Reparatur und Ausstattung von Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern unterstützt werden. +++ Die Ukraine nimmt den Transport von Getreide nach und durch Polen wieder auf. Das bestätigte der ukrainische Landwirtschaftsminister Solskyj nach Gesprächen in Warschau. Dabei hatten die beiden Länder ihren Streit über die Einfuhr von Getreide aus der Ukraine beigelegt. Künftig soll jeder Transport von einem Konvoi begleitet und per GPS verfolgt werden. So soll sicher gestellt werden, dass das Getreide und andere Lebensmittel die eigentlichen Zielländer tatsächlich erreichen. Bisher bleiben die Agrargüter häufig in den Nachbarländern der Ukraine hängen und sorgen dort für volle Silos und sinkende Preise. Dagegen hatte es Proteste von Landwirten gegeben. Ukrainisches Getreide wird aus einem Transport-LKW geladen (picture alliance / Photoshot) +++ Der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva hat die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland verurteilt. Das meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Demnach wiederholte Lula bei einem Treffen mit dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis außerdem seinen Vorschlag, eine Gruppe neutraler Nationen solle den Frieden zwischen Russland und der Ukraine vermitteln. Lula hatte am Wochenende den Unmut mehrerer westlicher Länder auf sich gezogen, weil er bei einem Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow forderte, die USA und die EU sollten ihre Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen. +++ Das britische Nationale Cybersicherheitszentrum (NCSC) warnt vor vermehrten Angriffen auf die Infrastruktur westlicher Länder durch Hacker, die Russlands Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Einige Hacker-Gruppen zielten darauf ab, größere Störungen oder Zerstörungen zu verursachen, zum Beispiel bei der Strom oder -Wasserversorgung, teilte die Behörde mit. "Obwohl solche Gruppen ideologisch motiviert sind und sich an den Interessen des russischen Staates orientieren, unterliegen sie keiner formalen staatlichen Kontrolle", heißt es in der Warnung. Das mache sie weniger berechenbar. +++ Der von Russland eingesetzte Chef der Separatistenverwaltung der Region Donezk, Denis Puschilin, hat sich mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko in Minsk getroffen. Puschilin schreibt auf Telegram, er sei an Maschinen, Traktoren, Bussen und Bauprodukten aus Belarus interessiert. Im Gegenzug werde seine Region Getreide nach Belarus ausführen. Das ukrainische Außenministerium hat gegen das Treffen protestiert. Es forderte die belarussische Regierung auf, "destruktive Schritte" zu unterlassen und kündigte den Rückruf des ukrainischen Botschafters in Belarus zu Konsultationen an. Denis Puschilin (AFP / ALEKSEY FILIPPOV) +++ Russische Drohnen haben die südukrainische Region Odessa angegriffen. Dabei soll ein Brand in einer Infrastruktureinrichtung verursacht worden sein. Das berichtet der Leiter des regionalen Militärkommandos, Juri Kruk, am frühen Mittwochmorgen. Die Feuerwehr sei im Einsatz. Es habe keine Verletzten gegeben. Diese Angaben lassen sich derzeit allerdings nicht unabhängig überprüfen. +++ Bei Kämpfen in der Ukraine ist offenbar der ehemalige Parlamentarier Oleh Barna getötet worden. Das meldet die Online-Zeitung "Kyiv Independent". Sie beruft sich dabei auf die ukrainische Armee. Barna gehörte der Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko an. Dieser hatte den Tod Barnas bereits öffentlich gemacht. Allerdings soll die Leiche noch nicht geborgen worden sein. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Dienstag, 18. April +++ Deutschland hat der Ukraine das Flugabwehrsystem Patriot zur Verteidigung gegen russische Angriffe übergeben. Die Lieferung sei erfolgt, teilte die Bundesregierung auf ihrer Internetseite zur Rüstungshilfe für die Regierung in Kiew mit, die wöchentlich aktualisiert wird. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatten die von den USA und Deutschland ausgebildeten Einheiten zuletzt mit einer gemeinsamen Übung auf dem Militärgelände eines nicht näher genannten NATO-Staates ihre Fähigkeiten zur Bedienung demonstriert. Das ukrainische Personal habe dabei letzte Hinweise erhalten. Patriot ("Phased Array Tracking Radar for Intercept on Target") zählt zu den modernsten Flugabwehrsystemen der Welt. Damit können feindliche Flugzeuge, ballistische Raketen und Marschflugkörper bekämpft werden. +++ Polen und die Ukraine haben ihren Streit über die Einfuhr von ukrainischem Getreide beigelegt. Wie der polnische Landwirtschaftsminister Telus nach einem Treffen mit ukrainischen Vertretern sagte, soll der von Warschau verhängte Importstopp aufgehoben und ab dem kommenden Samstag wieder ukrainisches Getreide durch Polen transportiert werden. Warschau und Kiew hätten aber "Mechanismen" vereinbart, um sicherzustellen, "dass nicht eine Tonne Getreide in Polen verbleibt", sagte Telus. Ungarn und Polen hatten am Samstag angekündigt, bis Ende Juni kein Getreide und andere Lebensmittel mehr aus der Ukraine zu importieren. Infolge des russischen Angriffskriegs werden weniger landwirtschaftliche Produkte aus der Ukraine auf dem Seeweg exportiert. Stattdessen gelangt besonders viel Getreide aus der Ukraine auf dem Landweg nach Polen und in andere europäische Nachbarländer. Obwohl die Agrargüter eigentlich in andere Länder weiter exportiert werden sollen, bleiben sie oft in den ukrainischen Nachbarländern und sorgen dort für volle Silos und deutlich sinkende Preise - zum Unmut vieler Bauern. +++ Kurz nach dem Besuch Putins in der Südukraine wurde bekannt, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Truppen in der umkämpften Stadt Awdijiwka besucht hat. Wie das Präsidialamt in Kiew mitteilte, informierte er sich über die Lage der Gefechte und zeichnete Soldaten aus. Die Stadt stand in den vergangenen Wochen verstärkt unter Beschuss durch die russische Armee. Awdijiwka liegt in der Nähe der Regionalhauptstadt Donezk. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat die Truppen in der umkämpften Stadt Awdijiwka besucht. (AFP / HANDOUT) Rund 500 Kilometer entfernt stattete der russische Präsident Putin seinen Invasionstruppen einen Besuch ab. Wie in Moskau mitgeteilt wurde, führte Putin in den militärischen Hauptquartieren in Cherson und Luhansk Gespräche. Beide Regionen werden teilweise von russischen Truppen kontrolliert. Genaue Angaben zum Zeitpunkt der Besuche machte der Kreml nicht. Der Berater von Präsident Selenskyj, Podoljak, schrieb auf Twitter, es handele sich um eine "Tour eines Massenmörders" in die besetzten und verwüsteten Gebieten, um sich an "seinen Vergehen zu freuen". +++ Russische Schiffe wurden nach Medienberichten vor den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines in der Nähe der Explosionsorte fotografiert. Das berichtet die dänische Zeitung "Information". Demnach hat ein dänisches Patrouillenboot mehr als 100 Fotos von russischen Schiffen in der Nähe der Leitungen gemacht. Eine Einsicht in die entsprechenden Aktien wurde der Zeitung allerdings verwehrt. Ende September 2022 waren als Folge von Explosionen nahe der dänischen Ostsee-Insel Bornholm insgesamt vier Löcher an den beiden Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 entdeckt worden. Die Behörden gehen von Sabotage aus. Wer dafür verantwortlich ist, ist weiter unklar. Ermittlungen dazu laufen in Deutschland, Schweden und Dänemark. Die Aufnahme zeigt das Leck an der Nord-Stream-Pipeline. (dpa / picture alliance / abaca ) +++ Der US-Journalist Evan Gershkovich bleibt in Russland in Haft. Ein Gericht wies seine Berufung ab. Damit sitzt er noch bis mindestens Ende Mai in Untersuchungshaft. Der Reporter des "Wall Street Journals" war Ende März in Jekaterinburg unter dem Vorwurf der Spionage festgenommen worden. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug. Die Zeitung sowie Gershkovich selbst weisen die Anschuldigungen zurück. Die US-Regierung spricht von einer willkürlichen Festnahme. +++ Die Verteidigungsminister Chinas und Russlands wollen ihre Partnerschaft ausbauen. Ziel sei es, die Kooperation auf eine neue Stufe zu stellen, sagte Russlands Verteidigungsminister Schoigu beim Treffen mit seinem chinesischen Kollegen Li. Russland strebe eine multipolare Weltordnung ohne eine "Vorherrschaft" des Westens unter Führung der USA an, sagte Schoigu weiter. Li, der am Sonntag auch den russischen Präsidenten Putin getroffen hatte, sagte nach Angaben russischer Medien, dass auch die militär-technische Zusammenarbeit und die militärischen Handelsbeziehungen ausgeweitet werden sollen. Man bringe das Verhältnis auf eine neue Ebene. Beide Seiten unterzeichneten ein Abkommen über die Zusammenarbeit ihrer Militärakademien. Der chinesische Verteidigungsminister Li vor wenigen Tagen bei seinem Treffen mit Russlands Präsident Putin. (IMAGO / SNA / IMAGO / Pavel Bednyakov) +++ Die russischen Behörden haben zahlreiche Veranstaltungen zum Gedenken an den Sieg über Hitler-Deutschland 1945 abgesagt. Seit 2012 sind die traditionellen landesweiten Umzüge, bei denen Menschen Porträts von Verwandten tragen, die im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland gekämpft haben, ein wichtiger Bestandteil der nationalen Feierlichkeiten zum 9. Mai. In diesem Jahr sind diese abgesagt worden, offiziell wegen "Sicherheitsbedenken" der Behörden. Moskau wirft der Ukraine vor, zahlreiche Angriffe auf russisches Territorium zu verüben - vor allem in den südlichen Grenzregionen, teils auch tiefer im Land selbst. +++ Das russische Parlament hat schärfere Strafen für Dissidenten auf den Weg gebracht. Das Unterhaus stimmte für die Einführung lebenslanger Haftstrafen für Hochverrat und für die Erhöhung der Höchststrafen für eine Reihe von Terrorismus- und Sabotagedelikten. Außerdem können Personen mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, wenn sie an der Umsetzung von Rechtsentscheidungen internationaler Organisationen mitwirken, an denen Russland nicht beteiligt ist. Damit reagiert das Parlament auf die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs im März, einen Haftbefehl gegen Präsident Putin zu erlassen. Die Änderungen müssen noch vom russischen Oberhaus, dem Föderationsrat, gebilligt werden, bevor sie von Präsident Putin unterzeichnet werden können. Erst am Montag hatte ein Gericht in Moskau den prominenten Regimekritiker Kara-Mursa zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. +++ Nach Kritik an der Verurteilung des prominenten Regierungskritikers Kara-Mursa hat das Außenministerium in Moskau die Botschafterinnen der USA, Großbritanniens und Kanadas einbestellt. Das Ministerium warf den Diplomatinnen "grobe Einmischung in die inneren Angelegeheiten Russlands" vor. Ihr Verhalten sei mit ihrem Diplomatenstatus nicht zu vereinbaren. Die Botschafterinnen hatten nach dem Urteil auf den Stufen des Gerichts eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie die Freilassung Kara-Mursas forderten. Kara-Mursa war am Montag des Hochverrats und weiterer Vergehen für schuldig befunden und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Auch die Bundesregierung verurteilte die Entscheidung und forderte eine "umgehende Freilassung" des 41-Jährigen. +++ Die Schweiz hält an ihrem Verbot für eine Weitergabe von Waffen und Munition an die Ukraine fest. Die Schweizer Neutralitätsgesetze bedeuteten, dass die Regierung bei Konflikten keine Seite militärisch unterstützen könne, sagte der Schweizer Bundespräsident Berset nach Gesprächen mit Bundeskanzler Scholz in Berlin. Man könne nicht verlangen, dass die Schweiz ihre eigenen Gesetze breche. Die Schweiz fordert bei Waffenbestellungen eine Zusicherung, dass das Material nicht an kriegführende Parteien weitergeleitet wird. Deutschland will allerdings Schweizer Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard in die Ukraine exportieren. Eine Ausnahmegenehmigung dafür wurde abgelehnt. Deutschland hat ukrainische Soldaten an Gepard-Panzern ausgebildet. Von der Schweiz möchte Bundeskanzler Scholz gerne Munition dafür. (picture alliance / dpa / Marcus Brandt) Der SPD-Außenpolitiker Roth äußerte Kritik an der Entscheidung. Die Haltung der Schweiz müsse bei der zukünftigen militärischen Kooperation berücksichtigt werden, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. +++ In der ostukrainischen Stadt Bachmut dauern die schweren Kämpfe nach Angaben aus Kiew weiter an. Russische Truppen griffen aus der Luft und mit schwerer Artillerie an, sagte der Befehlshaber der Landstreitkräfte, Olexander Syrskyj, gemäß einer Mitteilung. Seinen Angaben zufolge hat die Ukraine die Lage aber unter Kontrolle. Die ukrainischen Soldaten fügten dem Gegner heftige Verluste zu und bremsten die russischen Angriffe "spürbar", sagte er. Letzten Angaben aus Moskau zufolge sind rund 80 Prozent des Stadtgebiets nach monatelangen Kämpfen von Russland besetzt. Bachmut ist schon lange Zeit heftig umkämpft. Hier bringen ukrainische Soldaten Munition an die Frontlinie. (Roman Chop / Roman Chop / AP / dpa) +++ In Deutschland haben zuletzt deutlich mehr Menschen aus Russland einen Asylantrag gestellt als zuvor. Das berichtet der Fachinformationsdienst "Table.Media" unter Berufung auf Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). In den ersten drei Monaten dieses Jahres seien 2.381 Asylanträge von Russinnen und Russen gestellt worden, im gesamten Jahr 2022 2.851. Der Anteil der Männer unter den Asylsuchenden sei gestiegen: von 59 auf 64 Prozent. Zurückzuführen sei diese Entwicklung auf die Mobilmachung Russlands im Krieg gegen die Ukraine. Eine Sprecherin des Bundesamtes erklärte, russische Deserteure könnten in Deutschland Asyl beantragen. Sie erhielten im Regelfall internationalen Schutz. +++ Die G7-Staaten wollen die Sanktionen gegen Russland verschärfen. Darauf verständigten sich die Außenminister bei ihrem Treffen in Japan. In der Abschlusserklärung heißt es, man sei weiterhin entschlossen, die Strafmaßnahmen gegen Russland zu verschärfen, sie zu koordinieren und vollständig durchzusetzen. Es dürfe keine Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und andere Gräueltaten wie die russischen Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur in der Ukraine geben, hieß es. Auch die atomaren Drohungen wurden von den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Kanada, Italien und der EU verurteilt. G7 setzt Russland und China Wertepartnerschaft entgegen 03:37 Minuten17.04.2023 +++ Die US-Regierung hat den Vorwurf des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva zurückgewiesen, die Vereinigten Staaten zögen den Ukraine-Krieg in die Länge. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Kirby, sagte in Washington, Lula übernehme damit russische und chinesische Propaganda, ohne sich die Fakten anzuschauen. Seine Äußerungen seien "zutiefst problematisch". Lula hatte am Wochenende während eines Besuch in China ein Ende der militärischen Unterstützung für die Ukraine gefordert. Montag, 17. April +++ Russlands Außenminister Lawrow ist nach Brasilien gereist. Bei einem Treffen mit seinem Kollegen Vieira in Brasília äußerte er Dank für Unterstützung im Krieg gegen die Ukraine. Vieira kritisierte die Sanktionen gegen Russland. Solche Maßnahmen hätten negative Auswirkungen vor allem auf die Wirtschaft in Entwicklungsländern, sagte er. Zugleich bekräftigte Vieira, dass Brasilien eine friedliche Lösung wolle. Im Januar hatte Präsident Lula da Silva eine internationale Vermittlung unter Beteiligung Chinas angeregt. Den Vorschlag zum Verzicht auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim wies die Ukraine strikt zurück. Bei einem Besuch in China vor einigen Tagen erklärte Lula, die USA müssten aufhören, den Ukraine-Krieg zu befördern. Sie und die EU sollten anfangen, über Frieden zu reden. - Brasilien ist als einer der weltweit führenden Agrarproduzenten unter anderem von Düngemitteln aus Russland abhängig. Russlands Außenminister Lawrow bei einer Pressekonferenz mit seinem brasilianischen Kollegen Vieira. (Myke Sena / dpa / Myke Sena) +++ Bei der Schlacht um die Stadt Bachmut im Gebiet Donezk gehen die russischen Truppen und die Privatarmee Wagner nun gemeinsam gegen die ukrainischen Verteidiger vor. Russische Erstürmungseinheiten, darunter Fallschirmjäger, hätten zwei Viertel im Nordwesten und im Zentrum von Bachmut eingenommen, sagte ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. Der Chef der Wagner-Gruppe, Prigoschin, bestätigte das gemeinsame Vorgehen. Demnach schützen die regulären Truppen die Flanken der Privatarmee im Kampf gegen die ukrainischen Streitkräfte. Prigoschin hatte zuletzt immer wieder kritisiert, dass das Ministerium zu wenig unternehme, um Bachmut einzunehmen. +++ Die EU-Kommission sieht von Ungarn, Polen und der Slowakei verhängte Importverbote für Getreide aus der Ukraine kritisch. Eine Sprecherin der Brüsseler Behörde betonte auf Nachfrage, dass Handelspolitik unter die ausschließliche Zuständigkeit der EU falle und daher einseitig ergriffene Maßnahmen nicht akzeptabel seien. Man habe weitere Informationen angefragt, um die Lage bewerten zu können, hieß es. Landwirte in mehreren östlichen EU-Staaten sehen sich durch den im Zuge des Krieges ermöglichten zollfreien Import großer Mengen ukrainischen Getreides unverhältnismäßiger Konkurrenz ausgesetzt. Das Foto zeigt Getreide vor Silos in Odessa. (IMAGO/ZUMA Wire) Nach Polen und Ungarn hatte heute auch die Slowakei ein vorübergehendes Importverbot über ukrainisches Getreide verhängt. Im Unterschied zu Polen erlaube man aber weiterhin den Transit durch die Slowakei in Drittländer, sagte Landwirtschaftsminister Vlcan in Bratislava. Neben Getreide dürfen auch zahlreiche andere Agrarprodukte aus der Ukraine nicht mehr auf den slowakischen Markt gebracht werden. +++ Die Europäische Union hat die Verurteilung des russischen Oppositionspolitikers Kara-Mursa zu 25 Jahren Haft in einem Straflager als "empörend" und "politisch motiviert" bezeichnet. Die Entscheidung zeige einmal mehr den politischen Missbrauch der Justiz, um Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger und kritische Stimmen unter Druck zu setzen, erklärte der EU-Außenbeauftragte Borrell. Der UNO-Menschenrechtskommissar Türk sprach von einem weiteren Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit und forderte die unverzügliche Freilassung Kara-Mursas. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts sagte in Berlin, die Repression in Russland habe inzwischen ein "erschütterndes Ausmaß" erreicht. Ein Gericht in Moskau befand Kara-Mursa heute unter anderem des "Hochverrats" und der Verbreitung von "Falschinformationen" über die russische Armee für schuldig. Der Kreml-Kritiker war vor einem Jahr inhaftiert worden, nachdem er in einer Rede vor dem Parlament des US-Bundesstaates Arizona Russlands Angriff auf die Ukraine verurteilt hatte. +++ Der Ukraine liegen nach Angaben ihres Menschenrechtsbeauftragten Lubinez bereits "Dutzende" Videos von Hinrichtungen ihrer Bürger in russischer Kriegsgefangenschaft vor. In einem Interview des Internetportals Ukrajinska Prawda sagte Lubinez: "Zu sehen sind Enthauptungen, Abschneiden von Genitalien, Abschneiden von Ohren, Nasen, Gliedmaßen und Fingern". Mehrere Täter seien identifiziert worden. Lubinez warf der russischen Seite vor, die Genfer Konventionen zum Schutz von Kriegsgefangenen systematisch zu verletzen. Ungeachtet der Vorwürfe Kiews tauschen Russland und die Ukraine immer wieder Kriegsgefangene aus. Nach Kiewer Angaben sind seit dem russischen Einmarsch vor knapp 14 Monaten bereits über 2.200 Ukrainer zurückgekehrt. +++ Die G7 will die von Russland angegriffene Ukraine auch weiter unterstützen. Darauf verständigten die sich G7-Außenminister bei ihrem Treffen in Karuizawa, wie das japanische Außenministerium mitteilte. Zugleich bekräftigten die Minister ihre Forderung an Russland, seine Truppen "unverzüglich und bedingungslos" aus der Ukraine abzuziehen. Man werde die gegen Moskau verhängten Sanktionen weiter fortsetzen. Japans Außenminister Yoshimasa Hayashi betonte, die G7-Gruppe und gleichgesinnte Länder müssten dabei Einigkeit demonstrieren. Darüber hinaus vereinbarten die Minister, gemeinsam verhindern zu wollen, dass die Sanktionen gegen Russland unterlaufen werden und der Aggressor von Drittländern Waffen erhält, wie es weiter hieß. Die Außenministerinnen und Außenminister der G7-Staaten bei Beratungen im japanischen Karuizawa. (AP / Franck Robichon) +++ Die Slowakei hat der Ukraine nach eigenen Angaben inzwischen alle 13 zugesagten MiG-29-Kampfjets übergeben. Dies teilte das Verteidigungsministerium in Bratislava mit. Die Slowakei hatte die Kampfflugzeuge sowjetischer Bauart im März zugesagt, um die Ukraine im Kampf gegen die russische Invasion zu unterstützen. +++ Die Ukraine hat nach eigenen Angaben mit dem Speichern von Gas für den kommenden Winter begonnen. Mit dem Ende der Heizperiode habe man begonnen, Gas für den nächsten Winter in unterirdische Speicher zu pumpen, teilt das ukrainische Energieunternehmen Naftogaz mit. Angaben zu den geplanten Füllständen der Gasspeicher wurden nicht gemacht. Für die Heizsaison 2022/23 verfügte das Land über Reserven von rund 14,2 Milliarden Kubikmetern. +++ Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Heusgen, hat mehr Anstrengungen des Westens für die Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffs gefordert. Heusgen schreibt in einem Gastbeitrag für den "Tagesspiegel", das gegenwärtige Niveau schrittweiser und zögerlicher militärischer Unterstützung werde nur einen Patt auf dem Schlachtfeld bewirken. Der Westen müsse mit seiner Hilfe für die Ukraine "aufs Ganze" gehen. Die Ukraine müsse die Waffen und die Munition bekommen, die sie brauche, um Russlands Angriffskrieg zurückzuschlagen. Den Beitrag hat Heusgen gemeinsam mit vier weiteren früheren sicherheitspolitischen Beratern der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens verfasst. Heusgen selbst war außenpolitischer Berater von Altbundeskanzlerin Merkel. Sonntag, 16. April +++ Der russische Präsident Putin hat bei einem Treffen mit dem chinesischen Verteidigungsminister Li die militärische Kooperation beider Länder gewürdigt. Die militärischen Abteilungen arbeiteten aktiv zusammen, sagte Putin am Abend in Moskau. Er sprach von einem äußerst vertrauensvollen, strategischen Charakter der beiderseitigen Beziehungen. Wie der Kreml weiter mitteilte, erklärte Li, die Kooperation im militärischen Bereich habe sich in jüngster Zeit sehr gut entwickelt. Dies trage zur Stärkung der regionalen Sicherheit bei. Beide Länder haben ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 ausgebaut. China liefert nach eigenen Angaben aber keine Waffen an Russland. Der chinesische Verteidigungsminister Li vor wenigen Tagen bei seinem Treffen mit Russlands Präsident Putin. (IMAGO / SNA / IMAGO / Pavel Bednyakov) +++ Die EU-Kommission hat die Ankündigung Polens und Ungarn kritisiert, die Einfuhr von Getreide und anderen Gütern aus der Ukraine zu stoppen. Ein Sprecher der Behörde teilte in Brüssel mit, die Handelspolitik falle in die Zuständigkeit der EU. Daher seien einseitige Maßnahmen inakzeptabel. Entscheidungen müssten innerhalb der EU abgestimmt werden. Nach Polen hatte auch Ungarn den Stopp der Importe angekündigt. Die Regierung in Budapest erklärte, dies geschehe zum Schutz der Verbraucher. In mehreren osteuropäischen Ländern gibt es derzeit große Vorräte an Getreide, Eiern, Geflügel und Zucker aus der Ukraine. Wegen logistischer Probleme können die Güter nicht in die eigentlichen Zielländer - etwa in Afrika - weitertransportiert werden. Da die Lebensmittel wegen einer Genemigung der EU zollfrei eingeführt werden, kommen sie preiswerter auf den Markt als die Produkte einheimischer Produzenten. +++ Zum orthodoxen Osterfest haben beide Seiten erneut Kriegsgefangene freigelassen. Der Berater von Präsident Selenskyj, Jermak, teilte auf Telegram mit, 130 ukrainische Soldaten kämen nach Hause. Die Freilassungen erfolgten über mehrere Tage. Wie viele russische Soldaten im Austausch in ihre Heimat zurück dürften, gab er nicht bekannt. Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Prigoschin, erklärte zudem in einem von ihm veröffentlichten Video, dass die Gruppe mindestens 100 ukrainische Soldaten freigelassen habe. Vor einer Woche hatten Russland und die Ukraine bereits rund 200 gefangene Soldaten ausgetauscht. +++ Ungeachtet des orthodoxen Osterfests halten die Kämpfe in der Ukraine an. Durch russischen Beschuss seien nachts in der südlichen Region Mykolajiw zwei Teenager getötet worden, teilte der dortige Militärgouverneur Kim am Sonntag mit. Auch im Gebiet Saporischschja berichtete der Leiter der Militärverwaltung, Malaschko, von einem "massiven Angriff" der Russen. Dabei sei etwa eine Kirche beschädigt worden, so dass der Gottesdienst habe abgesagt werden müssen. In der östlichen Stadt Slowjansk, wo am Freitag eine Rakete in ein Wohnviertel eingeschlagen war, dauerten die Rettungsarbeiten derweil weiter an. Noch immer würden Bewohner in den Trümmern vermisst, hieß es von vor Ort. Letzten Angaben zufolge waren bei dem Angriff elf Zivilisten getötet worden - darunter auch ein Kleinkind. Mehr als 20 weitere Menschen wurden den ukrainischen Angaben zufolge verletzt. DieBerichte aus den Kriegsgebieten lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Rettungskräfte in Slowjansk suchen in den Trümmern nach Überlebenden. (AFP / ANATOLII STEPANOV) +++ Der Chef der Wagner-Söldnergruppe, Prigoschin, hat mit einem Text über mögliches Kriegsende für Wirbel gesorgt. Vor allem ukrainische Medien verwiesen am Wochenende auf einen Blogeintrag des 61-Jährigen vom Freitag. Darin heißt es: "Für die Staatsmacht und für die Gesellschaft ist es heute notwendig, irgendeinen dicken Punkt hinter die 'militärische Spezial-Operation' zu setzen. Die ideale Variante wäre, das Ende der Operation zu verkünden und zu erklären, dass Russland alle seine geplanten Ziele erreicht hat." Weiter verweist Prigoschin auf die Möglichkeit, dass eine ukrainische Gegenoffensive die Lage der russischen Armee verschlechtern könne. Zugleich aber sprach er sich aber gegen jegliche Verhandlungen aus, die ein Abtreten von Russland besetzter Gebiete an die Ukraine vorsehen würden. Später stellte er klar, die Hauptaussage seines Artikels sei gewesen, dass es einen "ehrlichen Kampf" geben müsse. Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Uncredited) +++ Beim Bundeskriminalamt sind bis Mitte April 337 Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen in der Ukraine eingegangen. Dies geht aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine parlamentarische Anfrage des CDU-Bundestagsabgeordneten Krings hervor. Die Hinweise kamen demnach zum Beispiel von ukrainischen Kriegsflüchtlingen oder per Anzeige aus der deutschen Bevölkerung. Den Angaben zufolge unterstützt das BKA die ukrainischen Ermittler technisch, indem es Material für die forensische Arbeit beschaffte und bereitstellte. +++ Nach dem Raketenangriff auf Slowjansk ist die Zahl der Todesopfer laut Behörden gestiegen. Der Militärverwalter Kirilenko spricht nach dem Einschlag einer russischen Rakete in ein Wohnviertel in der ostukrainischen Stadt von mindestens 15 Toten. Insgesamt seien bei dem Angriff 24 Menschen verletzt worden, teilte Kirilenko auf Telegram mit. Die Rakete war nach ukrainischen Angaben am Freitagnachmittag in der Großstadt im schwer umkämpften Gebiet Donezk eingeschlagen. Zunächst war von mindestens acht Toten die Rede gewesen. Nach einem Raketenangriff in Slowjansk suchen Feuerwehrleute nach Überlebenden. (Roman Chop / AP / dpa / Roman Chop) +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj fordert Sicherheitsgarantien der NATO. Mit Blick auf den nächsten NATO-Gipfel im Juli in Litauen wünscht sich Selenskyj auch einen beschleunigten Beitritt zu dem Militärbündnis. Wirksame Sicherheitsgarantien brauche es aber schon vor einem Beitritt, sagte Selenskyj gestern Abend in einer Videoansprache. Selenskyj hatte bereits im Herbst 2022 einen beschleunigten Eintritt der Ukraine in das westliche Militärbündnis beantragt. Voraussetzung für einen Nato-Beitritt ist aber, dass der Beitrittskandidat nicht in internationale Konflikte und Streitigkeiten um Grenzverläufe verwickelt sein darf. +++ Der chinesische Verteidigungsminister Li besucht Russland. Der Besuch auf Einladung des Kremls soll vier Tage dauern. Offiziellen Angaben zufolge will Li in Moskau mit seinem russischen Amtskollegen Schoigu Gespräche über eine militärische Zusammenarbeit beider Länder führen. Im März war bereits der chinesische Präsident Xi nach Russland gereist und hatte mit dem russischen Präsidenten Putin ein Abkommen über eine strategische Partnerschaft abgeschlossen. Westliche Staaten werfen Peking vor, angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Moskau zu unterstützen. China sieht sich nach eigenen Angaben im Ukraine-Konflikt als neutrale Partei. +++ Die G7-Staaten beraten in Japan über den Ukraine-Krieg Ein wichtiger Aspekt bei den Gesprächen im japanischen Karuizawa dürfte auch die Rolle Chinas sein. China ist Russland freundschaftlich eng verbunden. Der Westen kritisiert die chinesische Staatsführung in Peking dafür. Bundesaußenministerin Baerbock hat vor dem Treffen in Richtung Russland gesagt: Jetzt gehe es darum, Präsidenten Putin die Entschlossenheit der G7 zu zeigen, dass er seine Ziele auch nicht durch Zermürbung und Ermüdung erreichen werde. Man werde das eigene Engagement nachschärfen. Das Treffen findet in Japan statt, weil das Land derzeit den G7-Vorsitz innehat. Zu den G7-Staaten gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und das Vereinigte Königreich. +++ Auch Ungarn verbietet bis Ende Juni die Getreideeinfuhr aus der Ukraine. Zum Schutz der eigenen Landwirtschaft hat neben Polen auch Ungarn die Einfuhr von Getreide und anderen Nahrungsmitteln aus der Ukraine verboten. Der Importstopp gilt bis Ende Juni. Infolge des russischen Angriffskriegs werden weniger landwirtschaftliche Produkte aus der Ukraine auf dem Seeweg exportiert. Stattdessen gelangt besonders viel Getreide aus der Ukraine auf dem Landweg in europäische Nachbarländer, darunter Polen und Ungarn. Obwohl die Agrargüter eigentlich in andere Länder weiter exportiert werden sollen, bleiben sie oft in den ukrainischen Nachbarländern und sorgen dort für volle Silos und deutlich sinkende Preise. Das sorgt wiederum für Bauernproteste. Getreidespeicher in der Ukraine (Bild von Anfang August 2022) (Efrem Lukatsky / AP / dpa) Samstag, 15. April +++ In Polen verbietet die Regierung vorerst die Einfuhr von Getreide und anderen Lebensmitteln aus der Ukraine. Der Vorsitzende der regierenden PiS-Partei, Kaczynski, kündigte die Maßnahme auf einem Parteitag in Warschau an. Er sagte, mit dem Schritt solle die polnische Landwirtschaft geschützt werden. Man bleibe aber Verbündeter der Ukraine und werde das Problem mit der Regierung in Kiew besprechen. In Polen und anderen mitteleuropäischen Ländern gibt es derzeit große Vorräte ukrainischen Getreides, das aufgrund von logistischen Problemen nicht in seine eigentlichen Zielländer weitertransportiert werden kann. Da es dank einer EU-Genehmigung zollfrei eingeführt wird, kommt es etwa in Polen preiswerter auf den Markt als das Getreide einheimischer Produzenten, die dadurch Einnahmeverluste verzeichnen. Es kam deshalb bereits zu Bauernprotesten. +++ Nach dem Einschlag einer russischen Rakete in ein Wohngebäude der ostukrainischen Stadt Slowjansk ist die Zahl der Todesopfer gestiegen. Behörden beziffern sie inzwischen auf neun. In der Nacht hätten Rettungskräfte eine Frau leblos aus dem schwer beschädigten Hochhaus geborgen, teilte Bürgermeister Ljach auf Facebook mit. Noch immer werden demnach fünf Bewohner vermisst. Die Rakete war ukrainischen Angaben zufolge am Freitagnachmittag eingeschlagen. Zunächst war von mindestens acht Toten die Rede gewesen. Auf Fotos ist ein mehrstöckiges Gebäude zu sehen, in dem in den oberen Etagen ein großes Loch klafft. Nach einem Raketenangriff in Slowjansk suchen Feuerwehrleute nach Überlebenden. (Roman Chop / AP / dpa / Roman Chop) +++ Die Schweiz hat der Ukraine neue Milliardenhilfen in Aussicht gestellt. Umgerechnet gut 1,8 Milliarden Euro sollen über einen Zeitraum von sechs Jahren fließen. Mit 660 Millionen Euro soll der Wiederaufbau der Ukraine unterstützt werden. Das teilte der regierende Bundesrat mit. +++ Das Hilfswerk "Caritas International" findet es immer schwerer, seine Arbeit zu leisten. Der Leiter Oliver Müller schrieb in einem Gastbeitrag für das "Badische Tagblatt", eine besondere Herausforderung seien Hilfen in unsicheren Situationen, wie sie etwa in Kriegen oder in politisch labilen Staaten herrschten. Der Krieg in der Ukraine sei ein Beispiel dafür, wie nur unter enorm hohen Risiken für die Helferinnen und Helfer Hilfe in Frontnähe geleistet werden könne. "Etwa wenn auf die Helfenden geschossen wird, oder sie sich wegen zahlreicher inoffizieller Checkpoints oder zerstörter Zufahrtswege kaum mehr fortbewegen können." +++ Die Ukraine hat nach Einschätzung von Bundesfinanzminister Lindner die Fähigkeit, den Abwehrkampf gegen Russland zu gewinnen. Das sagte der FDP-Vorsitzende an der US-Eliteuniversität Princeton. Russlands Präsident Putin dürfe den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen. Deswegen müsse der Westen weiter an der Seite der Regierung in Kiew stehen. Diese wird vom Westen mit Waffen und Geld unterstützt. +++ Am letzten Tag seiner China-Reise hat Brasiliens Präsident Lula da Silva seinen Wunsch nach Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine bekräftigt. Er forderte die USA auf, die militärische Unterstützung für die Ukraine zu stoppen. Die Vereinigten Staaten müssten "aufhören, den Krieg zu fördern, und anfangen, über Frieden zu reden", sagte Lula vor Journalisten in Peking. Das Gleiche verlangte er von der Europäischen Union. Brasilien setzt sich zusammen mit China für Verhandlungen ein, beide Länder lehnen zudem Sanktionen gegen Russland ab. Lula reist heute weiter in die Vereinigten Arabischen Emirate. +++ In Russland können Männer ab sofort leichter zum Militär eingezogen werden. Präsident Putin unterschrieb die vom Parlament am Mittwoch verabschiedeten Gesetzesänderungen. Demnach müssen Einberufungsbescheide nicht mehr persönlich überreicht werden, sondern können auf elektronischem Weg zugestellt werden. Online erfasste Wehrpflichtige dürfen Russland bis zur Vorstellung bei der Armee nicht mehr verlassen. Der Kreml dementierte, dass nun erneut massenhaft Männer für den inzwischen fast 14 Monate dauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine eingezogen werden sollen. +++ Die Bundesregierung setzt sich für EU-Sanktionen gegen Russlands Atomindustrie ein. Man habe gesehen, dass Russland gezielt Abhängigkeiten im Energiebereich als Druckmittel einsetze, sagte Wirtschaftsminister Habeck der Deutschen Presse-Agentur. "Die Bundesregierung hat sich daher jetzt gegenüber der Europäischen Kommission für eine Einbeziehung auch des zivilen Nuklearsektors ausgesprochen. Das sollte Bestandteil des nächsten Sanktionspakets sein." Die Atommacht Russland liefert unter anderem Uran für Atombrennstäbe und lagert radioaktiven Müll auf ihrem Gebiet. Die bisherigen Entwicklungen im Ukraine-Krieg finden Sie hier.
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Seit dem 21. Februar 2022 halten wir in einem Newsblog fest, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. In diesem Archiv können Sie die bisherigen Entwicklungen nachvollziehen.
"2023-04-21T09:58:00+02:00"
"2022-02-21T19:57:47.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zum-krieg-in-der-ukraine-198.html
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Nico Rosberg fordert nachhaltigen Motorsport
Nico Rosberg ist dem Motorsport auch nach dem Karriereende verbunden (imago / Kräling) Nico Rosberg war neun Jahre alt, als er sein erstes eigenes Kart geschenkt bekam. Zwei Jahre später bestritt der die ersten Rennen. Zehn Jahre lang war er Formel-1-Pilot. 2016 ließ er nach dem letzten Rennen in Abu Dhabi die Reifen seines Mercedes qualmen. Rosberg holte sich damals den Weltmeistertitel und trat auf dem Höhepunkt seiner Karriere zurück. Bis heute ist der ehemalige Formel-1-Fahrer und Sohn von Keke Rosberg dem Motorsport eng verbunden und bastelt als Investor in der Formel E auch an der Zukunft des Motorsports mit. "Ich freue mich riesig auf die Rennen", sagte Nico Rosberg mit Blick auf den verspäteten Saisonstart im Dlf-Sportgespräch. Wegen der Corona-Pandemie startet die Saison erst Anfang Juli. Das erste Rennwochenende im österreichischen Spielberg findet unter strengen Vorsichtsmaßnahmen, Sicherheitsauflagen und unter Ausschluss der Zuschauer statt. Am Ziel: 2016 holte sich Formel-1-Rennfahrer Nico Rosberg seinen ersten WM-Titel (imago / Hochzwei) Die Formel 1 feiert in diesem Jahr den 70. Geburtstag und selten waren die Herausforderungen für den Motorsport so groß wie im Jubiläumsjahr. In Zeiten, in denen Schülerinnen und Schüler den Aufrufen der weltweiten Bewegung Fridays for Future folgen und wöchentlich für einen besseren Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit demonstrieren, muss sich auch die Formel 1 kritische Fragen gefallen lassen – gerade auch wegen der Art und Weise, wie mit Ressourcen umgegangen wird. "Unglaublichen Beitrag für die Mobilitätsindustrie geleistet" Es sei aber nicht fair zu sagen, dass die Formel 1 die ganze Zeit verschwenderisch gewesen sei. Man dürfe nicht vergessen, dass die Formel 1 seit Jahrzehnten einen unglaublichen Beitrag für die Mobilitätsindustrie geleistet habe, sagte Rosberg. Als Beispiel nannte er den derzeitigen Formel-1-Hybridmotor. Dieser sei der effizienteste der Welt und Teile der Technologie seien in Pkws übergegangen. "Man kann Formel 1 auch mit 50 Millionen Dollar machen"Formel-1-Experte Christian Danner sieht in der Coronakrise eine Chance für den Rennzirkus, sich gesundzuschrumpfen, sagte der TV-Kommentator im Dlf. Der Formel-1-Weltmeister von 2016 investierte schon früh in die Formel E. Diese sei ein "wundervolles Beispiel" für den technologischen Transfer vom Rennen auf die Straße. "Die Elektromotoren für die Straßenautos wurden von den Herstellern in der Formel E entwickelt. Ich finde das mega cool, was die Formel E in der Entwicklung der Elektromobilität für eine Rolle spielt", sagte Rosberg. "Es ist wichtig, dass wir uns positionieren - nicht nur als Sport, der versucht sich klimaneutral zu gestalten, sondern dass wir die ganze Mobilitätsbranche unterstützen und vorantreiben in eine grünere Zukunft", sagte Nico Rosberg. Rosberg sieht das als Chance für den Motorsport und gerade auch die Formel 1. Formel 1 will ab 2030 klimaneutral sein Für die Jugend sei Nachhaltigkeit und Klimawandel ein wichtiges Thema. "Deswegen bin ich auch stolz, dass die Formel 1 sich total extreme Ziele gesetzt hat. 2030 wollen sie als Sport komplett klimaneutral sein. Das ist ein sehr, sehr wichtiges und großes Commitment", betonte Nico Rosberg, wohl wissend, dass dies nicht einfach wird. Dennoch ist der 35-Jährige überzeugt, dass die Formel 1 in Zukunft beispielsweise eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung von synthetischen Kraftstollen spielen kann und wird. "Das Wichtigste für den Sport ist, dass man sich auch kümmert und versucht einen Riesenbeitrag zu leisten. Auf diesem Weg ist die Formel 1. Und das würde ich sehr gerne den ganzen Fridays-for-Futur-Kindern eines Tages auch erzählen", sagte Nico Rosberg im Dlf-Sportgespräch. Die Formel 1 habe eine riesige Reichweite und die gelte es zu nutzen: "Wir müssen die Menschen überzeugen, dass der Klimawandel ein dringendes Problem ist, dass wir diese ganzen grünen Technologien auch annehmen, uns zum Beispiel auch immer mehr für Elektroautos interessieren und darüber informieren. Da kann der Sport eine entscheidende Rolle spielen", sagte Rosberg. "Mein Vater ist ja der ultimative Petrol-Head" Allerdings bemängeln gerade viele ältere Motorsport-Fans immer wieder die leisen Motoren und den fehlenden Sound der alten V10-Motoren. Nico Rosberg sieht darin aber kein Problem. Das zeige auch das Beispiel seines Vaters Keke Rosberg, der 1982 selbst Formel-1-Weltmeister war. "Mein Vater ist ja der ultimative Petrol-Head und auch der guckt jetzt Formel-E-Rennen, obwohl er am Anfang gesagt hat, wofür braucht man denn diesen Quatsch jetzt", erzählte Nico Rosberg. Früh übt sich: Sina Rosberg (r) besucht mit Sohn Nico ihren Ehemann und Ex-Formel-1-Weltmeister Keke Rosberg auf der Rennstrecke in Le Castellet, Frankreich (picture-alliance / ASA / Thierry Bovy) Motorsport virtuell miterleben hat Zukunfts-Potenzial Motorsport sei erst einmal dazu da, um Spaß zu haben. "Es ist für mich ein wunderschönes Erlebnis. Es inspiriert mich, wenn ich diese herausragenden Leistungen von den Fahrern und den Teams sehe, die technologisch so eine unglaubliche Innovation geschafft haben", sagte Rosberg. Aber: Für die Zukunft spiele auch die virtuelle Realität eine immer wichtiger Rolle – gerade für die Jugend. "Dass ich zu Hause sitze, mit einer virtuellen Brille und ich mich in Lewis Hamiltons Sitz rein versetzen und ihn am Start erleben kann. Wenn ich nach links schaue, sehe ich Sebastian Vettel, als ob ich wirklich in seinem Auto sitze und ich das so richtig hautnah erlebe, wo er hinguckt, was er macht. Ich glaube, da ist noch viel Potenzial und das nutzt, um das Erlebnis noch zu steigern", sagte Rosberg mit Blick auf VR-Brillen und auch Gamification. Auch Rennen zwischen autonomen Autos steht Rosberg positiv gegenüber. Noch seien die "Robocars" allerdings deutlich langsamer als menschliche Fahrer. "Es ist anscheinend schwierig, der künstlichen Intelligenz beizubringen, wie man einen Rennwagen am Limit fährt", so der Formel-1-Weltmeister. "Aber das wird kommen. Und dann ist es Maschine gegen Maschine, Team gegen Team." Die Rennen wären zwar eher ein Nischen-Wettbewerb, für gewisse Zielgruppen wie die Tech-Branche aber trotzdem vermarktbar. "Das wäre auch total wichtig, weil wir wissen, dass die Zukunft der Mobilitätsbranche autonom ist."
Maximilian Rieger im Gespräch mit Nico Rosberg
Die Formel 1 blickt vor dem Neustart in eine ungewisse Zukunft. Es sei wichtig, dass der Motorsport die ganze Mobilitätsbranche in eine grünere Zukunft vorantreibe, sagte der Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg im Dlf. Die Formel-1 habe eine riesige Reichweite und die gelte es zu nutzen.
