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Vor zehn Jahren eskalierte die Gewalt
Im Oktober 2005 kam es zu Unruhen in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. (picture alliance/dpa/Matthieu De Martignac) Eine Baustelle als Wegweiser in eine bessere Zukunft? "Ici avant l'arrivée du tramway" verkünden große grüne Lettern auf dem Metallschild, gelb eingerahmt vor grünem Hintergrund am Ortseingang von Clichy-sous-Bois. Grün ist bekanntlich die Farbe der Hoffnung. Die Hoffnung der aus über 74 Nationen bunt zusammengewürfelten 30.000 Bürger Clichys ist, endlich schneller mit der Tramway, der Straßenbahn T4, in das kaum 20 Kilometer entfernte Paris zu kommen. Dort sind, wenn überhaupt, die Jobs. Derzeit braucht man fast zwei Stunden, um in die Hauptstadt zu gelangen – mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und die verkehren weder nachts noch zu den Randzeiten! In Clichy selbst gibt es die Stadtverwaltung und einen riesigen Supermarkt als Arbeitgeber, eine zu vier Fünfteln als sozial schwach eingestufte Bevölkerung und - immer noch eine extrem hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen. Von 40 bis 45 Prozent bei den unter 25-Jährigen spricht Mohammed Mechmache. Das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Das hat sich also nicht geändert in jenen zehn Jahren seit Clichy-sous-Bois als Epizentrum der Vorstadtunruhen zu eher zweifelhaftem Ruhm gelangte. Bessere Lebensbedingungen als Grundlage für sozialen Frieden Mohammed Mechmache weiß, wovon er spricht. Als Sozialarbeiter begründete er damals das Collectif AC Le Feu mit, eine Bewegung, die sich die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und damit die Entschärfung des sozialen Konflikts auf die Fahnen geschrieben hat. "Wir arbeiten sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, um die Jugendlichen in den Problemvierteln wach zu rütteln, damit sie sich engagieren, ihre Umgebung mitgestalten. Das geht zum Teil über Vereine wie unseren, aber auch durch politische Teilhabe an den Entscheidungen etwa auf kommunaler Ebene." Mehdi Bigaderne ist Präsident von AC Le Feu und sitzt seit 2008 im Stadtrat. Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois (picture-alliance / Robert B. Fishman) Zehn von 35 Stadträten Clichys kommen aus der Zivilgesellschaft: Sozialdezernent Mehdi Bigaderne ist einer von ihnen. Ein Novum!Bürgerräte, politische Teilhabe: Das war eine von 30 ganz konkreten Forderungen, die Organisationen wie AC Le Feu im Auftrag der Menschen aus der Banlieue an die Politik gerichtet hatten, – die einzige, die bislang umgesetzt wurde. Ach ja – auch die Straßenbahntrasse könnte nun 2018 fertiggestellt sein. Das freilich war eine Uraltforderung auch der lokalen Politik: Lange vor den Unruhen 2005 hatte der damalige sozialistische Bürgermeister Claude Dilain eine bessere Verkehrsanbindung seiner Gemeinde angemahnt. Er selbst wird die Ankunft der Tram, der Straßenbahn nicht mehr erleben. Dilain verstarb letzten März. Die neue Schule ist nach ihm benannt: Schließlich hat die Stadt ihm einiges zu verdanken, unteranderem dass Vertreter der Zivilgesellschaft jetzt mit im Rathaus sitzen und dass Clichy überhaupt sein Gesicht etwas aufpoliert hat.Wer den knappen Kilometer die Allée Maurice Audin hinein ins Zentrum fährt ist ohnehin überrascht. Bäume, Grünflächen, kleine Einfamilienhäuser grüßen aus den Nebenstraßen. Dann aber tauchen die riesigen, an Hässlichkeit kaum zu überbietenden Wohnblöcke auf. Dazwischen ein Shopping Center gespickt mit Billigläden. Vor dem türkischen Café lungern ein paar Männer herum, es riecht nach Cannabis. Hier verändere sich nur die Kulisse. Die Gebäude würden modernisiert. Es wird gebaut. Die soziale Lage und alles andere blieben jedoch unverändert, meint Walid. Nadir, Vater von fünf mittlerweile zum Teil erwachsener Kinder, widerspricht ihm: "In Clichy und Montfermeil hat sich etwas getan. Sie haben ein Gymnasium gebaut. Bald wird das Schwimmbad eingeweiht. Für die Zeit ist das schon beachtlich. Die Leute spüren weniger Druck, weniger Stress, wenn sie wissen, dass es ein Schwimmbad, einen Fußballplatz für die Kinder gibt." Zwischen cool und gefährlich Clichy ist eine sehr junge Stadt: Kinder und Jugendliche aller Hautfarben, ganz selten jedoch weiß, dominieren das Straßenbild. Sie wirken unbeschwert und voller Projekte und Ideen. Fatoumata will Anwältin, Asa Putzfrau werden. Es gäbe viel Unterhaltung. Die Atmosphäre sei gut. Es sei cool hier, ruhig. Um zu leben, müsse man natürlich arbeiten. Gewalt habe er in sechs Jahren, die er hier lebt, nie kennengelernt.Bekloppte gäbe es natürlich überall, so wie der da, meint der aus der Türkei stammende Mehmet, als ein Jugendlicher aus einem schwarzen Wagen das Interview mit einer unflätigen Bemerkung kommentiert. Reporter genießt man mit Vorsicht und Clichy wie die Banlieues generell sind für Reporter mit Vorsicht zu genießen, auch wenn seltener Steine fliegen als noch vor zehn Jahren. Welche Erinnerungen sind bei den Bürgern geblieben an die émeutes, an die Unruhen von damals? "Ja die Unruhen! Sie sehen doch wie es in den Siedlungen aussieht! Wir sind solidarisch. Wenn da zwei Jugendliche umsonst gestorben sind, dann muss man sich erheben, sprechen, sagen, was nicht läuft!" TV-Nachrichten: "Bois von Gewalt heimgesucht. Die Polizei und Banden Jugendlicher standen sich gegenüber." Solche Nachrichten wurden ab dem 28. Oktober 2005 mehrere Wochen zum allabendlich wiederkehrenden Ritual.Auslöser war der Tod zweier Teenager: Zied und Bouna. Rückblende: Clichy-sous-Bois 27. Oktober 2005 17:20 Uhr. Nach einem Fußballspiel befindet sich eine Gruppe von zehn Jugendlichen auf dem Heimweg. In diesem Moment geht bei der Polizei ein Anruf ein. In Clichy sei in eine Baubaracke eingebrochen worden. Auf der Suche nach den Tätern stieß die Polizei auf die Gruppe. Die 17-jährigen Muhittin und Zied sowie der 15-jährige Bouna wollten der Polizeikontrolle entgehen und flohen in ein Transformatoren-Häuschen auf einem abgesperrten Gelände. Für Zied und Bouna wirkten die Stromschläge tödlich, Muhittin erlitt schwere Verbrennungen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Tod der Teenager in Clichy-sous-Bois. Der damalige Bürgermeister Claude Dilain war zum Unfallort geeilt: "Es gab ein enormes Polizeiaufgebot. Da wir von einem Unfall ausgegangen waren, war das sehr ungewöhnlich. Ich kannte die Polizisten nicht einmal, die waren aus dem ganzen Departement zusammengerufen worden. Viele Anwohner waren herbeieilt, sind aber vom Ort des Geschehens ferngehalten worden. Und dann sehe ich ein paar Leute bei den Familien der Opfer stehen, die natürlich am Boden zerstört sind, sich gar vor Trauer und Schmerz auf dem Boden winden, und ich spüre wie der Zorn wächst. Eines der Familienmitglieder haut sogar mit der Faust auf eine Motorhaube und ruft: Wenn das Frankreich ist." In der Nacht entlud sich die Wut in Clichy: Steine flogen, zwei Dutzend Autos brannten, Polizei und Randalierer gerieten aneinander! Alles wegen eines Unfalls? Genau das bezweifeln die Betroffenen und das war der Funken, der in dieser Nacht das Feuer der Gewalt zündete."Drei sind in die eine Richtung gelaufen, die anderen in die andere. Die Polizei war natürlich hinter uns."Verfolgt von der Polizei? Angst vor Kontrolle und Angst davor, ohne Ausweis eine Nacht in Polizeigewahrsam zu verbringen? Hatten die Jugendlichen irgendetwas mit dem vermeintlichen Einbruch in die Baubaracke zu tun?"Es gab einen Anruf, dass Jugendliche in die Baracke eingebrochen und Material gestohlen hätten. Am Ende war jedoch nichts entwendet worden", gesteht der damals zuständige Staatsanwalt Francois Molins ein. Der für die Sicherheit in ganz Frankreich seinerzeit zuständige Direktor Phillippe Laureau kommt später zu dem Schluss: "Die Polizei ist in dem Wohnviertel im Einsatz, die Jungen hauen in alle erdenklichen Richtungen ab. Dann gibt es Funksprüche, wonach ein Polizist sagt, die müssten wohl ins Transformatorenhäuschen gegangen sein, aber er sehe sie nicht. Woraufhin der Einsatzleiter anmerkt, wenn sie im Transformator-Häuschen sind, haben sie Pech gehabt." Feindbild Polizei Wer war schuld am Tod von Zied und Bouna? Ein Transparent vor dem Gerichtshof in Rennes ruft zur Unterstützung der Angehörigen der beiden 2005 in Clichy-sous-Bois gestorbenen Jugendlichen Bouna Traore und Zyed Benna auf. (dpa / picture alliance / EPA / Eddy Lemaistre) Es dauerte fast zehn Jahre bis ein entsprechender Gerichtsprozess wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die beteiligten Polizisten im Frühjahr dieses Jahres mit einer Einstellung des Verfahrens endete – alles andere als zur Genugtuung der Opfer, bzw. ihrer Angehörigen und der Menschen in den Banlieues, die sich einmal mehr von Institutionen des Staates im Stich gelassen fühlten. Mohammed Mechmache. "Wir bleiben davon überzeugt, dass die Polizisten mit verantwortlich waren, und sich mit der Justiz eine weitere Institution von uns abwendet." In jener Nacht des 27. Oktober 2005 lag in der unterschiedlichen Antwort auf die Schuldfrage der Sprengstoff, der zur Explosion der Gewalt in Clichy führte. Statt in der Polizei den Freund und Helfer, sahen und sehen die Menschen in den Problemvierteln Frankreichs einen Gegner. Ein Eindruck, der sich dadurch verstärkte, dass Nicolas Sarkozy damals die police de proximité, die Nachbarschaftspolizei abgeschafft hatte und im Rahmen seiner Verbrechensbekämpfungsstrategie durch mobile Einheiten ersetzen ließ. Mit harter Hand und klaren Worten gegen die Kriminellen der Banlieue wollte Innenminister Nicolas Sarkozy damals auch seinen Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei untermauern."Haben Sie die Nase voll von diesem Gesindel? Wir werden Sie davon befreien", sagte der Innenminister bei einem von Protesten begleiteten Besuch in Argenteuil zu einer Anwohnerin. Das passt ins Bild, denn im Sommer zuvor sprach er davon, die einschlägigen Viertel mit dem Kärcher vom Gesindel zu reinigen.Das Klima war also aufgeheizt im Herbst 2005. Was aber führte zum Flächenbrand? Zwei Tage nach dem tragischen Tod Zieds und Bounas in Clichy kehrte so etwas wie Ruhe ein. Es war Ramadan. Viele hatten sich in der Bilal Moschee zum Beten versammelt als eine Tränengasbombe in der Moschee explodierte. "Ich bestätige, dass es sich um eine Tränengasbombe handelt, die zur Ausrüstung der Einsatztruppen gehört, die in jener Nacht vor Ort waren. Das heißt nicht, dass sie auch von einem Polizisten abgefeuert wurde. Das muss eine Untersuchung zeigen." Ein Handyvideo vom Zwischenfall wurde veröffentlicht. Die Medien berichteten und der Funke sprang über: Zunächst auf die benachbarten Vororte, dann auf ganz Frankreich. Höhepunkt der Gewalt war der 6. November 2005: In dieser Nacht allein kam es in nahezu 300 Gemeinden Frankreichs zu Krawallen, 1.408 Autos standen in Flammen. Der Premierminister Dominqiue de Villepin mahnte zum wiederholten Male: "Die Rückkehr zu Ruhe und Ordnung bleiben die Priorität." Zum ersten Mal seit Ausbruch der Krise meldete sich auch der Präsident zu Wort. Jacques Chirac:"Das Gesetz muss die Oberhand behalten. Die Republik bleibt entschlossen, stärker zu sein als jene, die Gewalt und Angst säen wollen."Die Regierung sah sich am 8. November gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen, zum ersten Mal seit dem Algerienkrieg. Die Polizeipräsenz in den Problemvierteln wurde vervielfacht, Justiz und Sicherheitsbehörden erhielten Sonderdurchgriffsrechte, ausländische Straftäter aus den Quartiers wurden abgeschoben. Traurige Bilanz Am 17. November war der Spuk vorbei. Die traurige Bilanz: Mehr als 10.000 verbrannte Autos, Schulen, Kindergärten – 300 öffentliche Gebäude abgefackelt, 6.000 Festnahmen, 130 Verletzte auf beiden Seiten. Der einzige Lichtblick: Es gab nur ein Todesopfer zu beklagen.Aufruhr in der Banlieue war in Frankreich nichts Neues. Allnächtlich brannten und brennen in den Trabantenstädten Autos. Dieses Mal aber hatte sich der Frust in einem Flächenbrand ungewöhnlich heftig entladen. Armut, Arbeitslosigkeit, bei den Jugendlichen der 'Quartiers' unter 25 lag und liegt sie teilweise bei über 50 Prozent. Rassismus und Perspektivlosigkeit nach jahrzehntelanger Vernachlässigung der Trabantenstädte explodierten förmlich wie bei einem Vulkan, unter dessen Oberfläche es schon lange brodelte. Die Kinder der ersten Einwanderergeneration, überwiegend französische Staatsbürger, fühlten sich nicht anerkannt, unzureichend integriert.Seit dem 1973 verhängten Baustopp von Riesenblöcken als Sozialwohnungen sind nicht weniger als 16 Hilfsprogramme für die Banlieue aufgelegt worden, drei allein nach den Unruhen 2005. Milliarden sind geflossen – oder man könnte sagen verflossen, denn sie blieben ohne nennenswerten Effekt. Heutzutage gelten 750 Viertel überall in den größeren französischen Städten als problematisch. Je nach Schätzung leben bis zu fünf Millionen Menschen in den Trabantenstädten. "Der Abstieg der Stadtränder, die Gettos – das habe ich schon 2005 als territoriale, soziale und ethnische Apartheid in unserem Land bezeichnet. Die soziale Misere, zu der die tägliche Diskriminierung kommt, weil man nicht den richtigen Familiennamen, die richtige Hautfarbe hat oder eine Frau ist. Ich will keine Entschuldigungen suchen, aber man muss der Realität unseres Landes ins Auge sehen", sagte Manuel Valls Anfang dieses Jahres nach dem islamistischen Anschlag auf die Zeitschrift "Charlie Hebdo". Einer der Täter stammte aus der Banlieue. Auch dieser Premierminister hat wiederum eine Initiative lanciert, will vor allem auf Bildung setzen, darauf dass die Werte und Prinzipien der Französischen Republik wie Laizität, Gleichheit, Meinungsfreiheit vermittelt und hochgehalten werden. Erst dieser Tage reiste der Premierminister im Geleit der zuständigen Kabinettsmitglieder in die Banlieue: sozusagen, um ein Zeichen zu setzen – ganz offensichtlich den zehnten Jahrestag der Vorstadtunruhen im Hinterkopf.Auch in Clichy gaben sich in den letzten Jahren hochrangige Politiker die Klinke in die Hand, sind Projekte angeschoben worden wie die Straßenbahn, um aus dem Epizentrum der Unruhen so etwas wie ein Vorzeigemodell zu basteln. Fragt man einige der Jugendlichen, die wie es so schön heißt die Zukunft eines Landes sind, ob sie Arbeit fänden, was sie so trieben, kommt die wenig überraschende Antwort: Das sei schwer. Hier gebe es keine Arbeit mehr. "Wir müssen irgendwie klar kommen. So ist das nun einmal. Wir verkaufen Drogen, harte Drogen." Gefahr einer neuerlichen Eskalation Im Kern hat sich nur äußerlich etwas verändert. Das Grundproblem bleibt, die Stimmung ist explosiv. Der Politologe Asiem el Diafraoui bringt es auf den Punkt: "Das Potenzial einer neuen Explosion ist natürlich nach wie vor da, weil keines der Grundübel der Banlieue wirklich bekämpft wurde: Die Massenarbeitslosigkeit, vor allem die Massenarbeitslosigkeit unter jungen Männern. Und der Staat wird zum Teil als Unterdrücker wahrgenommen. Blick auf eine Hochhaussiedlich in Marseille / Frankreich (AFP / Gerard Julien) Da herrscht ein wirklicher Vertrauensbruch, und dieser Vertrauensbruch wird von Dschihadisten ausgenutzt, es mögen vielleicht nur ein paar hundert in ganz Frankreich sein. Bisher ist es ein marginales Problem, aber in einem Klima, wo wir auf der einen Seite eine Rekordzahl an Syrienausreisenden haben, auf der anderen Seite eine nationale Front haben, die immer weiter versucht zu polarisieren, ein Fegefeuer der Islamophobie, des Antiislams zu schüren. Da wächst natürlich auch das Potenzial, dass sich die Banlieue anhand von religiösen Trennlinien teilt."
Von Burkhard Birke
Mehr als 10.000 demolierte Autos, brennende Gebäude, 6.000 Festnahmen, 130 Verletzte und insgesamt drei Tote: Vor zehn Jahren kam es in Frankreich zu Unruhen, nachdem zwei Jugendliche bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei starben. Seit damals sind Milliarden in die sozialen Brennpunkte geflossen. Geändert hat das an der sozialen Misere jedoch wenig.
"2015-10-27T18:40:00+01:00"
"2020-01-30T13:06:17.614000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-banlieues-vor-zehn-jahren-eskalierte-die-gewalt-100.html
92,052
Radiolexikon Gesundheit: Nasenbluten
Universitäts-Kindergarten Köln, 11 Uhr vormittags. 20 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren spielen mit allem, was Schränke und Schubladen hergeben: Mit Autos und Malstiften, mit Bauklötzen und Flugzeugen, mit Puppen und Teddybären. Manche sitzen still am Tisch, andere laufen herum. Hin und wieder raufen sich ein paar Jungs, sie stoßen sich und bekommen blaue Flecken, wenn es schlimm kommt, blutet sogar eine Nase. Alltag. Auch das Nasenbluten. Die Frage, wer schon mal Nasenbluten hatte, beantworten die Kinder eindeutig." Iiiiich! "Zum Beispiel der fünfjährige Branko, dessen Nase mitunter sogar ohne erkennbaren Grund blutet. " Also ich hatte mitten in der Nacht Nasenbluten und ich wusste überhaupt nicht warum. Ich habe gedacht, da wäre Rotz und dann habe ich gedacht, hä, Rotz ist doch nicht so flüssig."Wirklich schockiert hat ihn seine blutende Nase nicht. Es tat nicht weh, außerdem ist Nasenbluten - Fachleute sprechen auch von Epistaxis, was soviel wie "darauftröpfeln" bedeutet - ein normales Phänomen bei Kindern und Jugendlichen. Im Kindergarten der Uni Köln - sagt die Leiterin Rita Löcker - kommt es ständig vor." Fast täglich kann man sagen! Dadurch, dass die Kinder sehr viel toben und sehr eng miteinander umgehen, kann es doch sehr leicht vorkommen,..."Beim Nasenbluten unterscheiden Ärzte eine harmlose und eine weniger harmlose Variante. Welche vorliegt, hängt davon ab, wo genau es in der Nase blutet." Man unterscheidet in der Nase mehrere Durchblutungssysteme. Eines ist ganz vorne gelegen, und zwar an der Nasenscheidewand, und da ist es natürlich allen möglichen Einflüssen ausgesetzt. Wenn man heftig in der Nase bohrte und eine Kruste ablöst, dann kann schon mal stark bluten. Hier setzen sich zum Beispiel auch Viren fest, Nasenbluten bei Erkältungen ist sehr häufig, ... "... erläutert Professor Olaf Michel, Leitender Oberarzt am Universitätsklinikum für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Köln. Beim harmlosen Nasenbluten sind die vorderen und unmittelbar unter der Schleimhaut liegenden Gefäße verletzt. Etwa durch einen Schlag auf die Nasen. Oder aber wenn Kinder und Jugendliche einfach zu schnell wachsen." Es gibt auch an so genanntes jugendliches gutartiges Nasenbluten. Wenn Jugendliche einen Wachstumsschub haben, dann kommt das Gefäßwachstum schon mal nicht nach, dann haben Sie vielleicht auch mal eine kleine Blutdruckspitze, dann kommt es eben zur Blutung, das kann ganz harmlos sein, wenn die Blutung innerhalb von wenigen Minuten zum Stillstand kommt."Lässt sich die Blutung nicht stillen oder blutet die Nase immer wieder, muss ein Hals-Nasen-Ohrenarzt abklären, ob nicht doch eine der weniger harmlosen Ursache vorliegt. Der Blutdruck spielt dabei in vielen Fällen eine entscheidende Rolle. " Häufig wird zum Beispiel ein hoher Blutdruck dadurch erfahrbar, dass man stark aus der Nase blutet. Das heißt, dieser Patient braucht dann natürlich eine Blutdruckbehandlung. Und dann gibt es eine Kombinationstherapie, dass der Arzt zunächst einmal die Blutung stillt und dann muss der Patient zu einem Internisten oder zu seinem Hausarzt, der dann den Blutdruck richtig einstellt, dann hört das auch meistens auf."Die Palette der weniger harmlosen Ursachen für Nasenbluten ist breit: Allergien zählen dazu, akute Infektionskrankheiten wie Typhus oder die Virusgrippe, ein chronischer Mangel an Vitamin K kann Nasenbluten auslösen, aber auch Skorbut bis hin zu Tumoren der Nasen- und Nasennebenhöhlen sind Auslöser. Weiterhin kennen Mediziner angeborene Gefäßleiden, ... "... ich sag mal salopp, ein so genanntes Feuermal, oder es gibt auch so kleine Blutschwämmchen in der Nase, die plötzlich ganz heftig bluten können, und es gibt auch Gefäßveränderungen, die sich nach Entzündungen ausbilden können, die können auch manchmal ganz heftig bluten, dann muss der HNO-Arzt diese Veränderung verschorfen, dann ist meistens Ruhe. Ganz selten gibt es auch vererbte Durchblutungsstörungen in der Nase, das heißt hier sind die Gefäße nicht richtig ausgebildet, die Blutgerinnung kann nicht richtig wirken, und dann blutet es wiederholt und heftig aus der Nase, das sind Patienten zum Beispielpatienten mit einem Morbus Osler, die kommen dann auch häufiger und sind sehr stark von ihren Blutungen gefährdet."Drei große Gefahren gehen vom Nasenbluten aus: Zunächst einmal besteht die Möglichkeit, dass Blut durch den Rachen bis in die Luftröhre fließt. Vor allem bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen kann das schwere Komplikationen auslösen. Zweitens wirkt Blut wie ein sehr starkes Brechmittel. Wer viel Blut verschluckt, läuft Gefahr sich zu übergeben. Und drittens darf der Bluterlust nicht außer Acht gelassen werden: Es besteht die Gefahr eines Volumenschocks und damit die Gefahr einer Bewusstlosigkeit." Der Blutverlust kann insbesondere bei Kindern gefährlich werden, weil, Kinder haben eigentlich ganz wenig Blut, man kann so rechnen Pi mal Daumen zehn Prozent des Körpergewichtes, und das ist bei Kindern ganz schnell verbraucht. Und es ist ja auch so, dass nicht nur der akute Mangel eine Rolle spielt, sondern man verliert ja auch Eisen. Bei Frauen, die befinden sich fast immer an der Grenze zum Eisenmangel, kann das schon eine Rolle spielen. Eine weitere Problemgruppe sind natürlich Patienten, die ein Mittel einnehmen, das die Blutgerinnung beeinflusst. Ganz harmlos wäre zum Beispiel jemand, der Aspirin einnimmt, auch da gibt es schon eine Gerinnungsstörung, anders sind Patienten, die Macumar nehmen, das ist ein Medikament, das ganz drastisch die Blutgerinnung herabsetzt, das sind Patienten, die Herzklappenersatz haben, die müssen immer darauf achten, dass ihre Blutwerte richtig eingestellt sind, sonst kommt es zum Nasenbluten oder, viel schlimmer, es kann noch aus anderen Stellen bluten."Mittlerweile haben einige Mädchen im Kölner Uni-Kindergarten Musik aufgelegt. Verkleidet in weiten Tüchern tanzen sie im Zimmer umher. Gefahr geht davon für die Kindernasen nicht aus, auch wenn Rita Löcker aus Erfahrung weiß: Bluten kann es immer. Ist es erst einmal soweit, leisten die Erzieherinnen Erste Hilfe. Psychologisch und medizinisch." Das Kind in den Arm nehmen, ein nasses kaltes Handtuch holen, das Handtuch erst einmal an die Nase drücken, das Kind ein bisschen auf den Schoß nehmen und trösten, das Kind davon abhalten, weiter zu toben, und wenn es geht ein weiteres kaltes Handtuch in den Nacken legen."Es gibt eine lange Liste von mehr oder weniger wirksamen Hausmitteln gegen Nasenbluten. Ein paar zur Auswahl: Das nichtblutende Nasenloch zuhalten und durch das blutende Nasenloch atmen. Oder: Eine Zwiebelhälfte unter die Nase halten in der Hoffnung, dass sich durch die ätherischen Öle die Blutgefäße zusammen ziehen. Oder: Wenn das linke Nasenloch blutet, den rechten Arm senkrecht in die Höhe halten und andersrum. Und schließlich: Einen Eisbeutel in den Nacken legen. Diese Methode sei besonders wirkungsvoll, bestätigt Professor Olaf Michel." Dadurch wird die Nasendurchblutung stark gedrosselt, das hat man inzwischen auch wissenschaftlich nachgewiesen, das kann jeder zuhause machen, sei es, dass er Eis aus dem Eisfach nimmt und in eine Plastiktüte tut. Es gibt natürlich auch teure Lösungen: Man kann sich in Apotheken so genannte Eispacks kaufen, die man im Kühlschrank liegen hat und sich bei Bedarf in den Nacken presst."Die kostengünstige Variante wirkt so sicher wie die teure! Eine Methode freilich, die früher zum Standardrepertoire gegen blutende Nasen zählte, ist ziemlich in Verruf geraten: Beim Nasenbluten bitte nicht den Kopf in den Nacken legen!" Das macht man heute eigentlich nicht mehr, bei ganz leichtem Nasenbluten kann man es noch machen, denn das Blut läuft er dann hinten in den Rachen, das ist dann ja auch nicht so schön. "Das Blut fließt durch den Rachen entweder in den Magen oder, schlimmer noch, in die Luftröhre." Ich sage immer Ruhe bewaren, Ruhe bewahren, Ruhe bewahren! Denn das bedeutet immer dass der Blutdruck runter geht, wenn man sich nicht so aufregt und dass es dann schon mal weniger blutet. Unter natürlich zunächst mal die Nase zuhalten und nicht alle zwei Sekunden nach gucken. Ob es schon aufgehört hat, wenn die Blutstillung, die braucht ihre Zeit, und wenn es dann nicht aufhört oder immer wiederkommt, dann die Klinik aufsuchen, rechtzeitig, wir sind Tag und Nacht dafür da!"Ruhe bewahren heißt es auch für die Erzieherinnen im Kölner Universitäts-Kindergarten. Wenn 20 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren toben, bleiben blutende Nasen nicht aus. Wirklich schockiert ist aber niemand mehr, Nasenbluten gehört zum Alltag!
Von Mirko Smiljanic
Nasenbluten ist bei Kindern und Jugendlichen ein normales Phänomen. Doch Ärzte unterscheiden eine harmlose und eine weniger harmlose Variante. Welche vorliegt, hängt davon ab, wo genau es in der Nase blutet.
"2007-03-20T10:10:00+01:00"
"2020-02-04T14:03:10.780000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-nasenbluten-100.html
92,053
Koch als DFB-Vertreter im Sportausschuss
Der DFB-Co-Interrimschef Rainer Koch (Imago.) Erstmals stellte sich im Ausschuss mit Rainer Koch ein Vertreter des Deutschen Fußball-Bundes den Fragen der Abgeordneten zum DFB-Skandal. Der DFB-Interimschef referierte noch einmal die Ergebnisse des Freshfields-Berichts. Neues verkündete er nicht. Man warte die Erkenntnisse der strafrechtlichen Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft ab, so Koch. "Wir haben ja noch die rechtlichen Fragestellungen, die durch die Berichtserkenntnisse aufgeworfen sind, abzuarbeiten. Dazu müssen wir einen Bericht von Freshfields noch bekommen. Wenn Akten der Staatsanwaltschaft freigegeben werden, die wir bislang noch nicht kennen, dann werden wir zu entscheiden haben, ob sich daraus noch neue Arbeitsaufträge ergeben." André Hahn: "Unter dem Strich keine Zweifel an gekaufter WM." Weitere eigene Untersuchungen schloss Koch, der sich DFB-typisch mit Bewertungen zurückhielt, derzeit aus. Deutlicher äußerte sich der Linken-Politiker André Hahn. "Es sind sehr viele dubiose Dinge hier heute noch einmal zur Sprache gekommen. Unter dem Strich habe ich keinen Zweifel mehr daran, dass es eine gekaufte Weltmeisterschaft war." Der DFB ringt um Glaubwürdigkeit. Will mit Reinhard Grindel einen neuen Präsidenten wählen. Dann soll alles besser werden. Für André Hahn nicht genug. "Ich hätte mir ohnehin gewünscht ein klares Signal, für einen Neuanfang beim DFB zu setzen. Und dort eben auch komplett die Führung neu zu wählen. Und nicht nur den Präsidenten und dann vielleicht auch noch Schatzmeister. Sondern dass es tatsächlich einen Neuanfang beim DFB gibt, den kann ich in der Form leider nicht erkennen." Koch betont Wichtigkeit von Grindels Netzwerk Reinhard Grindel, erst Journalist dann für die Union jahrelang im Bundestag. Als DFB-Schatzmeister saß er zugleich im Sportausschuss. Ein Interessenkonflikt. Beim DFB setzt man nun bewusst auf die Kontakte des Seitenwechslers. "Er hat große Erfahrungen im politischen Geschäft. Die Querverbindungen in die Politik hinein sind für einen DFB-Präsidenten immer wichtig, die Netzwerke zu bedienen. Er war beim ZDF mit tätig, so dass er auch über gute Kontakte und Erfahrungen im Medienbereich verfügt." So Rainer Koch. Am Freitag soll Grindel gewählt werden.
Von Robert Kempe
Die Fußball-WM 2006 macht mittlerweile fast nur noch wegen dubioser Geldflüsse, der "DFB-Affäre", von sich reden. Sie beschäftigt inzwischen die Staatsanwaltschaft Frankfurt, nun war das abermals Thema im Bundestags-Sportausschuss - mit Besuch vom Verband.
"2016-04-13T22:52:00+02:00"
"2020-01-29T18:23:54.446000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dfb-affaere-koch-als-dfb-vertreter-im-sportausschuss-100.html
92,054
Senden wie anno dazumal
Die Sendehäuser auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen sind heute ein Industriedenkmal (imago stock&people) "Hallo, hier Königs Wusterhausen auf Welle 2700. Meine Damen und Herren, zum Zeichen, dass unsere Station jetzt großjährig geworden ist, wollen wir Ihnen ein kleines bescheidenes Weihnachtskonzert senden." So ungefähr muss vor 100 Jahren 1920 die erste Radiosendung geklungen haben. Ein Weihnachtskonzert, das am 22. Dezember jenen Jahres live übertragen wurde. Übertragung mit Grammofon und Telefonhörer "Das Entscheidende von dieser Sendung am 22. Dezember 1920 war, dass die Techniker Sprache und Musik übertragen haben. Und damals haben sie zur Musikübertragung einfach die Telefonsprechkapsel vor den Hörer eines Grammofons gehalten und haben damit die Musik übertragen", erzählt Rainer Suckow, Radio-Enthusiast und der Vorsitzende des Sende- und Funktechnikmuseums in Königs Wusterhausen. Geschätzt wird, dass die erste öffentliche Radiosendung etwa 150 Menschen gehört haben. Exakt weiß man es jedoch nicht. Damals eine Mediensensation, heute gilt es als die Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland. Demokratie auf EmpfangRadio ist ein urdemokratisches Medium: Jeder kann es hören, es bringt alle zusammen. In einer neuen Reihe zeigen wir, was Hörfunk kann: als Jedermann-Sender, als Experimentierfeld, als politische Informationsquelle. Das Senderhaus 1, das auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen auf einer Art kleinen Berggipfel steht, gilt heute noch als das erste Funkhaus Deutschlands. Rainer Suckow: "Wobei bei uns die Besonderheit war: In heutigen Funkhäusern sind ja meistens - in Anführungsstrichen – nur die Redaktionen. Die Sender stehen irgendwo in der Pampa und keiner weiß, wo die Sender stehen. Von der Warte her waren wir nicht nur Funkhaus, sondern erstes Sendehaus für den Rundfunk. Das stimmt schon." Nachbau des alten Lichtbogensenders Ursprünglich war der Funkerberg eine militärische Funkstation. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die einstige Kaserne in Königs Wusterhausen – eine Kleinstadt am südöstlichen Stadtrand von Berlin - auf Betreiben des damaligen Ministerialdirektors Hans Bredow von der Reichspost übernommen. Heute: ein technisches Museum, das von einem Förderverein betrieben wird. Gesendet wurde mit einem sogenannten Lichtbogensender. Das Original gibt es nicht mehr, weshalb eine Handvoll Radio-Enthusiasten vier Jahre lang getüftelt und gebastelt haben, um den ursprünglichen Sender - in einer Art Miniatur-Version - nachzubauen. Zu sehen sind – für den Laien willkürlich angeordnete - Spulen, handgelötete Drähte, elektrische Bauteile wie Regler, Widerstände und Stecker. Ein Mikrofon wie eine Klobürste "Jetzt arbeiten wir mit 150 Kilohertz. Das ist Welle 2000. Also die Signallänge beträgt zwei Kilometer. Deswegen Langwelle", erzählt Radio-Tüftler Maik Schilling. Erhaben, behutsam und mit ein wenig Stolz im Gesicht betreibt er wie ein Magier den Nachbau des ersten Rundfunksenders in Deutschland. Dazu hat er ein Schlückchen reinen Alkohols in die Brennkammer gefüllt. Plötzlich sieht man einen leuchtenden Funken. Und der Sender sendet. Verrauscht und knisternd: eben Radio, wie früher. Das Mikrofon ähnelt einer Klobürste, ist aber die Sprachkapsel eines alten Telefons. Die Radioschlacht um NachkriegsdeutschlandIm Nachkriegsdeutschland wurde das Radio von verschiedensten Interessengruppen zur Einflussnahme auf die Bevölkerung benutzt – was zu einer regelrechten Propagandaschlacht zwischen Ost und West führte. "Und jetzt können wir es so klingen lassen, wie man es damals idealerweise vielleicht am Radio gehört hat: Hallo, hier Königs Wusterhausen, auf Welle 2000." Jedes Mal, wenn sie vom Funkerberg in Königs Wusterhausen mit der Technik von damals senden, durchströme sie alle ein tiefes Glücksgefühl, erzählt Rainer Suckow vom Sende- und Funktechnikmuseum in Königs Wusterhausen. Mehr noch, man fühle sich wie ein Rundfunkpionier vor 100 Jahren, als Tüftler mit bahnbrechenden Erfindungen – wie dem Lichtbogensender - das Radio zum Laufen gebracht haben. Originalschauplatz der ersten Übertragung "Das Schöne am Funkerberg in Königs Wusterhausen ist, dass es der authentische Ort ist. Dass wirklich hier in diesem Haus das Urfeuer des Rundfunks gelodert hat. Hier ging das alles los. Hier hat das erste Mal der Funke gelernt, Rundfunk zu werden, Sprache und Musik zu transportieren." Und der Funkerberg mache auch die Bedeutung des Radios nochmal klar, das zugleich auch immer ein Medium der Freiheit sei. Meint zumindest Rainer Suckow, ein gelernter Nachrichtentechniker. Heute ist er Ausbilder bei der Telekom. Und Radiofanatiker, wie er selbst sagt. Terrestrisches Radio als "Stück Freiheit" "Zur Erklärung: Wenn ich etwas mit einem Sender terrestrisch abstrahle über eine Antenne und irgendwo sitzt wieder einer mit einer Antenne, empfängt das und hört sich das an, dann weiß niemand, wer derjenige ist und wo er sich aufhält, der das hört. Und das, finde ich, ist ein großes Stück Freiheit. Wenn es im Zweiten Weltkrieg das Internet gegeben hätte, dann hätte keiner BBC gehört, weil alle hätten es gewusst. Von der Warte ist Radio und Rundfunk, also terrestrisch gesendeter Rundfunk, immer auch ein Stück Freiheit." Die Abschaltung der Mittelwellen- und UKW-Sender sehe er daher auch kritisch und mit einem weinenden Auge, sagt Suckow noch.(*) "Ich hoffe sehr, dass es den Rundfunk – im Sinne von per Antenne ausgestrahlt – noch lange, lange gibt." Vor 100 Jahren erlebte das Radio im Brandenburgischen seine Geburtsstunde. Der reguläre und regelmäßige Senderbetrieb begann allerdings erst drei Jahre später: am 29. Oktober 1923 im Berliner Voxhaus. Doch vom Funkerberg in Königs Wusterhausen aus hat das Radio in Deutschland seinen Siegeszug angetreten. Ein authentischer Ort, der Technik-Geschichte geschrieben hat. (*) An dieser Stelle wurde der Text um einen nicht korrekten Satz gekürzt.
Von Christoph Richter
Vier Jahre lang hat eine Gruppe Radiofans getüftelt, um in Brandenburg den ersten deutschen Radiosender nachzubauen - mit Alkohol als Brennstoff. Das Ergebnis macht erlebbar, wie Radio bei seiner Erfindung vor 100 Jahren klang.
"2020-02-13T15:35:00+01:00"
"2020-02-18T15:30:19.899000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/100-jahre-radio-senden-wie-anno-dazumal-100.html
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Jung, Europäer und kein Sozialist mehr
Nicolas Leron, Parlamentsassistent für einen En Marche-Abgeordneten, hat vor geraumer Zeit die Denkfabrik Eurocité gegründet (Deutschlandradio / Ursula Welter) Ohne Anmeldung geht nichts. Pass, Presseausweis, Taschenkontrolle, Körperscanner – das französische Parlament ist bestens gesichert. Nicolas Leron wartet am Eingang. "Ich denke, wir können uns in die 'Buvette' der Parlamentarier setzen, das ist im Moment nicht viel los." Der Kantinenraum ist leer, aber Journalisten sind nicht erwünscht. Macht nichts! Der gewaltige Raum davor ist ohnedies Nicolas Lieblingsraum in diesem mächtigen Parlamentsgebäude, dem Palais Bourbon, in dem sich die französische Demokratie in rotem Samt und unter Kronleuchtern eingerichtet hat. In der Kulisse des frühen 18. Jahrhunderts. "Das Gebäude ist schön, oder? Ein bisschen klein, vor allem die Büroräume, aber dafür schön, in Frankreich kommt Schönheit vor Nützlichkeit!" Und Schönheit hat auch seinen Sinn, ergänzt der junge Parlamentsassistent. Schönheit vor Nützlichkeit: Das Hémicycle, der Hauptversammlungsraum in der Nationalversammlung (dpa / MAXPPP / Le Pictorium /Julien Mattia) "Das ist der Konferenzraum, das war mal ein Speisesaal, glaube ich, deshalb der große Kamin dort. Interessant ist hier, dass der Raum zwischen dem 'Hemicycle', dem Plenarsaal liegt, und den Räumen der Abgeordneten." Und nicht weit zur Kantine, hier passen die Assistenten ihre Chefs ab, tauschen Dossiers aus, Meinungen. Dazu dient ein gewaltiger Tisch in U-Form, dezent ausgeleuchtet, wertvolles Holz. Frankreiches politische Landschaft ist aufgewühlt Laurent ist ein nachdenklicher Kopf. Vor geraumer Zeit hat der junge Assistent eine Denkfabrik gegründet, Eurocité: "Das ist ein progressiver Forschungs- und Analyseansatz. Anfangs links angesiedelt, europäisch, dem Parti Socialiste nahestehend. Aber so einfach sind die Dinge jetzt nicht mehr. Die politische Landschaft in Frankreich ist aufgewühlt. Wir sehen uns dennoch als sozialdemokratisch an und sagen, Politik kann man heute nur noch europäisch denken." Nicolas Leron war Mitglied der französischen Sozialisten. Zehn Jahre lang ein Treuer. Und jetzt: "Ich bin nicht mehr Mitglied der Sozialisten. Seit 2016 habe ich meine Beiträge nicht mehr gezahlt, und dann verschwindet man von den Mitgliedslisten." Chaos und langweilige Sitzungen Warum verlässt einer, der links und europäisch denkt eine Partei wie diese? "Das war eine Form von Überdruss. Dieses Durcheinander am Ende der Amtszeit von Hollande, diese Stimmung 'Fin de Reigne'." Aber zur Partei La République en Marche des neuen Präsidenten Emmanuel Macron ist Leron nicht übergelaufen, jedenfalls nicht als Aktivist. "Nein, ich bin kein Mitglied. Ich habe Arbeit gesucht, zunächst bei den Abgeordneten des Parti Socialiste, aber die Fraktion der Sozialisten war von rund 290 Abgeordneten auf knapp 30 enorm geschrumpft nach der verlorenen Wahl und deren Reflex war, erst einmal die angestammten Mitarbeiter zu halten, die Treuesten, wenn man so will." So heuerte der Ex-Sozialist, der sich mit europapolitischen Thesen und Veröffentlichungen in Frankreich derzeit einen Namen macht, bei einem Abgeordneten von En Marche an. Die ideologische Hürde im neuen Job sagt Leron, sei nicht all zu hoch: "Das ist ein neuer Parlamentsabgeordneter, der zuvor im Kommunalparlament von Versailles saß, und wir haben mehr oder weniger dieselben, politischen Auffassungen. Er ist sozialdemokratisch, sozialliberal, ein bisschen Zentrist, jedenfalls ohne zementierte Ideologie. Das sind diese neuen Abgeordneten, die aus der Privatwirtschaft kamen und kaum Politik gemacht hatten." Offenbar habe Macron etwas in Gang gesetzt, was einem großen Bedürfnis entsprach, sagt der junge Ex-Sozialist Nicolas Leron (imago / Thierry Roge) Den Bruch mit den Sozialisten hat sich Leron gut überlegt: "Ich bin schon lange dabei, ich bin ganz jung in die sozialistische Partei eingetreten, ich war überzeugt. Und ich bin weiter ein Anhänger dieser Form von Partei, weil ich an das Kollektiv als Einheit glaube, aber ich habe auch die Schwerfälligkeit des Apparats erlebt, ich konnte nie recht Fuß fassen, weil ich nicht die Zeit hatte, mich abends ständig an endlosen Debatten zu beteiligen. Die, man muss es sagen, auch nicht besonders interessant waren. Aber ans Kollektiv glaube ich noch…" Nicolas Leron räumt ein, dass er nicht gedacht hätte, dass Macron mit seiner Bewegung diesen Erfolg haben würde. Offenbar habe Macron etwas in Gang gesetzt, was einem großen Bedürfnis entsprach. Sagt der junge Ex-Sozialist. Nicolas Leron zeigt ins Halbrund des Plenarsaals. Roter Samt dominiert die Szene. Sein Chef sitzt weit hinten und weit oben, Platz 321. Am Rande des Halbrundes steht eine Schautafel, den größten Raum nimmt die Mehrheit von "En marche" ein. Zufrieden mit Macrons Europapolitik Der junge Assistent verlässt den Plenarsaal, an Besuchergruppen vorbei. Dabei kommt er nochmals ins Erzählen: "Ich bin überzeugter Sozialdemokrat. Und diese sozialdemokratische Überzeugung finde ich zum Teil bei En Marche, vor allem, was die Europapolitik angeht, bin ich sehr zufrieden mit dem, was geschieht, da hat Hollande viel zu wenig angepackt, also viel Übereinstimmung mit Macron, wenn auch nicht vollständig. Und da die Sozialistische Partei Frankreichs kaum noch existiert, auch, wenn man ihren Tod nicht voraussagen sollte, und ich teilweise ihre Ideen noch teile, warte ich ab und konzentriere mich auf die Analyse, das Nachdenken, die Ideendebatte." "Abwarten", diese Vokabel hört man in diesen Tagen ziemlich oft von französischen Sozialisten.
Von Ursula Welter
Zehn Jahre lang war Nicolas Leron ein treuer Sozialist. Nach der Wahlschlappe 2017 heuerte er bei einem Abgeordneten von En Marche an. Der Ex-Sozialist ist Gründer des Think tank "Eurocité" und machte sich zuletzt mit seinem Buch "La Double Démocratie" zur Reform Europas in Frankreich einen Namen.
"2018-04-06T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:44:08.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-parti-socialiste-4-5-jung-europaeer-und-kein-100.html
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"Alter Wein in neuen Schläuchen"
"Es gibt Programme, die könnte man wahrscheinlich sogar bleiben lassen", sagt der Agrarökonom Lakner über Teile der gemeinsamen Agrarpolitik der EU-Länder (picture alliance / dpa / Patrick Pleul) Die EU-Kommission will die gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU-Länder reformieren. Allerdings erntet die geplante Reform der EU-Agrarförderung Kritik aus der Wissenschaft. Hochrangige Experten kritisieren sie als nicht nachhaltig oder zielführend für Umwelt- und Klimaschutz. Der Agrarökonom Sebastian Lakner sieht in den Plänen viel "alten Wein in neuen Schläuchen", und bei den Neuerungen "offene Versprechen, wo man aber nicht genau weiß, wie das wirken wird". Teil der Reform ist, Direktzahlungen an Landwirte an wirksamere Umweltauflagen als bisher zu knüpfen. Die Direktzahlungen machen mit 40 Milliarden Euro einen großen Teil der gemeinsamen Agrarpolitik aus. Lakner kritisiert allerdings, die Kommission lasse den Mitgliedsstaaten sehr viel Gestaltungsspielraum. "Das ist dann natürlich sehr, sehr schwer zu beurteilen, wie wirksam das überhaupt ist." "Direktzahlungen tragen relativ wenig bei" Außerdem halte sich der Steuerungseffekt von Direktzahlungen in Grenzen. "Die Direktzahlungen tragen eigentlich relativ wenig überhaupt zu gesellschaftlichen Zielen bei. Das ist eigentlich Förderung von landwirtschaftlichen Einkommen, und das auch nicht besonders zielgerichtet." Ein viel wichtigeres Steuerelement sieht Lakner in der zweiten Säule der GAP, das Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen sowie die Entwicklung ländlicher Räume in EU-Staaten fördern soll. Das sei "das sehr viel sinnvoller eingesetzte Steuergeld". Dieses Instrument sollte man Lakner zufolge stärken, doch gerade hier plane die Kommission viel stärker zu kürzen. Allerdings sei auch das Agrar-Umweltprogramm verbesserungsbedürftig. Es sei sehr unflexibel und müsse stark aufs Wesentliche konzentriert werden. "Wir fördern innerhalb dieser Programme viel zu viel", sagt Lakner. Zum Beispiel laute ein Posten "Förderung von Gülle-Ausbringung mit modernen Methoden". "Die waren vielleicht vor 20 Jahren mal modern." Mehr politischen Ehrgeiz beim Klimaschutz angemahnt Ehrgeiz zu mehr Klimaschutz sieht der Agrarökonom Lakner in den Plänen nicht. "Solche Ideen fehlen aus unserer Sicht in dem Reformentwurf, und das obwohl die Kommission eigentlich ja an jeder Ecke über das Thema Klima redet." Mehr Ehrgeiz wünscht er sich etwa bei zwei Quellen von Klimagasen, der Tierhaltung und bei der Renaturierung ehemaliger Moorgebiete, die heute Ackerflächen sind. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sebastian Lakner im Gespräch mit Ralf Krauter
Die EU-Agrarpolitik wird reformiert. Führt das zu mehr Umweltschutz, Klimaschutz und Erhalt der Biodiversität? Mit diesem Entwurf nicht wirklich, sagen Kritiker, unter ihnen der Agrarökonom Sebastian Lakner. Er kritisierte im Dlf falsche Prioritäten und wenig Ehrgeiz beim Klimaschutz.
"2019-08-21T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:09.445000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reformplaene-fuer-eu-agrarpolitik-alter-wein-in-neuen-100.html
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Satellitenhimmel statt Sternenhimmel
Dutzende Starlink-Satelliten kurz vor dem Aussetzen (SpaceX) Bei OneWeb sollen rund 800, bei Starlink sogar mindestens einige tausend Satelliten wie riesige Perlenschnüre um die Erde kreisen und so jederzeit jeden Winkel auf unserem Planeten mit einer Internetverbindung versorgen. Die Raumfahrt erlebt eine Revolution: Kommunikationssatelliten, einst nahezu Einzelstücke, die in jahrelanger Handarbeit in Perfektion vollendet wurden, laufen nun als Massenware vom Band, pro Tag zwei bis drei. Gab es vor zehn Jahren erst gut eintausend funktionstüchtige Satelliten, so sind es nun schon fast zweitausend. In zehn Jahren könnten durchaus 20.000 oder mehr Satelliten die Erde umkreisen. Eine schreckliche Vorstellung für Astronomen: Denn die Satelliten werden in der Abend- und Morgendämmerung von der Sonne beleuchtet und stören, wenn sie durch das Blickfeld eines Teleskops ziehen. Das Unternehmen SpaceX bekannte, zuvor nicht an die Störeffekte gedacht zu haben. Eine Firmenvertreterin und Astronomen beraten jetzt monatlich, wie sich Abhilfe schaffen lässt. Ob es etwas nützt, die Satelliten schwarz anzumalen, um die Reflexionen zu verringern, ist noch unklar. Sollte das himmlische Internet in einigen Jahren tatsächlich die digitale Spaltung auf der Erde überwinden, wird der Protest der Astronomen kaum Gehör finden. Dann gibt es in vielen Nachtstunden nur noch einen Satellitenhimmel – aber keinen Sternenhimmel mehr.
Von Dirk Lorenzen
Nahezu monatlich starten Raketen, die Dutzende von Starlink- oder OneWeb-Satelliten in den Weltraum tragen. Beide Firmen bauen gerade erdumspannende Kommunikationsnetze auf. Und das könnte dazu führen, dass Astronomen bald oft auf Satelliten statt auf Sterne gucken.
"2020-04-05T09:57:00+02:00"
"2020-04-03T10:14:52.490000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/riesennetze-von-oneweb-und-starlink-satellitenhimmel-statt-100.html
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Kritik am Minimalvorschlag von Finanzminister Scholz
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) will mit der Finanztransaktionssteuer 1,5 Milliarden Euro im Jahr erlösen, um die Grundrente zu finanzieren (dpa/Michael Kappeler) Vor über zehn Jahren, kurz nach dem Höhepunkt der Finanzkrise, erhielt die Idee in der EU neuen Auftrieb: eine Finanztransaktionsteuer, mit der der Kauf von Aktien, Wertpapieren, aber auch Derivaten besteuert wird, sollte die Spekulation eindämmen. Und ganz nebenbei den Finanzsektor an den Milliardenkosten der Krise beteiligen. Doch im ersten Anlauf scheiterten die EU-Staaten. Der in Steuerfragen in der EU notwendige einstimmige Beschluss kam nicht zustande. Seitdem versucht eine Staatengruppe, die Steuer über die sogenannte verstärkte Zusammenarbeit einzuführen. Mindestens neun Länder müssen so einer Koalition der Willigen angehören, derzeit sind es zehn. Gesetzesentwurf: Warum sich die Umsetzung der Finanztransaktionssteuer schwierig gestaltetMit Hilfe einer Finanztransaktionssteuer sollen Spekulationen an Finanzmärkten eingedämmt werden. Mehrere EU-Länder bemühen sich um eine Umsetzung. Nun hat Österreich den Gesetzesentwurf von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) abgelehnt. Ein Überblick über das Vorhaben und die Hintergründe. Finanztransaktionssteuer als Spekulantenbesteuerung Für sie hat Olaf Scholz im vergangenen Dezember einen Minimalvorschlag vorgelegt und die ursprüngliche Idee deutlich abgespeckt. Nur der Kauf von Aktien soll mit 0,2 Prozent besteuert werden; bei 50.000 Euro wären demnach 100 Euro Steuer fällig. Für Hochfrequenzhändler plant Scholz eine Sonderregel, sie müssten nur ihr Tagessaldo, also Käufe abzüglich Verkäufe, versteuern. Käufe anderer Wertpapiere, auch die von spekulativen, werden nach dem Scholz-Modell überhaupt nicht erfasst. Genau das geht nun Österreichs Kanzler Sebastian Kurz nicht weit genug: "Wir sind für die Finanztransaktionssteuer als Spekulantenbesteuerung so wie sie ursprünglich gedacht war. Der Vorschlag von Finanzminister Scholz – das ist einer den wir ablehnen." Schloz will den ersten Schritt gehen Olaf Scholz und die SPD sehen in ihrem Modell dagegen einen Einstieg in eine umfassendere Besteuerung. Das sei besser als nichts und gerecht: "Wir besteuern es, wenn sie ein Brötchen oder ein Buch oder eine Zeitung kaufen. Aber es wird der Umsatz mit Aktien nicht besteuert, obwohl es in vielen andern Ländern der Fall ist. Und deswegen ist es richtig, wenn wir so eine Maßnahme ergreifen und ein Stück Gerechtigkeit für Deutschland schaffen." Politisch das falsche SignalDie von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) vorgeschlagene Finanztransaktionssteuer sei eine Fehlkonstruktion und die falsche Antwort auf die Finanzkrise, kommentiert Ulrich Barth. Zudem sei sie auch ungerecht und schlecht gemacht. Finanztransaktionssteuer als reine Umsatzsteuer Mit diesem Vergleich des Kaufs von Büchern mit dem von Aktien gibt Scholz indirekt zu: Die Finanztransaktionssteuer ist eine reine Umsatzsteuer. Sie wird von den Banken immer auf den Endkunden, also auch den Kleinanleger, überwälzt - so wie bei der Mehrwertsteuer im Supermarkt. Von der Ursprungsidee, den Finanzsektor, Banken, Investmentbanker oder Wertpapierhändler zu treffen und damit auch spekulative Geschäfte einzudämmen, ist nichts mehr übrig geblieben. Im Gegenteil: Der Finanzminister muss künftig sogar daran interessiert sein, dass Aktien möglichst häufig ge- und verkauft werden und dass auch munter weiter spekuliert wird. Denn nur so sorgt die Finanztransaktionssteuer für Einnahmen von bis zu 1,5 Milliarden Euro im Jahr, mit denen die Koalition – Stand heute - die Grundrente finanzieren will.
Von Theo Geers
Bundesfinanzminister Olaf Scholz sucht weitere EU-Länder, die seinen Minimalvorschlag für eine Finanztransaktionssteuer unterstützen. Doch mit der Ursprungsidee, einer Spekulantenbesteuerung, hat Scholz' Vorschlag nicht mehr viel gemein - im Gegenteil.
"2020-02-04T05:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:50:25.693000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/finanztransaktionssteuer-kritik-am-minimalvorschlag-von-100.html
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Was die Soforthilfen zum Überleben taugen
Die Gastronomie-Branche ist besonders getroffen vom Teil-Lockdown (imago-images/ Seeliger) Seit zwei Wochen sind die neuen Corona-Maßnahmen in Kraft, gilt in Deutschland der sogenannte Lockdown light. Wieder sind Gaststätten geschlossen, Messen verschoben, Kultur-Veranstaltungen abgesagt. Anders als im Frühjahr hat die Bundesregierung jetzt allerdings gleich konkrete Wirtschaftshilfen mit beschlossen. Corona-Hilfen - Politik fürs SchaufensterZehn Milliarden Euro wollen Peter Altmaier und Olaf Scholz bereitstellen. Doch solang unklar ist, wie es weitergeht, wirkt das wie ein Bestechungsgeld für Gastronomen und Kulturschaffende – damit sie stillhalten, kommentiert Theo Geers. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD): "You'll never walk alone. Das ist unsere Botschaft und deshalb haben wir eine sehr umfassende Hilfe auf den Weg gebracht, die 75 Prozent des Umsatzes als Maßstab nimmt." Firmen, die unter dem jetzigen Lockdown leiden, sollen ab Ende November bis zu Dreiviertel ihres gewohnten Umsatzes als Hilfe vom Staat erhalten. Und nicht nur sie, sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU): "Wir haben zum ersten Mal für die Solo-Selbständigen ein umfassendes Hilfsprogramm ermöglicht, insbesondere für die aus dem Kultur- und Kreativbereich." Zum ersten Mal. Seit mehr als einem halben Jahr lebt Deutschland mit dem Corona-Virus und zum Teil tiefgreifenden Einschränkungen. Seit mehr als einem halben Jahr fordern deshalb auch die Solo-Selbständigen, besser in das Netz von Wirtschaftshilfen einbezogen zu werden. Regelmäßig hat zum Beispiel die Veranstaltungsbranche unter dem Motto "Alarmstuferot" protestiert, auch in Düsseldorf. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) (dpa/Kay Nietfeld) Kurz vor dem neuerlichen Lockdown liefen im Oktober etliche Künstler, Ton- und Lichttechnikerinnen, Kameraleute, Designer, Schauspieler und Sängerinnen vor dem nordrhein-westfälischen Landtag auf, um ihrem Ärger Luft zu machen. "Unsere Arbeitsgruppe haben wir bereits tatsächlich im April schon begründet, wo wir schon gesehen haben, das könnte unter Umständen eine längere Geschichte werden", erzählt Jörg Scharf, Veranstaltungstechniker. Anfang März hatte er die Auftragsbücher voll: Festivals, Messen, Kongresse – das Jahr 2020 sah gut aus. "Ich war an einem Punkt, wo ich sagen konnte, dann nimmst Du jetzt keine Aufträge mehr an, das ist genug. Aber am 2. März war dann von einem Tag auf den anderen Schluss." Wenn die Einnahmen auf null sinken Fast alle seiner Aufträge wurden storniert. Die Einnahmen sanken auf null. Deutschlandweit geht es geschätzt 1,5 Millionen Menschen so wie Jörg Scharf. Viele arbeiten laut Kulturstaatsministerin Monika Grütters von der CDU selbstständig und allein im Kultur- und Kreativbereich. Auch Sängerin Ursula Strunk gehört dazu. "Mich hat es auch mit voller Härte getroffen. Ich habe meine letzte Rechnung im Februar geschrieben und habe seitdem null Einnahmen", erzählt die Düsseldorferin. Ökonom spricht von "existenzgefährdender Welle"Der Ökonom Thomas Straubhaar appelliert dafür, in der Coronakrise mehr Risiken einzugehen, um die Wirtschaft zu stärken. Das würde auch bedeuten, höhere Infektionszahlen in Kauf zu nehmen. Anfangs habe sie große Hoffnung gehabt, dass der Staat ihr in dieser außergewöhnlichen Zeit unter die Arme greift. Und tatsächlich bringt Nordrhein-Westfalen als eines der ersten Bundesländer noch Ende März die sogenannte Corona-Soforthilfe auf den Weg. Das sind Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Die Bundesländer verwalten sie und zahlen sie aus, ein Großteil des Geldes kommt aber aus Berlin. "Da war Nordrhein-Westfalen sehr schnell mit der Auszahlung. Man hat auch gesagt in NRW, die Hilfen werden nicht zurückgezahlt werden müssen. Das ist leider nach hinten losgegangen, weiß man ja inzwischen." Lebenshaltungskosten nicht inbegriffen Denn schon wenige Wochen nach dem bemerkenswert schnellen Start dieser Hilfen ist klar: Die Gelder dürfen nur für Betriebsausgaben verwendet werden – also etwa für Büromieten, einen Fuhrpark oder andere Kosten – nicht aber für den Lebensunterhalt. NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) erklärt deshalb Mitte Mai: "Nachdem der Bund unmissverständlich klargemacht hatte, dass er Lebenshaltungskosten nicht übernehme und die Solo-Selbständigen an die Grundsicherung verweise…", habe auch NRW das Hilfsprogramm angepasst. Seitdem gilt: Finanzielle Unterstützung – auch im Rahmen der im Sommer eingeführten Überbrückungshilfen – gibt es fast ausschließlich für Betriebsmittel. Für Lebenshaltungskosten muss Arbeitslosengeld II, auch bekannt als Hartz IV, beantragt werden. Das bedeutet für viele Solo-Selbständige: Sie bekommen – nichts. DIW-Chef plädiert für kurzen, konsequenten LockdownDer Ökonom Marcel Fratzscher hält in der Coronakrise "einen kurzen, aber wirklich konsequenten Lockdown gesamtwirtschaftlich gesehen für die beste Option". "Leider laufen auch an mir die Hilfen komplett vorbei. Da ich in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, kriege ich auch kein Hartz IV, und die Soforthilfe ist ja bekanntlich nur für Betriebskosten, die ich nicht habe", erklärt Sängerin Ursula Strunk. Hinzu kommt, dass die privaten Renten-, Kranken- und Zusatzversicherungen vieler Selbständiger kaum von Hartz IV gedeckt würden. Gesangsprobe beim Tölzer Knabenchor in München. Zwei junge Solisten singen das "Ave Maria" von Giovanni Giorgi. Im großen Probenraum stehen sie weit voneinander entfernt – und auch Gesangslehrer Clemens Haudum muss auf Distanz gehen. "Wir haben natürlich mehr Abstand beziehungsweise weichen dann in Chorräume aus. Die Vorgaben sind ja dann jetzt mehrere Meter, und das lässt sich bei uns dann auch sehr gut durchführen. Mit den Chorproben ist es ein bisschen schwieriger: da ist natürlich die Raumgröße und der Abstand entscheidend. Und bei uns ist die größte Gruppe, die wir als Chor haben, das sind im Moment knapp 30 Jungs." Harter Schlag 30 von insgesamt 170 Kindern des Tölzer Knabenchors. Immerhin. Bei der ersten Corona-Welle waren überhaupt keine Chorproben erlaubt. Und was dem Ensemble besonders wehtat: ein Großteil der Konzert-Auftritte des Jahres 2020 ist ausgefallen. Finanziell ein harter Schlag für ein Privat-Unternehmen, sagt Knabenchor-Geschäftsführerin Barbara Schmidt-Gaden. "Für die Tölzer gibt es immer diese schwierige Situation, da wir eine GmbH sind, sprich, wir werden zwar vom Freistaat Bayern und von der Stadt Bad Tölz bezuschusst. Das ergibt nur 14 Prozent von dem Budget, das wir jährlich brauchen, cirka 1,4 Millionen, damit wir überhaupt den Laden am Laufen halten können. Das heißt, die Gefahr bestand immer in diesen 65 Jahren, dass vielleicht mal zu wenige Auftritte erfolgen, da wir uns fast zur Hälfte aus Konzert-Honoraren speisen. Und das ist natürlich jetzt die große Crux an der ganzen Sache." Die bevorstehende Advents- und Weihnachtszeit ist eigentlich Hoch-Saison für den Tölzer Knabenchor. Rund 40 Auftritte hat das Ensemble in einem normalen Dezember. Im Corona-Dezember sind nur zwanzig geplant – und selbst die könnten dem Virus noch zum Opfer fallen. Der Tölzer Knabenchor kämpft ums Überleben - "…weil irgendwann wird’s knapp. Also jetzt reicht es noch bis Ende Dezember, würde ich mal sagen - ungefähr." Für Bernd Sibler, den Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, ist die Kultur systemrelevant. (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld) Im Frühjahr hat der Tölzer Knabenchor die Corona-Soforthilfe des Freistaates Bayern beantragt - und bekommen. Aber nun braucht der Chor erneut Hilfe. Bayerns Kunstminister Bernd Sibler von der CSU hat Ende Oktober ein neues Hilfsprogramm für soloselbständige Künstler angekündigt. Es ähnelt dem des Bundes: Kulturschaffende sollen für den Lockdown-Monat November eine Art Ersatz-Unternehmerlohn erhalten – in Höhe von Dreiviertel der Einnahmen des Vorjahres-Monats. "75 Prozent der Einnahmen des letzten Novembers. Da wäre uns schon sehr sehr geholfen, wenn das zustande kommen würde. Aber da weiß man auch nicht, welche Hürden da noch zu nehmen sind. Logischer fände ich es, wenn man es aufs Jahr berechnet, die Einnahmen aufs Jahr, und dann durch den Monat teilt. Wir haben im Dezember zum Beispiel normalerweise 40 Konzerte, dann oft im Januar zwei Konzerte. Also, das ist ja wirklich sehr sehr verschieden." Maximal 1.180 Euro monatlich pro Antragsteller soll die Hilfe betragen und zusätzlich zur Überbrückungshilfe des Bundes gezahlt werden, die noch bis Ende des Jahres läuft. Aber wer derzeit auf die Homepage des bayerischen Kunst- und Wissenschaftsministeriums geht, um die 75-Prozent-Hilfe des Freistaates Bayern zu beantragen, bekommt nur spärliche Informationen. Ein Antragsformular gibt es noch nicht. Mehr Privatinsolvenzen und Firmenpleiten befürchtet Die Kultur- und Veranstaltungsbranche erwartet in den kommenden Monaten eine steigende Zahl an Privatinsolvenzen und Unternehmenspleiten. Die jetzt beschlossene November-Hilfe sei bisher nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und wie es nach November weitergeht, ist noch nicht bekannt. Mit dieser Unsicherheit lebt auch die Gastronomie seit dem ersten Lockdown im Frühjahr. Rückblick: Anfang April steht Thomas Demske hinter der Theke seiner Brauerei am Zoo in Düsseldorf. Das Restaurant ist zu. Statt Bier auszuschenken, schüttet der Gastronom es in den Abfluss. "Das läuft ab, das habe ich auch gerade wunderbar entsorgt im Waschbecken. Ja, wir gehen davon aus, dass wir 500 bis 600 Liter entsorgen müssen - allein an Altbier." Jetzt, sieben Monate später, dasselbe Spiel. Alles Verderbliche muss Demske wegkippen. Sein Lokal ist wieder dicht. "Wir haben im November klassisch Gänseessen, Weihnachtsfeiern, die wären - Weihnachtsfeiern – dieses Jahr komplett weggefallen. Also wir fahren quasi mit der Schließung besser, als wenn wir geöffnet hätten." Bis zu 50 Prozent weniger Umsatz hat der Gastronom im Oktober verbucht. Wenn er nun 75 Prozent seines Novemberumsatzes von 2019 als Corona-Hilfe bekäme, "wäre das für uns super, muss man ganz klar sagen." Bundesweit mussten Kneipen schließen (dpa/Jens Kalaene) Bisher haben ihn die Hilfsgelder noch über Wasser gehalten: Die anfängliche Corona-Soforthilfe und die darauffolgenden Überbrückungshilfen und natürlich das Kurzarbeitergeld. So habe er trotz Umsatzeinbußen investieren können, erzählt der 37-Jährige. "Wir waren kurz davor, uns jetzt solche Luftreinigungssysteme zu kaufen. Wir haben natürlich in Plexiglas investiert, wie quasi alle Gastronomen. Wir haben unsere Außenterrasse mit Heizstrahlern aufgerüstet, mit Seitenwandmarkisen, um wirklich was Winddichtes hinzukriegen, und die Leute auch raus zu locken. Das wurde auch sehr sehr gut angenommen." Zumindest, solange es noch zweistellige Temperaturen und ein wenig Sonnenschein gegeben habe. Jetzt im kühlen Herbst und vor dem baldigen Winter, macht er sich Sorgen, wie sein Betrieb weiterlaufen soll. "Wenn ich realistisch bin, gehe ich davon aus, dass wir dieses Jahr nicht mehr aufmachen. Ich glaube nicht, dass sich die Zahlen durch die Schließung der Restaurants und Hotellerie drastisch verringern werden. Und was im neuen Jahr ist, das steht in den Sternen." Warum die Ansteckungsgefahr in Restaurants schwer zu bewerten istWie groß ist das Risiko tatsächlich, sich in einer gastronomischen Einrichtung zu infizieren? Die Forschung argumentiert nur zögerlich in eine klare Richtung. Finanziell werde er die Pandemie vielleicht durchstehen, sagt Demske, zumindest, wenn der Staat ihn bei den Fixkosten weiter unterstützt. Er macht sich mehr Sorgen um sein Personal, das zwar Kurzarbeitergeld bekommt, aber eben kein Trinkgeld mehr – und deshalb vielleicht langfristig in andere Branchen wechseln könnte, wo die Löhne höher sind. Schon jetzt leidet die Gastronomie am Fachkräftemangel. Ob sein Restaurant die Pandemie überlebt, hängt deshalb nicht allein von den Unternehmenshilfen ab. "Der Mittelstand bleibt auf den Fixkosten sitzen" Eine moderne Produktionshalle am Chiemsee in Oberbayern. Riesige Metallfräsen, flinke Roboter und 3D-Drucker in der Größe von Schrankwänden. Hier fertigt die Luftfahrt-Firma "Philipp Aircraft" Luftfahrt-Teile für Airbus- und Boeing-Maschinen. Sein Unternehmen produziere quasi die Knochen der Flugzeuge, sagt Firmengründer Rolf Philipp. "Ist es ein Familien-Unternehmen, ein Eigentümer-geführtes Unternehmen. Also ich habe 100 Prozent der Anteile bis jetzt gehabt. Also bis vor Corona." Dann kam die erste Covid-Welle – und der Mittelständler "Philipp Aircraft" mit seinen knapp 300 Beschäftigten wäre fast pleitegegangen. "Corona ist ein riesengroßer Sturm. Das ist ein Hurrikan, ein Tsunami, der gerade durch die Branche wütet, der sehr viel Schaden anrichtet. Im Moment haben die Lieferanten noch mit langen Zahlungszielen Geldeingänge. Also wir haben Zahlungsziele teilweise von drei Monaten. Und diese Zeit ist jetzt dann irgendwann vorbei, und die Branche erwartet schon so ab letztem Quartal, ersten Quartal nächsten Jahres, dass ziemlich viele Lieferanten es nicht schaffen werden." Rolf Philipp ist nicht nur Unternehmens-Chef, sondern auch Mittelstands-Beauftragter der bayerischen Luftfahrt-Branche. Und der gehe es schlecht. "Der Mittelstand wird im Moment in der zivilen Luftfahrtbranche ziemlich gewatscht!" Es sei schon vor Corona nicht leicht gewesen, sagt Philipp. Aber Covid habe verheerende Folgen. "Mit Corona sind die Umsätze ungefähr 40 bis 50 Prozent zurückgegangen. Der Mittelstand bleibt auf den Fixkosten sitzen. Die kann er nicht mehr bezahlen." Die Banken seien derzeit keine große Hilfe. Sie gäben nur sehr zögerlich Kredite, sagt Philipp. Da hülfen nicht mal die umfänglichen Zusagen der KfW, der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau. "Die KfW ist nicht zum Laufen gekommen. Vor drei, vier Monaten war es chancenlos, die Banken dazu zu bekommen, überhaupt einen Antrag bei der KfW zu stellen, wenn man in der zivilen Luftfahrt ist. Da war man einfach abgestempelt und auf einer roten Liste", spekuliert Philipp. Ein Grund könnte ihm zufolge sein, dass Branchen-Experten nicht an eine schnelle Erholung des Luftverkehrs glauben. Die KfW dagegen widerspricht, rote Listen mit "kritischen Branchen" gebe es nicht und betont, die Corona-Kreditprogramme stünden allen Unternehmen offen.* Rolf Philipp fürchtet, "dass der Flugverkehr erst 2024 wieder auf dem Level ist von 2019." Bayerns Ministerpräsident Söder (Peter Kneffel/dpa/dpa-Bildfunk) Um das durchzustehen, braucht man einen langen Atem. Und den haben viele mittelständische Luftfahrt-Unternehmen mit 30 oder 300 Mitarbeitern einfach nicht. Mit den bisherigen Hilfs-Maßnahmen von Bund und Freistaat Bayern ist Philipp nicht zufrieden. Zu bürokratisch, zu langsam, zu kompliziert. Der bayerische Unternehmer hätte sich einen Staats-Fonds mit niedrigen Zinsen und möglichst geringem staatlichen Einfluss gewünscht. "Jetzt gibt’s diesen Wirtschafts-Stabilisierungs-Fond, den WSF. Wir haben dafür gekämpft, dass mittelständische Firmen auch unter 250 Mitarbeitern in der Luftfahrt, da irgendwo Platz finden. Aber es scheint auch sehr schwer zu sein. Und viele Mittelständler haben auch kein Interesse, dass der Staat an seiner Firma beteiligt ist, weil man als Mittelständler seine Firma als eigenes Produkt sieht und nicht als etwas, wo man nur eine kleine Beteiligung hat." Hilfe, Hilfe, Hilfe Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern will in der Corona-Krise vor allem die Auftragslage der Luftfahrtbranche verbessern. Etwa durch mehr staatliche Aufträge. "Also, wir müssen sowohl im zivilen wie im militärischen Bereich genügend Aufträge generieren, damit die Zulieferer und die Produzenten überhaupt wieder Arbeit haben. Das ist das Hauptziel. Und auf der anderen Seite natürlich auch diverse finanzielle Unterstützungs-Maßnahmen, von der Soforthilfe beginnend über die Überbrückungshilfe und diverse Kreditprogramme bis am Ende jetzt auch die Forschungsprogramme und die Möglichkeit über den Bayern-Fonds Unternehmen zu unterstützen." Hilfe, Hilfe, Hilfe. Klingt gut, funktioniert aber in der Praxis nur bedingt. Beispiel Forschungs-Hilfe. Es sei ja schön, dass der bayerische Wirtschafts-Minister über Chancen rede, so Unternehmer Philipp. "Die Chancen sind aber alle in der Zukunft. Nur erstmal muss ich schauen, in das Jahr zu kommen, wo ich so eine Chance nutzen kann. Wir Lieferanten produzieren, aber auch im Engineeringbereich, wir müssen durch ein Tal der Tränen. Das Tal ist sehr lange, wir wissen nicht, wie lange es ist. Und wir haben nicht die Möglichkeit, Forschungsgelder zu investieren in etwas Neues, in neue Ideen. Das könnten wir tun, wenn Forschungen zu 100 Prozent gefördert würden. Aber es ist nicht so. Es ist vielleicht zu 50 Prozent gefördert oder vielleicht mal im Mittelstand zu 60 Prozent gefördert. Wenn ich den Rest selber erbringen muss, ist momentan kein Geld dafür vorhanden." Bayerns Wirtschaftsminister Aiwanger würde Luftfahrt-Forschung auch gern mit 80 oder mehr Prozent fördern. Allerdings verbiete das die EU. "Wir haben hier natürlich europäische Vorgaben, um eine Wettbewerbsverzerrung nicht auf den Weg bringen zu dürfen. In Corona-Zeiten kann man punktuell mal davon abweichen und einen höheren Anteil an Förderung geben, aber in der Regel geht’s nicht über 50 Prozent hinaus." Aus Sicht eines Politikers klingen Fördertöpfe mit hohen Millionen-Summen gut, sagt Unternehmer Philipp, weil sie den Eindruck vermitteln: Seht her, wir tun was. Aber vor Ort, in den Unternehmen, bringen sie wenig. "Wenn ich die Liquidität nicht bekomme, um durch so eine Krise durchzurutschen, gehe ich früher oder später einfach pleite. Da brauchen wir uns nix vormachen." Der Eigentümer von "Philipp Aircraft" hat sich deshalb entschlossen, einen anderen Rettungsweg einzuschlagen. Vor einigen Wochen hat er 70 Prozent seiner Anteile an einen großen Aluminium-Konzern im benachbarten Österreich verkauft. "Ich musste dabei die Mehrheit des Unternehmens abgeben. Aber marktbedingt und auch Corona-bedingt, das man so eine Entscheidung hat treffen müssen." Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Wenigstens hat Philipp auf diese Weise die Insolvenz abgewendet. Andere mittelständische Luftfahrt-Unternehmen in Bayern wären froh, wenn sie einen Käufer finden würden. Möglichst einen, der nicht aus China kommt und Knowhow absaugt. Diese Gefahr sieht auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). "Wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir am Ende enorme Kompetenz mit Technologie, aber auch mit jungen Leuten, die da reingehen. Also ich glaube, da braucht es bald auch einen nationalen Luftfahrtgipfel, der sich damit beschäftigt. Und da geht es um mehr als um die Rettung eines Unternehmens." Letztlich steht wegen der Corona-Pandemie das Schicksal etlicher Branchen auf dem Spiel – leidet eine, leiden auch viele andere. Hilfspakete sollten deshalb noch breiter – und langfristiger – gedacht werden, sagt Veranstaltungstechniker Jörg Scharf. "Wenn man jetzt überlegt, dass zum Beispiel so Großunternehmen wie die Messe Berlin nicht vor 2024 mit einem Grundgeschäft rechnen, dann muss man schon ganz genau schauen, was in Zukunft nicht nur mit unserer Veranstaltungstechnikbranche, sondern vielleicht auch mit Gastrobetrieben, Touristik, usw. was alles da in diesem Bereich mit dranhängt, was da noch passiert." Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen angekündigt, die Überbrückungshilfe bis Mitte nächsten Jahres auszubauen. Dazu soll es tatsächlich auch ein eigenes Programm für Soloselbständige geben: Sie könnten einmalig bis zu 5.000 Euro erhalten – für den Zeitraum von Januar bis Juni 2021. Ob das zum Leben reicht? Es wird sich wohl noch zeigen, wie sehr das Motto von Bundesfinanzminister Olaf Scholz – "You'll never walk alone" – wirklich gilt. *Der Satz an dieser Stellt wurde nachträglich ergänzt
Von Vivien Leue und Michael Watzke
Firmen im Teil-Lockdown sollen für den November Finanzhilfen bekommen. Aber vielen Unternehmen geht es nicht erst seit diesem Monat schlecht. Die Pandemie trifft etliche Branchen hart. Mit welcher Unterstützung konnten sie bisher rechnen - und was hat es gebracht?
"2020-11-16T18:40:00+01:00"
"2020-11-17T11:54:25.454000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/staatliche-corona-unterstuetzung-was-die-soforthilfen-zum-100.html
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Grünes Licht für den General
Bald Präsident? Ägyptens Armeechef Abdel Fattah al-Sisi (Mitte) (picture alliance / dpa / Egyptian Army/Handout) Beobachter sehen die Beförderung als letzte Ehrung für den Armeechef, bevor dieser aus dem Militärdienst ausscheidet - das wäre nötig, falls al-Sisi tatsächlich kandidieren würde. Noch hat dieser nicht erklärt, ob er tatsächlich kandidieren wird. Er gilt als beliebt im Volk, ein Sieg wäre wahrscheinlich. Am Wochenende hatten Anhänger des Militärs bei mehreren großen Kundgebungen den Armeechef zur Kandidatur aufgerufen. Gleichzeitig gingen Sicherheitskräfte mit aller Härte gegen islamistische Demonstranten vor - 50 Protestierende wurden dabei getötet. Die Islamisten forderten eine Wiedereinsetzung des früheren Präsidenten Mohammed Mursi, der im Juli nach wochenlangen Protesten durch die Armee abgesetzt worden war - ausgerechnet durch al-Sisi, den Mursi kurz nach Amtsantritt 2012 selbst zum Armeechef und Verteidigungsminister gemacht hatte. Schon kurz nach dem Umsturz waren immer mehr Bilder des 59-Jährigen zu sehen. Die Medien entfachten einen richtiggehenden Personenkult um al-Sisi, er wurde als Retter des Landes verehrt. Ein Beispiel für den Personenkult um al-Sisi: Pralinen mit seinem Konterfei (picture alliance / dpa / Sebastian Backhaus) Er selbst kehrte nach dem Umsturz in den Hintergrund zurück und legte die Macht in die Hände einer Übergangsregierung - allerdings nur formell. Zwar entschied er nicht, was die neue Führung tat. Aber, so sagen es Beobachter: Die neue Führung tat auch nichts, was dem Willen des neuen starken Mannes zuwidergelaufen wäre. In Zukunft könnte al-Sisi aber auch offiziell derjenige sein, der die Geschicke Ägyptens lenkt.
null
Ägyptens Armeechef Abdel Fattah al-Sisi ist der Präsidentschaftskandidatur einen Schritt näher gekommen: Der Oberste Rat der Streitkräfte Ägyptens hat sich für eine Kandidatur al-Sisis ausgesprochen. Zuvor hatte der Armeechef bereits eine hohe militärische Ehre erfahren.
"2014-01-27T17:08:00+01:00"
"2020-01-31T13:23:30.639000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aegypten-gruenes-licht-fuer-den-general-100.html
92,061
Wohin mit Francos Knochen?
Krypta in der Almudena-Kahedrale in Madrid: Wird Ex-Dikator Franco neben seiner Tochter Carmen Franco Polo bestattet? (imago / ZUMA Press) Die Almudena-Kathedrale in Madrid. Jedes Jahr im November wird in der riesigen Kirche die Schutzpatronin der spanischen Hauptstadt gefeiert. Nach der Messe warfen in diesem Jahr viele Schaulustige noch einen Blick in die benachbarte Krypta. In dem Seitenbau liegen unter schlichten Marmorplatten Spaniens Granden und andere, die sich zu Lebzeiten mit Spenden erkenntlich gezeigt haben. Geht es nach der Familie Francos, werden auch die Überreste des katholischen Diktators demnächst hier bestattet, neben seiner Tochter Carmen Franco Polo. Ein Unding, findet Carlos García de Andain. Der Theologe war Teil der Expertenkommission, die über den Verbleib der Überreste Francos entschieden hat. "Die Almudena-Kathedrale ist zwar im Besitz der katholischen Kirche, bildet aber zusammen mit dem Königspalast einen architektonischen Komplex. Sie steht so für eine historische Allianz zwischen Thron und Altar. In der Almudena hat das spanische Königspaar geheiratet, dort finden Staatsbegräbnisse statt. Es ist also ein Ort von staatlicher Bedeutung. Dort Franco zu bestatten, stände im Widerspruch zu demokratischen Grundwerten und der konstitutionellen Monarchie." Heikle Debatte für die Kirche Um das zu verhindern, hat die spanische Regierung Himmel und Erde in Bewegung gesetzt. Ende Oktober reiste die Vizepräsidentin nach Rom, zum Chefdiplomaten von Papst Franziskus. Auch der Vatikan wolle keinen toten Diktator in der Madrider Kathedrale, verkündete die Regierung nach dem Treffen. Etwas voreilig. Zum Bestattungsort habe man sich zu keinem Zeitpunkt geäußert, präzisierte der Vatikan. Man begrüße aber jede Lösung, die einvernehmlich mit der Familie gefunden würde. Mehr nicht. Seit Wochen streiten die Regierung und die Familie nun über den Verbleib von Francos Knochen. Zwischen den Stühlen: die spanische Amtskirche. Interviewanfragen beantwortet man dort mit einem erschöpften Seufzen. Wir vertreten von Anfang an dieselbe Position, sagt José María Gil Tamayo, Generalsekretär und Sprecher der spanischen Bischofskonferenz, und wir bleiben dabei: "Die Kirche kann einem Christen nicht das Anrecht auf eine Grabstätte verweigern, schon gar nicht, wenn dessen Familie eine Gruft rechtmäßig besitzt. Für uns haben die Toten kein Parteibuch. Wir beten für die Verstorbenen und sitzen über niemanden zu Gericht. In diesem Sinn werden wir uns immer für einvernehmliche Lösungen einsetzen." Die Almudena-Kathedrale in Madrid. (imago / robertharding) Für Franco sind die Regierung und die Familie zuständig, sagt auch Kardinal Carlos Osoro, Erzbischof von Madrid und Hausherr der Almudena-Kathedrale. Nur nicht noch mehr zwischen die Fronten geraten, sich bloß nicht vereinnahmen lassen: Das scheint die Devise. Aus gutem Grund: Kaum eine Debatte ist für die katholische Kirche so heikel wie der Umgang mit dem toten Diktator. Denn dabei geht es immer auch um ihr Selbstverständnis - und um ihr Selbstbild. Katholiken wollen überparteiliche Kirche Als "Kreuzzug" gegen das Böse hatte die spanische Kirche 1936 den Putsch des Generals Francos verteidigt und die Tausenden, von Anhängern der Republik ermordeten Priester, Mönche und Nonnen zu Märtyrern erhoben. Francos Spanien war nationalkatholisch – und die Kirche einer der wichtigsten Stützpfeiler des Regimes. Auch wenn sie als einzige Institution auch der Opposition ein Obdach bot und vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf gesellschaftliche Modernisierung, auf Demokratisierung drängte: Den meisten Spaniern gilt die Kirche immer noch als Fürsprecher der politischen Rechten. In den Nuller-Jahren organisierte die Kirche Großdemos gegen die Gesellschaftsreformen der sozialistischen Regierung Zapatero und protestierte vehement gegen deren Erinnerungsgesetz, mit dem Francos Erbe getilgt werden sollte. Diese Einmischung in die Politik hat man ihr bis heute nicht verziehen, sagt José Manuel Vidal, Direktor des liberalen Kirchenportals Religión Digital: "Unter Kardinal Rouco stand die katholische Kirche in offener Opposition zur sozialistischen Regierung. Dadurch hat sie erheblich an Glaubwürdigkeit verloren. Bis heute: Das Renommee der spanischen Kirche ist so schlecht wie das der Parteien. Auch deshalb versucht sie, sich von der Politik fernzuhalten. Die meisten Katholiken wollen eine Amtskirche, die sich um Kirchenangelegenheiten kümmert, um die Karwoche, die Heilgenprozessionen, vielleicht auch um gesellschaftliche Probleme wie Korruption – aber immer von einer übergeordneten, überparteilichen Position aus." Mit einer Gesetzesänderung will Spaniens Regierung nun öffentlich zugängliche Gedenkstätten zur "Verherrlichung der Diktatur" verbieten und so die Debatte um das Franco-Grab beenden. Abgeschlossen wäre das Kapitel für die Kirche aber auch dann noch nicht. Denn die Umbettung des Diktators aus dem Tal der Gefallenen ist nur der erste Schritt. Auf Wunsch der Expertenkommission soll die gesamte, von einem gigantischen Betonkreuz gekrönte Anlage zu einem Zentrum der Versöhnung werden. Das "Tal der Gefallenen" der Franco-Diktatur mit dem Grab Francos, ca. 50 km nördlich von Madrid. (imago/ZUMA Press) Eine Ausstellung soll erklären, was Franco mit dem von ihm beauftragten Siegesmahnmal bezwecken wollte. Ein Raum soll geschaffen werden, in dem auch Nicht-Gläubige der 34.000 dort bestatteten Bürgerkriegstoten gedenken können. Die Amtskirche ist mit dem Gros der Maßnahmen einverstanden. Doch die mit der Pflege der Anlage beauftragten Benediktinermönche laufen Sturm. Franco bereitet noch heute Kopfzerbrechen Der Orden, der in der Basilika täglich Messen für den Diktator liest, versteht sich als letzte Bastion des National-Katholizismus und wettert gegen die "Grabschändung" des Diktators. Erst auf massiven Druck der Kirche haben die widerspenstigen Mönche der Exhumierung stattgegeben. Die Regierung würde sie lieber heute als morgen aus dem Tal der Gefallenen verweisen. Carlos García de Andain von der Expertenkommission: "Die Abtei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten extrem politisch positioniert. Das verträgt sich überhaupt nicht mit dem Anspruch, das Tal der Gefallenen zu einem demokratischen Versöhnungsmahnmal zu machen - und das macht eine Verwaltung eines solchen Zentrums schwierig." Auch die Amtskirche ist vergrätzt - wegen eines Alleingangs der renitenten Benediktiner. Sie haben gegen einen Teil des Umbettungsdekrets Einspruch eingelegt – ohne Vatikan, Bistum oder Bischofskonferenz zu informieren. Dazu kam der Publicity-Effekt der Franco-Debatte. Die Messen im Tal der Gefallenen waren in den vergangenen Wochen voller als je zuvor. Spaniens Rechtsextreme trafen sich dort zur Andacht – und produzierten just jene Bilder, die man hinter sich lassen wollte. Der Umgang mit dem toten Diktator wird Spaniens Kirche noch einiges Kopfzerbrechen bereiten.
Von Julia Macher
Francisco Franco liegt begraben in einer heroischen Gedenkstätte in Zentralspanien. Parlament und Regierung haben kürzlich beschlossen, Francos Leichnam umbetten zu lassen. Seine Nachkommen wollen ihn jetzt in der Familiengruft beisetzen lassen – in der Almudena-Kathedrale in Madrid.
"2018-11-16T09:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:39.908000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-gebeine-des-spanischen-diktators-wohin-mit-100.html
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Wenn Künstliche Intelligenz das Forum moderiert
Die "Rheinische Post" setzt auf Software, die durch öffentliche Gelder gefördert wurde (IMAGO / imagebroker) "Sie haben den Schuss wohl noch weniger gehört als unsere Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft." Ein Konferenzraum in Düsseldorf, der Beamer wirft Forenposts an die Wand, zwei Wissenschaftler, eine Community-Managerin und eine Audience Developperin diskutieren. "Könnte man jetzt sagen: okay, sind jetzt keine schlimmen Schimpfwörter drin. Aber es ist eigentlich eine Provokation eines anderen Nutzers. Und das trägt nicht zur sachlichen Diskussion bei. Wird man also sperren?" Ist es gerade noch Meinungsäußerung oder schon Provokation/Beleidigung? Und wenn ich das durchgehen lasse, was mache ich, wenn der Ton immer rauer wird? Diese Fragen beschäftigen Hannah Monderkamp, seit sie vor fünf Jahren bei der "Rheinischen Post" (RP) anfing. Heute leitet sie das Audience Development Team, kümmert sich also ganz grundsätzlich um die Verbindung zu den Nutzerinnen und Nutzern. Und ganz alltäglich tut das Community-Managerin Lilli Stegner. "Und man sitzt dann wirklich an so einer Spalte, da laufen die neuesten Kommentare ein. Und jedes Mal, wenn man refresht, sind wieder neue Kommentare da. Und jeder einzelne Kommentar muss dann eben gelesen werden, was alleine schon mal eine Masse ist, um dann rauszufiltern: Ist das jetzt eine Kritik, die ja auch berechtigt sein kann? Ist das vielleicht eine Verwendung von Sprache, die einfach strafrechtlich, sogar teilweise relevant ist? Ist das Verharmlosung des Holocaust also? Es ist sehr vieles dabei." Entlastung für die Moderatoren "Ihr habt genau das Problem, dass das bei euch so viel geworden ist, dass man das kaum mehr abarbeiten kann. Man kann ja nicht permanent neue Menschen einstellen, die sich nur damit beschäftigen. Und wir waren von der Forschung her, an Algorithmen am Forschen, die erkennen, wann ist was Hassmail?" Jörg Becker, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Uni Münster. Gemeinsam mit seinem Forschungsteam entwickelt er Moderat!, ein Kommentar-Analyse-Tool. Die Software kennt die Forenregeln, sie übt schon fleißig im Hintergrund mit den Kommentaren der "Rheinischen Post", lernt dabei, besser zu entscheiden. Schon bald soll sie mit der gleichen Treffsicherheit Beiträge freigeben oder aussortieren, wie das die Moderatorinnen und Moderatoren aus dem Team tun, und soll diese so bei ihrer Arbeit entlasten. Hass im Netz und kein EndeHetze im Internet werde künftig "härter bestraft", kündigte in diesem Jahr das Bundesjustizministerium an. Hintergrund sind neue Gesetze, die in Kraft getreten sind. Die Wirklichkeit ist noch eine andere: Der Ton bleibt rau – und Betroffene fühlen sich alleine gelassen. Hannah Monderkamp: "Anfangs war es noch so, dass wir die Kommentare über Nacht aufhatten, und dann morgens sortiert haben. Aber das ist mittlerweile auch nicht mehr zu schaffen. Wir haben jetzt sozusagen Öffnungszeiten. Und abends werden die Kommentare dann zugemacht. Man merkt natürlich auch morgens ganz oft, dass die Leute schon auf der Matte stehen und warten, dass sie jetzt weiter kommentieren können." Viele Ausrufezeichen und Großbuchstaben sind verdächtig Während es bei der RP rund 400 Kommentare pro Tag sind, verarbeiten Redaktionen wie "Zeit online" 10.000. Auf Anfrage bestätigt die Redaktion, dass auch sie dort mit einer KI arbeiten wolle. Der Name: Zoë. Andere Verlage nutzen ebenfalls Analyse-Systeme, die Tagesschau etwa SWAT und Conversario. Der Unterschied zu Moderat! liegt aber in der Frage der Transparenz, sagt Kilian Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl des Wirtschaftsinformatikers Jörg Becker: "Das Problem ist, dass diese eben reine Blackboxen sind. Da geht was rein, da kommt man raus, und keiner weiß, was da zwischendurch passiert ist, außer eben die Leute in dem Konzern." Auf seinem Laptop kann Müller nicht nur zeigen, wie die KI entscheidet, sondern auch warum. "Der Kommentar ist jetzt sogar schon durch die Schleife durchgelaufen und wurde jetzt in diesem Fall nicht als Hass deklariert." Ein Filter schaut nach Interpunktion. Viele Ausrufezeichen und Großbuchstaben sind verdächtig. Einzelne Worte, aber auch der Kontext können den Ausschlag geben. Mit Ironie hat die KI noch so ihre Probleme. Daher soll sie vorerst nur die Kommentare zurückhalten, die sicher grenzverletzend sind, dafür diejenigen durchlassen, die unverdächtig sind. Beispiel einer aktuellen Foren-Diskussion unter einem Artikel der "Rheinischen Post" (Screenshot) Öffentlich gefördertes Projekt Hannah Monderkamp: "Das belohnt halt auch die Nutzerinnen und Nutzer, die sich gut benehmen. Weil sonst müssen halt im Zweifel die, die einen normalen Kommentar abgegeben haben, auch eine Stunde warten, bis wir durch den Haas gekommen sind. Und so können sie schon ein bisschen schneller durch, wenn eben kein Hass drin ist." Auf der Suche nach einem Mittel gegen den HassBeleidigungen und Hassbotschaften sind im Netz ein weit verbreitetes Problem. Seit einigen Jahren schreiben mehrere Initiativen dagegen an. Ob diese Gegenrede ein wirksames Instrument ist, erforschen jetzt Wissenschaftler. Immer dann, wenn KI ein Geschäftsmodell ist, werden Codes und Algorithmen zum Betriebsgeheimnis. Wenn aber KI unsere Gespräche moderiert, wäre es doch gut zu wissen, nach welchen Kriterien das geschieht. Anders als die kommerziellen Anbieter ist Moderat! zu dieser Transparenz verpflichtet – weil: Es ist das Projekt einer öffentlichen Universität und gefördert durch die EU. Kilian Müller: "Ich glaube, was da vielleicht auch noch ganz wichtig ist: Die EU ist nicht darauf fokussiert, dass die Kommentarsektion der RP durch das Projekt bereinigt wird, sondern darum, einen allgemeinen Ansatz zu finden, einen allgemeinen möglichen Ansatz, der auch von anderen dann genutzt werden könnte, um dieses Problem eben anzugehen." Eine Flut von Hass und Hetze kann die Diskussionskultur in Foren vergiften. KI und Algorithmen können hier wenigstens beim moderativen Eindämmen helfen.
Von Stephan Beuting
Klassische Nachrichtenmedien versuchen, ihre Kommentarspalten im Netz nicht von Hasspostings dominieren zu lassen. Viele Redaktionen setzen hierbei auf Künstliche Intelligenz. Doch nicht alle tun das so transparent wie die "Rheinische Post".
"2021-09-09T15:35:00+02:00"
"2021-09-10T08:56:10.575000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sehr-wahrscheinlich-hass-wenn-kuenstliche-intelligenz-das-100.html
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Wohnungsbau an falscher Stelle
In einigen Gegenden werden Wohnungen über Bedarf gebaut (picture alliance / Winfried Rothermel) Viele Menschen in Deutschland zieht es in die Städte - doch der Wohnraum dort ist knapp. Das zeigt auch die Studie des IW, des Instituts der deutschen Wirtschaft, in der die Zahl der in den vergangenen drei Jahren fertig gestellten Wohnungen mit dem Bedarf verglichen wird. Ralph Henger, einer der Autoren der Studie, fasst zusammen: "Wir bauen nicht genügend Wohnungen in den Ballungsräumen und Ballungszentren, und hier muss noch viel getan werden, dass wir die Märkte in einen Ausgleich bekommen." Zu wenig Personal, zu viele Vorschriften So wird der Bedarf an Neubauwohnungen in Köln noch nicht einmal zur Hälfte gedeckt, Stuttgart liegt in der Negativliste auf Rang zwei, aber auch in München, Berlin und Frankfurt werden gemessen am Bedarf nur zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Wohnungen neu gebaut. Als Gründe dafür machen die Autoren neben dem steigenden Zuzug vom Land auch das knappe Personal in den Bauämtern, strenge Bauvorschriften und das knappe Personal in der Branche aus. Das umgekehrte Bild zeige sich in einigen Landstrichen, moniert Henger. "Dort werden die Leerstände nicht genutzt, dort wird verglichen zu den demographischen Voraussetzungen dort und den Leerständen vor Ort zu viel gebaut. Und hier müssen wir umdenken, dass mehr Umbau stattfindet statt Neubau." Wohnraum als ökologische Katastrophe? Umbau statt Neubau – dafür plädiert aus ökologischen Gründen auch Niko Paech, Umweltökonom der Universität Siegen. Er sagte heute Morgen im Deutschlandfunk: "Alles, was in Deutschland das Klima schädigt, erreicht jedes Jahr einen neuen Rekord. Und wenn wir beispielsweise heute eine Nachrichtensendung einschalten, dann ist die erste Meldung oft: Wir haben Wohnraummangel, und es wird dann behauptet, wir müssten noch mehr Wohngebiete erschließen. Dabei weiß jedes Kind, das jeder Quadratmeter Wohnraum, den wir neu erschließen, eine ökologische Katastrophe ist." Strukturwandel im Osten, Verdrängung in den Städten Das Problem ist vielschichtig. So forderten ostdeutsche Immobilienverbände Hilfen beim Strukturwandel - der Abriss von nicht mehr benötigtem Wohnraum müsse gefördert werden. Denn dazu fehlt vielen Gemeinden das Geld. Und schließlich ist da auch noch die soziale Frage in den Städten: Knappheit führt zu steigenden Preisen, also auch zu steigenden Mieten. Das zieht ausländische Investoren an, erklärt Thomas Beyerle, Leiter Research des Immobilieninvestors Catella. Und da gebe es natürlich Verwerfungen. "Aus ausländischer Sicht ist Deutschland ein sehr unterbewerteter Immobilienmarkt, weil er eben sehr stark auch die soziale Komponente die letzten 40, 50 Jahre – Klammer auf, Gott sei's gedankt, Klammer zu - dargestellt hat. Und da bricht natürlich jetzt etwas auf, viele fallen aus der Mietpreisbindung heraus, gerade die Wohnbauprogramme der 70er-, 80er-Jahre, mit allen Vor- und Nachteilen nebenbei. Das heißt, internationale Investoren sehen Deutschland in der Summe als diversifiziertes Land - man hat also weniger Risiko zu erwarten - und gleichzeitig als hohes unterbewertetes Tatbestand. Das bringt dem einzelnen Mieter natürlich wenig, wenn er so eine solche Aussage hört, denn er wird sich in einem Ballungsraum definitiv darauf einstellen müssen, dass die Investoren natürlich schon Wege finden, um letztlich die Mieterträge dann zu erhöhen, im Normalfall." Diese Entwicklung müssten die Städte bremsen, fordern die Autoren des IW in ihrer Studie. Das könne auch geschehen, indem sie den Nahverkehr ausbauten. So werde das Umland besser angebunden.
Von Brigitte Scholtes
Auf Wohnungsnot mit Wohnungsbau zu reagieren, ist oft nicht die beste Lösung, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt. Teils werde zu viel gebaut - mit weitreichenden ökologischen Folgen. Die Autoren plädieren für Umbau statt Neubau - und für einen Ausbau des Nahverkehrs.
"2019-07-22T13:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:02:55.283000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/iw-studie-wohnungsbau-an-falscher-stelle-100.html
92,065
Sieg auf ganzer Linie für die Verlagserbin
Verlagszentrale von Suhrkamp. Seit einiger Zeit herrscht hinter der Fassade ein Machtkampf um die Führung des Verlages. (Paul Zinken/dpa) Es ist vollbracht. Mit Inbrunst dürfte heute im Hause Suhrkamp und auch außerhalb, in den Kulturredaktionen, geseufzt worden sein. Die Umwandlung der GmbH & Co KG in eine Aktiengesellschaft, die im November nach einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts noch einmal fraglich schien, ist vollzogen. Damit ist der Kampf zwischen der von Ulla Unseld-Berkéwicz geführten Mehrheitsgesellschafterin, der Familienstiftung, und dem Minderheitsgesellschafter Hans Barlach entschieden. Beide hatten sich schon bald nach Barlachs überraschendem Einstieg beim renommierten Verlagshaus 2006 zerstritten und beschäftigten Heerscharen von Rechtsanwälten sowie alle Instanzen der deutschen Rechtsprechung. 2013 steuerte Ulla Unseld-Berkéwicz Suhrkamp dann waghalsig in eine kontrollierte Insolvenz, um mit Hilfe des gerade neu eingeführten Schutzschirmverfahrens den Verlag in eine AG umzuwandeln, in der Hans Barlach seine weitreichenden Mitbestimmungsrechte einbüßen würde. Der Plan geht auf, wenn auch mit einer anderthalbjährigen, durch Barlachs juristische Gegenwehr entstandenen Verzögerung. Es ist vollbracht. Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz (Rainer Jensen/dpa) Es ist fast mehr als das. Die heutige Pressemeldung des Verlages, der keine weiteren Kommentare abgeben möchte, jubelt nicht – doch sie annonciert trocken nichts weniger als den Sieg der Familienstiftung auf ganzer Linie. Ulla Unseld-Berkewicz, bisher Verlegerin und Vorstandsvorsitzende, wird, so heißt es, in den Aufsichtsrat wechseln – das muss sie als Anteilseignerin tun. Neben ihr wird Sylvia Ströher als Vertreterin der Familie Ströher sitzen, eigentlich Kunstsammler, die neu und unbefristet Teilhaber von Suhrkamp geworden sind und ihre Stimmrechte vertraglich mit denen von Berkewicz' Familienstiftung bündeln. Der Verbund sichert der Verlagserbin eine auskömmliche Mehrheit gegenüber Barlach, der vermutlich ebenfalls im Aufsichtsrat sitzen wird, in der Pressemitteilung von Suhrkamp jedoch nur als "eine weitere Person" genannt wird. Das klingt nach magischem Denken – wer den Teufel nicht beim Namen nennt, glaubt ihn zu bannen. Keine Überraschung ist das Führungspersonal der neuen AG, das die mit der Familie Ströher verbundene Familienstiftung trotz der noch ausstehenden Wahl schon bekannt geben kann, weil Barlach als Minderheitsaktionär nichts dagegen wird tun können: Der bisherige Geschäftsführer Jonathan Landgrebe wird – Geschäftsführer, was in der AG Vorstand heißt, und ihm zur Seite steht ein Geschäftsleitungsgremium "aus drei bis vier Personen", von denen drei genannt werden: Raimund Fellinger, Tanja Postpischil und Gerhard Schneider, der Cheflektor, die Unternehmenssprecherin und der kaufmännische Verlagsleiter. Nicht alle Vertrauten passen in die neue Struktur Hier fehlt nur ein Name, der des jetzigen Mitgeschäftsführers Thomas Sparr. Er wird, so weiß ein Branchenblatt, Editor at large, ein Begriff, der hierzulande erst kürzlich beim Rücktritt von Rowohlt-Verleger Alexander Fest bekannt wurde. Sparr wird also zuständig für alles und nichts sein, man bindet ihn lose ans Haus, weil nicht alle Vertrauten von Unseld-Berkéwicz in die neue Unternehmensstruktur passen. Aber fast alle. Es sieht so aus, als ob allein Barlach geschwächt aus der über ein Jahrzehnt bis aufs Messer ausgefochtenen Kontroverse hervorgeht. Ulla Unseld-Berkéwicz installiert dort, wo sie bisher die Geschicke des Verlags leitete, ihre Vertrauten. Die Umwandlung in die AG ist irreversibel. Offen ist nur noch, ob Barlach vor dem Bundesverfassungsgericht eine Entschädigung für seine Entmachtung erstreitet. Oder ob er gar seine Suhrkamp-Anteile verkauft.
Von Jörg Plath
Der Suhrkamp Verlag wird eine Aktiengesellschaft. Der neue Verbund sichert Verlagserbin Ulla Unseld-Berkéwicz eine auskömmliche Mehrheit gegenüber dem Gesellschafter Hans Barlach, der geschwächt aus der bis aufs Messer ausgetragenen Kontroverse hervorgeht.
"2015-01-21T17:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:18:02.950000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suhrkamp-sieg-auf-ganzer-linie-fuer-die-verlagserbin-100.html
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TC Freisenbruch macht mit Fußball-Managerspiel mobil
Das Stadion des TC Freisenbruch hat schon bessere Zeiten gesehen (Thorsten Poppe) Unter der Woche hat er das Sagen beim Essener Verein TC Freisenbruch: Trainer Mike Möllensiep will die Tabellenspitze in der Kreisliga B verteidigen. Doch wer dafür am nächsten Spieltag unter den ersten Elf steht, entscheidet nicht er. Sondern die so genannten Teammanager des TC Freisenbruch. Teammanager kann jeder werden. Für fünf Euro im Monat darf jeder die echten Kicker des TC Freisenbruchs aufstellen, die dann Woche für Woche in der Kreisliga spielen. Für dieses Fußball-Managerspiel im realen Leben hat der Verein eine entsprechende Webseite eingerichtet. Auf der schlägt Trainer Mike Möllensiep zwar seine Wunschformation vor, doch daran halten muss sich natürlich keiner: "Bis jetzt ist das auch immer ganz gut gelaufen mit den Teammanagern zusammen. Wir hatten fast immer dieselbe Meinung. Mal haben sich ein, zwei Positionen mal geändert. Aber ich habe natürlich die Möglichkeiten in der zweiten Halbzeit komplett einzugreifen. Das war für mich wichtig, als ich hier angefangen hab. Trainingseinheiten entscheide ich alle selber. Eine Umstellung ist es!" 230 Teammanager bestimmen die Aufstellung Viele geben einen kleinen Geldbetrag, am Ende kommt eine größere Summe zusammen. Das ist die Idee des Crowdfundings, das mittlerweile verstärkt auch im Sport genutzt wird. Doch ein kleiner Geldbetrag für Mitbestimmung im Verein – das sogenannte Crowd-Voting – wagten bisher nur wenige. Seit Start dieses Fußball-Managerspiels im echten Leben hat sich beim TC Freisenbruch einiges getan. Der Verein ist in aller Munde, und hat mittlerweile über 230 Teammanager gewonnen. Ein Fußballfan macht sogar von Vietnam aus mit, weil sich eben jeder unkompliziert auf der Webseite des Vereins registrieren kann und dann die ganze Saison bei Aufstellung, Taktik und selbst beim Bierpreis mitbestimmen darf. Wie zum Beispiel die 22-jährige Sara aus Köln, die von Anfang an mit dabei ist: "Ich habe mich schon immer sehr, sehr für Fußball interessiert, und habe aufgrund meines Bruders auch früher immer Managerspiele mitgespielt. Ich fand das auch immer schon interessant, und fand einfach, dass es total anders ist, das anhand eines echten Klubs steuern zu können. Also wirklich über echte Spieler, über ein echten Verein, die Kontrolle zu haben. Und das hat mich reizt." Managerspiel als Rettungsanker Überall könnte der TC Freisenbruch Geld investieren, den Platz oder die Kabinen modernisieren. Doch das Geld dafür fehlte bisher, genau wie Menschen, die ehrenamtlich mit anpackten. Für den Vorstand Peter Schäfer ist dieses Crowd-Voting deshalb alternativlos. Denn mit der finanziellen Unterstützung der Team-Manager konnte sich der Klub nun sogar schon eine neue Ausrüstung anschaffen. Das Fußballmanager-Spiel im echten Leben ist für den angeschlagenen Verein der Rettungsanker: Das Trainingsgelände des TC Freisenbruch (Thorsten Poppe) "Also der Verein stand im Endeffekt fast schon vor dem Aus. Einige Vereine hier aus der Umgebung sind auch schon aufgelöst worden, oder haben fusioniert. Letztelendes musste man sich dann halt überlegen, dass man wirklich ein verrücktes Konzept braucht, wo glaube ich jedem Fußballfan das Herz aufgeht. Und wo jeder Betrachter aber auch sofort merkt, okay das ist jetzt wirklich was anderes. Das ist jetzt nicht irgendwie eine Phrase, da gehen wir glaube ich schon einen Schritt weiter. Und haben halt wirklich ein ausgefeiltes Konzept, was wir da den Leuten anbieten." Breuer: Kein flächendeckendes Finanzierungsmittel Vorreiter des Crowd-Votings hierzulande war der FC Inter Dragon aus Norddeutschland. Aber die Software für die Mitbestimmung im Internet funktionierte nicht so reibungslos, wie sie sollte. Deshalb hat der Verein mittlerweile verkündet, das System komplett zu überarbeiten. Somit ruht dort zurzeit das Fußball-Managerspiel im echten Leben. Im Profi-Fußball hatte Fortuna Köln einmal ein ähnliches Konzept gestartet. Doch die 50+1-Regelung im bezahlten Fußball erlaubte keine fremde Mitbestimmung. Egal ob von Investoren, oder in dem Fall eben von externen Teammanagern. Am Ende scheiterte das Konzept dort. Prof. Christoph Breuer von der Sporthochschule Köln erforscht schon lange Finanzierungswege im Sport. Er ist von der Idee des TC Freisenbruch und vor allem von der professionellen Umsetzung des Crowd-Votings angetan, sieht darin aber kein flächendeckendes Finanzierungsmittel für den Sport: "Der Ansatz ist gerade deshalb so erfolgreich, weil er so gut durchdacht, aber auch technisch perfekt, und gestalterisch umgesetzt wurde. Dies bedeutet jedoch hohe Anfangsinvestitionen, auch hohe Betriebskosten, weil das ganze ja technisch auf dem neuesten Stand gehalten werden muss. Und auch aktuell immer schnell reagiert werden muss. Nur ein Bruchteil der Vereine kann dies ehrenamtlich organisieren, insofern ist es eben leider kein Modell für den Amateursport insgesamt. " Denn: Nur wer die entsprechende Infrastruktur im Netz dafür leisten kann, sollte sich an ein solches Experiment überhaupt heran wagen. Sonst droht aus den angestrebten, zusätzlichen Einnahmen schnell ein Minusgeschäft zu werden.
Von Thorsten Poppe
Die Sportanlage im schlechten Zustand, kaum noch aktive Mitglieder. So geht es vielen Sportvereinen landauf, landab. Doch manche von Ihnen gehen neue Wege, um dem Sterben auf Raten entgegenzuwirken. Wie der TC Freisenbruch mit einem echten Fußball-Managerspiel in der Kreisklasse.