"2020-07-05T23:30:00+02:00"
"2020-07-06T17:10:49.619000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/formel-1-und-der-klimaschutz-nico-rosberg-fordert-100.html
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Lkw-Fahrer dringend gesucht
Mehr als drei Milliarden Tonnen Güter haben deutsche Lkw allein in 2016 transportiert. Tendenz: steigend. (dpa/Holger Hollemann) Natalie Brand fährt auf der A33 von Paderborn nach Rheda-Wiedenbrück. Jeden Tag hat sie eine andere Route. Sie mag ihren Job als Lkw-Fahrerin: "Im Großen und Ganzen hat mich mein Papa so ein bisschen dazu gebracht. Wir haben damals mit Modellbau angefangen, kleine ferngesteuerte Autos im Maßstab 1:14. Das fand ich irgendwie ganz cool. Ein Bekannter von mir, der arbeitet bei uns in der Dispo, meinte dann, hey, du kannst ja mal ein Praktikum bei uns machen. Wir haben noch ein paar andere Fahrerinnen bei uns, kannst ja mal mitfahren und dir das angucken. Weil, wie das so ist, 16, fertig mit der Schule, was machst du danach?" Bis zu 60.000 Fahrer fehlen Die Antwort war für die inzwischen 20-Jährige die Ausbildung zur Berufskraftfahrerin. Natalie ist eine Ausnahme – in mehrerer Hinsicht. Nur 2,5 Prozent des Fahrpersonals ist unter 25 Jahre alt. Und noch weniger sind weiblich – nämlich nur 1,7 Prozent. Für den Beruf entscheiden sich immer weniger Menschen. Dabei braucht die Branche dringend Nachwuchs. Dirk Engelhardt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung: "Im Moment fehlen nach verschiedenen Schätzungen in Deutschland 30.000 bis 60.000 Kraftfahrer. Jedes Jahr kommt ein Delta von 15.000 weiteren dazu. Das heißt, wenn wir jetzt nicht ganz schnell agieren, dann werden wir es merken, dass in einigen Bereichen die Produkte so nicht mehr verfügbar sind wie wir das gewohnt sind." Fahrermangel hat Gründe Fast ein Drittel des Personals ist 55 Jahre oder älter, jedes Jahr gehen fast 30.000 in den Ruhestand. Als Berufsanfänger folgt jedoch nur knapp die Hälfte nach. Dazu muss immer mehr transportiert werden, der Onlinehandel wächst. Man stehe vor dem Versorgungskollaps, so Engelhardt. Der Beruf des Kraftfahrers habe kein besonders gutes Image, sagt er. Das ergab auch eine Umfrage unter den Fahrerinnen und Fahrern. 90 Prozent der Befragten sehen das als ein Problem. Auch Natalie: "Jogginghose. Dicker Bierbauch. Ungepflegt." So sei das Klischeebild. Sie betont dabei, dass das überhaupt nicht mit der Realität übereinstimme. Was den Job für viele zudem unattraktiv mache, seien die Rahmenbedingungen der Arbeit, sagt Engelhardt. Dort gebe es Handlungsbedarf: "Auf der einen Seite ist die Industrie, der Handel und die Verladerschaft gefordert, dass die Situationen an den Rampen besser werden. Sprich, dass die Fahrer dort Zugang zu sanitären Anlagen haben. Zum anderen brauchen wir eine Flexibilisierung der Lenk- und Ruhezeiten, dass die Fahrer zum Beispiel in Verbindung mit einer Wochenendruhezeit, sprich, wenn sie nach Hause zu ihren Familien wollen, auch ihren Heimatort sicher erreichen können." Lange Arbeitszeiten erschweren Familienleben Im Dezember erst hatten die EU-Verkehrsminister neue Sozialstandards für das Fahrpersonal beschlossen. Vor allem das Lohndumping sollte bekämpft werden. Doch es sei auch eine bessere Ausstattung der Fahrerhäuser nötig, damit Fahrerinnen und Fahrer sich dort bei langen Touren beispielsweise waschen oder hinlegen können. Die derzeitige Regelung der Lenk- und Ruhezeiten sorgt dazu für nicht gerade stressfreie Tage. Besonders, wenn man es mit anderen Jobs vergleicht, wie Natalie deutlich macht: "Eine Schichtzeit von insgesamt 15 Stunden am Tag dürfen wir machen. Im Gegensatz zu Leuten die acht Stunden im Büro machen und danach nach Hause gehen." Nebenbei das Privatleben zu organisieren, falle vielen schwer, sagt Natalie. Sie selbst hat dabei in ihrer Beziehung eine günstige Konstellation gefunden: "Ich habe das Glück, dass mein Partner selber Lkw fährt, das heißt, auch Verständnis hat von seiner Seite aus. Wir haben so im Großen und Ganzen überhaupt keine Probleme, wir sehen uns am Wochenende, haben da dann Zeit zusammen. Mal passiert es, dass wir uns in der Woche unterwegs mal treffen, uns entgegenkommen oder auf einem Rastplatz ein kurzes Pläuschchen halten." Die meisten in der Branche können Berufliches und Privates nicht so leicht vereinbaren. Dirk Engelhardt weiß, dass für die Akquise neuer Fahrerinnen und Fahrer etwas getan werden muss. Man müsse flexible Arbeitszeitmodelle anbieten, in denen sich Beruf, Freizeit und Familie besser kombinieren ließen. Selbst in Osteuropa fehlt der Nachwuchs Für Natalie ist auch die Bezahlung ein Problem. Von manchen Firmen bekomme man trotz der harten Arbeit nur den Mindestlohn. Auch weil Fahrpersonal aus Osteuropa zunehmend zur Konkurrenz geworden ist. Doch der Fahrermangel sei längst nicht mehr nur ein deutsches Problem, so Engelhardt: "Wir hatten das in den letzten Jahren, aber mittlerweile vermelden die Kollegen in Polen auch, dass sie Fahrer suchen. Wir wissen aus Meldungen aus Rumänien, dass 30 Prozent der Fahrerstellen nicht besetzt werden können und so hört man das auch aus anderen Ländern. Auch da haben die jungen Leute das Thema Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Freizeitaktivitäten etc." Trotz aller Widrigkeiten – vom schlechten Berufsimage, über die verbesserungswürdigen Rahmenbedingungen bis hin zur ausbaufähigen Bezahlung – Natalie liebt ihren Job als Fahrerin, aus gutem Grund: "Für mich ist ganz klar: meine Freiheit. Ich hab keinen Chef im Nacken sitzen, ich bin einfach mein eigener Herr."
Von Niklas Potthoff
Der Güterverkehr wächst, nicht zuletzt, weil immer mehr Waren online bestellt werden. Die Lkw-Branche stellt das vor Probleme: Ihr fehlen jede Menge Fahrer. Das liegt auch an den unattraktiven Arbeitsbedingungen mit Wochenendarbeit und langer Abwesenheit von zu Hause. Jetzt könnte ein Umdenken einsetzen.
"2019-06-20T13:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:58:12.320000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/logistikbranche-lkw-fahrer-dringend-gesucht-100.html
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Das Kreuz mit der Statistik
Wenn eine Studie statistisch signifikant belegt, dass eine Behandlung wirkt, so ist damit nur eines gesagt: Sie wirkt besser als ein Placebo, also eine Pille ohne Wirkstoff. Möglicherweise auch nur ein ganz kleines bisschen besser. Daher brauchen Ärzte zusätzliche Angaben, um einschätzen zu können, wie stark eine Arznei wirklich wirkt. Zum Beispiel: Wie viele Patienten muss ich mit dem fraglichen Mittel behandeln, um bei einem Patienten dadurch einen Heilungserfolg zu erzielen? Im Idealfall wirkt das Medikament bei jedem Patienten und er wird geheilt. Doch Tatsache ist: Der Nutzen der meisten Medikamente oder Behandlungen ist nicht annähernd so groß. Beispiel: moderne Antidepressiva. Von zehn Patienten, die Antidepressiva einnehmen, wird nur einer tatsächlich durch diese Mittel seine Depression wieder los. Anderes Beispiel: Cholesterinsenker. Sie werden weltweit massenhaft verschrieben, um Herzinfarkte zu verhindern. Hier lauten die Zahlen: 100 Patienten müssen jahrelang Cholesterinsenker nehmen, damit bei einem das Ziel erreicht wird, nämlich einen Herzinfarkt zu verhindern. Noch weniger nützt eine andere, weitverbreitete Behandlung, die Brustkrebsvorsorge durch Mammografie. Das sagt Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor des Max Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin " Die beste Schätzung, die wir haben, ist, dass der Nutzen 1 in 1000 liegt beim Mammografie-Screening. Von 1000 Frauen, die zum Screening gehen, sterben vier an Brustkrebs innerhalb von 10 Jahren. Von 1000 Frauen, die nicht gehen, sind es fünf. Von 5 auf 4 ist 1 in 1000."Im Klartext: Wenn 1000 Frauen zehn Jahren lang zur Mammografie gehen, stirbt nur eine weniger an Brustkrebs, eine von 1000 hat also einen echten Nutzen davon. Ernüchternde, in der Ärzteschaft oft wohlbekannte Zahlen. Patienten gegenüber werden sie aber in der Regel verschwiegen. Das fand Bildungforscher Gerd Gigerenzer in einer europaweiten Untersuchung vor einiger Zeit heraus. So beschönigen viele Aufklärungsbroschüren den Nutzen der Krebsvorsorge. Und auch im persönlichen Gespräch mit dem Arzt werden viele Patienten nicht korrekt aufgeklärt, sagt Gerd Gigerenzer:"In Deutschland ist es sogar so, dass jene, die öfter beim Arzt um Rat fragen, eine höhere Überschätzung des Nutzens haben. Warum ist das so? Weil in Deutschland die Ärzte im Medizinstudium immer noch nicht in Statistik geschult werden und oft die Prozentzahlen selbst nicht verstehen."Und das hat zur Folge, dass viele Patienten mit Zahlen konfrontiert werden, die nicht unbedingt falsch sind, aber trotzdem in die Irre führen. So wird das Brustkrebsscreening gerne den Patienten mit folgender Rechnung präsentiert: Wenn 1000 Frauen 10 Jahre lange zur Mammografie gehen, sinkt die Sterblichkeit um 20 Prozent. Diese Rechnung stimmt zwar, denn Dank Mammografie sterben von 1000 Frauen nicht mehr fünf, sondern nur noch vier, also 20 Prozent weniger. Irrtümlich deuten die meisten Frauen diese Prozentzahl aber anders und glauben, dass 1000 Frauen 200 gerettet werden. Kritiker wie Gerd Gigerenzer fordern daher, dass Patienten nicht mehr mit solchen relativen Prozentzahlen, sondern mit absoluten Zahlen aufgeklärt werden. Also wie viele Patienten von 100 oder 1000 profitieren tatsächlich? Bei einer sehr weit verbreiteten Krebsvorsorgemethode für Männer wäre das übrigens nach Ansicht der Bildungsforscher ebenfalls höchste Zeit. Denn vom sogenannten PSA-Test zur Prostatakrebs-Früherkennung profitiert höchstens ein Mann von 1400. Auch eine Zahl, die bis heute in Arztpraxen meist verschwiegen wird.
Von Thomas Liesen
Dass ein Medikament tatsächlich wirkt, gilt dann als bewiesen, wenn es "statistisch signifikant" besser abschneidet als ein Placebo. Dann kann ein Hersteller oder eine Forschergruppe sagen: "Unsere Studie hat gezeigt, Therapie XY wirkt." Doch bewahrt das vor Irrtümern und Irreführung?
"2011-12-20T10:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:25:12.072000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-kreuz-mit-der-statistik-100.html
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Homosexualität ist kein Tabu
Ausverkauftes Konzert der libanesischen Kultband Mashrou' Leila (Mashrou' Leila) "Ich komme zu dir zurückKnie nieder, obwohl du mich erwürgstIch vergebe dir, gehorche, obwohl du mich versengstSag mir, dass er dich befriedigt, so wie ich es einst tatWenn seine Lippen dorthin gehen wo meine waren. Hast du die meinen genossen?" Mashou' Leila kümmert sich nicht um Artikel 534 des libanesischen Strafgesetzbuches. Wir haben schon immer das besungen, was wir wollten, sagen die fünf jungen Männer aus Beirut. Homosexualität, Gewalt gegen Frauen, korrupte Politiker, Terrorismus sind Themen, die selbstverständlich behandelt werden. "Ehrlich gesagt sollte es nicht als etwas Außergewöhnliches angesehen werden. Für uns sind das Themen, die schon länger als wir am Leben sind diskutiert werden in der Kunst. Und die Tatsache, dass sie nicht in der arabischen Musik diskutiert werden ist sehr seltsam. Aber dass wir darüber reden, macht uns deswegen noch lange nicht außergewöhnlich." Sagt Gitarrist Firas Abou Fahbar beinahe schon bescheiden. Aber das ist keine Masche sondern Überzeugung. Mashrou Leila, "nächtliches Projekt", ist 2008 nach stundenlangen Jamsessions entstanden. Heute sind sie Kult. Vor allem wegen der Texte, die für viele junge Araber wegweisend sind. Die Konzerte weltweit sind notorisch ausverkauft, auch das erste in Deutschland, in Berlin, Anfang Mai. Nach einem Post auf Facebook war es innerhalb von zwei Tagen ausgebucht und es musste ein Zusatzkonzert her. Das Publikum kreischte frenetisch und gut die Hälfte sang lautstark mit. "Tonight is a really big deal for us, we really wanted to play in Berlin for such a long time. And the next song is like a lebanes Romeo an Julliet" Eine Art kollektive, antiwestliche Identität Mashrou' Leila gilt als die arabische Band, die es gewagt hat über Sexualität zu singen, Schwule, Lesbische, Heterosexuelle. Ein absolutes Novum, kann man in einigen Artikeln lesen. Sänger Hamed Sinno sagt: stimmt aber nicht wirklich. "Diese Themen wurden von anderen arabischen Musikern schon im frühen 19. Jahrhundert besungen, aber sie werden in den Radios nicht gespielt. Sie wurden aus der Musikgeschichte gestrichen. Es entstand eine neue Darstellung der Kultur. Das begann in der postkolonialen Ära Mitte des 20. Jahrhunderts. Es wurde eine Art kollektive Identität erschaffen die gegen alles war, was aus dem Westen kam." "Sie brachten dir die Nationalhymne bei und bläuten dir ein, dass es gut ist zu leiden - für die Heimat. Sie lähmten dich intravenös, sagten deine Ruhigstellung sei gut - für die HeimatLass uns ein bisschen tanzen - sagten sie." Homosexualität wurde im Libanon erst vor Kurzen von der offiziellen Liste der psychischen Krankheiten gestrichen, aber es ist nach wie vor eine mögliche kriminelle Straftat. Vor ein paar Jahren hat ein Richter beschlossen, man könne niemanden wegen seiner sexuellen Taten einsperren. Aber unter dem nächsten Präsidenten kann alles wieder ganz anders sein. "Warum wir trotzdem darüber singen? Es wäre viel schwieriger unseren Mund zu halten und nichts zu sagen." Politisches und persönliches Album Die paar großen Plattenlabels bauen vor allem Musiker auf, welche die vermeintliche nationale Identität hochhalten, den ganzen Märchen-Bullshit, sagt Hamed. Deswegen haben sie ihr drittes Album "Raasuk" - Tanzen - per Crowdfunding finanziert und das Aktuelle "Ibn El Leil" - Der Sohn der Nacht - unter ihrem eigenen Namen rausgebracht. Es ist wie alle vier sehr politisch, aber es geht auch um das Feiern, eine ihrer liebsten Beschäftigungen, um männliche Aggressivität und um den Tod von Hameds Vater. Ein sehr persönliches Album. Der Song "Ikarus" erzählt von den letzten Stunden im Krankenhaus. "Mein Vater liebte tanzen, er tanze im Wohnzimmer zu Techno. In 'Ikarus' geht es um die vielen Maschinen dort, die alle irgendeinen Sound machen. Für mich war das Musik, und im Lied tanzt er dazu. Er hat immer alles gemacht was er wollte, aber er kam nicht damit klar, dass das nun nicht mehr möglich war." Übrigens - Songs über Sex, auch unter Männern, gab es eigentlich schon in den alten Beduinen-Songs, fügt Hamed noch hinzu. "Es gibt zum Beispiel diesen Song von einer Frau, da heißt es: Dieser Typ hat die Hand auf mein Kleid gelegt, woraufhin ich ihn einen Idioten nannte und ihm sagte, er solle die Hand doch unter das Kleid legen und lernen, was es da zu tun gebe." Von wann genau dieses Lied sei? Keine Ahnung sagen alle fünf Mitglieder von Mashrou' Leila. Wahrscheinlich ist er dem gründlichen Kultur-Archivierungsprozess der Regierungen zum Opfer gefallen.
Von Camilla Hildebrandt
Schwule, Transgender, Lesben - darüber in Liedtexten zu schreiben ist hierzulande nichts Besonders. Ganz anders ist das aber in arabischen Ländern, wo Homosexualität schlicht verboten ist oder als "gegen die Natur" geahndet wird. Die libanesische Kultrockband "Mashrou' Leila" geht offen mit dem Thema um.
"2016-05-23T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:30:50.820000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kultrockband-mashrou-leila-homosexualitaet-ist-kein-tabu-100.html
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"Friedensverhandlungsprozess wird schwierig"
Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban Ende Februar 2020 (AFP/Karim Jaafar) Der Friedensprozess in Afghanistan, gestützt von einer Vereinbarung zwischen den Taliban und den USA ist schwer umstritten. Die Waffenruhe wird gebrochen, die afghanische Regierung befindet sich zudem in einer Krise. Der Kern des Abkommens steht deshalb in Frage. Die Friedensgarantien der Taliban gegen den schrittweisen Abzug der US-Truppen - damit irgendwann auch innerafghanisch verhandelt werden kann.Um den Weg dafür frei zu machen, ist für die Taliban ein weiterer Punkt zentral. Sie fordern, dass 5000 Gefangene aus ihren Reihen freigelassen werden. Thomas Ruttig ist seit vielen Jahren Kenner des Landes und Vizedirektor des Afghanistan Analysts Network, einer Nichtregierungsorganisation. Er beobachtet den schwierigen Friedensverhandlungsprozess und glaubt nicht, dass dieser innerhalb weniger Wochen abgeschlossen sein wird. Frauenrechte in Afghanistan "Seit dem Sturz der Taliban 2001 hätten sich Frauen in Afghanistan viel erkämpft, sagte die Journalistin Shikiba Babori im Dlf. Das Abkommen zwischen den USA und den Taliban könnte das wieder ändern. Das Interview in voller Länge Sarah Zerback: Ein Friedensprozess in Afghanistan, gestützt von einer Vereinbarung zwischen den Taliban, radikalen Islamisten, und den USA, einer ausländischen Regierung, das ist schwer umstritten und es gibt auch immer wieder Rückschläge. Die teilweise Waffenruhe wird gebrochen, die afghanische Regierung ist in der Krise, und so steht der Kern des Abkommens immer wieder in Frage. Die Friedensgarantien der Taliban gegen den schrittweisen Abzug der US-Truppen, damit dann irgendwann auch innerafghanisch verhandelt werden kann. Um den Weg dafür frei zu machen, ist für die Taliban ein weiterer Punkt zentral. Sie fordern, dass 5000 Gefangene aus ihren Reihen freigelassen werden. Ob dieser Preis zu hoch ist für Frieden im Land und ob das überhaupt der richtige Weg ist, dazu können wir uns nun Einschätzungen holen von Thomas Ruttig, seit vielen Jahren Kenner des Landes und Vizedirektor des Afghanistan Analysts Network, einer Nichtregierungsorganisation. Guten Morgen, Herr Ruttig! Verhandlungen mit Taliban sind notwenig Thomas Ruttig: Guten Morgen, Frau Zerback. Zerback: Gestern nun hat die Regierung in Kabul ja den Forderungen nach langem Zögern zugestimmt, den Forderungen der Taliban, zunächst nicht alle, doch aber 1500 inhaftierte Taliban-Kämpfer freizulassen aus Gefängnissen. Die Taliban haben das dann aber Stunden später auch schon wieder zurückgewiesen. Wie herb ist denn dieser Rückschlag nun für die Verhandlungen? Ruttig: Zum einen sollten die Verhandlungen ja schon vorgestern beginnen. Dazu ist es nicht gekommen. Für mich zeigt das, wie schwierig insgesamt dieser Friedensverhandlungsprozess zwischen der afghanischen Regierung, anderen Kräften in Kabul und den Taliban werden wird. Wir sehen, wenn die Taliban jetzt schon auch bei technischen Dingen, auf die es ja hinausläuft, solche Schwierigkeiten machen, wie schwierig es werden wird. Sie können ja nicht erwarten, dass 5000 Leute an einem Tag freigelassen werden, und sie verlangen unter anderem auch, dass nicht wie von Kabul verlangt Garantien abgegeben werden sollen, dass diese Freigelassenen nicht wieder in den Kampf zurückkehren können. Zerback: Ist es von Grund auf naiv, überhaupt mit Kämpfern einer Extremistengruppe Verhandlungen führen zu wollen? Ruttig: Das ist nicht naiv. Im Gegenteil! Es ist notwendig. Wenn man einen Krieg beenden will, und der Krieg in Afghanistan läuft schon seit 40 Jahren, dann muss man sich mit diesen Leuten zusammensetzen. Friedensverhandlungen in solchen Bürgerkriegen werden ja nie zwischen Freunden gehalten. Aber man darf sich auch keine Illusionen machen, dass das alles in ein paar Wochen gehen kann, und das scheint auch eines der Probleme zu sein vor allen Dingen von Seiten der USA, die da sehr viel Druck und sehr viel Tempo machen wollen, weil, wie bekannt ist, Präsident Trump häufig zu schnellen Entscheidungen neigt und befürchtet wird, dass er die Truppen aus Afghanistan abziehen wird, ohne dass es ein Abkommen gibt, und dann alles zusammenbrechen kann, was dort seit 2001 erreicht worden ist. Taliban erkennen Regierung in Kabul nicht an Zerback: Zumal ja bisher die afghanische Regierung bei den Verhandlungen nicht mit am Tisch saß, die sich ja bisher weigert, sich mit Taliban an einen Tisch zu setzen, die aber eigentlich in Zukunft Teil dieses Friedensprozesses werden sollen. Für wie realistisch halten Sie das denn unter diesen Bedingungen? Ruttig: Es ist anders herum. Die Taliban wollten sich nicht mit der afghanischen Regierung zusammensetzen und auch bisher senden sie Signale aus, dass sie das gar nicht vorhaben. Das könnte sich auch hinter diesen Querelen um die Gefangenenfreilassung verbergen. Die Taliban sagen ja, dass sie die Regierung in Afghanistan nicht anerkennen. Sie erkennen auch die letzte Präsidentenwahl nicht an, die tatsächlich umstritten war, und deswegen hat die amerikanische Seite bei den bilateralen Verhandlungen mit den Taliban, die jetzt zu diesem Abkommen Ende Februar geführt haben, eine Klausel festgeschrieben, dass Verhandlungen mit einem sogenannten integrativen Team aus der afghanischen Hauptstadt stattfinden sollen. Das heißt, dass nicht nur die Regierung Afghanistans das Land vertreten soll, sondern dass da auch andere Fraktionen, die in Afghanistan eine Rolle spielen, sich daran beteiligen werden. Zerback: Sie haben es gerade angeschnitten, wie schwierig das ist, auch gerade in Kabul überhaupt eine Regierungsspitze auszumachen. Es haben sich ja zwei Rivalen zum Präsidenten ernannt nach monatelanger Wahlauszählung. Da haben wir einmal den Präsidenten Ghani sowie seinen Rivalen Abdullah. Jetzt haben wir gestern erlebt, dass Ghani seinen Wahlrivalen einfach abgesetzt hat. Da ist die Frage, kann er das überhaupt so einfach. Wie ist da die Lage? Ruttig: Auch das ist sehr verzwickt. Die beiden waren schon bei der vorhergehenden Präsidentenwahl 2014 gegeneinander angetreten und hatten sich hinterher nicht auf ein Endergebnis einigen können. Dann mussten auch die Amerikaner intervenieren. Es kam eine Art schwierige Koalitionsregierung dabei heraus, die nicht sehr gut funktioniert hat. Um diesen Deal überhaupt erreichen zu können, ist an der afghanischen Verfassung vorbei ein quasi Ministerpräsidentenamt für Abdullah geschaffen worden. Das hat Ghani jetzt wieder beseitigt. Gleichzeitig hat er angeboten, eine neue Regierung zu bilden, die alle politischen Kräfte in Afghanistan umschließen soll. Wir müssen jetzt erst mal sehen, wie das in der Praxis aussehen wird, wie da die Formel aussehen wird. Wir wissen das bisher noch nicht. Aber Abdullah will natürlich auch zumindest den Preis nach oben treiben, falls er sich überhaupt darauf einlässt, solch einen Kompromiss zu schließen. Was dann auch wiederum wichtig ist für die Friedensverhandlungen, denn auch die Abdullah-Leute müssen in diesem Verhandlungsteam mit den Taliban vertreten sein, wenn die afghanische Seite sich auf eine relativ breite politische Grundlage im eigenen Land stützen will. Es geht auch nicht nur um Ghani und Abdullah, sondern natürlich weitere Sektoren der afghanischen Gesellschaft bis hin zur Zivilgesellschaft und zu Frauen, deren Interessen zumindest natürlich auch vertreten sein müssen, damit die Rechte und Freiheiten, die jetzt die afghanische Verfassung bietet, nicht über Bord geworfen werden in diesen Verhandlungen. "Die Amerikaner sind in diesen Gesprächen nie sehr offen gewesen" Zerback: Unterdessen haben die USA ja – Sie haben es angesprochen – damit begonnen, Truppen abzuziehen, Soldaten abzuziehen. Über das Bundestagsmandat, was das alles für die Bundeswehr bedeutet, da soll Ende März entschieden werden. Gestern hat der Verteidigungsausschuss sich aber schon für eine Verlängerung um ein Jahr des Mandats ausgesprochen. Gemeinsam rein, gemeinsam raus – ist das alternativlos bei dieser Sicherheitslage? Ruttig: Die NATO-Truppen und darunter auch die Bundeswehr hängen sehr stark logistisch von den Amerikanern ab. Wenn die Amerikaner wichtige Komponenten ihrer Truppen abziehen, dann sind auch die Handlungsmöglichkeiten der anderen Truppen davon betroffen. Die NATO ist zumindest teilweise einbezogen worden in die Gespräche mit den Taliban und darüber informiert worden und die Formel ist wohl, dass reziprok zu dem Abzug, der stufenweise erfolgen soll auf amerikanischer Seite, dann auch die anderen Truppen abgezogen werden. Wir wissen bisher nicht und wahrscheinlich weiß auch die Bundesregierung und die Bundeswehr bis jetzt noch nicht, wie das technisch und zeitlich alles laufen soll. Da wird es noch Gespräche geben. Die Amerikaner sind in diesen Gesprächen nie sehr offen gewesen, auch nicht zu den eigenen Verbündeten. Zerback: Eine Exit-Strategie gibt es noch nicht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Ruttig im Gespräch mit Sarah Zerback
Das Abkommen zwischen den USA und den radikal-islamischen Taliban soll Frieden für Afghanistan bringen. Doch bei den innerafghanischen Verhandlungen gibt es Rückschläge. Man dürfe sich keine Illusionen machen, dass der Prozess in wenigen Wochen abgeschlossen sei, sagte Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network im Dlf.
"2020-03-12T06:50:00+01:00"
"2020-03-17T09:01:25.457000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-friedensverhandlungsprozess-wird-schwierig-100.html
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Abstimmung über Kataloniens Unabhängigkeit
Kein Stuhl ist mehr frei bei den letzten Absprachen in der Ortsgruppe der Initiative "Barcelona entscheidet" von Horta, einem von zehn Bezirken der katalanischen Hauptstadt. Ein Informatiker erklärt den rund 100 Wahlhelfern noch einmal das Computerprogramm, mit dem die Personalausweise der Wähler erfasst werden - was gewährleisten soll, dass niemand mehrfach abstimmt. Denn das Referendum ist eine private und rechtlich nicht verbindliche Initiative. Daraus entstehen auch Schwierigkeiten, erklärt in der Kneipe des kleinen Bürgerhauses Lluis Vila, der Leiter der Ortsgruppe:"Wir haben keinen Zugang zum Wahlregister. Alle Einwohner im Alter ab 16 Jahren dürfen abstimmen, auch Einwanderer. Sie müssen mit dem Personalausweis oder einer Bestätigung des Einwohnermeldeamtes belegen, dass sie in Barcelona gemeldet sind. Wir können Einwanderer oder Nicht-Volljährige auch wieder aus der Zahl der Wahlberechtigten herausrechnen, und so die Beteiligung mit normalen Wahlen vergleichen."Rund 1000 freiwillige Helfer hat die Initiative in ganz Barcelona. Alle sind brennende Verfechter eines eigenen katalanischen Staats. Die Dezentralisierung Spaniens, in deren Rahmen die Zentralregierung in Madrid immer mehr Kompetenzen an die insgesamt 17 sogenannten "autonomen Regionen" abgegeben hat, lassen sie nicht gelten, auch nicht, dass die katalanische Sprache mit öffentlichen Mitteln gefördert und offizielle Behördensprache in der Region ist: "Weil ich Katalane bin. Unser Land erlebt schwierige Zeiten. Die Parteien haben die katalanische Zivilgesellschaft verraten. Die Vorstellung von einem föderalen spanischen Vielvölkerstaat, hat sich als Illusion erwiesen. Sie betrügen uns, sie respektieren die Rechte Kataloniens nicht, halten ihre Versprechen nicht. Darum sollten wir einen eigenen Staat innerhalb der Europäischen Union haben."Denn das steht zur Abstimmung: "Sind sie damit einverstanden, dass die katalanische Nation ein unabhängiger, demokratischer und sozialer Rechtsstaat und Teil der Europäischen Union sein soll?" Katalonien war schon immer einer der wirtschaftlichen Motoren Spaniens. Das führt schon lange zu intensiven Verhandlungen über die Verteilung des Wohlstands, in den heutigen Zeiten knapper Kassen und Spardrucks immer mehr zum offenen Streit zwischen den Regierungen in Madrid und Barcelona:"Das Defizit aus dem, was wir an Spanien bezahlen, und was wir zurückbekommen, lässt sich leicht ausrechnen. Das sind zwischen 20 und 22 Milliarden im Jahr. Das in einem armen Land, in dem die Fabriken schließen, weil sie kein Geld mehr haben. Ich denke, das Geld fehlt hier."In Katalonien ist schnell vom Volk die Rede. Allerdings denken die Katalanen gar nicht so einheitlich, wie nationalistische Stimmen oft vorgeben. Das Institut für Politische Studien der Autonomen Universität von Barcelona fragt die Katalanen seit 1991 nach ihrer Meinung, auch zur Unabhängigkeit. Zum Ergebnis der repräsentativen Umfragen sagt der Institutsdirektor Joan Marcet:"Seit 20 Jahren liegen die Befürworter der Unabhängigkeit bei etwa 20 Prozent. 1991, als wir mit diesen Umfragen begonnen haben, waren es 19, heute sind es rund 22 Prozent. Natürlich beeinflusst die spanische und katalanische Politik die Stimmung. Als unser neues Autonomiestatut in Kraft trat, sank der Anteil der Befürworter einer Unabhängigkeit auf 18 Prozent. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts gegen einige Artikel stieg er letztes Jahr wieder etwas an. Aber grundsätzlich ist die Entwicklung recht stabil."Vielschichtigkeit auch in den Antworten zur eigenen Identität: Rund 14 Prozent geben an, nur Katalanen und keine Spanier sein zu wollen, rund 70 Prozent sehen sich hingegen in einer Art Mischidentität als Spanier und Katalanen. Sie zur Abstimmung zu bewegen, ist schon den Organisatoren der vorangegangenen 530 Referenden in kleineren Städten der Region schwergefallen: Da nahmen in Schnitt 20 Prozent der Abstimmungsberechtigten teil. Angesicht solcher Zahlen würden die Organisatoren des Referendums im Bürgerhaus von Horta schon eine Wahlbeteiligung von 15 Prozent als Erfolg ansehen. Viel wichtiger als die Statistik ist für Joan Fredrera, das Referendum überhaupt durchgezogen zu haben:"Hier geht es auch darum, die Debatte um die Unabhängigkeit in die Gesellschaft hinein zu tragen. Das war bisher ein Tabu-Thema. Wir Anhänger der Unabhängigkeit haben früher den Mund gehalten. Heute ist es das Normalste auf der Welt, darüber zu sprechen."
Von Hans-Günter Kellner
Am Sonntag sollen 1,4 Millionen Menschen in Barcelona über die Unabhängigkeit der Region Katalonien von Spanien abstimmen. Das Referendum ist eine rein private Angelegenheit, dennoch birgt es nicht unerheblichen politischen Sprengstoff.
"2011-04-08T09:10:00+02:00"
"2020-02-04T01:49:22.026000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abstimmung-ueber-kataloniens-unabhaengigkeit-100.html
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"Epidemie noch nicht besiegt"
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschen Bundestag (dpa / Rainer Jensen) Müller (CSU), der zusammen mit Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die Krisenregion in Westafrika besucht, sagte, er schlage vor, dass sich die internationale Staatengemeinschaft auf ein neues Entwicklungskonzept einigt, das eine flächendeckende medizinische Versorgung sowie eine Ausbildungsoffensive in Westafrika vorantreibt. Auch Deutschland könnte Hilfe leisten, etwa mit Klinik- und Kommunalpartnerschaften, betonte Müller. Einige Bundesländer hätten das bereits auf den Weg gebracht. Das Interview können Sie hier in Kürze in voller Länge nachlesen.
Gerd Müller im Gespräch mit Silvia Engels
In Westafrika ist die Zahl der Ebola-Neuansteckungen weiter gesunken. Die Epidemie sei aber noch nicht besiegt, sagte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Deutschlandfunk. Er forderte ein entschlossenes Handeln der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen die Krankheit.
"2015-04-10T08:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:30:53.249000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ebola-epidemie-noch-nicht-besiegt-100.html
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"Der Libanon muss sich neu erfinden"
Es wird lange dauern, bis der Libanon diese Krise überwinden kann, sagte Islamwissenschaftler Hillenkamp. (Julia Neumann) Erst vor einem Jahr hatte sich Premierminister Saad Hariri dem Druck der Straße gebeugt und nach langanhaltenden Protesten im Libanon seinen Rücktritt angekündigt. Damals feierten die Demonstranten seinen Rücktritt. Doch heute ist nichts mehr von dieser Freude übrig. Die wirtschaftliche Lage des kleinen Mittelmeerstaates ist verheerend, die weltweite Pandemie hat das Land fest im Griff und die Trauer und Wut über die desaströse Explosion im Beiruter Hafen am 4. August ist noch lange nicht verarbeitet. Und: Saad Hariri ist wieder zurück. Er wurde erneut zum Ministerpräsidenten des Libanon ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Damit taucht der Sohn des ermordeten ehemaligen Premierministers Rafik Hariri wieder auf der politischen Bühne auf. Libanon nach der Explosion - Wiederaufbau und Warten auf den WandelDrei Wochen nach der verheerenden Explosion im Hafen sind die Beiruter immer noch am Aufräumen. Viele wünschen sich echten politischen Wandel, manche sehen den religiösen Proporz als Wurzel der Korruption im politischen System. Aber sind von den Oppositionsparteien Lösungen zu erwarten? Die Demonstranten wollten eine Alternative zu Hariri Was bedeutet das für die Zukunft des Libanon? Bernhard Hillenkamp ist Islamwissenschafter und war bis vor wenigen Wochen noch in Beirut als Landesdirektor des Forum Ziviler Friedensdienst. Er sagte im Dlf, dass die Demonstranten von damals, die gegen Hariri und das Establishment demonstrierten, sich enttäuscht von Hariris erneuter Ernennung zeigten, weil Hariri für das alte Establishment stehe. "Auf der anderen Seite gibt es auch politische Analytiker, die sagen, es kann nur jemand wie Hariri eine neue Regierung schaffen, die dann die Voraussetzung für Neuwahlen ist." Es gebe also auch positive Reaktionen auf seine Ernennung. "Hariri muss aber schauen, dass er einen breiten Konsens in der politischen Elite unter den Parteien herstellt." Hariri betone zwar, er wolle eine technokratische Regierung bilden, die nicht aus "den alten Köpfen" bestehe. "Aber er ist selber einer der alten Köpfe, daher glauben es nicht alle. Aber ich glaube schon, dass es möglich ist, eine technokratische Regierung einzusetzen, die mittelfristig die unterschiedlichen Verhandlungen mit den Geldgebern aus dem Ausland führen können", so Hillenkamp. Die Demonstranten wollten aber eine Alternative zu Saad Hariri, die einen neuen Anfang beschreiben könne. "Das scheint aber nicht möglich zu sein, denn dies ist bereits der dritte Versuch, eine neue Regierung zu etablieren." Es sei auch noch nicht sicher, ob Hariri überhaupt eine Regierung auf die Beine stellen könne. "Das wird sehr schwer werden." Nach Explosion und Regierungsrücktritt - "Der Libanon steht nicht vor dem Zusammenbruch"Der libanesisch-amerikanische Publizist Rami Khouri hält das politische System des Libanon für hochkorrupt, diskreditiert und ineffizient. Khouri machte im Dlf die Regierungen der vergangenen sechs Jahre für die Explosion im Hafen von Beirut verantwortlich. Viele Libanesen wollen das Land verlassen Der Libanon leidet unter einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Hunderttausende sind seit der verheerenden Explosion noch obdachlos. Der Druck auf die Menschen, auszuwandern, sei seither viel größer geworden, sagte Libanon-Experte Hillenkamp. "Die Leute, die können, wollen weg. Viele Libanesen haben einen zweiten Pass." Viele Menschen glaubten auch nicht daran, dass es zu einem Reformprozess kommen werde. Natürlich gebe es auch Menschen, die das Land nicht verlassen wollten. "Viel Hoffnung in einen politischen Prozess haben sie nicht, weil sie die gleichen Menschen immer noch an der Macht sehen." Wirtschaftlich und demografisch seien die Entwicklungen seit einem Jahr eine große Katastrophe. "Der Libanon muss sich neu erfinden", so Hillenkamp. Aber man dürfe nicht vergessen, dass auch ein Bürgerkrieg 15 Jahre lang das Land zerstört hat und der Libanon in den Neunziger- und Zweitausender-Jahren wieder funktioniert hat." Es werde lange dauern, bis eine demografische und auch wirtschaftliche Neuorientierung umsetzbar sei.
Bernhard Hillenkamp im Gespräch mit Britta Fecke
Die Reaktion auf die Ernennung des alten neuen Ministerpräsidenten Saad Hariri fielen gemischt aus, sagte Islamwissenschaftler Bernhard Hillenkamp im Dlf. Besonders die Protestbewegung zeige sich enttäuscht. Sie hätten nicht viel Hoffnung in einen Reformprozess, da Hariri zum alten Establishment gehöre.
"2020-10-25T00:00:00+02:00"
"2020-10-26T11:38:20.233000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regierungsbildung-unter-saad-hariri-der-libanon-muss-sich-100.html
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Klimawandel lässt Rentiere schrumpfen
Muss der Weihnachtsmann umplanen? Forschern zufolge verlieren die Rentiere am Nordpolarkreis seit Jahren an Gewicht. (imago/Westend61) So stellen sich viele den Weihnachtsmann vor: Einmal im Jahr spannt er seine Rentiere vor den Schlitten, düst mit Gebimmel durch die Lüfte und verteilt Geschenke an erwartungsvolle Kinder auf dem ganzen Globus. Oder sind es mittlerweile Alarmglocken, die der Weihnachtsmann läutet? Vermutlich! Denn seinen Zugtieren geht es immer schlechter. Zumindest, wenn man unterstellt, dass die Renhirsche, die er auswählt, aus Svalbard stammen, einer Inselgruppe im Arktischen Ozean, zu der auch Spitzbergen gehört. Justin Irvine geht fest davon aus, dass es so ist. Der Ökologe forscht am James-Hutton-Institut für nachhaltige Landnutzung im schottischen Aberdeen: "Der Weihnachtsmann soll ja irgendwo am Nordpol wohnen. Und da liegt Svalbard eindeutig am nächsten! Also wird er die Hirsche von dort nehmen. Auch wenn Rentiere aus Norwegen zum Beispiel größer sind und es sicher leichter hätten, einen Schlitten zu ziehen." Regen lässt den Schnee gefrieren Womöglich wird sich der Weihnachtsmann bald in diesen Herden umschauen müssen. Denn die Rentiere auf Svalbard bauen körperlich ab. Ausgewachsene Hirsche haben heute im Durchschnitt sechs Kilogramm weniger auf den Rippen als vor 20 Jahren. Innerhalb kurzer Zeit büßten sie damit rund zehn Prozent ihres Körpergewichts ein. Warum? Weil die Winter in der Arktis wechselhafter werden. Erklärt Steve Albon, auch er schottischer Ökologe und seit Mitte der 90er Jahre immer wieder auf Svalbard. "Der erste Winter, den wir dort erlebten, war noch ein ganz typischer und sehr kalter. Der Schnee ist dann wie Puderzucker. Die Rentiere können ihn einfach beiseitescharren und kommen problemlos an die Pflanzendecke darunter. Aber schon im nächsten Winter gab es einen Wärmeeinbruch. Dadurch fiel Regen auf den Schnee, der schon lag, und gefror dann zu einer Eisschicht." Eine Eisschicht, die die Rentiere nicht mehr durchdringen können, wenn sie auf Nahrungssuche sind. Solche Regengüsse auf Schnee haben sich gehäuft, sodass die Svalbard-Hirsche im Winter immer öfter hungern müssen. Darauf reagiert die ganze Population. Das Körpergewicht neugeborener Kälber nimmt ab. "Unsere Studien zeigen: Die entscheidenden Dinge passieren schon im Mutterleib. Wenn schwangere Weibchen im Winter hungern, dann sind die Kälber, die sie im Frühjahr gebären, sehr klein und auch nicht besonders robust. Falls sie überleben, werden sie dennoch immer so schmächtig bleiben. Sie können das nie wieder aufholen." Darben durch den Klimawandel Die Schlitten-Schlepper des Weihnachtsmannes darben also durch den Klimawandel - und werden immer magerer. Wobei die Zunahme der Temperaturen im Sommer eigentlich etwas Gutes hat. Die Pflanzenwelt der arktischen Tundra gedeiht inzwischen viel üppiger. Es gibt reichlich zu fressen, und davon profitieren auch die Rentiere auf Svalbard. Im Laufe der Vegetationsperiode werden ihre Bestände größer. Paradoxerweise verschärft das aber später die Notlage der Tiere im Winter, wie Steve Albon erläutert: "Im Sommer mag der Anstieg der Population schön sein. Aber im Winter ist das anders. Die Nahrungskonkurrenz wird nämlich noch größer, wenn es mehr Rentiere gibt, die nach jedem noch so kleinen Bissen suchen." Modernisierung dringend erforderlich Doch weiß der Weihnachtsmann von dem Dilemma? Kennt er die Studien der Schotten? Klar ist jedenfalls: Er braucht Rentiere, die topfit sind und seinen Schlitten auf zigfache Schallgeschwindigkeit beschleunigen. Andernfalls könnte er gar nicht so viele Kinder an einem einzigen Abend mit Geschenken beglücken. Physiker haben das 'mal ausgerechnet. Über kurz oder lang muss der Weihnachtsmann eh etwas an seinem Transport-Service ändern. Davon ist Justin Irvine überzeugt. Sonst kriegt er das Ganze in Zukunft nicht mehr gebacken ... "Er hat einen harten Job! Sieben Milliarden Menschen auf der Erde, und es werden immer mehr! Entweder braucht er bald einen größeren Schlitten oder sogar mehrere. Dann allerdings müsste er sich irgendwie klonen!"
Von Volker Mrasek
Der Weihnachtsmann wohnt bekanntlich am Nordpol und dort kommen auch die Rentiere für seinen Schlitten her. Noch. Denn Forschern zu Folge könnten die bald zu schwach sein, um den schweren Schlitten zu ziehen. Der Grund: Der Klimawandel führt dazu, dass die Rentiere am Polarkreis stetig an Gewicht verlieren.
"2016-12-23T16:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:55.762000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wechselhafte-winter-und-ihre-folgen-klimawandel-laesst-100.html
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Forderung nach schärferen Kontrollen
Die Bahn sieht keine Notwendigkeit zu Änderungen der Beförderungsbedingungen. Schon jetzt könnte das Bahnpersonal Passagiere ohne Maske zum Aussteigen auffordern. (www.imago-images.de) "Bitte die Maske auch über die Nase ziehen. Das ist eine Mund- und Nasenbedeckung. Sonst wären sie mit 25 Euro dabei – und das wollen Sie sicher nicht." Es gibt Kontrollen in den Zügen der Deutschen Bahn AG. Doch können sie wohl nur stichprobenartig erfolgen. Bei diesem Kontrollgang von Bahn-Sicherheitskräften und der Bundespolizei mussten einzelne Passagiere an die Maskenpflicht erinnert werden, doch im Großen und Ganzen wurde sich an die Vorschrift gehalten. Und auch die Passagiere haben Verständnis: "In der Regel tragen fast alle eine Maske. Im Moment, wo der Zug so leer ist, da macht man auch mal die Nase frei oder auch, wenn ich mal etwas nasche. Es ist schon eine Belastung, doch wenn alle vernünftig sind, dann sind wir vielleicht auch schnell raus aus der Nummer." Doch gleichzeitig nehmen auch die Beschwerden zu. Vor allem in den sozialen Netzwerken gibt es gepostete Videos, die überfüllte Züge zeigen, meist im Regionalverkehr. Und mittendrin: Kunden mit und auch ohne Maske. Maskenpflicht ist nicht Teil der Beförderungsbedingungen Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer schlug heute Alarm. Der Vorsitzende Claus Weselsky beklagte in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", dass das Tragen eines Atemschutzes bisher nicht in den Beförderungsbedingungen des bundeseigenen Unternehmens festgeschrieben sei. Zitat: "Die Ausgangsposition für die Zugbegleiter ist schon dadurch schlecht, dass die Pflicht zum Tragen einer Maske nicht Teil der Beförderungsbedingungen ist, und damit des Hausrechts des Unternehmens. Aus unerfindlichen Gründen kann sich das Management der Bahn nicht dazu durchringen, das zu verankern." Die DB AG lehnt dieses Ansinnen ab, die Beförderungsregeln seien ausreichend. Und natürlich könne schon heute das Bahnpersonal die Maskenverweigerer auffordern, den Zug am nächsten Halt zu verlassen. Coronavirus - Aktuelle Zahlen und EntwicklungenWie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Wie sind die Zahlen zu bewerten? Bahnsprecher Steffen Rutsch: "Wenn es wirklich zu einer Konfliktsituation käme und sich jemand renitent weigert, eine Mund- und Nasenbedeckung zu tragen, dann gilt auch hier – wie in allen Eskalationssituationen, die wir ja im Bahnverkehr theoretisch und praktisch hin und wieder haben – dass die Gefahrenabwehr zusammen mit der Bundespolizei geleistet wird." Schwieriger Umgang mit renitenten Bahnfahrern Dass die Bahnmitarbeiter mit renitenten Maskenverweigern ihre Probleme haben, bestätigt hingegen Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn. Der Großteil der Fahrgäste trage die Maske, doch in Konfliktsituationen müssten die Mitarbeiter die Bahnmitarbeiter auch abwägen: "Das hat aber nicht den Grund, dass sie sich ihrer Pflicht nicht bewusst sind. Sondern, dass das Bahnpersonal einfach Angst hat, sich mit renitenten Fahrgästen auseinanderzusetzen. Von daher kann ich jeden verstehen, der nicht aus sicherer Entfernung agieren kann - und dann auch eher den Mund hält." Kontrollen besser durchführen Für die Durchsetzung zuständig sind die Bundesländer mit ihren bestehenden Verordnungen. Und diese wurden beispielsweise in Nordrhein-Westfalen erst kürzlich verschärft. Wer ohne Maske in Bus oder Bahn erwischt wird, soll künftig bis zu 150 Euro zahlen. Eine richtige Maßnahme, findet Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband. Allerdings gehe es beim Thema Durchsetzung der Maskenpflicht nicht allein um die Deutsche Bahn: "Ein etwas deutlicheres Durchgreifen der Bundes- oder Landespolizei, oder auch von beiden, aber eben hoheitlich, und auch verbunden mit deutlichen Bußgeldern, das würde schon helfen. Das gilt aber nicht nur für die Bahn. Das gilt genauso für Demonstrationen, für Aufenthalte am Strand und was auch immer." Weshalb vor allem eines gelte: Die Kontrollen müssten zunehmen, doch dafür fehle es bei den zuständigen Behörden oft an Personal. Nicht nur in der Bahn, sondern überall dort wo die Maske vorgeschrieben ist. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Von Dieter Nürnberger
Bei Fahrten mit der Deutschen Bahn wird immer wieder gegen die Maskenpflicht verstoßen, das Personal wird mit dem Problem allein gelassen. Bahngewerkschafter und Fahrgastverbände fordern deshalb härtere Strafen gegen Maskenverweigerer und mehr Kontrollen - auch durch die Polizei.