"2016-12-10T19:55:00+01:00"
"2020-01-29T19:08:07.398000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/crowd-voting-fuer-vereine-tc-freisenbruch-macht-mit-100.html
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Wie Shakespeare auf Socken den Raum durchquert
Blick in einen Graphic Novel, ein gezeichneter Roman. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann) Gilgamesch, Homer, Medea, das Buch Esther, Platon, Konfuzius, Lukrez, Beowulf, Rumi, viel Shakespeare, die "Gefährlichen Liebschaften". Diese Aufzählung ist nicht vollständig, macht aber schon klar, wie verzwickt es ist, heutzutage, im Zeitalter des Weltwissens, einen Kanon der Literatur zusammenzustellen, vor allem dann, wenn es um die Literatur der ganzen Welt geht. In der vorliegenden Sammlung liegt der Schwerpunkt beim Abendland mit einigen Ausflügen nach China und in die 1001 Nacht. Afrika und Ozeanien fehlen in dieser Auswahl ganz, und was Europa betrifft, hier liegt England, genauer die Epoche der Elisabethaner ganz klar in Führung. Vielleicht aber sollte man ein Unternehmen, das den etwas großspurigen Titel "The Graphic Canon" trägt, nicht ganz so streng betrachten. Der Herausgeber dieser dreibändigen Ausgabe ist die Sache selbst nämlich eher locker angegangen. Dem amerikanischen Autor und Verleger Russ Kick, Jahrgang 1969, fiel eines Tages auf, wie viele klassische Texte, vom Epos des Gilgamesch bis zu den Romanen Franz Kafkas, bereits in gezeichneter Form vorliegen. Die Idee für seine Anthologie war geboren. Russ Kick sprach weitere Künstler an, und die steuerten wieder ihre Lieblingstexte, manchmal in eigener Wortfassung, immer mit jeweils typischer zeichnerischer Handschrift bei. Zudem hat Russ Kick sein Unternehmen offen gestaltet. Wer, wie der deutsche Verlag Galiani, die Rechte der Übersetzung erwirbt, darf die Sammlung um Texte aus dem eigenen Sprach- und Kulturkreis ergänzen. So hat die Künstlerin Kat Menschik der deutschen Ausgabe drei Bögen, die das Nibelungenlied illustrieren, beigesteuert. Also, nicht nur Größenwahn, sondern auch Meister Zufall und angelsächsischer Pragmatismus begleiten das Unternehmen. Der Verlag Galiani stapelt mit dem deutschen Titel "Weltliteratur als Graphic Novel" sowieso eher zu tief als zu hoch. Am besten kommt man mit diesem Kanon klar, wenn man ihn als Leistungsschau betrachtet: als ein Streifzug durch die Gegenwartskunst der Graphic Novel. "Zurück in Uruk, säubern sie ihre Körper. Gilgamesch wäscht seine verfilzten Haare und kratzt den Dreck von den Waffen.Plitsch Platsch!Plonk!Tropf!Plosch!Reib Reib!Gluck Wuschi Blubb!" Der Zeichner Kent Dixon zum Beispiel hat seine Wurzeln erkennbar im Comic. Dixons Panels sind ebenmäßig, die Figuren schwarz weiß, Text und Bild illustrieren einander, die Vorlage wird auf ihren Witz hin untersucht. Ein Verfahren, das wiederkehrt bei Künstlern wie Valerie Schrag, die sich das griechische Lustspiel Lysistrata vorgenommen hat, oder bei Julian Peters, der eine Ballade von Francois Villon umsetzt. Weitere Künstler, die ebenfalls in Schwarz-weiß arbeiten, beziehen das Lettering oder die Visualität der Epoche in die Architektur ihrer Seiten mit ein. Als Beispiel sei hier das biblische Buch Esther, genannt, illustriert von J.T. Waldman: "Am Ende dieser Tage gab der König allen, die in der Hauptstadt Susa waren, vom Größten bis zum Geringsten, Sieben Tage lang im Hofgarten des Palastes ein Festmahl. Weisses Leinen, mit Purpur gerahmt, hing an silbernen Ringen von Marmor-Säulen herab. (...) Am siebten Tag war der König voll des Weines. Da befahl er seinen sieben Eunuchen, die ihn persönlich bedienten, Mehumam, Biseta, Harbona, Bigta, Abagta, Setar und Karkas: 'Königin Waschti soll im königlichen Diadem vor mich treten'." Opulenz, Dekadenz, Pracht und Verschwendung, auch die latente Drohung, die sich hinter dem königlichen Befehl verbirgt, all das findet sich im Bild wieder. In überladenen Säulenhallen, zwischen die hebräische Buchstaben, Fresken und Mosaike gesetzt werden, in stürzenden, sich auflösenden Bildfluchten. Hier sind Text und zeichnerische Gestaltung eine Verbindung eingegangen, die neue Betrachtungen eröffnet. Der Band "Graphic Canon" bietet viele Überraschungen, viele solide Einfälle - etwa wenn eine Schachtelerzählung aus 1001 Nacht in immer kleinere Bildkästchen gesetzt wird. Oder die Briefe, die zwischen den unglücklichen Liebenden Abelard und Heloise gewechselt wurden. Für ihre Interpretation wählt die Künstlerin Ellen Lindner florale Ornamente und sie verleiht dem Liebespaar bewusst grobe Gesichtszüge. Damit zitiert sie die Technik des mittelalterlichen Holzschnitts. Lindner arbeitet, im Kontrast zur Dramatik der Briefe, mit warmen Herbstfarben, womit man beim vielfältigen Thema der Koloration angekommen ist. Spätestens hier wird deutlich, wie frei sich die vom Herausgeber Russ Kick angesprochenen Künstler bewegen. Von monochrom bis bunt, vom spärlich betexteten Bildbogen bis zum Gemälde geht hier alles: Die Grenzen zur Buchillustration und zur Bildenden Kunst wurden offen gehalten. Es liegt nahe, dass eine solche Vielfalt auch Mittelmaß produziert. Nicht jeder Beitrag zu diesem Band ist ein absolutes Muss. Aber: Nebenbei, und gerade auch bei den Auftragsarbeiten, sind auch echte Kunstwerke entstanden. So hat der amerikanische Zeichner Gareth Hinds einen Beowulf geschaffen, der ganz ohne Worte auskommt. Man sieht in seinen unsymmetrischen Panels die Klauenhand und den langen Schatten des Monsters Grendel, dann das Entsetzen in den Gesichtern der trinkenden Männer in der Methalle, erst dann die Fratze des Menschenfressers. Diese Auflösung in Bildsequenzen erzielt Dynamik, zugleich bleibt die Bildaussage archaisch. Preisverdächtig ist auch eine Interpretation des berühmten 18. Sonetts von Shakespeare, vorgelegt vom Künstlerduo Robert Berry und Josh Levitas. Shall I compare thee to a summers day? "Soll ich vergleichen einem SommertageDich, der du lieblicher und milder bist?Des Maien teure Knospen drehn im SchlageDes Sturms und allzu kurz ist Sommers Frist." Mit einer Rahmenhandlung, einem Blick in das Ateliers eines Zeichners, mit Bild und Bild im Bild, mit einer versetzten Chronologie und einem langen Blick durch das Atelierfenster hinaus in den Sommertag schaffen die beiden Künstler einen perfekt anmutenden Moment der Stille. Fast meint man zu hören, wie Shakespeare selbst auf Socken den Raum durchquert. Das ist grandios, und wer den Graphic Canon, die Weltliteratur als Graphic Novel gekauft hat, wird sich spätestens auf dieser Seite freuen. Russ Kick (Herausgeber): The Graphic Canon, Weltliteratur als Graphic Novel, Verlag Galiani, Berlin. 504 Seiten, 49,99 Euro.
Von Tanya Lieske
Literatur als Weltwissen, gefasst in einen Kanon: Diese Idee hat seit dem letzten Jahrzehnt wieder Konjunktur und sie ist nun auch bei den Graphic Novels angekommen. Wie vielschichtig und spannend dieses Genre ist, zeigt der jetzt auf Deutsch erschienene erste Band des aus den USA stammenden Werkes "The Graphic Canon".
"2014-06-20T16:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:48:17.472000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gezeichnete-weltliteratur-wie-shakespeare-auf-socken-den-100.html
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Refugien für Pflanzen in der Stadt
Regentonnen sind "Kleinstwassersysteme" - menschengemachte Systeme in denen sich Arten ansiedeln (picture alliance / Ernst Weingartner) Nikola Lenzewski, die als Freilandforscherin in Hamburg unterwegs ist, manchmal mitten in der Stadt, dann fragen sich viele Leute, was die junge Frau denn da so treibt: "Man ist viel am Erzählen und am Erklären." Die Doktorandin und Botanikerin von der Universität Hamburg durchstreift oder durchwatet sogenannte Rückhaltebecken. Sie sind über die ganze Stadt verteilt. Da gibt es welche für Hochwasser:"Die Leute denken meistens: Das sind Parkanlagen, irgendwelche Teiche, die angelegt worden sind, und die fallen eher nicht so auf." Und es gibt Auffangbecken für Regenwasser. Bei Wolkenbrüchen laufen sie schon 'mal voll:"Sind meistens auch als solche mit einem Schild gekennzeichnet. Graslandvegetation in der Landschaft. Dort steht meistens kein Wasser während des Jahres. Beides sind Anlagen der Wasserwirtschaft und dienen dazu, Oberflächenwasser - das sind dann die Regenrückhaltebecken - oder Hochwasser - das sind dann die Hochwasserrückhaltebecken - aufzunehmen, zwischenzuspeichern und nach gegebener Zeit wieder entweder in die Kanalisation oder in das Gewässer abzugeben." Verblüffende Entdeckung Insgesamt 80 dieser Rückhalteräume hat Nikola Lenzewski genauer unter die Lupe genommen. Und dabei Verblüffendes entdeckt: Sie dienen einer enormen Anzahl von Pflanzen als Ersatz-Refugium in der Großstadt. Obwohl die Becken in ihrer Gesamtheit winzig sind und nur 0,3 Promille der Fläche Hamburgs ausmachen, trifft man dort 30 Prozent aller Arten an, die zur Flora der Hansestadt gehören. Die Botanikerin konnte am Ende499 verschiedene Gefäßpflanzen identifizieren, ... "Und davon dann auch 83 Rote-Liste-Arten, also Arten, die für Hamburg als gefährdet geführt sind. Wir haben auch Trockenrasen-Arten gefunden. Wir haben Waldarten gefunden, die als gefährdet gelten. Und das war die Überraschung: Dass das Spektrum so groß und so breit ist, das haben wir nicht erwartet." Orchideen im Rückhaltebecken Unter den bisher unbeachtet gebliebenen Regenbecken-Besiedlern ist auch eine Orchideen-Art. die keinen passenderen Namen tragen könnte: das Übersehene Knabenkraut. Für besonders bemerkenswert hält Nikola Lenzewski auch noch einen anderen Fund: "Die Heidenelke. Eine Trockenrasen-Art, die wir so nicht in diesen Rückhaltebecken erwartet haben. Darüber hinaus eine Rote-Liste-Art, die in Hamburg als ausgestorben gilt. Das ist die Pfirsichblättrige Glockenheide. Wobei wir hier vermuten, dass diese aus Gärten in die Landschaft ausgewandert ist." Die gefährdeten Trockenrasen-Arten kommen in den Regen-Becken vor. Dort entwickeln sich nämlich mit der Zeit Graslandschafen. Seltene Wasserpflanzen dagegen gedeihen in den Stauräumen für Hochwasser, die man nie ganz trockenfallen lässt. Sie ähneln kleinen Teichen oder Seen und sind auch deshalb so schwer als Überlaufflächen erkennbar. Wie Nikola Lenzewski interessiert sich auch Jana Petermann für vernachlässigte Habitate in Städten. Hamburg kennt die Ökologin von der Universität Salzburg durchaus. Die vielen Rückhaltebecken sind ihr aber noch nicht aufgefallen: "Nicht ein einziges! Ich hab' da nie drauf geachtet." Übersehene Ökosysteme Jana Petermann selbst untersucht Lebensräume, die erst recht übersehen werden. Sie spricht von "Kleinstwasser-Systemen": Regentonnen zum Beispiel oder Blumenvasen auf Friedhöfen: "Menschengemachte Systeme, in denen sich aber Arten ansiedeln. Und die bilden kleine Ökosysteme. Insektenlarven. Mückenlarven. Verschiedene Käferlarven, die sich da ansiedeln können und die bisher von der Wissenschaft sehr wenig beachtet werden. Wenn, dann schauen sich die Leute große Flüsse an oder vielleicht große Seen. Aber manche Systeme bleiben völlig unbeachtet." So wie die Regen-Rückhaltebecken in Hamburg! Nikola Lenzewskis Daten zeigen, dass dort Dutzende gefährdete Pflanzenarten vorkommen. Die spannende Frage ist nun: Wie lassen sich Heidenelke und Übersehenes Knabenkraut am besten schützen? "Die Datenauswertung der Studie ist noch nicht abgeschlossen. Wir sammeln noch Daten vor allem zum Management und auch zum Alter der Becken, und auch wie oft diese Becken eingestaut sind. Und wir erhoffen uns dadurch, Rückschlüsse auf gewisse Rote-Liste-Arten ziehen zu können. Also, dass wir sagen können: Bei dem und dem Management ist es günstig für die und die Rote-Liste-Art, und bei dem nicht. Das ist das Ziel, wo wir irgendwann 'mal hinwollen."
Von Volker Mrasek
Unscheinbar, oft übersehen und doch sehr wertvoll: Kleingewässer wie Rückhaltebecken oder Regentonnen bieten in Großstädten vielen Pflanzen und Insekten Lebensraum - darunter auch gefährdeten Arten. Nun haben Forscher diese Refugien in den Blick genommen.
"2018-10-22T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:46.546000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kleingewaesser-refugien-fuer-pflanzen-in-der-stadt-100.html
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Warum Big Data jetzt Smart Data wird
Die Bordsysteme von vernetzten Autos nutzen Smart-Data-Algorithmen, um dem Fahrer Assistenzfunktionen in einem sehr komplexen Umfeld anbieten zu können. (picture alliance / dpa / Soeren Stache) Manfred Kloiber: Rund 1.000 Computerwissenschaftler trafen sich diese Woche in der Stuttgarter Universität zur Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik. Und diese GI-Jahrestagung hat sich schwerpunktmäßig mit Big-Data-Anwendungen, ihren Chancen und Risiken beschäftigt. Das Thema lag nicht einfach so in der Luft, sondern es war gesetzt: Denn auf der GI-Jahrestagung 2013, vor einem Jahr also, die unter dem starken Eindruck der NSA-Spähaffäre stand, haben die Informatiker sich selbst klare Vorgaben gemacht: Wir müssen uns mit dem Schutz der Metadaten, wie die NSA sie weltweit erhebt, und dem Missbrauch viel stärker auseinandersetzen. Und das setzt ein Konzept mit dem Umgang von Big Data voraus. Ist dieses Konzept auf der Jahrestagung in Stuttgart präsentiert worden, Peter Welchering? Peter Welchering: Es ist in Angriff genommen worden, und die Informatiker sind mit der Bestandsaufnahme recht weit gekommen. Sehr klar ist formuliert worden, dass Big-Data-Analysen den Gesetzen des Dual Use unterliegen, also: 89 Megatonnen Lebensmittel einsparen, aber auch Verhalten von Menschen prognostizieren. Welche Big-Data-Analysen diese Gesellschaft will und welche nicht, darüber haben wir keinen Konsens. Das liegt auch daran, dass die Politik zurzeit an einem solchen Konsens nicht interessiert ist. Die Politik will sich und natürlich auch den Sicherheitsbehörden alle Möglichkeiten offenhalten, die Big Data bietet. Das geht nicht, sagen die Informatiker. Und sie fordern zweierlei: Erstens diesen gesellschaftlichen Konsens, zweitens, dass die Politik dem sich gerade massiv verändernden Paradigma von Big Data in der industriellen Anwendung Rechnung trägt. Trend: Big Data war gestern – Smart Data heißen die neuen Analyseverfahren. Kloiber: Dieser Paradigmenwechsel hin zu Smart Data hat die GI-Jahrestagung erheblich geprägt. Und der Smart-Data-Trend erfordert neue Analyseverfahren, aber vor allen Dingen auch eine sorgfältige Abwägung der Frage: Welche Daten brauchen wir für welche Analysen wirklich. Big-Data-Verfahren wurden nach dem Prinzip realisiert: Sammeln wir zunächst einmal die Daten, und dann schauen wir, welche Erkenntnisse wir mit welchen Analysen dabei heraus bekommen. Smart Data hat einen anderen Ansatz. Es geht darum, die analyserelevanten Daten am Ort ihrer Entstehung zu identifizieren. Und das wird schon heute industriell umgesetzt. Beginn Beitrag: Beim schwäbischen Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen hat man mit solchen Smart-Data-Anwendungen bei Werkzeugmaschinen schon gute Erfahrungen gemacht. Klaus Bauer leitet die Grundlagenforschung bei Trumpf und erläutert Smart Data für Werkzeugmaschinen so. "Alles, was prozessrelevant ist, muss auf der Maschine stattfinden, einfach aus Echtzeit-Ansprüchen, auch aus den Bedürfnissen des Kunden. Er hat gar nicht das Interesse, alles in die Cloud zu verlagern, das heißt, er brauchte die Kontrolle darüber, was hochgeht. Ud wenn wir jetzt alles raus sammeln würden, ist die Infrastruktur einfach nicht so weit. So eine Anlage kann am Tag dann schon einmal ein Terabyte Daten erzeugen. Das kriegt man über normale Netze bezahlt nicht hoch, das heißt, die Vorverarbeitung, die Selektion und die geeigneten Daten aufbereitet übertragen, das wird der Erfolgsfaktor der nächsten Jahre sein." Auch bei Bosch in Stuttgart arbeiten die Entwickler an Smart-Data-Konzepten für die Fabrik der Zukunft. Der Informatiker Peter Moll von Bosch stellte auf der GI-Jahrestagung gleich mehrere Anwendungsszenarien für Smart Data vor – von Einspritzsystemen über Waschmaschinen bis hin zum autonom fahrenden Pkw. "Wir sehen insbesondere im prädiktiven Umfeld den Einsatz in der Industrie 4.0. Wir haben heute im Fertigungsbereich Systeme im Einsatz, wo wir aus Qualitätsinformationen bereits in der Lage sind, Voraussagen für die Verfügbarkeit und Qualität unserer Erzeugnisse zu treffen. Dazu brauchen wir spezielle Algorithmen, und dafür brauchen wir spezielle Mitarbeiter, die sich sowohl auf dem Anwendungsumfeld, auf dem Produktionsumfeld, wie auch in der IT sehr gut auskennen." Beim vernetzten Auto werden schon heute Big-Data-Analysen angewandt, um beispielsweise Staus vorherzusagen. Doch das ist erst der Anfang. Die Bordsysteme des Autos nutzen Smart-Data-Algorithmen, um dem Fahrer Assistenzfunktionen in einem sehr komplexen Umfeld anbieten zu können. Allein die Empfehlung, langsamer zu fahren, weil sich einige Kilometer entfernt gerade eine Nebelwand aufbaut, setzt ein sehr datenintensives Verfahren voraus. Doch bei Prognosen und Ratschlägen wird es nicht bleiben: "Das mündet im autonomen Fahren. Wir sehen auf einem Zeitfenster von etwa zehn Jahren, dass unsere Fahrzeuge autonom zumindest über die Autobahn fahren werden. Viele Funktionen davon werden über den Backend gesteuert, und das bedeutet, dass wir auch hier deutlich höhere Verfügbarkeit unserer Systeme benötigen als wir das heute an Bord im Fahrzeug bereits implementieren können." Auch die Medizin profitiert von Smart Data Außentemperatur und Feuchtigkeit, Fahrbahnbeschaffenheit, vorausfahrende und folgende Fahrzeuge, Radardatenauswertung und Videoberechnung, Navigationsdatenanalyse und die ganzen Betriebsdaten des Fahrzeugs müssen von den unterschiedlichen Bordsystemen genau analysiert werden. Doch nur die Analyseergebnisse tauschen die einzelnen Bordsysteme untereinander und mit anderen Fahrzeugen oder einer Verkehrsleitstelle aus. Jedes Steuerungssystem im Auto muss also aus den Big-Data-Mengen die smarten Daten herausanalysieren, damit das Auto ohne Eingreifen des Fahrers sicher über die Autobahn rollen kann. Auch in der Medizin will man von solchen smarten Daten profitieren, um beispielsweise für mehr Patientensicherheit im Operationssaal zu sorgen. Martin Kasparick von der Universität Rostock erforscht, wie smarte Daten hier helfen können. "Dann werden wir in der Lage sein, Assistenzsysteme zu entwickeln, die alle Daten berücksichtigen, und die dann natürlich auch Prädiktion betreiben kann im Sinne, dass wir dann viel früher in der Lage sind, Gefahrensituationen für die Patienten zu erkennen als es der Operateur oder Anästhesist einfach nur mit Blick auf seine Parameter alleine könnte."
Von Peter Welchering
Die Fachleute auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik beobachten eine Trendwende: weg von Big-Data-Analysen und hin zu Smart Data. Letzteres erhebt von Anfang an nur jene Daten, die für einen bestimmten Zweck auch tatsächlich benötigt werden. Von der Industrie und der Medizin wird dieser Ansatz bereits vielversprechend genutzt.
"2014-09-27T16:30:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:47.154000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/analyseverfahren-warum-big-data-jetzt-smart-data-wird-100.html
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Trotz ethischer Bedenken: Arzt will weiter menschliche Gene verändern
Die Erzeugung genetisch veränderter Menschen scheint weniger eine Frage der Ethik, als eine Frage der Zeit. (imago images / focalpoint)
Lange, Michael
Im Herbst 2018 präsentierte der Forscher He Jiankui die ersten genmanipulierten Babys: die Zwillinge Lulu und Nana. Die Fachwelt distanzierte sich, und der Wissenschaftler wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Doch jetzt plant er sein Comeback.
"2023-02-21T16:41:21+01:00"
"2023-02-21T17:20:17.907000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tolle-idee-genetisch-optimierte-babies-sind-immun-gegen-hiv-dlf-79c09b7b-100.html
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Die Grenzen der Religionsfreiheit
Immer wieder geraten religiöse Gruppierungen in Konflikt mit Recht und Gesetz - gerade wenn es um die Erziehung von Kindern geht. Sieben Jahre lange durften Anhänger der Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme ihre Kinder zu Hause unterrichten, von 2006 bis 2013 - genehmigt vom bayerischen Kultusministerium. Die Gemeinschaft, entstanden in den 1970er-Jahren in den USA, hat in Deutschland rund 100 Mitglieder. Die meisten von ihnen leben auf dem Gutshof Klosterzimmern, 70 Kilometer nordwestlich von Augsburg. Die dortige Privatschule musste im vergangenen Sommer den Unterricht einstellen - sie konnte keine qualifizierten Lehrer nachweisen. "Wir haben immer für unsere Kinder bestmöglich gesorgt. Die hatten immer eine sehr gute schulische Ausbildung. Wir möchten natürlich, dass unsere Schule weitergeht." Stefan Pfeiffer ist einer der Sprecher der Zwölf Stämme. Die Glaubensgemeinschaft legt die Bibel wörtlich aus und lehnt es ab, dass ihre Kinder öffentliche Schulen besuchen - unter anderem wegen des Sexualkunde-Unterrichts und der Evolutionslehre. Seit Monaten allerdings sind die meisten Kinder der Mitglieder in Heimen und Pflegefamilien untergebracht. Die Behörden hatten den Eltern das Sorgerecht entzogen: Sie sollen ihre Kinder regelmäßig geschlagen haben. "Es war jahrhundertelang so, dass Kinder mal eins hinten drauf gekriegt haben, das hat niemandem geschadet. Wenn man die Kinder zu einem gewissen Alter gebracht hat, wo sie dann das Herz den Eltern zugewandt haben - vollständig - dann brauchen die auch keine mehr hinten drauf." Die Kinder sind ihrem Schicksal überlassen worden Inzwischen sehen sich Politik und Behörden dem Vorwurf ausgesetzt, zu lange weggeschaut zu haben. Denn in diesem Fall kollidiert das Grundrecht auf Glaubensfreiheit auch mit dem staatlichen Erziehungsauftrag. Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der bayerischen Grünen, fordert eine Debatte im Landtag: "Das größte Übel war, dass sich das Kultusministerium auf die Genehmigung einer Ersatzschule eingelassen hat. Weil damit hat man der Sekte gesagt: Ihr könnt machen, was ihr wollt, eure Kinder unterliegen doch nicht der staatlichen Schulpflicht. Damit sind die Kinder ihrem Schicksal überlassen worden. Und wir haben den Eindruck, dass hier fahrlässig gehandelt wurde, auch durch die staatlichen Behörden." Kommende Woche diskutiert der Sozialausschuss im Bayerischen Landtag die Causa. Es soll dabei auch um die Frage gehen, inwieweit andere Glaubensgemeinschaften die Schulpflicht umgehen, sagt der Vorsitzende des Sozialausschusses, Joachim Unterländer von der CSU: "Wenn die Öffentlichkeit sich mit den Themen auseinandersetzt, dann muss natürlich überprüft werden, wie vorgegangen wird und wo es vielleicht strukturelle Probleme auch gibt im Umgang bei solchen Situationen." Denn die Zwölf Stämme sind kein Einzelfall: Immer wieder geraten in Deutschland die Interessen von Glaubensgemeinschaften in Widerstreit mit geltendem Recht. Vor zwei Monaten urteilte das Oberverwaltungsgericht Bremen über die Frage, ob Schüler aus Glaubensgründen von Klassenfahrten befreit werden können. Dies müsse die Ausnahme bleiben, entschieden die Richter. Im konkreten Fall wollten Mitglieder der Freien Christengemeinde Bremerhaven ihre Kinder von einer Klassenfahrt befreien, weil sie währenddessen gemeinsame familiäre Gebete und Bibellesungen verpassen würden. Allerdings konnte das Gericht nicht erkennen, dass durch die Klassenfahrt religiöse Verhaltensgebote besonders gravierend beeinträchtigt würden. Eltern sind Erstinterpreten des Kindeswohls Grundsätzlich sind der staatliche Erziehungsauftrag einerseits und die Glaubensfreiheit andererseits gleichrangig, beide seien im Grundgesetz verankert, sagt der Rechtswissenschaftler Professor Fabian Wittreck von der Universität Münster: "Im Normalfall sind die Eltern der Erstinterpret des Kindeswohls. Das heißt, sie haben durchaus den Auftrag, ihre Kinder zu formen. Und der Staat kann im Normalfall erst eingreifen, wenn diese Interpretation des Kindeswohls erkennbar fehlsam ist." Staatliche Schulen müssten sich weltanschaulich neutral und tolerant verhalten, betonten die Bremer Richter in ihrem Urteil. Gleichzeitig sei es Aufgabe der Schulen, einen Grundstein zu legen für die selbstbestimmte Teilhabe der Schüler am gesellschaftlichen Leben. Dieser Auftrag würde ins Leere laufen, müsste die Unterrichtsgestaltung von sämtlichen Glaubensstandpunkten aus akzeptabel erscheinen. Das Urteil ist keine Ausnahme, erläutert Jurist Wittreck: "Es scheint mir so zu sein, dass man es einordnen muss in eine Tendenz, gegenüber religiösen Ausnahmen in der öffentlichen Schule restriktiver zu sein. Im Grunde lautet die Botschaft: In der Schule wollen wir weniger Ausnahmen für Religion machen. Im Interesse einer gemeinsamen Erziehung aller Schüler, die auch mit religiöser Pluralität konfrontiert werden sollen. Es weht ein anderer Wind aus der Rechtsprechung." Sonderbehandlungen abgelehnt Und es gibt weitere Beispiele: Zwei Kinder, die den Baptisten angehören, sollten nicht an einem schulischen Präventionsprojekt zum Thema "sexueller Missbrauch" teilnehmen. Und ein Junge, dessen Eltern Zeugen Jehovas waren, sollte nicht dabei sein, als sich seine Klasse den Film "Krabat" nach einem Buch von Otfried Preußler ansah. Denn hierin gehe es um Schwarze Magie. In beiden Fällen lehnten die oberen Instanzgerichte eine Sonderbehandlung ab. Ähnlich gelagert ist der Fall muslimischer Schülerinnen, die nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts seit einigen Monaten nicht mehr vom Schwimmunterricht befreit werden dürfen. Stattdessen können sie einen Burkini tragen, einen Ganzkörper-Schwimmanzug. Kerstin Griese, Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion, befürwortet die Entscheidungen: "Wir haben ja auch mehrere Urteile, unter anderem des Bundesverwaltungsgerichtes, die ausdrücklich sagen, dass Kinder ja auch in der Pluralität lernen müssen. Dass sie soziale Kontakte, soziales Lernen erleben können müssen. Genauso wie ich finde, dass Kinder die Fakten von Sexualität lernen können müssen. Dass sie schwimmen lernen können müssen. Dass sie nicht den Kreationismus, sondern die Lehre von Darwin auch in der Schule lernen können müssen. Natürlich spricht nichts dagegen, dass der Staat Fingerspitzengefühl zeigt. Aber das Grundrecht auf Bildung muss er verwirklichen für alle Kinder." "Wollen wir die Religionsfreiheit zuschneiden?" Ein Problem sieht die Bundestagsabgeordnete im wachsenden Fundamentalismus mancher Glaubensgemeinschaften. Damit müsse sich die Gesellschaft auseinandersetzen, so Griese: "Weil wir natürlich stärker lernen müssen in einer multireligiösen und dann auch in einer säkularer werdenden Gesellschaft damit umzugehen, wie bestimmte – seien es religiöse fundamentalistische – Positionen oder andere integriert werden können. Aber man muss aufpassen, dass da nicht ein Fundamentalismus gedeiht, der ein Fundamentalismus auf dem Rücken anderer Menschen ist. Und insofern glaube ich, dass wir mit dieser Rechtsprechung auf einer guten Linie sind." Rechtswissenschaftler Fabian Wittreck sieht in den jüngeren gerichtlichen Entscheidungen eine Folge der Säkularisierung. Noch mehr aber stecke dahinter die unausgesprochene Frage: Wie gehen wir mit dem stärker werdenden Islam um? Deshalb gehörten diese Themen in die öffentliche Debatte: "Die gesellschaftliche Frage - wollen wir Religionsfreiheit neu zuschneiden- die würde ich gern im Parlament diskutiert sehen und nicht von Gerichten anhand von Einzelfällen entschieden. Sehr viele dieser Forderungen, die jetzt sagen: Lasst uns Religion enger fassen, sagen unausgesprochen eigentlich: Lasst uns Religion enger fassen, damit wir die Zumutungen, die von islamischer Religionsausübung ausgehen, besser einfangen können."
Von Burkhard Schäfers
Ja zur Prügelstrafe, Nein zu Sexualkunde-Unterricht und Evolutionslehre: Die Mitglieder einiger fundamentalistischer Glaubensgemeinschaften fordern mit der Erziehung ihrer Kinder die Gesellschaft heraus.
"2014-01-15T01:30:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:44.589000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fundamentalismus-die-grenzen-der-religionsfreiheit-100.html
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"Verschärfte Verteilungskämpfe"
Tobias Armbrüster: Knapp zwei Wochen ist es her, das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Berechnung der Hartz-IV-Sätze müsse transparenter sein, haben die Richter gefordert - nicht besonders überraschend. Aber wer gedacht hat, die Aufregung über das Urteil wäre nach ein, zwei Tagen verflogen, der hat sich getäuscht. Kein Tag vergeht ohne eine neue Wende im Hartz-IV-Streit. In den letzten Tagen hat vor allem eine OECD-Studie für Aufsehen gesorgt. Derzufolge haben viele Arbeitslose in Deutschland keinen Anreiz zur Arbeitssuche. Von Leistungsverweigerern spricht deshalb FDP-Vize Pinkwart. Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit dem Sozialethiker Bernhard Emunds. Er ist Leiter des Nell-Breuning-Instituts, schönen guten Morgen, Herr Emunds!Bernhard Emunds: Guten Morgen nach Köln!Armbrüster: Überrascht Sie dieser Ton in der Hartz-IV-Debatte?Emunds: Nicht wirklich. Die verschärfte Tonlage spiegelt ja verschärfte Verteilungskonflikte wider. Diese Verschärfung der Verteilungskonflikte geht zurück auf die Finanzkrise, die eben dem Staat Milliarden kostet, und entsprechend haben wir steigende Belastungen, und das führt jetzt zur aktuellen Debatte.Armbrüster: Das heißt, so ein Streit ist eigentlich unvermeidbar, wir müssen ihn führen?Emunds: Wir müssen einen solchen Streit führen, wobei natürlich hochnotpeinlich ist, dass ausgerechnet die Partei, die FDP, die im Grunde die Koalition im Moment in ein Desaster führt, weil sie die Verteilungskonflikte noch weiter verschärft durch die Ankündigung großer Steuerentlastungen, dass genau diese Partei jetzt zu diesem Ventil greift und auf die Schwächsten einschlägt.Armbrüster: Sie reden jetzt von Verteilungskämpfen, was wird denn da zwischen wem verteilt?Emunds: Na ja, Sie müssen sich vorstellen, dass wir steigende Lasten haben aufgrund des Einspringens des Staates bei den Finanzinstituten aufgrund der Konjunkturmaßnahmen, die der Staat ergreifen musste, und jetzt geht es darum, wie das verteilt wird. Wir haben ja eine Debatte in den deutschen Gazetten, angestoßen von Sloterdijk, wo es auch darum geht, dass im Grunde die Reicheren sich entziehen wollen der Verpflichtung, Steuern zu bezahlen, und lieber sozusagen auf Almosen setzen wollen. Wir haben Probleme sozusagen, wirklich die Reichen dazu zu bekommen, dass sie ihre Steuern zahlen – denken Sie an die Steuerhinterziehung, die ja große Kreise schlägt. Das ist sozusagen auf der einen Seite das, was zu zahlen ist, und auf der anderen Seite haben wir Problemlagen, die teils viel älter sind als die Finanzkrise, Problemlagen einer modernen Gesellschaft, die eben zusätzliche staatliche Ausgaben erfordern.Armbrüster: Verstehe ich Sie da jetzt richtig, dass wir eigentlich oder dass die Debatte eigentlich die Falschen ins Visier nimmt, statt über Hartz-IV-Empfänger sollten wir lieber über die Reichen und die Steuerflüchtlinge reden?Emunds: Ja, das sollten wir auch tun. Wir sollten auf der anderen Seite natürlich das kleine, kleine Körnchen Wahrheit, das klitzekleine Körnchen Wahrheit in den Angriffen von Westerwelle und Co. aufgreifen, denn es gibt tatsächlich ein großes Problem im unteren Einkommensbereich, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Hartz-IV-Sätze zu großzügig wären – da hat die OECD-Studie, die Sie ja auch eben erwähnt haben, genau das Gegenteil gesagt, dass Deutschland im europäischen Vergleich sehr niedrig liegt sozusagen in der Versorgung von Arbeitslosen –, sondern es geht um den Bereich niedriger Arbeitseinkommen im Verhältnis eben zum Sozialeinkommen. Und da hat sich in Deutschland eine Menge fehlentwickelt – eine Menge fehlentwickelt nicht, weil wir großzügige Hartz-IV-Sätze hätten, sondern weil die prekäre Beschäftigung zugenommen hat.Armbrüster: Heißt das, wir brauchen höhere Mindestlöhne?Emunds: Erstens brauchen wir überhaupt erst mal ein vernünftiges Mindestlohn-Instrument und nicht nur so kleine Einzellösungen, die es für einzelne Branchen gibt – da ist natürlich die FDP der große Bremser schlechthin –, wir brauchen aber neben dem Mindestlohn natürlich eine wirklich sichere Grundsicherung im Bereich von Hartz IV, da hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil, denke ich, den Weg gewiesen. Und wir brauchen drittens aber – und damit kommen wir zu dem Punkt, auf den ich eigentlich hinaus will –, wir brauchen entweder eine Entlastung von Familien mit niedrigem Arbeitseinkommen, oder wir müssen eben eine zusätzliche Förderung für diese Familien einführen, so etwas wie ein extra Kindergeld im unteren Einkommensbereich. Denn wenn wir das nicht haben, dann haben wir nicht ein Problem der Anreize, wie der Herr Westerwelle das formuliert oder auch viele Ökonomen das formulieren. Es ist ja so, dass die meisten Arbeitslosen nichts dringender wollen als einen Job in dieser Zeit, das muss man ja einfach mal festhalten. Wir haben nicht ein Problem der Anreize, sondern wir haben ein Problem, dass allein aufgrund des Arbeitseinkommens viele Familien unterhalb des Arbeitslosengelds II und Sozialgelds landen, unterhalb von Hartz IV landen. Sie können das aufstocken lassen, aber es gibt eine verschämte Armut in Deutschland, gerade im Bereich der Familien, weil viele das nicht tun. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Problem. Das heißt, wir müssten ein neues Förderinstrument finden gerade für Familien, die erwerbstätig sind und im niederen Einkommensbereich sind.Armbrüster: Nun, was sollen wir denn machen mit den Leuten, die es sich mit den bestehenden Hartz-IV-Sätzen bequem eingerichtet haben?Emunds: Ja, ich glaube, man muss auch jetzt fünf Jahre nach Einführung von Hartz IV sozusagen ein sehr differenziertes Urteil finden. Ich halte überhaupt nichts von Sanktionen und der angedrohten Verschärfung sozusagen jetzt von Sanktionen, wie wir das im Moment diskutieren. Sie müssen sich vorstellen, das ist ja auch sozusagen Gegenstand des Bundesverfassungsgerichtsurteils, dass es ein Grundrecht darauf gibt, eben den soziokulturellen Mindestbedarf in der Gesellschaft zu decken. Da können wir nicht raus, das ist auch sinnvoll, weil wir in einer Arbeitsgesellschaft leben, das heißt, die Erwerbsarbeit ist ganz zentral für die persönliche Entfaltung des Einzelnen, für die Integration in die Gesellschaft. Und wir haben einfach nicht so viele Arbeitsplätze, wie wir bräuchten. Das heißt, wenn wir schon diese Arbeitsplätze nicht bereitstellen, die die normale Form der Integration in unsere Gesellschaft wären, dann müssen wir wenigstens denjenigen, die solche Arbeitsplätze nicht bekommen, die müssen wir eben vernünftig absichern. Also das heißt, der Bereich des Forderns im Sinne der Sanktionen war aus meiner Sicht eine Fehlentwicklung in Hartz IV. Der Bereich des Förderns, der mag sozusagen in der Verwirklichung noch sehr schwach sein, aber die Grundidee, dass man sozusagen stärker auf persönliche Förderungsprozesse setzt und den Sozialarbeiter sozusagen nicht den Fall verwalten lässt, sondern in einen Beratungsprozess mit den Menschen eintreten lässt, das scheint mir richtig zu sein. Das funktioniert allerdings eben gerade nur, wenn man die Sanktionen da rausnimmt, weil sonst ist sozusagen dieses Beratungsverhältnis gar nicht so vertraulich zu erreichen, wie es notwendig ist.Armbrüster: FDP-Chef Guido Westerwelle hat jetzt immer wieder gesagt, dass er hier Wahrheiten ausspricht, die sich sonst niemand mehr auszusprechen wagt. Zeigt uns diese aktuelle Debatte auch, dass wir in Deutschland freier geworden sind und Denkverbote abbauen?Emunds: Was heißt hier Denkverbote abbauen? Also der Herr Westerwelle schlägt in diese Richtung seit eh und je aus und seine Parteikollegen auch. Es ist eigentlich eher erstaunlich, dass sozusagen selbst der Außenminister, der ja im Grunde in Deutschland eine Position hat, die fast vergleichbar ist mit dem Bundespräsidenten, wagt, sich derartig polarisierend in der Öffentlichkeit zu äußern.Armbrüster: Bernhard Emunds war das, Sozialethiker und Leiter des Nell-Breuning-Instituts, live hier bei uns in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch, Herr Emunds!Emunds: Gerne!
Bernhard Emunds im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die verschärfte Tonlage in der Hartz-IV-Debatte spiegelt für den Sozialethiker Bernhard Emunds die Verteilungskämpfe in der Krise wider. Er fordert einen flächendeckenden Mindestlohn und eine zusätzliche Förderung von Familien mit geringem Einkommen.
"2010-02-20T08:10:00+01:00"
"2020-02-03T18:08:47.102000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verschaerfte-verteilungskaempfe-100.html
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"Einigung auf Kosten des Bundes"
Unions-Fraktionsvize Ralph Brinkhaus zum neuen Länderfinanzausgleich: "Länder und Regionen dürfen nicht dauerhaft am Tropf der Hilfen hängenbleiben." (dpa / Maurizio Gambarini) Die Länder bekämen alle mehr, der Bund wesentlich weniger, sagte der CDU-Politiker Brinkhaus im Interview mit dem Deutschlandfunk. Dabei unterstütze der Bund auch an anderen Stellen die Länder und Kommunen und finanziere Länderaufgaben. Den Wunsch nach 9,7 Milliarden vom Bund bezeichnete Brinkhaus als "happig". Auf diese Weise würden die finanziellen Spielräume des Bundes weiter eingeschränkt. Dabei gebe es auch Bundesländer, die Überschüsse schreiben: "Es wäre hanebüchen, wenn Bundesländer anfangen, Schulden zu tilgen, während der Bund auf Kante genäht ist." Das Interview in voller Länge: Jürgen Zurheide:!! Der Länderfinanzausgleich ist eine Materie für sich, da haben sich ganze Generationen von Wissenschaftlern dran abgearbeitet. Wie ich gesagt habe, er ist inhaltlich kompliziert, aber eben auch politisch kompliziert, weil er viele Menschen braucht, die sich verständigen, nämlich die Länder, 16 an der Zahl, und dann noch der Bund, und das alles muss zusammenpassen. Jetzt haben sich die Länder geeinigt, von vielen hört man, man ist zufrieden, der eine oder andere hat immer noch Wünsche, zum Beispiel Bodo Ramelow, der Ministerpräsident von Thüringen. Hören wir den erst mal im Interview der Woche im Deutschlandfunk in einem Auszug. Bodo Ramelow: Tatsächlich ist es so, dass wir als ostdeutsche Länder den Soli verlieren. Das sind 16 Milliarden, die aus dem System rausgenommen werden. Das heißt, richtig verlieren werden die ostdeutschen Länder. Thüringen wird nicht mehr kriegen. Thüringen wird auf dem untersten Punkt von 2019 eingefroren werden. Das wird für uns eine richtig schwere Aufgabe werden, das alles zu lösen. Bis ich das meiner kommunalen Familie erklärt habe, wird viel Bitternis damit verbunden sein, viele Tränen damit verbunden sein. Trotzdem habe ich es akzeptiert, diese Herangehensweise, weil wir einfach zwischen den 16 Ländern auskömmliche neue Finanzbeziehungen brauchen. Zurheide: Auskömmliche neue Finanzbeziehungen – jetzt kommt der Bund ins Spiel, und da hört man wechselnde Signale. Jetzt wollen wir mit jemandem von der Bundesebene reden, dem Vizefraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Ralf Brinkhaus, den ich zunächst mal am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Brinkhaus! Brinkhaus: Guten Morgen! Zurheide: Herr Brinkhaus, also, fangen wir vielleicht mal mit dem Ersten an, was eindeutig ist. Dieser Umsatzsteuervorwegausgleich ist abgeschafft. Ich weiß, das ist ein sehr technischer Begriff, es geht auch um fast zehn Milliarden, die immer so vorweg, ich will nicht sagen, heimlich, aber fast heimlich verteilt wurden. Ist das erst mal mehr Transparenz, und sind Sie damit einverstanden? Brinkhaus: Zunächst ist erst mal zu bemerken, dass die Einigung der Länder auf Kosten des Bundes erfolgt ist, das heißt, die Länder bekommen alle mehr, der Bund wesentlich weniger. Dass da jetzt eine Stufe wie der Umsatzsteuervorabausgleich wegfällt, ist gut, aber trotzdem ist das System noch lange nicht transparent. Zurheide: Wir kommen gleich noch auf die Bund-Länderbeziehung. Zunächst aber will ich dabei bleiben, dieser Umsatzsteuervorwegausgleich hat ja zu sehr kuriosen Ergebnissen geführt, dass manche Länder zwischen vorher und nachher so extrem unterschiedliche Bewertungen hatten, dass es einfach ungerecht war. Da sind wir einig, richtig? Brinkhaus: Na ja, jetzt muss man aber eines auch wissen: Wir haben insgesamt Steuereinnahmen, je nachdem, wie das Jahr läuft, von 650 bis 700 Milliarden im Finanzplanungszeitraum pro Jahr, und dieser Umsatzsteuervorwegausgleich, da geht es um wenige Milliarden. Es wird immer so getan, als wenn die gesamte Finanzsumme da umgeworfen wird. Das ist bei Weitem nicht der Fall. Zurheide: Aber es waren immerhin auch zehn Milliarden, fast das gleiche Volumen, manchmal sogar mehr als der "normale", in Anführungsstrichen, Länderfinanzausgleich. Dass das erst mal transparenter wird, da, sagen Sie, können Sie mitgehen? Brinkhaus: Da kann ich natürlich mitgehen, wenn es transparenter wird. Natürlich ist es aber auch so, dass das System immer noch komplett intransparent ist, auch wenn der Umsatzsteuervorabausgleich wegfällt. Brinkhaus: Bund nimmt Ländern viele finanzielle Lasten ab Zurheide: Jetzt ist der andere Punkt, und das ist nicht anders zu erwarten, dass Sie von der Bundesebene sagen, das hören wir ja heute Morgen an vielen Stellen, das ist eine Einigung zulasten Dritter. Der Bund soll 9,7 Milliarden nach heutiger Planung mehr zahlen. Jetzt hatte Schäuble, soweit man das hört aus den Verhandlungen, 8,5 Milliarden schon angeboten. Diese Differenz ist, so sagen es die Länder, ausschließlich darauf zurückzuführen, dass es eben hochgerechnet ist auf das Jahr 2020. Stimmt das erst mal, oder ist das falsch? Brinkhaus: Herr Schäuble hatte mal eine Zahl in den Raum hineingeworfen. Das ist die Zahl des Bundesfinanzministeriums übrigens, nicht die Zahl des Bundestages, der Haushaltspolitiker. Und diese Zahl war schon auf 2019 – das heißt also, jetzt zu sagen, wir rechnen diese Zahl noch mal hoch, das ist dann irgendwo auch doppelt gemoppelt. Zurheide: Auf der anderen Seite, jetzt sage ich, ob 8,5 oder 9,7, dass es daran noch scheitern wird, würden Sie sagen, das ist im Bereich des Wahrscheinlichen? Oder ist das der Rest Verhandlungsmasse? Brinkhaus: Man muss auch mal sehen, dass der Bund natürlich auch an anderen Stellen die Länder und insbesondere die Kommunen unterstützt hat. Der Bund hat für den Zeitraum 2010 bis 2018 ein Paket für die Kommunen, und die sind ja Bestandteil der Länder, von über 120 Milliarden Euro geschnürt. Der Bund ist reingegangen in die Grundsicherung im Alter, macht viel im Bereich Bildung, im Bereich Familie, im Bereich Kinderbetreuung. Wir haben jetzt, obwohl es nicht unsere Aufgabe war, ein kommunales Investitionsprogramm aufgelegt. Der Bund wird den Großteil der Kosten von Migration tragen, und das heißt also, der Bund geht an vielen Stellen in die Länderaufgaben rein, finanziert Länderaufgaben. Und jetzt zusätzlich kommt noch mal der Wunsch, beim Länderfinanzausgleich 9,6 Milliarden zu kriegen, und das ist schon happig. Wir müssen als Bund aufpassen, dass uns überhaupt noch finanzielle Gestaltungsspielräume bleiben. Zurheide: Jetzt muss ich hier in diesem Gespräch natürlich die Länderhaltung vertreten und sage, die Länder argumentieren natürlich genau andersherum. Sie sagen, wir haben permanent mehr Aufgaben, und wir müssen das alles bezahlen, und der Bund hat die Finanzhoheit, was ja nicht ganz falsch ist, der Bund ist bei einer schwarzen Null, die Länder haben weitgehend auch gespart und kommen kaum auf den grünen Zweig. Ist da vielleicht grundsätzlich irgendwas falsch im Sinne von wer die Aufgaben hat, hat nicht unbedingt das Geld? Ist das nicht eigentlich das Grundproblem unserer Finanzverfassung? Brinkhaus: Das Grundproblem ist, dass viele Länder auch nicht ihre finanzielle Verantwortung übernehmen, sondern wenn es ein Problem gibt, immer nach dem Bund rufen. Man muss für die Hörerinnen und Hörer vielleicht mal eines sagen: Jeder Euro Einkommensteuer beispielsweise verbleibt ja nicht beim Bund und wird dann vom Bund an die Länder weitergeleitet, sondern wir haben eine Aufteilung. Das heißt, es ist so, dass Länder und Kommunen einen Teil der Einkommensteuer bekommen – und das hat überhaupt jetzt nichts mit diesem Länderfinanzausgleich und den Bund-Länderfinanzbeziehungen zu tun –, und ein Teil landet beim Bund. Das heißt also, die Länder haben Steuern, und die Länder haben im Übrigen auch Steuermehreinnahmen. Wenn Herr Schäuble sagt, er hat Steuermehreinnahmen, dann können Sie davon ausgehen, dass also fast in gleicher Höhe die Länder auch Steuermehreinnahmen haben. Und das heißt, es wird immer so getan, der Bund hat die großen Taschen und macht die nicht leer. Das ist schlichtweg falsch. Und im Übrigen gibt es auch einige Bundesländer, die Überschüsse schreiben, und es wäre schon hanebüchen, wenn Bundesländer anfangen, Schulden zu tilgen, und wir, die wir momentan auf Kante genäht sind wegen der Herausforderungen im Bereich Migration, Innere Sicherheit und Äußere Sicherheit, dann kämpfen müssen. "Viele Länder statten ihre Kommunen nicht mit den entsprechenden finanzielle Mitteln aus" Zurheide: Na gut. Nun wissen Sie auch, dass natürlich die ostdeutschen Länder zum Teil Überschüsse erwirtschaften, allerdings ein Drittel ihres Haushalts von anderen Quellen bezahlt kriegen. Dass das zu Unmut führt auf der einen Seite, ist doch klar, zumal wenn auf der anderen Seite Länder im Westen wie Bayern und Baden-Württemberg permanent die Hauptzahler im System sind. Dass da irgendwas schief war, ist doch wohl klar, oder? Brinkhaus: Ja, aber das ist ein Problem der Länder untereinander. Es geht ja darum, wie die Mittel im ersten Schritt zwischen Bund auf der einen Seite und Ländern auf der anderen Seite aufgeteilt werden. Und da müssen die Länder die Mittel, die ihnen zustehen, dass das also auch gerecht ist und dass also entsprechend die Finanzkraft berücksichtigt wird. Das haben sie jetzt gemacht, haben aber gesagt, das klappt nur, wenn der Bund fast zehn Milliarden in diesen Topf hinein tut. Und zehn Milliarden für ein Jahr, das kann man sich ausrechnen, das sind auf 10, 15 Jahre natürlich schon fast 150 Milliarden Euro. Und, wie gesagt, die Aufgaben des Bundes, die sind ja auch nicht kleiner geworden. Wir werden sehr viel ausgeben müssen für den Bereich äußere Sicherheit, für den Bereich Innere Sicherheit, für den Bereich Migration, wo wir den Hauptteil der Kosten tragen. Und insofern ist es nicht ganz fair, davon zu sprechen, dass es auf der einen Seite die armen Länder und auf der anderen Seite den reichen Bund gibt. Zurheide: Wenn wir allerdings den Blick etwas weiten und die Kommunen jetzt noch hinzuziehen, stellen wir natürlich schon fest, das sagen alle Studien, dass in der Bundesrepublik Deutschland etliche Kommunen kaum je die Chance haben werden, aus ihrer Schuldenspirale herauszukommen, weil die Kombination aus wirtschaftlichem Erneuerungsprozess oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Soziallasten auf der anderen Seite so ist, dass da eine Art Vergeblichkeitsfalle zu sehen ist. Quer durch die Republik kann man das beobachten. Ist das so falsch, die Beobachtung? Brinkhaus: Es ist gut, dass Sie die Kommunen ansprechen, weil die spielen bisher überhaupt keine Rolle in der Diskussion. Die Kommunen sind Bestandteil der Länder, das heißt, die Länder sind dafür verantwortlich, die Kommunen vernünftig auszustatten, und wir erleben da schon skurrile Dinge im Bereich zum Beispiel Migration. Wir erleben es, dass es Länder gibt, die den Kommunen die Kosten für die Asylbewerber, zumindest die Sachkosten, zu 100 Prozent erstatten, und wir erleben es, dass es woanders, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nur ein kleinerer Teil der Kosten ist, der erstattet wird. Das heißt also, da läuft auch viel auf Länderebene falsch. Viele Länder statten ihre Kommunen nicht mit den entsprechenden finanziellen Mitteln aus. Zurheide: Jetzt ziehe ich mal einen Strich darunter. Werden Sie – und Sie haben vorhin die Differenzen zwischen dem Bundesfinanzminister auf der einen Seite und dem Parlament und den Haushältern, zu denen Sie gehören, angesprochen – werden Sie zustimmen, wenn da ein Ergebnis kommt, wo möglicherweise der Bund mit neun Milliarden oder in der Nähe der neun Milliarden belastet wird? Brinkhaus: Es gibt jetzt erst mal keine Differenz zwischen dem Bundesfinanzminister und dem Parlament, sondern es gibt eine Differenz zwischen Parlament und Bundesfinanzminister auf der einen Seite und den Ländern auf der anderen Seite. Und wir werden natürlich zusammen mit unserem Bundesfinanzminister die Sachen, die jetzt vorgelegt werden, genau prüfen. Aber es bleibt dabei: Die finanziellen Spielräume des Bundes werden weiterhin eingeschränkt. Das heißt, es kann nicht sein, dass die Länder alle mehr kriegen, dass wir auf Bundesebene den Gestaltungsspielraum verlieren. Und da stehen wir auch an der Seite von Wolfgang Schäuble. Sein Sprecher hat sich auch sehr zurückhaltend geäußert, und insofern gibt es da noch eine Menge zu verhandeln. "Wir müssen aufpassen, dass Länder und dass Regionen nicht dauerhaft am Tropf der Hilfen hängen bleiben" Zurheide: Auf der anderen Seite, wir haben es gerade gehört vom ostdeutschen Ministerpräsidenten, der Solidarpakt fällt erst mal weg, und trotzdem werden die Ostländer nicht fallengelassen oder sie fallen nicht ins bergfreie, um einen Begriff aus dem Ruhrgebiet zu benutzen. Erst mal für Sie richtig? Brinkhaus: Ja, natürlich. Wir müssen nur auf eines aufpassen: Wir dürfen jetzt die Zuschüsse und den Ausgleich der Lebensverhältnisse nicht nach Himmelsrichtung organisieren, sondern wir müssen schauen, wo es tatsächlich Bedarf gibt. Und ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und wenn Sie da in einige Ruhrgebietskommunen hineingucken, dort ist die Situation sicherlich finanziell viel schlechter als in einigen Teilen von Ostdeutschland. Insofern macht es auch Sinn, dass dieser auf Ostdeutschland bezogene Solidarpakt – übrigens nicht zu verwechseln mit dem Solidaritätszuschlag –, dass der dann wegfällt, das ist auch, glaube ich, angemessen so viele Jahre nach der Einheit. Aber natürlich bleibt es so, dass viele Länder in Ostdeutschland weiterhin Förderung brauchen. Da stehen wir auch zu, aber wie gesagt, das ist eine Sache, die die Länder auch unter sich regeln müssen, und es ist jetzt nicht so, dass der Bund die Aufgabe hat. Ich möchte übrigens noch auf eine Sache hinweisen: Es bleibt im Prinzip auch bei diesem neuen System dabei, dass Länder im Grunde genommen nur sehr wenig von der finanziellen Verantwortung ihres Handelns betroffen werden. Wir haben keinen Wettbewerbsföderalismus, das heißt, dass man sagt, okay, wer schlecht wirtschaftet, der hat dann halt Pech gehabt, sondern im Grunde genommen geht es immer darum, dass alles am Ende des Tages gleichgemacht wird durch Ausgleichsmechanismen, und das ist natürlich auch nicht im Sinne eine starken Föderalismus. Zurheide: Na gut, das Gegenargument kennen Sie ja auch: Es gibt Strukturschwierigkeiten, die haben manche. Den Bayern ist in den 50er- und 60er-Jahren geholfen worden, die haben da was draus gemacht, ist keine Frage. Jetzt sind andere Länder betroffen, Sie haben das Ruhrgebiet angesprochen, aber wir können auch nach Kaiserslautern und ich weiß nicht, wo, in andere Länder gucken. Da ist ja die Grundfrage, haben die Hilfe verdient oder nicht. Brinkhaus: Ja, Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müssen nur aufpassen, dass Länder und dass Regionen nicht dauerhaft am Tropf der Hilfen hängen bleiben, sondern man muss sich natürlich auch fragen, wie lange dauert der Strukturwandel in diesen Regionen schon, ist da alles richtig gemacht worden und kann man das also auch besser machen. Es ist einfach nicht zu akzeptieren, dass wir sagen, okay, wir haben in der Bundesrepublik jetzt für die nächsten hundert Jahre Regionen, die sagen, wir haben Strukturwandel und brauchen deswegen Hilfen, sondern wir müssen intelligent uns überlegen, wie das besser werden kann. Zurheide: Ich bedanke mich heute Morgen bei Ralph Brinkhaus, dem Vizefraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum komplizierten Finanzausgleich. Sie haben uns heute geholfen, das etwas besser zu verstehen. Danke schön und auf Wiederhören! Brinkhaus: Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralph Brinkhaus im Gespräch mit Jürgen Zurheide
9,7 Milliarden Euro jährlich soll der Bund ab 2020 in den neuen Länderfinanzausgleich stecken. Dabei hätten die Länder sich "auf Kosten des Bundes" geeinigt, kritisierte der Unions-Fraktionsvize Ralph Brinkhaus im DLF. Die Länder selbst würden nicht die finanziellen Folgen ihres Handelns tragen, betonte der CDU-Politiker.
"2015-12-05T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T13:12:35.351000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/laenderfinanzausgleich-einigung-auf-kosten-des-bundes-100.html
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Journalistin: Die Angst bei den Ex-Partnerinnen sitzt tief
Deutsche Profifußballer und Berater setzen Schweigepflichtserklärungen ein, um Gewalt gegen ihre Partnerinnen zu verschleiern. (imago) Gegenüber dem Recherchezentrum CORRECTIV und der "Süddeutschen Zeitung" sprechen die mit Spielern liierten Frauen erstmals von struktureller Gewalt. Man habe einen Tipp bekommen, sei dem nachgegangen und habe weitere Frauen gefunden, sagt Gabriela Keller mit Blick auf die gemeinsame Recherche. Größte Schwierigkeit bei der gemeinsamen Recherche sei es gewesen, "überhaupt Frauen zu finden, die sich trauen, da auch anonym darüber zu reden, weil die Angst und das Gefühl der Ohnmacht sitzen bei diesen Frauen sehr tief". Die Journalistin Gabriela Keller weiß, "wenn sie Gewalt erlebt haben, dann ist es häufig schon so eine, ich sag mal, erlernte Hilflosigkeit, die auch damit zusammenhängt, dass eben in dieser Fußballwelt gar keine anderen Ansprechpartner sind. Und dann müssen sie auch erst einmal selbst zu dem Ergebnis kommen, dass ihnen wirklich etwas Schlimmes passiert ist und dass das etwas ist, wogegen man sich auch wehren kann und sollte." Recherche deckt bestimmte Muster auf Die Recherche beschäftigt sich mit neun Fällen. Das sei natürlich nicht genug, um Aussagen zu treffen, wie weit verbreitet der Machtmissbrauch insgesamt unter Tausenden von Spielern ist. "Was uns aber erschreckt hat, ist, dass es bestimmte Muster gibt und starke Parallelen, die bei diesen sehr unterschiedlichen Frauen, die mit sehr unterschiedlichen Fußballern zusammen waren, doch immer wieder auftauchen", betont Gabriela Keller. Frauen schildern alle Arten von Gewalt Nach Angaben der CORRECTIV-Mitarbeiterin sprachen die Frauen von starker körperlicher sowie psychischer Gewalt, aber auch wirtschaftlicher Gewalt. "Immer wieder wurde ihnen klargemacht, dass sie sich nicht an irgendjemanden wenden sollen, der außerhalb dieser Fußballwelt steht. Also nicht zur Polizei gehen, natürlich nicht in Medien darüber reden. Am besten sollten sie, wenn es überhaupt passiert, sich dann innerhalb der Fußballwelt, also vielleicht an den Berater, vielleicht einen Spieler selber wenden und dort Gesprächspartner suchen", weiß Keller. Sexualisierte Gewalt im Sport"Es geht immer um Macht" 49:36 Minuten02.10.2022 Sexualisierte Gewalt im SportMissbrauch-Skandal im US-Fußball weitet sich aus 02:57 Minuten04.10.2022 Sexualisierte GewaltMissbrauchsbeauftragte Kerstin Claus: "Das Sportumfeld ist attraktiv für Täter" 39:42 Minuten17.07.2022 Mit Verschwiegenheitsverpflichtungen zum Schweigen gebracht Die Fälle zeigen nach Angaben des Recherchenetzwerks ein erhebliches Machtgefälle auf. Einige der Frauen sprechen von medialem, juristischem und emotionalem Druck auf sie. In einigen Fällen wurden sie mit Verschwiegenheitsverpflichtungen zum Schweigen gebracht. Hoffnung, dass Frauen aus dem System ausbrechen Mit der Veröffentlichung der Recherche hofft Gabriela Keller, ein bisschen Licht in diese Zusammenhänge zu bringen. Und: "Dass die Angst, die diese Frauen vor den Folgen eines Verstoßes gegen die Verschwiegenheitsverpflichtungen haben, die ist in großen Teilen nicht realistisch. Also juristisch kann ihr auch gar nicht so wahnsinnig viel passieren, wenn man gegen die Verschwiegenheitsverpflichtung verstößt. Die Hoffnung wäre, dass das Problem anerkannt wird und dass die Frauen vielleicht auch die Möglichkeit haben, Ansprechpartner oder Ansprechpartnerinnen zu finden. Dass sie sich trauen, eben aus diesem System rauszugehen und eben auch Hilfe zu suchen in der Welt, die eben nichts mit dem Profifußball zu tun hat." Die ausführliche Recherche können Sie auf correctiv.org lesen.
Gabriela Keller im Gespräch mit Christian von Stülpnagel
Mehrere Ex-Partnerinnen von deutschen Profifußballern sind Gewalt ausgesetzt gewesen. Das zeigen Recherchen von CORRECTIV und der SZ. Erschreckend seien die Parallelen bei den verschiedenen Frauen gewesen, sagt Gabriela Keller von CORRECTIV.
"2022-10-15T19:10:00+02:00"
"2022-10-15T22:15:48.574000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/machtmissbrauch-durch-profifussballer-100.html
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"Eine Chance, Probleme grundlegend neu zu diskutieren"
Für die Historikerin Eva Schlotheuber ist eine homogene Gesellschaft gar nicht wünschenswert (dpa) Sina Fröhndrich: Willkommenskultur und Zäunebauer. Kohlebefürworter und Aktivisten. Rechtsextreme und Linksautonome. Wir, auch wir Medien, lieben das Schwarz-Weiß-Bild. Auch wenn Grautöne manchmal mehr als angebracht wären. Trotzdem: Es gibt Spaltungen in der Gesellschaft - und die gab es auch schon immer. Deswegen beschäftigt sich der Historikertag in Münster auch in diesem Jahr mit dieser Frage. Und wir sprechen darüber mit Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Historikerverbands. Frau Schlotheuber, vielleicht umreißen wir erstmal: Was heißt Spaltung eigentlich? Geht es da um gegensätzliche Meinungen oder um wirtschaftliche Unterschiede? Eva Schlotheuber: Ja, das ist eine gute Frage. Man könnte es einteilen in Schichtungen oder Teilungen und Spaltungen der Gesellschaft, und man kann sich natürlich vorstellen, eine homogene Gesellschaft, wo diese Phänomene nicht auftauchen, die ist natürlich gar nicht wünschenswert. Ein Dissens, ein sozialer, ökonomischer und anderer Dissens gehört einfach zu den Lebensbedingungen menschlicher Gesellschaften mit dazu. Wenn Sie mal an die Vormoderne denken in der Mittelalter-Gesellschaft, da hat zum Beispiel jeder nach eigenem Recht gelebt. Das wäre für uns heute jetzt eine sehr große Spaltung. "Umgang mit Spaltungen spielt große Rolle" Fröhndrich: Das wäre gar nicht denkbar. Schlotheuber: Aber das hat man nicht so wahrgenommen. Insofern spielt bei den Spaltungen die Wahrnehmung und der Umgang mit Spaltungen eine große Rolle. Fröhndrich: Wenn Sie jetzt sagen, Wahrnehmung und Umgang spielt eine wichtige Rolle: Was können wir denn jetzt aus der Geschichte lernen, wie wir jetzt mit Spaltungstendenzen umgehen sollten? Schlotheuber: Man kann erstens eine gewisse Gelassenheit entwickeln, und zwar allein aus dem Grunde, weil man weiß, dass Spaltungen an Wendepunkten von Gesellschaften auftreten und, ich sage jetzt mal, auch auftreten müssen. Es ist immer auch eine Chance, Probleme grundlegend neu zu diskutieren, sich darüber auseinanderzusetzen und über die Auseinandersetzung zu einem neuen Konsens zu kommen. Fröhndrich: Was ich jetzt daran interessant finde, ist, dass Spaltung ja dadurch durchaus was Positives ist. So haben Sie es ja beschrieben, dass das eine Chance sein kann. Wird diese denn immer erkannt? Schlotheuber: Nein. Es gibt natürlich keine sehende Person, auch nicht eine sehende Regierung, die so was erkennt, sondern das sind einfach Prozesse, die sich in aktuellen Situationen entwickeln. Wenn so wie heute ganze Teile der Gesellschaft den Konsens ablehnen und sagen: Nein, damit sind wir nicht einverstanden, wir wollen andere Ideen verwirklichen. Dann hat das einen Grund, den man meistens ernst nehmen muss, und da werden wir in einen solchen Prozess hineingezogen, ob wir das wollen oder nicht. Das hat aber auch eine Menge zu tun mit Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften. Wenn Sie sich zum Beispiel das europäische Mittelalter ansehen: Die großen Kämpfe zwischen Kaisertum und Papsttum haben letztlich eine ausdifferenzierte Gesellschaft hervorgebracht, die dann für die Zukunft tatsächlich in der Lage war, auch komplexe Phänomene einzelnen Gesellschaftsschichten zuzuweisen und damit eine ganz neue Kulturstufe eigentlich auch ermöglicht haben. "Das ist eine verdeckte ökonomische Krise" Fröhndrich: Welche Rolle spielt denn Spaltung, wenn wir das ein bisschen auf die Wirtschaft beziehen? Inwieweit können denn Spaltungstendenzen dazu beitragen, dass bestimmte Gruppen, die in der Wirtschaft vielleicht zu wenig beachtet werden, mehr beachtet werden? Schlotheuber: Das ist eine sehr schöne Frage und auch eine sehr wichtige Frage. Tatsächlich glaube ich, dass in dem heutigen Konflikt - der ist ja sehr interessant, weil er nicht begleitet wird durch eine Rezession oder durch große wirtschaftliche Bedrängnis, sondern die Wirtschaft steht stark im Mittelpunkt, indem beispielsweise der Umgang mit Ressourcen diskutiert wird. Gleichzeitig ist es aber so, dass natürlich an dem Anstieg des Wohlstands die Gruppen sehr unterschiedlich teilgenommen haben, sodass da schon intern eine Spannung entsteht und diese Gemengelage lohnend wäre, die unter einem Wirtschaftsblickwinkel zu analysieren. Fröhndrich: Könnten denn wirtschaftliche Antworten auch zu einer Überwindung von tiefen Gräben beispielsweise führen? Kann Wirtschaft auch die Antwort sein? Schlotheuber: Ehrlich gesagt glaube ich das nicht nur. Natürlich, wenn eine Spaltung durch Armut entsteht, wenn es Aufstände aus Armut sind, wirklich blanker Armut - das hat es ja viel gegeben in der Geschichte: Arbeiteraufstände -, dann ist natürlich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, einfach um den Familien das Überleben zu ermöglichen, eine Antwort. Fröhndrich: Solche Aufstände werden wir jetzt wahrscheinlich in der Neuzeit nicht sehen. Aber wir hatten gestern gerade eine Studie, wonach es vier Millionen Menschen gibt, die prekär beschäftigt sind. Schlotheuber: Ganz genau. Das ist eine verdeckte ökonomische Krise und da wäre eine Chance, die wirklich aufzudecken und ernst zu nehmen und sich zu überlegen: Wie wollen wir damit umgehen? Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass wir als Gesellschaft die Räume dichtgemacht haben. Die jungen Leute kommen in eine Gesellschaft, wo Ökonomie sehr ausgeprägt ist, sehr ausdifferenziert ist, große Mitspieler, aber die Räume zum Gestalten, die fehlen den jungen Leuten. Fröhndrich: Und da haben wir dann im Prinzip schon wieder die nächste Spaltung. Schlotheuber: Genau. Fröhndrich: Glauben Sie oder würden Sie sagen, dass wir heute eigentlich eine weniger gespaltene Gesellschaft vor uns haben, als es vielleicht in der Geschichte der Fall war? Schlotheuber: Absolut. Der Soziologe Aladin El-Mafaalami sagt, dass diese Konflikte, die wir jetzt haben, gar nicht aus Missintegration oder zu wenig Integration resultieren, sondern dass das eigentlich eine gelungene Integration ist, die jetzt aber dazu führt, dass sehr viele verschiedene Gruppen mitreden. Dann wird der Dissens hörbar und darauf, dass neue Gruppen mitreden dürfen, reagiert natürlich der Rest der Gesellschaft, der an sich gewohnt war, bestimmte Dinge unter sich zu verhandeln. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eva Schlotheuber im Gespräch mit Sina Fröhndrich
Spaltungen gehören zu den Lebensbedingungen menschlicher Gesellschaften, sagte Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Historikerverbandes, im Dlf. Spaltungen treten vermehrt an Wendepunkten von Gesellschaften auf. Das böte auch die Chance über Auseinandersetzung zu neuem Konsens zu kommen.
"2018-09-25T17:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:12:38.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spaltung-der-gesellschaft-eine-chance-probleme-grundlegend-100.html
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20 Jahre Haft für ukrainischen Regisseur Senzow
Bei der Urteilsverkündigung in Russland lächelten Regisseur Senzow und Aktivist Koltschenko und stimmten die ukrainische Nationalhymne an. (Imago / Itar-Tass / Valery Matytsin) Seine Haftstrafe muss Senzow in einem Hochsicherheitsgefängnis absitzen. Das Gericht verhängte gegen den mitangeklagten ukrainischen Umweltaktivisten Alexander Koltschenko eine zehnjährige Freiheitsstrafe. Der international bekannte Filmemacher Senzow stammt aus Simferopol auf der Krim. Während der Proteste auf dem Maidan hatte Senzow die pro-westlichen Demonstranten unterstützt. Er hatte sich zudem für den Verbleib seiner Heimat bei der Ukraine ausgesprochen, nachdem 2014 eine Volksabstimmung über den Anschluss an Russland angesetzt worden war. Senzow war er im Mai vergangenen Jahres auf der Krim festgenommen und nach Moskau gebracht worden. Senzow will Berufung einlegen Ihm und Koltschenko wurde vorgeworfen, im Mai 2014 das Büro einer prorussischen Partei auf der Krim in Brand gesetzt zu haben. Zudem sollen die beiden geplant haben, eine Lenin-Statue in Simferopol in die Luft zu sprengen. Der Filmemacher hatte die Vorwürfe zurückgewiesen. Bei der Urteilsverkündung zeigten die beiden Angeklagten das Victory-Zeichen und stimmten die ukrainische Nationalhymne an. Nach Angaben seines Verteidigers will Senzow Berufung einlegen. Der Richterspruch sei "der Gipfel der Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit." Nach Angaben der Anwälte waren Zeugen gefoltert worden, um sie zu belastenden Aussagen zu zwingen. Kritiker des Prozesses sehen in dem Verfahren einen politisch motivierten Schauprozess und einen Racheakt für dessen proukrainische Haltung. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko schrieb bei Twitter: "Halte durch Oleg. Es kommt die Zeit zu der diejenigen, die diese Gerichtsfarce gegen Dich organisiert haben, selbst auf der Anklagebank sitzen werden." Die Europäische Union und die USA hatten die Freilassung von Senzow und Koltschenko gefordert. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte das Urteil. Es sei Teil der russischen Propaganda gegen die Ukraine. (hba/tön)
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Ein russisches Gericht hat den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Der 39-Jährige habe eine terroristische Vereinigung gegründet und Anschläge auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim verübt und geplant, urteilten die Richter in der südrussischen Stadt Rostow am Don. International wurde der Prozess als politisch motiviert kritisiert.
"2015-08-25T17:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:49.493000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-20-jahre-haft-fuer-ukrainischen-regisseur-senzow-100.html
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Der Journalist Sean Hannity
US-Präsident Donald Trump soll fast täglich mit Sean Hannity telefonieren. (Jim WATSON / AFP) "Welcome to this special edition of Fox Nation. I am Gregg Jarrett. My guest today: Sean Hannity." Freunde interviewen Freunde. Fox-News-Moderator Sean Hannity stellte sein neues Buch vor - beim Streaming-Anbieter Fox Nation, einer Art Netflix für Amerikaner, die ihre Nation für die beste der Welt halten. "Frei leben oder sterben. Amerika und die Welt stehen am Abgrund" – so der Titel und der Tenor des Werkes. Die USA, so Hannity, laufen Gefahr, von Gerechtigkeitsfanatikern, einem korrupten Staatsapparat, der Wissenschaft und den so genannten Mainstreammedien zerstört zu werden. Um Geld für den Wahlkampf einzunehmen, vertreibt das Republican National Committee signierte Ausgaben für 75 Dollar das Stück. Es ist aus dem Stand in die Top Ten der Beststellerliste "Sachbuch" der "New York Times" eingestiegen. Wir gegen die "Democrats, they are terrified. Their candidate: We all know he is weak and feable. Their radical socialist platform ist he most extreme…," sagt Hannity. Wir gegen die. Das amerikanische Volk, Fox News und Donald Trump gegen die Demokraten mit ihrem alten und schwachen Kandidaten, einer Partei, die im Kern von radikalen Sozialisten unterwandert ist. Sean Hannity verbreitet diese Botschaft nicht nur als einer der quotenstärksten Moderatoren im amerikanischen Kabelfernsehen. Auch im Radio, seinem eigentlichen Medium, in dem er auf eine über dreißigjährige Berufslaufbahn zurückblicken kann, erreicht er jeden Wochentag mit einer dreistündigen Anrufsendung The Sean Hannity Radio Show ein Millionenpublikum landesweit. Er steht damit ganz in der Tradition des kontroversen Talkradios, dass mit der eindeutigen Positionierung des Moderators auf der politischen Linken oder Rechten Quote macht. Parallelen zwischen Hannity und Trump Marc Fisher, Reporter der Washington Post, sieht starke Parallelen zwischen der Karriere Hannitys und der Donald Trumps: "Sie befördern sich mit ihrer Art gegenseitig. Beide sind Populisten, aber von einer ganz besonderen Art. Sie sind nicht die gleiche Art von Reichen, wie man sie sonst im Fernsehen sieht. Sie sind auf ihre Weise weiter in Verbindung mit dem einfachen Mann." Vorwürfe gegen Fox-News-StarNicht erst die Klagen ehemaliger Mitarbeiterinnen wegen sexueller Belästigung werfen ein schlechtes Licht auf Tucker Carlson: Seine Show, die auch US-Präsident Trump gerne zitiert, wurde lange inhaltlich von einem Rassisten geprägt. Beide sind keine Intellektuellen, sie sprechen eine klare Sprache und sind kulinarisch wenig anspruchsvoll. Bei aller Radikalität, die die beiden zur Schau stellen: Mit jedem von ihnen könne sich der amerikanische Durchschnittsbürger vorstellen, abends in der Bar ein Bier zu trinken, meint Fisher. Beinahe täglich, so hat Olivia Nuzzi schon vor drei Jahren für das New York Magazine recherchiert, telefonieren Trump und Hannity miteinander: "Hannity müsse nicht vom Präsidenten dazu gebracht werden, das zu tun, was er möchte", sagte Nuzzi im amerikanischen Radio NPR. Ihre Interessen seien die gleichen. Es sei sogar wirkliche eine Freundschaft, insoweit Donald Trump überhaupt wahrhafte Freundschaften pflegen könne. Beide seien besessen vom Mediengeschäft und vor allem von Zahlen, von Quoten. Eher "Meinungsjournalist" Doch wo bleibt bei dieser engen Verbindung die Unabhängigkeit der Berichterstattung? Sean Hannity selbst, inzwischen mehrfacher Millionär, bezeichnet sich gar nicht als Journalist. Er sei eher ein "Meinungsjournalist". Gleichwohl erreicht er mehr Menschen als seriöse Nachrichtenmacher. Ted Koppel, Altmeister der US-amerikanischen Newstradition, warnt seit Jahren davor, dass Leute wie Hannity den Fernsehjournalismus im Land zerstören. 2017 sprachen sie auf CBS miteinander. Hannity: You think I am bad for America? Koppel: Ya. Hannity: You are cynical. Koppel: Yes, I am cynical Hannity, so Koppel, sei schlecht für das Land, weil er erfolgreich in dem sei, was er tue und weil er viele Menschen in ihrer Überzeugung stärke, dass Weltanschauung wichtiger sei als Fakten. "You have attracted people who are determined that ideology is more important than facts." Und zu diesen Menschen gehört auch der amerikanische Präsident. Kein Wunder, dass er Sean Hannity bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit lobt. Ob sich ihre symbiotische Beziehung allerdings auch langfristig auszahlt, wird sich unter anderem nach der Wahl im November zeigen.
Von Brigitte Baetz
Sean Hannity gehört auf dem US-Fensehsender "Fox News" zu den quotenstärksten Moderatoren. Sein Mittel: die Verunglimpfung der politischen Gegner Donald Trumps und eine großzügige Auslegung von Fakten. Beim US-Präsidenten ist er deshalb sehr beliebt.
"2020-09-07T15:35:00+02:00"
"2020-09-08T10:27:58.305000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trumps-journalistischer-zwilling-der-journalist-sean-hannity-100.html
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Der Patient H.M.
Chirurg Scoville wollte mit der Entnahme von zwei Dritteln des Hippocampus die Epilepsie heilen (Herbig Verlag) An einem Tag im Sommer 1953 ändert sich für Henry G. Molaison alles. Der 27-jährige Epilepsie-Patient ist von einem Moment zum nächsten ein völlig anderer Mensch. Verantwortlich dafür ist eine waghalsige Operation. Der Neurochirurg William Scoville entfernt dem jungen Mann große Teile seines Gehirns. Immer wieder größere Hirnteile entfernt Nach der Operation leidet Molaison bis zu seinem Tod 2008 an Gedächtnisverlust. Er kann kaum neue Erinnerungen aufnehmen und wird als Patient H.M. zum begehrten Versuchskaninchen für Generationen von Neuropsychologen. Der Wissenschaftsjournalist Luke Dittrich bezeichnet ihn als das am intensivsten untersuchte Forschungsobjekt aller Zeiten. Der Buchautor ist der Enkel des damaligen Starchirurgen William Scoville. Er will wissen, was seinen Großvater antrieb, als er bei seinen Patienten immer wieder größere Teile des Gehirns entfernte. Menschen als Versuchskaninchen Dittrich berichtet aus dem Leben seines Großvaters als Wissenschaftler und Privatmann und gibt faszinierende Einblicke in die Geschichte der Gehirnforschung. In vielen Beispielen vom antiken Ägypten bis zu skrupellosen NS-Medizinern stellt er die Pioniere der Wissenschaft ihren Patienten gegenüber. Oft ist unklar: Handelt es sich um akzeptable Heilversuche oder werden Menschen als Versuchskaninchen missbraucht? Nicht selten werden bis heute größere Risiken in Kauf genommen, wenn es dem wissenschaftlichen Fortschritt dient. Was manche als Mut von Pionieren bezeichnen, offenbart nicht selten einen Mangel an Verantwortung. Dabei zeigt sich immer wieder: Draufgänger haben in der Medizin nichts verloren. Luke Dittrich: Der Patient H.M. Eine wahre Geschichte von Erinnerung und Wahnsinn Aus dem Amerikanischen von Pascale Mayer Herbig-Verlag, 464 Seiten, 24,00 Euro
Von Michael Lange
Die Gehirnforschung ist faszinierend, doch häufig ist unklar, ob die Wissenschaft Menschen als Versuchskaninchen missbraucht. Lukas Dittrich berichtet aus dem Leben seines Großvaters, dem Neurochirurgen William Scovill. Er entfernte einem Epilepsie-Patienten große Teile des Gehirns, was zu großen Folgeschäden führte.
"2018-12-09T16:30:00+01:00"
"2020-01-27T18:24:42.495000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahre-geschichte-und-erinnerungen-der-patient-h-m-100.html
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Urbane Safari durch Köln
Halsbandsittiche sind normalerweise in Mittelasien und Afrika zu finden. Mittlerweile leben sie zu zig Tausenden entlang der Rheinschiene und vermehren sich von Jahr zu Jahr. (picture alliance / dpa / Frederik von Erichsen) "Etwa ein Drittel der Grundfläche von Köln ist unbebaut und besteht aus Natur. Was glaubt ihr, was es so für Tiere gibt in der Stadt oder auf der Fläche von Köln?" Teilnehmer: "Waschbären, Wildschweine…" Sven: "Die werden wir sicherlich nicht hier im Park finden." Teilnehmer: "Marder?" Sven: "Marder, Fischreiher, Störche, Weißstörche zumindest, Enten, Tauben!" Sven Meurs ist zertifizierter Naturführer. Der 36-Jährige mit den blonden Locken hat eine Mission. Er will gestresste Großstädter zurück zur Natur bringen, ein Stück seiner Begeisterung weitergeben. "Wir gucken gleich mal, was wir wirklich sehen, so ist das bei einer Safari, ich kann Euch nichts versprechen." Tausende Halsbandsittiche entlang der Rheinschiene Zwanzig Leute sind heute dabei – von jung bis älter. Los geht es im Stadtgarten, einem kleinen Park im Zentrum Kölns. Ein zirpendes Rufen macht die Teilnehmer neugierig. Sie bleiben stehen und schauen in die Luft. In einer Baumkrone entdecken sie knallgrüne Vögel. "Wie heißt der? Halsbandsittich, genau. Wisst ihr wo der herkommt, was der hier macht? Aus dem Zoo? Genau, das ist nämlich der klassische Irrglaube, sag ich mal böse. Im Zoo gab es noch nie Halsbandsittiche. Der ist in den sechziger Jahren das erste Mal in Köln aufgetaucht. Den gibt’s überall mittlerweile in deutschen Städten entlang der Rheinschiene. Von Düsseldorf bis runter nach Karlsruhe. Die Tiere aus Köln und wahrscheinlich auch die Tiere aus Bonn, die kommen von einem privaten Züchter. Die sind früher so gehalten worden, wie Wellensittiche heutzutage und Nymphensittiche." "Kommen eigentlich aus Mittelasien, aus dem mittleren Afrika. Und irgendwann sind so 20, 30 frisch importierte Vögel aus der Volière ausgebrochen, diese Tiere haben eine unglaublich lange Lebensdauer, haben ein gutes Anpassungsverhalten und haben sich dann ganz schnell vermehrt. Und im Moment gibt es etwa so 1200 bis 1500 Tiere. So ab halb sieben, sieben, halb acht sammeln die Tiere sich alle und dann fliegen die auf einen einzigen Schlafbaum und verbringen da die Nacht." "Da kommen sie." "Das geht meistens so schnell, dass man nichts davon mitkriegt Da kommt er zurück." Mit Ferngläsern halten die Safari-Gäste Ausschau nach den grünen Vögeln in den ebenso grünen Baumkronen. Einige richten ihre Kameraobjektive in die Luft. "Ich hab die zwei gesehen, die raus geflogen sind. Nicht mit meinem Fotoapparat, nicht so schnell geschafft. Die waren zu schnell." Wildwechsel mitten in der Stadt Die Teilnehmer schauen sich neugierig um, zeigen auf Tiere, die sie im Park entdecken, tauschen sich aus. "Man will ja auch wissen, wo man hier so wohnt. Wenn man dann im Park liegt, nicht einfach so auf die Sonne gucken, sondern dann vielleicht auch mal dann Vögel beobachten." "Man denkt einfach, ok, das Grüne ist da. Wie facettenreich überhaupt, das verliert man vielleicht so ein bisschen." "Ich glaube schon, dass ich sonst durch die Stadt gehe und nicht nach den Tieren Ausschau halte. Sven Meurs bleibt vor der Gruppe stehen und zeigt auf eine Spur im Gebüsch. "Hier sieht man so ein bisschen, dass Tiere immer die gleichen Wege nehmen. Seht Ihr, dass hier ein Trampelpfad ist, der so schräg runter geht? Wo kein Laub liegt." Wildwechsel mitten in der Stadt – gleich neben Betonklötzen und Schnellstraßen. "Es gibt so ungefähr in der Innenstadt von Köln Tausend Füchse. Sind Schätzungen." Staunende Gesichter – mit einer solchen Population in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft haben die wenigsten gerechnet. Mitten in der Stadt gibt es vieles zu entdecken. Vorausgesetzt man lässt sich auf seine Umgebung ein. "Das da ist die Kohlmeise… und das ist der Fink." Fuchs, Nilgans, Fischreiher, Kormorane Es geht weiter durch die Stadt, vorbei an stark befahrenen, mehrspurigen Straßen. Mitten im Verkehrslärm zeigt Meurs auf ein kleines Loch in einem Ampelpfahl. "Da drin! Da wohnen Meisen, in Nippes, in der Südstadt überall gibt es das. Das ist für die Meise genau die richtige Größe, die baut hier ihr Nest drin." Die Truppe überquert eine große Metallbrücke, die über einen künstlich angelegten Stadtteich führt. Hier im Mediapark zwischen riesigen Bürobauten, einem der größten Hochhäuser Kölns und Mehrfamilienhäusern, verbirgt sich ein wahres Wildnis-Paradies. "Dann gibt’s hier einen kleinen Wasserfall. Dann sitzen hier hinter uns die Enten. Hier kommt die Nilgans direkt auf uns zu. Bachstelzen, Schwäne, hier kommt der Fischreiher früh morgens vorbei. Kanadagänse, da gibt es so treibende Flöße, auf denen diese gelben Wasserlilien stehen. Da sitzen auch die Kormorane drauf, die ihr Gefieder trocknen – diese großen schwarzen Vögel. Nilgänse sind echte Afrikaner, grau und rostbraun gefiedert und haben einen braunen Kreis um die Augen. Um den Hals zieht sich ein schokoladenbrauner Ring. Sie recken den Hals hoch und watscheln gemütlich über die Wiese. "Die kommen vom Nil, wie der Name schon sagt. Das sind sogenannte Neozoen, eingebürgerte Tiere. Da gibt es mittlerweile unzählige Arten. Die haben auch überhaupt keine Angst mehr. Dass die keine Angst haben, das liegt einfach daran, dass die gefüttert werden. Die ist total aggressiv, wenn es um das Brüten geht. Die vertreibt wirklich auch alle anderen Tiere." "Dahinten kommt eine Kanadagans angeschwommen." Der Besuch aus Kanada ist größer und wirkt durch den langen, schwarzen Hals und den schwarzen Schnabel imposant. Am Wasserrand ist einiges los. Rätselraten bei den Safari-Teilnehmern. "Ich dachte, das ist ne Bachstelze vielleicht. Ich bin mir aber nicht sicher. So wie er die beschrieben hat, schwarz-weiß, mit diesem Wedelschwanz. Ganz schön bunt hier." "Ich hab auch noch nie eine Hybrid-Ente gesehen. Geschweige denn eine Nilgans… auch wenn’s die scheinbar viel gibt, wir haben‘s noch nie gesehen." "Man hat das Gefühl man steht auf so einer Aue mitten im Wald – und dabei steht man aber im Mediapark, mitten in Köln." Hohlräume unter Kriegsschutt im Mediapark - Zufluchtsort für Kaninchen Hinter dem Mediapark geht es hinauf auf einen abgelegenen Hügel, den Herkulesberg. Fußwege führen durchs Grüne über Bahnschienen. Von einer Brücke aus kann man gut beobachten. Auf einem kahlen Baum gleich neben den Gleisen flitzt völlig unbeeindruckt von Lärm und Menschen ein Eichhörnchen hin und her. "Da ist es, da kommt es denn Ast hoch. Süß!" "Diese Erhöhung ist auch Kriegsschutt. Und da sind natürlich Hohlräume drin und das ist für die Kaninchen einfach da drin Höhlen zu finden." "Wenn ein Fuchs hier im Bau irgendwo wäre, würde man ihn eigentlich riechen. Der Fuchs der stinkt wie Sau. Dann würde man auch Spuren sehen, dann würde man jetzt auch Fraßreste sehen." Nach zwei Stunden Großstadtsafari scheint es, als sei der Funke übergesprungen. Sven Meurs hat seine Mission erfüllt und auch für die Teilnehmer hat sich die Tour gelohnt. "Ich werde jetzt in jedes Ampelloch reinschauen, ob da nicht vielleicht eine Meise sitzt. Das finde ich einfach das Schöne daran, dass es bestimmte Schlafbäume gibt oder Futterbäume – das wusste ich zum Beispiel alles gar nicht." "Man wird ja auch sensibilisiert für die ganzen Tiere, die hier leben. Vielleicht auch ein bisschen aufmerksamer wenn man das nächste Mal durch die Stadt läuft." "Der Blick wird so geschult und ich glaube das ist was, was auch bleibt. Man hat wirklich den Schalter umgelegt."
Von Julia Batist
Sven Meurs fotografiert Wildtiere und Naturphänomene in der Stadt und will so für die Natur vor der eigenen Haustür begeistern. Er lädt zu "urbanen Safaris" ein, mitten in den Großstadt-Dschungel Kölns, wo Interessierte Artenvielfalt, Tiere, Pflanzen und Biotope hautnah erleben können.
"2017-06-18T11:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:57.862000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wildtiere-in-der-grossstadt-urbane-safari-durch-koeln-100.html
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SPIO - Nanopartikel im Medizineinsatz
"Man denkt magnetisch ist magnetisch."Stimmt aber gar nicht! SPIO ist kein Dauermagnet wie eine Kompassnadel, sondern: "Es ist so, dass Superparamagneten nur dann magnetisch sind, wenn sie sich in einem äußeren Magnetfeld befinden."SPIO ist also eine Art schlafendes magnetisches Material, das man erst wecken muss. Und das geschieht bei Untersuchungen im Magnetresonanz-Tomografen. Dort wird ein äußeres Feld angelegt und SPIO als Kontrastmittel eingesetzt. Medizintechniker haben mit den rostroten Nanopartikeln aber noch mehr vor."Geh mal hier weiter hoch. Da geht's hoch, hoch, hoch, hoch, hoch." Das Institut für Versuchtierkunde am Aachener Uni-Klinikum. "So, da haben wir doch den schönen Enddarm."Auf dem Operationstisch ein betäubtes Hausschwein. "Willst du die auch benutzen, oder gehst Du weiter höher?" - "Nee, würde gerne so eine dieser Schlingen nehmen, die eh schon so schön da im Oberbauch rumliegen."Die beiden Chirurgen Jens Otto und Nikolas Kühnert setzen dem Tier ein sogenanntes Hernien-Netz ein. Ein Kunststoff-Implantat, das Ärzte häufig verwenden, wenn sie Leisten- und andere Brüche im Bindegewebe operieren. Solche Netze sollen die Schwachstellen im Gewebe verstärken. "Gehört zu den häufigsten Eingriffen. Es werden ungefähr anderthalb Millionen Netz-Implantate jährlich weltweit verbaut." Oft aber seien Folge-Operationen nötig, wie Nils Krämer sagt, Radiologe am Aachener Klinikum. Weil sich die Netze im Körper verformen oder verlagern. Eine Nachkontrolle ist dabei praktisch nicht möglich. Denn die Implantate lassen sich mit einem bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanz-Tomografie nicht richtig darstellen.Hier kommen jetzt die SPIO-Partikel ins Spiel:"Unsere Idee war, die Netze mit kleinsten magnetischen Teilchen zu versehen. Und damit eine Abgrenzbarkeit des Netzes gegenüber dem umgebenden Gewebe zu erzielen.""Das Netz selber wird mit resorbierbaren Kunststofftackern an der Bauchdecke fixiert. So."Deshalb die Versuche an den Hausschweinen. Die dabei implantierten Hernien-Netze sind Prototypen. Sie enthalten das superparamagnetische Eisenoxid und sind auf Tomografie-Bildern zu erkennen. Radiologe Nils Krämer hofft, dass man bald bequem von außen sehen kann, wie sich die Implantate im Körper verhalten:"Und darüber die Netze dann auch besser wird anpassen können", "" sodass sich die Zahl der Komplikationen und nötigen Folgeoperationen vielleicht reduzieren lässt. "Große Chancen für SPIO sehen die Aachener Forscher auch in der Krebstherapie. An die Nanopartikel lassen sich nämlich Medikamente anheften, und man kann sie:" "In die Blutbahn spritzen und mit Magnetfeldern an den Ort des Tumors lenken." Die rumänische Physikerin Ioana Slabu erhofft sich eine gezieltere Chemotherapie mit weniger Nebenwirkungen. Am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Technik, wo sie forscht, wurden passende, millimeterkleine Magnetspulen entwickelt, die sich in den Körper einführen lassen. Auch hier laufen bereits die ersten Tierversuche mit SPIO: "Also, bis die Operation fertig ist, wird jetzt bestimmt noch so anderthalb Stündchen vergehen." Links zum Thema Weitere Beiträge der Reihe: Molekül der Woche Deutschlandfunk-Reihe zum UN-Jahr der Chemie 2011
Von Volker Mrasek
SPIO, das Superparamagnetische Eisenoxid, wird in Form winzig kleinen Partikeln benutzt. SPIO ist kein Dauermagnet wie eine Kompassnadel, sondern richtet sich nur aus, wenn es sich in einem äußeren Magnetfeld befindet. Das macht es so interessant für den Einsatz in der Medizin, beispielsweise als Kontrastmittel im Magnetresonanztomografen.
"2011-05-18T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:12:51.693000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spio-nanopartikel-im-medizineinsatz-100.html
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Auf dem Weg in eine Republik?
Die meisten Briten sind einverstanden damit, dass Prinz Charles seiner Mutter, Queen Elisabeth II., auf dem Thron nachfolgt. (Jörg Carstensen/dpa) "The Queen is dead. Long live the King. That’s me!" "Die Königin ist tot, es lebe der König": Eine Szene aus dem Theaterstück "Charles III.", das kürzlich in London zu sehen war – und in dem der Autor darüber spekuliert, wie sich wohl der älteste Sohn von Elisabeth II. nach dem Tod seiner Mutter als König machen wird. Auch wenn sich die meisten Briten die Monarchie ohne diese Königin kaum vorstellen können, wie Simon sagt: "This Queen has been obviously with us for a long time – so I don’t think any of us know a monarchy without this Queen. But it’s not about this Queen, it’s about the monarchy as an institution." Für ihn geht es aber nicht um die Königin als Person, sondern um die Monarchie als Institution; die möchte Simon erhalten – so wie die meisten seiner Landsleute; nur jeder Zehnte spricht sich – laut einer Umfrage – dafür aus, diese Staatsform mit Elisabeth II. sterben zu lassen. Graham Smith dagegen findet, Großbritannien sollte der Monarchie "Goodbye" sagen und zur Republik werden: "Es sollte die Monarchie aus Prinzip nicht geben. Wir wollen doch eine demokratische Nation sein – aber die gründet auf der Idee, dass wir Bürger alle gleich sind; während die Monarchie davon ausgeht, dass wir eben nicht alle gleich sind. Nun sagen manche: Lasst uns die Monarchie doch als Symbol behalten – aber sie symbolisiert eben das Falsche." Organisation "Republic": Vision von einer echten Demokratie Eine echte Demokratie, eine geschriebene Verfassung, ein gewähltes Staatsoberhaupt: Das ist seine Vision. Schluss mit dem Vereinigten Königreich. Smith führt die Organisation "Republic", die für die Abschaffung der Monarchie kämpft. Bis er damit Erfolg hat, fordert er mindestens mehr Transparenz von dem – wie er sagt – "korrupten" königlichen Haushalt: "Die Monarchie missbraucht ihre Position, um sich Zugang zu öffentlichen Mitteln zu verschaffen, die dann rein privaten Zwecken dienen. Und um ihre eigene politische Agenda und ihre Interessen gegenüber der Regierung zu verfolgen. Alles läuft hinter verschlossenen Türen ab, keiner muss Rechenschaft ablegen – das würden wir bei keiner anderen öffentlichen Institution akzeptieren." Die Anhänger der Monarchie argumentieren, die royale Pracht koste jeden Steuerzahler nur 58 Pence pro Jahr – und spüle sogar Geld in die Staatskasse, etwa durch den Tourismus. "Republic" setzt dagegen, dieser Anachronismus koste den britischen Staatshaushalt jedes Jahr rund 340 Millionen Pfund. Queen-Biograf Robert Lacey aber gibt den Monarchie-Gegnern vorerst kaum Chancen: "Wenn man mit der kleinen Gruppe an Republikanern redet, dann merkt man schnell: Die haben im Grunde aufgegeben. Sie werden warten, bis die jetzige Königin gestorben ist. Erst wenn Charles und später William kommen, beginnt eine neue Zeit." 5.000 Mitglieder und rund 35.000 offizielle Unterstützer: "Republic" ist nicht gerade eine Massenbewegung, die der Palast fürchten muss. Und seit die fotogene Kate Middleton frischen Wind in die königliche Familie gebracht hat, scheinen die Krisen der Vergangenheit vergessen - zumal sich die britischen Boulevard-Blätter nun auch noch am süßen Nachwuchs ergötzen können: "He’s got a good pair of lungs, that’s for sure. He’s a big boy, he’s quite heavy." Prinz William und seine Frau Kate präsentieren ihre neugeborene Tochter Charlotte. (picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga) Prinz George und Prinzessin Charlotte: Allzweck-Waffen der königlichen PR Die stolzen Eltern präsentieren der Medienmeute erst Prinz George und später Prinzessin Charlotte: Die beiden Jüngsten in der Thronfolge sind die neuen Allzweck-Waffen in der PR-Maschinerie Ihrer Majestät. Offenbar wirkungsvoll: Yasmine jedenfalls findet es gut, dass sie zu dieser königlichen Familie aufschauen kann – deren Mitglieder eben mehr als Promis seien, sondern eine Familie mit Geschichte und Tradition: "It’s nice to have someone – and a family like that – to look up to that isn’t a celebrity, you know, that’s more important than that, there’s more history behind it." Dass die Briten eine Revolution starten oder das Parlament mehrheitlich für die Abschaffung der Monarchie stimmt, ist nicht absehbar. Dennoch sollte sich die königliche Familie nicht auf dem momentanen Zuspruch ausruhen, warnt Beobachter Lacey: "Man kann nichts vorhersagen. Die Monarchie ist nur so gut wie die Leute, die den Job machen. Und es kommt darauf an, wie sie diesen Job ausfüllen. Die Monarchie kann ihre Popularität nicht für alle Zeiten als gegeben annehmen." Für nahezu ausgeschlossen halten es ihre Untertanen, dass die Queen abdankt. Aber sie überträgt zunehmend Aufgaben, Reisen und Termine auf ihren Sohn. Die Beliebtheitswerte des mittlerweile 66-jährigen Prinz Charles sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen; die meisten Briten sind einverstanden damit, dass er seiner Mutter nachfolgt – und selbst mit der Vorstellung von Camilla als Königin an seiner Seite haben sie sich angefreundet. Die Regentschaft von König Charles III. wird jedoch deutlich kürzer ausfallen als die seiner Mutter, Elisabeth II.
Von Stephanie Pieper
64 Jahre regiert Queen Elisabeth II. bereits das Vereinigte Königreich Großbritannien. Die meisten Briten können sich die Monarchie ohne sie kaum vorstellen. Trotzdem plädiert nur eine Minderheit dafür, diese Staatsform mit der Queen sterben zu lassen. Und auch die Beliebtheit ihres Nachfolgers, Prinz Charles, ist deutlich gestiegen.
"2016-04-21T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:25:18.051000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-auf-dem-weg-in-eine-republik-100.html
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Richard-Hamilton-Retrospektive
"Die Pop-Art ist: Populär, kurzlebig, entbehrlich, billig, in Massenproduktion hergestellt, jung, witzig, sexy, vergagt, glamourös und Big Business", so schrieb Richard Hamilton im Januar 1957 in einem berühmt gewordenen Brief. Doch der Vater der britischen Pop-Art wollte sich nicht zum Popkünstler abstempeln lassen, obwohl er das erste Kunstwerk der Pop-Art schuf - Jahre vor Andy Warhol und Roy Lichtenstein: "Just What Is It That Makes Today's Homes So Different, So Appealing?" Von 1956 war sein Plakat für die Ausstellung "This is Tomorrow" in der Whitechapel Gallery: Eine witzige Collage, auf der der Optimismus der 50-er Jahre durchscheint, aber auch eine fast prophetische Kritik an der kommenden Konsumgesellschaft. Sein Ziel sei es, so sagte er, "das ganze Leben" in seinem Werk einzufangen. Der weibliche Akt begleitete ihn sein ganzes Leben Eine weitgehend chronologische Hängung bietet sich bei Hamilton an. Regelmäßig, man könnte sagen: Jede Dekade wandte er sich neuen Motiven zu, erforschte Neue Medien und Techniken. Seine Ende der 40-er Jahre entstandene Grafikserie "Reaper" zeigt exemplarisch, wie man mit den sparsamsten Mitteln heute Kupferstiche schaffen kann. Schon auf den Gemälden der 50-er Jahre untersuchte er Perspektive und Bewegung. Seine Porträts der 60-er Jahre sind ironische Statements, etwa der Politiker Hugh Gaitskell als Filmmonster. Interieurs faszinierten ihn, nach einer Postkarte malte er 1988 "Lobby", das Foyer eines anonymen Berliner Hotels, kalt und abweisend, dessen Spiegel es ihm ermöglichten, mehrere Fluchtpunkte zu verwenden. Und der weibliche Akt begleitete ihn sein Leben lang, etwa als "Verkündigung" von 2004, wo die nackte Madonna in einem klinisch weißen Raum per Telefon über die Unbefleckte Empfängnis informiert wird. Seine Kunst wurde immer politischer Dass Richard Hamiltons Kunst immer politischer wurde, nahmen ihm manche übel. Anfang der 80-er Jahre begann er sein Triptychon über die Unruhen in Nordirland, drei großformatige Gemälde, die man nicht so leicht vergisst: "Der Bürger" zeigt einen in eine Decke gehüllten Hungerstreikenden der IRA im Gefängnis, "Der Untertan" einen selbstgerecht dreinblickenden Protestanten mit den Insignien der 'Orangemen' und "Der Staat" einen britischen Soldaten auf Patrouille. Die Regierung von Margaret Thatcher bekam in der Installation "Treatment Room" ihr Fett ab: Ein leeres Krankenzimmer, auf einem Fernsehapparat über dem Bett läuft eine Rede der Premierministerin, doch der Ton ist abgedreht; den auf Thatcher folgenden Labour-Premierminister Tony Blair stellte er als schießwütigen Cowboy mit zwei Revolvern im Halfter dar. Computeraffinität spiegelt sich in seiner Kunst Richard Hamilton war auch einer der ersten Künstler, der die Möglichkeiten des Computers erkannte und voll ausschöpfte. Der Computer gab dem "eingefleischten Collagisten", wie er sich bezeichnete, totale Kontrolle über die Elemente der Collage. Je raffinierter die Software wurde, desto subtiler wurde seine Arbeit. Schön zu sehen auf dem späten Gemälde "Hotel du Rhone" von 2005. Er zeigte sein Bild der Lobby des Berliner Hotels von 1984 in der Rezeption des Genfer Hotels du Rhone. Das daraus resultierende Bild, Öl auf Inkjet-Druck, zeigt seine Meisterschaft: Die Rezeption ist mit Zentralperspektive gemalt, der Fluchtpunkt links, außerhalb des Raums. Die an der Wand hängende Lobby hat mehrere Fluchtpunkte. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Perspektiven erzeugt eine fast beunruhigende Stimmung. Der letzte Raum ist dann ein bewegender Tribut an einen alten Mann, der wie ein junger Kunst machte. Kurz vor seinem Tod im Alter von fast 90 Jahren konzipierte er eine Schau für die Londoner National Gallery, die mit seinem, wie er sagte, letzten Werk enden sollte. Er vollendete es am 11. September 2011, zwei Tage vor seinem Tod - Ein Triptychon nach der Novelle "Das Unbekannte Meisterwerk" von Honoré Balzac, über einen Künstler, der den perfekten weiblichen Akt malen möchte, aber nur wirre Linien und Flächen zustande bringt. Hamilton schuf drei Gemälde, die nicht das fertige Bild zeigen, sondern die schöne nackte Kurtisane auf dem Sofa, dahinter die drei Maler, die das Werk begutachten sollen: Tizian, Poussin und Courbet. Und die drei Gemälde sind gar keine Gemälde, sondern im Computer hergestellte Inkjet-Drucke - Hamilton als der Altmeister, der den Pinsel mit Computer und Drucker vertauscht hat.
Von Hans Pietsch
Hamilton galt als Urvater der Pop-Art, bereits vor Andy Warhol, den man mit Pop-Art wohl am ehesten in Verbindung bringt. Hamilton bezeichnete Pop-Art als kurzlebig, entbehrlich und billig, aber auch als jung, und sexy. In der Londoner Tate findet derzeit eine Ausstellung über sein Lebenswerk statt.
"2014-02-14T17:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:26:21.075000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pop-art-richard-hamilton-retrospektive-100.html
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Wegweisende Entscheidungen
FIFA-Präsident Gianni Infantino (picture alliance / Patrick Seeger/dpa) An diesem Dienstag tagt zunächst das FIFA-Council, bestehend aus 37 Mitgliedern. Erstmals dabei auch DFB-Präsident Reinhard Grindel. Das Gremium soll den Beschluss des neuen Council-Büros zur Umsetzung der Mammut-WM mit 48 Teilnehmern absegnen. Demnach sollen bei der Verteilung der 16 zusätzlichen Startplätze nur drei nach Europa gehen. Die anderen 13 verteilen sich auf die fünf weiteren Kontinentalverbände. Viele kleinere und mittelgroße Fußballnationen in Europa hatten sich Hoffnung gemacht, bei einer größeren WM eher zum Zuge zu kommen. Eine in der Fußballwelt umstrittene Entscheidung, weil ein Qualitätsverlust befürchtet wird. Andererseits sind so aus anderen Teilen der Welt mehr Länder dabei. Entmachtung des FIFA-Councils Auf der Agenda des FIFA-Councils steht heute aber auch die Aufwertung des neuen Council-Büros. Dieses ist - anders als der Titel verheißt - kein Sekretariat, sondern ein enger Kreis von Top-Funktionären, die nochmal wie ein Gremium im Gremium agieren. Zum Council-Büro gehören FIFA-Präsident Gianni Infantino sowie die sechs Präsidenten der Kontinentalverbände. Diese sollen zahlreiche Entscheidungen in Eigenregie treffen können. Also wie ein kleiner Führungskreis innerhalb der FIFA-Regierung, der deutlich mehr zu sagen hat und dann das Council als ja eigentliche Instanz entmachtet. Was geschieht mit den FIFA-Ethikern? Am Mittwoch und Donnerstag findet der FIFA-Kongress statt. Dieser wird am Donnerstag voraussichtlich die Beschlüsse des Rates durchwinken. Interessant sind vor allem die Punkte 13 und 14. Punkt 13 ist die Wahl oder Absetzung der Ethik-Kommissionsmitglieder, also diejenigen Personen, die den FIFA-Spitzenvertretern auf die Finger schauen sollen. Das sind der Schweizer Cornel Borbely, Chef der ermittelnden Kammer und der deutsche Richter Hans-Joachim Eckert, Chef der rechtssprechenden Kammer. Die haben in der letzten Zeit dafür gesorgt, dass so einige hochrangige Funktionäre suspendiert wurden (prominentestes Beispiel Joseph Blatter). Aber jetzt wird das Infantino wohl zu unbequem. Er arbeitet offenbar daran, die beiden abzusägen. Thema: Fußball-WM 2026 Bei Punkt 14 ist vor allem Unterpunkt 1 interessant: Hierbei geht es um die vorzeitige Vergabe der Fußball-WM 2026 an Kanada, USA und Mexiko. Die drei Verbände haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Sie wollen wegen der politischen Unsicherheit – Stichwort Trump und Mauer zu Mexiko - möglichst frühzeitig Planungssicherheit haben. Momentan sind sie die einzigen Bewerber. Aber wenn alles seinen geregelten Gang gehen würde, könnten sich andere Länder das noch drei Jahre überlegen. Eigentlich soll diese WM erst 2020 vergeben werden. Wenn der Kongress das durchwinkt, dann brauchen andere Länder erst gar nicht mehr darüber nachdenken. Dabei stellt sich ohnehin die Frage, welches Land realistisch überhaupt in der Lage wäre, eine WM durchzuführen. Alle Interessenten aus Asien und Europa fallen raus, weil mit Russland und Katar diese beiden Kontinente gerade erst zum Zuge kamen. Und dann ist die Frage, wer kann eine solche Riesen-WM überhaupt organisatorisch stemmen? Also können wir davon ausgehen, dass das am Donnerstag festgezurrt wird. Dazu die Position von DFB-Präsident Reinhard Grindel: Er habe durchaus "Sympathie" für die Dreier-Bewerbung, und er glaubt, "dass die am Ende sehr gute Chancen haben wird". Allerdings sei eine zu eilige Vorvergabe genau zu prüfen. "Im Interesse von Good Governance sollte überlegt werden, ob eine Vorfestlegung wirklich klug ist, oder an einem geregelten Bewerbungsverfahren festgehalten werden sollte."
Von Jessica Sturmberg
Die FIFA tagt ab heute in Bahrain und es stehen einige fragwürdige Entscheidungen an. Darunter die Rolle des Council-Büros, die Zukunft der FIFA-Ethiker, die vorzeitige WM-Vergabe an Kanada, USA und Mexiko sowie die Umsetzung der Mammut-WM mit 48 Teilnehmern.
"2017-05-09T22:56:00+02:00"
"2020-01-28T10:27:01.801000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-kongress-wegweisende-entscheidungen-100.html
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Russische Funktionäre lebenslang gesperrt
WADA, die Welt-Anti-Doping-Agentur wirft Russland systematisches Doping vor (dpa / picture alliance / Robert Ghement) Vertuschung eines Dopingfalls, Bestechung und Erpressung. Die Vorwürfe wiegen schwer und die Strafen sind drastisch. Im Doping-Skandal des Weltleichtathletik-Verbands hat die IAAF-Ethikkommission heute drei lebenslange Sperren verhängt. Gegen Valentin Balachnitschew, ehemals IAAF-Schatzmeister und Präsident des russischen Verbands, gegen Alexej Melnikow, früherer russischer Cheftrainer und Papa Massata Diack. Der Sohn des ehemaligen IAAF-Präsidenten Lamine Diack war als Marketing-Beauftragter für den Weltverband tätig. Zudem hat die Ethikkommission Gabriel Dollé, den ehemaligen Anti-Doping-Chef des Verbands für fünf Jahre aus dem Verkehr gezogen. Dem Quartett wird ein mehrfacher Verstoß gegen die Regeln des Ethik-Codes zur Last gelegt. Es geht um den vertuschten Dopingfall der russischen Marathonläuferin Lilija Schobuchowa. Sie soll sich ihren Start bei den Olympischen Spielen von London mit 450 000 Dollar erkauft haben, um eine drohende Doping-Sperre zu vermeiden. Noch nicht unter den Gesperrten ist dagegen der langjährige Verbandschef Lamine Diack, gegen den die französische Justiz Anklage erhoben hat wegen des Verdachts der Geldwäsche und Bestechlichkeit. Sein Nachfolger als IAAF-Präsident Sebastian Coe, bezeichnete die Sperren heute als Neuanfang. Die Sperren könnten keine stärkere Botschaft sein, um zu zeigen, dass jene, die versuchten, die Leichtathletik untergraben, vor Gericht gebracht würden, so Coe.
Von Matthias Friebe
Vertuschung eines Dopingfalls, Bestechung und Erpressung. Die Vorwürfe wiegen schwer und die Strafen sind drastisch. Im Doping-Skandal des Weltleichtathletik-Verbands hat die IAAF-Ethikkommission heute drei lebenslange Sperren verhängt.