"2020-08-06T12:10:00+02:00"
"2020-08-07T08:59:27.928000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/maskenverweigerer-in-der-bahn-forderung-nach-schaerferen-100.html
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Bestimmte Flüchtlingsgruppen laut Studie häufiger gewalttätig
"Männlichkeitsnormen", die Gewalt legitimieren, die Rede ist von "Machokultur". (Symbolbild) (dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand) Jahrelang waren kriminelle Gewalttaten in Niedersachsen zurückgegangen, 2014 und 2015 registrierte die Polizei jedoch einen erheblichen Anstieg. Die Zahl solcher Straftaten wuchs um mehr als 10 Prozent, dazu gehören zum Beispiel Raub, schwere Körperverletzung, Tötungs- oder Sexualdelikte. Und für diesen Anstieg sind zum allergrößten Teil, nämlich zu gut 92 Prozent, Straftäter verantwortlich, die Flüchtlinge sind - das steht aus Sicht der Autoren fest und das belegen sie in ihrem Gutachten: So hat sich die Zahl der tatverdächtigen Flüchtlinge in Niedersachsen zwischen 2014 und 2016 um 241 Prozent erhöht. Die wichtigste Erklärung dafür ist allerdings wenig dramatisch: Denn die Zahl der in Niedersachsen registrierten Flüchtlinge hat sich in diesem Zeitraum, also 2014 bis 2016 mehr als verdoppelt. Mehr Flüchtlinge also und deshalb mehr Straftaten. Das allein kann den Anstieg aber noch nicht vollständig erklären. Es kommt hinzu, dass Flüchtlinge aus bestimmten Gruppen in Niedersachsen besonders häufig kriminell werden. Besonders Jugendliche und Männer zwischen 14 und 30 Jahre Wie in jeder Gesellschaft der Welt gehört dazu die Gruppe männlicher Jugendlicher und Männer im Alter zwischen 14 und 30 Jahren. Unter den Flüchtlingen aus Nordafrika ist ihr Anteil besonders hoch, fast jeder zweite gehört dazu. Dass sie häufiger als andere Straftaten begehen, liegt aber auch daran, dass sie nicht in Deutschland bleiben können. Die Gutachter sehen hier einen engen Zusammenhang. Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, die bessere Chancen auf politisches Asyl haben, kommen demnach seltener mit dem Gesetz in Konflikt. Die Autoren des Gutachtens erwähnen zudem noch andere Faktoren, die Gewaltkriminalität fördern: "Männlichkeitsnormen", die Gewalt legitimieren, die Rede ist von "Machokultur", außerdem die fehlende "zivilisierende Wirkung", die von Frauen ausgehe und schließlich die Tatsache, dass Opfer von Gewalttaten Fremde häufiger anzeigen als Bekannte. Die Zusammenfassung des Gutachtens als PDF-Dokument.
Von Gerwald Herter
Die Zahlen kommen aus Niedersachsen, der Auftrag vom Bundesfamilienministerium, die Studie von Christian Pfeiffer, Dirk Baier und Sören Kliem. Sie haben die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Niedersachsen untersucht und festgestellt: Bestimmte Flüchtlingsgruppen werden häufiger gewalttätig, als der Rest der Bevölkerung. Allerdings lohnt es, die Zahlen genau anzuschauen.
"2018-01-03T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:33:14.639000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niedersachsen-bestimmte-fluechtlingsgruppen-laut-studie-100.html
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Steinbrück: Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist "reiner Sprengstoff"
Dirk Müller: Seit fast zwei Jahren ein offizieller Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa, Priorität bei vielen EU-Gipfeln wie auch zuletzt, zumindest das alles rhetorisch. Doch bislang ist bei den Millionen Jungen ohne Job kaum Hilfe angekommen. Das soll sich bald ändern. Fünf Tage nach dem jüngsten Brüsseler Spitzentreffen kommen zahlreiche Staats- und Regierungschefs nach Berlin, wollen darüber beraten, was der eine vom anderen lernen kann, welche Maßnahmen werden wann und wie auf den Weg gebracht. Sechs Milliarden Euro an Nothilfe will die EU in den Hilfsfonds einzahlen. Fünfeinhalb Millionen Menschen unter 25 Jahren sind arbeitslos in Europa.Auch die Gewerkschaften wie auch die Sozialdemokraten beraten heute darüber, wie mehr junge Menschen in Jobs kommen können – eine Art Gegengipfel. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist bei uns am Telefon. Guten Morgen!Peer Steinbrück: Guten Morgen, Herr Müller.Müller: Herr Steinbrück, hat das etwas mit Occupy zu tun?Steinbrück: Nein! Aber ich finde, dass Jugendliche selber sich zu Wort melden sollen, und deshalb komme ich nachher mit 150 Jugendlichen aus unterschiedlichen europäischen Ländern zusammen, um nicht nur ihre Erfahrungen, auch ihre Enttäuschungen zu debattieren, sondern wie auch Druck gemacht werden kann auf deutlich verstärkte Anstrengungen, dieses riesige Problem der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.Müller: Sind jetzt alle irgendwie erst aufgewacht?Steinbrück: Nein, weite Teile sozialdemokratischer, sozialistischer Parteien in Europa nicht, auch die SPD nicht, auch der DGB nicht. Aber diese Bundesregierung ist fern jeder Polemik, denn wir haben bereits vor einem Jahr einen europäischen Rat gehabt, der einen Pakt für Wachstum beschlossen hat, und nichts ist geschehen, und wir haben im Februar eine Sitzung gehabt unter Teilnahme von Frau Merkel, wo eine Jugendgarantie ausgesprochen worden ist, und seit einem halben Jahr warten wir auf Konsequenzen. Jetzt plötzlich wacht man auf.Müller: Trotzdem fragen ja viele, was hat Angela Merkel damit zu tun. In Deutschland sieht die Situation besser aus als in den meisten Ländern. Warum jetzt deutsche Verantwortung?Steinbrück: …, weil das reiner Sprengstoff ist. Wenn in Spanien oder in Griechenland die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent ist, wenn es vor Ausbruch der Bankenkrise kein Land gab, das eine Jugendarbeitslosigkeit unter 25 Prozent hatte, was schon schlimm genug ist, aber jetzt haben wir 17 Länder über 25 Prozent, teilweise über 50 Prozent, dann kippt diese ökonomische Krise langsam in eine Krise für die politische und die gesellschaftliche Stabilität in diesen Ländern, und das kann Deutschland nicht egal sein.Müller: Und die Deutschen, die Bundesregierung sind Schuld?Steinbrück: Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, nur belegen zu können, auch mit Blick auf das, was die Kommission inzwischen geäußert hat, dass man mal wieder zu spät, zu zaghaft, zu ungefähr gehandelt hat. Ich darf daran erinnern: Wir haben genau vor einem Jahr, Ende Juni 2012, einen europäischen Rat gehabt, der einen Pakt für Wachstum beschlossen hat. Nichts ist seitdem geschehen. Das heißt, diese folgenlosen Gipfel, diese folgenlosen Sitzungen, die führen nicht nur zu Frustration bei den Jugendlichen, die sich angucken, dass Politik einfach nicht handlungsfähig ist, sondern sie erschüttert und destabilisiert Europa.Müller: Aber Sie haben doch auch die Sparauflagen, die Rettungspakete, die im Bundestag debattiert wurden, zur Abstimmung standen, alle auch im Namen der SPD mitgetragen?Steinbrück: Aus einer europäischen Gesamtverantwortung und immer mit dem Zusatz, dass Sparen alleine nicht reicht. Die Spardosis, die wir den anderen Ländern über den Kopf schlagen, ist inzwischen tödlich. Sie geraten in eine Spiralbewegung nach unten. Die SPD hat immer Wert darauf gelegt, dass sich eine notwendige Konsolidierung der Haushalte kombiniert mit wirtschaftlichen Impulsen, mit der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in diesen Ländern, und genau diese Komponente fehlt.Müller: Jetzt kennen Sie sich als früherer Finanzminister ja bestens mit den Finanzen, mit dem Geld aus. Wenn Sie sagen, wir müssen einerseits sparen, wir brauchen Strukturreformen, auf der anderen Seite müssen wir auch Geld in die Hand nehmen, woher würden Sie das Geld nehmen?Steinbrück: Ich würde so schnell wie möglich eine Finanztransaktionssteuer einführen, will sagen eine Umsatzbesteuerung auf Finanzgeschäfte, und einen Teil des Aufkommens sofort investieren in Programme zur Verringerung und Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit.Müller: Aber das will die Bundesregierung doch auch.Steinbrück: Nein. Sie ist mal wieder sehr zögerlich dabei. Wir kriegen zunehmend Signale aus Brüssel, dass die Umsetzung und Verwirklichung einer solchen Finanztransaktionssteuer sich weiter hinzögert. Im Übrigen: Wir haben ein europäisches Budget, wo Sie sich vorstellen müssen, dass 370 Milliarden Euro für die Landwirtschaft und für den ländlichen Raum ausgegeben werden sollen, und nur sechs Milliarden für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Wissen Sie, was diese sechs Milliarden bedeuten? Für jeden arbeitslosen Jugendlichen in den nächsten zwei Jahren pro Monat 41 Euro zur Förderung. Daran kann man sehen, dass diese Summe absurd niedrig ist.Müller: Kommen wir noch einmal, Peer Steinbrück, auf die Finanzierung zurück. Sie sagen, man kann das finanzieren. Sie schließen neue Schulden, neue Kredite dafür aus?Steinbrück: Nein. Es gibt Mittel in den europäischen Strukturfonds, die muss man alle zusammenbinden, die muss man alle bündeln. Die Mittel, die normalerweise, auch wenn sie nicht ausgegeben werden, an die Mitgliedsstaaten zurückfließen, die dürfen nicht zurückfließen, die müssen gezielt ausgegeben werden zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Insofern gibt es Mittel aus den europäischen Strukturfonds und aus dem Kohäsionsfonds. Wir sind der Auffassung, dass in den nächsten zwei Jahren ungefähr 20 bis 21 Milliarden Euro dringend erforderlich sind.Müller: Und die eine Komponente ist die Finanztransaktionssteuer, das haben Sie gerade gesagt.Steinbrück: Ja.Müller: Die würden Sie im Alleingang machen?Steinbrück: Wieso im Alleingang? Es sind elf Länder, die grundsätzlich sich bereit erklären.Müller: Aber es geht ja offenbar nicht voran. Das ist ja nicht nur die deutsche Schuld?Steinbrück: Ja, dann muss man Druck machen! Dann muss man in Brüssel Druck machen, mit der Kommission zusammen, und nicht weiter auf Verzögerung spielen, wie das im Augenblick der Fall ist.Müller: 20 Milliarden, 22 Milliarden werden teilweise genannt, auch von der Arbeitsministerin von der Leyen (CDU), die da sagt, das ist insgesamt im Topf, unter anderem auch mit dem Geld, was Europa locker machen könnte. Würde das reichen?Steinbrück: Na ja! Im Augenblick haben wir nur eine Beschlusslage, Herr Müller, von sechs Milliarden, die die Kanzlerin auf dem letzten europäischen Rat Donnerstag/Freitag hochgehalten hat. Einen Tag später kommt Frau von der Leyen und sagt, das sei nicht ausreichend. Das ist ja ein merkwürdiges Doppelpass-Spiel. Warum beschließt man denn nicht gleich die Summe, die Frau von der Leyen für richtig erachtet?Müller: …, weil Sie das nicht alleine beschließen kann. Das wissen Sie ja auch.Steinbrück: Na ja! Aber die Bundesrepublik Deutschland, repräsentiert durch ihre Kanzlerin, hätte doch auf diesem Europäischen Rat sagen können, Leute, die sechs Milliarden reichen vorne und hinten nicht aus.Müller: Jetzt haben wir jahrelang in der Finanz- und Wirtschaftskrise darüber diskutiert, dass viel Geld in diese Staaten fließt, nach Portugal, nach Spanien, nach Griechenland, nach Italien, wo auch immer hin, auch Zypern. Aber keiner weiß so recht, was damit vor Ort passiert. Woher soll das Vertrauen der Bürger kommen, in dieses Land, in diese Länder zu investieren?Steinbrück: Entschuldigen Sie! Das ist doch ein Vorurteil. Das, was bisher über die letzten acht, neun Jahre seit der Mitgliedschaft von Spanien, von Irland, auch von Portugal und von Griechenland da hingeflossen ist, hat doch Infrastruktur verbessert. Jeder der Andalusien in Spanien besucht weiß, wie die Infrastruktur da in Gang gekommen ist, in Irland auch. Das, was Sie meinen sind eher die Mittel zur Stabilisierung der Banken in diesen Ländern. Darüber kann man streiten, ob das richtig gewesen ist.Müller: Aber die Verwaltungen funktionieren ja offenbar auch nicht vernünftig.Steinbrück: Na ja, da würde ich Unterschiede machen. Ich gebe zu, dass in Griechenland eine deutliche Verbesserung der Administration und der Fähigkeit und Möglichkeit erforderlich ist, das Geld vernünftig zu verteilen. Aber ich zweifele nicht daran, dass Spanien, dass Irland, dass Portugal, dass Italien durchaus mit zusätzlichen Mitteln ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern können.Müller: 8:21 Uhr, Sie hören den Deutschlandfunk und Peer Steinbrück, der SPD-Kanzlerkandidat. – Herr Steinbrück wenn Sie bei uns schon am Telefon sind, ein Themenschnitt: Die amerikanische Spionage, die Internet-Überwachung. Empörung überall, vor allem auch in Deutschland, vor allem auch bei der Opposition. Woher wissen Sie, dass die Kanzlerin mehr weiß?Steinbrück: Gar nicht! Nur die Kanzlerin hat mit Herrn Obama kürzlich ein Gespräch gehabt, wo es um den Datenaustausch und die Datenbereitstellung von großen Internet-Giganten an eine amerikanische Sicherheitsbehörde ging, und die Fragestellung ist, ob über all die letzten Treffen und das Zusammenwirken mit den Amerikanern die Bundesregierung (auf welchem Wege auch immer) durchaus einen Anhaltspunkt dafür gehabt hat, dass auch in Deutschland direkt Spionage oder Abhörtätigkeiten der NSA stattfinden, möglicherweise mit einer Billigung auch von hiesigen Stellen. Und das zu recherchieren und aufzuklären ist, glaube ich, im Sinn der Sache im Augenblick und erforderlich.Müller: Also das ist von Ihnen, um das klarzustellen, nur eine bloße Vermutung, dass die Kanzlerin mehr weiß als sie sagt?Steinbrück: Ich habe festgestellt, dass über 48 Stunden lang die Bundeskanzlerin sich nicht mit einem Kommentar und einer Bewertung an die Öffentlichkeit bewegt hat und klargestellt hat, wie sie dazu steht. Der Regierungssprecher hat das am Montag oder gestern gemacht und offenbar deutlich gemacht, dass die Bundeskanzlerin nicht informiert war. Damit hat es jedenfalls in der Ableitung des Regierungssprechers eine Stellungnahme gegeben.Müller: Wissen nicht alle Kanzler immer mehr als sie sagen?Steinbrück: Na ja, man muss wissen, wie man mit den Daten und mit den Informationen umgeht, die man bekommt, auch über nachrichtendienstliche Dienstleistungen, die es gibt. Nur die Abhörung von Freunden wie eines Partners, der Bundesrepublik Deutschland, von EU-Repräsentanten oder Repräsentationen oder Vertretungen in den USA, die angebliche Verwanzung auch des Ratsgebäudes in Brüssel, das sind schon sehr weitreichende, wie ich finde, ziemlich entsetzliche und bedrückende Aktivitäten, die dort die NSA aus den USA entwickelt hat.Müller: Jetzt haben ja viele Politiker überrascht getan. Sie waren jahrelang Mitglied auch der Bundesregierung in der Großen Koalition. Haben Sie damals auch davon gewusst und geahnt?Steinbrück: Nein! Ich war ja nicht Mitglied des Gremiums, das auch informiert wird von Geheimdienstaktivitäten oder von den deutschen Nachrichtendiensten. Insofern war ich nie beteiligt an dem Austausch oder an der Information der Erhebungen beziehungsweise der Aktivitäten der Nachrichtendienste.Müller: Und darüber ist auch nie gesprochen worden? Ein Finanzminister wird da nicht informiert am Kabinettstisch?Steinbrück: Nein. Ist das nun der Versuch, den Finanzminister, egal wie er heißt, da reinzumängeln von Ihnen, oder was soll das?Müller: Nein! Es ist nur die Frage, weil viele ja sagen, dass vieles schon bekannt war. Wir haben mit Graham Watson eben gesprochen im Europäischen Parlament. Der sagt, vor zehn Jahren haben wir schon Informationen bekommen, dass es großflächig angelegte Abhörsysteme gibt. Jetzt ist die Frage an Sie: Wussten Sie das?Steinbrück: Nein, natürlich nicht! Woher denn? Ich bin doch nicht Mitglied der Gremien, die informiert werden von Geheimdiensten.Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!Steinbrück: Ja, Herr Müller!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peer Steinbrück im Gespräch mit Dirk Müller
Die sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa seien nicht ausreichend, kritisiert SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück. Er würde zur Finanzierung von Maßnahmen eine Finanztransaktionssteuer einführen. Doch die Bundesregierung zeige sich dabei sehr zögerlich.
"2013-07-03T08:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:24:50.718000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/steinbrueck-jugendarbeitslosigkeit-in-europa-ist-reiner-100.html
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Moderater Islam oder Radikalisierung?
Moschee in einem Stadtteil von Sarajevo. In der Innenstadt wird im Sommer kaum mehr Alkohol ausgeschenkt (picture alliance / dpa / ANE) In der historischen Altstadt von Sarajewo locken neben Souvenirläden und Kebab-Stuben Restaurants jeder Preisklasse. Fast nirgendwo wird Alkohol ausgeschenkt. Das sei ein Tribut an die vielen Gäste aus den Golf-Staaten, vor allem im Sommer, meinen europäische Besucher. Muhammed Jusic, der Sprecher der Islamischen Gemeinde Bosnien-Herzegowinas wehrt ab: Das sei überhaupt nichts Neues. "Es ist eine Tradition, dass man in der Altstadt keinen Alkohol bekommt. Früher gab es nicht einmal Süßigkeiten sondern nur Kebab und Joghurt, nichts Anderes. So war die Tradition." Europas Angst vor Muslimen Von der Altstadt zur Kaisermoschee, von wo aus die Islamische Gemeinde verwaltet wird, sind es ein paar Schritte über den Fluss. Muhammed Jusic reagiert gereizt auf Politiker der Europäischen Union, die kritisieren, dass sich Bosnien-Herzegowina immer weiter islamisiere. "Europa hat Angst vor Muslimen, die als Flüchtlinge kommen, und vor europäischen Muslimen, die schon sehr lange in Europa leben. Sie alle werden jetzt gleichermaßen als Bedrohung angesehen. Diese Wahrnehmung kam mit dem Entstehen der Rechtsextremen in Europa. Wir wollen die Gefahr durch gewaltbereite Extremisten nicht herunterspielen, allerdings sind die wirklich Gefährlichen schon längst in Syrien. Aber auf die traditionellen Salafisten hier, das sind einige tausend, richtet sich jetzt die ganze Aufmerksamkeit." Muhammed Jusic sitzt vor dem Friedhof seiner muslimischen Gemeinde in Sarajewo (Deutschlandradio/Sabine Adler) Kämpfen im Ausland wird bestraft Unweit der Kaisermoschee liegt die Universität von Sarajewo, wo Sead Turcalo über Islamismus in Bosnien-Herzegowina lehrt und forscht, denn aus dem 3,5-Millionen-Einwohner-Land Bosnien sind immerhin 240 Personen nach Syrien und in den Irak gegangen. Zum Vergleich: Aus Deutschland waren es rund 1.000, bei 80 Millionen mehr Einwohnern. Bosnische Sicherheitsdienste interessieren sich aber erst seit dem Beginn des Syrienkrieges für die Salafisten, wie die Behörden die gewaltbereiten und strenggläubigen Muslime nennen. Die Regierung hat das Kämpfen im Ausland inzwischen unter Strafe gestellt. Außerdem sind inzwischen sogenannte Parajamaats, also inoffizielle muslimische Glaubenskongregationen, verboten, niemand darf mehr ohne offizielle Erlaubnis Religion unterrichten. Zudem wurden die IS-Rückkehrer unter verschärfte Beobachtung genommen, 22 Islamisten mussten sich vor Gericht verantworten. Sead Turcalo: "Das Problem war eigentlich, dass man sehr klar erkannt hat, dass die salafistischen Gruppierungen die offizielle islamische Gemeinschaft untergraben wollen. Das waren also die Gruppierungen, die am Rande der Gesellschaft gelebt haben, die abgeschottet gelebt haben wie in Gornja Maoca oder in Osve. Also man hat das Ganze nicht als Problem betrachtet." IS-Graffitis und Gesichtsschleier Gornja Maoca liegt nahe der Grenze zum EU-Land Kroatien. Ein 200-Seelen-Dorf, das in Bosnien-Herzegowina berühmt-berüchtigt ist. Auch wegen der Graffiti, die den so genannten Islamischen Staat preisen. Zwischen den heruntergekommenen Häusern und Autowracks, die über das ganze Dorf verteilt sind, spielen Kinder. Frauen in langen schwarzen oder braunen Gewändern und mit Handschuhen huschen vorüber, die Kopftücher zusätzlich von Gesichtsschleiern bedeckt. Nie dreht sich eine nach dem Besuch um. Aber ein Mädchen, das aus einem Fenster geschaut hatte, kommt heraus. Selima. Ich frage Selima, wo ihre Mutter ist. Sie zeigt auf ein Haus im Rohbau, an dem seit Jahren nicht weitergearbeitet wurde. Die Tür geht auf, hinter dem Vorhang, der den Blick nach innen versperrt, bewegt sich etwas."Hallo, Salemaleikum. Please come in." "Take off my shoes?" "Yes." Gornja Maoca liegt nahe der bosnisch-kroatischen Grenze (Deutschlandradio/Sabine Adler) Unter dem Niqab: Die Schönheit für sich selbst bewahren Eine zierliche Frau nimmt den Vorhang beiseite und lässt mich ein. Erst als wir durch den dunklen Flur den Wohnraum betreten, sehe ich ihr Gesicht. Porzellanweiße feine Haut, strahlend blaue Augen und rotes, leicht lockiges Haar, das modern auf halbe Länge geschnitten ist. Sie sieht aus wie die Zweitausgabe von Nicole Kidman. Sie könnte gut ihre Schwester spielen. Jetzt trägt sie eine Bluse mit weitem offenem Kragen und einen langen schmalen Rock. Ein dunkelbrauner Niqab hängt an der Garderobe. Selimas Mutter sagt mir nicht ihren Namen, erzählt aber, dass sie als Flüchtling im Bürgerkrieg 1992 aus Banja Luka nach Sarajewo geflohen ist, wo es schwer war wie jemanden für sie eine Wohnung zu finden. Mutter: "Wir tragen alle den Schleier." Adler: "Haben Sie früher, zum Beispiel in Sarajewo, auch einen Schleier getragen?" M: "Nein. Ich wollte es auch dort. Aber alle schauten mich schief an, vor allem, als wir eine Wohnung suchten. Es ging nicht. Hier dagegen ist es so einfach, alle tragen ihn." A: "Können Sie mir erklären, welchen Vorteil es hat, einen Schleier zu tragen?" M: "Das ist einfach erklärt: Wenn du ausgehst, bist du attraktiv für jeden. Aber mit dem Schleier kann niemand dein schönes Gesicht sehen. Denn diese Schönheit bewahrst du für dich selbst auf und für deinen Ehemann. So einfach ist das." A: "Einfach, wenn man damit einverstanden ist." M: "Möchten Sie Kaffee oder Tee?" Die Mädchen wollen wie ihre Mütter Schleier tragen Selimas Mutter hat in Bihac studiert. Sicherheitskräfte haben die dortige Islamische Pädagogische Fakultät wegen Radikalisierungstendenzen im Blick. Frauen in Bihac begannen als erste nach dem Bosnienkrieg, den Niqab zu tragen. Die 40-Jährige lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern seit vier Jahren in Gornja Maoca. Aus ihrem Dorf kam auch der zu 18 Jahren Haft verurteilte Attentäter Mevlid Jasarevic, der 2011 einen Anschlag auf die US-Botschaft in der Hauptstadt Sarajewo verübte. A: "Fühlen sie sich frei, auf diese Art zu leben?" M: "Ja, denn ich kann arbeiten und ich könnte jederzeit das Dorf auch verlassen, zu rückgehen. Wenn ich das Studium beendet hätte, könnte ich jetzt als Lehrerin arbeiten." A: "Aber nicht im Schleier, das würde kaum funktionieren. Muss ihre Tochter auch irgendwann den Schleier tragen?" M: "Ich würde sie nicht dazu drängen. Es ist nicht Vorschrift. Aber die Mädchen sehen ihre Mütter und wollen wie wir den Schleier tragen. Das ist ein Kleid." Die muslimische Frau als Individuum verschwindet Auf meine Frage, ob ich sie fotografieren darf, nickt Selimas Mutter und greift zu dem braunen Gewand an der Garderobe. Sie streift es über die Bluse, zieht dann den braunen Hidschab über den Kopf. Schließlich nimmt sie den Schleier, den sie am Hinterkopf über dem Kopftuch zusammenknotet. Der schwarze Stoff reicht bis zur Taille. Die Frau ist jetzt vollständig verhüllt. Nur ein schwarzer Streifen Gaze auf Augenhöhe verschafft ihr etwas Durchblick. Für den Betrachter sind ihre blauen Augen nicht zu erkennen. Die muslimische Frau als Individuum ist verschwunden. Ihre braun-schwarze Gestalt bewegt sich zum Sofa, bedeutet ihrer Tochter, sich neben sie zu setzen, beide schauen in die Kamera. Die Mutter mit Schleier, die Tochter ohne, aber mit Kopftuch. Beide wollen die Fotos begutachten. Die Mutter ist zufrieden, hat aber Bedenken, dass ihr Mann die Aufnahme freigibt. Sie schickt die Zwölfjährige los, den Vater um Erlaubnis zu bitten. Als Selima nur wenig später das Haus betritt, schüttelt sie traurig den Kopf. Keines der Fotos darf verwendet werden. Das Wort des Vaters ist Gesetz. Kein Generalverdacht wie in Österreich Dorfleben in Gornja Maoca (Deutschlandradio / Sabine Adler) Über Gornja Maoca wehte noch vor zwei, drei Jahren die schwarze Flagge des so genannten Islamischen Staates. Wenn sich Fremde näherten, wurde diese immer rasch eingeholt. Das kann auch Selimas Mutter nicht verborgen geblieben sein. Trotzdem lebt sie immer noch hier, ist nicht gegangen. A: "Was Sagen Ihre Freunde aus der Schulzeit oder in Sarajewo über Ihre Art zu leben? Kommen sie manchmal her?" M: "Nein, nur die Familie. Wir sind ihnen nicht böse, dass sie nicht zu uns kommen. Wir verstehen, dass sie Angst haben, denn es gibt jede Menge Geschichten über uns in den Medien. Du musst dich frei und wohl fühlen, bei dem was du tust, dann kannst du auch mit anderen Menschen kommunizieren. Wenn du dich nicht frei fühlst, geht das nicht." A: "Interessant, dass Sie sagen, dass sie sich frei fühlen. Es gibt das Stereotyp, dass sich Frauen mit Schleier wie im Gefängnis vorkommen. Fühlen Sie sich gefangen?" M: "Nein. Vor allem hier nicht. In Österreich wäre das anders. Dort dürfen Frauen nicht mit Schleier, also Burka oder Niqab, auf die Straße gehen. Wenn sie von der Polizei gesehen werden, müssen sie Geldstrafen zahlen. Das ist ein Gefängnis. Wenn dagegen jemand in einem Badeanzug auf die Straße geht, muss er nichts zahlen. Ich kenne die Angst vor Terroranschlägen, aber man kann doch nicht alle Frauen mit Schleier und Männer mit Bart als Terroristen bezeichnen. Das ist doch eine Lüge. Dann wären doch Millionen Menschen Terroristen." Nach elf Jahren wieder zurück Vor dem Haus wird es unruhig. In vollem Galopp stürmt ein brauner Hengst die Dorfstraße hinauf. Er gehört Selimas Familie. Ein Mann ruft etwas in Richtung von Selimas Elternhaus. Es ist Edis Bosnic. Er trägt den gleichen Familiennamen wie Bilal Bosnic, der wegen Rekrutierung von IS-Kämpfern im Gefängnis sitzt. Edis Bosnic: "Ich glaube, dass seine Verurteilung ungerecht war. Er hat kein bosnisches Gesetz gebrochen." Adler: "Er ist verurteilt worden für die Rekrutierung von IS-Kämpfern." E.B.: "Ja, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass er das getan hat." Der bärtige 40-Jährige hat elf Jahre in den USA gelebt, wohin seine Familie während des Bosnienkrieges Anfang der 1990-er Jahre floh. Er kennt die westliche Welt. "Keiner mag diesen Lebensstil. Sich inmitten von Drogenabhängigen, Alkoholikern zu befinden, täglich ausgeraubt werden zu können. Kein Mann möchte mit einer Frau verheiratet sein, mit der schon jeder aus der Stadt zusammen war." "Wahabismus? Wir nennen uns einfach nur Muslime." Edis Bosnic aus dem bosnischen Salafisten-Dorf Gornja Maoca (Deutschlandradio / Sabine Adler) Was der eloquente Bosnier vom Westen hält, machte er schon in einem Fernsehinterview 2016 klar, in dem er androhte, "seinen schönen Glauben nach Europa tragen zu wollen." Nur deswegen unterstütze er den Beitritt Bosnien-Herzegowinas zur EU. "Das ist keine neue Religion oder Wahabismus, wie man das nennt, was hier eingeführt wurde. Als Wahabismus bezeichnen unsere Feinde den Islam. Wir nennen uns einfach nur Muslime. Im Islam werden Frauen geehrt und geschätzt. Aber wertvolle Dinge werden nicht öffentlich gezeigt, sie dürfen nicht von jedem berührt oder benutzt werden. Wertvolle Dinge werden verwahrt und bedeckt." Die strenggläubigen Muslime lehnen den säkularen Staat ab, ebenso Geschlechtergerechtigkeit, Gleichheit und das Recht auf Bildung. Es ist der stete Umbau von Familie und Gesellschaft, auf den die Salafisten setzen und der die Behörden herausfordert. Auch deshalb sieht die Polizei regelmäßig in Gornja Maoca nach. 20.000 Salafisten – Ihr Einfluss: überschaubar Experten wie Sead Turcalo gehen davon aus, dass sich von den 1,8 Millionen bosnischen Muslimen im Land inzwischen rund 20.000 als Salafisten verstehen, die Anführer dieser Glaubensrichtung geben selbst an, insgesamt sogar 50.000 Anhänger zu haben. Ihren Einfluss auf die große Mehrheit der Muslime hält Turcalo für überschaubar. "Wenn ich das betrachte, die haben nicht den Erfolg gehabt, den sie erwartet haben. Eigentlich ist dieser traditionelle Islam hier zu lang, um ihn so schnell zu ändern. Und die Leute sind mehr für diese spirituelle Art und Verständnis von Islam, und diese saudi-arabische Interpretation ist sehr auf Rituale fokussiert." Islamistischer Terrorismus in Bosnien vergleichsweise gering Das kleine Balkanland ist von großen Anschlägen bislang verschont geblieben. Nach den Schüssen auf die US-Botschaft gab es 2015 zwei Angriffe auf die Polizeistationen von Zvornik und Rajlovac, bei denen die Terroristen und mehrere Beamte starben. In Frankreich, Belgien, Großbritannien und Deutschland dagegen haben radikale Moslems aus der eigenen Bevölkerung sehr viel mehr Menschen getötet. Eine Gefahr stellen auch islamistische Netzwerke in die EU hinein dar, die besonders über die bosnische Diaspora in Deutschland und Österreich geknüpft werden. Der Sprecher der bosnischen Islamischen Gemeinde, Jusic, wehrt sich gegen die Unterstellung der Serben und Kroaten im Land, dass sich nur die muslimischen Bosnier radikalisierten. Extremisten seien ebenso in den serbischen und kroatischen Volksgruppen zu finden, aber weit weniger stigmatisiert."Es gab hier einen Genozid, das haben wir nicht vergessen. Kriegsverbrecher werden als Helden verehrt, nicht von irgendwelchen Leuten, sondern von Regierungspolitikern. Das Problem mit extremistischen Muslimen in Bosnien ist, dass sie marginale Gruppen sind, die unter voller Beobachtung stehen. Aber gleichzeitig geben radikale und vielleicht noch extremere Nationalisten den Ton im Land an. Der Radikalismus der einen Seite dient der anderen Seite, sich selbst zu radikalisieren." Der Islam in Bosnien sei moderat, dagegen würden die Salafisten als radikal in Glauben und Verhalten wahrgenommen, jedoch nicht automatisch als gewalttätig. "Es war eigentlich sehr falsch, sie am Rande der Gesellschaft zu lassen und nicht mit denen zu sprechen." Auch deswegen versuche die Gemeinde, diese Gläubigen zurückzuholen und zu integrieren. Richtig, findet der Politologe Sead Turcalo. Ein Versuch, der jedoch immer wieder massiv von außen gestört wird. Saudische "Missionierungen" Das Sarajewo Shopping Center ist eine saudische Investition auf dem Balkan (Deutschlandradio / Sabine Adler) Unter anderem von Golfstaaten wie Saudi Arabien. Tourismus-Resorts, ein modernes Einkaufszentrum und die König-Fahd-Moschee in Sarajewo, die größte überhaupt auf dem Balkan, wurden mit saudischem Geld errichtet. Im ganzen Land, das immer noch von Kriegswunden gezeichnet ist, fallen Hunderte Moscheen auf, nagelneu und schneeweiß. "Ich weiß nicht, ob jemand das gezählt hat. Es sind sehr viele neu gebaut wurden, besonders unmittelbar nach dem Krieg, als Saudi-Arabien und andere Golf-Länder die neue Interpretation einzuführen versuchten. Und das war der ganze Hintergrund, warum sie so darauf gepocht haben, überall zumindest eine dieser Moscheen zu bauen." Saudi Arabien und andere Golfstaaten lassen viele neue Moscheen wie diese in Sarajewo bauen (Deutschlandradio/Sabine Adler) Dringend nötig sei mehr diplomatischer Druck auf Saudi Arabien, damit die Missionierung durch saudische religiöse Organisationen aufhöre. Und für die einheimische Imame hat die Gemeinde eine Broschüre mit Argumenten gegen die enge Auslegung des Islam verfasst. "Wir müssen dafür sorgen, dass diese Ideen nicht überhand nehmen. Und vielleicht geschieht ja endlich etwas, dass die finanzielle Hilfe für sie aufhört." Das Europäische Parlament schätzte 2018, dass aus dem saudischen Königreich schon Hunderte von Millionen Dollar in den Westbalkan geflossen sind: für humanitäre Hilfe, die Anwerbung von islamistischen Kämpfern und unerlaubten Waffenhandel. Als die Mudschahedin kamen Nicht nur in den abgelegenen Salafisten-Dörfern, auch in Sarajewo, Bihac, Tuzla und Zenica wurde und wird rekrutiert. Die Radikalisierung des bosnischen Islam hat nicht erst mit dem Syrienkrieg oder dem 11. September 2001 begonnen. Sie setzte bereits 1992/93 ein, unter dem Radar des Bürgerkriegs auf dem Balkan, als Mudschahedin aus Ägypten und Saudi-Arabien nach Zentralbosnien kamen, in Städte wie Zenica und Travnik. "Man schätzt, dass es während des ganzen Krieges so um die 700 Mudschahedin in Bosnien gegeben hat. Sie haben weniger gekämpft, dafür mehr missionarische Arbeit durchgeführt." Dass mit dem Ende des Kampfes gegen den so genannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak die Radikalisierung und Anwerbung von potentiellen Attentätern aufhören, ist nicht zu erwarten. Vielmehr wird weiter die ethnische und nationale Karte ausgespielt werden, worin etliche Politiker, nicht nur in Bosnien-Herzegowina, bereits viel Übung haben.
Von Sabine Adler
240 Personen aus Bosnien-Herzegowina haben sich in Syrien und dem Irak dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen. Strenggläubige muslimische Gruppierungen im Land stehen seitdem im Fokus der Sicherheitsbehörden. Ihr Einfluss wird bisher zwar als gering eingeschätzt. Dennoch wächst ihre Zahl.
"2019-01-17T18:40:00+01:00"
"2020-01-26T22:33:42.351000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/muslime-in-bosnien-herzegowina-moderater-islam-oder-100.html
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Kabinett beschließt einheitlichen Flüchtlingsausweis
Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) zeigt den neuen Flüchtlingsausweis. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Mit der Regelung will die Bundesregierung zudem für einen besseren Datenaustausch zwischen den Behörden sorgen. Das Gesetz werde die Situation in dem Bereich insgesamt verbessern, sagte de Maizière (CDU). Künftig soll beim ersten Kontakt der Flüchtlinge mit einer Behörde ein umfangreicher Datensatz angelegt werden, auf den alle zuständigen Stellen zugreifen können. Bislang gibt es bei der Registrierung und dem weiteren Datenaustausch erhebliche Probleme. De Maizière betonte, ohne den Flüchtlingsausweis erhielten Migranten künftig keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mehr. Das Dokument soll unter anderem Fingerabdrücke, Herkunftsland, Kontaktdaten und Angaben zu Gesundheitsuntersuchungen enthalten. Auch Angaben über die Ausbildung und die Qualifikation werden auf dem Ausweis gesammelt. Er wird nicht elektronisch lesbar sein, allerdings ein fälschungssicheres Element enthalten. Nach Angaben von de Maizière wird der Verfassungsschutz keinen Zugriff auf die Daten erhalten. Dies sei das Ergebnis der Abstimmung in der Bundesregierung. "Ich habe auch nicht die Absicht, das bis zum Ende des Gesetzgebungsverfahrens zu ändern", sagte er. Ausweis soll bis zum Sommer eingeführt werden Ab Mitte Februar soll der neue Flüchtlingsausweis ausgeteilt werden. Zur Jahresmitte solle er vollständig eingeführt sein. In den nächsten Wochen wird es nach den Angaben des Chefs des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, in vier Städten Feldversuche geben. Weise verteidigte beim gemeinsamen Auftritt mit de Maizière zugleich die Arbeit seiner Behörde. Die Kritik sei politisch berechtigt, denn "die Lage ist nicht gut". So dauerten die Verfahren lange und es dauere zudem eine lange Zeit, bis überhaupt Anträge gestellt werden könnten. Für die Schaffung eines Datensystems für den Ausweis plant die Bundesregierung dem Gesetzentwurf zufolge mit Kosten von einmalig 15,5 Millionen Euro und dann jährlich 4,5 Millionen Euro. Dazu kommt zusätzlich benötigtes Personal. Für den Ankunftsnachweis rechnet der Bund mit Kosten von bis zu 35 Millionen Euro für 2016. Bundestag und Bundesrat sollen im Januar über das Dokument entscheiden. Eine Million Flüchtlinge registriert In Deutschland sind nach offiziellen Angaben seit Jahresbeginn eine Million Flüchtlinge registriert worden. Die bayerische Sozialministerin Emilia Müller teilte mit, so viele Asylbewerber seien registriert und bundesweit verteilt worden. Die CSU-Politikerin beruft sich auf Daten des Erstaufnahme-Systems "Easy". Allerdings ist unter Fachleuten umstritten, wie genau das System die Zahl der Flüchtlinge widerspiegelt. Manche Experten gehen davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen könnten. Am Grenzübergang zwischen Griechenland und Mazedonien wurden Flüchtlinge unterdessen in Bussen abtransportiert. Nach Angaben der Polizei werden sie nach Athen zurückgebracht, weil den Menschen die Weiterreise nach Nordeuropa verweigert wird. Seit mehr als zwei Wochen sitzen in der Grenzstadt Idomeni rund 1.200 Migranten aus dem Iran, Pakistan und afrikanischen Ländern fest. Die mazedonische Grenzpolizei lässt nur noch Syrer, Iraker und Afghanen passieren. (hba/dk)
null
Für Flüchtlinge in Deutschland soll es künftig einen einheitlichen Ausweis geben. Das Kabinett billigte einen entsprechenden Gesetzentwurf von Innenminister Thomas de Maizière. Der Ausweis soll Behördengänge vereinfachen sowie Mehrfach-Registrierungen und unerlaubte Einreisen verhindern.
"2015-12-09T12:52:00+01:00"
"2020-01-30T13:13:16.641000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/registrierung-kabinett-beschliesst-einheitlichen-100.html
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Keine Spiele in Graubünden
Skigebiet in Arosa: Sportstätten für Olympia wären in Graubünden vorhanden gewesen - aber die Bevölkerung will keine Spiele. (imago - Westend61) 60 Prozent stimmten gegen die Aufnahme eines Millionenkredits, mit dem die Olympia-Kandidatur Graubündens finanziert werden sollte. Das Nein fiel damit sogar noch deutlicher aus als bei einer ähnlichen Abstimmung vor vier Jahren. Olympia-Gegner: Finanzielle Risiken und Geldverschwendung Die Regierung des Kantons und die Wirtschaft wollten Winterspiele in verschiedenen Orten der Region durchführen - zum Beispiel in Davos, Chur oder Laax. Ein erstes Grobkonzept stellte die Nachhaltigkeit in den Fokus. Für viele Wettbewerbe wollte man auf bereits vorhandene Sportstätten zurückgreifen. Etwa die Pisten in St. Moritz, die derzeit für die alpine Ski-WM genutzt werden. Mit der Kandidatur versprach man sich vor allen Dingen wirtschaftliche Impulse. Das konnte die Mehrheit der Bürger nicht überzeugen. Sie folgten den Argumenten der Gegner. Die Sprachen von finanziellen Risiken, von Olympia-Zwängerei und Geldverschwendung. Schweizer Olympia-Bewerbung noch nicht vom Tisch In der Schweiz ist damit eine Bewerbung für Olympische Winterspiele 2026 noch nicht vom Tisch. Durch die Abfuhr der Graubündener erhalten die Olympia-Pläne der Westschweiz Auftrieb. Erst im Sommer 2019 wird das Internationale Olympische Komitee über den Austragungsort entscheiden. Auch das österreichische Tirol und die schwedische Hauptstadt Stockholm haben bereits Interesse signalisiert.
Dietrich Karl Mäurer
Der Schweizer Kanton Graubünden wird sich nicht um die Austragung der olympischen Winterspiele 2026 bewerben. In einer Volksabstimmung wurde das von der Regionalregierung vorangetriebene Projekt abgelehnt.