"2016-01-07T22:53:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:41.335000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leichtathletik-russische-funktionaere-lebenslang-gesperrt-100.html
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Wirbel um hungerstreikendes Pussy-Riot-Mitglied
18:30 Uhr, die Sendung Pramoj Efir im russischen Staatfernsehen. Auf deutsch heißt sie "Live im Äther", doch anders als der Titel verspricht, wurde die Sendung vorab aufgezeichnet. Das Thema, "Pussy Riot" und die Debatte um die Zustände im russischen Strafvollzug, sei politisch zu heiß, hieß es von den Planern der Sendung. Man wolle die Möglichkeit haben, vor der Ausstrahlung noch etwas zu korrigieren. Die Schnitte in der Sendung sind denn auch kaum zu übersehen.Auf der Studiocouch sitzt ein Mann in Uniform: Jurij Kuprianow, der stellvertretende Direktor des Lagers, in dem Nadjeschda Tolokonnikowa ihre Strafe abbüßt. Er bekommt als erster das Wort.Es gehe ihr bestens, sie fühle sich gut, sagt er. Kuprianow war es, der Tolokonnikowa deren Angaben nach mit dem Tode gedroht haben soll. In dem offenen Brief, in dem die Künstlerin die verheerenden Haftbedingungen kritisiert, steht über ihn zu lesen, er habe die Neuankömmlinge mit den Worten begrüßt: "Ihr müsst wissen, ich bin meinen politischen Ansichten nach Stalinist." Zwei ehemalige Mithäftlinge Tolokonnikowas betreten das Fernsehstudio. Die eine ist erst vor zwei Tagen vorzeitig entlassen worden. Nadjeschda Tolokonnikowa berichtet in ihrem Brief von Gewaltexzessen, eine Frau sei sogar zu Tode geprügelt worden. "Ein Lager ist keine Anstalt für höhere Töchter, natürlich gibt es da mal Prügeleien. Aber in all den sieben Jahren, die ich gesessen habe, ist keine einzige Insassin in meiner Gegenwart so zugerichtet worden, wie Nadjeschda es beschreibt."Die Frau, von der im Brief die Rede ist, sei in Wirklichkeit an HIV gestorben. Ein Menschenrechtler im Studio widerspricht. Er setzt sich nicht durch.Tolokonnikowa selbst kommt in der Sendung nur in Ausschnitten zu Wort. Sie sitzt auf einer Bank, im Hintergrund sind Baracken zu sehen, sie trägt ein sauberes weißes Tuch über den Schultern, lächelt viel. "Ich denke, der Mensch muss jeden Tag, jede Stunde produktiv nutzen. Deshalb möchte ich keine einzige Minute aus meinem Leben streichen. Und man kann auch hier seine Persönlichkeit weiter entwickeln. Es ist unglaublich interessant hier, hier trifft man Leute, die man in der Freiheit nie treffen würde."Das Interview wurde bereits im Sommer aufgezeichnet. Über Missstände sagt Tolokonnikowa dort nichts. Es sind aber eben auch nur Ausschnitte eines Gesprächs. Für die kremltreue Politologin Veronika Krascheninnikowa dennoch Beweis genug dafür, dass die Künstlerin sich die Anschuldigungen in den letzten Wochen nur ausgedacht hat. "Dieses Mädel hat jetzt keine andere Wahl, als immer dreistere Forderungen zu stellen. Sie braucht Aufmerksamkeit. Sie ist psychologisch der Urtyp einer Prinzessin."Nadjeschda Tolokonnikowa liegt derzeit im Krankenhaus. Sie ist seit acht Tagen im Hungerstreik. Ihre Anwälte sagen, ihnen werde seit drei Tagen der Zutritt zu ihrer Mandantin verwehrt.
Von Gesine Dornblüth
Eine der inhaftierten Pussy-Riot-Sängerinnen, Nadjeschda Tolokonnikowa, ist vor kurzem in Hungerstreik getreten, als letztes Mittel, weil sie im Straflager nicht mehr sicher sei. Tolokonnikowa hatte zuvor über unmenschliche Arbeitsbedingungen geklagt. Nun widmete das russische Staatsfernsehen der berühmten Inhaftierten eine Sendung.
"2013-10-01T05:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:38:12.703000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wirbel-um-hungerstreikendes-pussy-riot-mitglied-102.html
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Neustart der Saturn-Rakete
Ein wichtiger Baustein des Mondflug-Programms war die Trägerrakete, die für den Flug zum Mond eine besonders große Schubkraft haben musste. Wernher von Braun hatte dafür die Saturn-Familie konzipiert und sich dabei teilweise auf vorausgegangene Raketentypen gestützt.Den Anfang hatte die Saturn 1 gemacht, für deren erste Stufe Bauteile der Jupiter- und Redstone-Raketen genutzt wurden. Die zweite Stufe wurde dagegen völlig neu konstruiert.Zwischen Oktober 1961 und Juli 1965 gab es zehn erfolgreiche Tests dieser Rakete – zuletzt mit noch unbemannten Apollo-Kapseln. Es folgten drei ebenso erfolgreiche Testflüge der Saturn 1 B.Nach insgesamt 13 fehlerfreien Starts in Folge ereignete sich die erste Katastrophe in der bemannten amerikanischen Raumfahrt: Drei Astronauten verbrannten beim Training in ihrer Apollo-Kapsel. Während der anschließenden fast zweijährigen Zwangspause wurden zahlreiche Änderungen an dem Apollo-Raumschiff vorgenommen, ehe heute vor 45 Jahren die Testserie mit der ersten Saturn-5-Rakete wieder aufgenommen wurde. Die Saturn 5 war mit einem Startschub von fast 34.000 Kilonewton eine der stärksten Raketen, die je gebaut wurden. Sie kam insgesamt 13 Mal zum Einsatz und versagte nie. Danach wurde das Apollo-Programm vorzeitig eingestellt.Mehr zur Saturn-V-RaketeDie Geschichte der Saturn-V-Rakete Die Saturn-Raketenfamilie (NASA)
Von Hermann-Michael Hahn
Die Zahl 13 spielte im Apollo-Programm der amerikanischen Weltraumbehörde NASA anscheinend eine besondere Rolle – und das nicht nur wegen der beinahe gescheiterten Mission Apollo 13.
"2012-11-09T00:00:00+01:00"
"2020-02-02T14:31:43.542000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neustart-der-saturn-rakete-100.html
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Grüne wollen Maghreb-Staaten nicht zu sicheren Herkunftsländern machen
Über den Gesetzentwurf soll kommende Woche im Bundesrat abgestimmt werden. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm) Alle Länder der europäischen Union, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Albanien, Serbien, Montenegro, Kosovo, Ghana und der Senegal. Diese Länder haben alle etwas gemeinsam: Sie gelten nach deutschem Recht als sichere Herkunftsstaaten. Jemand der aus einem dieser Länder kommt, hat nur eine sehr geringe Chance bei uns Asyl zu bekommen. Vorhaben könnte im Bundesrat scheitern Die Große Koalition möchte, dass auch die drei Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten werden. Im Bundestag ist das bereits beschlossen, nun könnte das Vorhaben allerdings in der kommenden Woche im Bundesrat scheitern – am Widerstand der Länder mit grüner Regierungsbeteiligung. Das berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Die Grünen waren schon bei vorangegangenen Abstimmungen zu sicheren Herkunftsstaaten das Zünglein an der Waage. Doch bislang hat die Stimmen Hessens, wo die Grünen Juniorpartner sind und Baden-Württembergs, wo die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, die erforderliche Mehrheit gebracht. Dieses Mal hadert Winfried Kretschmann jedoch offenbar. Er hatte bereits angekündigt, den Gesetzentwurf genau zu prüfen. Das ist so auch im grün-schwarzen Koalitionsvertrag festgelegt worden: Die im Bundesrat anstehende Entscheidung werde unterstützt, falls die entsprechenden hohen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorlägen heißt es dort. Bei den Grünen bestehen jedoch genau daran Zweifel. Denn im Grundgesetz heißt es, solche Staaten können zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, bei denen es gewährleistet erscheine, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfänden. Das sehen die Grünen für die Maghreb-Staaten nicht gegeben. Bestätigt sehen sie sich auch durch eine kleine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion an die Bundesregierung von der die "taz" berichtet. In der Antwort der Regierung heißt es, dass es in Tunesien häufig gewalttätige Übergriffe auf Schwule, Lesben und Transsexuelle gebe und sie ebenso häufig Diskriminierungen ausgesetzt seien. Zudem widerspricht die Bundesregierung auch dem nicht, dass in Tunesien Folter durch staatliche Stellen gebe, wenn auch weniger als früher. Alterniv-Konzept aus Schleswig-Holstein Aber selbst wenn Baden-Württemberg und Hessen zustimmen würden, würde das nicht ausreichen. Seit den vergangenen Landtagswahlen sind die Grünen mit Sachsen-Anhalt noch in einem Bundesland mehr – und damit in zehn insgesamt in der Koalition. Es müssten also drei grün-mitregierte Länder zustimmen. Möglich wäre hingegen, dass die Grünen, so berichtet es die "FAZ", eine Bundesratsinitiative mit einem Alternativ-Konzept einbringen - ausgearbeitet vom grünen stellvertretenden Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Robert Habeck. Er plädiert für ein neues System, mit einem beschleunigten Verfahren für Asylbewerber aus solchen Ländern mit einer niedrigen Schutzquote, sprich, deren Asylantrag nur in seltenen Fällen angenommen wird, was vor allem Menschen aus den Ländern betreffen würden, die nun sichere Herkunftsstaaten sind oder als solche eingestuft werden sollen. Das soll aus Habecks Sicht in einem gesetzlichen Automatismus festgelegt werden.
Von Katharina Hamberger
Wenn es nach der Großen Koalition geht, so sollen Algerien, Tunesien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Kommende Woche könnte dieses bereits vom Bundestag beschlossene Vorhaben durch den Bundesrat gekippt werden: Insgesamt müssten drei grün-mitregierte Länder dem Vorhaben zustimmen - doch die Grünen sind dagegen.
"2016-06-09T12:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:22.226000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gesetzentwurf-gruene-wollen-maghreb-staaten-nicht-zu-100.html
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Handelsstreit zwischen USA und China trifft auch deutsche Firmen
Verkaufsmanager Xu Tau neben einem SUV GLE im Mercedes-Autohaus im Pekinger Stadtbezirk Haidian (Deutschlandradio/ Benjamin Eyssel) Ein Mercedes-Autohaus im Pekinger Stadtbezirk Haidian. Blitzblank geputzt warten die neuesten Modelle auf mehreren Stockwerken auf Käufer. Die meisten Wagen des deutschen Herstellers, die hier ausgestellt werden, sind in China gebaut worden. Ein paar Modelle kommen aber auch aus Daimler-Werken in den Vereinigten Staaten. Für Fahrzeuge, die in den USA gebaut werden, wie das SUV GLE, kommen jetzt beim Einkauf 25 Prozent Zoll obendrauf, sagt Xu Tao, Verkaufsmanager im Autohaus: "Der Handelsstreit zwischen den Ländern wird uns Geschäftsleute am meisten betreffen. Wenn der Staat Einfuhrzölle erhebt, steigen für uns die Einkaufskosten. Am Ende wird der höhere Preis auf die Verbraucher umgelegt." Um wie viel die Autos letztendlich für die Käufer teurer werden, hänge auch davon ab, wie viel der Konzern davon abfedert, so Xu Tao. Auch die Händler hätten Spielraum. Deutsche Industrie in China ist besorgt "Das Inkrafttreten der Zölle am 6. Juli bedeutet eine neue Stufe der Eskalation." Hanna Müller vertritt den Bundesverband der Deutschen Industrie in China. Sie warnt vor Unsicherheiten für das globale Handelssystem: "Von zahlreichen deutschen Unternehmen, die in beiden Ländern Niederlassungen haben und Waren direkt aus den USA nach China oder in die entgegengesetzte Richtung verkaufen, werden die Maßnahmen auch mit größter Sorge betrachtet." Daimler hat erst vor kurzem eine Gewinnwarnung herausgegeben, unter anderem wegen des Handelsstreits. Auch BMW baut Autos in den USA, die in China verkauft werden. Die chinesische Reaktion kam prompt, kurz nachdem die USA ihre Zölle verhängt hatten. Im chinesischen Staatsfernsehen verliest die Ansagerin eine Erklärung. Die USA hätten den größten Handelskrieg in der Geschichte angezettelt. China habe keine andere Wahl als zum Gegenschlag auszuholen. Und so verhängt die Volksrepublik ebenfalls Einfuhrzölle auf US-Einfuhren in gleicher Höhe wie die USA. Chinas Premier sucht in Europa nach Verbündeten Eine Pressekonferenz in Sofia – nur wenige Stunden, nachdem die Zölle in Kraft getreten sind. Li Keqiang ist zu Gast in der bulgarischen Hauptstadt. Chinas Premierminister sucht in Europa Verbündete. Er trifft sich am Wochenende mit osteuropäischen Staats- und Regierungschefs. Anschließend fliegt Li Keqiang weiter nach Berlin, wo am Montag deutsch-chinesische Regierungskonsultationen stattfinden: "Wir sind der Meinung, dass ein Handelskrieg nie eine Lösung sein kann. China würde nie einen solchen starten, aber wenn andere einfach ihre Zölle erhöhen, dann wird die Volksrepublik darauf reagieren - um unsere Interessen zu schützen, um die Berechtigung und Wirkungskraft der Welthandelsorganisation aufrecht zu halten und um den multinationalen Handel zu schützen." Die chinesische Staats- und Parteiführung spricht schon jetzt von einem Handelskrieg. Nick Marro findet das verfrüht. Er ist Experte in Hongkong bei der Analysefirma Economist Intelligent Unit. Dafür seien die Zölle auf Waren in Höhe von rund 35 Milliarden US-Dollar zu niedrig. Wenn Donald Trump tatsächlich seine Androhung wahrmachen sollte und Zölle auf Waren in Höhe von 400 Milliarden Dollar einführt, hätte das weitreichende Konsequenzen, sagt der Analyst. Die weltweite Lieferkette würde unterbrochen, das Wirtschaftswachstum in China und den USA um ein paar Prozent einbrechen und vor allem die weltweite Sicherheit könne darunter leiden, so Nick Marro. Chinas Zölle sind sehr bewusst gewählt Bislang wird in China kein großer Schaden erwartet. Die von der Volksrepublik verhängten Zölle sind wohl ganz bewusst gewählt worden. Die Abgaben auf Agrarprodukte werden zum einen vor allem ländliche US-Bundesstaaten treffen, die Donald Trump gewählt haben. Zum anderen sind sie leicht zu ersetzen. China hat bereits die Einfuhrzölle auf Sojabohnen für viele asiatische Länder abgeschafft. Im Pekinger Mercedes-Autohaus erklärt ein Verkäufer einem jungen chinesischen Ehepaar aus der aufstrebenden Mittelschicht ihre neue E-Klasse. Der Zweitwagen für die Frau ist in China gebaut worden, Import-Zölle fallen auf ihn ohnehin nicht an. Wegen des Handelsstreits macht sich das Paar keine Sorgen – schon gar nicht wegen höherer Importzölle bei Autos. Wer sich einen Mercedes leisten kann, dem machen auch ein paar Prozent mehr Zoll nichts aus, sagt der junge Mann.
Von Benjamin Eyssel
In den USA gelten jetzt Strafzölle für rund 800 chinesische Produkte. China hat prompt reagiert und schlägt nun seinerseits 25 Prozent drauf bei der Einfuhr etwa von Agrarprodukten aus den USA. Doch auch deutsche Unternehmen verkaufen Waren aus den USA nach China, zum Beispiel Autos.
"2018-07-07T13:50:00+02:00"
"2020-01-27T18:00:47.631000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/strafzoelle-handelsstreit-zwischen-usa-und-china-trifft-100.html
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Roboter schubsen, kraulen und zwicken
Ein Roboter mit einem Kind. Eine Forscherin will Robotern beibringen, auf Berührungen zu reagieren. (CITEC/Universität Bielefeld) "Wenn ich diesen Arm streichele, kann man auf dem Monitor - dort, wo ich streichele, wird die Grafik rot. Wenn ich ganz fest zudrücke, wird alles rot. Wenn ich den Arm gar nicht berühre, bleibt die Grafik blau. Das ist eine Visualisierung, die zeigt, wie die Daten aussehen." Merel Jung sitzt in ihrem Labor an der niederländischen Universität Twente und streichelt den Arm einer Schaufensterpuppe. Auf dem Unterarm befindet sich eine Manschette mit 64 Drucksensoren. Der Arm kann damit – so ähnlich wie ein menschlicher Arm – Berührungen wahrnehmen. Aber nicht nur das. Die Psychologin hat ihn genutzt, um einem Computersystem beizubringen, menschliche Berührungen zu verstehen. "Die Testpersonen saßen vor dem Arm, so wie wir jetzt sitzen. Und auf dem Computerbildschirm bekamen sie Anweisungen. Zum Beispiel: Fest zugreifen! Und das taten sie dann. Oder: Sanft streicheln! Das Besondere war, dass sie sonst keine Informationen bekamen. So haben wir eine große Datenbank von sozialen Berührungen zusammenbekommen." Charakteristische Eigenschaften von Berührungen berechnen Insgesamt 31 Personen kratzten, schlugen, kitzelten oder rieben den künstlichen Arm. 14 solcher Interaktionen sollte jeder auf seine ganz persönliche Art ausführen. "Daraus konnten wir charakteristische Eigenschaften mancher Berührungen berechnen. Zum Beispiel die Veränderung der Kontaktfläche der Hand: Beim Streicheln bewegt die sich. Bei einem Griff ist sie statisch. Und mit diesen Eigenschaften haben wir einem Algorithmus beigebracht, die Gesten zu unterscheiden." Es ist kein Zufall, dass Merel Jung gerade jetzt erforscht, wie man mit Robotern über Berührungen kommunizieren kann. Schließlich kommen die Maschinen uns immer näher. "Früher waren Roboter noch gefährlich und man durfte nicht zu nah an sie ran, etwa in Fabriken. Aber jetzt kann man sie anfassen. Und Berührungen sind ein Signal, das man nutzen könnte. Profitieren könnten etwa Menschen, die sich kein Haustier zulegen können. Die könnten ein Roboter-Haustier haben. Oder Roboter in der Pflege, die Menschen unterstützen. Und wenn man mit Robotern arbeitet und man einfach sagen will: "Aus dem Weg!" Dann könnten Berührungen auch wichtig sein." Gesten werden in 60 Prozent der Fälle korrekt erkannt Reine Hinderniserkennung beherrschen viele Roboter heute schon und können Menschen so aus dem Weg gehen. Doch wirklich verstehen können sie Berührungen noch nicht. Das System von Merel Jung ist auch noch lange nicht perfekt. Es erkennt die Gesten in 60 Prozent der Fälle korrekt. Klingt nach nicht viel, ist aber beachtlich, wenn man bedenkt, wie kompliziert für uns selbstverständliche Berührungen in Wirklichkeit sind. "Ich persönlich achte jetzt viel starker auf Berührungen. Und ich denke: "Woher weiß ich, was die Menschen damit meinen?" Aus irgendeinem Grund versteht man Berührungen einfach. Ich weiß nicht so recht, wie Menschen das machen. Umso schwerer ist es, das einer Maschine beizubringen." Damit das besser klappt, hat Merel Jung ihre Daten anderen Forschern zur Verfügung gestellt. So können die ihre eigenen Algorithmen trainieren. Derzeit versucht die Psychologin, weitere Informationen darüber zu sammeln, wie Menschen mit Maschinen kommunizieren: Sie beobachtet, wie Testpersonen mit einem künstlichen Haustier umgehen. So gewinnt sie weitere Einblicke, die Maschinen irgendwann dabei helfen könnten, uns Menschen besser zu verstehen.
Von Piotr Heller
Mit Robotern kommunizieren wir schon über Knöpfe, Touch-Screens und manchmal auch über Sprache. Eine Forscherin in den Niederlanden arbeitet daran, den Maschinen beizubringen, auch menschliche Berührungen zu erkennen. Sie sollen lernen, Streicheln, Kneifen oder Schubsen zu unterscheiden.
"2017-02-03T16:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:13.696000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fuehlende-maschinen-roboter-schubsen-kraulen-und-zwicken-100.html
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Demokratisch und voller Seele
Sängerin Brittany Howard der US-Band The Alabama Shakes während des 46. Montreux Jazz Festivals 2012. (picture alliance / dpa / Laurent Gillieron) Musik "Gemini" - Alabama Shakes "Bei unserem ersten Auftritt sahen uns die Leute an, als ob sie sagen wollten, 'was ist das denn für eine Band ?' Von einer Band erwartet man, dass sie alle dasselbe anhaben, enge schwarze Jeans, und gleich aussehen, das war bei uns anders. Wir sind ein zusammengewürfelter Haufen." Die Alabama Shakes: laut Sängerin und Gitarristin Brittany Howard ein zusammengewürfelter Haufen - und eine richtig demokratische Band, sagt Gitarrist Heath Fogg. "Alle Entscheidungen werden von uns Vieren getroffen, egal ob es um die Musik geht, um das Design von Band T-Shirts, um Tourneen oder um Geschäftliches an sich. Das war schon immer so, wirklich demokratisch. Bei Konzerten sind wir ganz froh, dass wir nicht so im Rampenlicht stehen wie Brittany, aber wenn es um die Zukunft dieser Band geht, entscheiden wir alle gemeinsam." Demokratisch und voller Seele - die US-Band Alabama Shakes, eine Sendung von Michael Frank. Musik "Hang Loose” - Alabama Shakes Die Alabama Shakes kommen tatsächlich aus Alabama im Süden der USA. Die Band wurde 2009 in der Kleinstadt Athens gegründet, etwa 20.000 Menschen leben dort. Nach zwei Jahren Tingeln durch Bars und Clubs der Umgebung nahm die Band in Eigenregie ihr erstes Album auf: vorbei die Zeiten, in denen sie überwiegend Songs anderer nachspielten. "Boys and Girls", das Debütalbum der Alabama Shakes, präsentiert ausschließlich Eigenkompositionen. Es klingt, als ob tiefer Südstaaten-Soul und unprätentiöse Rockmusik nach jahrzehntelangem Überwintern endlich wieder zueinander gefunden hätten. Ein Jahr nach Veröffentlichung im April 2012 hatte sich die Platte allein in den USA 500.000mal verkauft. Der Song, der gerade von dieser Platte zu hören war, stammt ursprünglich von Gitarrist Heath Fogg. Als er ihn dem Rest der Band vorstellte, war das noch ein Country-Song, aber im gemeinsamen Schaffensprozess wurde er ziemlich bald umgemodelt. Nicht dass ein Country-Song im Repertoire der Alabama Shakes undenkbar wäre, musikalische Scheuklappen kennt die Band nicht. Einem Reporter erzählte Brittany Howard einmal, ihre musikalische Ausbildung sei grenzenlos gewesen. "Ich meinte damit, dass Musik allgegenwärtig ist - ich kann von allem etwas lernen. Ich muss es nur wahrnehmen und zuhören. Selbst wenn mir etwas im Radio nicht gefiel, dann sagte ich mir halt ganz bewusst: ' das mag ich nicht, und zwar aus dem und dem Grund. So was möchte ich nicht machen'. Oder es gab Musik, die mich herausforderte. Einfluss auch von Björk Ich bekam einmal eine Platte von Björk in die Hand, und ich merkte, irgendetwas daran sprach mich an, aber ich wusste nicht genau was. Aber mir war auch klar, dass ich davon etwas lerne. Alles, was ich je gehört habe, ist irgendwo tief in meinem Geist gespeichert. Und wenn ich anfange, Songs zu schreiben, kann ich darauf zurückgreifen: vielleicht auf besondere Taktarten, die mir im Jazz begegnet sind, oder auf einen starken James Brown-Groove – daraus muss dann nicht eine Jazz-Nummer werden, oder ein James Brown-Track, aber all diese Einflüsse kommen dann zusammen." Musik "Sound And Color” - Alabama Shakes Das war eine ganz andere Seite der Alabama Shakes – die Ouvertüre und der Titelsong ihres zweiten Albums "Sound and Color". Hier spielt Brittany Howard nicht nur Gitarre sondern auch Vibraphon – und an dem Streicherarrangement war sie auch beteiligt. Das Album erschien im Frühjahr 2015 und machte klar, dass die Alabama Shakes sich nicht mit der Wiederholung des Erfolgsrezepts vom ersten Album zufrieden geben wollten. Für ihr zweites Album erweiterte die Band ihre Klangfarben-Palette enorm, und auch der Gesang von Brittany Howad hat sich weiter entwickelt. Wer die Ausdrucks- und Wandlungsfähigkeit von Brittany Howards Stimme kennt, kann sich kaum vorstellen, dass ihr dieses Talent anfangs gar nicht bewusst war. "Mit der Musik fing ich nicht an, weil ich singen konnte, ich hatte keine Ahnung davon, dass ich eine gute Sängerin war. Singen war für mich Mittel zum Zweck: ich wollte kreativ sein, meine eigenen Songs schreiben. Ich habe angefangen zu singen, weil ich die Musik veröffentlichen wollte, ich habe Demos von meinen Songs aufgenommen, habe da alle Instrumente selber gespielt und halt auch gesungen. Nach einer Weile sagten die Leute, das klingt toll, und eine enge Freundin sagte: ich wusste gar nicht, dass Brittany singen kann. Dann dachte ich mir, vielleicht kann ich ja tatsächlich gut singen. Als ich anfing, habe ich nie groß darauf geachtet; heute sagt mir das jeder. Mit den Song-Demos habe ich so mit 13, 14 angefangen. Aber erst als ich 15 war, bekamen das auch andere Leute zu hören – ich musste ja erst mal üben." Die Wurzeln der Band Alle Mitglieder der Alabama Shakes kommen aus Athens, einer Kleinstadt im US-Staat Alabama. Brittany Howard und Bassist Zac Cochrell gingen auf dieselbe Highschool. Ihre gemeinsame Liebe zu Bands wie den Ramones, Led Zeppelin und AC/DC steht am Anfang einer musikalischen Partnerschaft, die Jahre vor der Gründung der Band begann. Zac Cochrell war damals etwa 17 Jahre alt, Brittany 16 – zu dem Zeitpunkt hatte sie immerhin schon zwei, drei Jahre lang alleine Song-Demos aufgenommen. "Wir kennen uns schon ewig, wir haben dieselbe Highschool besucht, und hatten gemeinsame Freunde. In meinem letzten Jahr an der Schule fingen wir an, zusammen Musik zu machen, sie hatte da noch zwei Schuljahre vor sich. Wir beide haben einfach herumgehangen und lauter verrückte Songs geschrieben, ein paar waren richtig gut, und ein paar echt schlecht. Wir haben uns fast jeden Tag nach der Schule getroffen, Spaß gehabt und ein paar Sachen aufgenommen. Musik machen wir also schon sehr lange zusammen.” Musik "I Found You” Alabama Shakes Ein weiterer Song aus dem Debütalbum der Alabama Shakes. Wie einige andere von der Platte war er schon vor Gründung der Band von Brittany Howard und Zac Cochrell geschrieben worden, aber die endgültige Form erhielt er erst im Zusammenspiel aller vier Bandmitglieder. Steve Johnson, der Schlagzeuger der Alabama Shakes, kam auf Empfehlung von Cochrell zu den Jam-Sessions, die Howard zweimal wöchentlich im Haus ihrer Großeltern organisierte. Gitarrist Heath Fogg bot dem Trio an, bei einem Club-Gig als Vorgruppe seiner damaligen Band aufzutreten. Er war von der Musik der drei begeistert und half bei dem Konzert als zweiter Gitarrist neben Brittany Howard aus. Ihr Repertoire bestand damals überwiegend aus Cover-Versionen, allerdings war das eine erfrischend hemmungslose Mixtur, und auch hier war anscheinend das Prinzip Demokratie am Werk. Steve Johnson erinnert sich: "Auch Kompromisse" "Jeder hatte so seine Vorlieben, aber es gab auch Gemeinsamkeiten. Jeder kam bei Proben mit Vorschlägen an: 'ich möchte gern diesen Song von My Morning Jacket spielen', oder 'ich will einen von Sam and Dave spielen'. Oder einen von Loretta Lynn – oder von Black Sabbath. Ich hatte mehr Lust auf Rock 'n' Roll-Songs, Zac stand mehr auf langsamen R 'n' B-Nummern. So war das am Anfang. Es gab auch Kompromisse: angenommen, jemand wollte "Bohemian Rhapsody" von Queen spielen, dann sagten wir, 'na, das ist vielleicht ein bisschen zu schwer, lass uns "Stone Cold Crazy" oder "Fat-Bottomed Girls" versuchen, die sind etwas leichter.''' Nach dem ersten gemeinsamen Auftritt entschloss sich Heath Fogg rasch, festes Bandmitglied bei den Alabama Shakes zu werden. Die vier probten zwei-, dreimal die Woche und begannen die Arbeit an neuen, eigenen Songs. Das war es, wonach sich Gitarrist Heath Fogg nach all den Jahren in Coverbands gesehnt hatte. "Der erste Song, den wir zusammen als Gruppe komponiert haben, war "Be Mine". Das passierte ganz ungezwungen - ich war an der Gitarre, Zac am Bass, Steve spielte Schlagzeug und Brittany fing einfach an, etwas über diesen Groove zu singen, den wir gerade spielten. Viele Songs sind so entstanden, "Hold On" z.B. Wenn bei Konzerten Pausen entstanden, wo gerade nichts passierte, spielten Zac und ich oft so eine einfache Melodie, einfach als Pausenfüller oder als Überleitung zu etwas anderem. Zu Steve sagten wir, 'mach etwas ganz Einfaches dazu, bloß nichts Kompliziertes' – und bei einem Konzert spielten wir dieses Thema immer weiter und weiter, und Brittany improvisierte dann darüber. Daraus wurde dann "Hold On". Musik "Hold On” - Alabama Shakes Das war der erste Song vom Debütalbum der Alabama Shakes. Gleich zu Beginn verrät das Song-Ich dem Publikum: "Ich hätte nicht gedacht, dass ich 22 Jahre alt werden würde. Es muss da oben jemand geben, der sagt: 'Komm schon, Brittany, come on up.'” Trotz autobiografischer Momente wie diesen sind Brittany Howards Songtexte keine Bekenntnislyrik. Es gibt für sie noch ganz andere Inspirationsquellen. "Viele verschiedene Dinge können mich dazu bringen, einen Song zu schreiben. Wenn es in dem Song um mein eigenes Leben geht, drücke ich einfach meine Gefühle aus. Ich lasse mich aber auch von dem Leben anderer inspirieren, ich bin neugierig und habe Mitgefühl für andere, sehe, was sie gerade durchstehen müssen, und versuche mir vorzustellen, wie das ist. Filme können mich inspirieren, indem ich mir vorstelle, welche Begleitmusik ich dafür auswählen würde. Farben inspirieren mich, Stimmungen, Nostalgie, oder wenn, ich mich ganz entspannt fühle, oder ganz aufgeregt. Solche berwältigenden Gefühle können Ideen für einen Song auslösen." Musik "Gimme All Your Love" - Alabama Shakes "Ich versuche, mit möglichst wenigen Worten soviel wie möglich zu sagen. Deshalb verbringe ich viel Zeit mit dem Bearbeiten und Kürzen von Texten. Das nimmt bei mir am meisten Zeit ein. Ich kann ziemlich schnell die Skizze eines Songs entwerfen, das spielt sich größtenteils in meinem Kopf ab, und ich muss das dann ziemlich schnell festhalten, bevor die Inspiration weg ist, oder ich das Interesse daran verloren habe. Aber dann muss ich die Einzelteile zusammenfügen. Wenn ich an einem Demo arbeite, kann ich 18 Stunden hintereinander an einer Songidee arbeiten, damit etwas daraus wird, das ich dann den Jungs in der Band präsentieren kann. Aber es kann auch sein, dass so etwas ganz schnell geht. Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, wie das mit dem Songschreiben geht – im Moment passiert es einfach, wann es will. Aber auf jeden Fall weiß ich, dass man hart arbeiten muss, wenn man Songs schreiben will. Sie kommen nicht einfach zu Dir, wenn Du bloß 'rumsitzt. Du musst immer weiter arbeiten, all diese miesen Songs schreiben, um dann irgendwann ein Juwel dabei zu haben. Das habe ich jedenfalls gelernt." Vom 3/4 zu 4/4 in einem Song Der Anfang des Songs "Future People" birgt eine der vielen musikalischen Überraschungen des zweiten Albums der Alabama Shakes, eine Art akustischer Täuschung. Brittany Howard spielt hier allein ein Gitarren-Riff, der im 3/4-Takt zu stehen scheint, doch schon der dritte Takt wird nicht komplett zu Ende gespielt, die Band setzt auf der dritten Zählzeit des Taktes ein, und spielt nun einen verwandten Riff im 4/4 Takt. Der Zuhörer wird also buchstäblich auf dem falschen Fuß erwischt. Brittany Howard fand für dieses Stilmittel den schönen Begriff "organisierte Verwirrung". "Ich habe da einfach ein bisschen herumgepfuscht. Ich sah mir damals viele youtube-Videos mit afrikanischen Gitarristen an. Ihre Rhythmen sind sehr interessant, ganz anders als die der westlichen Welt. Ich wollte gar nicht besonders clever sein, ich fand so was einfach toll und wollte mal etwas Unkonventionelles ausprobieren, mit Rhythmen herumspielen und versuchen, mich selber durcheinander zu bringen. Das war so was wie organisierte Verwirrung. Und dabei kam dann das Intro von "Future People" heraus. Das ging alles sehr schnell mit dem Demo, ich habe da nicht viel drüber nachgedacht. Das Komische war, dass wir das dann erst mal wieder spielen lernen mussten, als ich das Demo zu Studioaufnahmen mitbrachte. Und ich musste erst mal überlegen, 'was ist das überhaupt für ein Takt ?'” Musik "Future People” - Alabama Shakes Das war gerade der Song mit dem Verwirrspiel aus 3/4- und 4/4 Takt. Die Art und Weise, wie die Alabama Shakes komponieren variiert von Song zu Song: manchmal entstehen die Stücke aus Kollektiv-Improvisationen, manchmal werden ausformulierten Songideen einzelner Bandmitglieder verfeinert. Und es gibt dabei den spontanen Ideenfluss innerhalb einer Band, die den musikalischen Gedankenaustausch pflegt und zu schätzen weiß, sagt Schlagzeuger Steve Johnson. "Wenn wir Songs schreiben, achten wir besonders auf das, was vom Schlagzeug kommen soll, nicht nur ich - jeder sagt da etwas zu. Manchmal ist das nicht leicht für mich, wenn drei Leute meine Ideen beurteilen, und nur ein oder zwei Leute die Gitarren- oder Bass-Parts, oder nur Brittany ihren Gesang selber kritisiert. Ich bekomme also von allen viele Ideen mit. Als wir den Song "You ain't alone" probten, kam Brittany irgendwie mit dem Gesangspart nicht weiter, sie wusste nicht genau, was sie da sagen wollte. Ich dränge niemandem Textideen auf. Ich schreibe zwar sehr gerne selber Songtexte, aber wenn man der Sänger ist, muss das von innen heraus kommen, Du kannst Dich nicht selber ausdrücken, wenn es die Gefühle eines anderen sind. Aber dieses eine Mal, fiel ihr nichts ein, und ich konnte eine Zeile zu dem Song beisteuern: 'Just let me be – your ticket home.'" Musik "You Ain't Alone” - Alabama Shakes "Diese eine Textzeile, war mein Beitrag zu dem Song "You ain't alone". Ich denke da nicht oft dran, ich will auch kein Lob dafür, aber ab und zu, wenn dieser Songteil kommt, und alle sind ganz still und hören dieser Zeile zu, oder sie singen alle mit, dann fällt mir ab und zu ein, 'hey, das ist ja von Dir und viele Leute kennen diese Zeile.' Ich habe schon Leute getroffen, die sich die Zeile auf einen Arm tätowieren ließen. Schon seltsam. Ich trage halt so kleine Dinge zu den Songs bei. Und manchmal spiele ich ganz gerne auch mal gar nichts: bloß weil ich der Schlagzeuger bin, heißt das ja noch lange nicht, dass ich die ganze Zeit spielen muss. Diese Band lebt davon, dass man den Songs Raum zum Atmen lässt. Einige meiner besten Ideen sind, manchmal einfach nicht zu spielen. Der freie Raum in einem Song kommt also manchmal von mir.” Das zweite Album der Alabama Shakes heißt "Sound and Color" und erschien im Frühjahr 2015. Die Band hatte schon fast das komplette Album in Nashville aufgenommen. Zum Abmischen ging es dann nach Los Angeles. Dort entstand das Finale des neuen Albums: "Over My Head". "Der Groove basiert auf einer Idee von Britanny" "Eigentlich sollten an diesem Tag gar keine Aufnahmen stattfinden, sondern nur fertige Songs abgemischt werden, es gab also eigentlich gar nichts zu tun für uns, aber wir hatten alle Lust noch einen Song für das neue Album aufzunehmen. Brittany hatte eine Song-Skizze auf ihrem Handy, mit einem sehr ungewöhnlichen Groove. Die Parts von Bass-Drum, Hi-Hat und Snare klangen sehr unabhängig von einander. Das war interessant, aber ich fand, dass ich das noch besser hinkriegen könnte, noch abstrakter. Ich machte mich also dran, den Schlagzeug-Part aufzunehmen, und am ersten Tag fiel mir das echt schwer. So was hatte ich bis dahin noch nie gespielt. Das war kein üblicher gerader Beat. Aber für das Ende des Songs fiel mir dann so ein zuckender, abgehackter Groove ein. Irgendwie haute das aber noch nicht richtig hin, und Blake Mills, unser Co-Produzent, meinte, 'lass doch mal die Hi-Hat weg', aber das brachte es auch nicht. 'Versuch's vielleicht noch mal mit Hi-Hat', und letztlich sagte ich zu Blake, 'gib mir noch diese Nacht Zeit. Ich muss mir noch mal überlegen, was ich da eigentlich spielen will. Wir nehmen das dann morgen auf.' Am nächsten Morgen wusste ich ganz genau, was ich wollte, und nach ein paar Takes war die Aufnahme im Kasten. Ich war von mir selbst beeindruckt, weil ich so was sonst nie spiele. Der Groove basiert auf einer Idee von Brittany, aber ich glaube ich hab' ihn noch etwas wirkungsvoller und schmackhafter gemacht." Musik "Over My Head” - Alabama Shakes Niemand, der die Alabama Shakes live erlebt, dürfte sich der ungeheuren Intensität von Brittany Howard entziehen können. Ich fühlte mich bei ihren Auftritten oft an das Charisma von Gospelsängerinnen erinnert, und ich würde sogar den Vergleich zu Soul-Ikone Otis Redding wagen. Eine solche Sängerin heutzutage als Teil einer bodenständigen Band zwischen Roots-Rock und Soul erleben zu dürfen – damit war nun wirklich nicht mehr zu rechnen. Wie viel von Brittany Howards Bühnenpräsenz entsteht eigentlich unbewusst, und wie viel davon ist ein bewusster Akt ? Lässt sich das überhaupt in Worte fassen ? "Ich glaube, das meiste passiert unbewusst, oder es beginnt vielleicht erst mal unbewusst. Aber zu aller erst ist das von dem jeweiligen Song abhängig, und von der Stimmung, vom Publikum. Wie fühlt sich der Saal an, wie fühle ich mich ? Bin ich nervös, angespannt, habe ich vor dem Publikum Angst ? Oder ist das Publikum wohlwollend ? Starren sie mich die ganze Zeit an bis ich mich unwohl fühle, oder lächeln sie mich an ? Das spielt alles eine Rolle, wenn man ein bestimmtes Gefühl im Saal vermitteln will. Wenn das Gefühl da ist , ist es leicht sich zu verlieren und unbewusst in dem Song aufzugehen, Teil von dem zu werden, was alle gerade gemeinsam tun. Ich sehe mir nicht oft Videos von meinen Auftritten an, aber ein paar Mal habe ich das schon gemacht, und die Person da auf der Bühne scheint jemand ganz anderer als ich zu sein. Musik "Be Mine” - Alabama Shakes Bei Konzerten zieht die Band das Ende dieses Stückes gerne in die Länge. So wird es zu einem der ekstatischen Höhepunkten des Abends. Neben dem emotionalen Tiefgang und der demokratischen Struktur ist ein weiteres Merkmal der Band ein klarer Blick auf die geschäftliche Seite des Musikmachens. Bassist Zac Cochrell betont, wie wichtig der Band die Unabhängigkeit von Plattenfirmen ist. "Die erste Platte haben wir ganz allein finanziert, sie hat nicht viel gekostet. Sie war im Grunde schon fertig, bevor wir einen Plattenvertrag bei einem Label unterschrieben haben. Bei dem zweiten Album haben wir es genauso gemacht. Wir haben das Geld für die Aufnahmen vorgestreckt. Wir versuchen, so wenig Geld wie möglich von Plattenfirmen anzunehmen, weil man das natürlich wieder zurückzahlen muss. Das ist schon gut, wenn man das vermeiden kann. Wir sind bei einem Label für den Vertrieb in den USA unter Vertrag, und bei einem anderen, das sich um den Rest der Welt kümmert. Die behandeln uns sehr gut, aber es ist schon toll, dass wir es uns leisten können, die Aufnahmen selber zu bezahlen, und uns keine Sorgen um Schulden machen müssen. Man kennt halt solche Geschichten von hochverschuldeten Bands – man weiß ja nie, ob sich eine Platte so gut verkauft wie man erwartet. Wenn Du also einen großen Vorschuss von der Plattenfirma bekommen hast, und die Platte verkauft sich schlecht, dann hast Du echt ein Problem." Gründungsmitglieder zwischen 27 und 31 Die vier Gründungsmitglieder der Alabama Shakes sind mittlerweile zwischen 27 und 31 Jahren alt. Harte Arbeit, Klugheit, Talent und die nötige Portion Glück haben ihnen nach zwei immens erfolgreichen Platten, vier Grammys und weltweiten Tourneen eine gewisse finanzielle Absicherung gebracht. Und kreativen Spielraum, betont Gitarrist Heath Fogg: "Ich glaube, es hat uns alle überrascht, wie gut sich die beiden Platten verkauft haben. Es ist schon die Verwirklichung eines Traums, wenn man seinen Lebensunterhalt als Musiker verdienen kann. Früher bin ich finanziell so gerade mal eben über die Runden gekommen, 200 Dollar für eine achtstündige Aufnahme-Session im Studio zu bezahlen, kam mir damals wie viel Geld vor, heute können wir uns meistens die Studios aussuchen, in denen wir aufnehmen wollen. Ich habe wirklich Glück gehabt. Vielleicht ermöglicht Geld einem vor allem, öfter Kunst zu machen. Ich glaube, das ist das Ziel eines jeden kreativen Menschen: das Hobby zum Beruf zu machen. Und wir können das glücklicherweise tun." Schlagzeuger Steve Johnson lebt mit seiner Frau und zwei Kindern seit sieben Jahren in dem selben Haus. Seine Sicht von Erfolg hat viel mit seiner Familie zu tun. "Mein Vater hatte ein paar gesundheitliche Probleme, er ist so um die 60 Jahre alt und arbeitet noch. Ich hatte mir vorgenommen, es ihm zu ermöglichen, in Rente zu gehen, damit er keinen Stress mehr hat, er sollte sich auch nicht mehr um das Abzahlen einer Hypothek oder so was kümmern müssen. Und glücklicherweise konnte ich meinen Eltern ein Haus kaufen. Ich bin stolz darauf, dass ich das für sie tun konnte. Ich glaube nicht, dass sich viele Leute Gedanken darüber machen, was Eltern alles für ihre Kinder opfern. Ich bin froh, dass ich jetzt so was für meine Eltern tun kann. Ich selber lebe nicht in einem riesigen Haus, aber es ist abbezahlt, ich lebe da mit meiner Familie, und so lange ich sie habe und wir alle zusammenhalten, ist mir das schon Erfolg genug. Ich bin stolz auf meine Familie. Dass ich einen Beruf habe, an dem ich Spaß habe, ist da nur noch das Sahnehäubchen.” Von der Arbeit ins Studio nach Nashville Bevor sich Musiker dazu entschließen, nur von der Musik zu leben, haben sie ganz normale Jobs. Im Fall der Alabama Shakes bedeutete das bei der Produktion der ersten Platte, nach der Arbeit, anderthalb Stunden nach Nashville zu fahren, dort die Songs aufzunehmen, dann wieder in der Nacht zurückzufahren, und direkt im Job weiterzuarbeiten. Um das durchzuhalten, muss man sehr zielstrebig sein, meint Brittany Howard: "Wir hatten zu Beginn ja alle noch normale Jobs. Wir brauchten sehr viel Willenskraft als Band. Der Tag war einfach nicht lang genug, und die Nacht auch nicht: es gab anfangs eigentlich nicht genug Zeit zum Musikmachen, aber wir nahmen uns die Zeit dafür. Weil wir das wollten, weil wir das so gerne machten. Das war wie ein Hobby, ich hatte schon so lange Musik gemacht, das war so selbstverständlich, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, etwas anderes zu tun. Als ich es noch mit der Schule versuchte, überlegte ich mir, 'woran bist du interessiert, was kann ich ?' Und ich landete immer wieder bei Musik. Heute finde ich es einfach phantastisch, dass ich das machen kann, und ich bin sehr dankbar für die Möglichkeiten, die ich jetzt habe, kreativ zu sein. Das ist es, was ich wirklich will: ich möchte den ganzen Tag Texte schreiben oder komponieren und dann die Jungs zusammentrommeln und gemeinsam an der Musik arbeiten. Das wäre wundervoll.” Musik "Gemini” - Alabama Shakes Das war: Demokratisch und voller Seele – die US-Band Alabama Shakes. Musik "The Greatest” - Alabama Shakes
Von Michael Frank
Die Alabama Shakes klingen, als ob tiefer Südstaaten-Soul und unprätentiöse Rockmusik endlich wieder zueinander gefunden hätten. Nach zwei immens erfolgreichen Platten, vier Grammys und weltweiten Tourneen bleibt sich die US-Band um Sängerin Brittany Howard dennoch treu - und spielt weiter umwerfende Live-Konzerte.
"2016-04-03T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:21:43.347000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-band-alabama-shakes-demokratisch-und-voller-seele-100.html
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Nicht jeder Ausreisepflichtige ist abschiebefähig
Der Berliner Innensenator Frank Henkel (dpa/ picture alliance/ Sophia Kembowski) Die Boulevardzeitung "Bild" hatte vorgerechnet, dass in Deutschland 200.000 ausreisepflichtige Menschen leben würden. Das Blatt gab an, dass in Bremen nur fünf und in Berlin nur 16 Prozent der Ausreisepflichtigen abgeschoben worden seien, in Mecklenburg-Vorpommern aber 63 Prozent. Henkel sagte, er könne die Zahlen nicht nachvollziehen, sie würden sich nicht mit den aktuellen Zahlen decken. Die Zahlen hätten sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. "Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen zu erhöhen." Nicht jeder Ausreisepflichtige sei abschiebefähig, was die Zahlen auch erkläre. Hindernisse könnten Reiseunfähigkeit oder Passlosigkeit sein. Außerdem müsse die Person auch an der bekannten Anschrift anzutreffen sein. In Berlin gebe es eine über viele Jahre gewachsene Unterstützerszene, die ein Untertauchen erleichtere. Dass Straftaten eine Abschiebung verhindern können, sei schwer zu erklären, sagte Henkel. Doch der Rechtstaat gelte für jeden Menschen. Das Interview in voller Länge: Christoph Heinemann: Den Bundesländern fehle oft der Wille und das Personal, viele Asylbewerber tauchen unter, so die Unterzeile. Unter der Überschrift "Der Abschiebeskandal" berichtete die "Bild"-Zeitung und belegte mit Zahlen: In Bremen haben nur fünf Prozent der Ausreisepflichtigen den Stadtstaat verlassen, Berlin 16 Prozent. Dass es auch anders geht, zeigt Mecklenburg-Vorpommern mit 63 Prozent. Rund 200.000 Ausreisepflichtige leben in Deutschland, davon etwa 50.000 Personen ohne Duldung. Fazit der Zeitung: "Auch ein Jahr nach Beginn der Ankunft vieler Menschen werden die meisten Ausreisepflichtigen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt." Bundesinnenminister Thomas de Maizière vermisst den politischen Willen in den Bundesländern. Am Telefon ist jetzt Frank Henkel (CDU), der Innensenator von Berlin. Guten Morgen. Frank Henkel: Guten Morgen, Herr Heinemann. Heinemann: Herr Henkel, wollen Sie nicht oder können Sie nicht? Henkel: Berlin arbeitet sehr konsequent daran. Heinemann: Wie bitte? Henkel: Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen weiter zu erhöhen. Das ist unser Anspruch und das ist angesichts der Lage auch geboten. Heinemann: 16 Prozent, wo ist da die Anstrengung? Henkel: Nun, wir haben nach nur vier Monaten bereits über 75 Prozent des Gesamtjahreswertes von 2015, also vom letzten Jahr erreicht. Das heißt: Eine Verdoppelung, wie sie der Bund ja als Erwartung formuliert hat, auch der Bundesinnenminister, ist damit aus Berliner Sicht sehr realistisch. Und wenn ich mir die Gesamtzahlen anschaue etwa der Jahre 2012, 2013, _14 und _15, dann ist diese Zahl kontinuierlich gestiegen. Und wie gesagt: Schon jetzt, also nach fünf Monaten in diesem Jahr, haben wir mehr Personen abgeschoben als im gesamten letzten Jahr. Heinemann: Sie klingen so zufrieden. Henkel: Das ist ja eine gute Entwicklung. Das zeigen die Zahlen ja auch. Und ich finde, die lässt sich im Vergleich mit anderen Ländern durchaus sehen. Die Zahlen, die gestern in einer Boulevard-Zeitung abgebildet wurden, die kann ich zum Teil gar nicht nachvollziehen. Es sind jedenfalls keine Zahlen, die sich mit den Berliner Zahlen unmittelbar decken. Heinemann: Die Boulevard-Zeitung setzt Berlin auf den drittletzten Platz. Noch mal: Muss da nicht nachgerüstet werden? Henkel: Da kann ich nur noch mal wiederholen, was ich gesagt habe, dass wir sehr konsequent daran arbeiten und dass die Zahlen, die jetzt im Raum stehen hier für Berlin, sich absolut positiv entwickelt haben. Das ist auch mein Anspruch. Ich habe im Rahmen der Senatsklausur Mitte Januar eine Zielmarke von 1.200 Abschiebungen für 2016 genannt. Es handelt sich hier um eine grobe Orientierung, nicht um eine feste Prognose. Aber diese grobe Orientierung ist ja nach derzeitigem Stand absolut realistisch und wenn wir das schaffen, dann liegen wir sehr gut im Länderranking. "Es gibt vielfältige Schwierigkeiten" Heinemann: Herr Henkel, wieso können Ausreisepflichtige untertauchen? Henkel: Nun, es gibt vielfältige Schwierigkeiten und auch Gründe, weshalb es eine Differenz gibt zwischen der Zahl derjenigen, die ausreisepflichtig sind, und denen, die abschiebefähig sind, und dann noch Schwierigkeiten, die daneben bewältigt werden müssen. Die Gründe sind sehr vielfältig. Nicht abgeschoben wird, wenn ein Ausreisehindernis etwa vorliegt, zum Beispiel eine ärztlich bescheinigte Reiseunfähigkeit oder eine Passlosigkeit. Dann kommt hinzu, dass Personen am Tag der Abschiebung an ihrer Anschrift auch angetroffen werden müssen, und dann gibt es noch andere Situationen, die sich in einem Stadtstaat mit einer entsprechenden Community vielleicht anders darstellen als in Flächenländern. Das gehört alles ein Stück weit hinzu. Ich will auch noch mal der Vollständigkeit halber sagen, dass abgeschoben ja nur derjenige wird, der einer freiwilligen Ausreise nicht nachkommt. Die freiwillige Ausreise hat immer Vorrang vor der Abschiebung. "Es gibt eine entsprechende Unterstützerszene" Heinemann: Herr Henkel, Entschuldigung! Ich habe immer noch nicht verstanden, wieso Ausreisepflichtige untertauchen können. Henkel: Nun, weil es auch eine entsprechende Unterstützerszene gibt. Da muss man nicht drum herumreden. Das ist in Berlin etwas, was hier über viele, viele Jahre gewachsen ist, und das erleichtert Betroffenen, auch die Durchsetzung ihrer Ausreisepflicht zu verzögern. Das passiert. "Die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert" Heinemann: Der Albtraum der Sicherheitsbehörden, Herr Henkel, ist jetzt wahr geworden. Offenbar sind IS-Kämpfer über die Balkan-Route nach Deutschland gelangt und wollten in Düsseldorf Anschläge verüben. Gestern sind drei Personen festgenommen worden. Muss die Politik, müssen Sie jetzt nicht auch vor diesem Hintergrund ganz schnell für klare Verhältnisse sorgen? Henkel: Es gibt klare Verhältnisse. Heinemann: Nicht in Berlin. Henkel: Das sehe ich ganz anders. Ich muss mich sehr wundern, wenn ich heute lese, dass sehr viele verwundert darüber sind, dass es jetzt über bestimmte Routen durchaus möglich gewesen ist, dass hier mögliche Terroristen ins Land kommen oder in andere Länder. Das haben die Innenminister, haben meine Kollegen, hat der Bundesinnenminister stets betont. Wir haben immer gesagt, wir müssen davon ausgehen, dass unter den Flüchtlingen auch Menschen sind, die zu uns kommen, die es nicht gut mit uns meinen. Und die Tatsache, dass es zu diesem Zugriff gekommen ist, zeigt ja, dass die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert. Heinemann: Wie kann man Bürgern erklären, dass Straftaten eine Abschiebung verhindern? Henkel: Das ist schwer zu erklären. Das gestehe ich gerne ein. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und wir sollten jetzt nicht so tun, dass wir unsere Regeln, die, für die wir lange gekämpft haben, für die wir uns eingesetzt haben, jetzt aufgrund einer besonderen Situation aufs Spiel setzen. Ich bin der Auffassung, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert, und ich kann jedenfalls aus Berliner Sicht nicht sagen, dass es am politischen Willen mangelt, hier Abschiebungen zu vollziehen. Noch einmal: Wir arbeiten sehr konsequent daran, diese Zahlen weiter zu erhöhen. Das ist mein Anspruch, das ist unser Anspruch und das ist angesichts der Lage auch geboten. "In einem Rechtsstaat gibt es Regeln" Heinemann: Aber wer vor einer Abschiebung steht, der sollte ganz schnell eine Straftat begehen, dann kann er hier bleiben? Henkel: Na ja, ich würde das nicht so pauschalisieren. Das sind genau die Meldungen, die falsche Anreize bieten. Ganz so ist es natürlich nicht. Aber noch einmal: In einem Rechtsstaat gibt es Regeln, die gelten für Jedermann und die werden eingehalten. Punktum! Heinemann: Sie haben gerade gesagt, dass es genau so ist, wie ich es gerade beschrieben habe. Wer vor einer Abschiebung steht, der kann eine Straftat begehen, dann bleibt er hier. Henkel: Ich habe nicht gesagt, dass derjenige, der vor einer Abschiebung steht, eine Straftat begehen kann und hier bleibt. Ich habe gesagt, wir leben in einem Rechtsstaat, wo es Regeln gibt, und die gelten für Jedermann. Abschiebung erst nach Beseitigung aller Ausreisehindernisse möglich Heinemann: Jetzt fragen sich vielleicht Bürgerinnen und Bürger: Wenn der Staat die Ausreisepflicht nicht durchsetzen kann, wieso muss ich dann zum Beispiel meiner Steuerpflicht nachkommen? Henkel: Ich weiß gar nicht. Ich kann die Tonation der Frage so schwer nachvollziehen. Heinemann: Was ist daran so schwer nachzuvollziehen? Henkel: Na ja. Wenn Sie sagen, der Staat ist nicht in der Lage, die Ausreisepflicht durchzusetzen, dann habe ich Ihnen gesagt, ... Heinemann: Haben Sie ja gerade selber beschrieben! Henkel: Ich habe Ihnen doch gerade Zahlen genannt. Das macht doch ganz deutlich, dass der Staat hier Ausreisepflichten durchsetzt. Und natürlich gibt es auch Schwierigkeiten und ich habe beschrieben, dass diese Gründe sehr vielfältig sind, und das ist nun mal so. Wenn eine ärztlich bescheinigte Reiseunfähigkeit vorliegt, dann wird im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht abgeschoben. Das ist aus meiner Sicht ein Ausreisehindernis. Und wenn es eine Passlosigkeit gibt, wo soll ich denjenigen hinschieben? Das ist einfach so. Dann muss ich mich zunächst einmal darum kümmern, dass es entsprechende Papiere gibt. Das verzögert hier und da die Ausreise. Es ist und bleibt so, dass erst nach Beseitigung aller Ausreisehindernisse die Abschiebung überhaupt in Betracht kommt. "Wir müssen wissen, wer zu uns kommt" Heinemann: Wenn man nun bestimmte Menschen nicht mehr los wird, wenn sie sich im Land aufhalten, muss man dann dafür sorgen, dass sie an der Grenze abgewiesen werden, bevor sie das Land betreten? Henkel: Wir müssen in erster Linie dafür sorgen, dass wir wissen, genau wissen, wer zu uns kommt, und deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir ein ganz großes Augenmerk auf die europäische Zusammenarbeit legen und dass wir das, was früher im Schengen-Raum sozusagen Rechtsgrundlage war, dass wir das durchsetzen. Heinemann: Heißt mehr Grenzkontrollen? Henkel: Heißt, dass wir das, was in Schengen vereinbart wurde, im Rahmen des Schengen-Abkommens vereinbart wurde, dass das durchgesetzt werden muss. Heinemann: Heißt das auch mehr CSU? Henkel: Das heißt, dass wir das, was es an Abkommen in Europa gibt, einhalten müssen und durchsetzen müssen. Heinemann: Herr Henkel, kann sich die AfD einen besseren Wahlkampfhelfer als Sie wünschen? Henkel: Ich kann auch die Frage schwer nachvollziehen. Die Union ist ja kein Wahlkampfhelfer für die AfD. Das muss man doch mal sagen. Die Tatsache, dass die Flüchtlingszahlen jetzt sinken, ist ja nicht der AfD zu verdanken, sondern Bundeskanzlerin Merkel, und insofern würde ich diesen Vergleich, ob wir Wahlkampfhelfer sind, überhaupt nicht ziehen. "Es war oberstes Ziel deutscher Politik, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren" Heinemann: Wohl weniger Bundeskanzlerin Merkel als Bundeskanzler Faymann, dem ehemaligen. Henkel: Das ist Ihre Interpretation. Meine bleibt dabei: Das ist eine großartige Leistung der Bundeskanzlerin, dass sie es geschafft hat, über europäische Verabredungen und Vereinbarungen, auch über Europa hinaus, wenn ich etwa an die Türkei denke, die Flüchtlingszahlen nach Deutschland zu reduzieren. Das war immer Ziel der Union. Wir haben immer gesagt, wir können vielen Menschen helfen, aber wir können nicht allen Menschen auf der Welt eine neue Heimat geben. Deshalb war es oberstes Ziel deutscher Politik, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Heinemann: Herr Henkel, wie hoch schätzen Sie die Gefährdungslage nach den gestrigen Meldungen aus Düsseldorf jetzt durch Terroranschläge ein? Henkel: Die Sicherheitsbehörden haben nicht zuletzt nach Brüssel und nach Paris immer davon gesprochen, das tun wir auch jetzt, dass wir es mit einer ernsthaften abstrakten Bedrohungslage zu tun haben. Das ist keine neue Erkenntnis. Das galt gestern und das gilt auch heute. Heinemann: Frank Henkel (CDU), der Innensenator von Berlin. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören. Henkel: Sehr gerne! Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank Henkel im Gespräch mit Christoph Heinemann
Berlin wird eine inkonsequente Praxis bei Abschiebungen vorgeworfen. Innensenator Frank Henkel verweist auf verschiedene Gründe, die Abschiebungen verhindern könnten - wie Reiseunfähigkeit oder Passlosigkeit. Die Zahlen hätten sich jedoch im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. "Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen zu erhöhen", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.
"2016-06-03T08:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:32:57.651000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abschiebungen-nicht-jeder-ausreisepflichtige-ist-100.html
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Freiburgs Diskos lassen Migranten nicht mehr rein
In Freiburg kommen Flüchtlinge anscheinend nicht mehr ohne weiteres in Klubs und Diskotheken rein. (picture-alliance/ ZB / Andreas Lander) Weil es vermehrt zu Taschendiebstählen und sexuellen Belästigungen durch Ausländer gekommen sei, hätten sechs Nachtklubbetreiber den Einlass für Flüchtlinge verschärft, berichtet die "Badische Zeitung". Ein Lokal mache es von der Veranstaltung abhängig, ob Asylbewerber Zutritt haben. Für einen anderen Klub benötige der Gast eine spezielle Einlasskarte, die nur derjenige erhalte, der Gewalt, Sexismus und Diskriminierung ablehne. "Es gilt das Diskriminierungsverbot" Nach Angaben der Freiburger Polizei hat die überwiegende Zahl der Diskotheken in Freiburg keine Probleme mit Asylbewerbern. Grundsätzlich würde es am Eingang Passkontrollen geben, nur schlecht angezogene, betrunkene oder offensichtlich gewaltbereite Menschen würden nicht eingelassen, hieß es. Eine Polizeisprecherin bestätigte, dass es mehr Taschendiebstähle gäbe und dass nachts in Freiburg mehr Männergruppen unterwegs seien. Einen erwiesenen Zusammenhang mit Flüchtlingen gebe es bislang aber nicht. Auch der SPD-Politiker Ulrich von Kirchbach war überrascht. "Uns war das nicht als akutes Problem bekannt", sagte der für Soziales, Integration und Kultur zuständige Bürgermeister. Überwiegend verhielten sich die etwas mehr als 3.000 in der Stadt untergebrachten Asylbewerber "ordentlich", "schwarze Schafe" gebe es aber überall. Von Kirchbach betonte: "Es gilt das Diskriminierungsverbot. Man darf nicht eine Personengruppe pauschal ausschließen", sagte er. Die Willkommenskultur sei in Freiburg stark ausgeprägt. "Aber es muss auch eine Anerkennungskultur geben, was die Gesetze betrifft." Er wolle sich mit seinem Haus beraten, inwieweit die Stadt Verhaltenskonzepte erstellen könnte, um Asylbewerbern den Start in Deutschland zu erleichtern. Ob ein Türsteher bestimmte Personen in eine Diskothek einlässt, obliegt dem Klub. Pauschale Einlassverbote etwa für alle Flüchtlinge sind laut Polizei rechtswidrig. (tzi/cp)
null
Die Willkommenskultur ist in Freiburg sehr ausgeprägt. Umso erstaunlicher, dass jetzt angeblich Flüchtlingen der Zutritt zu Diskotheken und Klubs verwehrt wird. Hintergrund sind Berichte über sexuelle Belästigungen und Diebstähle. Der Stadt ist das Problem bislang nicht bekannt.
"2016-01-23T19:11:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:13.741000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-freiburgs-diskos-lassen-migranten-nicht-mehr-100.html
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Regierung fordert ausländischen Militäreinsatz
Angehörige der jemenitischen Spezialeinheit, die auf der Seite des Generals Abdel Hafedh al-Sakkaf stehen, vor der Stadt Aden. (AFP / Saleh Al-Obeidi) Die Regierung des Jemen hat die internationale Staatengemeinschaft zu einem Militäreinsatz gegen vorrückende schiitische Rebellen aufgefordert. Außenminister Riad Jasin sagte in mehreren Interviews, man habe unter anderem die Vereinten Nationen und den Golf-Kooperationsrat aufgerufen, eine Flugverbotszone einzurichten. Zudem müsse verhindert werden, dass die Huthi-Rebellen Kampfjets von den eroberten Flughäfen aus einsetzten. Das britische Außenministerium erklärte dazu, London wolle mit den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien beraten, wie das Land wieder unter die Kontrolle von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gebracht werden könne. Niemand wolle eine militärische Lösung. Der UNO-Sicherheitsrat hatte zuvor in einer Dringlichkeitssitzung die andauernde Gewalt schiitischer Huthi-Rebellen im Jemen verurteilt. Sie behindere den politischen Fortschritt und gefährde Sicherheit, Stabilität, Souveränität und Einheit des Landes, hieß es in einer Mitteilung. Außerdem verstießen die Rebellen damit gegen frühere Sicherheitsratsresolutionen. Der Rat forderte die Rebellen auf, sich zurückzuziehen und bekräftigte seine Unterstützung für Präsident Hadi. Szenarien wie im Irak oder Libyen? Der Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Jemen, Jamal Benomar, rief alle Beteiligten zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Er warnte, dass der Konflikt ein Szenario annehmen könnte, wie es die Welt aus Syrien, dem Irak oder Libyen kenne. Die jüngsten Ereignisse würden den Jemen an den Rand eines Bürgerkriegs rücken, sagte er per Video an die Adresse der Teilnehmer der Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York. "Ein friedlicher Dialog ist die einzige Option, die wir haben." Bewaffnete Kämpfer stehen und sitzen nahe der jemenitischen Stadt Aden auf Trümmern. (pa/dpa/EPA) Nachdem Präsident Hadi am Wochenende die im Süden gelegene Hafenstadt Aden zur neuen Hauptstadt ausgerufen hatte, stießen schiitische Huthi-Rebellen gen Süden vor. Sie rückten in der Stadt Tais ein und eroberten nach lokalen Angaben den Flughafen sowie Staatsgebäude. Die Universitätsstadt liegt knapp 200 Kilometer südlich von Sanaa - und nur rund 130 Kilometer vor Aden. Huthi kontrollieren Sanaa Das arme Land wird seit Monaten zwischen rivalisieren Kräften zerrieben. Die Huthi kontrollieren den Norden und die eigentliche Hauptstadt Sanaa, Präsident Hadi sowie mehrere Regierungsmitglieder waren von den Aufständischen Mitte Januar dort unter Hausarrest gestellt worden. Ende Februar konnte Hadi aus Sanaa nach Aden fliehen. Von dort aus versucht er, die Macht wiederzuerlangen. Die Huthis werden unterstützt vom langjährigen Ex-Präsidenten Ali Abdullah Salih, der nach dem Arabischen Frühling 2011 gestürzt und von Hadi abgelöst worden war. Wegen der extrem unsicheren Lage im Jemen haben die USA ihr letztes Botschaftspersonal aus dem Land abgezogen. Alle Mitarbeiter seien außer Landes gebracht worden, teilte das US-Außenministerium mit. Neben den USA haben auch Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und die Niederlande ihre Botschaften im Jemen geschlossen. (fwa/hba/tön)
null
Die Lage im Jemen spitzt sich weiter zu. Angesichts der andauernden Gewalt schiitischer Huthi-Rebellen fordert die Regierung nun militärische Hilfe aus dem Ausland. Der UNO-Sondergesandte für den Jemen rief alle Beteiligten zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch auf.
"2015-03-23T18:09:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:54.771000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/krise-im-jemen-regierung-fordert-auslaendischen-100.html
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Forscher rätseln über die Herkunft der schweren Elemente
Reiner Krücken ist Forschungsdirektor am TRIUMF, dem kanadischen Labor für Kern- und Teilchenphysik in Vancouver. Der aus Deutschland stammende Wissenschaftler beschäftigt sich dort mit den Grundlagen unserer Existenz: "Die Frage, wo kommt das Material her, aus dem wir sind, wir sind ja nichts anderes als Sternenstaub, und die Frage, wo die schweren Elemente herkommen, wo wir keine große Ahnung haben und wo das Kernphysikfeld einen Einfluss haben kann, ist natürlich eine extrem spannende." Sterne wie die Sonne gewinnen Energie, indem sie leichte Kerne zu schweren verschmelzen. Doch alle Elemente, die schwerer sind als Eisen, lassen sich nicht durch Kernfusion herstellen. Kupfer, Gold, Blei und so weiter entstehen, wenn Atomkerne Schritt für Schritt kleine Bausteine einfangen, einzelne Neutronen. Ein Teil der schweren Elemente bildet sich in den äußeren Schichten massereicher Sterne - dort dauert das Anwachsen der Elemente Tausende von Jahren und dieser Prozess scheint gut verstanden. Dagegen ist die Eichhörnchentaktik nicht geeignet, die schwersten Kerne zu erzeugen, etwa Uran. Denn die Zwischenprodukte zerfallen, bevor genügend Neutronen eingesammelt wurden. Uran muss schlagartig innerhalb weniger Sekunden entstehen - allerdings können Reiner Krücken und seine Kollegen nur spekulieren, wo das im Weltall geschieht: "Das sind Prozesse, die bei sehr hohen Neutronendichten ablaufen müssen, bei sehr hohen Temperaturen. Das sind eigentlich nur explosive Prozesse. Das sind zum Beispiel der Kollaps eines schweren Sterns in einer Supernova, vielleicht auch die Fusion von Neutronensternen, wo dann von einem Kern innerhalb von einer Sekunde 200 oder so Neutronen eingefangen werden können. Und dann kommt man von Eisen sehr schnell zu Uran innerhalb dieser kurzen Zeit." Fingerabdruck der Sterne Die Kernphysiker versuchen, die Entstehung der Elemente in ihren Computermodellen nachzuvollziehen. Das beliebte Szenario mit den Neutronensternen liefert zwar schnell große Mengen dieser Stoffe, hat aber einen Haken: Denn die Astronomen haben sehr alte Sterne entdeckt, die viele schwere Elemente enthalten. Die einzelnen chemischen Stoffe hinterlassen eine Art Fingerabdruck im Lichtspektrum der Sterne. Wenn es aber bereits in alten Sternen viele schwere Elemente gibt, müssen sich diese Stoffe schon gebildet haben, als der Kosmos erst rund eine Milliarde Jahre alt war. Aus heutiger Sicht ist dies die Kindergartenphase des Universums und in der hat es kaum Kollisionen von Neutronensternen gegeben, sagt Krücken: "Die ganz frühen Sterne waren alle sehr massiv und sind kollabiert in Schwarze Löcher. Es gab noch nicht so viele Neutronensterne, die müssen dann auch in Paaren vorkommen, die müssen dann auch langsam ineinander fallen, und das braucht Zeit. Und so ist die Frage, ob die Neutronensterne wirklich so früh beigetragen konnten. Allerdings sind sie im Moment das bessere Modell, weil sie eigentlich in den Rechnungen näher daran sind an dem, was man beobachtet. Da ist eine Spannung, die man noch nicht gelöst hat bis heute." Astronomen und Kernphysiker versuchen nun, die Spannung bei den schweren Elementen von zwei Seiten her zu lösen: Die einen blicken mit Teleskopen ins All und erkunden, welche Zustände bei Supernova-Explosionen und dem Verschmelzen von Neutronensternen herrschen. Die anderen wollen ihre Modelle verbessern, indem sie mehr über die Eigenschaften der schweren Kerne erfahren, die sich bei den Explosionen im All bilden sollten. Das geschieht durch Messungen auf der Erde. "Das ist so eine Art von die Supernova oder den Neutronenstern ins Labor zu bringen, aber nicht die wirkliche Explosion, sondern die Kernreaktionen, die da ablaufen und die Kerne, die eben im Universum in Bruchteilen von Sekunden in solchen Explosionen erzeugt werden, im Labor zu erzeugen und auch in dieser Kurzen Zeit Messungen zu machen. Dafür werden neue Beschleuniger-Anlagen gebaut weltweit, die genau diesen Prozess untersuchen wollen."
Von Dirk Lorenzen
Seit knapp neun Jahren widmet sich am Forschungszentrum Garching der Exzellenzcluster Universum den großen Fragen nach dem Anfang und der Entwicklung des Weltalls. Besonders wichtig ist dabei der interdisziplinäre Ansatz: Kosmologen, Kern-, Teilchen- und Astrophysiker sowie Astronomen arbeiten gemeinsam daran, einige Rätsel des Universums zu lösen.
"2015-06-24T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:44:03.473000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/physik-forscher-raetseln-ueber-die-herkunft-der-schweren-100.html
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Beifang erwünscht
Während seines Studiums lernte und glaubte der norwegische Fischereibiologe Jeppe Kolding noch eine Theorie: Um die Fangmengen zu maximieren, ohne einen Fischbestand zu gefährden, muss man selektiv vorgehen. Nur ausgewachsene Fische, die sich schon vermehrt haben, sollten in den Netzen zappeln, während die kleinen durch entsprechend groß gewählte Maschen entkommen dürfen – als Grundlage für den Fortbestand. Doch dann zog Jeppe Kolding für einige Jahre nach Afrika, um die Fischbestände verschiedener Binnenseen zu untersuchen. Was er dort vorfand, stellte die Lehrmeinung völlig infrage."In Afrika befischen die Fischer mehr oder weniger unselektiv das gesamte System. Sie entnehmen die großen wie die kleinen Fische. Anfangs dachte ich: Das ist aber eine gefährliche Form der Fischerei. Aber dann erkannte ich, dass die Ökosysteme, in denen sie so fischten, deutlich intakter waren als jene, wo sich die Fischer an die Auflagen hielten."Jeppe Kolding fand bei seinen Studien heraus, dass die Fischer in Afrika die Seen zwar stark ausbeuten. Weil sie ihren Fang aber nicht auf die größeren Fische beschränken, verändern sie nicht die Struktur der Ökosysteme und der Nahrungsketten in den Seen. Da sie auch kleinere Fische entnehmen, bleiben mehr größere Fische am Leben. Und da bei Fischen vor allem die größeren und älteren Tiere die meisten Eier bilden, sichert das die Grundlage für den Erhalt der Bestände. Jeppe Kolding sieht darin eine Analogie zwischen Fischen und Pflanzen."Einen Apfelbaum kannst Du jedes Jahr ernten. Aber wenn Du den Baum absägst, gibt es keine Äpfel mehr. Genau das machen wir bei den Fischen. Wir warten gewissermaßen, bis der Apfelbaum groß ist und viele Früchte trägt. Doch dann töten wir ihn. Und anschließend wundern wir uns, warum die Fische ausbleiben."Mittlerweile ist Jeppe Kolding mit dieser Sichtweise nicht mehr allein. Unter dem Dach der internationalen Naturschutzunion IUCN hat sich eine Arbeitsgruppe von Fischereibiologen zusammengefunden. In der aktuellen Ausgabe des Magazins "Science" propagieren sie gemeinsam ein revolutionäres, neues Leitbild für die Fischerei der Zukunft. Sie nennen es Balanced Harvesting – die ausgewogene Ausbeute. "Wenn wir ausgewogen fischen, befischen wir das gesamte Ökosystem – alle Arten, alle Tiere in allen Größen gemäß ihrer Produktivität. So verändern wir das System nicht, und es liefert uns genug Nahrung. Das ist eine Situation mit doppeltem Gewinn: Wir können die Natur schützen und zugleich Fischerei betreiben."Eins ist Jeppe Kolding und seinen Kollegen bewusst: Mit Balanced Harvesting stellen sie die gesamte Fischereipolitik der vergangenen Jahrzehnte auf den Kopf. Während aktuell zum Beispiel die EU-Kommission an neuen Vorgaben feilt, um Beifangmengen einzuschränken, ist beim System der ausgewogenen Ausbeute der Beifang sogar erwünscht."Der Beifang stellt kein Problem mehr dar, denn er wird Teil der Fangquote. Wir müssen nur einen Markt für die Beifangprodukte schaffen, entweder für den Konsum durch den Menschen oder als Futter für andere Fische. Im Grunde kann man ja fast alles essen, was aus dem Meer kommt. Es gibt nur kulturelle Vorlieben. Deshalb müssten wir als erstes die Einstellung der Verbraucher ändern."Die Verbraucher müssten lernen, dass kleine Fische auf dem Teller nicht Schlechtes sind, und ihr Fang sogar ökologisch wünschenswert ist. Zudem gelte es, auch den Fischern die überraschende Kehrtwende zu erklären."Wir müssen zu den Fischern gehen und eingestehen: 'Entschuldigung, wir lagen falsch. Ihr könnt die kleinen Fische fangen wenn ihr wollt. Es ist OK, es ist sogar gut.' Das wird allerdings sehr schwer. Die Wissenschaft wird ihr Gesicht verlieren."Dennoch: Jeppe Kolding ist überzeugt, dass es dringend Zeit ist für ein radikales Umdenken, damit die Fischbestände den Menschen auch in Zukunft als ertragreiche Nahrungsquelle erhalten bleiben.
Von Lucian Haas
Um das Überleben von Fischbeständen zu sichern, setzt die europäische Fischereipolitik seit Jahrzehnten auf die sogenannte selektive Fischerei. Nur ältere Fische einer bestimmten Art sollen ins Netz, jüngere und andere Arten nicht. Funktioniert hat das nicht wirklich, deshalb plädieren Fischereiökologen für eine Kehrtwende - auch um den Preis, dass Wissenschaft und Bürokratie ihr Gesicht verlieren.
"2012-03-02T16:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:40:02.575000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beifang-erwuenscht-100.html
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Andruck – Das Magazin für Politische Literatur - Bücherliste
Colin Crouch: Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit.Passagen Verlag, 208 Seiten, 19,90 EuroISBN: 978-3-709-20067-4Rezension: Ralph GerstenbergEgon Bahr: Das musst du erzählen. Erinnerungen an Willy Brandt.Propyläen Verlag, 240 Seiten, 19,99 Euro ISBN: 978-3-549-07422-0Rezension: Frank CapellanKursiv KlassikerGünter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke.Deutscher Taschenbuch-Verlag (1998), 328 Seiten, 12 EuroISBN: 978-3-423-12593-2Rezension: Norbert SeitzKerstin Decker: Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet.Berenberg Verlag, 288 Seiten, 25 Euro ISBN: 978-3-937-83461-0 Rezension: Jürgen KönigUdo Bermbach: Mythos Wagner, Rowohlt Verlag, 336 Seiten, 19,95 Euro ISBN: 978-3-871-34731-3 Rezension: Jürgen KönigMalte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden.Deutsche Verlags-Anstalt, 320 Seiten, 22,99 EuroISBN: 978-3-421-04556-0 Rezension: Malte HerwigMusik: Lorenz Kellhuber Trio: "Cosmos", LC 7662, Best.Nr. BR201311Weitere Bücher zum 150-jährigen Jubiläum der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland:Jürgen Schmidt: August Bebel. Kaiser der Arbeiter,Rotpunktverlag (Juni 2013), 200 Seiten, 24 EuroISBN: 978-3-858-69538-3Franz Walter, Stine Marg:Von der Emanzipation zur Meritokratie. Betrachtungen zur 150-jährigen Geschichte von Arbeiterbewegung, Linksintellektuellen und sozialer Demokratie, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 160 Seiten, 19,99 EuroISBN: 978-3-525-38001-7Georg Schrodt: Modernise or Die? Ein Vergleich der Modernisierungsprozesse von SPD, Labour Party und SAP,AV Akademikerverlag, 132 Seiten, 59 Euro ISBN: 978-3-639-46426-9 Joachim Helfer, Klaus Wettig (Hrsg.) Durchgefressen und durchgehauen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller gratulieren der SPD zum 150. Geburtstag,Steidl Verlag, 152 Seiten, 18 EuroISBN: 978-3-869-30611-7Helga Grebing, Susanne Miller, Klaus Wettig: Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht. 150 Jahre SPD - ein Lesestück, Dietz Verlag, 90 Seiten, 9,90 EuroISBN: 978-3-801-20437-2Bernd Faulenbach: Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, 144 Seiten, 8,95 EuroISBN: 978-3-406-63717-9 Vorwärts-Bücher:Barbara Hendricks, Andrea Nahles (Hrsg.)Für Fortschritt und Gerechtigkeit. Eine Chronik der SPD, Vorwärts Verlag, 135 Seiten, 9,90 EuroISBN: 978-3-866-02560-8 Bernd Faulenbach, Andreas Helle(Hrsg):Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie, Vorwärts Verlag, 431 Seiten, 35 EuroISBN: 978-3-866-02210-2Klaus Wettig: Orte der Sozialdemokratie. Ein Reisebuch, Vorwärts Verlag, 273 Seiten, 15 EuroISBN: 978-3-866-02921-7 Felix Butzlaff, Franz Walter (Hrsg):Mythen, Ikonen, Märtyrer, Vorwärts Verlag, 302 Seiten, 20 EuroISBN: 978-3-866-02914-9
Redakteur am Mikrofon: Marcus Heumann
In dieser Woche stellt die Redaktion Bücher von Colin Crouch, Egon Bahr, Günter Grass, Kerstin Decker, Udo Bermbach und Malte Herwig vor. Außerdem weitere Bücher zum 150-jährigen Jubiläum der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland.
"2013-05-13T19:15:00+02:00"
"2020-02-01T16:17:48.221000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/andruck-das-magazin-fuer-politische-literatur-buecherliste-136.html
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Pusteln an Händen und Füßen
Die Patientin fühlte sich müde, kaputt, erschlagen und dachte, sie hätte einen grippalen Infekt. Die Diagnose war aber eine ganz andere. (dpa picture alliance / Klaus Rose) Frühjahr 2008, irgendwo im Rheinland. Der damals 47 Jahre alten Verwaltungsangestellten im öffentlichen Dienst – Namen spielen keine Rolle – geht es an diesem Nachmittag schlecht. "Da habe ich mich total müde, kaputt, erschlagen gefühlt und ich hatte so wie einen grippalen Infekt. Dann kamen ganz furchtbare Kopfschmerzen hinzu, wo ich gedacht hab, jetzt wird das bestimmt ein Tumor sein oder so." Seit mehr als einer Woche fühlt sie sich krank, Besserung ist nicht in Sicht. "Dann bin ich zu meinem Hausarzt, der hat mir eine Überweisung zu einem Neurologen gegeben, dann wurde da halt alles abgeklärt und Gott sei Dank war da alles normal, aber der hat mich dann noch an demselben Abend angerufen, weil er mir noch Blut abgenommen hat, und hat dann gesagt, dass bei mir eine Borreliose vorliegt, und dann sollte ich sofort am nächsten Tag dahin kommen, ja, und dann fing eigentlich mehr oder weniger das Drama damit an." Das Stevens-Johnson-Syndrom kennt kaum jemand Borreliose im Frühjahr? Warum nicht, Zecken sind ausgesprochen stechfreudig. Aber führt jeder Stich zu der gefürchteten Infektion? Professor Ulf Müller-Ladner, ärztlicher Direktor und Rheumatologe an der Kerckhoff-Klinik, Bad Nauheim, mahnt zur Vorsicht. "Da viele Menschen in die Natur gehen und mehr oder weniger häufig unbemerkt gestochen werden, merkt es das Immunsystem und die meisten Menschen haben irgendwelche Abwehrreaktionen, die man messen kann, und daher kommt oft die Fehldiagnose "Borreliose", die dann zu verschiedenen Therapien führt, die nicht immer sinnvoll sind." "Ich habe dann damals Doxicyclin bekommen, eigentlich das gängige Antibiotika, was ich dann halt drei Wochen nehmen sollte. Da ich aber die meisten Beschwerden im Kopf hatte und das Doxicyclin nicht hirngängig ist, habe ich gedacht, wie soll es denn da helfen können? Daraufhin habe ich dann versucht, mit dem Arzt zu sprechen, der war aber nicht so kooperativ, und dann habe ich gedacht, okay, dann sind wir eben nicht kompatibel." Die Mutter von vier Kindern ist selbstbewusst und resolut. Bevor sie klein beigibt, wechselt sie lieber zu einem "kompatiblen" Arzt. Der neue Mediziner ist kommunikationsfähig – und ein Verfechter therapeutischer Brachialrundumschläge. Sechs Wochen lang bekommt die Rheinländerin täglich eine Infusion mit Antibiotika. "Dann musste ich pausieren, dann begann die zweite Phase, und dann habe ich allergisch reagiert und das Stevens-Johnson-Syndrom bekommen, eine lebensbedrohliche Hautallergie, und damit bin ich dann in der Uniklinik Bonn gelandet." Das Stevens-Johnson-Syndrom kennt kaum jemand – zum Glück! Es ist eine der schlimmsten allergischen Reaktionen überhaupt, ein Totalangriff aller Kräfte des Immunsystems gegen die Haut. "Wie eine Himbeere habe ich ausgesehen" "Die entzündet sich maximal, hebt sich dann ab, gibt große Blasen, und wenn das zu viel Haut betrifft ähnlich wie bei Verbrennungsopfern, dann kann man alleine durch das auch versterben. Das ist schon eine Notfallsituation, eine der schwersten Krankheitsbilder, die wir kennen in der Medizin." "Wie eine Himbeere habe ich ausgesehen, die Füße und die Hände, als wäre ein Auto drübergefahren, die waren blau-rot und geschwollen." Die Ärzte der Dermatologischen Klinik am Uniklinikum Bonn verabreichen als Sofortmaßnahme hoch dosiertes Kortison – tatsächlich bilden sich die Symptome zurück. Wirklich gut geht es der Patientin aber trotzdem nicht. Sie sei phasenweise "komatös müde", außerdem schwillt ohne erkennbaren Grund ihr rechtes Knie an. "Ich hatte ja im Gesicht auch negroide Züge, das war ja auch nicht alles so prickelnd, und dann kam dann eben noch die Gehbehinderung dazu, ja, und dann sollte ich zuerst nach Hause gehen, und dann habe ich gesagt, das dicke Knie habe ich hier bekommen und dann wäre es auch schön, wenn man es mir hier wieder wegmacht." Die Patientin wird in die Orthopädische Klinik verlegt, wo das Drama in eine neue Runde geht: Neben dem Knie schwellen noch andere Gelenke an. "Die Finger und die Handgelenke, alles wurde dick und unbeweglich und steif, ich war nicht mehr in der Lage, mich selbst zu pflegen, weder die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen oder an- oder auszuziehen, das war alles erheblich eingeschränkt." Für Ulf Müller-Ladner reicht ein Blick und er kennt die komplette Diagnose Wochen vergehen, niemand kann der Rheinländerin helfen. Wieder wird sie weiter überwiesen, diesmal in die Kerckhoff-Klinik, Bad Nauheim. Professor Ulf Müller-Ladner, Ärztlicher Direktor und Rheumatologe, kennt ihre Vorgeschichte von Kollegen. "Ich glaube, ich bin donnerstags hergekommen und dann stand auch bereits Freitag die Diagnose, um was es sich dann konkret handelt." Sie leidet an einer "Rheumatoiden Arthritis". Auf eine so gängige, ja fast schon banale Diagnose soll bisher niemand gekommen sein? Natürlich stand sie immer wieder zur Diskussion, aber manche Symptome stimmten nicht. Leider ist die "Rheumatoide Arthritis" deshalb auch nur eine erste Diagnose, genauer, die erste halbe richtige. Bis zur kompletten richtigen Diagnose vergehen Monate mit einem seltsamen Körpergefühl. "Als wäre ich die Treppe runtergefallen, dass Sehnen und Bänder wehgetan haben, und dann kamen zunächst auch in meinen Handinnenflächen so Punkte, das sah aus wie kleine Eiterpöckchen, dem habe ich aber nicht viel Bedeutung geschenkt, bis das dann halt an den Füßen gekommen ist, also unter den Fußsohlen, da waren ich sag mal mindestens wie ein Zehncentstück oder größer dicke wie Eiterpusteln haben die ausgesehen." Für Ulf Müller-Ladner reicht ein Blick und er kennt die komplette Diagnose: "Psoriasis pustulosa"! Die Frau leidet an einer sehr seltenen Form der Schuppenflechten-Gelenksentzündung. Um Gelenke und Haut zu beruhigen, behandelt Müller-Ladner seine Patientin mit Biologika, biotechnologisch aus lebenden Zellen hergestellten Medikamenten. Verglichen mit der Situation vor einigen Monaten geht es ihr heute gut, aber eben noch nicht sehr gut. Zum Beispiel sei sie ausgesprochen wetterfühlig. "Ich hab schon gedacht, meine zweite Berufskarriere werde ich vielleicht als Wetterfrosch oder so was machen, (lacht), also heute habe ich zum Beispiel relativ starke, ja, was heißt Schmerzen, als wäre ich die Treppe runtergefallen, alles ist halt irgendwie so unbeweglich, fühlt man sich, Sehnen, Bänder und so was, es gibt solche Tage und es gibt auch mal ganz gute Tage, ne."
Von Mirko Smiljanic
Die Patientin lebt monatelang mit einem seltsamen Körpergefühl, fühlt sich, als wäre sie die Treppe runtergefallen. Auch Sehnen und Bänder schmerzen. Dann kommen an Händen und Fußsohlen Punkte zutage, die aussehen wie dicke Eiterpusteln. Endlich findet ein Arzt heraus: Die Frau leidet an einer sehr seltenen Form der Schuppenflechten-Gelenksentzündung.
"2017-01-31T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:33:14.602000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-besondere-fall-pusteln-an-haenden-und-fuessen-100.html
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"Einfach ein Vertrauensvorschuss"
Sabine Demmer: Die Piratenpartei will es, die Partei Die Linke diskutiert es und ein Verein aus Berlin probiert es jetzt einfach aus: das bedingungslose Grundeinkommen. Die Idee dahinter: Jeder bekommt eine zum Leben ausreichende Summe und damit soll er machen können, was er will. Der 29-jährige Berliner Michael Bohmeyer gründete einen Verein und sammelte Geld, und nun möchte er 1.000 Euro monatlich an eine Person überweisen, die erst mal nichts weiter tun muss, als Glück zu haben, denn das Experiment soll heute Abend verlost werden. Herr Bohmeyer, kann man sich da noch bewerben? Michael Bohmeyer: Nein, bewerben kann man sich nicht. Aber es sind schon 1.000 Euro des fünften Grundeinkommens zusammen, Tendenz stark steigend, und ich glaube, in wenigen Wochen oder Monaten werden wir einfach weitere Grundeinkommen auslosen, übrigens einfach auch danach noch weiter. Es wird immer wieder GrundeinkommensempfängerInnen geben, die einfach mal schnuppern können, wie sich das anfühlt. Demmer: Was musste man denn tun, um an der Verlosung teilzunehmen? Bohmeyer: Man musste relativ wenig tun. Man musste sich nur anmelden auf einer Online-Community, auf mein-grundeinkommen.de, kurz angeben, was man mit Grundeinkommen tun würde - das kann alles sein -, und dann hat man einfach teilgenommen. Ab da ist es dann wirklich bedingungslos und wird einfach ein Jahr lang ausgezahlt. Vorhaben öffentlich einsehbar Demmer: Und was haben die Leute gesagt, die sich bei Ihnen beworben haben? Warum brauchen sie das Geld, fürs Nichtstun, auf der Couch abhängen einfach, oder? Bohmeyer: Das kann man öffentlich einsehen auf mein-grundeinkommen.de. Ich habe ehrlich gesagt nicht geschafft, alles zu lesen. Außerdem sind es über 50.000 Vorhaben, die die Menschen haben. Die sind aber gruppiert nach dem, was die Leute am häufigsten wollen. Ganz oben ist da momentan, sie würden besser konsumieren; mehr Bio- und Regionalprodukte ist da ganz oben. Und dann ist das Wichtigste eigentlich weniger gestresst weiterarbeiten, sich weiterbilden, eine Firma gründen, das Studium finanzieren und solche Sachen. "Weit über 90 Prozent sagen, natürlich würde ich weiterarbeiten" Demmer: Das heißt, die Leute möchten das Geld bekommen, um zu ihrer Arbeit das einfach noch frei ausgeben zu können? Oder wollen sie dann aufhören zu arbeiten? Das kann man ja von tausend Euro nicht wirklich, oder? Bohmeyer: Es würde mit Grundeinkommen höchst wahrscheinlich fast niemand aufhören zu arbeiten. Es gibt repräsentative Umfragen. Weit über 90 Prozent sagen, natürlich würde ich weiterarbeiten, denn Arbeit ist so viel mehr als nur Broterwerb. Arbeit ist Identifikation, man hat dort seine Kontakte, man hat da Verantwortung. Jeder der das mal probiert hat weiß: Es ist gar nicht so leicht, dauerhaft nichts zu machen, nicht zu arbeiten. Demmer: Kann es denn sinnvoll sein, jemandem Geld fürs Nichtstun zu schenken? Sie haben zwar gerade gesagt, es wird unwahrscheinlich sein, dass jemand einfach nichts tut. Aber das könnte er ja eigentlich machen. Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen? Was steckt dahinter, purer Altruismus? Bohmeyer: Nein, das ist nicht purer Altruismus, sondern das ist einfach den Menschen zugewandt. Jeder kennt das von sich selbst. Wenn ich das Gefühl habe, ich mache etwas, weil mir jemand vertraut, ich mache es freiwillig und ich kann auch jederzeit Nein dazu sagen, dann macht es mir viel mehr Spaß. Dann kann ich mich darin verlieren und viel bessere Arbeitsergebnisse erzeugen. Und genau das ist Grundeinkommen großgedacht. Statt immer mit dem Zeigefinger hinter Menschen zu stehen und sie zu bestrafen und für bestimmte Tätigkeiten bedingungsvoll zu belohnen, ist Grundeinkommen einfach ein Vertrauensvorschuss, der sagt, Du bist ein Mensch, Du willst zur Gesellschaft beitragen, wir vertrauen Dir, dass Du weißt, was gut für Dich ist, und das wird im großen Mittel auch für die Gesellschaft gut sein. Ich weiß, dass das sehr schwer ist, sich vorzustellen, weil alles in unserer Welt an Bedingungen geknüpft ist. Demmer: Absolut! Bohmeyer: Aber das ist ja gerade das Schöne und das Moderne daran, und deswegen ist es auch so fortschrittlich und deswegen haben wir übrigens auch von allen Parteien, von allen Lagern Konzepte in der Schublade für ein bedingungsloses Grundkommen. Und wenn wir jetzt auch noch anfangen, uns selbst und den anderen dieses Geld zu gönnen, dann könnte es viel schneller gehen als wir denken. "Viele Studien beweisen, Grundeinkommen ist finanzierbar" Demmer: Ich versuche, mich da jetzt noch weiter reinzudenken, und frage mich: Wer etwas verteilen will, der muss ja auch etwas zu verteilen haben. Sie haben Ihr Geld jetzt über Crowdfunding gesammelt. Die Piratenpartei beispielsweise fordert, generell das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen. Das Geld bekommt der Staat ja durch die Steuer und vor allen Dingen über Lohnsteuer. Würden die Menschen nicht mehr arbeiten und nur noch das tun, was sie gerne tun möchten, wie könnte diese Idee denn dann überhaupt finanziert werden? Bohmeyer: Da würde ich jetzt gleich wieder einhaken und sagen, warum sollten Menschen nicht arbeiten. Bleiben wir doch mal bei uns selbst. Würden wir selbst weiterarbeiten? Vielleicht würden irgendwelche Menschen nicht mehr weiterarbeiten, die heute wahnsinnig schlecht bezahlt sind und die Jobs nur machen, weil sie müssen. Okay, dann müssen diese Jobs entweder besser bezahlt werden, oder sie müssen automatisiert werden, oder die Arbeit muss anders verteilt werden. Das fände ich übrigens total in Ordnung. Dann gibt es völlig unterschiedliche Konzepte zur Finanzierung. Das reicht von der Konsumsteuer über eine etwas höhere Einkommenssteuer. Da gibt es verschiedenste Modelle, da möchte ich mich gar nicht festlegen. Viele Studien beweisen, Grundeinkommen ist finanzierbar. Übrigens auch von Parteien wie der CDU wird das gesagt - das ist dann ein etwas kleineres Grundeinkommen von sechs bis 800 Euro -, wenn wir einfach nur den Einkommenssteuersatz aus Kohls Zeiten zurückheben würden, und das scheint mir doch im Rahmen des irgendwie Möglichen zu liegen, wenn wir es denn gesellschaftlich wollen, und dafür möchte ich kämpfen. Demmer: Herr Bohmeyer, wir werden das Projekt weiter verfolgen, gerne in spätestens einem Jahr noch mal mit Ihnen sprechen und nachfragen, was aus der Idee geworden ist. Herzlichen Dank für das Gespräch! Bohmeyer: Ich danke auch! Einen schönen Tag. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Bohmeyer im Gespräch mit Sabine Demmer
Michael Bohmeyer kämpft für das bedingungslose Grundeinkommen. Er gründete einen Verein, sammelte Geld über Crowdfunding - und will ab sofort jeden Monat einer Person 1.000 Euro zur Verfügung stellen. Im DLF sagte er, mit ein bisschen Willen sei das Grundeinkommen auch politisch machbar.
"2014-09-18T14:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:04:19.562000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grundeinkommen-einfach-ein-vertrauensvorschuss-100.html
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Hernán Cortés‘ Aufbruch zur Eroberung des Aztekenreiches
Hernán Cortés (1485-1547) (Index / Heritage-Images) Elf Schiffe, rund 550 Soldaten, 16 Pferde, zehn schwere und vier leichtere Geschütze, dazu die nötige Munition: Dass es dem Spanier Hernán Cortés gelungen ist, mit so einer winzigen Truppe Mexiko zu erobern, das damalige Reich der Azteken, bleibt eines der erstaunlichsten Phänomene der Weltgeschichte. Cortés, der einer verarmten spanischen Adelsfamilie entstammte, hatte sich 1506, im Alter von vermutlich 24 Jahren, nach Übersee eingeschifft, um dort sein Glück zu machen. Er war ehrgeizig, machthungrig und skrupellos, hatte mit anderen "Konquistadoren" ansonsten aber nicht allzu viel gemein. Hugh Thomas, Autor des Standardwerks "Die Eroberung Mexikos": "Cortés war eine weitaus kultiviertere Persönlichkeit als zum Beispiel Pizarro, der Eroberer von Peru, der, nach allem, was man weiß, weder lesen noch schreiben konnte. Cortés mag kaltblütig und rücksichtslos gewesen sein, aber er wusste sich gut auszudrücken ... ganz ähnlich wie ein Höfling, der er ja tatsächlich hatte sein wollen." "Er ist Jurist gewesen, er hat ja studiert in Salamanca, kommt zwar aus kleinen Verhältnissen, hat sich aber hochgearbeitet, und vielleicht ist das auch der Grund für sein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis gewesen", erklärt Nikolai Grube, Professor für Altamerikanistik an der Universität Bonn. Vom Schützling zum Generalkapitän Seit 1511 lebte Cortés auf Kuba. Er war zeitweise Sekretär von Diego Velázquez, dem Statthalter der Insel, und suchte auf der ihm zugeteilten "Kommende", das heißt: auf einem von der indigenen Bevölkerung bestellten Grund und Boden, erfolgreich nach Gold. 1518 ernannte Velázquez seinen Schützling zum "Generalkapitän" einer geplanten Expedition in das eben erst von den Spaniern entdeckte Land der Azteken – eine Entscheidung, die er angesichts der Selbstherrlichkeit, mit der sich Cortés in die Vorbereitungen stürzte, aber schon bald bereute. "Unter Trommel- und Trompetenschall ließ Cortés, öffentlich ausrufen, daß jeder, der mit ihm zur Eroberung und Kolonisierung der kürzlich entdeckten Länderausziehen wollte, seinen Anteil an Gold Silber und Juwelen erhalte. Der Statthalter sei von Seiner Majestät ermächtigt, indianische Kommenden zu verteilen, wenn man sich in dem neuen Land festsetze", schrieb Bernal Díaz del Castillo, einer von Cortés’ Kampfgefährten, später in seiner Chronik der Ereignisse. Dass entsprechende Vollmachten seitens der spanischen Krone noch gar nicht vorlagen, kümmerte Cortés nicht weiter. "Er schrieb gleichzeitig überall hin an seine Freunde und forderte sie auf, sich seinem Unternehmen anzuschließen. Viele verkauften daraufhin ihre ganze Habe und schafften Waffen und Pferde an, andere stellten Vorräte aus Kassavebrot und gesalzenem Schweinefleisch bereit; ein jeder rüstete sich aus, so gut er konnte." Von befreundeten Kaufleuten bekam Cortés Kredite und viertausend Goldpiaster in bar. "Daraufhin ließ er sich ein samtenes Staatskleid machen, das mit goldenen Schleifen besetzt war, und Fahnen mit dem Wappen unseres königlichen Herrn und mit einem Kreuz auf jeder Seite." Abwendung von Velázquez Als Cortés merkte, dass Velázquez allmählich misstrauisch wurde, verlagerte er sein Hauptquartier von Santiago nach Trinidad im Süden von Kuba. Von dort ging es weiter nach Havanna im Norden, wo Cortés es schaffte, sogar einige von Velázquez’ engsten Vertrauten auf seine Seite zu ziehen – ungeachtet der Tatsache, dass ihm der Statthalter das Kommando längst wieder entzogen und befohlen hatte, ihn gefangen zu nehmen. "Diego de Velazquez ... brüllte vor Wut wie ein wildes Tier." Am 10. Februar 1519 - gleich nach der Frühmesse - gab Cortés den Befehl zum Aufbruch. Vom Sammelplatz am Cap San Antonio aus nahm sein Geschwader Kurs auf das mexikanische Festland. Dort kam es bald zu ersten Kontakten mit indigenen Stämmen, die von den Azteken unterjocht und zu Tributzahlungen gezwungen worden waren. "Und die sahen in den Spaniern Verbündete. Also, man kann sagen, dass die Eroberung des Aztekenreiches nur deswegen funktionierte, weil es viele indianische Hilfstruppen gegeben hat; und der Grund dafür waren interne Konflikte und Streitigkeiten in Mexiko." Für die mexikanischen Ureinwohner endete die Begegnung mit den Spaniern in einer Tragödie. Abertausende von ihnen fielen den blutigen Kämpfen zum Opfer, aus denen Hernán Cortés am Ende als Sieger hervorging.
Von Irene Meichsner
Hernán Cortés war ehrgeizig, machthungrig und skrupellos. Ohne diese Charaktereigenschaften wäre es ihm wohl auch kaum gelungen, Mexiko zu erobern, das damalige Reich der Azteken. Am 10. Februar 1519 nahm der Spanier mit elf Schiffen und rund 550 Soldaten vom Cap St. Antonio auf Kuba aus Kurs auf das mexikanische Festland.
"2019-02-10T09:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:37:10.822000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-500-jahren-hernan-cortes-aufbruch-zur-eroberung-des-100.html
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Streit um Polens Justizreform geht weiter
Auch Polens Oberster Gerichtshof könnte durch die Justizreform unter politischen Einfluss geraten (Imago/ Heike Bauer) Der Niederländer ist auf schwieriger Mission: Frans Timmermans gilt innerhalb der EU-Kommission als besonders kritisch gegenüber der polnischen Regierung. Diese hat zwar Korrekturen an ihrer Justizreform vorgenommen, um der EU-Kommission entgegenzukommen. Doch die Änderungen gingen nicht weit genug, so Timmermans: "Trotz der vier Gesetze vom April und Mai bleibt das klare Risiko, dass die Prinzipien des Rechtsstaats verletzt werden. Die Maßnahmen, die von der polnischen Regierung im vergangenen halben Jahr umgesetzt wurden, haben bereits Schaden angerichtet und tun dies weiter. Nach dem Verfassungsgericht und dem Landesjustizrat ist es nun der Oberste Gerichtshof, der in der Gefahr steht, unter politische Kontrolle zu kommen." Nicht nur diese Kritik nimmt die polnische Regierungspartei PiS Timmermans übel, sondern auch seinen Versprecher beim jüngsten Auftritt im EU-Parlament. Er werde heute "nach Moskau fahren", um mit der polnischen Regierung zu sprechen, sagte der Vizekommissionspräsident. Persönliche Angriffe aus Polen gegen Timmermans Trotz seiner Entschuldigung: Der Empfang heute in Warschau wird kühl sein. Michal Dworczyk, der Kanzleichef von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ging schon im Vorfeld zu einem persönlichen Angriff über: "Frans Timmermans will den Dialog verschärfen, so scheint es. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier private politische Ambitionen eine Rolle spielen. Denn außer dem Streit mit Polen wird Kommissar Timmermans mit keinem anderen Projekt in der EU-Kommission verbunden. Die Beendigung des Streits wäre für ihn ein Problem." Tatsache ist, dass der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zuletzt mehr Verständnis für die polnische Regierung gezeigt hat. Richtig bleibt aber auch, dass Warschau wesentliche Bedenken aus Brüssel gegen die Justizreform nicht ausgeräumt hat. Kritiker hoffen auf eine Klage vor dem EU-Gerichtshof Schon in zwei Wochen müssen die Richter am Obersten Gerichtshof, die über 65 Jahre alt sind, in den Ruhestand gehen - auch wenn ihre Amtszeit noch nicht abgelaufen ist. Das gilt auch für die Gerichtspräsidentin. Dann kann der Landesjustizrat, den die Regierungsfraktion im Parlament zum Großteil neu besetzt hat, viele der PiS genehme Juristen in das Gericht bringen. Kritiker der PiS in Polen hoffen deshalb auf die EU-Kommission, so Piotr Buras von der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations": "Die Diskussion dreht sich jetzt darum, ob man nicht klagen sollte gegen das Gesetz über den Obersten Gerichtshof - und zwar vor dem EU-Gerichtshof. Der hat schon erklärt, dass er sich in der Frage äußern könnte. Viele Persönlichkeiten haben die EU-Kommission aufgefordert, so eine Klage einzureichen." Das ist ein Druckmittel, mit dem Timmermans nach Warschau kommt. Das andere ist das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Die Kommission hat es vor einem halben Jahr gegen Polen eingeleitet.
Von Florian Kellermann
Gegen Polen läuft ein Verfahren der EU. Der Vorwurf: Durch die Justizreform bekommt die Regierung Einfluss auf die Richter und der Rechtsstaat wird ausgehebelt. EU-Vize-Kommissionschef Frans Timmermans spricht heute in Warschau mit den Verantwortlichen über mögliche Zugeständnisse.
"2018-06-18T05:13:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:34.881000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/timmermans-in-warschau-streit-um-polens-justizreform-geht-100.html
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Faszinierende Bilderwelt aus der Steinzeit
Prähistorisches Bild in der Höhle von Lascaux in Südwestfrankreich: Seit 1963 ist die Höhle geschlossen, weil die Malereien durch den Publikumsverkehr stark geschädigt wurden. (PHILIPPE WOJAZER / POOL / AFP) Von der Geschichte der Entdeckung der berühmten Höhle von Lascaux im Departement Dordogne im Südwesten Frankreichs existieren so viele Versionen wie es Autoren gibt; ein Punkt aber ist unstrittig: die Entdecker, die Knaben Marcel Ravidat, Jacques Marsal, Georges Agnel und Simon Coencas, betraten die Höhle am 12. September 1940 zum ersten Mal und damit zugleich den so genannten "Saal der Stiere", ausgestattet mit Felsmalereien vom Feinsten. Wände und Decken dieses Höhlenabschnitts waren mit einem feinen Rasen aus weißen Calcit-Kristallen bedeckt, der eine Art Leinwand bildete, auf der sich mit Mineralfarben malen ließ. In Schwarz, Braun, Ocker, Rot präsentierte sich den jungen Männern – im Licht einer an der Spitze brennenden Fettpresse – die Großtierwelt der Gegend vor 17.000 Jahren, teils plastisch, mit leicht aus der Bildebene geneigten Köpfen, in wunderbaren Farben. "Wer diese Zeitkapsel betritt, sieht sich vier Meter langen Stieren gegenüber, die über massiven Gewölben wie religiöse Erscheinungen zu schweben scheinen. Ein rätselhaftes, geflecktes Tier mit runder Schnauze und langen, geraden, vorwärts weisenden Hörnern, plumpe Pferde in leuchtendem Gelb und Hirsche mit baumartigen Geweihen – alles scheint zugleich Vertrautes der Gegenwart und Botschaft einer fernen Welt zu sein", schrieb das TIME-Magazin über die Entdeckung, die international Furore machte. "Obwohl die Höhlenbilder verblüffend modern wirken, wurden sie in der Jüngeren Altsteinzeit auf die Calcitwände gemalt, als jeder Jäger und Sammler war und Homo sapiens neben dem Neandertaler existierte. Die Bilder sind Zeugnis des Sprungs in der neuralen Entwicklung, der das menschliche Bewusstsein hervorbrachte." Und der "Saal der Stiere" war nur ein kleiner Teil der Höhle, wenn auch der schönste. Der spanische Maler Pablo Picasso soll 1940 beim Anblick der Steinzeit-Malereien ausgerufen haben:"Wir haben nichts dazu gelernt!" Es existierte eine Legende - die Jungs waren neugierig Die Vorgeschichte der Entdeckung dieser Höhle war gleichermaßen märchenhaft. Unter den jungen Leuten der Gegend kursierte die Legende, dass vom alten, maroden Schloss des kleinen Ortes Montignac zum Gutshof von Lascaux ein Geheimgang – unter dem Fluss Vézère hindurch! – existiere, von dem ein Zweig in den Wald von Montignac führe, an dessen Ende ein veritabler Schatz zu finden sei. Diese Vorstellung – und die Aussicht auf jagdbare Kaninchen – führte Marcel Ravidat, seinen Terrier Robot und drei Freunde am 8. September 1940 zufällig in die Nähe des Höhleneingangs, als der Hund über einer Vertiefung im Boden in Aufregung geriet. Die Vertiefung hatte der Wurzelballen einer umgestürzten Pinie hinterlassen, unter der Mulde aber war ein weiteres Loch erkennbar, das in die Erde führte. Vier Tage später wagten dann die Freunde gemeinsam, einer nach dem anderen, Marcel zuerst, den Abstieg, nachdem sie die Öffnung erweitert hatten. Die Höhle von Lascaux war entdeckt worden. Und das bekam ihr nicht. Krieg und deutsche Besatzung hatten auch die Dordogne in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg wäre ein Publikumsmagnet für den wieder in Gang kommenden Tourismus sehr willkommen gewesen, und das war die Höhle, ein Magnet – also wurde sie für den Publikumsverkehr hergerichtet und 1948 geöffnet. Bald gab es Schwierigkeiten, unter anderem bildete sich Schimmel, der aber kontrolliert werden konnte. Im Jahr 2000 aber kam eine Katastrophe in Gang. Die alte passive Luftzirkulation wurde ohne jeden Test mittels einer Turbo-Klimaanlage "modernisiert". Ein weißer Pilz besiedelte die Höhle, gefolgt von schwarzen Flecken. Die Behörden hielten den Vorgang lange unter der Decke. Das Versprühen von Antibiotika und Fungiziden machte die Lage nicht besser. Heute ist die Höhle geschlossen. Ersatz bietet Lascaux 2, eine 200 Meter neben dem Original liegende, abschnittsweise Nachbildung. Mit Lascaux 4 ist endlich ein robuster Kunststoffnachbau in Arbeit, mit den mittlerweile unvermeidlichen Videoinstallationen. Was der Entdecker der Original-Höhle von Lascaux, der Hund Robot, wohl dazu sagen würde?
Von Mathias Schulenburg
Die Bilder wirkten verblüffend modern, waren aber 17.000 Jahre alt. Die Entdeckung der steinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux vor 75 Jahren war eine Sensation. Bald strömte des Publikum in die französische Dordogne. Doch das tat der Bilderpracht gar nicht gut.