"2017-02-12T19:42:00+01:00"
"2020-01-28T10:14:50.803000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympia-2026-keine-spiele-in-graubuenden-100.html
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Ryanair-Chef: Lufthansa wird das vermasseln
Benjamin Hammer: Wir sind in der Firmenzentrale von Ryanair in Dublin. Und der Eingangsbereich ist etwas staubig, die Sofas dreckig und da ist eine kaputte Jalousie. Ist das der Unterschied zu Lufthansa – mit einem strahlenden Hauptquartier in Frankfurt? Michael O'Leary: Das ist unfair da nur Lufthansa zu nehmen. Es geht auch um British Airways, KLM und all die anderen. Die haben wundervolle Paläste als Zentralen, wo die Manager völlig losgelöst sind von der Realität. Bei Ryanair haben wir nicht so viel Geld für die Zentrale verschwendet. Übrigens: Der Empfangsbereich ist nicht staubig, der ist sauber, aber wir waren eben sparsam. Ryanair gibt es, damit Fliegen für die Europäer billiger wird. Nicht, damit ein Manager in einem Marmorpalast in irgendeinem Wald wohnt. Hammer: Aber mit Ryanair zu fliegen kann sehr anstrengend sein. Wenn man von einem Flughafen fliegt, den Sie Düsseldorf Weeze nennen, dann befindet der sich in Wahrheit 80 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Es dauert also erst einmal ziemlich lange dort hinzukommen. Und wenn man dann angekommen ist und seine Bordkarte vergessen hat, dann kassiert Ryanair von mir eine Bearbeitungsgebühr von 60 Euro pro Ticket. Sie lieben Ihre Kunden nicht wirklich, oder? O'Leary: Ich liebe meine Kunden, ich habe 80 Millionen Kunden in diesem Jahr. Wir geben unseren Kunden, was Lufthansa nicht bietet: günstige Tarife, pünktliche Flüge, keine Streiks und neue Flugzeuge. Ich glaube die Leute mögen Lufthansa einfach nicht, weil sie wissen, dass sie abgezockt werden mit hohen Tarifen. Und jetzt ändern sie ihre Strategie. Sie stärken Germanwings - und sogar Lufthansa gibt zu: Das wird dann immer noch nicht billig. Hammer: Was halten Sie denn von diesem Vorstoß, Ryanair ein bisschen zu kopieren und die Firmentochter Germanwings zu stärken. Haben Sie Angst?O'Leary: Das ist doch großartig. Jedes Mal, wenn Lufthansa versucht hat, einen Billigflieger zu betreiben, haben sie es vermasselt. Und das wird auch jetzt passieren. Du kannst nicht Germanwings betreiben und damit werben, dass es günstig ist, aber nicht billig. Kein Zweifel Lufthansa bietet einen tollen Service. Aber man muss sehr reich oder ein Geschäftsmann sein, um sich das leisten zu können. Hammer: Aber es gibt doch Flüge mit Lufthansa von Köln nach Barcelona oder nach München für 99 Euro hin und zurück. Und da ist ein Gepäckstück inklusive, ich bekomme etwas zu trinken und muss nicht zu Provinzflughäfen wie Hahn oder Weeze reisen. O'Leary: Ja, aber wenn Du nach Hahn oder Weeze gehst, dann bekommst Du den Flug für 19 Euro und zahlst drei Euro für den Drink. Und bei Lufthansa gibt's vielleicht nur zwei Plätze zu den guten Preisen. Hammer: Lassen Sie uns über Ihre Sicherheit sprechen. Billig fliegen und sicher fliegen, da gibt es doch einen Zusammenhang. Die Leute können vielleicht billig mit Ihnen fliegen aber in den letzten Wochen scheint es da einige Kompromisse bei der Sicherheit gegeben zu haben. Gleich drei Ryanair-Flieger mussten in Valencia notlanden, einer davon hatte eine Tankfüllung unter den gesetzlichen Bestimmungen. Und in den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen über technische Probleme. Sparen Sie zu viel? O'Leary: Nein! Wenn Sie sich unsere Statistik der letzten 28 Jahre anschauen, die ist herausragend. Schauen Sie sich die Erklärung der irischen und spanischen Verkehrsministerien an. Darin steht, dass Ryanair zu den sichersten Airlines gehört. Und was die Vorfälle von Valencia betrifft: Alle drei Flugzeuge wurden ausreichend betankt. Sie mussten einfach umgeleitet werden, wegen des Wetters über Madrid. Zwei der Flieger hätten noch über 30 Minuten fliegen können, eine Maschine noch 29 Minuten. Niemand war in Gefahr. Und die offiziellen Untersuchungen bestätigen, dass sich Ryanair-Piloten an die geltenden EU-Regeln halten. Du kannst nicht so einfach auf 80 Millionen Passagiere wachsen und 1500 Flüge pro Tag, wenn Du es nicht sicher machst. Und das haben wir jetzt seit 28 Jahren getan. Hammer: Aber Sie üben doch Druck aus auf die Piloten, nicht zu viel Kerosin zu tanken!O'Leary: Das stimmt absolut nicht. Wir haben unsere Piloten niemals unter Druck gesetzt. Jeder Kapitän entscheidet bei uns selbst, wie viel er tankt. Alles, worum wir bitten, ist das, wenn Du mehr tankst, als eigentlich berechnet wurde, dann sag uns einfach warum! Meistens geht es da um Verspätungen oder das Wetter. Piloten wurden bei uns noch nie unter Druck gesetzt. Hammer: Es gibt einen Piloten, der anonym einer irischen Tageszeitung gesagt hat: Seine Autorität wird ihm von Ryanair weggenommen, und wenn er sich zu erkennen gäbe, dann bekäme er große Probleme. O'Leary: Das ist doch nur ein angeblicher anonymer Pilot, produziert von einer Tageszeitung. Was der Pilot eigentlich gesagt hat, ist das: Es gibt bei uns eine Liste, wie viel Sprit welcher Pilot verbraucht hat. Und wenn Du da herausragst, dann musst Du zum Gespräch zu O'Leary. In meinen 26 Jahren bei Ryanair musste noch nie ein Pilot wegen so einer Sache zu mir. Ich habe doch ohnehin keine Ahnung vom Fliegen. Diese Vorwürfe sind einfach Schwachsinn. Hammer: Lassen Sie uns jetzt noch auf Irland schauen. Wie konnte das eigentlich passieren? Dass ein Land mit Erfolgsstorys wie Ryanair wirtschaftlich so tief gefallen ist. O'Leary: Wir haben einfach ziemlich doofe Politiker gewählt. Dann belohnen wir sie auch noch. Wir wählen sie wieder, weil sie uns das sagen, was wir hören wollen. Und dadurch hatten wir diese Immobilienblase und die Bankenblase. Jeder in Irland dachte, er habe die Wirtschaft neu erfunden. Und die Blase ist eben geplatzt. Das hätte nicht passieren können, wenn die EU-Defizitregeln eingehalten worden wären. Hammer: Eine Menge von dem was Sie sagen, klingt nach dem Ruf nach einer freien Wirtschaft. War nicht genau das Irlands Problem? Das Fehlen von Regulierung? O'Leary: Jeder unregulierte Kapitalismus wird aus dem Ruder laufen. Ja, die Regulierung hat hier ohne Zweifel versagt. Es gab ja Regeln auf EU-Ebene und auch in Irland. Aber das wurde nicht genug überwacht. Hoffentlich lernen wir aus den Fehlern. Das Problem ist, dass uns viele Regeln gar nicht schützen, sie schaffen nur Jobs für nutzlose Beamte. Wir müssen effektiver werden. Die deutsche Wirtschaft hat gezeigt, wie das geht – in dem sie wettbewerbsfähig ist. Hammer: Ryanair ist stark gewachsen in den letzten Jahren, Sie haben 300 Flugzeuge und sind eine der größten Airlines der Welt. Wo wollen Sie in zehn Jahren stehen? O'Leary: In zehn Jahren möchte ich an einem Strand auf den Bahamas sein, als Pensionär mit viel Geld und schönen jungen Damen um mich herum. Leider passiert das wohl nicht. Also in fünf Jahren wollen wir von 80 auf 120 oder 130 Millionen Passagiere wachsen, wir wollen unseren Durchschnittstarif auf 30 Euro pro Flug senken. Und wenn wir das schaffen, dann wachsen wir weiter. In jedem Land Europas gibt es nur Raum für zwei Fluggesellschaften: Es gibt die etablierten Anbieter wie Lufthansa, die sind für die reichen Leute. Und dann gibt es Ryanair. Wir sind wie Lidl und Aldi – für ganz Europa. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael O'Leary im Gespräch Benjamin Hammer
Lufthansa plant die Billigfluglinie Germanwings auszubauen. Den Konkurrenten Ryanair schockt das nicht. Bei der Lufthansa hätte es bisher nicht funktioniert, einen Billigflieger zu betreiben und das würde sich auch jetzt nicht ändern, sagt Ryanair-Firmenchef Michael O'Leary.
"2012-10-22T13:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:30:06.112000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ryanair-chef-lufthansa-wird-das-vermasseln-100.html
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Registrierte Flüchtlinge dürfen weiterziehen
Flüchtlinge in Presevo, Serbien (imago/ZUMA Press) Farsi, Farsi! Kein arabisch, Farsi sprechen sie, rufen zehn junge Männer. Es könnte nach einem entspannten Päuschen aussehen, das sie sich unter dem weißen Zeltdach auf dem Hof der Ankunftsstelle für Flüchtlinge gönnen. Wären da nicht die Polizisten mit Sturmgewehren, die am äußeren Eisentor und vor dem Zeltdach stehen. Tatsächlich ist die Wartezeit der jungen Afghanen auf Bierbänken Teil eines streng getakteten Verfahrens. Busse der Vereinten Nationen haben die Flüchtlinge vom Bahnhof an der zehn Kilometer entfernten Grenze zur Republik Mazedonien hierher nach Presevo gebracht. Hier werden sie registriert. Die zehn haben gerade ihre Namen angegeben, gleich werden sie aufgerufen. Hinter ihnen warten weitere Gruppen auf das Signal. So viel Disziplin wäre für die rund 300 Menschen, die am Nachmittag in Presevo warten, wohl nicht nötig. Aber noch gestern sah es hier anders aus. Die allermeisten Flüchtlinge kommen hier nach Serbien, aus dem Süden, sagt Dragan Makojevic. "Vorher konnte man nicht einmal an die Außentore des Camps herankommen, weil Leute Schlange standen. Normalerweise waren mehr als 2.000 Leute hier drin und an einem normalen Tag vielleicht sogar mehr als 1.000 draußen, die darauf warteten, um reinzukommen und registriert zu werden. Und sie können sich vorstellen, wie es am letzten Donnerstag aussah, als innerhalb von 24 Stunden 9.000 Menschen hier waren. " Der Direktor der Hilfsorganisation Philantropy wundert sich nicht, dass es heute hier anders aussieht als in den vergangenen Monaten. Nachts soll die Grenze nach Ungarn geschlossen werden, wie dicht, weiss in dem Moment hier niemand. Auch die etwa 300 Flüchtlinge, die hier sind, wollen nicht hierbleiben. "Nein! Wir wollen nach Ungarn gehen, Österreich und Deutschland. Noch heute? Ja, wenn ich kann." Die hochgewachsene Afghanin in schwarzem Mantelkleid, das schwarze Tuch locker um den Kopf geschlagen, ist im Iran aufgewachsen. Was will sie in Deutschland tun? "All das, was man mich im Iran nicht arbeiten ließ. Ich möchte meine Wünsche verwirklichen." Geschlossene Grenzen sind kein Hinderungsgrund Ärztin will sie werden. Die Frage, was sie macht, wenn Ungarn den Grenzzaun geschlossen hat, bringt die Anfang 20-Jährige kurz aus der Fassung. "Heute Nacht? Nein, das hatte ich nicht gehört." Sie will trotzdem weiter. So wie ein Pärchen, das schon durch farbenfrohe Kopfbedeckungen Hoffnung auszustrahlen scheint. Er einen roten Hut, sie ein Webtuch und Schiebermütze. "Die Grenzschließung? Ja davon haben wir gehört. Aber vielleicht haben wir ja doch noch mehr Zeit. Wir wollen es versuchen. Wir wollen sehen, ob wir nicht Glück haben." Der 25-jährige Abdullah studiert Jura, seine vier Jahre jüngere Frau Imah Pharmazie. In Deutschland wollen sie weiter lernen. Auch wenn es dort gerade wieder Grenzkontrollen gibt. "Wir wollen versuchen, nach Deutschland zu kommen, um all das Schwere aus Syrien hinter uns zu lassen. Wir wollen ein anderes Leben leben. Wir wollen weiter studieren, uns ein gutes Leben aufbauen." Serbien hält Flüchtlinge nicht fest Der serbische Staat wird sie nicht aufhalten. Wer als Flüchtling registriert ist, darf weiterziehen. Solange er in 72 Stunden das Land verlässt. Das mag dazu beitragen, dass den Flüchtlingen mehr Zuwendung als Ablehnung entgegengebracht zu werden scheint. Wie sehr sich das in den kommenden Wochen ändern wird, wenn der Rückstau von der ungarischen Grenze die Durchreisenden zu bleiben zwingt? Dragan Makojevic zuckt mit den Schultern. "Jetzt warten die Migranten und die Flüchtlinge ganz offensichtlich erst einmal ab, was passiert, welche neuen Verfahren die ungarische Regierung einführt. Deshalb: Meine Prognose ist: In der kommenden Woche oder so werden wir Gruppen von jungen Männern – also nur Männern haben, die kommen werden, um das Terrain zu sondieren. Und wenn sie den Weg hindurch finden, dann können wir wahrscheinlich die Woche drauf wieder den regelmäßigen Fluss der Flüchtlinge erleben, mit Familien, mit kleinen Kindern." Der serbische Staat richtet sich darauf ein, dass demnächst Flüchtlinge auf dem Weg nach Kroatien, statt nach Ungarn durchs Land reisen. Am Abend wartet man in Presevo auf den nächsten Zug aus Griechenland, mit 1.200 Flüchtlingen. Die Menschen aus Presevo werden es bis zur Schließung wohl nicht mehr zur Grenze geschafft haben.
Von Gudula Geuther
In Serbien kommen über die Balkanroute viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten erstmals in Europa an. So auch in Presevo, einer Grenzstadt zu Mazedonien. Die Flüchtlinge lassen sich hier nur registriert und ziehen weiter mit Ziel Deutschland oder Österreich. Zumindest solange die Grenzen in Ungarn und Deutschland noch offen waren.
"2015-09-15T06:22:00+02:00"
"2020-01-30T12:59:41.484000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serbien-registrierte-fluechtlinge-duerfen-weiterziehen-100.html
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Die Leerstelle Vater
"Die Beziehung zwischen Daniel und seinem Vater ist ja eher die Beziehung zu einer Leerstelle. Der Vater ist präsent, aber er hat kein Bild von ihm. Er hat ja mit dem Vater nie Zeit verbracht. Und insofern ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vaters eigentlich wie ein Kreisen um ein Phantom."Daniel ist 25, ist bei seiner Mutter und deren Freund in einer Kleinbürgeridylle in Göttingen aufgewachsen, kennt den Vater kaum und zieht zum Studium nach Berlin. Vielleicht kann er dort auch den kurz Fil genannten Vater doch noch kennenlernen. Dieser Fil war 23, als Daniel 1985 geboren wurde, gehörte zur Berliner Hausbesetzerszene, brach Supermärkte auf, damit die Armen sich bedienen konnten, unterstützte über Jahre einen Freund, der von der Polizei gesucht wurde. Solidarität, füreinander Einstehen, das galt aber immer nur für andere, nicht für den eigenen Sohn, der ihn gebraucht hätte. Den hat er im Stich gelassen. Daniel möchte wissen warum, verstehen, wie Fil gelebt hat, aber dann findet er ihn todkrank auf der Intensivstation. Dort wartet Fil auf eine Organ-Transplantation, wird an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und fällt ins Koma. "Und insofern ist weder etwas Feindliches noch etwas Freundschaftliches, was sich da entwickelt, sondern dass sich diese Leerstelle des Vaters im Laufe des Romans seiner bemächtigt und er selber auch nicht wirklich vorankommt. Er kommt ja dem Vater nicht wesentlich näher. Die Fragen, die er am Anfang hat, hat er eigentlich auch am Schluss, die meisten davon."Der Roman setzt vier Monate nach Daniels Umzug ein. Vater und Sohn hatten sich bis dahin öfter gesehen, doch den Fragen Daniels ist Fil ausgewichen. Und plötzlich geht es um Leben und Tod, muss Daniel für Fil da sein. Auf Fils Rolltisch am Krankenbett liegt das Buch "Der Eindringling" des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy. Ich – wer ist dieses Subjekt, wenn es ein fremdes Herz in sich trägt? Bin ich noch ich mit dem fremden Organ, das mein Leben rettet, das mein Körper aber auch als Bedrohung empfindet, das sein Immunsystem abstoßen will? Die Fragen, mit denen sich der Vater noch beschäftigt hat, interessieren auch den Sohn, doch für Daniel bekommen sie eine zusätzliche Dimension. "Der Eindringling" – Raul Zelik übernimmt den Titel Nancys für seinen Roman. Intensiv und berührend erzählt er aus Daniels Perspektive von der Suche nach dem Vater, wie dieser in sein Leben eindringt, wie er sich innerlich dagegen wehrt: Wieviel von Fil steckt in ihm, wie vorbestimmt ist sein Leben durch ihn, wer ist er? Raul Zelik wurde 1968 geboren, er war noch keine zwanzig, als er nach Nicaragua ging, um dort die Sandinisten zu unterstützen, entwickelte sein Schreiben aus den politischen Problemen und Konstellationen, die ihn umgaben, innerhalb derer er auch handelte. Im Vergleich dazu scheint der neue Roman auf den ersten Blick unpolitisch: auf Distanz zu den Verhältnissen, dicht dran an Daniel und seinen Problemen. Doch unterschwellig und dafür umso eindringlicher bekommt auch er eine politische Ebene, indem der Autor in Daniel und Fil zwei völlig unterschiedliche Lebensentwürfe miteinander konfrontiert. "Der Sohn findet nicht so richtig einen Weg, wie er seinem Leben eine Richtung geben könnte, die ihn erfüllt. Und das fasziniert ihn natürlich sehr stark am Vater. Der Vater hat ein sehr intensives Leben geführt, obwohl er sich in der Beziehung zum Sohn scheiße, nicht gut verhalten hat, ist er für ihn eine interessante Person und Daniel fasziniert die Haltung Fils."No risk, no fun, das war die Losung des Vaters. Träume und Ziele waren etwas für die Gegenwart. Daniel hatte als Schüler den Traum, Journalist zu werden, auf die Henry-Nannen-Schule zu gehen. Bei einem Treffen hatte er das dem Vater einmal erzählt. Der hielt ihm darauf einen Vortrag über die NS-Verbindungen Nannens: Kein Interesse an der Gedankenwelt des Sohns, stattdessen eine politische Belehrung. Daniel studiert jetzt fürs Lehramt. "Ich glaube schon, dass der Daniel eigentlich keine Vorstellung davon hat, wie es anders sein könnte. Und das ist schon sehr charakteristisch für die Zeit. Also all das, was in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren als Rebellion, als Aufbegehren, als Aufbruch möglich war und dann eben auch eine Intensität und einen Spaß am Leben ermöglicht hat, ist ja heute eigentlich Teil des Normalbetriebs. Also alles, was man sich Verrücktes oder Anderes ausdenken könnte, ist innerhalb von 14 Tagen eine Werbestrategie von Red Bull. Wenn du kreativ, spontan und schnell leben willst, dann hast du genau das verinnerlicht, was dir als Ich-Unternehmer auf die Sprünge helfen soll. Und insofern gibt es für Daniel kein so richtiges Raus, kein richtiges Hinaus aus den Verhältnissen und bei Fil ist das sicher anders gewesen."Daniel ist in eine gesellschaftliche Situation hineingewachsen, in der beinahe alles möglich und kaum etwas von Bedeutung ist. Er geht nur noch selten zur Uni, zieht in die Wohnung des Vaters, begibt sich auf Spurensuche. Er lernt einen Freund Fils kennen, fährt bis nach Rumänien, um mit der Frau zu sprechen, mit der Fil einmal zusammen war, konfrontiert seine Mutter mit der Frage, ob sie es nicht sogar war, die seinen Kontakt zum Vater behindert habe. Fil bleibt bei all dem stumm und ungreifbar.Aber aus zweiter Hand, gefiltert durch die Erinnerungen der anderen, nimmt sein Leben Konturen an, werden Vorstellungen eines freiheitlichen Lebens deutlich. Das klingt für Daniel wie von einem fremden Stern. Mit leisen Tönen erzählt Raul Zelik, wie Daniel nicht dem Vater, aber in der Abgrenzung ihm sich selbst Stück um Stück näher kommt, wie er – ohne spektakuläre Ziele – seinem Leben eine eigene Richtung gibt. "Daniel verändert sein Leben schon. Das ist unmerklich vielleicht. Er lernt eine Frau kennen, die Beziehung, die er zu ihr bekommt, die Form, wie ihm das plötzlich wichtig ist, die Dinge, worauf er sich plötzlich konzentriert, wie er das wahrnimmt, das ist auf jeden Fall ein Perspektivwechsel. Es ist ja eigentlich ganz klein, was da passiert, aber gerade dadurch wird es ja auch richtiger."Raul Zelik: Der EindringlingRoman Edition Suhrkamp 2012 289 Seiten, 14,00 Euro
Von Detlef Grumbach
Der 1968 geborene Raul Zelik gehört zu den explizit politischen Autoren seiner Generation. Die Hauptfigur seines neuen Romans, der auf den ersten Blick unpolitisch erscheint, ist auf der Suche nach seinem Vater. Und nach sich selbst.
"2013-02-21T16:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:08:32.135000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-leerstelle-vater-100.html
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Herzog will Netanjahu das Amt abjagen
Am 17. März wählen die Israelis vorzeitig ein neues Parlament: Oppositionsführer Herzog will Regierungschef Netanjahu das Amt abjagden (AFP / Jack Guez) Angesichts eines Kopf-an-Kopf-Rennens in den Umfragen reißen sich Israels Politiker um die knapp sechs Millionen Wahlberechtigten und versuchen, selbst potenziellen Verbündeten Stimmen abzuluchsen. Die kleineren Parteien könnten entscheiden, wer künftig regiert. In Umfragen lag die Likud-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Netanjahu vier Sitze hinter der gemäßigten Zionistischen Union des Führers der Arbeitspartei, Herzog. Doch Netanjahu scheint die besseren Bündnisoptionen zur Koalitionsbildung zu haben. Ihr Stil und Auftreten könnten unterschiedlicher kaum sein. Aber in den zentralen politischen Fragen liegen die beiden aussichtsreichsten Kandidaten nicht weiter auseinander als die Vorsitzenden der großen sozialdemokratischen und konservativen Parteien in den westlichen Demokratien. Der Amtsinhaber Netanjahu ist seit 2009 ununterbrochen Ministerpräsident, so lange wie keiner seit Staatsgründer David Ben Gurion. In diesem Wahlkampf präsentierte sich Netanjahu als "Sicherheitsgarantie" für Israel, als Bollwerk gegen den selbsterklärten Erzfeind Iran und den erstarkten extremistischen Islamismus im Nahen und Mittleren Osten. Er baute in seiner Kampagne ausschließlich auf das Thema Sicherheit. Wenig Beachtung schenkte seine konservative Likud-Partei sozialen Themen. Israels Ministerpräsident besucht ein umstrittenes Siedlungsprojekt in Ost-Jerusalem. (AFP / Menahem Kahana) Netanjahu besuchte gestern demonstrativ die jüdische Siedlung Har Homa im Südosten Jerusalems. Dieses große Neubauviertel ist besonders umstritten, weil es erst nach dem Oslo-Abkommen wie ein Riegel zwischen Jerusalem und ihrer historischen Schwesterstadt Bethlehem errichtet wurde. In Har Homa versprach Netanjahu für den Fall seiner Wiederwahl: "Wir werden in Jerusalem tausende Neubauwohnungen errichten und trotz des internationalen Drucks unsere ewige Hauptstadt vergrößern." Der Herausforderer Herzog ist erst seit 16 Monaten an der Spitze der Arbeitspartei. Er hat mit der liberalen Parteichefin Zipi Livni das Listenbündnis Zionistische Union gebildet. Zuvor war er Kabinettssekretär seines politischen Ziehvaters Ehud Barak, der es 1999 als letzter Chef der Arbeitspartei geschafft hatte, das Amt des Ministerpräsidenten zu erobern. Seit 2003 ist er Parlamentsabgeordneter. Israels Oppositionsführer Jizchak Herzog, Vorsitzender der Arbeiterpartei, an der Klagemauer in Jerusalem (AFP / Thomas Coex) In der Knesset profilierte sich Herzog als Sozialpolitiker. Er initiierte erfolgreiche Gesetzesvorlagen zur Besserstellung von Behinderten, von Opfern sexueller Gewalt und von Holocaust-Überlebenden. In der Großen Koalition ab 2005 bekleidete er mehrere Ministerämter. Außenpolitisch hat er sich immer für territoriale Zugeständnisse an die Palästinenser ausgesprochen. Er befürwortet die Zwei-Staaten-Lösung als Grundlage eines Friedensabkommens. Gelingt es Herzog das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen, würde das in die Familienchronik passen. Die Herzogs werden oft als die israelischen Kennedys beschrieben, auch weil beide Clans ursprünglich aus Irland stammen. Großvater Jizchak war nach der Staatsgründung 1948 der erste Großrabbiner der aus Europa stammenden aschkenasischen Juden. Vater Chaim Herzog war Staatschef von 1983 bis 1993. Und Onkel Abba Eban war Außenminister zu Zeiten des Sechstagekriegs 1967. Rabbiner: Keine Partei in Israel wählbar Der strengreligiöse Rabbiner Schmuel Auerbach hat im Vorfeld der Parlamentswahl erklärt, er werde nicht wählen gehen. Keine der antretenden Parteien sei wählbar, sagte Auerbach nach israelischen Medienberichten. Er werde seine Anhänger auch nicht anweisen, an der Wahl teilzunehmen. Laut Bericht wird erwartet, dass Auerbachs Anhänger die Wahl boykottieren werden. (sdö/swe)
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In Israel wird vorzeitig ein neues Parlament gewählt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu droht die Abwahl, er versprach jetzt den Bau tausender neuer Siedlerwohnungen. Oppositionschef Jizchak Herzog will auf Palästinenser und den gebeutelten Mittelstand zugehen. Es wird eine schwierige Regierungsbildung erwartet.
"2015-03-16T22:43:00+01:00"
"2020-01-30T12:26:46.718000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/parlamentswahl-in-israel-herzog-will-netanjahu-das-amt-100.html
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Der Aufstand von Derry und seine Folgen
August 1969: Im nordirischen Derry eskalierte der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken (imago images / United Archives) Die Bogside ist ein katholisches Viertel der zweitgrößten Stadt Nordirlands, Derry - offiziell Londonderry - gleich unterhalb der historischen Stadtmauer. Zusammen mit den Vierteln Creggan und Brandywell beherbergte die Bogside vor fünfzig Jahren mehr als 30 000 Katholiken, die klare Mehrheit der Stadtbewohner. Drei Tage lang, vom 12. bis zum 14. August 1969, erhob sich diese Bevölkerung gegen die einseitig protestantisch gesinnte Polizei. Barrikaden verweigerten den Ordnungshütern erfolgreich den Zugang, Steine und Brandsätze hagelten von Hochhäusern herab. Am zweiten Tag der Revolte meldete sich Jack Lynch, der Premierminister der benachbarten Republik Irland, zu Wort: "Die gegenwärtige Lage darf so nicht weiter geduldet werden. Die nordirische Regierung hat die Kontrolle verloren, ja, die jüngsten Ereignisse sind das direkte Resultat des Verhaltens nordirischer Regierungen über Jahrzehnte. Die irische Regierung kann nicht tatenlos zusehen, wie Unschuldige verletzt werden und möglicherweise Schlimmeres." Vom 12. bis zum 14. August 1969 erhob sich im nordirischen Derry die Bevölkerung gegen die einseitig protestantisch gesinnte Polizei (picture alliance / AP Images / Peter Kemp) Die irische Armee erschien tatsächlich an der Grenze, beschränkte sich aber auf die Versorgung von Verletzten. Tags darauf erschien erstmals die britische Armee auf dem Schauplatz, um die Polizei von den Aufständischen zu trennen. Gleichzeitig kam es zu schweren Krawallen und pogromartigen Übergriffen gegen Katholiken in Belfast. Dort gab es - im Gegensatz zu Derry - Tote. Eamonn McCann war vor fünfzig Jahren einer der Organisatoren der Krawalle in Derry, die als "The Battle of the Bogside" in die Geschichte eingegangen sind. "Es mag ungehörig klingen, aber die Schlacht in der Bogside machte Spaß. Junge Leute, die ganze Nacht auf der Straße an den Barrikaden, trinkend und rauchend, dann gelegentlich ein Schamützel mit der Polizei - das war abenteuerlich." McCann, der unlängst für eine kleine Linkspartei in den Stadtrat von Derry gewählt wurde, war und ist ein revolutionärer Trotzkist, der sich der katholisch-protestantischen Schablone zeitlebens verweigert hat. "Das war nicht einfach eine weitere Episode in der traurige, von Religionskonflikt geprägten Geschichte Irlands. Wir waren Teil einer riesigen Bewegung, die weltweit stattfand. Das verlieh uns Würde und Tiefgang." Friedlicher Marsch einfach niedergeknüppelt 30. Januar 1972 in Derry: Britische Soldaten umzingeln eine Gruppe von Demonstranten. 13 katholische Protestierer wurden an diesem Tag während einer friedlichen, jedoch verbotenen Kundgebung erschossen (dpa / picture alliance / UPI) Die Welt war im Aufruhr und wir waren Teil dieser umwälzenden Entwicklungen, sagt McCann und verweist auf Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten in diesem Sommer vor fünfzig Jahren, auch wenn die Gründe für diesen Protest andere waren. In der Chronologie des Nordirlandkonflikts liegt die kommunale Revolte der Katholiken von Derry zwischen zwei historischen Wegmarken. Am 5. Oktober des Vorjahres hatte die Polizei in Derry einen friedlichen Marsch der Bürgerrechtsbewegung unprovoziert niedergeknüppelt. Der protestantische Staat, der nach der Teilung Irlands 1921 aufgebaut worden war, hatte seine Maske fallengelassen. Und zweieinhalb Jahre nach dem "Battle of the Bogside" kam 1972 "Bloody Sunday", ebenfalls in Derry: Britische Fallschirmjäger erschossen 14 unbewaffnete Teilnehmer eines Bürgerrechts-Protests. Warum Derry? McCann erklärt, dass die Katholiken von Derry nie so exponiert waren wie ihre Glaubensbrüder in Belfast, die von Protestanten umzingelt waren. Derry grenzt an die Republik Irland, die ebenfalls katholisch und ähnlich gesinnt war. Aber weil die Katholiken in Derry die klare Mehrheit bildeten, war ihre offene Diskriminierung im Wohnungsbau, im Arbeitsmarkt und beim Wahlrecht unübersehbar. "Diese beiden Faktoren: das Selbstbewusstsein der Katholiken von Derry auf der einen Seite und ihre eklatante Diskriminierung auf der anderen Seite: das ist ein Rezept für eine Kampagne für Gleichberechtigung. Deshalb brach die Bürgerrechtsbewegung in Derry aus und nicht anderswo." Eamonn McCann beschreibt die Organisatoren des Aufstandes als überaus bunten Haufen. Von respektablen Sozialdemokraten bis hin zu Anarchisten und Kommunisten. Aber die Irisch-Republikanische Armee und ihr politischer Zwilling, Sinn Féin, waren damals erst marginale Statisten; historische Relikte. Erst nach dem Blutbad von "Bloody Sunday" wurden die moderaten Bürgerrechtler endgültig von den Guerilleros und Bombenlegern verdrängt. Trotzdem wird McCann nachdenklich: Alle Beteiligten von damals trügen eine gewisse Mitverantwortung für das, was nachher geschah. Und er zitiert den irischen Dichter, William Butler Yeats: "Haben meine Worte Männer ausgesandt, die von den Engländern erschossen wurden?" Marisa McGlinchey ist Politikwissenschafterin an der Universität Coventry. Ihre Eltern wurden in jenen Augusttagen vor fünfzig Jahren aus ihrem Belfaster Haus vertrieben. McGlinchey sagt, Schlüsselereignisse wie die "Battle of the Bogside" seien bis heute meinungsbildend und umstritten: "Bis zum heutigen Tag wird darüber gestritten, wer am Ursprung dieser Ereignisse stand und wer die nordirischen Katholiken anschließend führte. Natürlich wehren sich die gemäßigten, gewaltlosen Katholiken dagegen, dass Sinn Féin nun den Mantel der Bürgerrechtsbewegung beansprucht." Trauer um die Journalistin Lyra McKee: Sie wurde im April 2019 in Derry von der sogenannten Neuen I.R.A. während einer Konfrontation mit der Polizei getötet (AFP) McGlinchey sitzt in einem Café in der Linenhall Library im Herzen von Belfast, der alten Bibliothek, die über die größte Sammlung von Papieren, Pamphleten, Büchern und dergleichen über den Nordirlandkonflikt verfügt. - Die Nordiren sind ohne Zweifel geschichtsbewusst. Für niemanden gilt das mehr als für die militanten Republikaner in der Tradition der I.R.A. McGlinchey hat dieses Jahr ein Buch über diese dissidenten Republikaner geschrieben, die Epigonen der I.R.A. Die 2012 gegründete so genannt Neue I.R.A.ermordete im April dieses Jahres in Derry die Journalistin Lyra McKee während einer Konfrontation mit der Polizei. "Die Neue I.R.A. lehnt diesen Namen ab und kritisiert Journalisten und Akademiker, die sie so nennen. Denn sie halten sich nicht für etwas Neues, sondern nur für die jüngste Manifestation desselben. Sie betonen, sie seien bloß die letzte Phase in der langen Kampagne irischer Republikaner für die Wiedervereinigung." Tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen Diese Gruppen erkennt weder das britische Nordirland noch die Republik Irland als legitime Staaten an und könnten daher nicht mit politischen Konzessionen abgespeist werden, erklärt McGlinchey. Aufgrund ihrer empfundenen historischen Mission bedürften sie daher auch keines Wählermandates: "Sie leiten ihre Legitimation aus der irischen Oster-Rebellion von 1916 ab. Sie gehen sogar bis zur irischen Revolte von 1798 zurück." Numerisch sind diese und andere Splittergrüppchen klein und oftmals von Polizei- oder Geheimdienstspitzeln durchsetzt. Der Rückhalt in der Bevölkerung für ihre Methoden ist gering, was aber nicht bedeutet, dass die Sicherheitskräfte auf die aktive Mithilfe der Zivilbevölkerung zählen dürfen. Der Instinkt, dem Staat und seinen Organen eine nur sehr beschränkte Loyalität zu zollen, sitzt tief in den nordirischen Katholiken. - Marisa McGlinchey hatte eingangs betont, wie wichtig und umstritten Schlüsselereignisse des Konflikts für das heutige Verständnis seien. Ian Paisley junior, Unterhausabgeordneter für den Wahlkreis North Antrim und Sohn des gleichnamigen Pfarrers, der die nordische Politik für eine Generation geprägt hatte, stimmt zu: "Die "Battle of the Bogside" war ein seismisches Ereignis, prägend für - das Wort mag nicht ganz passend sein - für die Folklore der nationalistischen Identität und ihre Sicht auf den ganzen Konflikt." Paisley erinnert daran, dass zahlreiche Katholiken die traumatischen Konsequenzen von Ereignissen wie "Bloody Sunday" beklagten, mahnt aber: "Es gilt für beide Seiten: Man hat die Wahl, fernzubleiben, die Wahl, die Leute nicht auf die Straße zu schicken. Auch unbeabsichtigte Konsequenzen bringen Verantwortung." Der Bombenanschlag von Omagh 1998 war einer von vielen während des Nordirlandkonlikts. Insgesamt verloren mehr als 3.000 Menschen ihr Leben. (picture alliance/dpa/epa afp Alan Lewis) Bereitwillig räumt Paisley ein, das gelte selbstverständlich auch für die handgreiflichen Überfälle auf Studierende an der Brücke von Burntollet zu Beginn des Jahres 1969. An diesen Attacken war sein Vater maßgeblich beteiligt gewesen. Dreißig Jahre lang blutete Nordirland. Aus dem friedlichen Begehren nach Gleichberechtigung wurde ein Bürgerkrieg, an dem sich der britische Staat einseitig beteiligte. Über 3.000 Menschen verloren ihr Leben. Erschöpft einigten sich alle Beteiligten am Karfreitag 1998 auf ein Ende. Der politisch kreative, aber gleichwohl fragile Friedenspakt erlaubte eine beschränkte Rückkehr zur Normalität, sagt die Politikwissenschaftlerin McGlinchey: "Seither haben wir einen Normalisierungs- und Entmilitarisierungsprozess gesehen. Die Grenze zwischen Nord und Süd wurde unsichtbar. Nur Dein Telecom-Anbieter und die Währung ändern sich. Der Brexit hat das alles wieder hochgespült." Brexit. 56 Prozent der Nordiren stimmten dagegen. Denis Bradley, einst ein katholischer Priester, später der geheime Meldeläufer zwischen der I.R.A. und der britischen Regierung, und schließlich stellvertretender Vorsitzender der Polizeikommission in Nordirland, erinnert sich an das britische Brexit-Referendum: "An jenem Abend dachte ich: Nun ist alles anders. Eine schreckliche Schönheit ist geboren." Auch Bradley zitiert William Butler Yeats. - Er räumt ein, derzeit sei alles friedlich und normal in Nordirland, Derry sei eine wunderbare Stadt. "Warum? Wir sind im Auge des Orkans, der sich Brexit nennt. Im Auge ist alles ruhig, denn was da draußen vorgeht, ist derart überwältigend." "Das ist neuartig, denn bisher waren unsere Kriege klein und provinziell. Das hier betrifft ganz Europa." Widerstand gegen Backstop Nordirland und die irische Grenze sind, pikanterweise, zur Achse geworden, um die sich der Brexit seit gut zwei Jahren dreht. Der "Backstop" soll sicherstellen, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland offen bleibt, es ist die Rückversicherung für den Fall, dass das endgültige Verhältnis nicht rechtzeitig vereinbart wäre. Aber der Backstop erregte derartigen Widerwillen im Unterhaus, dass Theresa Mays Scheidungsvertrag mit der EU scheiterte. Der Abgeordnete Ian Paisley, zusammen mit seinen nordirischen Parteikollegen Teil der inzwischen hauchdünnen Regierungsmehrheit im Unterhaus, hatte 2016 den Brexit vehement unterstützt: "Wir wollten die Wirtschaftsbeziehungen Nordirlands und des Vereinigten Königreichs neu definieren. Die Grenze wurde während der Kampagne nicht einmal erwähnt." Für Paisley und seine Democratic Unionist Party, die als einzige in Nordirland den Brexit unterstützen, ist die Grenzfrage ein böswilliges Komplott der Republik Irland: "Der einzig qualvolle Aspekt des Ganzen ist doch, dass unsere Nachbarn, anstatt die sich bietende Chance für sie selbst am Schopfe zu greifen, die Grenze politisiert haben. Das schürt die Flammen von Zorn und Frustration unter kleinen Grüppchen in Nordirland." Ian Paisley äußert sich geringschätzig über die blühende Wirtschaft der Republik Irland und wagt eine kühne Prophezeihung: "Wenn wir das nächste Mal miteinander reden, wird die Republik Irland dem Britischen Commonwealth verpflichtet sein und die EU verlassen haben." In der Republik dagegen vertritt niemand diese Perspektive. Die weit verbreiteten Ängste in beiden Teilen Irlands vor einem Absturz in einen vertragslosen Brexit hält Ian Paisley für einen Sturm im Wasserglas. Wie sieht er den Tag danach, den 1. November, wenn der Brexit an diesem Tag tatsächlich eingetreten sein sollte? "Wir werden aufwachen und die Champagnerkorken und die Ballons wegräumen. Es erinnert mich ein bisschen an den Millenium Bug, die digitale Umstellung im Jahre 2000: da ist ja nicht wirklich etwas geschehen. Ja, es wird anders werden - und hoffentlich besser." An der Grenze zwischen Nordirland und Irland in der Stadt in Jonesborough. Auf einem Plakat steht: "Keine EU-Grenze in Irland". (picture alliance/dpa/Artur Widak) Paisley wischt die vom Brexit ausgelöste, breite Diskussion über eine Wiedervereinigung Irlands vom Tisch. Er benutzt dafür das Argument, Nordirland sei zu teuer, und nicht die britische Identität der Protestanten. Eamonn McCann sieht das anders: "Brexit stellt die Existenzfrage an das Vereinigte Königreich: Kann es zusammenbleiben? Ich glaube nicht. Und das kann Nordirland durchaus zurückversetzen in die altmodische protestantisch-katholische Konfrontation. Wenn alles auf dem Spiel steht, ist niemand zimperlich." Denis Bradley, Vorsitzender der Polizeikommission dagegen hofft auf neue Paradigmen: "Schottland könnte wegbrechen, Irland wird anders, England im politischen Chaos - da ist es kein Wunder, dass es um mehr als Nordirland geht. Der größere Rahmen ist eigentlich gut für Nordirland." Mögliche, gravierende Konsequenzen durch Brexit Doch was ist mit McCanns Befürchtung, dass dies keine neue Welt sei, sondern eine Rückkehr in alte Muster? "Das ist meine Angst. Ich glaube nicht, dass das eintreten wird, aber wenn ich Unrecht habe, sind die Konsequenzen gravierend." Bradley und McCann kommen aus gänzlich unterschiedlichen Ecken der katholisch geprägten Erfahrungswelt in Nordirland. Dennoch denken sie, dass sich alles ändern kann. Bradely geht davon aus, neue Regeln gelten werden: "Die nordirischen Nationalisten beziehungsweise Republikaner müssen unglaublich großzügig gegenüber den Unionisten sein. Und wenn sie dafür auf die Knie gehen müssen. Sie hatten immer behauptet, die Protestanten seien ihre irischen Brüder und Schwestern. Und sie werden großzügig sein, weil sie das wollen." McCann sagt letztlich dasselbe, wenn er daran erinnert, dass das abgetrennte Nordirland im Jahre 2021 seinen hundertsten Geburtstag feiern sollte: Er würde keine Wette darauf abschließen, dass Nordirland seinen 100. Geburtstag überlebe. Bradley verweist darauf, dass die beiden Glaubensgemeinschaften in Nordirland derzeit politisch etwa gleich stark sind. Unter Schulkindern sind die Katholiken bereits weit zahlreicher. Wenn die Demografie sich verschiebt, sagt er, verändert sich die Politik. Eamonn McCann, denkt, dass die Nordiren nicht mehr nur katholisch oder protestantisch sind, sondern vielfältiger: "Im letzten Wahlgang hier stimmte ein Drittel grün-katholisch, ein Drittel orange-protestantisch und ein Drittel weder-noch. Nordirland ist nicht mehr binär. Politisch schon, aber ansonsten ist es zerbrechlicher als je zuvor."
Von Martin Alioth
1969 eskaliert der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland - über 30 Jahre lang kam es immer wieder zu Anschlägen, fast 3.000 Menschen starben. Ende der 1990er-Jahre wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Mit dem anstehenden Brexit haben viele Angst vor einem Aufreißen alter Wunden.
"2019-08-11T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:05:41.184000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nordirland-und-der-brexit-der-aufstand-von-derry-und-seine-100.html
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"Mit Traumaversorgung muss sich jeder auskennen"
Wenn Kinder in ihren eigenen Familien gemobbt werden, zum Sündenbock oder Aschenputtel gemacht werden, hat das gravierende Folgen für die Betroffenen. (Imago) Bei Fällen von sexuellem Missbrauch sei den Opfern häufig die Dimension nicht klar: Für sie könne jeder Entwicklungsschritt wie Pubertät, Partnerschaft oder Geburt eines Kindes eine erneute Konfrontation mit dem Erlebten bedeuten. Darum sei es besonders wichtig, solche Traumata psychotherapeutisch aufzuarbeiten. Darum sei das Motto des Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm auch "Dazugehören". Auch wenn es in Deutschland eine gute Grundversorgung mit Therapeuten und Psychiatern gebe, scheuten sich etwa die Hälfte der niedergelassenen Therapeuten, Trauma-Patienten zu behandeln. Weiterbildung sei daher wichtig: "Mit Traumaversorgung muss sich jeder auskennen", so Fegert. Zu den Spätfolgen von Missbrauch und Misshandlung gehören etwa Suizid, selbstverletzendes Verhalten, Depression und Probleme in der sozialen Teilhabe. Außerdem haben Betroffene ein erhöhtes Risiko, an Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes und Krebs oder chronischem Schmerz zu erkranken. Einen signifikanten Rückgang gebe es bei Berichten über Vernachlässigung. Das sei einerseits dem Umstand geschuldet, dass immer weniger Menschen lebten, die im und nach dem Krieg körperliche Vernachlässigung erlebt hätten. Aber auch wegen der frühen Hilfen. Sie können das Interview in unserem Audioarchiv sechs Monate nachhören.
Jörg Fegert im Gespräch mit Martin Winkelheide
Laut einer aktuellen Studie des Universitätsklinikums Ulm gebe es bei körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch keinen Rückgang der Zahlen, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert im DLF. Alarmierend sei die Zunahme emotionaler Misshandlung: Wenn Kinder in ihrer Familie gemobbt würden, habe das gravierende Langzeitfolgen.