"2015-09-12T09:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:59:03.716000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-60-jahren-entdeckt-faszinierende-bilderwelt-aus-der-100.html
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"Die Grenzüberschreitungen sind bei Weitem nicht das Zentrale"
Handy-Filme bieten eine Möglichkeit, sich zu inszenieren (imago stock&people/Westend61) Susanne Luerweg: "Wenn ich mich mit der Fotografie befasse, vergesse ich den Tod", sagte der französische Philosoph Roland Barthes. Der Schriftsteller Walter Benjamin sah in der Entwicklung von Foto und Film neben dem Segen auch den Fluch der massenhaften Reproduktion und dem Verlust der Aura von Kunst - und das lange bevor die Smartphones die Welt regierten. Heute kann jeder filmen, immer, ständig und ununterbrochen. Die Entwicklung des Bewegtbildes von Super 8 über Video bis hin zum Handyfilm ist Thema eines Buches, dessen Mitherausgeber Klaus Schönberger, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Klagenfurt, ist. Und ihn begrüße ich nun in einem Studio des ORF. Schönen, guten Tag. Klaus Schönberger: Schönen, guten Tag. "Die technische Voraussetzung ist nicht gleichzusetzen mit der Demokratisierung" Luerweg: Herr Schönberger, früher hat Papi die Filme mit der teuren Super-8-Kamera gemacht und der hatte damit die Deutungshoheit über die Inszenierung des Familienlebens. Heute darf jeder ran, kann filmen und machen. Ist das nicht die perfekte Demokratisierung? Schönberger: Joa. Also die Frage ist natürlich, ob allein die technische Verfügbarkeit schon die Deutungsmacht der Familiengeschichte verändert. Als ein Möglichkeitspotenzial: ja. Aber bestimmte familiäre Beziehungen bleiben ja erhalten, ein bestimmtes Machtgefälle bleibt erhalten, Deutungshoheiten bleiben erhalten. Die könnten unter Umständen darüber neu ausgehandelt werden, aber sie sind nicht automatisch, bloß, weil es die Kamera gibt, obsolet geworden. Luerweg: Aber ist es nicht trotzdem alles ein bisschen - sage ich mal - demokratischer geworden? Beziehungsweise: Es werden soziale Grenzen vermischt. Denn die Super-8-Kamera früher von Papi, die war teuer. Das Handy hat ja heute im Grunde genommen jeder. Schönberger: Also wenn die Bereitschaft dazu besteht, Verhältnisse neu auszuhandeln, dann ist es tatsächlich möglich. Aber wenn das nicht der Fall ist, wenn bestimmte Strukturen bestehen bleiben, dann ist die Kamera allein nur ein notwendiges aber kein hinreichendes Mittel für die Demokratisierung. Luerweg: Welche Strukturen bleiben denn in Ihren Augen bestehen? Was haben Sie herausgefunden im Zuge der Recherche? Schönberger: Sie haben schon Recht. Im Prinzip: Das Technische, sozusagen, ist tatsächlich so, dass Sie erweiterte Möglichkeiten sehen. Wir reden immer von erweiterten, aber wir würden uns, glaube ich, schwer tun, die technische Voraussetzung gleichzusetzen mit der Demokratisierung. Denn so einfach ist das eben nicht mit den technischen Mitteln. Luerweg: Natürlich, so einfach ist das nicht. Aber Sie beschreiben das ja auch in Ihrem Buch an einer Stelle: Dass beispielsweise gerade sozial abgehängte Jugendliche mit Hilfe dieser Handy-Filme eine Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen, sich selbst zu inszenieren, zu sagen: Wir haben mehr zu erzählen, als man gemein hin denken könnte. "Die Sache vom Alltag der Jugendlichen her anschauen" Schönberger: Das ist ein Aspekt. Ein anderer Aspekt, den wir auch interessant finden, ist natürlich, dass mit Bildern kommuniziert werden kann. Oder: Bilder als Basis von Kommunikation. Also gerade durch das Verschicken von Bildern über WhatsApp oder andere Messanger-Systeme, besteht eine Möglichkeit auch für Personen, die zum Beispiel nicht so sprachgewaltig sind, ihre Dinge mitzuteilen auf ihre Weise. Auch das ist eine erweiterte Möglichkeit. Luerweg: Die Angst, dass die Digital Natives, also die Jugendlichen vor allen Dingen, auch so ein bisschen die Grenzen überschreiten und pornografische Videos ins Netz stellen, die nehmen Sie so ein bisschen in diesem Buch. Sie sagen: Das ist gar nicht so wild, wie alle immer behaupten. Schönberger: Zunächst einmal gab es diese Grenzüberschreitungen auch schon vorher. Es gibt diese Grenzüberschreitungen, aber sie sind bei Weitem nicht das Zentrale. Und das ist ja sozusagen, was die Medienberichterstattung da suggeriert, dass man eigentlich nur noch in dieser Weise Inhalte konsumiert oder sogar herstellt. Also wir können an ganz bestimmten Stellen schon zeigen, was für eine Rolle diese pornografischen, aber auch gewalttätigen Inhalte spielen. Also natürlich sind diese Inhalte ein Problem, aber sie sind nicht das zentrale. Und es gibt dazu schlichtweg auch keine Forschung, die belegen kann, dass das das zentrale wäre. Sondern es gibt immer Medienberichterstattung über Einzelfälle, die es natürlich gibt. Und wir empfehlen schon, die Sache noch mal vom Alltag der Jugendlichen her anzuschauen. Sie nutzen es, um Freundschaften zu festigen, sie benutzen es zum Kommunizieren, sie benutzen es, um sich selbst Erinnerungen zu schaffen. Es gibt eine ganze Reihe von Funktionen, die es eben auch hat. Und darauf legen wir jetzt in dem Fall den größeren Wert. "Das ist ja immer die Frage gewesen, inwiefern sich Technik verselbstständigt" Luerweg: Ja. Und Sie legen ja auch so ein bisschen den Fokus auf das Kreativpotenzial. Also beispielsweise, wenn Sie beschreiben, welche unglaublichen Internet-Phänomene entstehen, wenn Jugendliche Tänze nachahmen, wie den Gangnam Style, Nossa Nossa. Das ist ja ein weltweit umspannendens Phänomen, das doch vermutlich so, in der Form, mit dem Super-8-Film nicht möglich gewesen wäre. Das hat es ja erst im Handy-Zeitalter gegeben, oder? Der Kulturanthropologe Klaus Schönberger (aau/photo riccio/Walter Elsner) Schönberger: Die Art von Nachahmung, die ist nicht so neu. Aber dass es eben festgehalten werden kann und dass es in dieser Weise dann auch herumgeschickt wird und gezeigt wird, das ist das, was neu ist, ja. Luerweg: Die Entwicklung, die bleibt ja nicht beim Handy-Film stehen. Sondern immer häufiger wird ja auch mit Drohnen gefilmt. Heißt das, die Maschine übernimmt dann irgendwann die Deutungshoheit über die Bilder? Schönberger: Das ist ja immer die Frage gewesen, inwiefern sich Technik verselbstständigt, inwiefern wir die Deutungshoheit darüber wegnehmen. Natürlich ermöglicht die Drohne, Bilder herzustellen, die bisher nicht möglich waren. Auch E-Mail hat neue Formen der Kommunikationsregeln mit sich gebracht. Und so ist das eben auch mit diesen Kameras und den Drohnen, dass festgelegt werden wird, was geht, was nicht geht, was kriminell ist, was erwünscht ist, was kreativ ist, was problematisch ist. Zusammenspiel von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung Luerweg: Herr Schönberger, was glauben Sie, wo wird die Entwicklung hingehen? Schönberger: Ich glaube, man ist gut beraten, wenn man sich die sozialen Praktiken der Menschen anschaut. Und wenn wir die Geschichte der Technik-Diffusion anschauen, dann sehen wir, dass ganz viel angenommen wurde von den vielen Möglichkeiten, die angeboten waren, wenn es um soziale Beziehungen geht, wenn es um die Herstellung von Freundschaften, von Bekanntschaften, von Kommunikation geht. Das ist das, was immer mehr eine Weiterentwicklung erfahren wird und wo niemand so genau weiß, wohin sich das entwickeln wird, weil wir und das heute zum Teil gar nicht vorstellen können. Aber meine Prognose wäre immer, also wenn ich etwas erwarte, dann schaue ich immer auf diese sozialen Beziehungen und auf die grundlegenden Bedürfnisse der menschlichen Subjekte und der Handlungen. Und dann kann ich dann anfangen mir auszumalen, was könnte alles noch kommen. Und das ist etwas, was so die Richtschnur wäre, nach der ich versuchen würde zu überlegen. Und da hängt das ja eben nicht nur von der technischen Entwicklung ab, sondern auch von der gesellschaftlichen Entwicklung. Und man hat sich ja immer gestritten, ob das Internet Ergebnis der Globalisierung war oder die Voraussetzung der Globalisierung. Und wenn ich mal von der Technik weggehe, sondern mir die gesellschaftliche Entwicklung anschaue, dann würde ich sagen, ich würde mir zunächst einmal überlegen, wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, die so produziert, die solche Strukturierungen in sozialen Beziehungen hat? Und dann kann ich mir anschauen: Welche technische Entwicklung ist funktional dafür, was ist dysfunktional und was brauche ich, was könnte eine bestimmte Entwicklung fördern, beschleunigen, dynamisieren? Oder eben auch: Was brauche ich dazu nicht? Luerweg: Klaus Schönberger, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Klagenfurt und einer der Herausgeber des Buches "Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm". Das Buch ist im Herbert von Halem Verlag erschienen. Herr Schönberger, danke für das Gespräch! Schönberger: Danke auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Ute Holfelder und Klaus Schönberger (Hrsg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung. Herbert von Halem Verlag, 318 Seiten.
Klaus Schönberger im Corsogespräch mit Susanne Luerweg
Smartphone, GoPro, Drohne: Jugendliche drehen heute mit verschiedenem Equipment wie selbstverständlich Filme. "Sie nutzen es, um Freundschaften zu festigen, zum Kommunizieren, um sich selbst Erinnerungen zu schaffen", sagte Kulturanthropologe Klaus Schönberger im Dlf. Sein neues Buch fragt nach dem Fluch und Segen der technischen Entwicklung.
"2017-06-28T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:31.806000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-zur-bildkommunikation-die-grenzueberschreitungen-100.html
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Warum der Stammbaum des Menschen neu gedacht werden muss
Man könnte sagen, dass wir Menschen eigentlich Archaeen sind - so spitzt der Thijs Ettema von der Universität Uppsala seine Forschungsergebnisse zu. Typischerweise wird das Leben auf der Erde in drei Domänen aufgeteilt. Da ist die Domäne der Bakterien und die Domäne der Archaeen. Das sind beides Organismen, die aus einfachen Zellen ohne Zellkern bestehen und die deshalb allesamt Prokaryonten genannt werden. Die dritte Domäne, das sind die Eukaryonten, zu denen die Hefepilze ebenso gehören wie wir Menschen. Es sind Lebewesen mit sehr viel größeren, komplex aufgebauten Zellen, die einen Zellkern besitzen und Zellorganellen wie Mitochondrien zur Energieerzeugung. Die Eukaryonten müssen sich aus den Prokaryonten heraus entwickelt haben. Die Frage ist nur - wie. Aufgrund früherer Forschungen war klar, dass die Archaeen näher mit uns verwandt sind als die Bakterien. Wir schienen einen gemeinsamen Vorfahren zu haben, aus dem beide Gruppen entstanden sind. Archaeen und Eukaryonten wären danach "Geschwister": Überraschungen im Tiefseeschlamm "Als in den vergangenen Jahren immer mehr Gensequenzen analysiert wurden und uns immer bessere Techniken zur Verfügung standen, begann sich diese klassische Sicht der drei Domänen etwas zu verändern."Und als sich Thijs Ettema und seine Kollegen jetzt mit hochmodernen Methoden zur genetischen Analyse die zehn Gramm Tiefseeschlamm aus dem Nordatlantik vornahmen, die sie als Probe erhalten hatten, machten sie eine überraschende Entdeckung: Sie fanden mit Lokiarchaeota ein Archaeon, das die traditionelle Einteilung des Lebens über den Haufen werfen könnte: "Wir haben es geschafft, das Genom von Lokiarchaeota zu rekonstruieren. Wir stellten fest, dass die Angehörigen dieser Gruppe direkte Verwandte des gemeinsamen Ahnen von Archaeen und Eukaryonten sind. Unseren Forschungen zufolge landen die Eukaryonten dann tatsächlich in der Domäne der Archaeen. Wenn wir es genau nähmen, wären Eukaryonten in Wirklichkeit Archaeen."Wenn man so will, wäre es also eine Beziehung wie zwischen Eltern und Kind. Lokiarchaeota - kurz Loki genannt - besitzen rund 100 Gene, die bislang nur von Eukaryonten bekannt sind. Einige dieser Gene legen nahe, dass Loki eine einfache Apparatur besitzt, um sich andere Zellen einzuverleiben. Genau diese Eigenschaft hätte die Zelle besitzen müssen, aus der die Eukaryonten entstanden sind: "Eukaryonten besitzen Endosymbionten, also Abkömmlinge von einstmals selbstständigen Bakterien. Die Mitochondrien sind ein Beispiel dafür. Sie waren Bakterien, die vor etwa zwei Milliarden Jahren, während einer frühen Phase der Eukaryonten-Evolution, in die Zellen integriert worden sind. Das Archaeon Loki besitzt also bereits ein primitives Werkzeug, das bei der Aufnahme von Endosymbionten eine Rolle gespielt haben könnte." Ein großer Durchbruch Bislang ist nur Lokis Genom bekannt, es konnte noch nicht im Labor gezüchtet werden. Deshalb ist offen, ob die Gene bei einem Archaeon die gleichen Funktionen erfüllen wie bei einem Eukaryonten. Aber anscheinend deckt Loki die erste Phase des Übergangs ab, ist nahe am "missing link". Und so beurteilt Martin Embley von der University of Newcastle die Arbeit seiner Kollegen: "Diese Studie ist ein großer Durchbruch, aber erst der erste Schritt. Wir können mit dem von Ettema und seinen Kollegen gewählten Methoden auf die Suche nach noch näheren Verwandten der Eukaryonten gehen."Auf diese Weise ließe sich der letzte gemeinsame Ahn von Archaeen und Eukaryonten immer besser rekonstruieren.
Von Dagmar Röhrlich
Ein in der Tiefsee entdeckter Mikroorganismus wirbelt derzeit die traditionelle Sicht über den Stammbaum des Lebens durcheinander. Es geht um die Ursprünge der höheren Lebewesen wie Pilze, Pflanzen und Tiere, die alle Zellen mit einem Zellkern besitzen und damit zu den Eukaryonten zählen. Doch der neue Fund zeigt: Es könnte alles anders gewesen sein.
"2015-05-07T16:35:00+02:00"
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https://www.deutschlandfunk.de/zellforschung-warum-der-stammbaum-des-menschen-neu-gedacht-100.html
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Meditierende Mäuse
An den Gehirnen von Mäusen erforschen Wissenschaftler den Effekt von Meditation. (imago / Bernd Friedel) Omm. Ruhe, hier wird meditiert! Hier, das ist das Mäuselabor am Institut für Hirnforschung der Universität von Oregon in Eugene. Laut Ankündigung der Zeitschrift PNAS geht es um ein: "Maus-Modell für die Effekte der Meditation im Gehirn". Spannend. Wie kriegt man bloß Mäuse zum Meditieren? Ich rufe Laborleiter Michael Posner an, einen der weltweit führenden Hirnforscher. "Nun, es geht nicht direkt um Meditation bei Mäusen, wir nutzen die Mäuse, um Ideen zu prüfen, die aus der Meditation kommen." Effekt einer geistigen Übung auf Gehirn Schade, ich hatte es mir so schön vorgestellt: Mäuse, ganz in sich versunken, transzendieren im Geist die Wände ihrer Versuchskäfige. Vielleicht hätte ich doch den Artikel selbst lesen sollen. Dort lautet die zentrale Forschungsfrage: "Wie kann eine rein geistige Übung, wie sich auf den Moment zu konzentrieren, Veränderungen im Verhalten und der Verschaltung im Gehirn bewirken?" Geist und Gehirn und dazwischen die Maus, die die Zusammenhänge klarer machen soll, aber ohne, dass die Tiere selbst meditieren. Alles klar? Mir nicht. Also noch einmal die Frage an Michael Posner, wie kriegt man Mäuse zum Meditieren? "Wir haben entdeckt, dass Meditieren die weiße Substanz in einer Region des Frontalhirns verändert. Wie kann eine rein geistige Übung diese physikalische Veränderung bewirken? Wir vermuten, dass das mit einem anderen Effekt der Meditation zusammenhängt: Im Gehirn stärkt sie die Theta-Wellen zwischen 4 und 8 Hertz." Mäusen wird Lichtleiter in den Schädel implantiert Und genau diese langsamen Hirnwellen sind der Ausgangspunkt des Experimentes. Denn solche Wellen lassen sich künstlich im Gehirn von Mäusen auslösen. Die Details sind kompliziert. Mit genetischen Tricks werden Mäuse gezüchtet, bei denen bestimmte Nerven lichtempfindlich sind. Dann implantiert man diesen Tieren einen Lichtleiter in den Schädel. Am Ende kann man die Nervenaktivität in der Region mit einem Laser von außen steuern. In seinen Versuchen hat Michael Posner das Vorderhirn der Mäuse jeden Tag eine halbe Stunde künstlich in einen entspannten Zustand versetzt. Sozusagen eine Zwangsmeditation. Nach einem Monat prüfte der Forscher, wie es den Tieren ging. "Wir haben die Ängstlichkeit der Mäuse getestet. Furchtsame Tiere bleiben eher im dunklen Teil des Käfigs. Die Tiere, bei denen wir diese langsamen Hirnwellen ausgelöst haben, hielten sich länger im hellen Bereich auf. Das ist für uns ein Zeichen, dass sie weniger ängstlich sind." Einfluss der Meditation auf Angstverhalten Auch Menschen, die meditieren, sind weniger furchtsam. Schnelle Hirnwellen, die beim Menschen bei geistiger Konzentration auftreten, beeinflussten die Stimmung der Mäuse dagegen nicht. "Der Kern des Artikels ist, dass man einen Effekt der Meditation nimmt und ihn in einem Mausmodell nachstellt. Dann sieht man einen Einfluss auf das Verhalten, der ähnlich auch bei der Meditation auftritt." Ausgangspunkt war die Frage: Kann der Geist das Gehirn beeinflussen? Am Ende steht das Ergebnis: Theta-Wellen machen Mäuse mutiger. Im Grunde beeinflusst hier also das Gehirn den Geist und nicht andersherum. Das ist interessant, aber nicht so spektakulär wie gedacht. Michael Posner will mit dem neuen Mausmodell untersuchen, ob die Theta-Wellen, genau wie eine Meditation, die weiße Substanz im Gehirn stärken. Theta-Wellen machen Mäuse mutiger In PNAS sollen die Autoren jeweils die Bedeutung ihres Artikels einschätzen. In diesem Fall liest man da: "Diese Studie unterstützt den Einsatz eines Mausmodells, um die Veränderungen im Gehirn nach der Meditation zu untersuchen." Mit der Methode lassen sich verschiedene Effekte der Meditation miteinander in Verbindung bringen. Spannend, aber der entscheidende erste Schritt vom Geist ins Gehirn, der bleibt auch in dieser Studie außen vor. Zumindest solange niemand Mäuse wirklich zum Meditieren bringt.
Von Volkart Wildermuth
Menschen, die meditieren, haben weniger Angst. Die Entspannungstechnik scheint also das Gehirn zu beeinflussen. Um die genauen Zusammenhänge herauszufinden, erforschen Wissenschaftler die Effekte der Meditation an Mäusen.
"2017-02-21T16:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:05.792000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forschung-zu-entspannungstechniken-meditierende-maeuse-100.html
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Kinder der Russischen Revolution
Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917. (picture-alliance / dpa / UPI) "Schon kann man die Konturen des roten Quaders, aus denen das Mausoleum Lenins aufgebaut ist, sehen, schon sieht man im Dunkel verschwimmen die Menge, die rechts und links vom Mausoleum aufgestellt ist." 6. November 1931. Revolutionsfeierlichkeiten auf dem Roten Platz in Moskau. Egon Erwin Kisch beschreibt die Szenerie vor seinen Augen. "Man kann durch den Nebelschleier den Genossen Stalin erkennen, der mit seiner unvermeidlichen Mütze und mit seinem braunen Gummimantel rumsteht, neben ihm Molotow." Seit vier Jahren herrschte Stalin uneingeschränkt über die Sowjetunion. Längst waren seine Kampfgenossen gestorben – wie Lenin – oder des Landes verwiesen – wie Trotzki. Der Terror, der sich schon abzeichnete und in den folgenden Jahren unvorstellbare Ausmaße annehmen sollte, hatte nur eine Begründung: die konsequente und rücksichtslose Durchsetzung der bolschewistischen Revolution. Lenin und Stalin – so verbreitete es Stalin - waren die beiden Helden dieser neuen Welt. Und Stalin wollte das vollenden, was Lenin schon 1919 anlässlich der Dritten Kommunistischen Internationale beschwor: "Es wird nicht lange dauern und wir werden den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt sehen. Wir werden die Gründung der Föderativen Weltrepublik der Sowjets erleben." Es kam anders, als Lenin es vorhersagte. Unbestritten gilt aber nach wie vor: Die Russische Revolution ist neben den beiden Weltkriegen eines der prägendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Und sie hatte ein großes Vorbild, meint Professor Boris Kolonitskiy, Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg: "Die Französische Revolution war sehr wichtig für die Russische Revolution. Die Russische Revolution oder das Bild, das man sich von ihr gemacht hat, was nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun hat, hatte wiederum große Auswirkungen auf China, auf Europa, Lateinamerika, Asien – auf viele Länder. Ich glaube, das soziale, kulturelle und politische Leben im 20. Jahrhundert ist ohne die Russische Revolution schwer vorstellbar." Welche sozialen, politischen und ideologischen Ursprünge hatte die Revolution in Russland? Wie konnte aus einem zunächst bürgerlichen Aufstand ein bolschewistischer Militärputsch werden? Und inwieweit prägen diese Ereignisse die Politik, die immer wieder versuchte, sie zu instrumentalisieren? Der Bär erwacht "Russland war vor dem Ersten Weltkrieg das größte Land Asiens und Europas", sagt Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt Universität Berlin, "das sich von der heutigen deutsch-polnischen Grenze faktisch bis an den Pazifik erstreckte und vom nördlichen Eismeer bis nach China und Iran, also das größte Land der Erde." Zar Nikolaus II. ließ im Jahr 1897 eine allgemeine Volkszählung durchführen. Demnach gaben von 125 Millionen Menschen nur etwas über 55 Millionen russisch als Muttersprache an. Etwa 22 Millionen bezeichneten sich als Ukrainer. Eine große Minderheit bildeten auch die Weißrussen; knapp acht Millionen sprachen polnisch, über fünf Millionen waren Juden. Indigene Bevölkerungsgruppen wie Nomaden mit ihren Naturreligionen zählten zum russischen Großreich wie auch muslimische Bürger. Die Bevölkerung war also alles andere als homogen. In den Metropolen wie St. Petersburg, Moskau oder Odessa lebte eine stark nach westlichen Vorbildern orientierte Oberschicht, die sich langsam wandelte. Stichworte zur Sozialstruktur Russlands vor der Revolution:+ Von 125 Millionen Menschen geben nur etwas über 55 Millionen russisch als Muttersprache an. Die Bevölkerung war also alles andere als homogen.+ In den Metropolen wie St. Petersburg, Moskau oder Odessa lebte eine stark nach westlichen Vorbildern orientierte Oberschicht, die sich langsam wandelte.+ Bauern stellten mit über 80 Prozent den Hauptteil der Bevölkerung. "Das war seit den 1860er-Jahren stark im Fluss. Die adelige Oberschicht bestimmte nach wie vor die Verwaltung und bekleidete die hohen Ämter, Ministerämter, Gouverneursposten oder Ähnliches." Manfred Hildermeier, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte, Universität Göttingen. "Der kleine bis mittlere Adel engagierte sich in regionalen Selbstverwaltungsorganisationen, die 1864 geschaffen worden waren. Zu einem erheblichen Teil schloss sich dieser Adel der konservativ liberalen Bewegung seit den 1890er-Jahren an. In den Städten gab es eine große Masse relativ armer Leute, darunter in den großen Städten zunehmend die Arbeiterschaft. Heraus ragte eine sehr schmale Elite von Großbürgerlichen, Unternehmern, Industriellen, schon frühen Bankiers seit den 1890er-Jahren. Das ist die kleine Schicht, der wir die Jugendstilprachtbauten verdanken, die man in Sankt Petersburg und Moskau heute noch sehen kann." Bauern stellten mit über 80 Prozent den Hauptteil der Bevölkerung, die insbesondere im Hinterland unter ärmlichen Bedingungen lebte und auf einem agrarisch technischen Niveau arbeitete. "Das in Mitteleuropa doch schon längst der Vergangenheit angehörte. Es gab noch die Drei-Felder-Wirtschaft. Es gab noch Holzharken-Pflüge. Und der Kunstdünger war so gut wie nicht verbreitet." Ein Vorurteil kann Prof. Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau, allerdings nicht bestätigen: "Wenn wir aber ein Stereotyp der älteren Forschung zum späten Zarenreich aufgreifen, das Russland verelendete, so müssen wir nach den jüngsten Forschungen eher das Gegenteil behaupten und feststellen, dass es in vielen agrarischen Bereichen sich zum Besseren wendete. Dass die Produktivität selbst in traditionellen Anbauformen, das heißt, dass Armut und drohender Hunger tendenziell nachließen." Seine Schlussfolgerung: "Russland war in der Mehrheit keine Elendsgesellschaft." Trotzdem gärte es in der Bevölkerung. Schon in den 1820er-Jahren - angeregt durch die Entwicklungen im nach-revolutionären und napoleonischen Europa - verschwor sich eine junge Gruppe adeliger Offiziere gegen den Zaren und forderte eine Verfassung für das Land. Die Revolte wurde rasch beendet, fünf der Verschwörer hingerichtet. Angefeuert durch marxistische Ideen, bildeten sich in den folgenden Jahrzehnten in den Städten erste sozialdemokratische Gruppierungen. Diese elitären Zirkel wollten die Lebensbedingungen der Bauern verbessern. Diese wiederum verstanden nicht, was die Intellektuellen von ihnen wollten. Zudem hatte der Zar die Leibeigenschaft 1861 aufgehoben. Entsprechend zeigten sie sich wenig motiviert, mit der städtischen Intelligenzija gegen die Zarenherrschaft zu kämpfen. Sozialismus, Anarchie und Revolution sagten ihnen erst mal wenig. Ihr Kampf galt dem Überleben. Erste Revolution 1905 Erst die Revolution von 1905, mit massiven Unruhen auch der Arbeiterschaft in Sankt Petersburg, führte zum ersehnten Fortschritt eines gewählten Parlaments, der Duma. Allerdings verfügte der Zar weiterhin über eine starke Position in der Exekutiven und Legislativen. Zudem schlossen die neuen Regelungen große Teile der Bevölkerung, wie Frauen, Studenten und Soldaten von den Wahlen aus. Der Erste Weltkrieg brachte radikale Veränderungen. Die patriotische Euphorie, mit der das Zarenreich 1914 in den Krieg gezogen war, verflog schnell. Die Verluste waren hoch, die Anstrengungen enorm und die Entbehrungen, nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilbevölkerung, groß. Insbesondere in den Städten machte sich das bemerkbar, so auch in Sankt Petersburg, dass übrigens, seitdem Russland gegen Deutschland Krieg führte, Petrograd hieß. "Die Hungersnöte entstanden vor allem dadurch, weil die Regierung nicht imstande war, das Versorgungsproblem zentral zu lösen," so Jörg Baberowski. "Und das Zweite war, dass sie es den gesellschaftlichen Institutionen verweigerte, das selbst in die Hand zu nehmen, weil sie befürchtete, dass sie dann Kompetenzen an die Liberalen abgeben müsste. Das Versorgungsproblem war vor allem ein Problem der Organisation. Die hatten die Kriegswirtschaft nicht im Griff. Sie konnten die Armee nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln, mit Gewehren, mit Munition und Kleidung versorgen, sodass an vielen Frontabschnitten die Soldaten die Waffen der Gefallenen nehmen mussten, weil sie keine eigenen hatten. Und sie waren nicht im Stande, die großen Städte mit Lebensmittel ausreichend zu versorgen." Ein bürgerlicher Aufstand, ein Militärputsch und die Revolution Im Februar 1917 eskaliert die Lage mit weitreichenden Folgen. Nikolaus Katzer: "Es ist zum großen Teil eine Selbstmobilisierung unterschiedlicher Teile der Bevölkerung." "Soldaten, die mit der Kriegslage, der Entwicklung des Krieges, unzufrieden waren und natürlich auch unter Nachschubproblemen litten." "Natürlich die städtischen Arbeiter, für die die Brotrationen ständig gekürzt wurden." "Im Umfeld des internationalen Frauentages treten für Brot anstehende Frauen über in die Reihen der Demonstranten und der Streikenden." "Schließen sich Soldaten der Petrograder Garnison den Streikenden und Demonstrierenden an. Das ist im Grunde der entscheidende Wendepunkt im Februar gewesen." Denn: "Das Regime hatte keine regierungstreuen Truppen in der Stadt, auf die es sich hätte verlassen können", sagt Jörg Baberowski. "Und am Ende setzten sich die Liberalen aus der Duma an die Spitze des Protestes, und sie kamen auf die Idee, die beste Lösung sei es, wenn der Zar abdanke und den Thron seinem Sohn überlasse. Das war, glaube ich, der größte Fehler, den sie machen konnten, weil erstens eine Abdankung des Zaren gar nicht vorgesehen war, und der Zar dann auch noch mal für seinen Sohn selbst abdankte, was er schon gar nicht hätte tun dürfen. Und sein Bruder dann den Thron nicht annahm im Wissen, dass er das gar nicht durfte. Und dass er deshalb auch keine Legitimation gehabt hätte." Die Idee der Liberalen, der absolutistischen eine konstitutionelle Monarchie folgen zu lassen, konterkarierte der Zar mit seiner Abdankung. Jetzt gab es keine Legitimation der Macht mehr, denn; "Die Regierung war vom Zaren eingesetzt worden, das Parlament vom Zaren gestiftet worden und die Verfassung auch, von oben. Und nun hatten sie gar nichts, wodurch sie legitimiert waren, weder die Revolutionäre, noch die provisorische Regierung. Sie alle waren vom Zaren irgendwann mal eingesetzt worden. Und jetzt war die einzige Legitimationsquelle, die dieses riesen Imperiums zusammengehalten hatte, weg. Und damit konnte, wie Lenin später gesagt hat, eigentlich jeder mit gutem Recht sagen, die Macht liegt auf der Straße, sie gehört dem, der sie sich nimmt." Lenin kehrt nach Russland zurück Wenig später kehrte Lenin, mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Kaisers, aus seinem Exil in Zürich nach Russland zurück, so wie andere im Exil lebende russische Sozialdemokraten auch. Er stellte sich, mit massiver Unterstützung durch den brillanten Redner Trotzki, an die Spitze der Räte. Manfred Hildermeier: "Es kam zu einem Arrangement zwischen dem Arbeiter- und Soldatenrat und dem liberalen Teil dieses Parlaments. Das ist der Kern dessen, was man als Doppelherrschaft bezeichnet hat. Eine Doppelherrschaft, die zwischen dem Februar 1917 und dem Oktoberumsturz der Bolschewiki das Land geprägt hat." Meinungs- und Presse-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit wurden eingeführt, die Privilegien des Adels und des Klerus abgeschafft. Das rückständige Russland war plötzlich zum freiesten Land in Europa geworden. Und Petrograd war das Zentrum. Aber was passierte im übrigen Land? Gab es in der Peripherie dieses Riesenreiches auch Aufstände? Und deckten sich die Ziele der Aufständischen auf dem Land mit denen in der Stadt? Seit einigen Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler auch mit diesen Fragen: "Diese Revolution findet nicht nur in den Hauptstädten Petrograd und Moskau statt, sondern sie findet ja in unterschiedlichen Formen in diesem ganzen großen russischen Imperium, in diesem ganzen Reich statt, eben auch in der Peripherie." Tanja Penter ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg. "An erster Stelle natürlich die Ukraine, aber auch die Staaten im Kaukasus. Interessant ist vielleicht auch, dass es nicht nur zur nationalen Revolution 1917 kommt, sondern dass zum Beispiel in Sibirien diese großen Regionen hinter dem Ural, auch regionale Bewegungen entstehen, die eine starke politische Kraft entfalten. Und da hat sie dann auch ein ganz anderes Gesicht. Und das ist meines Erachtens auch von der Forschung bis heute viel zu wenig berücksichtigt worden." So entsteht beispielsweise in der Ukraine nach der Februarrevolution eine nationale Regierung, die von einer breiten Bevölkerungsgruppe unterstützt wird: "Die ganz klar Autonomieforderungen für die Ukraine stellt, Konzepte eines föderalen Gesamtrusslands entwickelt, eine Minderheitenpolitik, wo sie versucht, auch die in der Ukraine lebenden Minderheiten zu integrieren. Und die zunehmend auch in einen Konflikt mit der provisorischen Regierung in Petrograd gerät, die diese Autonomiebestrebungen sehr kritisch sieht." Doch die provisorische Regierung in Petrograd hatte andere Probleme, als sich um die Peripherie zu kümmern, denn schon bald zeigte sich die Diskrepanz zwischen den Zielen der Beteiligten: Die liberalen bürgerlichen Kräfte strebten eine Legitimierung der Regierung durch Wahlen an, die sie für den Herbst planten. Zudem zeigten sie sich patriotisch und glaubten, den Krieg noch gewinnen zu können. Diese Ziele standen im Widerspruch zu der Erwartung breiter bäuerlicher Bevölkerungsschichten, die sich weniger um die Legitimation der Regierung sorgten als um zügige Landreformen und eine Beendigung des Krieges. Das sahen die Räte genauso. Lenin an der Spitze forderte sofortige Friedensverhandlungen, Sozialreformen, Enteignung der Industrieanlagen sowie des Grundbesitzes und die Übergabe der Landwirtschaft an die Bauern. "Ende Juli, Anfang August kippte die Stimmung", sagt Nikolaus Katzer, "und die Bolschewiki, die auch eine Art Umsturz propagierten in dieser Phase, hatten immer mehr Zulauf. Das heißt, aus dieser Splittergruppe wird in wenigen Wochen eine Massenbewegung, die eine durchaus straffe, wenngleich, wie sich zeigt im Herbst, durchaus zerstrittene Führung um Lenin hatte." Das Ziel dieses radikalen Flügels der Sozialdemokraten, der sich Bolschewiki nennt, ist nicht mehr eine Demokratie, sondern die Herrschaft der Sowjets, der Räte. Lenin formuliert das später so: "Selbst in der demokratischsten, selbst in der freiesten Republik wird der Staat, solange die Herrschaft des Kapitals bestehen bleibt, solange Grund und Boden Privateigentum bleiben, immer von einer kleinen Minderheit geleitet, die zu neun Zehnteln aus Kapitalisten und Reichen besteht." Alle Macht den Sowjets, das ist jetzt die Devise. Was dann – nach russischer Zeitrechnung im November, nach mitteleuropäischer im Oktober - passierte, entwickelte sich in den Erzählungen und Erinnerungen der Sowjets und ihrer Verbündeten zu einer eigenen, heroischen Revolutionsgeschichte. Ablauf der Oktober-Revolution Trailer des Films "Oktober" von Eisenstein auf Youtube. Er zeigt die bolschewistische Sicht auf die Ereignisse der Revolution: Kein Dissens besteht unter Historikern darüber, wie sich der Ablauf der Machtergreifung durch die Bolschewiki im Oktober nach europäischer Zeitrechnung in Petrograd abspielte: "Es wird generalstabsmäßig die Machtergreifung vorbereitet. Es gelingt den Bolschewiki tatsächlich, die Macht zu erobern. Sie haben ein militärisches Revolutionskomitee gegründet, das maßgeblich den Befehlen Trotzkis folgte, ganz gezielt wichtige Schaltstellen der Macht, der Medien, der Verwaltung, der Versorgung in der Stadt besetzt, ganz offenkundig mit vergleichsweise wenig Widerstand die provisorische Regierung gestürzt." Boris Kolonitskiy gilt heute als einer der bedeutendsten russischen Revolutionsforscher. Der Historiker arbeitet unter anderem zur Rezeptionsgeschichte der Ereignisse von 1917. Die begann bereits ein Jahr nach der Revolution. "Die ersten Gedenkfeiern begannen schon sehr früh im November 1918. Man muss immer die spezielle Situation von 1918 bedenken. In Russland herrschte Bürgerkrieg. Die Situation war für Lenin und seine Verbündeten sehr kompliziert. Ihm war wichtig, die Ereignisse vom Oktober 1917 als bolschewistische Revolution hinzustellen. Aber das war sie nicht. Sie wurde getragen von Sozialdemokraten, Anarchisten, Bürgerlichen, die sich nicht durch das Parlament vertreten fühlten, Nationalisten und anderen. Im ersten Jahr glaubten viele, es sei ihre Oktober-Revolution gewesen. Jeder erzählte eine andere Geschichte. Die Seeleute fühlten sich zum Beispiel als Avantgarde der Revolution. Sie fühlten sich jetzt betrogen, weil die Bolschewiki die Revolution für sich beanspruchten. Um das auch durchzusetzen, zentralisierten die Kommunisten das Gedenken. Künstler wurden beauftragt, die Revolution in ihrem Sinn zu würdigen, zu glorifizieren. In dem Zusammenhang muss man auch den berühmtesten Film von Eisenstein "Oktober" sehen. Eisenstein war ein Genie. Aber er schuf eine Revolution nach den Vorgaben der Bolschewiki. Er kreierte Geschichte wie so viele Künstler mit ihren Bildern, Filmen und literarischen Texten." Anpassung der Geschichtsdarstellung Das Narrativ über die Machtergreifung wird in den darauffolgenden Jahrzehnten entsprechend den Vorstellungen der Sowjets und der jeweiligen Politik angepasst. Der Rundfunk der DDR präsentiert am 7. November 1981 in seinem Jugendjournal Zeitzeugen des Ereignisses, die nicht näher namentlich genannt werden. "Die Bolschewiki hatten aufgerufen und uns eingesetzt. Wir mussten die Telegrafenämter, die Postämter, die Polizeiwachen und die großen Banken, die Bahnhöfe besetzen. Und jetzt – wir haben alles in unserer Hand, nur den Winterpalais noch nicht. Waffen hatten wir genügend, in der Peter-Paul-Festung war das Waffenarsenal schon in unserer Hand. Dann kam auch noch von den roten Kommissaren noch mal ein Befehl, wir sollten holen die Werftarbeiter von den Zaristischen Werften. Auch die haben wir geholt. Auch die wurden bewaffnet. Und so standen wir nun, von morgens bis abends. Wie wir wissen, war das Signal zum Angriff auf das Winterpalais durch die Schüsse der Aurora gegeben worden. Wir erhielten zwei Patronengürtel - und auf geht's." Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 2014 in Moskau. (imago / Russian Look) Während es in Moskau zu blutigen Auseinandersetzungen kam, beschreibt der Historiker Jörg Baberowski die nachfolgenden Ereignisse in Petrograd aus Sicht des Wissenschaftlers so: "Die Bolschewiki selbst waren enorm überrascht, dass sie die Schaltstellen der Macht zunächst übernehmen konnten und dass sich ihnen überhaupt kein Widerstand entgegenwarf. Sie hatten erwartet, dass Widerstand organisiert werden würde, wenigstens vom Militär. Und es passierte nichts. Und sie saßen dort und konnten ihren Erfolg gar nicht glauben." Das hörte sich im DDR Rundfunk am 07.11.1981 etwas anders an: "Die ersten waren die roten Matrosen von Kronstadt, die das Tor überklettert hatten und öffneten. Und alles schrie mit Hurra, voran. Drinnen verteidigen sich die Weißen. Es gab sehr viele Verwundete und Tote. Wir verschafften uns durch das rechte Tor Einlass und kämpften uns von Stockwerk zu Stockwerk durch. Das Winterpalais hat mehr als 1.000 Zimmer. Glauben Sie mir, dieser Sturm war kein Spaziergang." Hat sich das so zugetragen? Gab es wirklich Tote und Verletzte, wie der Beitrag suggeriert? Oder handelt es sich um Revolutionsprosa, womöglich Propaganda? Auffallend ist, dass die genannten Zeitzeugen den angeblich schweren Kampf um das Winterpalais gar nicht konkret beschreiben. Allerdings geben sie das wieder, was Sergei Eisenstein in seinem Propagandafilm "Oktober" zehn Jahre später zeigt. Da hat das Land schon eine blutige Geschichte hinter sich, denn nach der Oktoberrevolution versinkt es zwischen 1918 und 1921 in einem blutigen Bürgerkrieg, in Chaos und Anarchie. Für die Sowjetunion und ihre Verbündeten stellte das Ereignis eine Herausforderung dar: Zum einen verherrlichte die offizielle Geschichtsschreibung die Revolution. Die jungen Revolutionäre galten als Vorbilder für Generationen kommunistischer Jugendlicher. Andererseits brauchte auch das sowjetische Regime stabile Verhältnisse und keine Aufruhr. Diese Widersprüche bestanden seit den 1920er-Jahren. Die Bedeutung der Revolution in der Jetztzeit Gefährlich wurde es für das Regime immer dann, wenn politische Unruhen unter dem Deckmantel der Revolution ausbrachen, wie in der Tschechoslowakei 1968. Auch Gorbatschow nutzte die Revolution für seine Zwecke: "Gorbatschow hat seine Politik als eine Fortsetzung der Revolution beschrieben. Jelzin benutzte zwar antikommunistische Rhetorik, aber gleichzeitig war klar, dass er diese bolschewistische Art der Radikalisierung nutzte. Auf seinem bekanntesten Bild 1991 hielt er seine wichtigste politische Rede auf einem gepanzerten Wagen. Und er nahm damit direkt einen symbolischen Bezug auf Lenin, der ebenfalls, als er aus Deutschland in Russland ankam, eine seiner bedeutendsten Rede auf einem Panzerfahrzeug hielt." 18. Oktober 1993: Loyale Truppen von Präsident Boris Jelzin belagern das Weiße Haus, das russische Parlament. (AP Archiv) Auch, wenn die verbale Botschaft eine andere war, stand die Symbolik klar in der Tradition der Revolution. Was Putin anbelangt, hält Boris Kolonitskiy ihn für einen kühl kalkulierenden Strategen: "Putin ist eklektisch. Er trifft vage Aussagen und benutzt Geschichte als sein Werkzeug. Für ihn war in der Geschichte alles gut. Deshalb ist 1917 ein Problem. Wir können das an seiner Rede sehen, die er 2014 gehalten hat im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Putin hielt eine Rede über die Helden. Was interessant ist, er ging nur allgemein auf die Geschichte ein. In weniger formellen Reden, wenn er improvisierte, war er sehr kritisch Lenin gegenüber. Er sprach Lenin schuldig. Aber er sagte das nie bei größeren öffentlichen Veranstaltungen, weil er die kommunistischen Wähler hinter sich bringen will. Aber auch Leute, die sentimental sind beim Thema Revolution. Ich denke, dass 2017 eine große Herausforderung für das Regime wird." Die Herausforderung besteht vor allem in den Elementen der Revolution, die für die politische Ordnung Russlands höchst gefährlich sind, meint Professor Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau: "Das spontane Element der Revolution, das im Februar und im Verlauf des Jahres 1917 eine ganz wesentliche Rolle spielt, das sind die Autonomie- und Sezessionsbestrebungen der Nationalitäten. Insofern ist diese Wahrnehmung der Revolution, und wird es auch, denke ich, im Jubiläumsjahr bleiben, durchaus kontrovers und widersprüchlich." Widersprüchlich ist auch das heutige Geschichtsbild in der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion. Wurde während der kommunistischen Herrschaft ein einheitliches, zentralistisch gesteuertes Bild der Ereignisse von 1917 vermittelt, hat sich zwischenzeitlich einiges verändert. Professorin Tanja Penter, Universität Heidelberg: "Natürlich hat dann in der Ukraine nach 1991, nach der Gründung eines ukrainischen Staates, eine vollständige Revision der Sowjethistoriografie stattgefunden. Man hat dieses nationale Narrativ ganz stark in den Vordergrund gerückt. Und das ist im Prinzip die Erinnerung an diese traumatische Erfahrung an die gescheiterte ukrainische Staatsgründung." Die Russische Revolution hat das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt. Sie hat den Grundstein gelegt für die Blockbildung zwischen Ost und West, die Konkurrenz zweier Politiksysteme: der Diktatur des Proletariats und der Demokratie, für die Planwirtschaft im Gegensatz zur freien Marktwirtschaft. Nach dem Zerfall der Sowjetunion schien die Demokratie als Sieger überlegen. Und doch zeigt jetzt das 21. Jahrhundert, wie fragil diese Staatsform ist, und wie sich aus der Idee der freien Marktwirtschaft ein Raubtierkapitalismus entwickelt hat. 100 Jahre nach Beginn der Russischen Revolution ist ihre Idee marginalisiert und wird nur noch von wenigen Ländern als Vorbild für ihre Staatsform gesehen. Aber ist sie deshalb Geschichte? Professor Boris Kolonitskyi, Historiker an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, ist skeptisch: "Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der französische Historiker Francois Furet gesagt: Die Revolution ist vorbei, 200 Jahre vorbei. Welche Idee hatte er? Im 20. Jahrhundert war die Revolution ein wichtiger Markstein für verschiedene französische politische Parteien. Ich bin kein Spezialist, aber die Revolution ist für Frankreich Geschichte. Was Russland anbelangt, ist die Revolution noch nicht Geschichte. Es ist ein bedeutendes politisches Ereignis. Es ist eine wichtige Zäsur und deshalb würde ich sagen: Unglücklicherweise ist die russische Revolution noch nicht vorbei!" Literaturtipps:+ Altrichter, Helmut u. a.: "1917 – Revolutionäres Russland", Herausgegeben in Zusammenarbeit mit "Damals – Das Magazin für Geschichte", Theiss Verlag, 2016+ Aust, Martin: "Russische Revolution – Vom Zarenreich zum Sowjetimperium", Verlag C.H.Beck, erscheint am 25.05.2017+ "Der Spiegel": "Geschichte, Russland – Vom Zarenreich zur Weltmacht", Spiegel-Verlag, Nr.6/2016+ Hildermeier: "Geschichte der Sowjetunion 1917 – 2017", 2. überarbeitete Auflage, erscheint Oktober 2017, Verlag Beck+ Merridale, Catherine: "Lenins Zug – Die Reise in die Revolution", lieferbar ab 23. März 2017, Verlag S. Fischer
Von Barbara Weber
Während der Erste Weltkrieg tobt, gärt es in Russland. Hunger und Armut führen im Februar 1917 zu Aufständen und zum Sturz des Zaren. Im Oktober dann gelangen die Bolschewiki per Staatsstreich an die Macht - die Sowjetunion wird gegründet. Schon kurz danach wird sie zur Legende - und zum wichtigen Propagandainstrument der Sowjetunion.
"2017-01-05T20:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:26:10.429000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/1917-kinder-der-russischen-revolution-100.html
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Sparen lernen von der Sparkasse?
Viele Schüler und Schülerinnen interessieren sich für Themen wie Wirtschaftsordnung oder Globalisierung. (Imago/ Gerhard Leber) "Der Bankenverband kümmert sich seit etwa 30 Jahren um das Thema ökonomische Bildung in den Schulen. Verbesserung der ökonomischen Bildung bei Schülerinnen und Schülern", sagt Anke Papke. Sie leitet beim Bundesverband deutscher Banken den Bereich Bildung und Wirtschaft. "Wir sind der Meinung, dass junge Leute ein solides Grundgerüst an solider Bildung brauchen, wenn sie die Schule verlassen, um sich in der Welt heute zurechtzufinden, um ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Das ist für uns zunächst einmal ein Motiv, den Wirtschaftsunterricht an Schulen zu fördern." Denn, das zeigt die Jugendstudie des Bankenverbandes aus dem Jahr 2015, gut ein Drittel der Befragten Schülerinnen und Schüler interessieren sich stark oder sehr stark für Wirtschaftsthemen, die große Mehrheit, nämlich 81 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wünschen sich demnach selbst mehr "Wirtschaft in der Schule". Deshalb, sagt Anke Papke, biete ihr Verband Unterrichtsmaterialien zum Thema Wirtschaft allgemein an, also zum Beispiel zu Wirtschaftsordnung oder zur Globalisierung. Materialien von Firmen genau prüfen "Das zweite ist, wir als Banken stellen natürlich auch noch einmal speziell Materialien zur Finanzbildung zur Verfügung. Da haben wir ein eigenes Portal im Internet eingerichtet, wo jeder Lehrer sich Arbeitsblätter herunterladen kann." Bettina Busse vom Verbraucherzentrale Bundesverband rät, solche Materialien, die von Firmen, Verbänden, aber auch von Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung gestellt werden, grundsätzlich erst einmal genau zu prüfen. "Unterrichtsmaterialien werden wahrgenommen von den Nutzern, also von Lehrkräften, aber auch von Schülern und Eltern als, was im Schulbuch steht, das stimmt normalerweise, da kann man sich auf eine gewisse Qualität verlassen." Materialkompass der Verbraucherzentrale Das stimme manchmal, aber eben nicht immer. Die Verbraucherzentralen haben Unterrichtsmaterialien, die von Wirtschaft und Verbänden angeboten werden, überprüft und die Ergebnisse in ihrem Materialkompass online einsehbar gemacht. Fachliche Korrektheit, didaktische Qualitäten, angemessene Gestaltung würden bewertet, sagt Bettina Busse. "Aber ein ganz wichtiges Kriterium ist, Unterrichtsmaterialien müssen werbefrei sein, Werbung hat in der Schule nichts zu suchen. Und sie sollten die Themen, die sie darstellen, und gerade aktuelle, wichtige Themen neutral behandeln, verschiedene Standpunkte zeigen, zeigen, dass ein Zustand in der Welt auch veränderbar ist, das ist ein wichtiger Grundsatz." Werbung, das ist etwa das Firmenlogo auf jeder Seite. Aber es geht auch viel subtiler. Der Autokonzern, zum Beispiel, der in seinem Material zwar erwähnt, dass seine modernste Technologie zu weniger Umweltbelastung führt, aber nicht, dass auch ein besser ausgebauter öffentlicher Nahverkehr oder häufigeres Fahrradfahren hilft. Oder Versicherungsmakler, die an Schulen "ehrenamtlich" über Sparpläne, Darlehen, Inflation und Altersvorsorge aufklären. Lehrer sehen sich in der Pflicht Anke Papke vom Bankenverband kennt den Vorwurf der Einseitigkeit, der Manipulation. "Sie werden in keinem unserer Materialien Werbung finden, für keines unserer Produkte, noch für Banken, noch für die Branche. Wir haben uns da hohe Standards auferlegt und haben gesagt, bei uns kommt das nicht vor, bei uns geht es ausschließlich um die Vermittlung von Wissen." Die Materialien würden von Fachleuten erarbeitet und überprüft. Sie glaube, mit einer zentralen Stelle, die Unterrichtsmaterialien bewerte, hätte der Bankenverband zwar kein Problem, sagt Anke Papke, aber eigentlich sei sie nicht notwendig: "Ich glaube auch, dass es eine solche Stelle, die Materialien prüft, bereits gibt. Und diese Stelle sind die Lehrer." Eine repräsentative Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbandes vom vergangenen November zeigt, dass sich 72 Prozent der Befragten Lehrerinnen und Lehrer selbst in der Verantwortung sehen, Unterrichtsmaterialien zu prüfen, die von der Wirtschaft kommen. Genauso viele sagen allerdings auch, dass sie dafür eigentlich keine Zeit haben. Qualitätsprüfung zur Orientierung Man solle die Verantwortung nicht auf die Lehrer abwälzen, findet Bettina Busse. Eine zentrale Stelle, die alle Unterrichtsmaterialien prüfen und freigeben müsse, hält sie aber auch nicht für die Lösung. "Niemand will eine zentrale Zensurbehörde für Unterrichtsmaterialien einführen. Aber wenn für wichtige, vielgenutzte Materialien und Angebote so eine zentrale Qualitätsprüfung existiert, dann orientieren sich auch andere Anbieter daran." Und das führe, hat ihre Erfahrung gezeigt, oft zu einer deutlich besseren Qualität der Angebote.
Von Stefan Maas
Wenn es um ökonomische Bildung geht, bieten Unternehmen und Verbände den Schulen in vielfältiger Formen ihre Hilfe an. Das reicht von Vorträgen bis hin zu kostenlosen Unterrichtsmaterialien. Doch es bleibt den Lehrern überlassen, diese auf fachliche Korrektheit und didaktische Qualitäten zu prüfen.