"2017-03-21T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:57.592000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kindesmisshandlung-mit-traumaversorgung-muss-sich-jeder-100.html
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Wissenschaftlerin: Bewertungs-Kompetenzen bei Jugendlichen fördern
Während viele Schulen in Deutschland auf schnelles Internet warten, haben die Schüler längst die Digitalisierung entdeckt. (imageBROKER) Benedikt Schulz: Wir wollen jetzt im Folgenden die Ergebnisse der Studie ein bisschen vertiefen. Ein entscheidendes Ergebnis ist für mich das hier: Ein Großteil der Jugendlichen ist sich der Grenzen von Youtube-Lernen durchaus bewusst oder mit anderen Worten: der hohen Bedeutung von normalem Unterricht. Am Telefon ist Vanessa Reinwand-Weiss, Mitglied im Rat für kulturelle Bildung und Professorin für Kulturelle Bildung. Frau Reinwand-Weiss, hallo! Vanessa Reinwand-Weiss: Hallo, schönen guten Tag! Schulz: Also, offenbar gehen ja diejenigen, die Youtube zum Lernen regelmäßig nutzen, doch ziemlich reflektiert an diese Form des Lernens heran. Hat Sie das überrascht? Reinwand-Weiss: Ja, das hat uns als Expertinnen und Experten im Rat für kulturelle Bildung durchaus etwas überrascht, weil man ja davon ausgeht erst einmal, dass Youtube vor allem für Unterhaltung genutzt wird, dass es drauf ankommt, dass die Videos hip sind, dass sie witzig sind, dass sie unterhaltsam sind, aber uns hat überrascht, dass die Jugendlichen sehr gezielt nach Inhalten suchen, und zwar nicht nur nach Unterhaltungsinhalten, sondern auch nach Wissens- und Bildungsinhalten und dass sie sich da nicht nur auf die Algorithmen verlassen, die Youtube ihnen vorschlägt oder auf die Vorschläge verlassen, die Youtube anzeigt, sondern dass sie über die Suche sehr gezielt nach Themen Ausschau halten, die sie interessieren. Jugendliche benötigen Hilfestellung Schulz: Heißt das denn auch, dass bei vielen Schülerinnen und Schülern vielleicht auch so eine Kompetenz gibt, dass sie ernstzunehmende seriöse Lerninhalte schon unterscheiden können von Sachen, die eben nicht ernst zu nehmen sind? Reinwand-Weiss: In der Studie haben wir nur Indizien dafür. Wir haben da keine klaren Aussagen. Meine persönliche Einschätzung ist, dass die Jugendlichen hier schon noch Hilfestellung benötigen, also dass es wichtig ist, in schulischen, aber auch in außerschulischen Einrichtungen Youtube, Youtube-Nutzung, Webvideonutzung im Allgemeinen immer wieder zu thematisieren und vor allem, dass es auch Aufgabe gerade der ästhetischen Schulfächer oder der kulturellen Bildung ist, mit Jugendlichen stärker ästhetische Mechanismen, visuelle Themen wirklich noch mal zu besprechen und auch über eine Produktion, nicht nur über die Rezeption, sondern über das Selbermachen, über die Produktion zu erfahren, wann kann ich mich auf Inhalte verlassen, was ist ein qualitativ hochwertiger Inhalt, wie habe ich Inhalte zu bewerten, wie habe ich ästhetische Mechanismen zu bewerten, die vielleicht auch Inhalte verfälschen können. Schulz: Interessant ist ja, dass Ihre Befragung auch zutage gefördert hat, dass sich viele Schülerinnen und Schüler eine kritische Auseinandersetzung mit Youtube-Inhalten im Unterricht wünschen, das heißt auf der anderen Seite, eine Auseinandersetzung findet bislang nicht oder auf jeden Fall nur unzureichend statt, oder? Reinwand-Weiss: Das sehen wir auch so. Also ich glaube, es gibt sehr gute Beispiele. Es gibt Lehrkräfte, die in der Schule selber schon Videos drehen und damit ihren Unterricht anreichern. Es gibt auch in der kulturellen Bildung, also in den Kulturinstitutionen Lehrkräfte, Vermittler, die dieses Medium schon nutzen, aber ich denke, das sind überwiegend Ausnahmen, und ich glaube schon, dass das Gros der Schulen, das Gros der Lehrkräfte hier vorsichtig ist auf diesem Gebiet und den Schülerinnen und Schülern noch nicht die Reflexion bietet, die eigentlich wichtig wäre, um sozusagen Youtube oder auch andere Plattformen wirklich als Bildungsmedien noch besser nutzbar zu machen. Sich gemeinsam kritische Fragen stellen Schulz: Jetzt habe ich den Eindruck – mal pragmatisch gedacht –, lernen über Youtube und lernen in der Schule, das passiert jetzt erst mal irgendwie vollkommen unabhängig voneinander, ohne Synergieeffekte, die ja durchaus wünschenswert wären. Müssen Lehrerinnen und Lehrer das Potenzial von Lernvideos vielleicht auch noch viel offensiver für ihren Unterricht auch nutzen, dass sie gezielt selber auch nach Lernvideos suchen, einschätzen können, die taugen was, die taugen nichts, und ich empfehle euch die auch bewusst? Reinwand-Weiss: Das ist auf jeden Fall eine unserer Empfehlungen, dass Vermittler und Lehrkräfte sich genauer informieren müssen, was geht da eigentlich ab auf Youtube, was schauen die Jugendlichen. Sie müssen nicht alles selber schon besser wissen, und sie müssen nicht jede Technik bis ins Detail können, sondern ich glaube, wichtig ist der Mut, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen dieses Medium zu entdecken, eine Reflexionsplattform anzubieten und sich gemeinsam auch kritische Fragen zu stellen. Wir würden uns einfach eine größere Offenheit und mehr Mut diesen Medien gegenüber wünschen. Das ist aber, glaube ich, auch eine Aufgabe für Politik und auch für Fort- und Weiterbildung. Das sage ich auch als Direktorin der Bundesakademie für kulturelle Bildung einer Fort- und Weiterbildungsinstitution für Kulturschaffende. Wir müssen hier mehr Angebote schaffen, bei denen sich Vermittler, aber auch Lehrkräfte ausprobieren können mit diesen Medien, um auch die Scheu zu verlieren, das entweder selber anzuwenden oder zumindest gemeinsam mit den Jugendlichen zu explorieren. Ich glaube, hier haben wir auf jeden Fall noch Bedarf. Der Digitalpakt hat ja schon gezeigt, dass der Bundesregierung durchaus bewusst ist, dass es hier an allen Ecken und Enden noch mangelt. Der Digitalpakt fördert jetzt die Hardware vor allem. Das ist ein erster wichtiger Schritt, aber ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig, dass hier auch personelle Kapazitäten gefördert werden, und das heißt, dass in Fort- und Weiterbildung investiert wird und dass in Gesamtkonzepte investiert wird. Wir gehen vom Rat für kulturelle Bildung sogar so weit, dass wir sagen, es bräuchte einen Kulturdigitalpakt, also das heißt, es bräuchte auch eine Förderung für Kultureinrichtungen, weil wir es als Kernaufgabe der kulturellen Bildung ansehen, ästhetische Kompetenzen, die zur Bewertung solcher Videos und Inhalte, Plattformen, führen können, zu fördern bei Jugendlichen. Wichtig, dass Lehrpersonen zur Verfügung stehen Schulz: Was können denn eigentlich Lehr-, Lernvideos bei Youtube möglicherweise besser als die Lehrpersonen im Unterricht? Reinwand-Weiss: Wir haben die Jugendlichen dies auch gefragt, und wir waren dahingehend auch überrascht, dass die Jugendlichen sehr klar einschätzen können, wofür welches Lernmedium, wenn man so will, oder welche Lehrperson besonders gut geeignet ist. Sie sagen, dass sie Youtube häufig nutzen, um Dinge zu wiederholen oder auch zeitunabhängig zu lernen, das heißt, Youtube kann ich mir auch mal an der Bushaltestelle anschauen, wenn ich mal eine kurze Wartezeit habe, und ich kann ein Video mehrmals anschauen, ich kann mir bestimmte Details anschauen. Das ist sehr, sehr wichtig für die Jugendlichen, das schätzen sie an diesem Medium, aber sie sagen auch ganz klar, dass es wichtig ist, dass Lehrpersonen zur Verfügung stehen, um Rückfragen zu stellen, um vielleicht auch Fehler, die Youtube hat, auszubügeln. Insofern sehen die Jugendlichen das durchaus in Kombination und würden jetzt nicht fordern, dass die Schule nur noch Youtube-Videos zeigt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Vanessa Reinwand-Weiss im Gespräch mit Benedikt Schulz
Etwa die Hälfte der deutschen Schüler verwendet einer Studie zufolge Lern- und Erklärvideos auf der Internetplattform Youtube. Die Schüler bräuchten aber Unterstützung dabei herauszufinden, was qualitativ hochwertiger Inhalt sei, sagte Vanessa Reinwand-Weiss, Mitglied im Rat für kulturelle Bildung, im Dlf.
"2019-06-04T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:55:30.932000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lernvideos-im-netz-wissenschaftlerin-bewertungs-kompetenzen-100.html
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Spott ist der falsche Weg
Marina Weisband über US-Präsident Donald Trump: Populisten ziehen Spott auf sich und verkaufen ihn als Spott gegen ihre Anhänger. (picture alliance / Consolidated News Photos) Warum haben die eigentlich alle so komische Haare? Donald Trump, Boris Johnson und diverse andere Figuren der populistischen Rechten unterscheiden sich dadurch, dass sie nicht nur widersprüchliche, falsche, skurrile Aussagen treffen, sondern auch dadurch, dass sie in ihrem Aussehen, in ihren Manierismen und in ihrem Auftreten bisweilen einfach absurd sind. Das ist gefundenes Fressen für die Medien, die seit Jahren genau diese Ausfälle publizieren, weil Leser sich gern über mächtige Menschen lustig machen. Warum macht man sich aber freiwillig lächerlich? Dahinter steckt für diese Politiker zweifacher Gewinn. Erstens gewinnen sie dadurch in der Aufmerksamkeitsökonomie. In der Interaktion von Social Media und klassischen Medien gewinnen die schillerndsten, die farbenprächtigsten, die skandalösesten Figuren. Sie bekommen unglaublich viel kostenlose Sendezeit und Aufmerksamkeit und schaffen es so, immer mehr Anhänger zu gewinnen. Die Alternative ist die Mitte Zweitens gewinnen sie aber auf einer viel tieferen Ebene. Die Alternative zu ihnen wird durch die Mitte symbolisiert, durch Figuren wie Biden, Merkel und Macron. Sie alle beherrschen das Auftreten von Vernunft, stehen in ihren Zielen aber für eine diffuse Mischung aus Kapitalismus und Bürokratie, die unter anderem auch in viele der aktuellen Krisen geführt hat. Ihre Devise scheint zu sein, dass Veränderungen möglichst klein und bedeutungslos sein müssen. Dass wir am besten immer alles machen wie bisher. Marina Weisband wurde 1987 in der Ukraine geboren und kam 1994 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Die Schwerpunkte der Autorin und Diplompsychologin sind Partizipation und Bildung. In ihrem Buch "Wir nennen es Politik" schildert sie Möglichkeiten neuer politischer Partizipation durch das Internet. Seit 2014 leitet sie bei politik-digital.de das aula-Projekt zur Demokratisierung von Schulen. Vertreter der absoluten Mitte können sogar recht verbissen und kompromisslos sein, weil es, rational betrachtet, nicht viele gute Argumente für ihre Positionen gibt. Das ist der Grund, warum Kohlekraftwerke immer noch subventioniert werden, warum wir alle mit dem Auto fahren, warum in Behörden alles gefaxt wird und warum Lobbyismus die Europäische Union übermäßig beherrscht. Wenn jemand daran etwas ändern will, sagen sie: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen." Populisten leiten Spott gegen sich an Anhänger weiter Und dann kommen diese "Witzfiguren" und vermischen in populistischer Weise viel Schwachsinn (und Rassismus) mit einigen wahren Punkten. Trump sagt, er werde "den Sumpf austrocknen und die Korruption bekämpfen". Sicher, das wird er nicht tun. Doch das zu sagen, hilft ihm. Was nämlich passiert, ist folgendes: Er sagt das, trägt dabei eine viel zu lange Krawatte und rudert mit den Armen. Die Mitte lacht über sein lächerliches Auftreten. Spöttelnde Artikel werden publiziert. Aber viele Menschen, die auch gegen Korruption sind, sehen nur, dass etablierte Politiker seine Idee auslachen, man könne Korruption bekämpfen. Als würde man nicht über Trumps Krawatte spotten, sondern über SIE. Weil sie sehen, dass er ein relevantes Problem anspricht. Wenn Menschen sich auf diese Art und Weise in ihrem Selbstwertgefühl angegriffen fühlen, ist ihnen das rationale Argument, dass Trump natürlich selbst einer der korruptesten Politiker ist und über seine Absichten lügt, egal. Populisten ziehen den Spott auf sich und verkaufen ihn als Spott gegen ihre Anhänger. Im weitesten Sinne gegen alle Menschen, die substanzielle Veränderung wollen. Journalisten müssen Mechanismen brechen Sie machen eine falsche Dichotomie auf: entweder Verharren in einer politischen Bewegungslosigkeit, geführt von Leuten, die euch auslachen - oder meine Marke von Populismus. Genau diesen Mechanismus müssen Journalisten aber brechen, statt ihn zu bedienen. Es gibt mehr als diese zwei Pole. Besser wäre es, Aufmerksamkeit den Leuten zu schenken, die konkrete Konzepte haben, Dinge anders zu machen. Eben – tatsächliche Politik. Daran mangelt es nicht. Aber konkrete Lösungsansätze sind schwieriger zu vermarkten als das kollektive Auslachen von Clowns.
Von Marina Weisband
Egal ob die Haare von Boris Johnson oder die Krawatte von Donald Trump - wenn Medien über Äußerlichkeiten von populistischen Rechten berichten, bedienen sie das menschliche Bedürfnis, sich über andere lustig zu machen. In Wahrheit helfen Journalisten damit aber den Politikern, analysiert Marina Weisband in ihrer Kolumne.
"2020-10-28T15:35:00+01:00"
"2020-10-29T11:31:24.012000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/medien-und-aeusserlichkeiten-spott-ist-der-falsche-weg-100.html
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Ex-Radprofi Hondo gibt Blutdoping zu
Danilo Hondo, ehemaliger Radprofi, hat Blutdoping zugegeben (Jan Huebner/imago) Danilo Hondo wirkt gelöst, als er seinen letzten Satz beendet hat. Die Lüge, die er seit 2011 mit sich rumtrug, ist raus. Auch er war Blutdoping-Kunde des Erfurter Sportmediziners Mark S.: "Wenn ich in diesen Fall verwickelt bin, muss ich dazu stehen, um das, was ich in den letzten Jahren als nicht mehr aktiver Radprofi getan habe, fortzuführen. Es wäre für mich persönlich unglaubwürdig gewesen, wenn ich abgestritten hätte, dass ich auch Kunde gewesen wäre." Er habe sein Blut im Jahr 2011 drei bis vier Mal vom Erfurter Sportmediziner Mark S. behandeln lassen. Laut Hondo hätten die Entnahmen jeweils in einem Appartment in Frankfurt und auch in der Schweiz stattgefunden. Das Blut habe er sich dann zum Beispiel vor den Klassikern zurückführen lassen: "Ich denke, es war auf jeden Fall einmal bei Mailand-San Remo. Dann zu den Klassikern in Belgien und dann auch noch mal zur Tour de France." "Hoffnung auf besseren Vertrag" Insgesamt habe er für die Behandlungen rund 30.000 Euro bezahlt. Ausgangspunkt des Geständnisses war, dass Hondo nach Informationen der ARD-Dopingredaktion in einer Beschuldigtenvernehmung belastet wurde und die ARD davon berichten wollte. Daraufhin habe er beschlossen, reinen Tisch machen zu wollen. Zu den Gründen seines Dopings bei Mark S. sagt Hondo: "Er hat mir so glaubwürdig versichert als Arzt, dass doch so viele das Doping betreiben würden, auch Blutdoping. Und zum andern war da die Hoffnung, vielleicht doch noch mal länger fahren zu können oder besser fahren zu können, um vielleicht noch mal einen besseren Vertrag zu erhaschen, um einfach noch mal Verluste aus der Vergangenheit wettzumachen." "Keinen Sinn mehr, in den Sport reinzukommen" Der gebürtige Cottbusser Hondo war einst erfolgreich als Rad-Sprinter - unter anderem bei den Teams Telekom und Gerolsteiner. 2005 erhielt er nach einer positiven Probe auf das Stimulanzmittel Carphedon eine umstrittene Dopingsperre. Bis heute war er als Radsport-Nationaltrainer der Schweizer Elitefahrer und der U23-Junioren aktiv. Unmittelbar nach seiner Beichte gegenüber der ARD wurde er vom Schweizer Radsportverband suspendiert. Zu seinen Plänen für die Zukunft sagt er: "Für mich ist auch klar, dass es für mich auch keinen Sinn mehr macht, jemals noch mal zu versuchen, in den Sport reinzukommen. Denn - machen wir uns nichts vor - wenn man sich outet und so ein Fall aufkommt, kann es keine Zukunft mehr geben." Zweiter Sportler aus Deutschland Hondo ist damit der zweite deutsche Trainer, der im Fall Erfurt bekannt wird. Bereits am vergangenen Freitag bestätigte die Nationale Anti-Doping-Agentur Deutschland ein Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Eissschnellläufer Robert Lehmann-Dolle. Danilo Hondo sagt, er bereue was er getan habe.
Von Josef Opfermann
Die Dimensionen des mutmaßlichen Dopingnetzwerks um den Erfurter Arzt Mark S. werden offenbar immer größer. Jetzt hat der ehemalige deutsche Radprofi Danilo Hondo gegenüber der ARD-Dopingredaktion Doping eingestanden und war nach eigener Aussage Kunde des Arztes.
"2019-05-12T19:32:00+02:00"
"2020-01-26T22:51:37.902000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erfurter-dopingskandal-ex-radprofi-hondo-gibt-blutdoping-zu-100.html
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Lydia Rabinowitsch-Kempner erklärte der Tuberkulose den Krieg
Die Tuberkulose-Forscherin Lydia Rabinowitsch Kempner 1918 (Ausschnitt) (picture-alliance / dpa ) Unüberhörbar zogen ab 1881 täglich Verkäufer auf Milchwagen der "Meierei Carl Bolle" durch Berlin und taten per Handglocke ihr Kommen kund. Doch 1897 schrillten bei "Bimmel-Bolle" selbst plötzlich die Alarmglocken, als die junge Wissenschaftlerin Lydia Rabinowitsch entdeckte, dass über die Milch tuberkulöser Kühe auch Menschen infiziert werden können. Als daraufhin die Mitarbeiterin Robert Kochs den Auftrag erhielt, die Produkte der größten Berliner Meierei genauer auf Tuberkelbazillen zu untersuchen, entbrannte der sogenannte Berliner Milchkrieg: Aus Angst vor Umsatzeinbußen jubelte ihr die Firma Bolle nämlich statt der Rohmilch bereits abgekochte und damit bakterienfreie Proben unter. Lydia Rabinowitsch stellte Strafanzeige, gewann schließlich den langjährigen Gerichtsprozess – und war seither stadtbekannt. Mikrobiologie-Pionierin und Mutter von drei Kindern "Sie hat sich dann sehr stark gemacht um den Schutz der Milch, und zwar in Bezug darauf, wenn Milch genutzt wurde zur Ernährung von Säuglingen, die nicht gestillt werden konnten", sagt die Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Katharina Graffmann-Weschke, die eine Biografie über Lydia Rabinowitsch-Kempner geschrieben hat. Die sei als eine der wenigen Wissenschaftlerinnen auch noch Mutter von drei Kindern gewesen. Assistentin von Robert Koch - unbezahlt Lydia Rabinowitsch wird am 22. August 1871 im litauischen Kaunas geboren. Wie alle neun Kinder der wohlhabenden jüdischen Familie bekommt sie eine gute schulische Ausbildung. Krankheit und Krise - Medizinhistoriker: Jede Zeit hat ihre SeuchePest, Cholera, Tuberkulose – und jetzt Covid. Jede Zeit habe ihre Seuche, sagte der Medizinhistoriker Jörg Vögele im Dlf. Es erstaune ihn, wie sich Muster bei Pandemien wiederholten. Sie seien eben nicht nur ein medizinisches Phänomen, sondern auch ″sozial, kulturell und ökonomisch überlagert″. Aber weil sie in ihrer Heimat als Frau damals nicht studieren darf, geht die erst 18-Jährige in die fortschrittlichere Schweiz, so Rabinowitsch-Biografin Graffmann-Weschke: "Sie hat Pädagogik, Germanistik studiert unter anderem, aber auch Zoologie und Botanik, wo sie dann promoviert hat 1894 in Bern. Und das war offenbar für dieses neue Fach Bakteriologie das Entscheidende, sodass sie eine Chance hatte, bei Robert Koch in Berlin dann arbeiten zu dürfen." Entdecker des Tuberkulose-Bakteriums: der deutsche Arzt und Bakteriologe Robert Koch hier 1896 in seinem Laboratorium während einer Forschungsreise nach Südafrika (ADN / dpa-Bildarchiv) Weltweit beachtet - von männlichen Kollegen belächelt Als seine unbezahlte Assistentin. Ihre bakteriologischen Forschungsarbeiten finden zwar weltweit Beachtung, aber im Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten wird sie von den männlichen Kollegen nicht ernst genommen. Nach nur einem Jahr, 1895, geht sie in die USA, schildert Katharina Graffmann-Weschke: "Offenbar hat sie ein attraktives Angebot bekommen, und zwar vom Women’s Medical College in Philadelphia, und sie hat dort einerseits gelehrt, und andererseits hat sie versucht, auch weiter dort zu forschen, was aber extrem schwierig war, so dass sie immer die Hälfte des Jahres fast in Amerika war, und die andere Hälfte wieder zurück dann zu Robert Koch ans Institut gegangen ist." Als sie hier dem Mediziner Walter Kempner begegnet, kehrt sie 1898 nicht wieder in die USA zurück. Die beiden heiraten, und Lydia Rabinowitsch-Kempner bekommt in kurzen Abständen drei Kinder. Dennoch arbeitet sie weiter als Forscherin, engagiert sich für Frauenrechte und gründet unter anderem den "Verein zur Gewährung zinsfreier Darlehen für studierende Frauen". Vor allem aber wirft sie sich in den wissenschaftlichen Kampf gegen die Tuberkulose - an die sie Tochter und Ehemann verloren hatte. Erste Frau mit Professorentitel in Berlin 1912 wird Lydia Rabinowitsch-Kempner von Kaiser Wilhelm II. der Professorentitel verliehen: als zweiter Frau in Preußen, als erster in Berlin. Aber eine Lehrbefugnis erhält sie dadurch nicht. Erst ab 1920, als sie die Leitung des Bakteriologischen Instituts am Städtischen Krankenhaus Moabit übernimmt, bekommt sie ein festes Gehalt. Zu krank, um NS-Deutschland noch zu verlassen 1934 verliert sie wegen ihrer jüdischen Herkunft ihre Anstellung. Schwer krank und zu schwach, um Deutschland zu verlassen, stirbt Lydia-Rabinowitsch-Kempner 1935 in Berlin. Aber über ihre internationalen Kontakte ermöglicht sie es ihren Söhnen noch, in die USA zu emigrieren, so Katharina Graffmann-Weschke: "Ihr Sohn Walter Kempner wurde ein berühmter Mediziner in Amerika, und der Jurist Robert Kempner hat eine große Rolle gespielt als stellvertretender Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen. Ohne Geld keine Heilung - Tuberkulose zwischen Fortschritt und FinanzierungslückenEine neue Generation von Medikamenten wirkt gegen die multiresistente Tuberkulose. Wenn wir klug und konsequent handeln, haben wir die einmalige Chance, die Krankheit zu besiegen. Doch die neuen Antibiotika sind teuer – die Welt täte gut daran, ärmere Länder bei der Beschaffung zu unterstützen Die Arbeit ihrer Mutter, der Tuberkuloseforscherin Lydia Rabinowitsch-Kempner, geriet durch die NS-Zeit fast völlig in Vergessenheit und wurde erst seit den 1980er Jahren wieder wahrgenommen und gewürdigt.
Von Andrea Westhoff
Die Tuberkuloseforscherin Lydia Rabinowitsch-Kempner machte auf die Gefahren infektiöser Milch für Kinder aufmerksam. Sie war weltweit anerkannt, doch in Deutschland entließ man sie wegen ihrer jüdischen Herkunft aus allen Ämtern. Am 22. August 1871 wurde sie geboren.
"2021-08-22T09:05:00+02:00"
"2021-08-22T08:48:29.781000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-150-jahren-geboren-lydia-rabinowitsch-kempner-erklaerte-100.html
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"Niemand wird gezwungen Mitglied bei Facebook zu sein"
Anne Raith: Am Telefon begrüße ich jetzt Jimmy Schulz. Der FDP-Politiker ist IT-Unternehmer und Obmann der FDP in der Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft, und er war derjenige, der einst gerüffelt wurde, weil er eine Rede im Bundestag vom iPad, also von einem Tablet-Computer aus vorgetragen hat, als Erster. Einen schönen guten Morgen, Herr Schulz!Jimmy Schulz: Guten Morgen!Raith: Herr Schulz, Sie haben ja auch ein Profil bei Facebook, dort können Ihre über 3000 Freunde und andere Interessierte ja auch verfolgen, was Sie so bewegt im Parlamentarierleben. Haben Sie eigentlich Bedenken, wenn nun die Chronik, von der wir eben gehört haben, aktiviert wird?Schulz: Nein. Denn zuallererst muss man mal wissen: Diese Chronik stellt keine mehr Informationen bereit, als bisher schon verfügbar ist. Alle diese Informationen, die in dieser Chronik drin sind, waren ja vorher schon verfügbar, also, sind nur jetzt in einer anderen Form dargestellt. Deswegen bin ich da eher etwas entspannt. Und auch die Darstellung, als wäre das jetzt Pflicht, nun ja, niemand wird gezwungen, Mitglied bei Facebook zu sein. Wer das nicht will, kann ... Es gibt ja immer noch auch noch den ein oder anderen Mitbewerber, also, wem das nicht passt, hat immer noch Alternativen oder geht halt nicht zu Facebook.Raith: Das heißt, der Nutzer hat allein die Wahl, ja oder nein, ich mache mit oder nicht. Man könnte ja auch argumentieren, wir speichern weniger Daten, wir sorgen für mehr Transparenz ... Schulz: Ja gut, also, die Transparenz ... Da ist jetzt natürlich wichtig, dass die Unternehmen uns sehr genau sagen, was sie denn über uns speichern. Aber wer etwas bei Facebook veröffentlicht, muss natürlich sich schon bewusst sein, dass das dann andere auch sehen können und dass das auch für eine ganze Weile dort, bis sich das Profil erschöpft, weiterhin sichtbar ist. Wer das nicht will, sollte die Information halt auch nicht zur Verfügung stellen.Raith: Aber nichtsdestotrotz ist die Situation bei Facebook ja intransparent. Sie sagen, das Unternehmen muss dafür sorgen. Diese Debatte führen wir ja nicht erst seit gestern. Es ist nach wie vor nicht einsehbar, welche Daten Facebook eigentlich von mir sammelt.Schulz: Na ja, gut. Also, dass was ich natürlich veröffentliche über mich, wird natürlich gespeichert, das ist doch selbstverständlich, auch die Fotos, die ich hochlade, werden gespeichert. Ich glaube, was wir ... Wir müssen an zwei Dingen anfassen: Das Erste ist, die allgemeinen Geschäftsbedingungen und auch die Datenschutzbestimmungen sind, wer die schon mal gelesen hat – und das wird kaum jemand getan haben, fürchte ich –, so geschrieben, dass die also auch selbst nach einem Jurastudium nur schwer verständlich sind. Ich glaube, hier müssen wir ansetzen, sodass jeder die Chance hat, auch zu verstehen, was denn mit den Daten passiert. Hier soll ja auch in Zukunft zum Beispiel die Stiftung Datenschutz für mehr Transparenz sorgen, aber wir wollen natürlich auch die Unternehmen dazu bringen, dass sie in einer verständlichen Art und Weise klar und offenlegen, was gespeichert wird, in welcher Art gespeichert wird und vor allem auch wo gespeichert. Auf der anderen Seite müssen wir sehr wohl sehen, dass auch der mündige Bürger das alles versteht. Dass er es weiß, was mit, wenn er seine Daten bei einem Unternehmen hinterlegt, was mit diesen Daten passiert. Und dieses Wissen kann er nur, wenn er auch die Kompetenz dafür besitzt. Das heißt, wir müssen hier ganz klar auch im Bildungssystem ansetzen, dass unsere Kinder, Jugendlichen, aber auch vor allem die Erwachsenen und auch die Lehrer genau verstehen, was denn in dieser Welt der sozialen Netzwerke passiert, damit man bewusst dann eine Entscheidung treffen kann, ich möchte das, ich möchte diese Daten in dieser Art und Weise veröffentlichen oder eben nicht.Raith: Und das heißt, wenn ich mich dafür entscheide, mitzumachen, dann muss ich auch damit rechnen, bei kostenlosen Diensten mit etwas zu zahlen, nämlich mit meinen Daten?Schulz: So ist es.Raith: Aber ist es nicht erschreckend, dass man immer noch nicht weiß, dass diese ... oder beziehungsweise ja davon ausgeht, dass diese Daten irgendwo dort lauern, und selbst wenn ich jetzt auch bei der Chronik im Nachhinein etwas löschen möchte, geht das nicht, ich kann es nur verbergen?Schulz: Sie können es verbergen, aber wenn Sie zum Beispiel Ihren Account löschen, werden die Daten ja auch wirklich gelöscht. So jedenfalls die Aussage von Facebook.Raith: Eine andere Entscheidung hat ja in dieser Woche auch für Aufsehen gesorgt: Neben Facebook will auch Google die Daten nun besser bündeln, besser verlinken, um für bessere Suchergebnisse zu sorgen, sagt die Suchmaschine. Sie haben eben schon das Wort des mündigen Bürgers verwendet. In Blogs ist jetzt von Entmündigung zu reden, dass Unternehmen einfach beschließen, was sie mit unseren Daten machen. Müssen wir das einfach so hinnehmen?Schulz: Ja gut, es ist ja nun die Entscheidung der Unternehmen, welche Dienste sie anbieten. Und wir können entscheiden, ob wir diese Dienste in Anspruch nehmen wollen. Es ist ja nicht so, dass man hier nicht sozusagen gezwungen wird, diese Dienste zu nutzen. Also, auch bei Suchmaschinen gibt es zum Beispiel, wenn einem diese Dienstleistung nicht gefällt, die Möglichkeit, eine andere Suchmaschine zu benutzen. Und deswegen bin ich da ein bisschen entspannter. Ich bin ... Natürlich müssen wir sehr wohl aufpassen, was diese Unternehmen mit den Daten machen, und sie müssen uns offen darlegen, was sie mit den Daten machen. Und das darf natürlich nur in den klar gesetzlich vorgegebenen Grenzen internationaler Richtlinien, aber auch der deutschen Gesetze geschehen. Wenn sie sich daran nicht halten, muss der Staat eingreifen. Aber wenn mir persönlich das nicht gefällt, dass etwas mit meinen Daten gemacht wird, dann ist es schlauer, ich gebe diese Daten gar nicht erst raus, Datensparsamkeit auch zu Hause. Und wenn ich trotzdem eine bestimmte Dienstleistung wie zum Beispiel Suchmaschine nutzen will, dann schaue ich mir eben vorher genau an, welche der Suchmaschinen denn die Dienstleistungen und die Services anbietet zu den Konditionen, die mir zusagen. Auch da gibt es übrigens eine ganze Reihe von Mitbewerbern, unter denen man sich entscheiden kann.Raith: Sie sagen, Herr Schulz, im Notfall muss dann doch der Staat eingreifen. In dieser Woche hat ja zumindest die EU-Kommission Pläne vorgelegt, wie das aussehen könnte. Da ist von einem Recht auf Vergessen die Rede, das jeder Nutzer habe. Finden Sie, das steht jedem Nutzer zu?Schulz: Also, Frau Reding hat ja von einem Recht auf Vergessenwerden gesprochen. Also, das heißt, dass, wenn ich mich zum Beispiel mit persönlichen Daten im Internet, einem Dienst oder einem Anbieter anmelde und das dann nicht mehr wünsche, dass ich dann auch vergessen werde. Das heißt, ein Recht auf vollständige Löschung aller Daten. Das klingt im ersten Moment sehr attraktiv. Wir hatten die Debatte übrigens vor Kurzem ja auch in Deutschland mit dem digitalen Radiergummi. Da muss man natürlich auch einige Einschränkungen machen. Also, erstens einmal: Ich fände es schön, wenn es so was gäbe, ich halte es nur in manchen Bereichen für schwierig durchsetzbar. Denn da, wenn Daten, sagen wir mal, einen weiteren Verbreitungsgrad finden, als dass sie nur zum Beispiel in den Händen eines bestimmten Unternehmens sind, denken Sie ruhig mal zum Beispiel daran, wenn jemand in einem Forum schreibt oder sich öffentlich äußert in einem Internetchat oder in einer Newsgroup, dann wird es natürlich schwierig. Oder was machen wir mit Zeitungsarchiven? Müssen dann dort die Seiten, wenn ich sage, ich möchte das wieder sozusagen aus dem und diesem und jenem Verlag alle Informationen über mich gelöscht werden, dann müsste dann ja jemand ins Archiv rennen und die Zeitungsartikel alle rausschnipseln. Also, wir müssen da schon sehr genau hingucken. Ich weiß, da gibt es auch schon Einschränkungen, die diskutiert werden, im künstlerischen Bereich, im journalistischen Bereich, aber wo wollen wir denn da noch die Grenzen setzen? Wir können doch gerade auch schon im Bereich des Journalismus heute kaum noch Grenzen ziehen. Ist ein Blog Journalismus, ist ein Kommentar in einem Blog, gehört das zum Leserbrief dazu? Es wird sehr schwierig, dort klare Grenzen zu ziehen, und ich glaube auch, eine hundertprozentige Erfolgsquote wird es dort nicht geben können. Diese Idee mit dem digitalen Radiergummi ist gut ... Raith: ... aber nicht besonders realistisch, wenn ich Sie richtig verstehe.Schulz: Ich befürchte, sie, richtig, genau, ich befürchte, wir werden sie in der Praxis nur schwer umsetzen können.Raith: Das heißt, wir müssen so weitermachen wie bisher?Schulz: Ich glaube, das wird in bestimmten Bereichen Veränderungen unterliegen. Und Sie werden das ja merken, dass auch zum Beispiel das Verhältnis zur eigenen Privatsphäre in einer ganzen Generation sich auch geändert hat. Ich bin in den 80er-Jahren noch gegen die Volkszählungen auf die Straße gegangen mit Hunderttausenden von anderen Menschen. Ich weiß nicht, können Sie sich erinnern, letztes Jahr bei der Volkszählung, wie viel da auf der Straße waren? Also, ich habe nicht mehr gesehen als die, die sonst sowieso schon auf der Straße waren. Und die haben nicht gegen die Volkszählung demonstriert. Also, da hat sich auch was geändert. Und auch in dem, was man von Daten an sich selber freiwillig preisgibt, auch da hat sich, glaube ich, einiges geändert. Das kann man als Datenschützer beklagen, aber ich glaube, dass einfach dort ein ... sicher eine Veränderung stattfindet im Verhältnis zur eigenen Privatsphäre und wie man damit umgeht. Die machen das ja, also, viele der Menschen machen das ja nicht, weil sie das müssen, sondern weil sie es wollen und andere an ihrem Leben teilhaben lassen wollen. Und da hilft, wenn man das, wenn man da, glaube ich, dagegen arbeiten will, ich glaube, das Beste, was wir machen können, ist Aufklärung. Was passiert mit euren Daten, was können andere damit anfangen? Dieses Bewusstsein zu stärken, damit jeder auch bewusst, wenn er das tut, weiß, was dann die Folgen sein könnten.Raith: Sehen Sie denn im Umkehrschluss daher nicht den Druck, auch Druck auf Unternehmen auszuüben, das gesetzlich zu regeln?Schulz: Also, ich glaube, wir haben das im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes ja schon sehr gut geregelt. Ich denke, dass wir, gerade da muss der Staat auch mit klaren Richtlinien, mit klaren Regeln reagieren. Die deutschen sozialen Netzwerke haben darauf reagiert mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung, mit einem Vertrag, den Sie untereinander geschlossen haben, wo sie eben gerade Kinder und Jugendliche besonders schützen wollen. Und das ist ihnen für mein Empfinden auch sehr gut gelungen. Ich denke, dass wir im Bereich der international agierenden Unternehmen, die keine Niederlassung in Deutschland haben, dort noch mal nachjustieren müssen, das ist mit Sicherheit noch ein offenes Problem. Da haben wir aber das Problem natürlich auch als deutscher nationaler Gesetzgeber, dass das, was wir hier beschließen, natürlich nur schwierig greift, wenn Unternehmen im Ausland agieren.Raith: Sagt Jimmy Schulz.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jimmy Schulz im Gespräch mit Anne Raith
Google ändert die AGB und Facebook macht die Timeline zur Pflicht. Die Chronik stelle erstmals nicht mehr Informationen als schon verfügbar seien bereit, sagt der FDP-Politiker Jimmy Schulz. Er begrüßt die Idee eines digitalen Radiergummis, hält ihn in der Praxis aber nicht für umsetzbar.
"2012-01-28T08:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:43:23.535000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niemand-wird-gezwungen-mitglied-bei-facebook-zu-sein-100.html
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Wie stark steigt der Mindestlohn?
Während in vielen Branchen mehr bezahlt wird als der Mindestlohn, liegen die Stundenlöhne im Friseurhandwerk häufig genau an der Lohnuntergrenze (picture alliance/ dpa/ Karl-Josef Hildenbrand) Es wird der zweite Aufschlag der Mindestlohnkommission seit der Einführung der Lohnuntergrenze im Jahr 2015. Und wie zu erwarten, gehen die Meinungen über das richtige Maß wieder einmal deutlich auseinander. Denn alle zwei Jahre steht die Kommission vor der Aufgabe der Bundesregierung, eine Empfehlung für die künftige Höhe der allgemein verbindlichen Lohnuntergrenze auszusprechen, die dann durch eine Verordnung zum 1. Januar 2019 in Kraft gesetzt wird. Rein formal muss sich die Kommission, der drei Gewerkschafts- und drei Arbeitgebervertreter sowie ein neutraler Vorsitzender und daneben noch zwei beratende Wissenschaftler angehören, am Tarifindex des statistischen Bundesamtes orientieren. Maßgeblich soll also die durchschnittliche Entwicklung der Tariflöhne der vergangenen beiden Jahre sein. Nach dieser Vorgabe müsste der Mindestlohn um 4,8 Prozent und damit um 35 Cent auf dann 9,19 Euro pro Stunde angehoben werden. Gewerkschaften: Anhebung auf mehr als 9,30 Euro Die Gewerkschaftsvertreter argumentieren jedoch mit einer besseren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und möchten auch in dieser Runde Tarifverträge aus jüngerer Zeit - wie etwa den Abschluss im öffentlichen Dienst - mit in die Berechnung einbeziehen, was zu einer deutlich stärkeren Anhebung führen würde: "Da ist unser Vorschlag, dass der Mindestlohn auf 9,34 Euro, also über 9,30 Euro, ansteigen sollte. Unser Interesse ist, dass der Mindestlohn über alle Branchen hinweg sicherstellt, dass der Druck nach unten am Arbeitsmarkt abgefangen wird, und zwar in einer Höhe, die den Menschen wirklich eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ermöglicht", sagt DGB-Vorstand Annelie Buntenbach, die selbst jedoch nicht der Kommission angehört. Doch nach den Regeln der Kommission kann von der grundsätzlichen Regel nur unter gravierenden Umständen abgewichen werden, oder aber wenn die Kommission zu dem Ergebnis kommt, dass die absehbare Anpassung nicht hinreichend ist, um die tatsächliche und künftige Entwicklung ausreichend zu beschreiben. Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstands. (picture alliance/dpa - Bernd von Jutrczenka) Arbeitgeber: Mehr als 9,19 Euro sind nicht drin Letzeres sei der Fall, argumentieren die Gewerkschaften. Zumal sich die deutsche Wirtschaft noch immer auf einem Wachstumspfad befinde und das Niveau des deutschen Mindestlohns im europäischen Vergleich noch relativ niedrig sei. Die Arbeitgeber hatten sich bei der ersten Empfehlung der Kommission auf diese Argumentation eingelassen und einer Anhebung auf 8,84 Euro zugestimmt anstatt der statistisch ausgewiesenen 8,77 Euro. Diesmal aber, so scheint es, will sich die Arbeitgeberseite nicht erneut auf diesen Schritt einlassen: "Wir haben uns auf eine klare Dynamisierungsformel für den Mindestlohn grundsätzlich verständigt. Und die heißt: Die Mindestlohnempfänger erhalten das, was auch die aktiv Beschäftigten bei den Tariflohnerhöhungen im Schnitt bekommen haben. Das ist die Basis für alle Gespräche und das ist auch sehr vernünftig, das so zu machen", sagt Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Zumal die konjunkturelle Entwicklung ob der absehbaren Handelskonflikte, dem steigenden Ölpreis, und bereist sinkender Auftragseingänge nur schwer zu kalkulieren sei. Mehr als 9,19 Euro ist aus Sicht der Arbeitgeber nicht drin. Gelingt den Gewerkschaftern und Arbeitern in der Kommission keine Einigung, dann kommt der Vorsitzende, der frühere Arbeitsdirektor von RWE, Jan Zilius, ins Spiel. Erst mit einem Vermittlungsvorschlag und wenn der nicht angenommen wird, entscheidet seine Stimme. Möglich erscheint deshalb auch ein aufgezwungener Kompromiss, der zwischen 9,19 Euro und 9,34 Euro liegt, sofern es dafür nachvollziehbare Gründe gibt.
Von Volker Finthammer
Die Mindestlohnkommission muss heute eine Empfehlung für die künftige Höhe der Lohnuntergrenze abgeben. Die Gewerkschaften fordern mit Verweis auf die gute wirtschaftliche Entwicklung eine deutliche Anhebung. Die Arbeitgeber wollen sich nicht erneut auf eine überdurchschnittliche Erhöhung einlassen.
"2018-06-26T06:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:49.967000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommission-gibt-empfehlung-ab-wie-stark-steigt-der-100.html
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Aquakulturen zwischen Offshore-Windparks
Bela Buck steht zwischen blauen Plastik-Bottichen; größer als Badewannen. Aus einem Rohr plätschert Wasser in die Bottiche. Darin schwimmen Algen, grün-rötlich gefärbt und Bucks Forschungsobjekt. Am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung leitet der Professor eine Arbeitsgruppe, die marine Aquakulturen entwickelt. Das Ziel: Speisefische unter Offshore-Windrädern züchten. "Ich denke, die Zukunft kann nur sein, ein multiuse, also eine Mehrfachnutzung von Meeresflächen zu organisieren, und da wir eben diese Windparks haben, die per se eigentlich nur den Wind nutzen und da unten im Meer eigentlich keine weitere Nutzung haben – da eine Kombination zu organisieren. Also nicht noch mehr neue Flächen verbrauchen, sondern vielleicht das Ökosystem dahingehend zu schützen, indem man sagt: Wir kombinieren Nutzungen und lassen dafür andere Flächen frei." Buck und seine Kollegen entwickeln riesige Käfige, die zwischen den Windrädern offshore installiert werden sollen; 30 bis 40 Seemeilen von der Küste entfernt und bis zu 6000 Kubikmeter groß, das entspricht sechs Millionen Litern. Die Fische, die in diesen Käfigen leben könnten, beobachtet Buck zurzeit noch unter Laborbedingungen. Für die marinen Aquakulturen in der Nordsee kommen nur heimische Fischarten, zum Beispiel Kabeljau oder Steinbutt infrage. Die Fische sind aber nur ein Teil seines Projekts. "Wir wollen wirklich an einem ökologischen, nachhaltigen Konzept arbeiten. Das heißt: Wir wollen keine Nährstoffe on top einbringen, sondern wir wollen dieses Zero-Discharge-Konzept verfolgen und nichts anderes." "Zero discharge" bedeutet "keinerlei Rückstände" und meint, dass zum Beispiel der Kot der gezüchteten Fische nicht einfach im Wasser verbleibt – ein Problem der Fischzucht an der Küste, das Aquakultur-Anlagen in Verruf gebracht hat. Buck möchte die Meere mit seinen Offshore-Kulturen nicht schädigen und züchtet deshalb – neben Fischen - auch Algen und Muscheln. Sie sollen sich ebenfalls in den Unterwasser-Käfigen befinden und das Abwasser der Fische klären. Seit mehr als zehn Jahren erforschen die Bremerhavener Wissenschaftler, welche Algen und Muscheln mit welchen Fischen am besten zusammenpassen, und wie viele Organismen pro Käfig für ein gutes Gleichgewicht nötig sind. Zehn Jahre – das klingt lang, aber Bucks Forschungsgebiet ist Neuland. Im Gegensatz zu küstennahen Anlagen liegen seine Kulturen viele Meter unter der Wasseroberfläche, die Käfige sind starker Strömung ausgesetzt, und die Wartung ist, weit draußen auf dem Meer, auch aufwendiger. Bis der erste Fisch aus einer Windpark-Aquakultur auf dem Markt ist, wird es also noch dauern, aber Buck ist optimistisch. "Also ich würde sagen, ein Zeitraum zwischen fünf und zehn Jahren ist durchaus denkbar. Es ist ja nicht so wie hier im Labor, ich züchte hier vielleicht zehn oder 20 Fische. Da geht’s um eine Massenproduktion, das heißt, ich muss sechs, sieben, acht, neun oder vielleicht 15, 20 Tausend Fische produzieren. Das sind die Anforderungen ganz anders als meine kontrollierten Bedingungen hier im Labor." Interesse vonseiten der Offshore-Industrie und aus der Fisch-Branche ist jedenfalls vorhanden. In Workshops haben die Bremerhavener Wissenschaftler Fischern bereits gezeigt, wie Offshore-Aquakulturen gepflegt und geerntet werden. Die Zusammenarbeit mit Windanlagen-Planern und -Betreibern läuft ebenfalls. Schließlich sollen die Käfige der Aquakulturen die Arbeit in den Offshore-Windparks nicht behindern. Und dann, sagt Bela Buck, zählt natürlich auch noch die wirtschaftliche Realisierbarkeit seiner Idee. "Auf unserer Seite ist es so, dass es bei der Entwicklung der Käfige noch ein paar offene Fragen gibt. Denn es muss ein Käfig sein, der möglichst kostengünstig ist, aber gleichzeitig sehr stabil. Es ist häufig so, dass die Biologen zwar gute Ideen haben, aber die nicht immer finanzierbar sind. Und diese Fragen möchte ich erst beantwortet haben, bevor ich also da rauspresche und sage: Wir haben Fisch produziert, aber ohne diese wirklich wichtigen Fragen beantwortet zu haben."
Von Franziska Rattei
Speisefische fern von der Küste zu mästen ist bislang aufwendig, die Kombination von Fischzucht und Windenergie soll nun den Aufwand in Grenzen halten. Am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven wird an Aquakulturen zwischen Offshore-Windrädern geforscht.
"2013-12-31T11:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:53:48.035000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fischzucht-aquakulturen-zwischen-offshore-windparks-100.html
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Den Tod denken ...
Der Tod geliebter Menschen, die Debatte um die Sterbehilfe, all die Opfer von Krieg und Naturkatastrophen erinnern an unsere Vergänglichkeit. Aber wie gehen wir in einer säkulären Gesellschaft, die die medizinisch-technische Verlängerung des Lebens möglich gemacht und gleichzeitig religiöse Vorstellungen des Todes diskreditiert hat, mit dem Sterben um? Wann endet das Leben? Welche Bilder machen wir uns vom Tod? Ist er ein Tabu? Welche Freiheit zum eigenen Tod haben wir? Wie verstand man in vormodernen Kulturen den Tod und wie sieht man ihn in außereuropäischen Kulturen heute? Kann eine nachmetaphysische Kultur überhaupt eine Antwort auf das metaphysische Rätsel des Todes geben? Drängende Fragen über eine zeitgemäße Thanatologie. Es antworten der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen, der Ägyptologe Jan Assmann, der Philosoph Hans Dieter Bahr, der Medizinhistoriker Klaus Bergdolt und der Religionsphilosoph Klaus Heinrich.Sie können diese Sendung bis zu acht Wochen in unserem Audio-On-Demand-Angebot nachhören.
Eine Gesprächsreihe von Jochen Rack
Der Tod geliebter Menschen, die Debatte um die Sterbehilfe, all die Opfer von Krieg und Naturkatastrophen erinnern an unsere Vergänglichkeit. Aber wie gehen wir in einer säkulären Gesellschaft mit dem Sterben um? Wann endet das Leben? Welche Bilder machen wir uns vom Tod?
"2006-01-01T00:00:00+01:00"
"2020-02-04T12:23:54.753000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/den-tod-denken-100.html
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Das Wirrwarr beenden
Den Nahverkehr deutschlandweit mit einem Ticket nutzen: Seit dem 1. Mai ist das möglich. (imago / Lobeca / Felix Schlikis) Einsteigen, Anschnallen, den Zündschlüssel umdrehen und los: Autofahren ist so einfach. Es ist also kein Zufall, dass in Deutschland rund drei Viertel der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden. Wer Bus oder Bahn nutzt, braucht eine Fahrkarte, muss sich bisher durch Tarifsysteme kämpfen, Automaten verstehen und mitunter lange warten. Für den einzelnen mag Autofahren angenehm sein – selbst im Stau sitzt man schließlich bequem. Für für die Gesellschaft ist die Masse der Autos fatal: Viele Städte erleben täglich den Verkehrsinfarkt und der Verkehrssektor reißt wegen der Dominanz des Autos Jahr für Jahr die Klimaziele. Das Potenzial ist da Das Deutschlandticket zum Einführungspreis von 49 Euro könnte ein guter Ansatz zum Gegensteuern sein: Ein Ticket gilt für den Nahverkehr im ganzen Land, ob auf der Straße oder auf der Schiene, und das zu einem deutlich niedrigeren Preis als er üblicherweise für eine Monatskarte im Nahverkehr fällig wird. Die drei Monate, in denen im vergangenen Jahr das Neun-Euro-Ticket galt, haben gezeigt, dass das Potenzial für eine intensivere Nutzung von Bussen und Bahnen da ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. [*] 49-Euro-TicketWas bringt das Deutschlandticket? Dafür muss Bus- und Bahnfahren einfacher werden. Doch einfach ist das Deutschlandticket nur auf den ersten Blick. Wer genauer hinsieht, findet Einschränkungen und Ausschlüsse. Sie können Menschen abschrecken, die nicht so viel Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln haben – also, genau die, die neu gewonnen werden sollen. Deutschlandticket muss einfacher werden So gilt das Ticket regulär ausschließlich in Regionalbahnen der DB Regio. Manche Regionalstrecken werden aber von der DB Fernverkehr betrieben wer nicht genau hinschaut, steht schnell als Schwarzfahrer da. Der Kauf des Tickets läuft überwiegend digital, das hängt Menschen ab, die das Internet nicht nutzen oder kein Smartphone haben. Regionale Verkehrsverbünde geben auch Chipkarten aus, doch das muss man erstmal in Erfahrung bringen. Wer eine schlechte Bonität hat, muss für den Kauf einen Anbieter suchen, der auf eine Schufa-Abfrage verzichtet. Vergünstigungen für Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe und für den Ausbildungsverkehr sind Ländersache. Und dann noch der Wirrwarr bei den Konditionen: In Hessen dürfen Fahrräder und Hunde kostenlos mitgenommen werden, im Saarland nur Hunde. Mecklenburg-Vorpommern punktet dafür mit Seniorenrabatt. In Sachsen bietet der Verkehrsverbund Oberelbe ein Zusatzticket für zehn Euro, es erlaubt die Mitnahme entweder eines weiteren Erwachsenen oder eines Fahrrads, eines Hundes oder von bis vier Jugendlichen bis zum Alter von 15 Jahren. 49 Euro sind noch zu teuer Haben Sie noch den Überblick? Vermutlich nicht, und das ist ein Problem. Einheitliche und klare Regeln könnten die Akzeptanz des Deutschlandtickets deutlich verbessern. Ebenso ein Verzicht auf Preiserhöhungen: Wer Gelegenheitsfahrer in öffentliche Verkehrsmittel lenken will, muss ein billiges Ticket anbieten und dafür ist auch das Deutschlandticket für 49 Euro nicht billig genug. Wer die Monat für Monat zahlt, sollte wenigstens ein gutes und auch pünktliches Angebot haben. Heute fahren viel zu wenige Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, trotzdem sind die häufig überfüllt. Dichtere Taktfolgen könnten das ändern. Busse und Bahnen müssen auch auf dem Land so häufig fahren, dass sie eine ernsthafte Alternative zum eigenen Auto werden. Wegen des 49-Euro-TicketsDem kostenlosen ÖPNV in Augsburg droht das Aus 06:32 Minuten06.02.2023 49-Euro-FahrscheinWie man zwischen Deutschlandticket und Nahverkehrs-Abo entscheidet 03:39 Minuten21.03.2023 Deutschlandticket „Kein Ruhmesblatt in der Verkehrspolitik“ 07:03 Minuten03.11.2022 Das kostet viele Milliarden Euro. Zur Finanzierung finden sich Sparmöglichkeiten auch im Haushalt des Bundesministeriums für Verkehr. Noch immer fließt viel zu viel Geld in den Ausbau von Autobahnen, und Bundesverkehrsminister Volker Wissing will den jetzt noch beschleunigen. Mehr Straßen erzeugen mehr Autoverkehr und damit mehr anstatt weniger Staus. Um die Verkehrswende zu schaffen, muss ein großer Teil dieses Geldes in öffentliche Verkehrsmittel investiert werden. Einsteigen, hinsetzen und sich in Ruhe transportieren lassen – die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel muss bequemer und einfacher sein als Autofahren. Das Deutschlandticket ist ein Anfang, der auch den Blick darauf lenkt, wie viel noch fehlt. [*] Anmerkung der Redaktion: Wir haben an dieser Stelle eine fehlerhafte Zeitangabe korrigiert.
Ein Kommentar von Georg Ehring
Nun ist es da: Deutschlandweit kann man den ÖPNV mit einem Ticket nutzen. Ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings werde das Deutschlandticket von Sonderregeln in den einzelnen Bundesländern gehemmt, kommentiert Georg Ehring.
"2023-05-01T06:05:00+02:00"
"2023-05-01T06:05:00.009000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-49-euro-ticket-bundesweit-gueltig-100.html
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Deutscher Mieterbund zieht schlechte Bilanz
Hamburg: Laut Vergleichsrechungen liegen die Preise bei Dreiviertel aller neuen Mietverträge auch in der Hansestadt über dem Niveau. (picture alliance / dpa / Axel Heimken) Die Klage über die Wirkungslosigkeit der von der großen Koalition vor zwei Jahren eingeführten Mietpreisbremse ist nicht neu. Erst vor wenigen Wochen hatte die Bundestagsfraktion der Grünen eine Studie vorgestellt, die Anhand von Vergleichsrechnungen in Berlin Hamburg und Stuttgart nachgewiesen hatte, dass in diesen Städten im Schnitt Dreiviertel aller neuen Mietverträge deutlich über dem Niveau liegen würden, was die Mietpreisbremse bei genauer Auslegung eigentlich zu lassen würde. Die Koalition habe einen richtigen Ansatz schlecht umgesetzt, betont Franz Georg Rips, der Präsident des Deutschen Mieterbundes. "Das Gesetz war schlechtweg unbrauchbar und hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Im Gegenteil es sind immer wieder Ausweichmanöver erfunden worden. Es fehlen einfach wesentliche Inhalte zu einer wesentlichen Mietpreisbremse." Deshalb fordert der Mieterbund klare Nachbesserungen, damit die Mieter nicht noch weiter draufzahlen müssen. So soll der Vermieter beim Abschluss des Mietvertrages nachprüfbare Angaben zur Vormiete und den angefallenen Modernisierungskosten machen, wenn die von ihm geforderte Miete die Mietpreisbremsen-Obergrenze überschreitet. Außerdem soll der Vermieter bei einer nachweisbaren Überschreitung der Obergrenze dazu verpflichtet werden, den überzähligen Mietanteil, von Beginn des neuen Mietverhältnisses an zurückzuzahlen. Keine wirkliche Unterstützung von der Großen Koalition Aus der großen Koalition hätten die Mieter in den vergangenen Jahren keine wirkliche Unterstützung erfahren, konstatierte Rips, auch wenn sich Justizminister Heiko Maas um mietergerechte Reformen bemüht habe. "Aber ausgebremst worden sind dies Vorstellungen weitgehend von der CDU/CSU in der Koalition und das hat im Ergebnis dazu geführt, dass die sogenannte 2.Tranche der Mieterrechtsreform, die sich befassen sollte mit klaren Regelungen zum Mietspiegel, mit einer Neubestimmung des Kündigungsrechts und mit einer Maßgeblichkeit der Wohnfläche für die Betriebskostenabrechnung und Mieterhöhungen, dass die nicht umgesetzt worden ist." So sei es noch nicht einmal zur Kabinettsbefassung zu diesen Fragen gekommen, kritisiert der Mieter Bund. Dabei würden in Deutschland derzeit 1 Mio. Wohnungen fehlen. Um der wachsenden Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum gerecht zu werden, seinen allein 140.000 neue Mietwohnungen pro Jahr notwendig von denen mindestens 80.000 Sozialwohnungen sein sollten. Allerdings steigt der Bund durch die Föderalismusreform im Jahr 2019 ganz aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus aus. Den sollen dann allein die Länder finanzieren. Eine falsche Entscheidung, sagt der Direktor der Mieter Bundes Lukas Siebenkotten. "Wir halten es für dringend erforderlich, dass der Bund in der Mitverantwortung für den sozialen Wohnungsbau bleibt. Da ist vor allem deshalb erforderlich, damit der Bund Geld dafür gegen darf . Es muss eine Gemeinschaftsaufgabe bleiben. Wir halten nichts davon, wenn das alleine eine Aufgabe der Bundesländer wird." Zumal der Bund die Fördermittel in diesem Jahr auf 1,5 Mrd. aufgestockt habe. Notwendig seien jedoch 3 Mrd. und die klare Zweckbindung für die Länder damit die das Geld nicht, wie in Berlin geschehen, zur Schulden Tilgung einsetzen würden.
Von Volker Finthammer
Trotz Einführung der Mietpreisbremse liegen die Verträge in vielen Städten deutlich über dem Niveau. Der Mieterbund fordert deswegen Nachbesserungen von der Politik. Nach Ansicht des Mieterbunds haben vor allem die Unionsparteien Reformen ausgebremst.
"2017-06-06T13:21:00+02:00"
"2020-01-28T10:31:05.636000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mietpreisbremse-deutscher-mieterbund-zieht-schlechte-bilanz-100.html
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Schwerpunktthema: die Tiefenhirnstimulation
Das entsprechende Schrittmacheraggregat wird den Patienten im Bereich des Schlüsselbeins implantiert und über Kabel, die unter der Haut verlaufen, mit den Hirnelektroden verbunden. Vor allem bei der als "Schüttellähmung" bekannten Parkinsonerkrankung und bei Epilepsie zeigt die THS gute Ergebnisse. Die Sprechstunde berichtete live aus der neurochirurgischen Klinik der Universität Düsseldorf. Moderation: Carsten Schroeder. Experte am Mikrofon: Prof. Dr. Alfons Schnitzler, Direktor des Instituts für Klinische Neurowissenschaften und Medizinische Psychologie der Uniklinik Düsseldorf. Live-Reporter: Christian Floto.
null
Es klingt nach einer riskanten Therapieform, doch sie hat sich den letzten Jahren etabliert: die Tiefenhirnstimulation (THS). Elektroden, die ins Gehirn implantiert werden, sollen krankhaft veränderte Nervenaktivität durch hochfrequente elektrische Impulse positiv beeinflussen.
"2013-01-22T10:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:04:44.142000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwerpunktthema-die-tiefenhirnstimulation-100.html
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Aktivisten nach Kritik am Präsidenten verschwunden
Chinas Staatspräsident Xi Jinping (picture alliance / dpa / How Hwee Young) Ein anonymer Online-Artikel, in dem Chinas Staatschef Xi Jinping zum Rücktritt aufgefordert wird, macht die Staatsmacht in Peking offenbar nervös. Rund 20 Menschen sind nach Angaben von Menschenrechtlern seit Erscheinen des Artikels verschwunden - allem Anschein nach sind sie von der Polizei mitgenommen worden. Journalisten und Aktivisten spurlos verschwunden Zum einen sind nach Angaben von Aktivisten mehrere Journalisten einer chinesischen Online-Nachrichtenseite verschwunden. Die Webseite hatte die Rücktrittsforderung Anfang März veröffentlicht. Zum anderen gehen die chinesischen Behörden offenbar auch gegen Verwandte von Exil-Chinesen vor, die mit dem Schreiben zu tun haben sollen. Der in Deutschland lebende Journalist Chang Ping teilte mit, zwei Brüder und eine Schwester von ihm seien in Südchina von der Polizei verschleppt worden. In einem Artikel für die Bürgerrechts-Webseite "China Change" schreibt der Journalist, die chinesischen Behörden hätten seine Familienmitglieder aufgefordert, Druck auf ihn auszuüben, damit er künftig keine regierungskritischen Artikel mehr veröffentlicht. Chang Ping schreibt unter anderem Kolumnen für die Deutsche Welle. Mit der anonymen Rücktrittsforderung habe er aber nichts zu tun, betonte der Journalist. Auch der in den USA lebende Blogger Wen Yunchao berichtete am Wochenende, seine Eltern und ein Bruder von ihm seien in der südchinesischen Provinz Guangdong abgeführt worden. Scharfe Kritik an Xi Jinpings Politik Die anonyme Rücktrittsforderung, um die es geht, wurde zuerst auf einer regierungskritischen Webseite im Ausland veröffentlicht - dann aber auch in China auf eine Nachrichtenseite gestellt. In dem offenen Brief werden Chinas Staatschef Xi Jinping und seine Politik scharf kritisiert - er wird zum Rücktritt aufgefordert. Unterschrieben ist der Brief von "treuen kommunistischen Parteimitgliedern", wie es heißt. Die chinesischen Zensoren haben die Rücktrittsforderung schnell aus dem Netz entfernt, auch jede Diskussion darüber wurde unterbunden. Auf internationalen China-kritischen Webseiten sorgt das Vorgehen seit Tagen für großes Aufsehen. Durch das Verschwinden von Journalisten, Aktivisten und sogar Verwandten von Exil-Chinesen könnte sich das Ganze weiter hochschaukeln.
Von Steffen Wurzel
In China sorgt seit Tagen ein anonymer Online-Artikel für Furore. Staatschef Xi Jinping wird darin zum Rücktritt aufgefordert. Menschenrechtler kritisieren, dass seit Erscheinen des Artikels 20 Menschen festgenommen wurden - Aktivisten, Journalisten und Verwandte von Exil-Chinesen.
"2016-03-28T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:20:52.997000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/china-aktivisten-nach-kritik-am-praesidenten-verschwunden-100.html
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"Der Islam ist keine Religion, die mich unterdrückt"
Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur. (picture alliance / dpa/ Hermann Josef Wöstmann) "Kann man Feministin und trotzdem gläubige Muslimin sein? Das ist ja das gängige Vorurteil hier in Deutschland, dass jemand der emanzipiert ist, nicht Muslimin sein könne. Die müsse irgendetwas in ihrer Religion aufgegeben haben, vergessen haben, nicht ganz authentisch Muslimin sein. Ich wollte nachweisen, dass es durchaus sehr viele Leute gibt, für die das kein Widerspruch ist, dass Frauen sich durchaus als emanzipiert, als gleichberechtigt, als feministisch verstehen und sagen: Das bin ich und bin natürlich Muslimin, Ich kann das aus meinen eigenen Texten heraus begründen: für mich ist der Islam keine Religion, die mich unterdrückt, Sondern – im Gegenteil – es gibt extrem viel Potential in dieser Religion, wie ich muslimisch Frauenbefreiung begründen kann." Katajun Amirpur ist Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg. Ihre Bücher richten sich an ein breites Publikum. Ihr bisher bekanntester Band heißt: "Den Islam neu denken", es ist eine Sammlung von Portraits. Sie stellt darin einige der einflussreichsten Reformdenkerinnen und -denker des Islam vor, vom Exil-Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid, einem bedeutenden Koran- und Literaturwissenschaftler, bis zur afroamerikanischen Theologin und Feministin Amina Wadud. Amirpurs Buch trägt den Untertitel: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. "Dschihad ist ja etwas, das wir gänzlich negativ assoziieren. Wenn man diesen Namen – Dschihad – schon hört, sträuben sich einem die Nackenhaare und man denkt an bärtige Männer mit dem Säbel in der Hand, die das Abendland gewaltsam islamisieren wollen. Für viele Frauen ist aber gerade ihr Kampf für mehr Frauenrechte ein Dschihad, Es muss nicht mit Waffen sein, mit der Waffe des Wortes geht es genauso so. Sie setzen sich dafür ein, das ist ihr Mühen, Um das mal umzudrehen, um mit der Assoziation zu spielen, habe ich es den "Dschihad der Frauenrechte" genannt. Ausgangspunkt für die Reformansätze ist die Art und Weise, wie diese modernen Denkerinnen und Denker mit dem Koran umgehen. Sie sehen ihn nicht als wortwörtliche Rede Gottes, sondern als Wort Gottes in menschlicher Sprache. "Dann kann man viel mehr argumentieren, dass Gott in Beispielen redet, dass er sich an Situationen anpasst, dass manches nicht mehr so verstanden werden kann, wie es im siebten Jahrhundert verstanden worden ist, diese Art, das aufzufassen: man sagt, es ist göttlich inspiriert, göttlich inspirierte Sprache, aber natürlich umgeformt in menschliche Sprache, die Sie und ich verstehen können, bietet mehr Möglichkeiten zur Interpretation. Ist aber jetzt auch kein völlig neuer Gedanke, sondern das ist durchaus auch in grauer Vorzeit schon mal so formuliert worden." Die Reaktionen auf Amirpurs Band waren äußerst positiv: Als "Standardwerk für den modernen muslimischen Umgang mit dem Koran" wurde das Buch von Experten bezeichnet. Aber die Rezensionen ärgerten Amirpur auch. Sie betonten, wie interessant das Buch und wie gut geschrieben es sei. Aber in fast jeder dieser Rezensionen stand auch: Die vorgestellten Positionen müssten wohl absolute Minderheitenpositionen sein. Amirpur weist das entschieden zurück. "Zum Beispiel Amina Wadud – das ist eine Afroamerikanerin, die heute noch lebt, die als solche muslimische, islamische Feministin gilt. Was sie sagt, sagen mir auch meine Studentinnen im Unterricht. Für die Mädchen, die ein Kopftuch tragen und da sitzen und studieren ist das überhaupt kein Widerspruch, gleichberechtigt sein zu wollen und gläubige Muslimin zu sein." Diese Vorstellung sei bei ganz normalen Muslimen heute eine Selbstverständlichkeit, berichtet Amirpur. Die Frauen müssten nicht einmal aus einer besonders gebildeten Familie stammen, um so zu denken. "Sie sagen: Natürlich habe ich das gleiche Recht zu studieren wie mein Bruder, natürlich will ich den gleichen Lohn haben und natürlich muss mein Mann zuhause helfen, weil wir beide arbeiten. Das ist für die wirklich so natürlich, wie man sich gar nicht vorstellen kann." Ein altes Stadthaus mitten in der Kölner Innenstadt. Wer von der Hauptverkehrsstraße durch das Tor in den Innenhof tritt, steht in einer kleinen grünen Oase. Katajun Amirpur pendelt zwischen Hamburg, der Akademie der Weltreligionen, an der sie lehrt, und Köln, wo sie mit ihrer Familie lebt - ihrem Mann, dem Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani und zwei Töchtern. In Köln wurde sie auch geboren, im Jahr 1971. Der kulturelle und religiöse Dialog, für den sie sich einsetzt, wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. "Ich bin als Tochter eines Iraners und einer Deutschen aufgewachsen. Diese beiden Kulturen waren bei uns zuhause immer präsent." Ihr muslimischer Vater war Kulturattaché unter Schah Mohammed Reza Pahlavi, ihre Mutter ist Christin. Der religiöse und kulturelle Dialog, mit dem Katajun Amirpur aufgewachsen ist, habe gut funktioniert, sagt sie. "Ich denke mir: Das kann gehen, das kann bereichernd sein, wenn man vom Glauben und von der Kultur des Anderen viel erfährt. Das ist nichts, was einen zerreißen muss, nichts was bedrohlich ist, sondern im Gegenteil: es ist wirklich ein zusätzlicher Reichtum, den man haben kann." Amirpur studierte Politik und Islamwissenschaft in Bonn, und anschließend anderthalb Jahre lang schiitische Theologie in Teheran. Zu beiden Ländern, Iran und Deutschland, hat sie eine enge Bindung. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet Katajun Amirpur auch als Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der "Blätter für deutsche und internationale Politik" und schreibt häufig für überregionale Zeitungen. Sie ist Schiitin gehört damit einer Minderheit unter den Muslimen in Deutschland an. Ihren Studierenden in Hamburg stellt die Professorin sowohl die sunnitische als auch die schiitische Sichtweise vor, etwa, wenn das Thema frühislamische Geschichte auf dem Lehrplan steht. Und Amirpur legt Wert darauf, auch unterschiedliche Positionen innerhalb des sunnitischen Spektrums aufzuzeigen. "Wichtig finde ich speziell für einen in Deutschland gelebten Islam, dass man sich sehr klar darüber ist, dass diese Unterschiede bestehen, dann kann man sich für seine eigene Position entscheiden, man darf die andere nicht verteufeln oder verdammen, sondern muss letztlich sagen – wie das gute islamische Tradition ist, letztlich weiß es nur Gott – was da die richtige Variante war und ist und dann versucht man mit diesen verschiedenen Positionen zu leben, Das hat in der islamischen Geschichte auch ganz gut geklappt, Da war man durchaus auch offen und konnte mit so einer Meinungspluralität leben."
Von Monika Konigorski
Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sucht gezielt nach Denkerinnen und Denkern, die sich für Emanzipation stark machen. Und sie wird fündig: Der Schlüssel liege in einer kritischen Koranlektüre.
"2016-03-30T09:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:21:02.854000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/islam-und-emanzipation-teil-2-der-islam-ist-keine-religion-100.html
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Nach "Pegida" nun auch "Endgame"
"Endgame" ist aber aber auch die Abkürzung für "Engagierte Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas." Am Samstagnachmittag soll es mit einer Kundgebung vor dem Erfurter Hauptbahnhof losgehen. Dann ist ein Marsch von "Endgame" durch die Erfurter Innenstadt geplant. Auch Gegenkundgebung in Vorbereitung Wie die "Thüringische Landeszeitung" berichtet, wurde auch eine Gegendemonstration angemeldet. Über etwaige Auflagen für die Endgame-Demos habe die Stadtverwaltung noch nicht entschieden. Endgame mobilisiert im Netz Das Logo von "Endgame" (Facebook-Seite von "Endgame") Mobilisiert wird für "Endgame" vor allem im Internet. Auf Facebook wird seit gut zwei Wochen zu der Demo aufgerufen. Unter den benannten Rednern sind mehrere Personen, die bereits bei Kundgebungen von Pegida und deren Ablegern aktiv geworden sind. Angekündigt wird unter anderem der als "ehemaliger Polizist" bezeichnete Stephane Simon. Bei Facebook ist ein Video von der Internetplattform "YouTube" eingebunden, bei dem Simon den Angaben zufolge eine Live-Schaltung der heute-Nachrichten des ZDF stört. Dazu springt er ins Bild und ruft unter anderem "Ihr seid alle Lügner". Bewegung betont das Anti-Amerikanische "Endgame" tritt insbesondere anti-amerikanisch auf und wendet sich gegen die Nato. Sie sprechen von "US-Vorherrschaft und US-Propaganda". In der Selbstbeschreibung positionieren sie sich ferner "gegen Folter, Drohnenmorde, Totalüberwachung". Neben Überschneidungen mit Pegida erinnert die Gruppe mit ihren Thesen auch an die umstrittenen sogenannten Montagsmahnwachen bzw. Montagsdemos, die sich seit Frühjahr vergangenen Jahres als Friedensbewegung darstellen. Auch Stephane Simon war auf diesen Veranstaltungen bereits aktiv.
null
Die Demonstrationen von Pegida sind noch in vollem Gange, da bereitet man sich in Erfurt bereits auf die Mobilisierung durch eine neue Gruppe vor. Sie nennt sich "Endgame". Das klingt martialisch und bedeutet zu Deutsch Endspiel.
"2015-01-21T16:12:00+01:00"
"2020-01-30T12:18:00.157000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/amerika-gegner-mobilisieren-in-erfurt-nach-pegida-nun-auch-100.html
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"Es ist eine Zeitenwende"
Einem Protokoll des Gesprächs zufolge legte Trump Selenskyj telefonisch nahe, gegen seinen politischen Rivalen Joe Biden zu ermitteln (AFP/ Mandel Ngan) Dirk-Oliver Heckmann: In Washington scheint sich die Aufregung nicht zu legen. Im Gegenteil: Die Vertreter beider Seiten, Republikaner wie Demokraten, stellen sich auf einen Wahlkampf ein, der so wohl noch nicht geführt wurde. Allen voran setzt Donald Trump den Ton. Mit einer Serie von Tweets rief er die Republikaner zur Geschlossenheit auf. Das Land sei in Gefahr. Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt der Politikwissenschaftler Andrew Denison, der Leiter des Think Tanks Transatlantic Networks. Schönen guten Tag, Herr Denison. Andrew Denison: Guten Tag, Herr Heckmann! Heckmann: Herr Denison, die Demokraten sprechen von einem Mafiaboss-Ton, den Donald Trump da anschlägt. Wie würden Sie die Vorgänge, die Sie hier aus Deutschland heraus beobachten, in Washington beschreiben? Denison: Erstens würde ich sagen, "stranger than fiction". Man hätte das nicht erfinden können. Zweitens: Ich würde sagen, geschichtsträchtig. Es ist eine Zeitenwende hier, eine Eskalation - eine Eskalation, die wegen neuer schwerwiegender Erkenntnisse notwendig geworden ist. So würde ich das beschreiben. Wo es hingeht und wie dieser Konflikt, diese Eskalation ausgetragen wird, da rätseln wir alle. "Zwei Drittel der 100 Senatoren müssen dafür sein" Heckmann: Inwieweit Zeitenwende? Denn ein Amtsenthebungsverfahren hat es ja bereits schon zweimal gegeben in der Geschichte der USA. Denison: Ja. Wir haben in Erinnerung Bill Clinton. Es ist zum Senat gegangen. Es gibt diese hohe Hürde, wie Ihre Zuhörer wissen: Zwei Drittel der 100 Senatoren müssen dafür sein; sonst bleibt er im Amt. Das hat er nicht geschafft. Bill Clinton war beliebter am Ende seiner Amtszeit als am Anfang. Richard Nixon - da war schon der Verdacht, dass es ein Amtsenthebungsverfahren geben könnte, und er war weg. Dann war es nach dem Bürgerkrieg schon lange her. Was ich mit dieser Aufzählung sagen will, ist, dass das nicht so oft vorkommt in der Geschichte dieser alten Republik. Das ist eine neue große Herausforderung. Der US-Politikberater und -wissenschaftler Andrew Denison. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler) Heckmann: Nancy Pelosi, die Führerin der Demokraten, hatte sich ja lange gegen ein Impeachment gestemmt, weil sie ganz genau weiß, die Hürden sind groß und hoch. Sie haben es gerade angesprochen. Ein Amtsenthebungsverfahren kann auch am Schluss auf die Demokraten zurückfallen. Jetzt aber haben sich die Demokraten entschieden zu springen. Aber offiziell, Herr Denison, ist das Impeachment ja immer noch nicht eingeleitet. Weshalb dauert das so lange? Denison: Das ist natürlich ein Prozess, der schrittweise vorangeht, wo wir denken, dass es große Hürden gibt, bevor man das macht. Vor allem: Man braucht ausreichende Mehrheiten. Man braucht dahinter einen Konsens, einen politischen Willen, das durchzuziehen. Heckmann: Aber die Mehrheit der Demokraten scheint ja da zu sein. Denison: Ja, die ist gerade gekommen. "Keine Entamtung, aber eine Entmachtung" Heckmann: Kann Pelosi noch zurück? Denison: Zweitens natürlich die Risiken. Deshalb hat man bis jetzt nicht die Mehrheiten der Demokraten bekommen. Die neue Natur der Ereignisse, was Trump jetzt gemacht hat, statt 2016 - und da führt Politik vielleicht vor Meinung -, hat in den Reihen der demokratischen Fraktion zur Änderung geführt. Nancy Pelosi, die Führerin der Fraktion, sagt auch, er ist jetzt in meinem Steuerhaus. Das heißt, sie kennt sich mit dieser Art von Auseinandersetzungen, die mit Aufklärung und Diensten und Außenpolitik zu tun haben, viel besser aus als das, was Trump vorher vorgeworfen ist und was im Wege von einer Untersuchung steht. Die Demokraten haben in diesem Sinne jetzt eine kritische Masse, um das nach vorne zu tragen, und mit einer Mehrheit, die sie jetzt haben, auch eine Klageschrift an den Senat weiterzuleiten. Das führt nicht unbedingt zur Entfernung Donald Trumps aus dem Weißen Haus, keine Entamtung, aber eine Entmachtung schon. Heckmann: Herr Denison, Trump hat ja jetzt den Whistleblower ganz aktuell als Spion bezeichnet. Mit solchen Leuten wäre man früher anders umgegangen. Verrät Trump die amerikanischen Werte? Denison: Ich würde sagen, ja. Aber ich weiß auch, dass ich seine Unterstützer irgendwie abholen muss. Wir kennen auch Trump lange genug, um zu wissen, wenn er jemand was vorwirft, dann ist er oft selbst schuld, dieses Verbrechen oder diesen Verstoß begangen zu haben, und wenn er von Landesverrat spricht, ja, dann hat er es gewählt. Das kann ihm natürlich nicht helfen. Man denkt immer, was sind Trumps größte Schwächen, und ich komme zuerst zu seinem Temperament, dass er zu impulsiv reagiert und dass er das immer schlimmer macht, und so sehen wir seine Reaktion. Vielleicht noch ein letzter Punkt: Die Meinungsumfragen ändern sich schnell. Gerade heute um sechs Uhr morgens gab es eine neue Meinungsumfrage von Politico und Morning Consult, und die sagen, dass die Republikaner anfangen, sich zu bewegen - von fünf auf zehn Prozent der Republikaner unterstützen dieses Verfahren -, dass wir jetzt gleich viele Leute haben in Amerika, die ein Amtsenthebungsverfahren unterstützen, wie nicht. Das ist auch eine Zeitenwende und das muss man feststellen. "Sobald Amerikaner davon hören, denken sie an Nixon" Heckmann: Herr Denison, gestern ist ja diese Meldung des Whistleblowers veröffentlicht worden. Nicht nur, dass ihm ein Dutzend Zeugen, die das Telefon mitgehört haben sollen oder das Protokoll gelesen haben sollen, berichtet hätten, Trump habe den ukrainischen Präsidenten Selenskyj unter Druck gesetzt, nämlich diese Ermittlungen gegen Joe Biden und seinen Sohn einzuleiten. Er hat ja auch berichtet, dass Mitarbeiter von Trump dafür gesorgt hätten, dass die wörtliche Abschrift dieses Telefonats auf einem speziellen Server abgelegt wurde, der sonst Staatsgeheimnissen vorbehalten ist. Wie schwerwiegend ist der Verdacht, der damit im Raum steht, nämlich der Behinderung der Justiz? Denison: Dieser Verdacht der Behinderung der Justiz verstärkt den Verdacht, dass Trump mutwillig gegen amerikanische Gesetze und Interessen gehandelt hat, wie Pelosi sagt, ein Verrat. Und diese complaint, nennen wir das - das ist eine Art Klageschrift, da sind Punkte aufgelistet -, die in sich ist phänomenal, dass so was existiert und dass das so zusammengezogen worden ist aus den Aussagen vieler verschiedener Zeugen. Und jetzt gibt es, wie Sie auch gesagt haben, neue Erkenntnisse, the cover-up. Sobald Amerikaner davon hören, denken sie an Nixon, weil am Ende hat er mehr Probleme verursacht in dem Versuch, seinen Verstoß zu verstecken, als der Versuch selbst. Dieses Telefonat war in sich schlimm genug. Der cover-up ist neu. Davon lernen wir, wie ernst sie das genommen haben. Aber das Zentrum der neuen Untersuchungs-Stoßwelle ist Trumps Versuch, seine Macht zu missbrauchen, um im Wahlkampf Vorteile zu gewinnen. Heckmann: Wobei Selenskyj selbst ja bestreitet, unter Druck gesetzt worden zu sein. Das gehört zum gesamten Bild ja auch dazu. Da müssen wir, denke ich, abwarten, was die weiteren Ermittlungen ergeben. – Aber in dem Zusammenhang, Herr Denison, die Frage: Wie groß ist denn die Gefahr, dass Trump dieses Verfahren jetzt nutzt, um die Demokraten als Feinde der Institution Präsidentschaft zu brandmarken, und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das verfängt bei seinen Anhängern? Denison: Erstens: Die Gefahr, dass er das macht, ist natürlich sehr groß. Das ist seine Methode. Und wir haben auch festgestellt: Je vehementer er vorgeht, desto mehr Angst hat er wahrscheinlich. Was er den anderen vorwirft, ist oft sein Verstoß selbst. Die Frage ist daher, ob er fähig sein wird - ob er fähig ist oder nicht, ist eine andere Frage -, ob seine Anhänger ihm hinterherrennen werden, weiter unterstützen, weil wenn sie ihn verlassen, müssen sie so viel Kreide fressen, und dann ist die Republikanische Partei kaputt und sie wissen nicht, was zu tun ist. Aber diese Republikaner, die alle vor dem Wahlkampf stehen, im Repräsentantenhaus und im Senat, und ihre Anhänger auch, die wissen: Es könnte eine verheerende Niederlage sein und der Versuch, die Versuchung, doch Trump zu verlassen, einen neuen Kandidaten zu finden, der 2020 gegen einen demokratischen Kandidaten gehen könnte, so was ist nicht unerhört. Ihre Zuhörer wissen: Jimmy Carter hatte 1980 einen Konkurrenten in Ted Kennedy, und das machte ihn schwächer. Wenn ein Kandidat gegen Trump für die republikanische Nominierung kandidieren würde, ja dann wüssten wir auch, die Mauern fallen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andrew Denison im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Das Telefonat von US-Präsident Donald Trump mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj sei "schlimm genug", sagte der Politologe Andrew Denison im Dlf. Aber für noch zentraler hält er den Versuch der Vertuschung. Dies erinnere an die Watergate-Affäre von Richard Nixon.
"2019-09-27T12:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:12:26.144000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/amtsenthebungsverfahren-gegen-trump-es-ist-eine-zeitenwende-100.html
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Hongkong feiert und protestiert
Hongkong bereitet sich auf die Feierlichkeiten vor. Seit 20 Jahren ist es Sonderverwaltungszone, gehört aber zur Volksrepublik China. (Deutschlandradio / Steffen Wurzel) Ab heute dürfte sich die Nervosität in Hongkong deutlich steigern. Denn der chinesische Staatschef Xi Jingping wird in der Stadt erwartet. Am Wochenende ist er bei den offiziellen 20-Jahr-Feierlichkeiten dabei. Es werde alles für die Sicherheit des chinesischen Staatspräsidenten getan, erklärt der zuständige Mitarbeiter der Hongkonger Polizei. Nichts soll die patriotisch-chinesischen Feiern am 1. Juli stören. Doch Proteste wird es geben. Joshua Wong, Studentenaktivist und Mitbegründer der prodemokratischen Partei Demosisto: "Wir werden Präsident Xi mit einer Demonstration empfangen. Wir sind sicher, dass am 1. Juli eine Menge Menschen auf die Straßen gehen wird um zu zeigen, dass die Zeit für Demokratie gekommen ist." Anders als im Rest Chinas herrschen in Hongkong Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Doch diese und andere Bürgerrechte werden aus Sicht vieler Hongkonger zunehmend aufgeweicht. Eine sehr aktive Zivilgesellschaft protestiert gegen den wachsenden Einfluss Festlandchinas und fordert volle Demokratie für die chinesische Sonderverwaltungszone. Die Menschen in Hongkong haben andere Grundeinstellungen als die in Festlandcha, sagt Anson Chan. Die 77-Jährige war während der Übergabe der Stadt an China die Nummer zwei der Hongkonger Regierung. Und sie könne verstehen, dass viele vor allem junge Leute nichts mit den nationalistisch anmutenden Jubelfeiern am Wochenende anfangen können. Eine Frage der Identität, sagt Anson Chan. Menschen sehen sich nur ganz am Schluss als Chinesen "Viele sehen sich als Hongkonger, erst dann als Hongkong-Chinesen und nur ganz am Schluss als Chinesen. Das liegt an der größer werdenden Einmischung Pekings." Das seit der Übergabe der Stadt vor 20 Jahren geltende Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" werde zunehmend aufgeweicht. Hongkongs neue Regierungschefin Carrie Lam betont immer wieder, dass sie dieses Prinzip und die weitreichenden Autonomierechte der Ex-Kolonie schützen werde. Aber: "Meine erste Aufgabe wird es sein, den Menschen zu erklären, dass eine enge Beziehung Hongkongs zu Festlandchina den Wohlstand und die Stabilität der Stadt fördern."
Von Steffen Wurzel
Am Samstag wird in Hongkong an den 20. Jahrestag der Übergabe der Stadt erinnert. Während die Peking-treuen Hongkonger feiern, haben Demokratie-Aktivisten zu Protesten aufgerufen, denn in ihren Augen wird das eigentlich geltende Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" zunehmend aufgeweicht.
"2017-06-30T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:51.339000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/20-jahre-sonderverwaltungszone-hongkong-feiert-und-100.html
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Manche Schädlinge mögen's heiß
Insekten mögen es warm. Ihre Eier schlüpfen bei höheren Temperaturen schneller und die hungrigen Larven machen sich früher auf die Suche nach Nahrung. Um Nutzpflanzen vor den gefräßigen Insekten zu schützen, setzen die Landwirte deshalb schon viel eher im Jahr Pestizide ein. Wenn die Temperaturen steigen, wird es außerdem immer mehr Flächen geben, die landwirtschaftlich genutzt werden können. Denn der Anbau von Gemüse oder Getreide lohnt sich dann auch in Regionen, in denen es bisher zu kalt war. Auch das führt dazu, dass in Zukunft mehr Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt werden müssen, sagt Matthias Liess vom Helmholtz Zentrum für Umweltforschung in Leipzig."Diese Effekte werden vor allem im Norden von Europa, das heißt, Schweden, Finnland Dänemark von größerer Bedeutung sein als im Vergleich zu Mitteleuropa, weil dort die Erhöhung der Temperatur mehr als in anderen Bereichen Europas zu einer Vermehrung der Schadinsekten führen wird, weil dort die Temperatur limitierend ist. Im Süden von Europa ist die Entwicklung der Schadinsekten nicht limitiert durch die Temperatur. Eine weitere Erhöhung der Temperatur dort bringt den Schadinsekten nicht so viel." Um eine Prognose für die Zukunft abgeben zu können, hat der Ökologe verglichen, wie die Temperatur und die verwendeten Pestizidmengen in verschiedenen Ländern zusammenhängen. Dabei stellte er fest: Desto höher die mittlere Temperatur, desto größer ist die Menge der eingesetzten Schädlingsbekämpfungsmittel."Wir haben dann natürlich vorhandene Klimamodelle verwendet um diesen Zusammenhang hochzurechnen. Also den Zusammenhang, den wir jetzt schon sehen können aufgrund der erhöhten Temperatur und der Anwendung von Pestiziden. Das kann man relativ einfach hochrechnen und sagen, wenn es in Finnland so warm wird wie in Deutschland, dann werden sie so viel Pestizide anwenden wie wir jetzt in Deutschland anwenden." Pestizide bringen jedoch nicht nur Pflanzenschädlinge um - sie wirken gleichermaßen auf nützliche Insekten. Deshalb bringen sie rasch das Gleichgewicht in einem Ökosystem durcheinander, weil nur die unempfindlichsten Arten die Giftattacke überleben. Zudem reichern sich die Insektizide in der Umwelt an und schädigen durch ihre giftige Wirkung auch andere Organismen - vor allem in Gewässern. Für die dort vorkommenden Lebewesen bedeutet der Klimawandel also mehrfachen Stress: Sie müssen sich an höhere Wassertemperaturen anpassen und mit größeren Schadstoffmengen zurechtkommen. Zusätzlichen Druck könnten die Organismen dadurch bekommen, dass der Klimawandel den Salzgehalt in Gewässern durcheinander bringt. Diesen Effekt hat Ben Kefford vom australischen Royal Melbourne Institut für Technologie untersucht. "Der Salzgehalt von Gewässern ändert sich durch den globalen Kreislauf zwischen Regen, Verdunstung und dem Wasser, dass die Pflanzen aufnehmen. Wenn sich dieses Gleichgewicht durch den Klimawandel verschiebt, ändert sich also auch die Menge an anorganischen Stoffen, die im Wasser gelöst sind. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Salzgehalt ändern wird und das wird sich natürlich auf die Organismen auswirken." Ben Kefford und seine Kollegen haben Daten über den Salzgehalt in australischen Gewässern ausgewertet. Seit 1963 werden diese gesammelt. Dabei haben sie beobachtet, dass der Salzgehalt als Folge des Klimawandels schwankt. Gleichzeitig haben sie im Labor gemessen, wie sich diese Veränderungen auf Wassertiere auswirken. Beispielsweise auf Würmer, Schnecken oder Krebse. "Es ist schwierig vorauszusagen, wie genau die Folgen aussehen werden, weil wir nicht wissen, ob der Salzgehalt zu- oder abnehmen wird. Beides wirkt sich aber auf die Organismen aus, denn sie geraten in Stress, weil sie ihr ökologisches Gleichgewicht bewahren müssen. Wasser hat die Tendenz, in den Körper einzudringen, wenn der Salzgehalt dort größer ist. Auf der anderen Seite sorgt der osmotische Druck dafür, dass Wasser aus dem Körper strömt, wenn der Salzgehalt im Wasser höher ist. Ändert sich die Menge an anorganischen Stoffen im Wasser, muss ein Organismus also zusätzliche Energie dafür aufwenden, Wasser in den Körper hinein oder wieder heraus zu pumpen."Weil manche Arten mit diesem zusätzlichen Stress besser zurechtkommen, wird sich die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften ändern, sagen die Forscher voraus. Der Klimawandel wird also voraussichtlich einmal mehr dafür sorgen, dass unempfindliche Organismen im Vorteil sind.
Von Christine Westerhaus
Eine weniger beachtete Folge der Klimaerwärmung könnte sein, dass sich Schadinsekten bei höheren Temperaturen besonders gut entwickeln und vermehren. Das wiederum könnte zu stärkerem Pestizideinsatz führen. Auf einer Konferenz der Gesellschaft für Umwelttoxikologie und Chemie (SETAC) präsentierten Forscher ihre Prognosen über die Auswirkungen dieser zusätzlichen Belastung.
"2009-06-03T16:35:00+02:00"
"2020-02-03T09:58:08.544000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/manche-schaedlinge-moegen-s-heiss-100.html
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"Im Moment haben quasi alle vor allen Angst"
Laut Polizei waren am Samstag 11.000 Menschen zum Demonstrieren auf der Straße in Chemnitz (dpa) Der AfD-Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese habe diese neue Strategie vorab der dpa erklärt, berichtete Lindner. "Hintergrund ist: Nächstes Jahr ist in Sachsen auch Landtagswahl." Nach dem Tod eines 35-jährigen Deutschen auf einem Fest vor einer Woche und anschließenden Demonstrationen und Ausschreitungen waren am Samstag insgesamt 11.000 Menschen in Chemnitz auf die Straße gegangen. 4.500 davon rechnete die Polizei dem rechten Spektrum zu, 4.000 den Gegendemonstranten. Sie selbst war mit über 2.000 Polizeibeamten im Einsatz und war nach der Einschätzung Lindners gut aufgestellt. Die Zahlen gab die Polizei nun bekannt. Es gab nach offiziellen Angaben 18 Verletzte, darunter drei Polizisten und ein MDR-Journalist. 37 Strafanzeigen wurden gestellt, unter anderem wegen des Angriffs auf eine Besuchergruppe des SPD-Bundestagsabgeordneten Sören Bartol. "Es gibt meiner Ansicht nach viel Gesprächsbedarf" Ein Demonstrationszug der AfD wurde am Samstag aufgelöst, nachdem er sich mit Anhängern der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz vereint hatte und auf eine Blockade von Gegendemonstanten gestoßen war. Über den enstehenden Verzögerungen lief die angemeldete Demonstrationszeit ab, berichtete Lindner. Zur Stimmung in der Stadt am Wochenende sagte Lindner: "Mein Eindruck war, dass im Moment quasi alle vor allen Angst haben. Es sind Ausländer, die vor den Chemnitzern Angst haben. Gestern ist ein Afghane verprügelt worden. Die Polizei klärt, ob das jetzt von heimkehrenden Demonstranten war." Andererseits hätten auch Chemnitzer Angst vor Ausländern in ihrem Stadtzentrum, sagte Lindner. "Da gibt es meiner Ansicht nach viel Gesprächbedarf."
Nadine Lindner im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
In Chemnitz habe sich gezeigt, dass die AfD ihre Trichter in zwei Richtungen vergrößert habe, um Wähler anzusprechen, sagte die Korrespondentin Nadine Lindner im Dlf: Zum Einen gehe es der Partei um den Schulterschluss mit rechten Strukturen bis in die Hooligan-Szene, zum Anderen um die bürgerliche Mitte.
"2018-09-02T13:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:03.538000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/demonstrationen-in-chemnitz-im-moment-haben-quasi-alle-vor-100.html
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"Ein rechtlicher Rubikon ist überschritten"
Unter öffentlicher Beobachtung: Einkommensmillionär und ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Volkswagen Martin Winterkorn (Bernd von Jutrczenka/dpa) Sina Fröhndrich: Wie ist diese Anklage gegen Winterkorn einzuordnen? Klemens Kindermann: Der zuständige Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe spricht von einem wichtigen Zwischenschritt. Es ist aber für den Autokonzern doch viel mehr. Denn mit dieser Anklage in Deutschland ist doch gewissermaßen ein rechtlicher Rubikon überschritten worden. Bisher ging es im Dieselskandal vielfach um Anlegerklagen, um Zivilklagen oder um Musterfeststellungsklagen. Letztere, kann man sagen, sind ja eigentlich wegen VW erst möglich geworden: Verbraucherschützer können gegen Unternehmen klagen, stellvertretend für viele direkt Betroffene. Jetzt aber geht es um Kopf und Kragen von Verantwortlichen. Das ist eine neue Qualität. Wir sind jetzt im Strafrecht und dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn wird tateinheitlich ein besonders schwerer Fall des Betruges, ein Verstoß gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb sowie Untreue vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig weist vorsorglich sogar schon auf den Strafrahmen für Betrug in besonders schwerem Fall hin – nämlich sechs Monate bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe. Fragen der Reputation und des Images Fröhndrich: Was bedeutet die Anklage für den VW-Konzern? Kindermann: Frau Fröhndrich, das ist schon psychologisch wirklich eine Zeitenwende. Alleine die Vorstellung, dass dieser mächtige Mann, Martin Winterkorn, der die Geschicke des größten europäischen Autokonzerns über viele Jahre steuerte, eines Tages hinter Gittern kommen könnte, ist ein Albtraum für VW und für die Hunderttausenden Beschäftigten. Winterkorn war eine derart selbstbewusste, man könnte auch sagen: dominante Persönlichkeit, die wenig Widerspruch zuließ, aber eben einen enormen ökonomischen Erfolg erzielte, dass er doch prägend war für die jüngere Geschichte von VW. Rückblickend wird man an die ökonomischen Erfolge Fragezeichen machen müssen, weil VW ja doch viel Geld verloren hat durch den Dieselskandal - alleine durch Anlegerklagen bisher gut 27 Milliarden Euro. Aber möglicherweise viel wichtiger sind hier Fragen der Reputation und des Images. Und wir kennen auch noch nicht die Namen der anderen vier Beschuldigten. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat im Dieselskandal Anklage gegen fünf Beschuldigte vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts erhoben. Darunter ist Winterkorn, aber es ist auch die Frage, wie hochrangig die anderen Manager sind und ob hier sozusagen gegen mehrere in der Führungsspitze vorgegangen wird, was noch schlimmer wäre: eine Anklage gegen die frühere Führungsmannschaft. Anklage kommt zu einem schlechten Zeitpunkt Fröhndrich: Könnte sich die Anklage auf die Geschäfte von VW auswirken? Kindermann: Ja, durchaus. Das mag Zufall sein, aber die Anklage kommt ausgerechnet in der für Volkswagen – man kann sagen - wichtigsten Woche des Jahres: Die Automesse in Shanghai ist die Leitmesse der Automobilindustrie in Asien und sie beginnt diese Woche. Eine Messe der Superlative beim letzten Mal – sie findet alle zwei Jahre statt – mit mehr als einer Million Besuchern, mitten im wichtigsten Automarkt der Welt. Dazu muss man sagen: In China ist Martin Winterkorn ein sehr bekannter Mann. Er hat sich dort stark engagiert, ist im Grunde derjenige, der die führende Stellung von VW in China vorangetrieben hat. Winterkorn hat wegen China den Vorstand von VW umgebaut und einen neuen Vorstandsposten extra für China geschaffen. Mittlerweile liefert die Kernmarke von VW fast jedes zweite Auto in China aus. Die Chinesen lieben Traditionen, legen Wert auf Vertrauen und langjährige Geschäftsbeziehungen. Wenn jetzt gegen so jemanden wie Martin Winterkorn in Deutschland Anklage erhoben wird, dann ist das ein Schlag für VW, auch wenn Winterkorn gar nicht mehr Chef ist. Schlechter hätte VW in diese wichtige Woche auf dem wichtigsten Automarkt nicht gehen können.
Klemens Kindermann im Gespräch mit Sina Fröhndrich
Die Anklage gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn bedeute eine neue Qualität in den Diesel-Klagen, sagte Dlf-Wirtschaftsredakteur Klemens Kindermann. Man befinde sich jetzt im Strafrecht. Die Vorstellung, der ehemals mächtige Manager könne hinter Gitter kommen, sei ein Albtraum für den Konzern.
"2019-04-15T17:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:47:29.354000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anklage-gegen-martin-winterkorn-ein-rechtlicher-rubikon-ist-100.html
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Die Wiedervereinigung im Kleinen
RIAS-Haus des Deutschlandradios (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick) "Wir haben hier das interessante Experiment, dass im Deutschlandradio zum ersten Mal wirklich journalistische Mannschaften aus Ost und West zusammentreffen und nun gemeinsam miteinander Programm machen müssen. Hier wird sich zeigen, ob die Barrieren in den Köpfen auch wirklich überwunden werden können." Lothar Löwe, Beauftragter der ARD für den Radiosender DS Kultur, spricht vom Projekt Nationaler Hörfunk. Wir schreiben das Jahr 1993, die allerletzten Sendungen von RIAS und DS Kultur laufen gerade. In wenigen Minuten werden die beiden Radioprogramme abgeschaltet, um Mitternacht soll das Deutschlandradio starten. Monika Künzel, damals Chefredakteurin von DS Kultur, verabschiedet sich an diesem Silvesterabend, und erinnert – hörbar bewegt – an die erste Zeit im neuen, wiedervereinigten Deutschland und in ihrem jungen Programm: "Es war eine Stunde der Anarchie, unter deren Deckmantel sich Gutes und Schlechtes verbarg und die Extreme in beide Richtungen ermutigte. Eine Stunde der Freiheit, des Freiheitsrausches, der ersten Reisen und der ersten frischen Tomaten im Winter, die Zeit der toten Trabbis am Straßenrand." Gleichzeitig, im Berliner Westen, sitzt die Mannschaft von RIAS 1 und arbeitet sich durch die letzten Sendeminuten. "RIAS Berlin stellt nach fast 48 Jahren um Mitternacht seine Tätigkeit ein. An seine Stelle tritt das Deutschlandradio mit jeweils einem Programm aus Berlin und Köln. Das Wetter: Temperatur in Berlin sechs Grad…" Zu Ende ging ein mehrere Jahre dauernder Prozess Information, das Kerngeschäft des RIAS, daran wollte man auch kurz vor Schluss festhalten. Schließlich war – jenseits der eigenen Betroffenheit – die Nachricht, dass es bald das neue Deutschlandradio mit zwei Programmen geben würde, eben auch bloß eine Nachricht. Zu Ende ging an diesem Silvesterabend ein mehrere Jahre dauernder Prozess. Was sollte nach der Wende aus dem Rundfunk der DDR werden? Was sollte aus den beiden westdeutschen Sendern Deutschlandfunk und RIAS werden? "Der Bund, darauf hat der Bundeskanzler heute Morgen um acht beim Frühstück hingewiesen, ist Eigentümer dieser Anstalten und gedenkt, sein Eigentum in den Verhandlungen auch wahrzunehmen. Ob zu verteidigen, wird man sehen." Der Bundeskanzler hieß damals Helmut Kohl. Dass Gerhard Schröder einmal sein Nachfolger werden würde, war 1991 noch längst nicht ausgemachte Sache. Schröder trat im Juli als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz vor die Presse. Die Länderchefs hatten zuvor über die Neuordnung des deutschen Rundfunkwesens mit Helmut Kohl verhandelt. Es sollte aber noch zwei Jahre, bis zum 17. Juni 1993, dauern, bis die Ministerpräsidenten den Staatsvertrag zur Gründung von Deutschlandradio unterzeichneten. DS Kultur war das jüngste Mitglied der Rundfunkfamilie in Gründung. Ein Kind der Bürgerrechtsbewegung des Runden Tisches, entstanden aus dem Kulturkanal Radio DDR II und dem Deutschlandsender, seit dem 16. Juni 1990 in der Ostberliner Nalepastraße auf Sendung. Ein Vollprogramm mit kulturellem Schwerpunkt. "Europäisch, klassisch, kontrovers" wollte DS Kultur sein, erinnert sich die damalige Chefredakteurin Monika Künzel. "Es war ein großes Glück, dass sich die Welt plötzlich auch für uns als Journalisten weitete. Wir hatten nicht mehr die gleichgeschalteten Tageszeitungen, sondern "Stern" und "Spiegel" und die "Süddeutsche" und die "FAZ". Man konnte und musste reisen, um sich dieser Welt anzunähern, und das war ganz sicher auch eine ganz große Aufbruchssituation, die uns sehr motiviert hat." "Kontrovers zum Thema: Religionskonflikte und Ausländerpolitik, eine Herausforderung für Europa…" Die Reihe "Kontrovers", Anfang der 1990er-Jahre täglich bei DS Kultur auf Sendung. Das Thema ließe sich problemlos auch 25 Jahre nach dem Ende von DS Kultur gleich morgen neu diskutieren. Die Sendereihe gibt es immer noch, montagsmorgens zu hören im Deutschlandfunk. Streiten, diskutieren, mal nicht einer Meinung sein zu müssen, die neue Freiheit der Journalisten im Funkhaus in der Nalepastraße. Für Jörg Degenhardt, damals DS Kultur, heute Deutschlandfunk Kultur, ein wunderbares Machtvakuum. Das Gelände des ehemaligen Rundfunks der DDR in der Nalepastraße in Berlin - aufgenommen 2006. (picture-alliance/ ZB / Soeren Stache) Die Zeiten waren spannend "Die alten Verantwortlichen waren weg, die Neuen waren noch nicht da. Und in der Nalepastraße war mehr oder wenig alles möglich. Das war die spannendste Zeit in meinem Journalistenleben, weil man endlich auch einmal das machen konnte, was die Hörer von einem erwartet haben, nämlich das man das beschreibt und das berichtet, was wirklich in der Welt passiert und ihnen nicht irgendetwas vormacht." Aber auch für Rundfunkhistoriker war die Zeit nach der Wende spannend. Eine Fusion von drei öffentlich-rechtlichen Sendern hatte es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Dr. Christoph Classen arbeitet am Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam. "Ursprünglich war es eben so, dass man gesagt hat: RIAS, Deutschlandfunk, daraus soll der nationale Hörfunk werden. Und dann hat man gemerkt: Moment mal, so ganz ohne Ostdeutschland geht es ja vielleicht doch nicht. Und dann gab es eben diesen jungen Reformsender im DDR-Rundfunk…." Jingle: "Deutschlandradio Berlin." "Das will ich hören." "Ab Januar auf den Frequenzen von RIAS Berlin und DS Kultur." "In einem Neuanfang wie diesem liegt eine ungeheure Chance. Ich habe es als berufliches Geschenk betrachtet, dazu aufgefordert zu werden, ein solches Kultur- und Informationsprogramm, mit einer solchen Programmbeschreibung im Staatsvertrag, aufbauen zu dürfen." Willi Steul, später Deutschlandradio-Intendant, übernahm 1994 den Posten des Chefredakteurs von Deutschlandradio Berlin in Schöneberg. Der "Rundfunk im amerikanischen Sektor", abgekürzt "RIAS", war ein Jahr nach Kriegsende zunächst als DIAS, als "Drahtfunk im Amerikanischen Sektor" von der US-Militärverwaltung gegründet worden. Helmut Drück war der letzte RIAS-Intendant: "Der RIAS war der Erste, der sich um Informationen für die Menschen hier interessierte. Gerade im journalistischen Bereich, da gab es unendlich viele Leute, die nicht nur Fachleute waren für alles, was sich östlich des Eisernen Vorhangs abspielte. Sondern die auch sehr persönlich betroffen waren, weil sie Flüchtlinge waren, weil sie Verfolgung erlitten hatten." Das Rundfunk-Emblem des RIAS (dpa) Als die Mauer fiel, fiel auch der Sendeauftrag Die Idee der Amerikaner: der sowjetischen Propaganda im Berliner Rundfunk etwas entgegenzusetzen. "Sie hörten unsere Sendung ‚Musik kennt keine Grenze, Melodien und Grüße für Hörer in Ost und West´." Jingle: "Hier ist RIAS Berlin– eine freie Stimme der freien Welt." Die Welt befand sich im Kalten Krieg, man setzte auf Propaganda. Mikrofone waren die Waffen der Wahl. Der RIAS werde von der CIA gelenkt und sei deswegen das Agitationsinstrument des politischen Gegners, so die Sprachregelung des Regimes in Ostdeutschland. Und die DDR ließ nichts unversucht, den Empfang des Senders mit technischen Mitteln zu stören: "Hier ist RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt." "Die vom Ulbricht-Regime auf Aufforderung der Warschauer-Pakt-Staaten verfügten und eingeleiteten Maßnahmen zur Abriegelung der Sowjetzone und des Sowjetsektors von West-Berlin sind ein empörendes Unrecht." Der 13. August 1961 gilt als Tag des Mauerbaus. An diesem Tag wurde die Sektorengrenze endgültig abgeriegelt. Die Berliner saßen vor den Radiogeräten, als der RIAS-Reporter einen Passanten befragte, der nur mit Mühe die Fassung bewahren konnte. "Potsdamer Platz. Auch hier wieder das gleiche Bild in Richtung Leipziger Straße Stacheldraht. Die Ebertstraße durchzieht ein tiefer Graben, der ausgehoben wurde. Hier sind starke Einheiten eingesetzt." "Mein Eindruck ist, dass man nun unbedingt durch den Stacheldraht den Letzten davon abhalten will aus der Zone beziehungsweise aus Ost-Berlin die Flucht zu ergreifen. Und darüber hinaus auch uns hier provozieren will." Der Deutschlandfunk ging – sechs Monate nach dem Bau der Mauer – per Bundesgesetz auf Sendung, mit dem Auftrag ein "umfassendes Bild Deutschlands zu vermitteln". Ein Sender, der im föderalen System der Bundesrepublik, in dem Rundfunk Kultur und Kultur immer Ländersache ist, eigentlich gar nicht vorgesehen war. Bei der Gründung des Deutschlandfunks hatte man 1962 eine Ausnahme gemacht, weil er im Sinne des Grundgesetzes im Auftrag der Wiedervereinigung auch für die DDR-Bürger sendete. Als die Mauer fiel, fiel auch der Sendeauftrag. Und das galt auch für den RIAS. Der war als Rundfunk im amerikanischen Sektor, auf einmal ohne amerikanischen Sektor. Die Verhandler der Deutschen Einheit schrieben in den Einigungsvertrag, dass die Neuordnung der deutschen Rundfunklandschaft bis zum 1. Januar 1992 stehen solle. Für Rundfunkhistoriker Christoph Classen ein ambitionierter Plan: "Die Leute, die beim DDR-Rundfunk waren, die wollten am liebsten den DDR-Rundfunk als Ganzes erhalten. Das wollte die Bundesregierung auf gar keinen Fall. Die haben das so als SED-Propagandainstitution gesehen, die sie auf jeden Fall abgewickelt haben wollten. Das ZDF hätte sehr gerne endlich Hörfunk gehabt. Die ARD hat gesagt, wieso, wir sind doch eigentlich schon der nationale Hörfunkanbieter. Und die Ministerpräsidenten der Länder hatten vor allen Dingen das Interesse – wie immer – politischen Einfluss auf die Medien zu nehmen – und wünschten sich deshalb Landessender." Stasi-Informant als Kollege Zur Disposition standen die Reste des Rundfunks der DDR, der RIAS und der Deutschlandfunk. Und in den Sendern Journalistinnen und Journalisten, die sich im Kalten Krieg die kalte Schulter gezeigt und sich gegenseitig der Agitation bezichtigt hatten. In der wiedervereinigten Bundesrepublik gab es Stimmen, die gar die Abschaltung von RIAS und DLF forderten, sagt der Rundfunkhistoriker Christoph Classen. Aber: "Im Falle des RIAS hat wohl eine Rolle gespielt, dass man die Amerikaner nicht verprellen wollte. Die Amerikaner hatten gerade die Wiedervereinigung möglich gemacht. Und der Deutschlandfunk hatte damals einen Intendanten, der sehr gut vernetzt war in der damaligen Regierung. Und der hat sehr erfolgreich Lobbyarbeit dafür geleistet, dass der Deutschlandfunk bestehen bleiben konnte." "Das war der Tag, Journal vor Mitternacht. Am Mikrofon Gerhart Fleischle. Die Schatten der Staatssicherheit reichen möglicherweise weiter, als es bisher den Anschein hatte…." Gerhart Fleischle war im Juni 1993, als die Ministerpräsidenten den Gründungsstaatsvertrag für den Nationalen Hörfunk unterschrieben, noch Redaktionsleiter Politik und Moderator der Spätsendung im Programm des Deutschlandfunks. Der Journalist sollte nur wenige Monate später als langjähriger Stasi-Informant enttarnt werden. Frank Capellan war Anfang der 1990er-Jahre Volontär beim Deutschlandfunk, als die Staatssicherheit auf einmal auch bei Westmedien Thema wurde. "Das waren Momente, wo viele im Haus ziemlich geschockt waren darüber. Natürlich wusste jedermann, dass das Programm des Deutschlandfunks unter Beobachtung stand. Aber das ganz aktiv – soweit wir wissen – zwei Leute eingeschleust worden waren in diesen Sender, das hatte wohl kaum jemand für möglich gehalten." Bei DS Kultur hatte die Mannschaft schon mehrere Stasiüberprüfungen hinter sich, während sich der Deutschlandfunk noch vom Schock der Enttarnung des Kollegen Gerhart Fleischle erholte. In der Nalepastraße waren noch 140 Mitarbeiter übriggeblieben, mit Monika Künzel an der Spitze. Warum gerade sie Chefredakteurin von DS Kultur wurde, beantwortet sie heute mit einem Schmunzeln. "Warum ich? Ich glaube bis heute, dass das eine gute Entscheidung war. Damals wusste ich das nicht. Ich war Anfang 30. Ich war jung, unbelastet und man hat mir doch eine gewisse Kompetenz zugeschrieben. Und das gab den Ausschlag." "Im RIAS gab es eine tiefe Spaltung. Es gab eben die Leute, die mit den Kollegen aus dem Osten nichts zu tun haben wollten, und die schließlich verloren haben. Und dann gab es eine Gruppe, die viel Angst hatte: Da kommen die aus dem Osten, die überrollen uns doch. Und dann gab es die Gruppe, die sehr schnell gesagt hat: Das ist unheimlich spannend, was Neues auf die Beine zu stellen, raus aus dem Mief Westberlins zu kommen als RIAS-Redakteur und ein bundesweites Programm zu machen." Monika Künzel ist heute für die Sendereihe "Lange Nacht" zuständig, die im Berliner und im Kölner Programm läuft (Deutschlandradio/ Christian Kruppa) Ulf Dammann war seit 1990 als Redakteur beim RIAS, einem Programm, zu dem die Hörer immer eine sehr emotionale Bindung hatten. Mit dem RIAS waren sie durch dick und dünn gegangen, hatten den Nachkriegshunger, die Berlin-Blockade, die Teilung ihrer Stadt, die Verinselung und eine Existenz als Zankapfel geostrategischer Weltordnung überstanden. Das alles war nun Geschichte. Und jetzt sollte auch der Herzens-Hörfunk der Berliner Geschichte werden. Das Deutschlandradio war ein Kompromiss In der Nalepastraße im Berliner Osten, wo das Funkhaus des jungen Senders DS Kultur stand, hatten die Mitarbeiter gerade erst begonnen, ihre neue journalistische Freiheit auszukosten, erinnert sich Astrid Kuhlmey, die vorher beim Berliner Rundfunk war. "Das waren Wunder, die da passierten. Man stellte sich auf den Flur, entwickelte eine Sendung. Und drei Wochen später lief die." Kurz vor knapp, Ende 1993, nur zwei Tage vor Weihnachten, ratifizierte in Thüringen das letzte Landesparlament den Deutschlandradio-Staatsvertrag. RIAS, DS Kultur und der Deutschlandfunk wurden zum neuen nationalen Hörfunk vereint. Von ursprünglich einmal knapp 1.800 Mitarbeitern sollten am Ende 710 übrig bleiben. Eine RIAS-Welle war privatisiert worden, RIAS TV und die Europaredaktionen des Deutschlandfunks gingen zur Deutschen Welle. Das Deutschlandradio war ein Kompromiss, was man an seiner Rechtsform erkennen kann. Es entstand eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, ARD, ZDF und die Bundesländer sind ihre Träger. Der Auftrag lautete, zwei bundesweite Programme zu veranstalten. Die Integration, das Zusammenwachsen von Ost und West zu fördern, wurde dem Sender ins Aufgabenheft geschrieben. Und am 1.1.1994 um Mitternacht ging es los. "Es ist null Uhr, 1. Januar 1994. Wir wünschen allen unseren Hörerinnen und Hörern ein frohes, friedliches und gesundes Neues Jahr." Um 0 Uhr schlug die Geburtsstunde des neuen, nationalen Hörfunks. Aus drei mach zwei. Der Deutschlandfunk sollte weitgehend unverändert und unter Beibehaltung seines Namens ein Programm aus Köln machen. DS Kultur und RIAS gingen auf in das neue Programm aus dem RIAS-Funkhaus namens Deutschlandradio Berlin. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Berlin unter dem Dach des Deutschlandradio also. Mmh. So richtig geländegängig war das nicht. Und es klang auch noch nicht so. "Mit der Liberty Fanfare von John Williams ist das Programm des Deutschlandradio Berlin eröffnet. Deutschlandradio Berlin begrüßt Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, ganz herzlich in diesem vierten Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und in einer Zeit des weltweiten Umbruchs und Ideologiensterbens mit einem neuen Sendeauftrag…." Im neuen Programm lief zwölf Stunden RIAS 1 und in den anderen zwölf Stunden des Tages DS Kultur. Die Hörer fanden das so schwierig, dass sie sich in Scharen verabschiedeten und lieber andere Sender hörten. Claus Bredel, ehemaliger RIAS-Redakteur, hat sich darüber nicht gewundert. "Ich reime mir das so zusammen, dass die Führungsetage jetzt in diesem Fall von DS Kultur sagte, wir wollen unser Programm weitermachen. Und die Führungsetage vom RIAS sagte, wir wollen unser Programm weitermachen. Kompromiss: halbe halbe. Das ist für uns alle in gewisser Weise tödlich gewesen, weil eingefleischte RIAS-Hörer wollten da keine Leute aus dem Osten hören und eingefleischte DS Kultur-Hörer, das darf man auch nicht vergessen, die wollten alles, nur nicht den RIAS hören." Der Anfang war schwierig Deutschlandradio-Gründungsintendant wurde der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte. Im April übernahm Ernst Elitz. Das Berliner Programm wurde im Laufe des ersten Sendejahres überarbeitet und die Zweiteilung aufgegeben. Ernst Elitz definierte das journalistische Selbstverständnis der beiden Programme aus Berlin und Köln so: "Wir sprechen ein Publikum an, was ein besonderes politisches und kulturelles Interesse hat und deshalb bedarf es auch eines Mediums, vergleichen wir es mal mit einer überregionalen Zeitung, die das Interessante, das Wichtigste, aus allen deutschen Regionen, Hörerinnen und Hörern überall in Deutschland zur Kenntnis bringt." Doch der Anfang war schwierig. Es sollte zusammenwachsen, was zusammengehörte, aber zunächst nicht zusammenwachsen wollte. Zumindest galt das für manche der neuen Kollegen, erinnert sich Astrid Kuhlmey. "Wir hatten erste Sitzungen. Und da haben einige Kollegen gesagt: Wir treffen uns meinetwegen in Raum 217. Jetzt hat dieses Haus zweimal den Raum 217. Und wir kleinen dummen Ossis sind rumgerannt und haben es nie gefunden. Wieso war der denn nicht bei der Sitzung, wir haben uns doch über das neue Programm Gedanken gemacht? Aber ich finde das alles im Abstand vielleicht normal. Damals war es traurig. Und ich muss auch gestehen, ich habe im ersten Jahr manches Mal geheult und habe gedacht, mein Weg geht zum Arbeitsamt." 25 Jahre nach dieser Wiedervereinigung im Kleinen besteht der nationale Hörfunk heute aus drei Programmen: Dazu gehört der Deutschlandfunk, den Sie gerade hören. Aus Deutschlandradio Berlin wurde im letzten Jahr Deutschlandfunk Kultur. Und es gibt die junge Welle namens Deutschlandfunk Nova. Viele von damals sind in Rente, Monika Künzel ist heute für die Sendereihe "Lange Nacht" zuständig, die im Berliner und im Kölner Programm läuft. Funktioniert die Wiedervereinigung im Kleinen? "Ich bin sicher, dass das sogar beim Nationalen Hörfunk besser gelungen ist, als in manch anderen Teilen der Gesellschaft, weil eben diese ganz persönlichen Erfahrungen, die die Mitarbeiter gemacht haben und auch in ihren Redaktionsgesprächen mit den anderen machen, dass das wichtig war, diese Auseinandersetzung. Und die Probleme abzubilden." Das Gebäude des Deutschlandfunks in Köln, im Hintergrund ist das alte Deutsche Welle-Gebäude zu sehen (imago)
Von Bettina Schmieding
Am 17. Juni 1993 unterzeichneten die Ministerpräsidenten den Staatsvertrag zur Gründung von Deutschlandradio. Der Sender sollte die Integration sowie das Zusammenwachsen von Ost und West fördern und zwei bundesweite Programme veranstalten. Sendestart war am 1. Januar 1994.
"2018-06-17T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:28.121000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-25-jahren-gruendung-von-deutschlandradio-die-100.html
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Kein Stress in der Schule
In vielen Klassenzimmern herrscht Unruhe und Lärm (dpa / picture alliance / Felix Kästle) Wie sie mit beruflichen Belastungen umgehen und berufsbedingte gesundheitliche Probleme vermeiden können, darüber informiert die Uni Mainz Studierende auf dem jährlichen Tag der Lehrergesundheit. Ein relativ neues Angebot: Zum vierten Mal bietet das Institut für Lehrergesundheit, angesiedelt am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin diese Kombination aus Vorlesung und Workshops an. Das Institut arbeitet dabei zusammen mit dem Zentrum für Lehrerbildung. Anke Petermann berichtet. Christoph Kampik ist angehender Sportlehrer, und einen Belastungsfaktor kennt er als ehrenamtlicher Schwimmtrainer gut: "Ich glaube, der Lärmpegel ist an Schulen besonders hoch, nicht vergleichbar mit anderen Berufen, die man vielleicht anstrebt. Ich als Sportlehrer auch in der Sporthalle, die ganzen Bälle, die dopsen, da muss man sich irgendwie schon Gehör verschaffen bei den Schülern und auch mal Regeln einführen, damit die Schüler mal zur Ruhe kommen." Disziplin spielt eine Rolle, um Lärmbelastung als Hauptstressor in den Griff zu bekommen, bestätigt Professor Stephan Letzel. Ist aber die Akustik von Klassenzimmern zu ungünstig, könne es sich lohnen, eine Gefährdungsanalyse anzuregen, meint der Direktor des Mainzer Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin. Je nach Einschätzung von Experten für Arbeitssicherheit ist möglicherweise eine Lärmsanierung fällig. Was angehende Lehrer zusätzlich für sich tun können: "Stimmbildung ist sicherlich ein Thema, weil doch die Stimme ein Organ ist, das in der Schule sehr gefordert ist, und da kann man professionell erlernen, wie man mit der Stimme am besten umgeht. Also ein Stimmtraining macht, das ist sicherlich sinnvoll." Eigene Potenziale zur Stressbewältigung entdecken Neben Lärm als objektivem Stressfaktor macht sich Eva-Maria Ehrhardt als angehende Fremdsprachenlehrerin Gedanken über die subjektiven Belastungen: "Da ich jemand bin, der es sehr gern machen will und auch voll dahinter steht, denke ich, dass mir vieles Stress machen kann, weil ich das halt dann halt sehr, sehr gut machen möchte und mich dadurch vielleicht selbst in Stress bringen werde. Ich denke, ich bin mein größtes Problem, wenn ich ehrlich bin." Perfektionsstreben birgt das Risiko, sich übermäßig zu verausgaben, bestätigt Till Beutel, Diplom-Psychologe am Institut für Lehrergesundheit und Leiter des Workshops Stressbewältigung. Andererseits: "Jemand, der Lehramt studiert aus dem Motiv heraus, er möchte Schülern etwas beibringen, (das) ist natürlich deutlich vorteilhafter, als wenn jemand von ganz anderen Motiven getrieben ist letztendlich." Anstrengende Phasen lassen sich eher mit einer starken pädagogischen Motivation bewältigen, ist Beutels Erfahrung. Wer die Herausforderungen des Lehrerberufs ausblendet und sich vom Beamtenstatus oder langen Ferienzeiten blenden lässt, landet schneller in der Stressfalle. In seinem Workshop ermutigt Beutel Studierende dazu, eigene Potenziale zu entdecken, um Stress zu bewältigen. Den Umfang einer Aufgabe richtig einschätzen, Arbeit einteilen, die Hochphasen des eigenen Biorhythmus kennen und nutzen, das alles gehört dazu. Eva-Maria Ehrhardt fängt demnächst ihr Referendariat an. Im Freundeskreis hat sie Kommilitoninnen erlebt, die Tag und Nacht durcharbeiteten, eine brach das Referendariat ab. Die angehende Fremdsprachenlehrerin nimmt sich vor, sich nicht so extrem unter Druck zu setzen. "Durch die Praktika und die Nebentätigkeiten im Studium hat man ja schon Erfahrungen gesammelt, und das Referendariat dient ja weiterhin zur Erfahrungssammlung, und ich denke, man sollte nach dem Studium nicht davon ausgehen, dass man die perfekte Lehrkraft ist die alles kann." Mut zur Lücke, nach wie vor ein einfaches, aber effektives Anti-Stress-Rezept.
Von Anke Petermann
In Schulen ist es häufig laut und hektisch. Doch vielen Lehrerinnen und Lehrern setzen auch psychische Stressfaktoren zu. Wie damit umgehen, damit am Ende nicht der Burnout steht? Mut zur Lücke hilft.
"2014-11-20T14:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:14:39.518000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lehrergesundheit-kein-stress-in-der-schule-100.html
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"Auch Algorithmen entwickeln Empathie"
Hans Bernhard, Professor für Netz an der Kunsthochschule für Medien Köln, im DLF-Funkhaus (Deutschlandradio/Adalbert Siniawski) Die Kunst wird von künstlicher Intelligenz beflügelt: Im NRW-Forum in Düsseldorf fand am Wochenende der Meta Marathon statt - da gab es 42 Stunden lang Performances, Filme, Konzerte, Workshops und Gespräche zum Thema K.I., unter anderem mit Kunstprofessor und Netzkünstler Hans Bernhard. "The Next Documenta Should Be Curated By A Machine", hieß es. Die nächste Documenta nicht von einem Menschen, sondern kostengünstig und effizient von einer Maschine kuratieren zu lassen - eine Provokation? Wir haben noch länger mit Hans Bernhard gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs "Wir arbeiten an einem Projekt, wo das möglich ist", sagte Hans Bernhard im Deutschlandfunk. Es gehe nicht darum, dass eine Künstliche Intelligenz, ein Algorithmus, eine Maschine oder ein Roboter das komplett eigenständig mache. Aber weil es weltweit zehntausende von Künstlern mit Millionen von Werken gebe, bräuchten die Menschen Hilfestellungen. "Das ist nicht mehr handhabbar." Es gehe darum, den großen Datenpool zu verwenden und Dinge sichtbar zu machen, die für Menschen nicht sichtbar seien. "Die Kunst ist tot auf der Ebene." Datenkraken wie Google - mit seinem Cultural Institute, einer virtuellen, offenen Kunstdatenbank - sollten verstaatlicht werden. "Wenn wir es nicht jetzt machen, ist es vorbei." Im digitalen Kunstbereich sei Google mittlerweile führend. "Die ziehen sich alles rein, was es gibt am Markt." Die Kunst brauche mehr Unabhängigkeit, forderte Bernhard. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans Bernhard im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
Braucht die Kunst noch menschliche Kuratoren? Nein, findet Netzkünstler und Kunstprofessor Hans Bernhard. Bei den unzähligen Künstlern weltweit, bräuchten menschliche Ausstellungsmacher Hilfe von Maschinen, sagte er im Dlf. Auch eine Weltkunstschau wie die Documenta könnte davon profitieren.
"2018-05-28T15:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:54:16.815000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/netzkuenstler-hans-bernhard-auch-algorithmen-entwickeln-100.html
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"Ein Impfstoff wird am Anfang sehr knapp sein"
Der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach (Imago/ Reiner Zensen) Remdesivir gilt als eines der derzeit wirksamsten Mittel bei schweren COVID-19-Symptomen. Die USA kaufen nun große Teile der Remdesivir-Produktion auf. Im Interview erläutert der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach, was das für Deutschland bedeutet und warum es mit einem möglichen Impfstoff gegen das Coronavirus seiner Meinung nach so nicht laufen dürfte. Münchenberg: Bei der Suche nach einem Impfstoff oder Medikament gegen Corona, gilt da das Prinzip Alle gegen alle? Lauterbach: Ich hoffe nicht, aber ganz auszuschließen ist das nicht. Das was wir bisher gesehen haben, stimmt nicht zuversichtlich. Die jetzige Aktion bei Remdesivir ist ein sehr unfreundlicher Akt der Amerikaner, und wenn wir so an den Impfstoff später herangingen, dann hätten wir sicherlich alle große Probleme. Das käme dann einer Versteigerung des Impfstoffes gleich. Das können wir uns natürlich auf keinen Fall leisten. Noch ist es unklar, ob und wann ein Impfstoff kommt, aber klar ist, dass er am Anfang sehr knapp sein wird, weil die Produktion hochgefahren werden muss. Wir haben noch nie in einer ähnlichen Größenordnung irgendeinen Impfstoff produzieren müssen, auch nicht in der Nähe der Größenordnung. Daher wird das nicht so rasch bedienbar sein. Da müsste sichergestellt werden, dass die Länder und in den Ländern diejenigen, die den Impfstoff besonders benötigen, auch zuerst bedient werden. Warum es so lang dauert, einen Corona-Impfstoff zu entwickeln Die Corona-Impfstoffentwicklung läuft weltweit auf Hochtouren, erste Versuche und klinische Studien sind bereits gestartet. Doch trotz der intensiven Forschung dürfte es noch dauern, bis ein Impfstoff auf den Markt kommt. Wir erklären, woran das liegt. "Der Marktmacht der Amerikaner entgegenwirken" Münchenberg: Dieses Remdesivir, ist das so ein Wundermittel jetzt schon gegen Corona? Wie ist der Wirkstoff einzuschätzen? Lauterbach: Nein. Remdesivir ist kein Wundermittel. Remdesivir ist ein Wirkstoff, der die Dauer der Erkrankung verkürzt, aber die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht erhöht – von dem, was wir wissen – und im Übrigen auch nur bei sehr schweren Fällen, bei Menschen, die beatmet werden müssen oder die zumindest Sauerstoff benötigen – so schlimm muss die Lungenentzündung dann sein -, wirkt, überhaupt wirkt. Ein Alternativmedikament, Dexamethason, scheint ähnliche Wirkungen, wenn nicht sogar bessere Wirkungen zu haben. Somit ist das jetzt, sage ich mal, bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Tragödie, aber bei einem Impfstoff wäre das eine ganz andere Angelegenheit. Da wäre so ein Vorgehen sehr besorgniserregend. Münchenberg: Nun bemühen sich ja gerade die Europäer um Geschlossenheit. Das war ja zu Beginn der Pandemie ganz anders. Da war es ja mit der europäischen Solidarität nicht weit her. Wie schätzen Sie das ein? Hat man jetzt wirklich gelernt aus der Anfangskrise, oder könnte das nicht doch schnell wieder über Bord geworfen werden, wenn zum Beispiel eine zweite Corona-Welle über die Welt rollt, die womöglich noch tödlicher ist als die erste? Lauterbach: Ich glaube schon, dass Europa gelernt hat. Und da sind die Schritte, die wir jetzt beobachtet haben, dass Länder Kontingente aufkaufen von Impfstoffen, die noch gar nicht da sind, sich aber gegenseitig in Europa versprechen, dass sie dann, falls sie den Zuschlag bekommen, auch anderen Ländern in Europa helfen, das sind auf jeden Fall Schritte in die richtige Richtung. Damit kann man der massiven Marktmacht der Amerikaner entgegenwirken. Noch viel besser wäre natürlich, wenn wir mit den Amerikanern kooperieren würden. Was meine Sorge ist: Die Pandemie breitet sich immer stärker in den ärmeren Ländern dieser Welt aus. Man hat dort auch noch sehr hohe Sterblichkeit, obwohl die Menschen dort jünger sind und eigentlich nicht so stark betroffen sein müssten. Das heißt, diese Länder müssen auch Impfstoff bekommen, wenn wir Impfstoff haben, und die wären natürlich niemals in der Lage, die Preise zu zahlen, über die jetzt zum Teil nachgedacht wird. Medikamente zur Behandlung von COVID-19 Einen Impfstoff oder ein neues Medikament zu entwickeln, ist langwierig. Die Hoffnung richtet sich daher auf bekannte Medikamente, die zur COVID-19-Therapie umfunktioniert werden könnten. "Noch nie auf einen Impfstoff so angwiesen wie jetzt" Münchenberg: Nun bräuchte man ja, faktisch gerechnet, sechs Milliarden Impfdosen auf mehr oder weniger einen Schlag, wenn man denn tatsächlich ein Medikament gegen Corona hätte. Ist das überhaupt realistisch, technisch auch? Lauterbach: Technisch ist das nicht möglich, das in sehr kurzer Zeit so zu produzieren. Das wäre noch nie gelungen und daher würde der Impfstoff nur portionsweise zur Verfügung stehen. Da kommt es sehr darauf an, dass diejenigen, die ihn zuerst benötigen, ihn auch zuerst bekommen. Beispielsweise wird es so sein, dass dann einige Länder besonders betroffen sind, und man muss natürlich sehen, dass man dort zuerst dann auch impft, um die Pandemie dort aufhalten zu können. Das hängt nicht mit der Zahlungsbereitschaft und auch nicht der Zahlungsfähigkeit dieser Länder zusammen. Von daher muss man sehr darauf achten – ich glaube, da ist auch die Pharmaindustrie international in der Pflicht -, sich da nicht gierig zu zeigen und den guten Ruf der pharmazeutischen Unternehmen, die bei Impfstoffen bisher immer ganz vernünftige Preise geboten haben, nicht zu ruinieren auf einen Schlag. Münchenberg: Wobei da gab es durchaus auch Ausreißer. Manche Pharmafirmen haben, was den Preis anbelangt, ordentlich zugegriffen. Lauterbach: Ja, aber nicht im Vergleich zu anderen Krankheiten oder Medikamenten. Wir haben ganz andere Verhaltensweisen jetzt beispielsweise bei der Krebsbehandlung, da werden zum Teil für die Behandlungskosten eines einzigen Patienten bis zu 150.000 Euro verlangt. Für seltene Erkrankungen werden bis zu einer Million verlangt. Das sind die wirklichen dramatischen Wucherpreise. Bei Impfstoffen ging das bisher, aber noch nie sind wir auf einen Impfstoff, wenn er denn kommen sollte, was wir nicht sicher wissen, so angewiesen gewesen wie jetzt. Corona-Impfstoff - Virologin Addo: Nicht genügend Herstellungskapazitäten Wenn ein wirksamer Impfstoff gefunden werde, müsse er in großen Mengen hergestellt werden, sagte die Virologin Marylyn Addo im Dlf. Doch dazu fehlten die Herstellungskapazitäten. "Wenn Fallzahlen niedrig bleiben, reichen Remdesivir-Vorräte" Münchenberg: Nun sagt, Herr Lauterbach, die Bundesregierung, es gebe keinen Engpass bei Remdesivir. Ist das glaubhaft? Oder wenn man mal anders fragt: Was kann die Bundesregierung überhaupt machen? Lauterbach: Das ist dann glaubhaft, wenn wir keine große zweite Welle bekommen. Wenn die Fälle niedrig bleiben, die Fallzahlen niedrig bleiben, dann werden wir so wenige beatmungspflichtige Fälle haben, dass tatsächlich die Remdesivir-Vorräte, die da sind, reichen. Das wird sich natürlich schlagartig ändern, wenn eine starke zweite Welle käme, was niemand ausschließen kann. Das muss nicht kommen, aber da kann man auch nicht spekulieren. Das hängt sehr davon ab, ob das Virus sich zum Beispiel verändert und wie es im Herbst weitergeht. Aber wenn wir eine starke zweite Welle bekämen, oder wir müssten lange beispielsweise darauf warten, dass ein Impfstoff kommt, und hätten immer wieder Wellen, dann könnte auch Remdesivir für uns knapp werden. Von daher muss man diese Aussagen mit einer gewissen Einschränkung betrachten. Aber gut ist zumindest, dass man überhaupt schon Vorräte hat. Münchenberg: Nun gibt es ein paar Vorräte bei Remdesivir. Gleichzeitig hat die Bundesregierung auch Verträge mit der Firma Astrazeneca für einen anderen Wirkstoff abgeschlossen. Man hat 300 Millionen Euro beim Tübinger Biotech-Unternehmen Curevac, ist da eingestiegen, die ja ebenfalls an einem Wirkstoff gegen Corona forschen. Ist das am Ende die richtige Strategie, überall Geld einzusetzen? Lauterbach: Ich glaube, dass es besser wäre, wenn man das konzertiert machen würde im Rahmen der EU. Und noch besser wäre es, wenn man zu Abkommen käme mit den Amerikanern zusammen, so dass hier vermieden würde, dass man sich gegeneinander ausspielt und dass es zu einem Egoismus der Preise kommt. Denn der wäre eine unfassbare Blamage für die Staatengemeinschaft, wenn es der Gemeinschaft der Wissenschaftler gelingt, einen Impfstoff zu entwickeln, was uns ja für ein ähnliches Virus bisher noch nie gelungen ist, muss man auch ganz ehrlicherweise sagen. Somit ist das, wenn man so will, sowieso ein Weitschuss. Innerhalb von kurzer Zeit gegen eine solche Form des Virus, einen RNA-Virus, der auch diese besonderen Eigenschaften hat, einen Impfstoff zu entwickeln, ist noch nie gelungen. Aber wenn uns das gelingen sollte, ist das ein Triumph für die Wissenschaft. Der darf nicht zu einer Blamage der Politik werden. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) "Mondlandungsprojekt der Impfstoff-Forschung" Münchenberg: Da gibt es auch eine niederländische Studie, die will ich nur kurz zitieren: Sechs Prozent aller Projekte für einen Impfstoff haben nur je Marktreife erlangt. Das klingt wenig optimistisch. Lauterbach: Genau, das stimmt. Auf der anderen Seite haben auch noch nie so viele Menschen mit dieser unfassbaren Fähigkeit, Intelligenz und mit diesen Ressourcen an einem Impfstoff gearbeitet. Das ist das Mondlandungsprojekt der Impfstoff-Forschung. Von daher kann man das nicht vergleichen mit den gescheiterten Versuchen in der Vergangenheit. Da sind viel weniger Leute dran beteiligt gewesen und auch nicht mit dieser enormen Power, die jetzt dahintersteckt. Aber nichtsdestotrotz: Sicher ist es leider nicht. Das sagen auch die Kollegen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karl Lauterbach im Gespräch mit Jörg Münchenberg
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat den Aufkauf des Corona-Medikaments Remdesivir als "unfreundlichen Akt" der US-Regierung bezeichnet. Wenn man so auch an einen Impfstoff heranginge, wäre das besorgniserregend, sagte er im Dlf. Wer diesen am dringendsten benötige, müsse ihn zuerst bekommen.
"2020-07-02T06:50:00+02:00"
"2020-07-03T09:37:00.895000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lauterbach-spd-zum-coronavirus-ein-impfstoff-wird-am-anfang-100.html
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Frithjof Seidel erreicht WM-Finale
WM-Schwimmen im japanischen Fukuoka: Das Team aus Deutschland in Aktion im Wettbewerb Akrobatik Routine. (Nick Didlick / AP / Nick Didlick) Zum Team gehören: Marlene Bojer, Maria Denisov, Solène Guisard, Klara Bleyer, Susana Rovner, Michelle Zimmer und Daria Martens China lag mit 236 Punkten vorn. In dem Wettbewerb liegt der Schwerpunkt auf akrobatischen Elementen; die Nationen müssen eine vorgeschriebene Anzahl an Hebe-, Sprung- und Balance-Elementen aus vorgegebenen Kategorien zeigen. Die erste Goldmedaille bei den WM-Wettbewerben der Synchronschwimmer holte sich die Japanerin Yukiko Inui in der Technischen Solo-Kür. Die Würzburgerin Leonie Beck gewann die erste Goldmedaille für die deutsche Mannschaft. Sie siegte im Freiwasser über zehn Kilometer vor der Australierin Chelsea Gubecka und Katie Grimes aus den USA. Es ist bereits die vierte WM-Medaille für Beck. Die 26-Jährige qualifizierte sich damit auch für die Olympischen Spiele im nächsten Jahr in Paris. Diese Nachricht wurde am 15.07.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
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Der einzige deutsche Synchronschwimmer Frithjof Seidel hat bei seinem Weltmeisterschafts-Debüt im japanischen Fukuoka ein Finale erreicht. Im neu eingeführten Wettbewerb Akrobatik Routine kam sein Team auf insgesamt über 190 Punkte.
"2023-07-15T20:24:21+02:00"
"2023-07-15T03:35:27.366000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frithjof-seidel-erreicht-wm-finale-100.html
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Wie Bonitätsbewertungen unser Leben beeinflussen
Antragsformular der Schufa: Verbraucher können abfragen, was über sie in Auskunfteien gespeichert ist (imago / Schöning) Wer im Internet etwas bestellt oder einen Mobilfunkvertrag abschließen möchte, wer die Null-Prozent-Finanzierung eines neuen Fernsehers in Betracht zieht oder einfach nur ein Girokonto besitzt – der hat ganz sicher schon einmal etwas mit Kredit- oder Wirtschaftsauskunfteien zu tun gehabt. Häufig wissen Verbraucherinnen und Verbraucher das nur nicht, weil in der Regel alles glatt läuft, die Bestellung durchgeht, der Mobilfunkvertrag geschlossen wird. "Vom Grundsatz her ist es mit der Schufa ja okay", sagt einer, bei dem es schon lange nicht mehr glatt läuft: Michael Feist, 61 Jahre alt. "Nur es wird eine Machtstellung ausgeübt, die der Schufa nicht zusteht." Feist ist stinksauer. Der Angestellte einer Stadtverwaltung hat eine schlechte Bewertung bei der Schufa, sein sogenannter Score-Wert ist zu niedrig, um damit am alltäglichen Geschäftsleben teilnehmen zu können. Die Schufa Holding AG ist Deutschlands größte Wirtschaftsauskunftei. Aber es gibt noch andere: Creditreform, Arvato Infoscore oder Crif Bürgel zum Beispiel. Sie alle sammeln Informationen über Privatpersonen oder Unternehmen, um damit eine Art Risikobewertung vorzunehmen: Wie hoch ist das Risiko, dass mein Geschäftspartner seine Rechnungen nicht bezahlt? Michael Feist hat eine schlechte Risikobewertung, denn Feist war privatinsolvent. Vor knapp drei Jahren bezahlte er seine letzten Schulden ab. Gespeichert ist sein negativer Eintrag immer noch. "Ich möchte mir eine andere Immobilie suchen. Derjenige geht in die Schufa und sagt: Oh, der ist ja völlig verschuldet, der Typ. Was ja seit Jahren überhaupt nicht stimmt. Und lehnt das ab." Oftmals veraltete Bewertungen bei der Schufa Bei jeder noch so kleinen Internetbestellung heißt es: nur per Vorkasse oder Nachnahme. Auch ein Handyvertrag bleibt ihm verwehrt. Als sich der 61-Jährige jüngst einen neuen Gebrauchtwagen kaufen wollte, hatte er wieder so ein Erlebnis. Nach Inzahlungnahme seines alten Autos sind noch 2000 Euro übrig. Feist wird angeboten, den Betrag zu finanzieren. Er stimmt zu, der Verkäufer ruft die Hausbank an – und verstummt nach wenigen Sätzen, so erinnert sich Feist. Die Hausbank könne das doch nicht finanzieren, da sei ja ein negativer Eintrag vorhanden. "Wenn man dann sagt: Ich habe ein Guthaben im fünfstelligen Bereich auf dem Konto plus einen Sparvertrag, wo ich sofort darauf zugreifen kann, interessiert alles nicht, dass du arbeitest, du Steuern bezahlst, Sozialabgaben und so. Interessiert alles nicht. Dann stehst du vor wildfremden Menschen in diesem Autohaus wie so ein Penner." "Es geht ja nicht um die Bewertung von Personen", sagt Ingo Koch, Sprecher der Schufa Holding AG. Es gehe darum, "ein Unternehmen, was gebeten wird, Geld zu verleihen oder Produkte auf Rechnung zu versenden, in die Lage zu versetzen, das eigene Risiko zu kalkulieren, zu dem es ein Geschäft eingeht. Und damit sind wir bei der Schufa im Zusammenspiel mit den Vertragspartnern, die unsere Informationen nutzen, Möglichmacher von Geschäften, die ohne solche Informationen nicht oder lange nicht so einfach möglich wären, wie zum Beispiel der Onlinekauf auf Rechnung im Handel." Die Deutschen sind in der Regel zuverlässige Schuldner. Die Schufa zum Beispiel hat über knapp 91 Prozent der Verbraucher ausschließlich positive Informationen. Nur bei rund neun Prozent der Menschen in Deutschland ist es demnach in den vergangenen Jahren zu Zahlungsstörungen gekommen, wurden zum Beispiel Rechnungen nicht bezahlt. "Hinter jedem geplatzten Kredit, hinter jedem Produkt, das erworben und nicht bezahlt wird, hinter jeder Rechnung, die nicht bezahlt wird, steht ein Unternehmen, was eine Leistung erbracht hat mit Mitarbeitern. Nehmen wir mal den Handwerksbetrieb, der seine Rechnungen nicht bezahlt bekommt, wo im Zweifel dann Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen." Ein negativer Eintrag bei der Schufa kann für den Verbraucher viele Folgen haben (imago stock&people / Christian Ohde) Vielerlei Daten sollen Zuverlässigkeit beweisen Deshalb werden Auskunfteien von Firmen, Finanzinstituten oder Händlern um ihre Risikoeinschätzung zu einzelnen Verbrauchern oder Unternehmen gebeten. Die Auftraggeber wollen wissen: Wie zuverlässig ist mein Vertragspartner? Um das einschätzen zu können, nutzen Auskunfteien verschiedene Informationen, zum Beispiel zu Zahlungen, Bestellungen und Verträgen, die man hat. Diese Daten stammen von Handelsketten, Versandhändlern, Versicherungen, Energieversorgern oder Inkassounternehmen, mit denen die Auskunfteien zusammenarbeiten. Außerdem wissen sie meist, wie viele Giro- und Sparkonten oder Kreditkarten ein Verbraucher hat. Und sie greifen auf öffentlich zugängliche Informationen zurück, erklärt Thomas Riemann, Chef des Verbands der Wirtschaftsauskunfteien und Justiziar der Creditreform, die vor allem Unternehmensdaten sammelt: "Die Creditreform hat etwa 1000 Mitarbeiter, die nichts anderes machen, als zu recherchieren. Das heißt, die sichten die Register, die zur Verfügung stehen: Handelsregister, Unternehmensregister. Dann werden aber auch die Betroffenen selbst angerufen. Zum Beispiel also wenn, ich sage mal, um die Ecke ein neuer Bäcker aufmacht. Dann wird er auch direkt von den Auskunfteien befragt. Das ist auch ein Grundsatz, man soll also bevorzugt die Daten bei dem erheben, dem sie auch gehören, sozusagen." Aus diesen Daten werden die sogenannten Scores berechnet, mit Hilfe streng geheimer Algorithmen. Wie stark fallen einzelne Merkmale ins Gewicht? Werden Geschlecht oder Alter mit bewertet? "Wo tatsächlich ein schlechter Score herkommt, das kann man kaum herausfinden", sagt Arne Semsrott, der sich als Netzaktivist für mehr Transparenz einsetzt. "Welche Kriterien alle eingeflossen sind, welche Daten die Schufa auch tatsächlich über mich vorhält, das alles weiß ich nicht." Semsrott hat zusammen mit zwei NGOs vor zwei Jahren die Initiative Open Schufa gestartet und dazu aufgerufen, dass sich so viele Menschen wie möglich eine Selbstauskunft bei der Schufa einholen. Die ist einmal pro Jahr kostenlos. "Dann war unsere Idee, mit Hilfe dieser tausenden Spenden, die wir dann letztlich bekommen haben, Rückschlüsse ziehen zu können auf die Algorithmen, die bei der Schufa verwendet werden. Also zu schauen, was für Auswirkungen hat das Alter von der Person, was für Auswirkungen hat das Geschlecht, das in einer Datenbank steht." Junge Männer als Risikogruppe Semsrott und seine Mitstreiter merkten zum Beispiel, dass Männer, vor allem junge Männer, bei ansonsten ähnlichen Voraussetzungen wie andere Menschen deutliche schlechtere Scores erhielten. "Das deutet darauf hin, dass tatsächlich bei der Schufa aufgrund von Alter und aufgrund von Geschlecht in der Datenbank Unterschiede gemacht werden." Es stimme zwar, sagt Semsrott, dass Männer statistisch gesehen ein schlechteres Zahlungsverhalten hätten als Frauen. Aber darf ein Mann deshalb generell schlechter bewertet werden? "Aus Sicht von Antidiskriminierung ist das ein Riesenproblem." Die Schufa weist Diskriminierung von sich. Dennoch hat auch der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen mehr Transparenz von den Auskunfteien gefordert. Scoring-Anbieter sollten offenlegen, welche Merkmale für die Bewertungen besonders relevant sind und wie sie gewichtet werden. Die Auskunfteien berufen sich allerdings darauf, dass das ein Geschäftsgeheimnis sei. Trotzdem sind natürlich auch Auskunfteien nicht unantastbar. So hat der oberste Datenschützer von Baden-Württemberg, Stefan Brink, jüngst einen Mitbewerber der Schufa offiziell verwarnt. "Hintergrund war, dass diese Wirtschaftsauskunftei Auskünfte gegeben hat über die Bonität, also über die Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit eines Wirtschaftsunternehmens und dabei sich darauf gestützt hat, dass es zu wenig Informationen hätte, so dass sie keine gute Bewertung abgeben könnte." Das sei nicht zulässig, sagt der Datenschutzbeauftragte. "Wenn sie datensparsam sich verhalten, also nicht jedermann erzählen, was sie verdienen und wie sie sich wirtschaftlich verhalten, und was für Kredite sie in Anspruch nehmen und welche nicht, dann ist das das gute Recht des Einzelnen. Das nennt sich informationelle Selbstbestimmung. Wenn das Schule machen würde, dass die Auskunfteien sagen würden, ich gebe aber nur dann eine positive, also freundliche Auskunft über dich, wenn du mir alles über dich erzählst, dann unterlaufen wir auf die Art und Weise natürlich die informationelle Selbstbestimmung."Die Bonitätsbeurteilung über Verbraucher wie auch Unternehmen müsse "ganz rational sein. Sie müssen tatsachenbasiert sein und sie müssen auf den Betroffenen zugeschnitten sein." Verbraucher wissen oft nicht, warum sie eine schlechte Bewertung haben Häufig aber wüssten Verbraucher nicht, warum sie eine schlechte Bewertung haben, sagt Birgit Vorberg, Juristin bei der Verbraucherzentrale NRW. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Wirken von Kredit- und Wirtschaftsauskunfteien. "Es ist oft schwierig. Wenn zum Beispiel ein Verbraucher zu uns kommt, dessen Daten falsch sind, dann müssen wir ihm raten, sich mit dem Gläubiger, der das gemeldet hat, in Verbindung zu setzen. Und auch mit der Schufa. Natürlich hat der Verbraucher auch gegenüber der Schufa ein Recht darauf, dass sie keine falschen Daten über ihn speichert. Sie verweist aber oft eben darauf, dass sie selbst die Daten nicht recherchiert hat, sondern dass die ihr gemeldet wurden und dass man sich dann an den jeweiligen wenden soll, der die gemeldet hat. Es ist immer eine schwierige Gemengelage." Es darf nicht jeder einfach so jemanden bei der Schufa oder anderen Wirtschaftsauskunfteien melden. Eine nicht bezahlte Rechnung zum Beispiel muss zweimal schriftlich angemahnt werden, dazwischen müssen vier Wochen liegen und der Adressat muss darauf hingewiesen werden, dass die Meldung an eine Wirtschaftsauskunftei bevorsteht. Betrug beim Inkasso: Widersprechen und nicht zahlenEin Inkasso-Unternehmen mahnt in harschem Tonfall eine angeblich versäumte Zahlung an und verlangt dabei auch noch horrende Gebühren. Nicht selten sind solche Forderungen frei erfunden. Betroffene sollten dennoch schnell reagieren – und widersprechen. Betroffene können die Forderung bestreiten, wenn sie zum Beispiel unbegründet ist, weil Ware nie geliefert wurde oder defekt war. Dann darf es erst einmal nicht zum Negativ-Eintrag kommen. "Ich habe das Gefühl, die Verbraucher wissen sehr oft nicht, wie ihre Rechte sind gegenüber Auskunfteien. Sie haben, was die Schufa angeht, vor allen Dingen Angst." Denn ein negativer Eintrag und ein daraus berechneter schlechter Score könne sich auf ganz viele Alltagsbereiche der Verbraucherinnen und Verbraucher auswirken. "Diese Prognosen fließen in ganz viele Vertragsabschlüsse ein. Zum Beispiel in Energieverträge, in Telefon-, Internetverträge. Das bekommt der Verbraucher oft gar nicht so mit. Aber diese Prognosen können mitbestimmend sein dafür, wie viel ich für einen Kredit bezahle, ob ich eine Grundversorgung im Energiebereich bekomme oder einen Sondervertrag." Banken und Versicherungen haben eigene Systeme Die Scores der Wirtschaftsauskunfteien sollten eigentlich nicht ausschließlich entscheidend sein, heißt es von der Schufa. Sie seien lediglich Entscheidungshilfen. Verbraucherschützerin Birgit Vorberg meint aber: Viele, vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, verließen sich trotzdem größtenteils auf die Daten von Auskunfteien. "Banken und Kreditinstitute haben auf jeden Fall eigene Systeme. Und auch der Online-Handel hat es auch." Ist ein Kunde allerdings neu, kommt wieder die Auskunftei ins Spiel. So ist das auch bei Banken. "Also die Bank hat ja bei ihrer Kreditwürdigkeitsprüfung auch bestimmte Sorgfaltspflichten zu beachten", sagt Gerhard Hofmann, Vorstandsmitglied des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken. Dazu gehöre, das Einkommen und finanzielle Verpflichtungen des Kunden zu überprüfen. Sollten nicht genügend Daten zur Verfügung stehen, wird auch die Schufa befragt. Diese Prüfung, diese Bewertung der Bonität einer Person, geschehe auch zum Vorteil des Kunden, sagt Hofmann. "Wir wollen ja keine Situation am Ende, dass ein Kunde Kredite aufnimmt, die er später nicht zurückzahlen kann." Denn das schade letztlich nicht nur dem einzelnen Bürger, sondern möglicherweise allen – wenn zum Beispiel aufgrund hoher Ausfallquoten die Zinsen steigen. Hofmann ist es aber wichtig, zu betonen: "Dieser Schufa-Score ist kein absolutes Kriterium für uns. Es hängt dann wirklich vom Einzelfall ab, wie sind die Verhältnisse jetzt, wie vertrauenswürdig, zuverlässig ist dieser Kunde." Verzögerter Neuanfang bei negativem Schufa-Eintrag Michael Feist, der 61-jährige Verwaltungsangestellte, der vor drei Jahren seine Privatinsolvenz beendet und alle Schulden bezahlt hat, hat in den letzten Jahren andere Erfahrungen gemacht. Ihm zufolge verhindert sein immer noch gespeicherter, negativer Schufa-Eintrag, dass er Autokredite erhält, seine Bank wechseln oder einen Handyvertrag abschließen kann. Eine neue Wohnung anmieten? Schwierig. Feist wurde 2010 Witwer, es sei eine schwierige Zeit gewesen, erzählt er. 2012 habe er dann die Restschuld eines Hypothekendarlehens nicht mehr bezahlen können: 15.000 Euro. Was folgte, war die Privatinsolvenz. Tag und Nacht habe er geschuftet, jeden Cent gespart und noch vor Ablauf des Verfahrens, das bis Ende 2018 lief, alle Schulden getilgt. "Ich hatte eineinhalb Jahre vorher schon alles abbezahlt, das heißt, im Juli 2017 war schon alles bezahlt." Drei Jahre lang speichern Auskunfteien die Daten zum Ende eines Insolvenzverfahrens oder der Restschuldbefreiung. Ein Neuanfang kann damit faktisch verzögert werden. Bei Feist kam noch hinzu: Er hatte sein Verfahren ja früher als geplant beendet. "Da habe ich erst einmal bei der Schufa mega mega einen Schriftverkehr entfacht und dann hat man sich dann ein wenig bewegt, ein wenig." Ombudsverfahren bei Schufa Statt die Daten zu seiner Insolvenz wie geplant bis Ende 2021 zu speichern, sagte die Schufa zu, sie ab Oktober 2020 aus ihrem Datenbestand zu löschen. "Ja, weil im Oktober 2017 der Bescheid des Amtsgerichts geschrieben wurde: Du hast alles bezahlt. Wir werden Dich in allen Gerichtsdatenbanken löschen. Wenn man dann sagt: Hör mal, ich bin seit Juli 2017 komplett clean, mit allem, nun bitte, wo habt ihr da ein Problem? - und dann: Nein, sehen wir nicht ein." Feist stellte daraufhin einen Antrag an den Ombudsmann der Schufa – und bat um unparteiische Klärung. Die Schufa ist nach eigenen Angaben die einzige Auskunftei in Deutschland, die für strittige Fragen ein Ombudsverfahren eingeführt hat, erklärt Sprecher Ingo Koch. Ombudsmann ist der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. Algorithmen im Alltag (4/12): Der BewerterScoring-Algorithmen sortieren für Unternehmen Bewerber vor oder entscheiden, wer auf Rechnung einkaufen darf und wer nur gegen Vorkasse. Auch die SCHUFA setzt sie ein, wenn sie Bonitätsauskünfte erteilt. Im Prinzip kennen diese Algorithmen keine Vorurteile, doch oft ist unklar, nach welchen Kriterien sie entscheiden. "Er prüft also den Fall, den bisherigen Schriftverkehr und trifft dann einen sogenannten Schiedsspruch." Etwa 170 Millionen Auskünfte erteilt die Schufa nach eigenen Angaben jährlich. 2019 gingen demnach beim Ombudsmann gut 1040 Anträge ein. 441 nahm er an, davon gingen 31 zugunsten von Verbrauchern aus. Die Quote ist also gering. Laut der Schufa zeigt das die hohe Qualität ihrer Datenverarbeitung. Im Fall von Michael Feist ist es allerdings nie zu einem Schiedsspruch gekommen. Keiner seiner insgesamt drei Anträge an den Ombudsmann sei angenommen worden. Verbraucherschützer raten im Umgang mit Wirtschaftsauskunfteien mittlerweile dazu, Experten, also Fachanwälte hinzu zu ziehen. "Das Hauptproblem in unserer Kanzlei sind auf jeden Fall sogenannte Negativ-Einträge", sagt ein solcher Fachanwalt, Jurist Sven Tintemann von der Kanzlei AdvoAdvice in Berlin. "Öfter gibt es auch das Problem der Eintragung der Restschuldbefreiung, nach dem jemand das Insolvenzverfahren durchlaufen hat." Interessenabwägung bei Gerichten entscheidend Die für Wirtschaftsauskunfteien geltenden Gesetzesgrundlagen sind "die vor etwa zwei Jahren in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung und dann gibt es noch das Bundesdatenschutzgesetz." Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sieht zum Beispiel eine Interessensabwägung vor, bevor Daten gespeichert werden. "Da ist es tatsächlich noch ein bisschen unklar, wie das genau funktioniert. Da sind die Gerichte gerade dabei, das so ein bisschen auch für sich zu klären." So hat das Frankfurter Landgericht Ende 2018 die Schufa verurteilt, einen Eintrag über die Privatinsolvenz eines Klägers vor Ablauf der Drei-Jahres-Frist zu löschen, weil dieser Eintrag es dem Kläger quasi unmöglich gemacht habe, eine neue Wohnung zu mieten. "Das wird nicht als wegweisendes Urteil gesehen, sondern eher als Einzelfallurteil, weil es da ja auch um eine Interessenabwägung gegangen ist", schränkt Anwalt Sven Tintemann allerdings direkt ein. Diese Interessenabwägung sei eben individuell. Juristen wie Tintemann fordern deshalb, Fragen zur Speicherfrist von Daten grundsätzlich – und zwar auf Ebene der Bundesgesetzgebung – zu regeln. "Es gibt zum Beispiel für diese Insolvenzbekanntmachungen Speicherfristen von sechs Monaten, wo das gut auffindbar ist, dort aber danach – ohne dass man die konkreten Verfahrensdaten kennt – dann auch nicht mehr." An eine ähnliche Frist wie diese sechs Monate sollten sich auch die Auskunfteien halten, meint Tintemann. Nur dann könne der Verbraucher nach durchlaufener Insolvenz auch wirklich wieder neu ins Geschäfts- und Alltagsleben starten. Das Interesse an diesem Neustart wiege schwerer als das Interesse neuer Geschäftspartner, über die vergangene Insolvenz Bescheid zu wissen. Das sehen Auskunfteien anders, erklärt Verbandschef Thomas Riemann. "Da ist natürlich noch ein gewisses Restrisiko, weil, wer einmal sozusagen gefehlt hat, bei dem ist die Gefahr größer, dass es möglicherweise nochmal passiert. Das kann man auch statistisch belegen." Unverschuldete Insolvenzen durch Corona Im Bundestag scheint es andere Statistiken zu geben. Das Justizministerium bereitet gerade einen Gesetzesentwurf zur Restschuldbefreiung vor, der eine Verkürzung der Speicherfristen nach Privatinsolvenz beinhaltet. Zu Recht, meint die Grünen-Bundestagsabgeordnete Melanie Rottmann, Obfrau im Rechtsausschuss: "Die Erfahrungen zeigen, da gibt es wirklich gute Evaluationen, dass die Einschnitte, die zur Insolvenz im Normalfall führen, in aller Regel bei privaten Personen zum Beispiel Scheidung sind, Arbeitslosigkeit, Krankheit. Und die Idee, dass das Insolvenzrecht zu lasch ist und die Leute leichtfertig in die Insolvenz gehen, von der Praxis überhaupt nicht getragen wird." Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Nach Angaben des federführenden Justizministeriums könnte das Gesetzesvorhaben noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Den Vorschlägen zufolge würde die Speicherfrist für Daten zur Privatinsolvenz oder Restschuldbefreiung von drei Jahren auf ein Jahr sinken. Die Grünen hatten im April schon einen ähnlichen Entwurf vorgelegt. Sie fordern eine möglichst schnelle Gesetzesänderung, denn: "Wir werden durch Corona Insolvenzen haben, die natürlich tatsächlich unverschuldet sind." Diese Corona-Insolvenzen würden dann schon unter die neuen Regelungen fallen, die Daten dazu schneller wieder gelöscht. Michael Feist wird das alles nicht mehr helfen. Sein Schufa-Eintrag wird im Oktober gelöscht. Drei Jahre lang hat er dann darum gekämpft, ihn früher loszuwerden, wieder wie ein anständiger Geschäftspartner behandelt zu werden.
Von Vivien Leue
Wer eine Wohnung sucht, ein Konto eröffnet oder per Kredit ein Auto kaufen will, hat es schnell mit sogenannten Auskunfteien zu tun. Sie sammeln Informationen über Privatpersonen oder Unternehmen und nehmen eine Risikobewertung vor. Doch die ist umstritten.
"2020-06-28T18:40:00+02:00"
"2020-06-29T09:22:01.586000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auskunfteien-in-deutschland-wie-bonitaetsbewertungen-unser-100.html
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Unsterbliche Königin trifft verwöhnte Bälger
Queen Elisabeth steuert auch mit 93 noch selbst (imago images / Paul Marriott) Hinweis vorab: Falls Sie erzürnt sein sollten, dass der royale Heckmeck Sie sogar in erlesenen Kultursendungen verfolgt – nur die Ruhe! Es kommt doch immer darauf an, wie man die Dinge intellektuell anpackt. Deshalb distanzieren wir uns selbstverständlich von dem britischen Revolver-Blatt "The Sun", das jüngst mit der Überschrift aufwartete: "Monster Meghan breaks Queen's heart" - also etwa: 'Monster Meghan bricht der Königin das Herz'. So etwas geht natürlich nicht! Die arme Meghan derart zu entmenschlichen, das unterbietet sogar Boris Johnsons machomäßige Feixerei und der hat einst Hillary Clinton einen "stahlblauen Blick, wie eine sadistische Krankenschwester in einer psychiatrischen Klinik", bescheinigt. Konflikt zwischen Pflicht und Freiheit Umständehalber sei verschwiegen, dass die "Sun" wie auch Johnson beim Publikum viel Beifall einheimsten... Als wäre an ihren Beobachtungen etwas dran. Aber bestimmt erfüllt es Ihre hohen Ansprüche, wenn man dem britischen Königshaus derzeit einen Konflikt von Shakespeare'scher Größe attestiert – den Konflikt zwischen Pflicht und Freiheit... Sie wissen ja, in welchen Königsdramen Shakespeare das thematisiert. Die Pflicht ist das Lebenselixier von Queen Elizabeth II., jener zeitlosen Regentin, der es gefühlt gelingen wird, ihr 100-jähriges Thronjubiläum noch vor ihrem 100. Geburtstag zu begehen. Obwohl man auch der Netflix-Serie "The Crown" nicht entnehmen kann, wie viel Kantorowicz die Queen gelesen hat, hat sie ihn doch verinnerlicht. Der Historiker Kantorowicz billigte Königen einst zwei Körper zu: den natürlichen, leiblichen und sterblichen, und den "übernatürlichen", unsterblichen, der praktisch identisch ist mit Amt, Würde und Funktion. Und die Queen hat es geschafft, in diesem zweiten, dem unsterblichen Körper aufzugehen. Falls Sie erwarten, sie könnte je sterben – lassen Sie sich von Kantorowicz eines Besseren belehren. Meghan hätte besser "The Crown" geguckt Meghan indessen, ehemals eine lebenslustige US-amerikanische Schauspielerin, hat erst nach ihrer Heirat mit Prinz Harry erkannt: Das britische Königshaus gleicht einem Gefängnis, in dem der britische Boulevard Folterkeller unterhält. Woraus sich schließen lässt: Meghan hat den Aufklärungsstreifen "The Crown" entweder nicht rechtzeitig gesehen oder nicht verstanden – sie hätte sich sonst weder von Liebe verführen noch vom royalen Blingbling täuschen lassen. Trotzdem, nein: deswegen, ist ihr jüngster Freiheitsdrang von der gleichen ethischen Qualität wie der Pflichterfüllungs-Exzess der Queen - die naturgemäß tief enttäuscht darüber ist, dass ihr innerer Immanuel Kant, der sie tagtäglich zur Pflicht ruft, zu Meghan und Harry nicht durchdringt. Das ist das Drama. Und noch weiß keiner, ob der Megxit leichter abgewickelt werden kann als der Brexit. Etwas bröckelig wird die hohe ethische Position von Meghan und Harry allerdings durch ihre Vorliebe für kostspieligen Jetset-Lifestyle. Von der königlichen Kohle, zumal für ihre Sicherheit, kommen die beiden wohl so bald nicht los. Beratungsleistungen und Schlafanzüge Und ihre eigene Kohle wollen sie ausgerechnet mit der Handelsmarke "Sussex Royal" verdienen, die Beratungsleistungen genauso anbietet wie Schlafanzüge. Insofern müssen wir vielleicht doch anerkennen: Manchmal ist der schlichtere Zugang zu den Dingen der griffigere. In diesem Sinne empfahl der britische Kolumnist Piers Morgan, die "verwöhntesten Bälger der Geschichte" sofort zu "feuern". Aber trotzdem nett, dass Sie unserem Versuch gefolgt sind, einem Boulevard-Thema Niveau einzuhauchen.
Von Arno Orssezek
Harry und Meghan tanzen aus der royalen Reihe. Sie wollen teilweise in Kanada leben und eigenes Geld verdienen. Die Krone steckt in der Krise. Die Queen hat ihren Sohn Charles und ihre Enkel William und Harry zum Rapport bestellt. Ist der Megxit leichter abzuwickeln als der Brexit?
"2020-01-13T17:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:27:33.202000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/royales-krisentreffen-unsterbliche-koenigin-trifft-100.html
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"Der Gesetzgeber muss schneller werden"
Der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD). (imago / Astrid Schmidhuber) So habe er bereits im November 2012 die Forderung aufgestellt, dass eine Verjährung von Steuerdelikten erst einsetzen dürfe, wenn der Fall bekannt werde. Verstecken dürfe die Strafverfolgung nicht verhindern. Diese Forderung tauche auch im Zehn-Punkte-Plan von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zur Bekämpfung von Steuerflucht auf. Den Plan unterstütze er, sagte Walter-Borjans, beklagte mit Blick auf die Veröffentlichungen um die Panama Papers aber: "Jetzt brauchst Du Panama, damit der Eindruck erweckt wird: Jetzt geht es weiter." Man sei in einer Phase, in der der Gesetzgeber hinterherhechelt. "Wir müssen alle Energie darauf verwenden, dass der Gesetzgeber schneller wird", sagte Walter-Borjans. Er werde Schäuble unterstützen, "dazu gehört aber auch schieben." Das Ausmaß der Steuerhinterziehung sei erschreckend. "Wir haben feststellen müssen, dass wir es nicht mit einer Gruppe kleiner Steuerhinterzieher zu tun haben, sondern dass dahinter fast eine ganze Finanzindustrie steckt", sagte Walter-Borjans. Es habe sich eine Parallelgesellschaft entwickelt. Das Interview in voller Länge: Dirk Müller: Für David Cameron ist es ungemütlich geworden. Wir werden gleich im Deutschlandfunk noch ausführlicher darauf eingehen. Auch für Petro Poroschenko, auch Argentiniens Präsident Mauricio Macri ist beteiligt, ebenfalls der neue FIFA-Chef Gianni Infantino. Regierungschefs, Staatsoberhäupter, führende Sportfunktionäre sind Teil des Systems, des Panama-Systems, des Briefkasten-Phänomens. Gut eine Woche nach den Panama-Papieren ist Wolfgang Schäuble bereits mit einem konkreten Plan zur Hand: zehn Maßnahmen gegen Steuerbetrug und Geldwäsche. Nun versucht er, Überzeugungsarbeit zu leisten. Geldwäsche und Steuerflucht, Milliarden über Milliarden, die dem Staat, die der Gesellschaft entgehen, weil gerade auch die Großen betrügen. Permanent auf der Suche nach Steuersündern ist auch Norbert Walter-Borjans, SPD-Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel auch durch den umstrittenen Ankauf von Steuer-CDs. Guten Morgen! Norbert Walter-Borjans: Guten Morgen, Herr Müller. Müller: Herr Walter-Borjans, kann Sie noch etwas überraschen? Walter-Borjans: Eigentlich nicht mehr, denn wir haben durch unsere eigenen Ermittlungen in den letzten Jahren immer wieder feststellen müssen, dass wir es hier nicht mit irgendeiner Gruppe kleiner Steuerhinterzieher zu tun haben, die einen Koffer packen und ihr Geld wegschleppen, sondern dass dahinter fast, ja man muss es sagen, eine ganze Finanzindustrie steckt, die Dienstleistungen anbietet und die so organisiert ist, dass sie sich natürlich noch lieber um die ganz Großen kümmert, die dann wieder wie immer noch die besseren Chancen haben, ihr Geld weltweit zu verstecken, unterzubringen und der Steuer zu entziehen. "Panama ist ein Symbol" Müller: Die Großen und die Mächtigen. David Cameron für Sie auch keine Überraschung? Walter-Borjans: Na ja, die einzelnen Personen schon. Ich weiß ja nicht. Ich verdächtige jetzt auch nicht jeden Großen, dass er sich an diesem Geschäft beteiligt. Es ist immer noch wahrscheinlich die viel kleinere Zahl. Aber wenn es dann jemanden gibt, der ans Licht kommt, dann ist man nicht sonderlich überrascht. Man muss ja jetzt gerade in Bezug auf Großbritannien auch sagen, es handelt sich um einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, der auf der einen Seite wichtig ist dafür, dass wir Steuerschlupflöcher schließen, auf der anderen Seite aber auch zu denen gehört, die eine ganze Menge davon anbieten. Müller: Kommen auch noch mehr Namen jetzt in den nächsten Wochen und Monaten heraus, wo wir erstaunt sein werden? Walter-Borjans: Das kann ich nicht sagen, weil ich die Daten nicht kenne. Aber noch mal: Wir hatten ja schon vor Panama sogenannte Leaks, also Lecks, Datenlecks, die eine ganz wichtige Voraussetzung dafür sind, dass wir überhaupt, ich sage jetzt mal, an einzelne Tentakel einer großen Krake herankommen, und es wird sie auch nach Panama geben. Insofern ist Panama wie so oft ein Symbol. Es ist allerdings auch ein sehr erschreckendes, das Einblicke gibt darüber, welches Ausmaß diese Steuerhinterziehung hat, diese Parallelgesellschaft, die sich da ergeben hat, und in welcher Weise hier wirklich Dienstleistung angeboten wird, um dieses Treiben weiterführen zu können. Forderungen im Zehn-Punkte-Plan schon länger bekannt Müller: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum der Finanzminister jetzt Panama brauchte, um jetzt dagegen vorzugehen? Walter-Borjans: Wir sind ja, glaube ich, alle, nicht nur in der Politik, sondern die Menschen alle sind ja so gestrickt, dass immer sehr auffällige Schläge aufmerksam machen, und insofern muss man da, glaube ich, diese Nachsicht auch mit dem Bundesfinanzminister üben. Auf der anderen Seite, muss ich sagen, ist es mir zu oft Reagieren an Stellen, an denen man auch vorher schon wissen konnte, dass etwas getan werden muss. Ich nehme mal ein Beispiel. Der Bundesfinanzminister nennt jetzt in den zehn Punkten, die er anpreist, als neunten Punkt, dass man darauf achten sollte, dass die Verjährung nicht sofort einsetzt, das heißt, dass man sich nur lange genug verstecken muss, um dann irgendwann rauszukommen und zu sagen wie beim Kinder-Versteckspiel, Du hast mich nicht gefangen, sondern dass man ganz klar festsetzen kann, die Verjährung beginnt erst, wenn der Fall offenkundig wird. Dann geht das rechtliche Verfahren los und das Verstecken verhindert diese Verjährung. Diese Forderung habe ich - ich habe gestern noch mal nachgeguckt - am 16. November 2012 aufgestellt, nachdem ich mit der Bundessteuerverwaltung in den USA gesprochen hatte. Es gibt andere Dinge, die liegen seit zwei Jahren, seit drei Jahren als Gesetzentwürfe, die wir über den Bundesrat eingebracht haben, in Berlin und sie werden nicht weiterbetrieben. Und wenn man dann sieht, jetzt brauchst Du Panama oder Du brauchst immer wieder irgendeinen spektakulären Fall, damit mal eine Zeit lang der Eindruck erweckt wird, jetzt geht es weiter, und wahrscheinlich auch in kleinen Schritten wird es dann weitergehen. Dann ist man nicht zufrieden, weil man weiß, es könnte einfach schneller ein Stück weitergehen. Müller: Jetzt könnte man den Eindruck gewinnen, dass Wolfgang Schäuble, sagen Sie jedenfalls, ein Blockierer ist. Walter-Borjans: Ich mache da einen Unterschied. Ich kenne oder glaube, Wolfgang Schäuble gut genug zu kennen, dass ich ihm persönlich abnehme, dass er dieses Treiben zum Schaden der Allgemeinheit verurteilt. Müller: Er hat es nur ein paar Jahre vergessen? Walter-Borjans: Nein! Ich glaube, es gibt eine ganze Reihe von Punkten - ich erinnere mich da an Gespräche, die wir beide während der Koalitionsverhandlungen hatten -, die dazu geführt haben, dass beispielsweise im Koalitionsvertrag in Berlin ausdrücklich drinsteht, wenn es auf der internationalen Ebene Blockaden und kein Fortkommen gibt, dass wir uns vorbehalten, auch nationale, und zwar es gibt mögliche nationale Schritte, zu unternehmen. Und dann stellt man fest, dass es im politischen Betrieb in Berlin aus den Reihen von Herrn Schäuble immer wieder auch, ich sage mal, diejenigen gibt, denen es lieber ist, wenn es etwas langsamer geht und wenn es ein bisschen verwässerter formuliert ist, und das sind dann die Ansatzpunkte für diese Finanzindustrie zu sagen, ja da finden wir dann auch Lücken, da werden wir auch neue Produkte anbieten können. "Es geht um Politiker aus der Fraktion von Herrn Schäuble" Müller: Herr Walter-Borjans, mit den Reihen, Sie kennen sich da viel besser aus in Berlin, als das viele von uns tun. Wer sind diese Reihen? Walter-Borjans: Ich gehe jetzt nicht persönlich an bestimmte Personen heran. Aber ich weiß, ich kann nur ganz deutlich sagen: Es hat nicht zum ersten Mal aus dem, ich sage jetzt mal, politischen Freundeskreis von Herrn Schäuble (warum auch immer) einen erkennbaren Dissens mit dem Bundesfinanzminister selbst gegeben. Müller: Aus dem politischen Freundeskreis? Walter-Borjans: Ja. Müller: Da sitzen auch Manager, Bankiers oder wer? Walter-Borjans: Ich meine auch Politiker selbst. Es geht um Politiker aus der Fraktion von Herrn Schäuble, aber natürlich gibt es genau diese Krise derer, die Geld damit verdienen, die natürlich alle Möglichkeiten offenhalten wollen, dass dieses Geld auch künftig verdient werden kann, und das betrifft - das hat Herr Schäuble ja in dem O-Ton eben auch selbst gesagt - nicht nur Politik oder nationale Politik, es betrifft ja auch das Zusammenspiel der Staaten. Wie soll ich denn die Staaten zu klaren, gültigen und verlässlichen Vereinbarungen bringen, die einen hohen Profit von dieser Art des Geldgeschäfts haben? Deswegen werden wir nur eine Chance haben, weiterzukommen, und wenn es auch nur kleine Stücke sind. Kleine Stücke sind in diesem Riesengeschäft immer noch Milliarden, die der Allgemeinheit zurückgegeben werden können. Müller: Vielleicht kommt ja Jean-Claude Juncker manchmal auch dazu, weil der weiß ja, wie man damit umgehen kann. Walter-Borjans: Es werden viele verschiedene sein. Man muss nur eindeutig sagen: Wir haben als starke Wirtschaftsmacht Deutschland durchaus eine ganze Reihe von Möglichkeiten nationaler Gesetzgebung. Es gibt viele Unternehmen, die Deutschland brauchen, um ihren Gewinn zu machen und ihr Geld zu verdienen, die aber den Gewinn, den sie machen, nicht hier versteuern, sondern dahin schleppen, wo sie keine Steuern bezahlen müssen. Müller: Ich möchte da noch einmal nachhaken, Herr Walter-Borjans. Es gibt Unions-Politiker, sagen Sie jetzt, die im Grunde Big Business machen und sich nicht für die Interessen der Allgemeinheit dann einsetzen. Die kennen Sie auch namentlich? Walter-Borjans: Ich mache keine Motivforschung. Ich stelle nur fest, wenn Herr Schäuble und ich oder Herr Schäuble und seine Koalitionspartner über mögliche Schritte reden und Sie dann hören, das geht aber nicht mit der Unions-Fraktion. Das reicht bis hin zu den Fragen, was ist eigentlich mit der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge, was ist mit den Möglichkeiten, national Schritte voranzutreiben. Dann muss man sich Fragen stellen, warum das so ist, ob man da eine gewisse Wähler-Klientel im Kopf hat, weil man glaubt, die brauche ich noch an anderer Stelle. Das ist aber Spekulation. Die Tatsache ist nur, es ist so. Wir haben eine ganze Reihe von Dingen, die in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden sind, über die Länder, ganz besonders auch über Nordrhein-Westfalen, irgendwo in Schubladen liegen, und ohne großes Nachbohren, auch immer wieder Drohen, es öffentlich zu machen, geht das nur langsam voran. "Banken haben ein Image-Problem" Müller: Reden wir doch vielleicht einmal, Herr Walter-Borjans, über die Banken jetzt im letzten Abschnitt unseres Interviews. Jürgen Fitschen, immer noch Co-Vorsitzender der Deutschen Bank, hat sich gestern beim Bankentreffen mit dem Bundesfinanzminister so geäußert: "Er tut nicht nur den Finanzbehörden damit etwas Gutes, sondern auch den Banken. Für uns ist es eine unangenehme Situation, immer in Verbindung mit diesen Themen in ein Licht gerückt zu werden, in dem wir nicht gesehen werden wollen." Müller: Mit "er" meinte Jürgen Fitschen, der Finanzminister begrüßt diesen Zehn-Punkte-Plan. - Jetzt gucken wir in die Panama-Papiere beziehungsweise diejenigen, die das ausgewertet haben für uns, und da steht die Deutsche Bank drin. Wie kann denn Jürgen Fitschen jetzt sagen, ist ja super, dass wir jetzt die Panama-Papiere haben? Walter-Borjans: Ich habe Gespräche, viele Gespräche auch mit Jürgen Fitschen geführt. Ich glaube auch, dass nicht nur er, sondern auch andere Banken reagieren wollen. Es ist ja vielsagend, was er gesagt hat: "Wir werden sonst in ein Licht gerückt, in dem wir nicht gesehen werden wollen." Das kann man ja in vielfacher Weise deuten. Was ich sagen muss ist: Wir sind hier in einem Geschäft. Es geht um Geld, es geht um sehr viel Geld. In dem Geschäft regiert nicht die Moral, sondern es regiert die Frage, habe ich eigentlich einen Schaden, wenn ich mich unmoralisch verhalte. Und den Schaden haben die Banken mittlerweile. Es ist so, sie haben an einer ganzen Reihe von unmoralischen, die Allgemeinheit schädigenden Geschäften teilgenommen, sie haben sie angeboten und sie sind jetzt in einem Image-Problem und dieses Image-Problem kostet auf der anderen Seite auch. Müller: Ist das denn jetzt Heuchelei, wenn er sagt, wir sind ja froh, dass Schäuble jetzt dagegen vorgeht? Die Deutsche Bank ist ja selbst beteiligt. Walter-Borjans: Nein, nein! Er hat festgestellt, was der wichtigste Erfolg zum Beispiel jetzt wieder von den Panama-Papers und anderem, auch CD-Veröffentlichungen ist. Er hat festgestellt, es ist ein wirtschaftlicher Schaden, wenn man, ich sage das mal so deutlich, an einer Schweinerei Geld verdient, und nur diese Sprache verstehen diejenigen, denen es nur am Ende um die Rendite geht. Es geht nicht um eine moralische Wende. Walter-Borjans: Lücken müssen gesetzlich geschlossen werden Müller: Hören wir uns noch mal Hans-Walter Peters an. Das ist derjenige, der jetzt neuer Präsident des Bundesverbandes der deutschen Banken wird. Er ist Mitgesellschafter der Berenberg Bank, die ebenfalls auf diesen Papieren genannt wird. "Ich würde ganz einfach sagen: Wenn es Fehlverhalten gibt, dann muss Fehlverhalten auch sanktioniert werden." Müller: Das ist jetzt sehr redlich von Herrn Peters. Walter-Borjans: Ja auch das muss man mal interpretieren. Das heißt, mit anderen Worten: Wenn die Gesetze uns Lücken lassen, sodass das, was wir tun, kein Fehlverhalten ist, kein rechtliches, dann wird das auch nicht sanktioniert. Und genau darum geht es, dass wir das, was der Allgemeinheit Schaden zufügt, auf dem Gesetzesweg so zusammenfassen und die Lücken so schließen, dass dann diese Aussage, die gerade vorgestellt worden ist, auch greift. Das ist genau der Punkt. "Gesetzgeber muss schneller werden" Müller: Jetzt denkt doch der Normalbürger, der muss sich doch jetzt irgendwie dafür entschuldigen oder zumindest sagen, wir müssen das intern aufklären, ich weiß gar nichts davon, dass wir involviert sind. Walter-Borjans: Ja wir haben immer diese Salamischeiben-Taktik bis jetzt gehabt. Es geht immer darum zu sagen, aber es war doch alles ganz legal. Wir können uns alle mal vorstellen, was alles passieren würde, wenn alles das, was nicht ausdrücklich verboten ist, gemacht worden wäre. Ich erwarte, dass auch in der Wirtschaft noch mal vielleicht irgendwann der Punkt erreicht wird, wo man darüber nachdenkt, ob vielleicht tatsächlich ein Gesetz noch Lücken hat, man diese Lücken aber nicht nutzt, sondern eher darauf aufmerksam macht. Man merkt an diesen Geschäften, dass man darauf nicht setzen kann. Das heißt aber gleichzeitig, dass wir in eine Phase hineinkommen, wo am Ende immer nur der Gesetzgeber hinterherhechelt. Das wird auch so bleiben. Aber dann müssen wir wirklich auch alle Energie darauf verwenden, dass der Gesetzgeber schneller wird, dass er dann auch reagiert, und nicht auch noch die Möglichkeiten, die schon länger bestehen, noch eine Zeit lang liegen lässt. Müller: Werden Sie Schäuble jetzt unterstützen? Walter-Borjans: Ja natürlich werde ich ihn unterstützen. Das tue ich seit Jahren in diesem Punkt. Aber zu diesem Unterstützen gehört auch manchmal ein Stück Schieben. Das haben wir beispielsweise auch gemerkt bei dem damaligen Steuerabkommen, das er mit der Schweiz unterzeichnen wollte und das, wenn es unterzeichnet worden wäre, vieles der Erfolge, die wir die letzten Jahre erzielt haben, unmöglich gemacht hätte. Müller: Der SPD-Politiker Norbert Walter-Borjans, Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ihnen noch einen schönen Tag. Walter-Borjans: Ja gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Norbert Walter-Borjans im Gespräch mit Dirk Müller
Der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) hat bei der Bekämpfung von Steuerflucht mehr nationale Regelungen gefordert. Diese seien immer wieder vertagt worden. In Berlin gebe es Kräfte, "denen es lieber ist, wenn es langsamer geht und verwässerter formuliert wird", sagte Walter-Borjans im Deutschlandfunk.
"2016-04-12T07:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:23:28.079000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-steuerflucht-der-gesetzgeber-muss-schneller-100.html
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"Herren- und Frauensport klaffen in Deutschland extrem auseinander"
Harald Janson, der Basketball-Trainer des USC Eisvögel Freiburg (imago images / osnapix) Durch einen Sieg gegen Bergisch Gladbach sind die Basketballerinnen des USC-Eisvögel Freiburg erstmals Deutscher Meister geworden. Doch Harald Janson, der Trainer und Sportliche Leiter wollte im Deutschlandfunk aber nicht in die Jubelarien einsteigen: "Gleichzeitig wissen wir, dass Deutscher Meister im deutschen Damen-Basketball nicht das bedeutet, was es beispielweise im Fußball oder Herren-Fußball bedeutet, das automatisch die Gelder fließen. Wir arbeiten weiterhin beschaulich an unserem Budget und versuchen viel Gutes für den Damen- und Mädchensport zu machen." Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Der Etat des Freiburger Bundesligisten liegt nur bei überschaubaren 200.000 Euro. Viele ehrenamtliche Helfer sind im Hintergrund aktiv, um die Erfolge des Vereins möglich zu machen. "Es gibt diese Extremität nirgends in keinem anderen europäischen Land" Doch leider beobachte er über die Jahre keinerlei Entwicklung oder Veränderung der Wahrnehmung, sagte Janson: "Wir leben in einem Land, in dem das Auseinanderklaffen zwischen Verdiensten, Aufmerksamkeit, Geldern im Frauensport einfach im Vergleich zum Herrensport einfach extrem ist. Es gibt diese Extremität nirgends in keinem anderen europäischen Land, das ich bisher basketballtechnisch bereist habe, in der Art", kritisierte der Basketball-Funktionär. Sport und Gleichberechtigung Raus aus dem Abseits Sport und Gleichberechtigung Raus aus dem Abseits In vielen Sportarten werden Sportlerinnen zurückgestellt. Ob Tour de France oder Formel 1, Männer dominieren viele Bereiche. Ein Grund ist auch, dass Sponsoren für Frauensport kaum zahlen. Sportlerinnen verdienen so deutlich weniger als Sportler. 9. Sportkonferenz im Deutschlandfunk Frauen im Sport: "In den Köpfen ist gar nicht drin, dass eine Frau eine Männer-Bundestrainerin sein kann" Wie können Frauen in der Sportberichterstattung stärker vorkommen? Bei der 9. Sportkonferenz des Deutschlandfunks "Raus aus der Abseitsfalle! - Frauen in der Sportberichterstattung" diskutierten Journalistinnen und Sportlerinnen über Hindernisse, Probleme und Möglichkeiten für mehr Sichtbarkeit. Berichterstattung über Sportlerinnen Der männliche Blick auf Frauen Die Zeiten, in denen bestimmte Sportarten den Männern vorbehalten waren, sind in den meisten Disziplinen vorbei. Doch gerade bei Großveranstaltungen wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zeigt sich, dass Sportler oft deutlich mehr beachtet werden als Sportlerinnen – und über Frauen anders gesprochen wird. "Wir haben ein Auseinanderklaffen von einem Hundertfachen. Ein deutscher Basketballer verdient in der Regel das Hundertfache von einer deutschen Basketballerin. Und so sehen auch die Budgets der Vereine aus und daran ändert sich nichts." Dreieck: Männerfußball - Medien - Wirtschaft Janson kritisierte, dass es in der deutschen Sportlandschaft ein Dreieck gebe, dass voneinander abhängig sei, aber sich gegenseitig befruchte: "Dieses Dreieck lautet: Männerfußball - Medien - Wirtschaft. Und es ist in keinem Land Europas so schwer in dieses Dreieck einzudringen." Man müsse die junge Generation erreichen, damit diese auch weibliche Vorbilder habe und nicht mit einem Cristiano-Ronaldo-Trikot über die Straße laufen muss. "Wir brauchen Institutionen, um Mädchen stark zu machen, um Mädchen die gleichen Chancen wie ihren männlichen Pendants zu geben." Er warb dafür sich für den Frauensport zu engagieren und zu investieren: "Frauensport ist nicht weniger attraktiv, wir erleben im Frauensport genau dieselben Emotionen. Man muss nur ermöglichen, dass sich die Fans und die Kinder mit den Sportlern identifizieren können."
Harald Janson im Gespräch mit Matthias Friebe
Harald Janson, Trainer des neuen Basketball-Meisters USC Eisvögel Freiburg, hat die extremen Unterschiede zwischen Frauen- und Herrensport in Deutschland kritisiert. Das Auseinanderklaffen sei nirgends in Europa so extrem. Ein Männer-Basketballspieler verdiene das Hundertfache einer weiblichen Basketballerin.
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"2022-05-01T22:03:29.385000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauen-basketball-maennersport-usc-freiburg-eisvoegel-100.html
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