"2017-04-29T14:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:29.670000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaftsunterricht-an-schulen-sparen-lernen-von-der-100.html
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Antiliberal und autoritär
Götz Kubitschek, Verleger, Publizist und politischer Aktivist der "Neuen Rechten" (picture alliance / Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa) "Schnellroda ist längst zur Chiffre für diesen Geist geworden. Schnellroda ist der Knotenpunkt eines konservativ revolutionären Milieus, einer rechtsintellektuellen Szene. Schnellroda ist ein Beispiel". Götz Kubitschek wirbt für sein "Institut für Staatspolitik", eine Denkfabrik der Neuen Rechten in Schnellroda in Sachsen-Anhalt. Die sogenannte Bewegung der "Konservativen Revolution" der Weimarer Republik sieht Kubitschek mit kaum verhohlener Bewunderung. Er schreibt: "Die sogenannte 'Konservative Revolution' von 1918 bis 1932 hat bis heute ihre Strahlkraft auch deshalb nicht verloren, weil sie in ihren Hauptvertretern radikal und kompromisslos war, so ganz und gar bereit für etwas Neues, einen Dritten Weg, einen Umsturz, eine Reconquista, einen revolutionären, deutschen Gang in die Moderne. … Von Harmlosigkeit, zivilisierter Zurückhaltung, Zahnlosigkeit keine Spur." Im Gegensatz zu heute. Es klingt bedauernd, wenn Kubitschek fortfährt: Die Konservativen seien "niemals zuvor so harmlos, so zahm und zivil" aufgetreten. Rechtsextremismus - das Dossier zum Thema (dpa / Martin Schutt) Etwas Neues schaffen, was ewig gilt Nicht wenige intellektuelle Strömungen der sogenannten "Neuen Rechten" blicken heute zurück auf jene Bewegung, der vor fast einem Jahrhundert eine fundamentale Erneuerung der Gesellschaft vorschwebte. Eine "neue deutsche Wirklichkeit" sollte geschaffen werden, die der zivilisatorischen Verweichlichung der Weimarer Zeit entgegentrete. So formulierte es der Dichter Hugo von Hoffmannsthal 1927 in einer Rede an der Münchener Universität: "Der Prozess von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne." Eine "konservative Revolution". Der Begriff klingt paradox, wie Helmuth Kellershohn, Rechtsextremismusforscher und Gründungsmitglied des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung erläutert: "Im Alltagsverständnis würde man sagen, konservativ meint Bewahrung, also Bewahrung von überkommenen Traditionen, Sitten, Gebräuchen, Institutionen. Also Familie oder der Staat. Revolution dagegen meint Umwälzung, radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse und wird natürlich im Allgemeinen mit der politischen Linken in Verbindung gebracht. Und das wird jetzt miteinander kombiniert." Und das meint: "Dass man nicht zurück will zu einem früheren Zustand, also damals in der Weimarer Republik, zurück zur Monarchie. Sondern es geht darum, etwas ewig Gültiges unter neuen Bedingungen zur Geltung zu bringen. Und das impliziert die Zerstörung der bestehenden Verhältnisse, also der Weimarer Republik." Der Kultur- und Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (dpa - Bildarchiv) Es war die Generation derer, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, den Zusammenbruch der Monarchie und die sich über die als Demütigung empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrags empörten. Der Schriftsteller Ernst Jünger etwa, der das Parlament "mit dem Flammenwerfer" reinigen wollte. Der Staatsrechtler Carl Schmitt, für den die grundlegende Unterscheidung für politisches Handeln die zwischen Freund und Feind ist. Der Philosoph Oswald Spengler, der das kulturpessimistische Szenario eines "Untergangs des Abendlands" entwarf. Oder der Publizist Albrecht Erich Günther, der den konservativ-revolutionären Geist folgendermaßen formulierte: "Konservativ sein ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem was immer gilt". Rückbesinnung auf das Naturrecht Und dieses immer Geltende, so dachte es wiederum der Kulturhistoriker und Publizist Arthur Möller van den Bruck, liege nicht in der Bewahrung von zufällig Überkommenem, sondern darin, "Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt." "Was mir an diesem Zitat gefällt, ist, dass es diesen bewahrenden, konservierenden und den kreativen Aspekt verbindet. Dinge zu schaffen, das ist der kreative Aspekt, die zu erhalten sich lohnt." Wolfgang Fenske, Leiter der Berliner "Bibliothek des Konservatismus" ist bekennender Konservativer – als "Rechter" will er sich nicht bezeichnen. Er findet das Denken der Weimarer Jungkonservativen – zu denen Möller van den Bruck gehörte – auch heute in Teilen anschlussfähig. "Ich stehe zu diesem Zitat. Die Dinge müssen erst geschaffen werden, natürlich sind sie latent schon vorhanden. Geschaffen werden, dass sie ans Licht gebracht werden, … wie Sloterdijk sagen würde, dass jemand hinabsteigen muss in die Archive unseres kulturellen Gedächtnisses, um sie wieder ans Tageslicht zu befördern. Und erst dann kann man sie nutzbar machen und von ihnen leben." Rechtsextremismus-Experte Speit - "Die Identitären sind geistige Brandstifter" Laut Rechtsextremismus-Experte Andreas Speit wird das Agieren der "Identitären Bewegung" immer radikaler. Vor allem über soziale Netzwerke versuchten sie, ihre Ideologie weiter auszubreiten. Es gelte also, so Fenske, sich zurück zu besinnen auf Immer-Gütiges, aber Verschüttetes, was es wieder aufzudecken und zu pflegen gilt. Was versteht er darunter, der übrigens im "Erstberuf" evangelischer Pfarrer ist? "Aus dem Naturrecht gehen diverse Dinge hervor, die dem Konservativen entgegenkommen. Ob das nun die Geschöpflichkeit des Menschen ist, ob es die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen ist, ob es Grundordnungen wie Ehe und Familie sind, das ist alles da angelegt. Natürlich ist auch angelegt - Hierarchie, nichts funktioniert in dieser Welt ohne Hierarchie, ob das der Vater oder Mutter und Kind ist oder Obrigkeit und Volk. Natürlich geht es darum, die Menschen, die nach konservativer Überzeugung nicht gleich sind, sondern mit unterschiedlicher Gaben begabt, mit Talenten, die unterschiedlich zu fördern sind." Am Liberalismus gehen Völker zu Grunde Konservatives Denken lehnt die Ideen von Moderne und Aufklärung ab. Die Aufklärung setzte den Menschen frei aus vorgegebenen Bindungen und ermunterte ihn, wie es bei Kant heißt, "sich seines eigenen Verstandes zu bedienen". Der Mensch werde damit aber haltlos, meint Wolfgang Fenske, denn er brauche einen "archimedischer Punkt", der außerhalb des eigenen Denkens liege. Er brauche eine Orientierung an etwas Überzeitlichem, sei es an Gott oder einer philosophischen Idee. "Alles andere endet dann letztlich in Vereinzelung und Atomisierung und Beliebigkeit. Und das ist eine akute Gefahr für ein Gemeinwesen, die wir gerade erleben." Hauptfeind der Weimarer Konservativen war der Liberalismus. Für Liberale ist die individuelle Freiheit die Grundnorm jeder menschlichen Gesellschaft, das heißt dass jeder Mensch so leben kann wie er will, solange er nicht die Freiheit des anderen einschränkt. Ebenso angelehnt wurde die Staatsform der Demokratie, in der alle Menschen als vernunftbegabte Wesen sich ihre eigene politische Ordnung geben. Volker Weiß, Historiker und Publizist aus Hamburg fasst zusammen: "Verbindend ist das strikt Antidemokratische, Antirepublikanische, das Antiliberale. Die berüchtigte Parole Arthur Moeller van den Brucks lautete: ‚An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde.‘ Der Liberalismus wird immer verbunden mit Gleichmacherei, mit Dekadenz." Und was setzten die Konservativen dieser Dekadenz entgegen? "Es gibt natürlich einen sehr, sehr starken nationalen Impuls, in den meisten Fällen: völkisch-nationalistisch. Die Nation wird also ethnisch aus Blut, Boden und Geist extrahiert, also ein völkisch aufgeladener Begriff der Kulturnation. Es gibt immer wieder Rückbesinnung auf das Mythische, auf das Überhistorische, auf das Anti-Rationale, das sind ganz, ganz zentrale Elemente." Aber wie stehen die heutigen neurechten Konservativen zu solchen vor nahezu 100 Jahren entwickelten Vorstellungen von "Blut, Boden und Geist"? Karl Heinz Weißmann, Autor für verschiedene rechtskonservative Zeitschriften betonte einmal, dass man die Lösungsvorschläge von damals heute nicht brauchen könne. Dass man in der Analyse der aktuellen Krise allerdings zu Einschätzungen komme, die "denen der Konservativen Revolution entsprechen." Die heutigen neuen Rechten benutzten, so Helmuth Kellershohn, die Ideen der Weimarer Zeit als Steinbruch… "… aus dem man Argumente ziehen kann, und die man dann aktualisiert und auch modernisiert. Und auch wenn man zum Beispiel von der Wirtschaft- und Sozialpolitik ausgeht, tauchen dann Ideen aus der Konservativen Revolution wieder auf, zum Beispiel: Kubitschek vom IfSP setzt auf Verstaatlichungen. Andere setzen auf einen autoritären Liberalismus, das heißt auf eine Kombination von Marktwirtschaft und einem autoritären Staat." Ernst Jünger (imago/ Roland Holschneider) Beachtlich ist auch die personelle Kontinuität zwischen den Vor- und den Nachkriegskonservativen. Da ist zunächst einmal Armin Mohler, Privatsekretär des Nationalkonservativen Ernst Jünger. Mohler war ein Schweizer Publizist, der mit seiner Dissertation im Jahr 1949 den Begriff der "Konservativen Revolution" erst populär machte. Sein Ziel war, den Theorienkanon einer Rechten wiederzubeleben, deren Denken angeblich präzise von der nationalsozialistischen Ideologie abzugrenzen sei. "Er ist der Großvater der heutigen Rechten, so hat er es formuliert – sein Anliegen sei es gewesen, der Rechten, einer neuformierten Rechten nach dem Kriege ein Geisteserbe zu vermitteln, das nicht kontaminiert war durch den Nationalsozialismus." Allerdings, so Kellershohn, lasse sich Mohlers Idee einer ‚integeren‘ Rechten jenseits des Nationalsozialismus nur begrenzt aufrechterhalten. "Wenn man von den Völkischen ausgeht, dann ist ganz klar, dass es eine Traditionslinie gibt von der Völkischen Bewegung der Jahrhundertwende bis zum Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite hat es auch Kritiker gegeben, Edgar Julius Jung wurde 1934 im Röhm-Putsch umgebracht, weil er die NS-Politik kritisiert hat. Also es gab auch Leute aus der Konservativen Revolution, die gegen den NS Stellung bezogen haben. Aber der Großteil hat dann auch mitgemacht und vor allem die ideologischen Grundlagen gelegt." Armin Mohler selbst, darauf verweist Volker Weiß, wurde zum Lehrer weiterer heutiger Mitglieder der "Neuen Rechten". "Dieser Armin Mohler ist wiederum der persönliche Lehrer von Karlheinz Weißmann, einem sehr zentralen Autor der ‚Jungen Freiheit‘, und andrerseits von Götz Kubitschek, der sein privates Institut für Staatspolitik betreibt, das er mit Karlheinz Weißmann begründet hat. Tja, und auch direkten Umgang pflegt mit Björn Höcke von der AfD beispielsweise. " Identitäre Bewegung": Nationalisten im Hipster-GewandDie "Identitäre Bewegung" hat europaweit Anhänger. Die deutsche IBD wird vom Verfassungssschutz als rechtsextrem eingestuft. Ein Überblick. Einig sind sich alte und neue Konservative auch in ihrem Antiliberalismus. Etwa wenn der AfD-Politiker Björn Höcke diagnostiziert, dass sich die heutigen Deutschen in einer "äußerst miserable(n) Verfassung" befinden. Denn, so schreibt er in seinem Buch "Nie zweimal in den selben Fluss", sie seien "im Zuge des westlich dekadenten Liberalismus und der ausufernden Parteienherrschaft zur bloßen ‚Bevölkerung‘ herabgesunken." Was ist – nach Höcke - zu tun? "Um nun als Deutsche wieder zu einem vollwertigen … Volk zu werden, brauchen wir … eine fordernde und fördernde Elite, die unsere Volksgeister wieder weckt". Das klingt ähnlich wie die Vision des Publizisten Edgar Jung, dem 1927 ein "durch eine Elite geführte(r) autoritären Staat" vorschwebte. Oder die Vision einer "sozialaristokratischen Regierung", wie der Kulturhistoriker Arthur Moeller van den Bruck das in seinem 1923 erschienenen Buch, "das dritte Reich" nannte. Sympathien für autoritären Staat "Man muss grundsätzlich davon ausgehen, dass die Staatsvorstellungen von Möller van den Bruck sich immer gedreht haben um den autoritären Staat. Der Staat muss autoritativ geführt werden. Und da gibt es gewisse Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus. Aber ansonsten hat die Konservative Revolution die verschiedensten Vorstellungen gehabt. Das Reich konnte großdeutsch sein, es konnte ein germanisch slawisches Weltreich sein, oder ein planetarischer Imperialismus bei Ernst Jünger. Wolfgang Fenske hält diese Reichsidee auch heute noch für inspirierend: "Das ist ein metaphysisches Bild, das deutlich machen soll, dass das Reich die Ebene ist von Staatlichkeit, letztlich die metaphysische Ebene, auf der alle zusammenfinden, auch wenn sie in konkreten politischen Fragen völlig unterschiedlich sind. Und das ist letztlich als ein Bild heute nach wie vor gültig, dass wir in unserer Staatlichkeit eine Ebene finden, wo wir in unseren einander widersprechenden Ansichten eine gemeinsame Ebene finden. Ob Sie das Reich nennen oder sagen, der Begriff hat sich erledigt, wir nennen das anders, ist zweitrangig, aber diese Aspekte des Denkens, die sind fruchtbar zu machen." Die Idee eines Deutschlands als einer Art metaphysischer Schicksalsgemeinschaft mit unveränderlicher Kultur sei möglicherweise antidemokratisch, aber nicht zwangsläufig neonazistisch, darauf weist Helmuth Kellershohn hin. Dieter Stein, Autor der rechtskonservativen Zeitschrift "Junge Freiheit" etwa distanziert sich explizit vom "verbrecherischen Charakter der NS-Herrschaft". Eher, meint Kellershohn, gehe es um die Schaffung einer anderen, autoritären Gesellschaft mit entsprechendem politischem System und Bündnispartnern in ganz Europa. "Man kann sich das ein bisschen vorstellen, wenn man an Ungarn mal denkt, wie so Schritt für Schritt die Verfassung ausgehebelt wird, dadurch, dass man bestimmte Dinge verändert. Die neue Rechte bewegt sich auf der Grenze des Verfassungsbogens, auch ganz bewusst, sie versucht die Möglichkeiten die die Verfassung bietet auszunutzen und gleichzeitig aber eben dann Wege offen zu halten, die darüber hinaus führen."
Von Ingeborg Breuer
Vertreter der "Neuen Rechten" diskutieren über antidemokratische Denker der Weimarer Republik - die sogenannte "Konservative Revolution". Einig sind sich alte und neue Konservative dabei in ihrem Antiliberalismus. Dabei sehen wissenschaftliche Beobachter auch eine personelle Kontinuität.
"2020-08-13T20:10:00+02:00"
"2020-08-15T10:53:38.241000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alte-und-neue-rechte-antiliberal-und-autoritaer-100.html
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Zwei Drittel geben negative Erfahrungen im Vereinssport an
Laut Studie hat knapp ein Fünftel der Befragten ungewollte sexuelle Berührungen im Vereinssport erlebt (imago / Joker / Petra Steuer) "Auch im Breitensport kommt es in Vereinen zu Erfahrungen von emotionaler, körperlicher und auch sexualisierter Gewalt", fasst Marc Allroggen zusammen. Der Kinder- und Jugendpsychiater von der Uniklinik Ulm ist einer der Studienleiter. In einer Online-Befragung haben 4400 Personen beantwortet, wie häufig sie im Verein mit Grenzverletzungen, Belästigung und Gewalt konfrontiert waren. Gut zwei Drittel der Vereinsmitglieder haben geantwortet, mindestens eine Form dieser negativen Erfahrungen gemacht zu haben. Sexualisierte Gewalt im Sport - "Auf dem richtigen Weg"Vor einem Jahr erzählten Betroffene sexualisierter Gewalt im Sport ihre Geschichte in einem Hearing. Darunter auch die Fußballerin Nadine. Sie berichtet, die Veranstaltung von damals habe etwas bewirkt. Eine alarmierende Zahl vor dem Hintergrund der positiven Werte, die gemeinhin mit dem Sport verbunden werden: Fairplay, Respekt, Toleranz, Loyalität. Für Sportsoziologin Bettina Rulofs von der Bergischen Universität Wuppertal, die die Studie ebenfalls leitet, eher die Realität. Die Befragten hätten auch außerhalb des Sports ähnliche Gewalterfahrungen gemacht. "Das heißt, es gehört ein stückweit auch zu unserem normalen Alltag offensichtlich dazu, dass wir solche negativen Erfahrungen machen." Nicht nur hohe Zahlen im Sport Im Vereinssport habe knapp ein Fünftel der Befragten ungewollte sexuelle Berührungen oder Handlungen erlebt. Von anzüglichen Bemerkungen oder unerwünschten Text- oder Bildnachrichten berichten ein Viertel der Befragten. Sechs von zehn Personen sind im Vereinssport beschimpft oder bedroht worden, vier von zehn gar geschüttelt oder geschlagen. "Diese Zahlen sind sehr hoch, aber wir werden ähnliche Zahlen in anderen institutionalisierten Kontexten finden", ist Mediziner Allroggen überzeugt - auch vor dem Hintergrund von Erkenntnissen aus anderen Studien. Dennoch bewertet die Mehrheit der Befragten den Vereinssport als eine gute bis sehr Erfahrung. Unsicherheit im Umgang mit Missbrauchsfällen In einer Teilstudie haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch 300 Verbände zu ihren Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt befragt. Fast alle geben an, Prävention sexualisierter Gewalt für relevant zu halten. "Wir können also davon ausgehen, dass auf Ebene dieser Haltung und Einstellung zum Thema ein relativ hohes Commitment in den Verbänden vorhanden ist." Auch Schutzmaßnahmen hätten die Verbände teilweise umgesetzt. Große Unsicherheit herrscht vor allem im Umgang mit Fällen. Hier soll die Studie Erkenntnisse liefern, wie die Verbände mit gezielten Präventionsmaßnahmen unterstützt werden können. Die Gewalterfahrungen müssten ernst genommen werden, so Bettina Rulofs. Das sei aber bereits bei vielen Verbänden und Vereinen der Fall. "Wir müssen eben alle daran mitarbeiten, dass der Verein auch ein sicherer Ort ist, um ein schöner Ort sein zu können". Im Frühsommer des kommenden Jahres soll die Auswertung abgeschlossen sein.
Von Andrea Schültke
Wie groß sind die Auswirkungen von sexualisierter Gewalt im Vereinssport? Das untersucht die Studie „Sicher Im Sport“. Ein Forschungsteam aus Wuppertal und Ulm hat nun erste Zahlen vorgestellt. Und die Ergebnisse passen wenig zu den Werten, für die der Sport steht.
"2021-11-04T22:54:00+01:00"
"2021-11-05T07:08:46.475000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-zu-sexualisierter-gewalt-zwei-drittel-geben-negative-100.html
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“Wir haben uns schon daran gewöhnt"
Seit Jahren gibt es Proteste gegen das Vorgehen der türkischen Justiz gegen Mitarbeiter von "Cumhuriyet" - hier 2017 vor der Zentrale der Zeitung in Istanbul (AFP / OZAN KOSE) Es ist die Fortsetzung einer absurd erscheinenden Justizposse. Denn obwohl auch die Kläger nicht behaupten, dass die Berichte von Pelin Ünker falsch seien, muss die ehemalige "Cumhuriyet"-Journalistin vor Gericht. Eigentlich könne sie entspannt sein, meint die Mittdreißigerin. "Wenn meine Artikel falsch wären, dann wüsste ich, dass ich einen Fehler begangen habe. Da ich aber weiß, dass diejenigen, um die es in den Berichten geht, das inhaltlich bestätigt haben, habe ich keine Bedenken." Doch es gehe nicht um die Richtigkeit ihrer Recherchen sondern darum, wer darin verwickelt sei, sagt die Journalistin. Der türkischer Finanzminister ist einer der Beschwerdeführer Während im ersten Prozess die Söhne des späteren Parlamentspräsidenten und heutigen Istanbuler Oberbürgermeisterkandidaten Binali Yildirim wegen Steuervermeidung in großem Stil im Mittelpunkt standen, ist es nun das Umfeld von Staatspräsident Erdogan, erklärt Pelin Ünkers Anwalt Yalcin Abbas. "Meine Mandantin wird der Verleumdung beschuldigt. Die Beschwerdeführer sind Serhat Albayrak, Berat Albayrak und Ahmet Calık." Alle drei Namen sind pikant. Berat Albayrakt ist heute türkischer Finanzminister. Außerdem Schwiegersohn von Staatspräsident Erdogan und er gilt als dessen Kronprinz. Serhat Albayrak ist sein Bruder, ein Geschäftsmann unter anderem im Bereich der regierungstreuen Medien. Beide Brüder haben früher in Führungspositionen beim Mischkonzerns Calik gearbeitet, dessen Inhaber ebenfalls in den Paradise Papers auftaucht. Alle drei werden dort mit dutzenden Offshore Firmen auf Malta in Verbindung gebracht. Deren einziges Ziel sei es, Steuern zu vermeiden, sagt die Journlistin Pelin Ünker, das sei auch nicht illegal und das habe sie auch nie behauptet. Parallelen zu anderen Prozessen "Wie in der ganzen Welt, so gibt es auch in der Türkei eine Diskussion darüber, ob Steueroasen ethisch vertretbar sind. Hierzulande zahlen alle Menschen hohe Steuern. Und diese Steuern entrichten wir aufgrund der Politik der Regierung. Und dann gibt es für manche Leute die Möglichkeit Offshore weniger Steuern zu zahlen." Dass diese Menschen ausgerechnet aus dem Umfeld der Regierung kommen, hält Ünker für problematisch. Vor Gericht geht es also allein um die Diffamierung bekannter Persönlichkeiten. "Wir haben uns schon daran gewöhnt aber es ist komisch, aufgrund einer Nachricht zu einer Strafe verurteilt zu werden, auch wenn die Nachricht stimmt." Ünkers Anwalt Yalcin Abbas sieht nicht nur Parallelen zum Prozess um die Beleidigung und Diffamierung der Söhne des ehemaligen Ministerpräsidenten und späteren Parlamentspräsidenten Yildirim. Ünker war im Januar zu dreizehneinalb Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt worden. "Dieser Prozess wird vor dem gleichen Gericht sattfinden, es geht um den gleichen Zeitungsartikel und deshalb denke ich, sie werden annähernd die gleiche Entscheidung treffen. Natürlich sind die Kläger andere und die Beschwerden nicht hundertprozentig deckungsgleich. Aber um sich selbst nicht zu widersprechen denke ich, wird das Gericht ein ähnliches Urteil fällen." Mehr als 100 Anwälte protestieren Die Entscheidung vom Januar ist noch nicht rechtskräftig, aber dass es überhaupt dazu gekommen ist, bezeichnet Pelin Ülker als symptomatisch für den Umgang der Regierung aber auch der Justiz mit kritischen Journalisten. "Es ist, als würde die Regierung sagen, ja wir haben Fehler gemacht. Aber diejenigen, die darüber berichtet haben, wurden ihrer gerechten Strafe zugeführt." Pelin Ünker arbeitet nicht mehr für die Cumhurriyet, seit die Zeitung eine neue Leitung bekommen und ihren regierungskritischen Kurs ein Stück weit verlassen hat. Jetzt ist sie unter anderem für das türkische Programm der Deutschen Welle tätig. Viele ihrer ehemaligen Kollegen treffe sie aber bei Anwälten oder im Gericht, sagt Ünker. So wird es auch dieses Mal sein. Während im Istanbler Justizpalast der Fall Ünker gegen Albayrak verhandelt wird, werden draußen mehr als 100 Anwälte protestieren. Grund sind die Urteile aus einem Berufungsprozess von 14 ehemaligen Mitarbeitern der "Cumhuriyet" Anfang dieser Woche. Das Gericht hatte sämtliche Haftstrafen aus erster Instanz bestätigt. Die Hälfte der Verurteilten muss nun zurück ins Gefängnis. Weitere sieben Angeklagte bleiben vorerst auf freiem Fuß. Weil sie zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt wurden, haben sie die Möglichkeit, sich an das höchste Berufungsgericht zu wenden. Prozess gegen Can Dündar wird im Mai fortgesetzt Die Journalisten und der Herausgeber der national-säkularen Zeitung wurden wegen Unterstützung verschiedener Terrororganisationen verurteilt, darunter die islamische Gülen-Bewegung und die kurdische PKK. Die Verfahren gegen zwei weitere Angeklagte waren schon vor Monaten abgetrennt worden. Unter anderem das gegen den ehemaligen Chefredakteur Can Dündar, der im Exil in Deutschland lebt. Sein Prozess wird im Mai fortgesetzt.
Von Christian Buttkereit
Zwei Tage nach der Verurteilung von acht führenden Ex-Mitarbeitern der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", wird am Donnerstag ein weiterer Prozess gegen eine ehemalige "Cumhuriyet"-Journalistin fortgeführt. Pelin Ünker steht unter anderem für ihre Paradise Papers-Recherchen vor Gericht.
"2019-02-20T15:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:40.199000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/prozesse-gegen-cumhuriyet-journalisten-wir-haben-uns-schon-100.html
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Chaos bei der Einführung von E10-Kraftstoff
Eine zehnprozentige Ethanolbeimischung soll nach dem politischen Willen der Bundesregierung die CO2 Emissionen reduzieren. Für Umweltverbände wie den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland ohnehin ein fragwürdiges Anliegen. BUND Verkehrsexperte Werner Reh spricht gar von einer Mogelpackung. "Das Problem ist, dass E10 die Inanspruchnahme neuer Flächen bedeutet, dass zum Beispiel Grünlandumbruch gemacht werden muss und dass dabei CO2 Emissionen entstehen, die die Klimabilanz von E10 zunichte machen. So dass man fragen kann, ob denn überhaupt CO 2 gemindert wird. Es kann sogar sein, wenn man neue Flächen in Anspruch nimmt, dass die CO2 Emissionen ansteigen."Soweit die kritischen Einwände der Umweltschützer. Für Axel Bülow vom Bundesverband freier Tankstellen dagegen, steht die positive Ökobilanz von E 10 außer Frage. "Die Ökobilanz der in Deutschland verwandten E1-Kraftstoffe und zertifiziert und insofern haben sie da als Kunde überhaupt keine Bedenken wenn sie dieses Produkt tanken. Die Ökobilanz ist gut, weil es zertifizierte Produkte sind die eingesetzt werden, ansonsten gibt es keine Steuervergünstigungen für die eingesetzten Bioanteile. Von daher bin ich völlig beruhigt, was die Ökobilanz angeht." Und die Autofahrer? Sie sind verunsichert. Zwar liegen an vielen Tankstellen Informationsbroschüren aus, doch die meisten kennen sich im Dschungel von Super, Super Plus oder Super E10 nicht aus. "Ich habe mich wirklich noch nicht damit auseinandergesetzt. Ich weiß nur, dass zehn Prozent biologischer Sprit da drin sind, mehr kann ich nicht sagen. Ich müsste bei Fiat nachfragen, ob das Auto das verträgt."Weniger als zehn Prozent aller Autos vertragen den Biokraftstoff nicht. Etwa sechzig Prozent der Autofahrer sind nach wie vor so verunsichert, dass sie lieber das viel teurere Super Plus in den Tank laufen lassen, als ein Risiko einzugehen. Super plus ist für garantiert alle Benziner verträglich. Die Präferenzen der Autofahrer für das teurere Super Plus bedeuten für die Raffinerien eine logistische Herausforderung, erklärt Klaus Picard, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Mineralölwirtschaft. "Wir können gar nicht so viel produzieren. Deshalb nimmt man die Produktion aus ganz Deutschland zusammen, konzentriert sie auf die Regionen wo auf E10 umgestellt worden ist und dann kommt man so eben über die Runden."Obwohl der Treibstoff noch nicht einmal flächendeckend in ganz Deutschland eingeführt ist, gibt es bereits Lieferengpässe etwa in Baden-Württemberg. Nun will die Mineralölwirtschaft die Produktion von E 10 an die Nachfrage anpassen. Die Branche fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Gute Beratung für verunsicherte Verbraucher ist der einzige Ausweg, erklärt Karin Retzlaff vom Verband der Mineralölwirtschaft. "Wir müssen hier einfach um das Vertrauen des Verbrauchers werben. Der ist verunsichert und das kriegen wir nur hin, wenn wir alle gemeinsam informieren und zwar alle an dieser Einführung beteiligten Branchen. Das heißt, beginnend bei Biokraftstoffproduzenten über die Mineralölindustrie bis hin zur Automobilindustrie und vor allem auch der Politik. Die Politik darf sich jetzt hier nicht einfach aus dem Geschehen herausziehen und Schuldzuweisungen starten, dass hier nicht genügend informiert worden ist."Beiträge zum Thema E10 auf dradio.de:Erste Politiker fordern Abschaffung von E10-Benzin - Der Kraftstoff mit Bioethanol wird nicht angenommen (Aktuell)Fragen und Antworten zu E10 - Fachredakteur Theo Geers erklärt den Biokraftstoff (Umwelt und Verbraucher)Ladenhüter für den Tank - Ölindustrie will Autofahrer von Super E10-Sprit überzeugen (Umwelt und Verbraucher)Auch moderne Autos können durch E10 beschädigt werden - Hans-Ulrich Sander vom TÜV Rheinland erklärt den neuen Biokraftstoff (Umwelt und Verbraucher)Doch kein Öko aus der Zapfsäule - Umweltverband BUND kritisiert neuen E10-Sprit (Umwelt und Verbraucher)Künstliche Verteuerung ? - ADAC rügt Preistricks bei der Vermarktung des neuen Treibstoffes E10 (Umwelt und Verbraucher)
Von Verena Kemna
Die Nachricht über die gestoppte Einführung der neuen Benzinsorte E10 kam wie ein Paukenschlag. Vom Markt verschwinden wird der neue Kraftstoff damit allerdings nicht, die Beteiligten bemühen sich um Schadensbegrenzung.
"2011-03-04T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:22:02.791000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chaos-bei-der-einfuehrung-von-e10-kraftstoff-100.html
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Paradoxe Emanzipation
Komponisten aus Buenos Aires nutzten europäisch-klassische Vorbilder für ihre Musik, in die sie die Rhythmen und Stilistiken ihrer Heimat integrierten. (imago / imagebroker) Heitor Villa-Lobos, Alberto Ginastera, Carlos Chávez und auch Silvestre Revueltas stehen für die Emanzipation lateinamerikanischer Kunstmusik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann sich diese von überkommenen europäischen Formen zu lösen, wobei ein aktuelles Phänomen westlicher Herkunft sehr hilfreich war. Anlehnung an europäische Musikströmung Autor Ingo Dorfmüller vertritt die These, dass der Neoklassizismus mit seiner Öffnung hin zum Popularmusikalischen entscheidende Impulse verlieh. In seiner lateinamerikanischen Variante nahm er nachkoloniale Idiome auf, populäre Tänze, gar Melodien indigener Herkunft. Diese in die Konzertmusik zu integrieren, war der Beginn einer modernen lateinamerikanischen Identität. Der argentinische Komponist Alberto Ginastera komponierte seine Danzas argentinas op. 2 im Jahr 1937 und griff darin neoklassizistische Techniken auf. (imago stock&people) Förderer und Partner: Kunststiftung NRW
Von Ingo Dorfmüller
Heitor Villa-Lobos oder Silvestre Revueltas stehen für die Emanzipation lateinamerikanischer Kunstmusik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann sich diese von europäischen Formen zu lösen und nahm regionale Popularmusik in sich auf.
"2022-11-12T22:05:00+01:00"
"2022-10-20T11:31:58.716000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forum-neuer-musik-lateinamerika-neoklassizismus-100.html
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Theologe, Linsenschleifer und Kometenentdecker
Ein Doppel-Astrograph, gebaut von Joel Metcalf (Harvard College Obs.) Im Alter von zwölf Jahren weckte die Beobachtung einer partiellen Sonnenfinsternis seine Begeisterung für den Kosmos. Doch Joel Metcalf entschied sich, Theologie zu studieren und Geistlicher zu werden.Trotz eines recht geringen Einkommens richtete er sich mit gebraucht gekauften Teleskopen eine beachtliche Privatsternwarte ein. Bei einem späteren Studienjahr an der Universität Oxford hörte er auch astronomische Vorlesungen und beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Optik. Zurück in den USA konstruierte Joel Metcalf eigene Teleskope, deren Linsen er selbst in höchster Präzision geschliffen hat. Er baute einige Instrumente für das Observatorium der Harvard-Universität, darunter ein photographisches Teleskop mit einem Objektivdurchmesser von 40 Zentimetern. Joel Metcalf hat 41 Kleinplaneten und sechs Kometen entdeckt. Wie sich herausstellte, war ein 1919 von ihm gefundener Komet bereits 70 Jahre zuvor vom Dänen Theodor Brorsen beobachtet worden. Der Komet heißt nun Brorsen-Metcalf. Im Sommer 1921 gelang ihm das Kunststück, innerhalb von zwei Nächten drei Kometen aufzuspüren. Mitten in der Arbeit für ein neues Harvard-Teleskop ist Joel Metcalf 1925 verstorben. Er wurde 59 Jahre alt
Von Dirk Lorenzen
Heute vor 150 Jahren kam im Städtchen Meadville im US-Bundesstaat Pennsylvania Joel Hastings Metcalf zur Welt. Dieser Amateurastronom ist zumeist nur als Wiederentdecker des Kometen Brorsen-Metcalf bekannt, dabei hat er bedeutende Beiträge zur Himmelsforschung geleistet.
"2016-01-04T02:57:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:54.114000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/150-geburtstag-von-joel-metcalf-theologe-linsenschleifer-100.html
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Corona-Ausbrüche und hoher Arbeitsdruck in den Paketzentren
In der Vorweihnachtszeit und unter den Bedingungen des neuen Lockdown ist die Paketflut bei Amazon noch einmal höher als in den Vorjahren (picture alliance/ dpa/ Rolf Vennenbernd) Amazon befindet sich seit nunmehr acht Jahren im Dauerkonflikt mit seinen Beschäftigten hierzulande. Zumindest denjenigen, die in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisiert sind. "Wir sind der Meinung", sagt Monika Di Silvestre von Verdi, "ein Mensch der so reich ist wie der Unternehmensinhaber Bezos, der hat auch eine Verpflichtung gegenüber seinen Mitarbeitern und der Bevölkerung. Und das wäre die Anerkennung von Tarifverträgen und nicht die Leute weiter prekär zu beschäftigen". Amazon-Gründer Jeff Bezos ist laut Forbes der reichste Mann der Welt (picture alliance / dpa) "Tarifverträge anerkennen" Mit den Streiks will die Gewerkschaft Tarifverhandlungen und einen Flächentarifvertrag durchsetzen. Genauer: Einen Tarifvertrag des Einzel- und Versandhandels. Denn Amazon argumentiert seit jeher, kein Einzelhändler, sondern Logistiker zu sein. "Jetzt sind sie ja in den Verband des Einzelhandels eingetreten und das ist ja schon mal ein Indiz, dass sie Einzelhändler sind", so Di Silvestere, "und der weitere Schritt wäre nun, die Tarifverträge anzuerkennen." Vor allem aber will die Gewerkschaft erreichen, dass Amazon überhaupt einen Tarifvertrag abschließt – bisher gibt es nämlich keinen, auch keinen für die Logistikbranche. Zudem pochen die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter auch auf bessere Arbeitsbedingungen. Denn der Arbeitsdruck in den Logistiklagern sei hoch und insbesondere unter Corona-Bedingungen noch einmal gestiegen. So gab es in den vergangenen Tagen auch Berichte, dass es in den Paketverteilzentren des Internet-Handelsgiganten verstärkt zu Corona-Ausbrüchen gekommen ist, etwa in Garbsen bei Hannover oder in Bayreuth. Corona-Ausbrüche - krank zur Arbeit? Offizielle und genaue Zahlen nennt Amazon nicht. Die Gewerkschaft allerdings geht von mehreren hundert Kolleginnen und Kollegen aus, die sich bei der Arbeit in den Lagerhallen mit COVID-19 infiziert hätten. Amazon dagegen betont, alle Sicherheitsmaßnahmen einzuhalten, um die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu gefährden. Zudem gelte die klare Anweisung, dass wer sich krank fühle, zu Hause bleiben müsse. Monika Di Silvestre von Verdi sagt jedoch: "Das eine ist die gute Absicht, zu sagen, wenn Du krank bist, dann bleibst Du zu Hause. Und das andere ist: Jeder ist auf jeden Pfennig angewiesen und nimmt das natürlich mit, wenn es das gibt. Das andere ist, dass Amazon seit 9. November eine Anwesenheitsprämie zahlt, die zahlen zwei Euro mehr pro Stunde. Und das begünstigt natürlich, dass Menschen krank zur Arbeit gehen, weil sie das natürlich mitnehmen wollen." Arbeitsbedingungen in der Coronakrise - Wenn der Job zur Gefahr wird Wer im Homeoffice arbeitet, kann Kontakte reduzieren und das Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus verringern. Auf dem Bau, den Feldern und auch in Amazons Paketverteilzentren ist das unmöglich. Streit um Gebühr für Online-Bestellungen In der Vorweihnachtszeit jedenfalls und unter den Bedingungen des neuen Lockdown ist die Paketflut nicht nur bei Amazon noch einmal höher als in den Vorjahren. Um den städtischen Einzelhandel in den Innenstädten gegenüber dem Onlinehandel zu fördern, haben Politiker aus der CDU eine Paketabgabe für den Online-Handel vorgeschlagen. Der Hauptgeschäftsführer des deutschen Handelsverbandes HDE, Stefan Genth, zeigt sich zurückhaltend: "Für uns ist es wichtig, dass man Offline nicht gegen Online ausspielt, sondern beide Welten miteinander verbindet. Aber wichtig ist natürlich auch, dabei Chancengleichheit herzustellen." Auch der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel äußert sich naturgemäß skeptisch. Das sei ein Schlag für diejenigen, die seit 25 Jahren in Innovation und Digitalisierung investierten und damit viele Arbeits- und Ausbildungsplätze schafften. Das Ganze wäre deswegen eine Umverteilung von Heute zu Gestern.
Von Mischa Ehrhardt
Der Internet-Versandhändler Amazon wird bestreikt. Die Gewerkschaft Verdi will endlich einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Verdi geht zudem von mehreren hundert Corona-Fällen in einzelnen Paketzentren aus - und macht dafür auch eine Anwesenheitsprämie verantwortlich.
"2020-12-21T13:35:00+01:00"
"2020-12-22T11:50:47.469000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streik-bei-amazon-corona-ausbrueche-und-hoher-arbeitsdruck-100.html
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"Die Rolle birgt viel Versagenspotenzial"
Physiker Stephen Hawking und der englische Schauspieler Eddie Redmayne bei der Filmpremiere von "The Theory Of Everything" ("Die Entdeckung der Unendlichkeit") in London. (Imago stock & people) Sigrid Fischer: Man hat das Gefühl, die Rolle ist wie für Sie gemacht. Aber es heißt, Sie hätten sehr hart darum gekämpft. Wie macht man das, für eine Rolle, ein Drehbuch kämpfen? Eddie Redmayne: Bei jedem Projekt, das anders ist als das, was man bisher gemacht hat, muss man die Leute erst mal davon überzeugen, dass man in der Lage ist, diese Rolle zu spielen. In diesem Fall wurde mir das Drehbuch zugeschickt über meinen Agenten. Ich dachte, es sei eine Stephen Hawking Filmbiografie, aber tatsächlich ist es eine komplizierte, leidenschaftliche Liebesgeschichte. Das entsprach gar nicht meinen Erwartungen. Aber ich mag Regisseur James Marsh sehr, deshalb wollte ich es trotzdem machen. Aber man muss es erst mal schaffen, ihn zu treffen. Er hatte die Rolle ja noch anderen Schauspielern angeboten. Ich hab ihn dann angerufen, er lebt in Kopenhagen, und habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er sich Filme von mir anschaut. Und als er fragte, wie ich die Rolle anlegen will, musste ich mal eben ad hoc eine Methode entwerfen. Und dann haben wir uns in London in der Kneipe getroffen, mittags um zwei. Er fragte: "Was willst du trinken?" Und ich: "Ein Bier?" Er bestellte: "Ein Bier für Eddie" und einen Kaffee für sich und ich dachte schon: "Oh, Mist." Aber dann hat er sechs Kaffee getrunken und war irgendwann völlig koffeiniert. Und bei all dem hab ich gemerkt, wir ticken ähnlich, wir sind beide - der Situation angemessen - ängstlich. Und voller Respekt für den anderen. Nicht nur eine Stephen Hawking Filmbiografie Fischer: Und diese Wellenlänge ist wichtig für so eine Arbeit? Redmayne: Ja, besonders bei so einer Rolle, die birgt so viel Versagenspotenzial in sich, da kann man am Ende total zerstört rauskommen. Ich musste mich sicher fühlen. Fischer: Stephen Hawking ist schon aus der Ferne betrachtet eine faszinierende Person. Sie haben ihn sogar kennengelernt und sich sehr mit ihm beschäftigt. Was ist für Sie das Faszinierende? Redmayne: Es ist nicht so, dass ich ihn mal an der Uni Cambridge gesehen und gehört hätte. Auch hab ich von Physik keine Ahnung. Aber das Drehbuch hat mir, dem Kunststudenten, schon vermitteln können, was er vollbracht hat und dass er und Jane ein außergewöhnliches Leben zusammen hatten. Also, es war nicht so, dass ich ihn vorher gut kannte und ihn immer schon mal spielen wollte. Sondern das Drehbuch gefiel mir und ich dachte nur: Kann ich das wohl spielen? Und dann geht man in die Vorstellungsrunden, gibt sich natürlich selbstsicher, so als wüsste man genau, was man tut, um den Job zu kriegen. Und dann kriegt man ihn und denkt: Oh Gott, krieg ich das überhaupt hin? "Er ist keine tragische Person" Der britische Physiker Stephen Hawking bei seinem Parabelflug. (NASA) Fischer: Eddie Redmayne, Sie spielen Stephen Hawking nicht als tragische Figur, ist er das in Ihren Augen auch nicht? Redmayne: Er ist keine tragische Person, sondern das komplette Gegenteil, er schaut nach vorne, ist leidenschaftlich und hat viel Humor. Deshalb ist es so toll, ihn zu spielen. Er zeigt ganz wenig Schwäche. Fischer: Sie konnten ja Ihre üblichen Schauspielerwerkzeuge irgendwann gar nicht mehr einsetzen – Gestik, Mimik fielen weg, aber trotzdem mussten Sie einer Persönlichkeit Ausdruck verleihen, Gefühle transportieren. Was haben Sie gemacht, um sich so zu bewegen beziehungsweise immer weniger zu bewegen wie Stephen Hawking? Redmayne: Man hat mir Zeit gelassen zur Vorbereitung, vier Monate, und ich habe eine ALS-Klinik in London besucht. Die Patienten dort haben mir erlaubt, ihre Muskelbewegungen zu ertasten, ich hab sie mit dem iPad gefilmt. Ich habe so versucht herauszufinden, wie der Krankheitsverlauf bei Stephen war. "Zu jeder Zeit die entsprechende Behinderungsstufe abrufen können" Und das haben wir dann in eine Rangfolge gebracht, und mit einem Tänzer hab ich dann versucht, die jeweiligen Bewegungsstufen in meinem Körper zu finden. Man filmt ja nicht chronologisch, deshalb musste ich zu jeder Zeit die entsprechende Behinderungsstufe abrufen können. Und ich habe vor dem Spiegel geübt, nur diese wenigen Gesichtsmuskeln zu benutzen, die er benutzt, wir aber normalerweise nicht. Zum Glück ging es um einen Film, und nicht um ein Theaterstück. Denn im Film sieht man alles – die Kamera kommt einem sehr nah. Auf der Bühne wäre das eine ganz andere Geschichte geworden, aber beim Film kann man hoffen, dass die Kamera alles erfasst, was ich fühle und zum Ausdruck bringe. Bei all dem habe ich gelernt: Für ihn könnte die Krankheit nicht unwichtiger sein, sie interessiert ihn nicht. Er will einfach leben. Und meine ganze Vorarbeit war nötig, damit da nicht ein Schauspieler einen Behinderten spielt, sondern damit wir eine menschliche Geschichte erzählen können, die hoffentlich im Mittelpunkt steht. "Nicht das perfekte Ergebnis - der Weg dahin muss Spaß machen" Fischer: Wenn man so viel investiert in eine Arbeit, muss sie einem auch viel geben. Was hoffen Sie als Schauspieler, vor einer Kamera zu finden, und was haben Sie gefunden? Redmayne: Was immer das sein könnte, man findet es nie. Was einen antreibt, ist die Tatsache, dass man immer nach Perfektion strebt, in dem Wissen, dass man sie nie erreichen wird. Man muss lernen, dass nicht das perfekte Ergebnis, sondern der Weg dahin Spaß machen muss. Was ich am liebsten mag, sind die Momente, in denen ich und die Figur sich überschneiden. Hier war es die letzte Szene, die wir gedreht haben. Meine Filmehefrau sitzt bei mir auf dem Bett unten in der Küche, und ich sage: Danke! Und das habe ich in dem Moment gewissermaßen auch meiner Kollegin gesagt, denn sie hatte ja die ganze schwere körperliche Arbeit zu tragen in diesem Film. Und sie meinte dann auch: Was hast Du da gerade gesagt? Das war mal so ein Moment, wo die Figur und ich eins waren. "Nachlässigkeit ist nicht mein Ding" Fischer: Eddie Redmayne, Sie sind offenbar ein sehr ambitionierter und disziplinierter Schauspieler. Waren Sie immer schon so, auch als Schüler? Redmayne: Ich bin nicht damit gesegnet, dass mir alles einfach so gelingt, ohne dass ich dafür etwas tue. Ergibt das einen Sinn? Ich muss schon für alles hart arbeiten. Fischer: Naja, aber Sie könnten – wie sicher viele Ihrer Kollegen – das Ganze weniger ernst nehmen und sich eitel vor die Kamera stellen. Redmayne: Aber man hat doch eine Verantwortung, besonders, wenn man jemanden spielt, den es wirklich gibt. Und es gibt tausende andere Schauspieler da draußen, großartige Schauspieler, und wenn man dann selbst die Chance bekommt: Nachlässigkeit ist da nicht mein Ding. Fischer: Sie stammen aus einer Familie mit Bankern und Geschäftsleuten. Dagegen ist das Schauspielerleben eher ungeregelt. "Ein Nomadenleben, über das man keine Kontrolle hat" Redmayne: Sie macht mein Leben chaotisch. Es ist ein Nomadenleben, ein Zirkusleben, über das man keine Kontrolle hat. Manchmal führt es auch dazu, dass ich mal wieder über Dinge nachdenke und Fragen stelle. Ich bin ein bisschen denkfaul. Und als Stephen neulich seinen ersten Facebook-Post geschrieben hat, stand da: Sei neugierig! Das ist typisch für ihn, etwas Großes so einfach auszudrücken. Also: Man kann faul sein wie ich - oder eben neugierig. "Sei neugierig!", betonte der Physiker Stephen Hawking in einem Facebook-Post. Er selbst kann sich nur mithilfe eines Sprachcomputers verständigen. (AP Archiv) Fischer: Apropos Facebook: Sie führen ja noch ein unkontrollierbares Leben im Internet, da gibt es unzählige Interviews und Meldungen und Fanseiten über Sie. Wie gehen Sie damit um, greifen Sie ein oder lassen Sie es laufen? "Wie könnte ich es wagen, im Namen von Stephen Hawking zu sprechen" Redmayne: Ich versuche, das auszublenden. Weil es einen einholen kann. Vor allem wenn Sachen, die man gesagt hat, falsch zitiert werden, und dann Ärger auslösen. Deshalb ist die Werbetour für "Die Entdeckung der Unendlichkeit" für mich auch nicht einfach. Die Leute wollen, dass ich im Namen von Stephan Hawking spreche. Aber das will ich auf keinen Fall. Wie könnte ich das wagen! Aber egal bei welchem Film, wenn man falsch zitiert wird, müsste man das richtigstellen. Über Twitter – sagen mir dann Leute – kannst Du ja direkt reagieren. Aber ich denke: Besser gar nicht erst damit anfangen, sondern es ausblenden. Fischer: Haben Sie Stephen Hawkings Bestseller: "Eine kurze Geschichte der Zeit" eigentlich gelesen? Redmayne: Ich habe angefangen, ihn zu lesen. Ich war dabei etwas nervös. Dachte zwischendurch immer wieder: Oh, das hab ich ja sogar verstanden! Aber irgendwo zwischen Seite 17 und 23 wurde mir klar, dass ich gar nichts kapiert habe. Und nur noch die Wörter mit den Augen erfasste.
Schauspieler Eddie Redmayne im Corsogespräch mit Sigrid Fischer
Eddie Redmaynes Darstellung des Astrophysikers Stephen Hawking in "Die Entdeckung der Unendlichkeit" gilt bereits jetzt als oscarverdächtig. Im Corsogespräch erzählt der 33-jährige Schauspieler von der zeitaufwendigen Vorbereitung, der Chaotik seines Nomadenlebens und dem Streben nach nie erreichter Perfektion.
"2014-12-19T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:50.364000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/being-stephen-hawking-die-rolle-birgt-viel-100.html
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Die Hoffnungsträgerinnen des chinesischen Fußballs
Die chinesischen Frauen gelten als große Hoffnungsträgerinnen des chinesischen Fußballs und damit auch der chinesischen Regierung. (IMAGO / AAP / IMAGO / MATT TURNER)
Späth, Raphael
Die chinesische Regierung hat ein großes Ziel: In naher Zukunft soll ihr Land zur Fußball-Großmacht werden. Dafür wird viel Geld investiert. Erfolgreich sind bisher aber nur die Frauen. Sportwissenschaftlerin Qi Peng erklärt im Podcast, warum.
"2023-07-28T17:00:00+02:00"
"2023-07-28T17:10:05.639000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chinas-wm-team-die-hoffnungstraegerinnen-des-chinesischen-fussballs-dlf-47f672f8-100.html
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Leben wie früher, als Zypern noch ungeteilt war
Im Jahr 2017 nach Christus ist ganz Paphos vom Kulturhauptstadt-Trubel besetzt. Ganz Paphos? Nein. Ein Chefkoch in dem zyprischen Hafenstädtchen lebt unbeirrt sein Leben weiter wie damals, in der guten alten Zeit (dpa/Harald Claessen) "Wir sind stolz auf die Initiative der Berliner Philharmoniker und der deutschen Botschaft auf Zypern. Es spielen heute im Jugendorchester griechische und türkische Musiker aus beiden Teilen der Insel. Wir freuen uns sehr, sie gemeinsam zu erleben." Der deutsche Botschafter Zyperns Nikolai van Schoepf bei seiner Begrüßungsrede auf dem Vorplatz des bekannten Hafenkastells von Paphos. Das Konzert des Jugendorchesters der Berliner Philharmoniker ist nur ein Programmpunkt von vielen, die der kleine Küstenort Paphos im griechischen Teil Zyperns im Jahr der Kultur geplant hat. Dabei haben die Organisatoren den Fokus auf Wiedervereinigung gelegt. Die Projekte, Aufführungen und Konzerte sollten vorwiegend Gemeinschaftsprojekte sein, zwischen der griechischen und der türkischen Gemeinde auf der geteilten Insel. Die künstlerische Leiterin von Paphos 2017 Georgia Dötzer erklärt, warum das für Paphos so wichtig ist: "Weil hier in Paphos es eine sehr große Gegend gibt, die sehr viele Türken-Zyprioten als Einwohner hatte. Es ist eine Gegend, die uns auch philosophisch und soziologisch sehr nahe liegt. Und wir haben versucht in dieser Region sehr viele Aktionen zu entwickeln, um die Leute von beiden Seiten dazu einzuladen, daran teilzunehmen." Bis 1975 gab nur ein Hotel, dann kamen die Touristen So treffen sich bei einer Gemeinschaftsausstellung ein türkischer und ein griechischer Zyprer, beide sind Bildhauer und präsentieren Werke aus Metall und Stein. An einem anderen Ort kommen für ein psychologisches Seminar Bürger aus dem Ost- und dem Westteil Zyperns zusammen. Sie wollen damit ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und Vorurteile abbauen, erklären sie. Doch parallel zu den glanzvollen Projekten des Kulturfestivalprogramms, kämpft auch ein alter Zyprer in Paphos einsam, um den Erhalt der Traditionen: "Paphos war ein kleines Nest. Jeder kannte jeden. Hier am Hafen begrüßte man sich gegenseitig. Heute kennst du hier niemanden mehr. Der Ort erlebte Tourismus erst nach 1975, nach der Teilung der Insel also, als die ersten großen Hotels hier gebaut wurden. Vorher hat es hier nur ein einziges Hotel gegeben." Das erzählt der 73-jährige Andreas Nikolaou, während er durch das Hafenviertel von Paphos schlendert. Das letzte Mal ist er vor drei Jahren hier unten gewesen. Und das, obwohl der kleine dünne Mann mit grauem Haar und schelmischen Blick der erste Gastronom vom Paphos-Hafen war. 40 Jahre ist das jetzt schon her. Deshalb glaubt er niemand im Hafen mehr zu kennen. "Hallo Andreas, mein Lieber! Wie geht es dir?" Dann trifft der gestandene Gastronom doch noch zufällig auf einen Bekannten. "Ich gebe ein Interview für Deutschland." "Ach, wie schön!" Der Mann freut sich Andreas Nikolaou nach so langer Zeit wieder zu sehen. Dann wendet er sich zu mir. Andreas ist für Paphos und für die Geschäftswelt hier wie eine Mutter, sagt er. Vor ihm habe es hier nichts gegeben! Andreas Nikolaou strahlt über beide Ohren, als er den alten Freund so sprechen hört. "Hier wurden damals zyprische Rosinen exportiert" Als er dann am Vorplatz des Hafenkastells ankommt, dort, wo vor einem Tag noch das Jugendorchester der Berliner Philharmoniker zu hören war, verdüstert sich auf einmal der Blick des alten Zyprers. "Diesen Platz hier, den gab es früher nicht. Hier stand nur eine Mole, circa fünf Meter lang. Davor war das Meer und hinter der Mole befanden sich die hölzernen Lagerhallen. Hier, wo wir jetzt stehen, wurden damals zyprische Rosinen exportiert." Der geschäftstüchtige Andreas Nikolaou kennt alle Geschichten im Hafens von Paphos. Bis 1982 stand dort sein eigenes Restaurant. Und dort gab es immer nur die typisch zyprischen Vorspeisen. Doch nach der Inselteilung, als es ihm, wie er es formuliert, zu bunt wurde und sich nach und nach immer mehr Hotels und Touristen in Paphos etablierten, zog sich der ausgebildete Chefkoch in die Oberstadt von Paphos zurück: "Ich sagte mir: Nicht ich folge den Gästen, aber die Gäste folgen mir." An einer großen Straße der Oberstadt von Paphos, hinter einer Gartenlaube besuche ich den Gastronom Nikolaou in seiner typisch zyprischen Taverne. Das Lokal besteht aus zwei kleinen Räumen und einer Küche. In einer winzigen verglasten Kammer zum Garten hin, bereitet er den Grill für den Abend vor. Dann geht es weiter in die Küche: "Heute mache ich Scheftalia. Das ist eines der traditionellen zyprischen Gerichte. Den Teig habe ich schon fertig. Hier ist die Schweinefetthaut. Das isst du doch oder? - Was? Du magst kein Schweinefleisch? Das musst du aber probieren, das gibt es in Griechenland doch nicht. Scheftalia gehört zu den türkischen Esstraditionen Zyperns und ich möchte dies auch weiterhin im Westteil der Insel anbieten. Mein Teig besteht aus Schweinehackfleisch, Zwiebeln, feingehackter Petersilie, Zimt, ein Schuss Olivenöl und schwarzer Pfeffer. Und das wurde früher von Moslems und Christen gegessen. Der Teig wird in kleinen Einheiten aufgeteilt und dann in die Schweinefetthaut eingewickelt, damit es fest bleibt. Das Fett gibt dem Ganzen beim Grillen einen besonderen Geschmack." Puzzle von Erinnerungen, alten Gewohnheiten und Pflichten Während der zyprische Chefkoch noch weiter grübelt, warum ich sein Fleischgericht nicht essen mag, werfe ich einen Blick in die Innenräume seiner Taverne. Die Ausstattung erinnert eher an ein traditionelles zyprisches Haus. Alte Küchengeräte und Behälter hängen an der Wand. Dazu schmücken den Innenraum traditionelle gewebte Decken, diverse Wandteppiche und alte Fotografien. Auf einem großen eingerahmten Foto ist sein altes Restaurant zu erkennen, wie es noch ganz einsam im Hafen von Paphos stand. Der fleißige zyprische Koch empfängt bis heute Kunden, die sich an diese Zeit gut zurück erinnern können: "Ich habe Stammgäste aus England und Deutschland. Die kommen nur meinetwegen. Ich schätze dabei besonders den deutschen Gast. Er bevorzugt unsere zyprischen Vorspeisen. Und im Gegensatz zu den Briten, weiß er sie zu genießen. Er nimmt sich die Zeit dafür, so wie wir das auch machen. Man muss alles sehr langsam essen. Und das kann er. Er trinkt zwischendurch seinen Schnaps und macht dann weiter. Und das finde ich großartig." Im Schatten der Kulturhauptstadt Paphos lebt der erfahrene Gastronom Andreas Nikolaou ein Leben, wie in alten Zeiten weiter fort. Sein Alltag besteht aus einem Puzzle von Erinnerungen, alten Gewohnheiten und Pflichten. Das ergibt ein anderes Bild, als das, was die moderne touristische Paphos-Stadt ihren Gästen heute zu bieten hat. Ein Leben wie früher, als Zypern noch ungeteilt war Andreas Nikolaou leistet seinen eigenen Beitrag zur Kulturhauptstadt. Ein Leben, ungeschminkt und klassisch, so wie es das in Paphos gab, als die Insel Zypern noch nicht geteilt war. In seiner Taverne scheint die Zeit, wie stehen geblieben. Dort lebt ein Stück altes Zypern weiter fort. Und das will Andreas Nikolaou so lange es geht erhalten: "Ich fühle mich heute, wie ein Fremder in meiner Heimat. Weil hier einfach nur noch wenig Zyprisches zu finden ist. Deshalb hoffe ich, dass der Titel der Kulturhauptstadt uns sensibilisiert und uns ermöglicht, das echte Zyprische wieder aufzubauen. Bestehend aus beiden Kulturen, der türkischen und der griechischen. So wie es früher gewesen ist. Meine Taverne soll ein solcher Ort der Begegnung sein. Ich bin ein Lokalpatriot und ein überzeugter Zyprer und ich erkenne, dass ohne beide Seiten die echte zyprische Kultur sehr bald verschwunden sein wird."
Von Marianthi Milona
Die Welt ist aktuell zu Gast in der Hafenstadt Paphos auf Zypern, einer der beiden europäischen Kulturhauptstädte 2017. Doch inmitten des Trubels lebt ein Chefkoch standhaft ein Leben wie vor der Teilung der Insel. Als Christen und Moslems bei ihm noch gemeinsam Schweinefleisch aßen.
"2017-10-22T11:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:57:21.655000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trotz-kulturhauptstadtjahr-leben-wie-frueher-als-zypern-100.html
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"Die dann eigentlich schuld sind, kommen ungeschoren davon"
Vielen Menschen sei immer noch nicht bewusst, wie wichtig Rettungsgassen seien, bemängelte Bayerns Innenminister Joachim Hermann im Dlf. (imago/Sven Simon) Christine Heuer: Nach dem schweren Busunglück gestern auf der A9 in Nordbayern geht die Suche nach der Ursache für das Ausbrennen des Busses weiter. Die Sicherheitsdebatte nimmt an Fahrt auf. Am Telefon ist der bayerische Innenminister, auch Verkehrsminister Joachim Herrmann. Guten Morgen. Joachim Herrmann: Guten Morgen und grüß Gott. Heuer: Wir haben es gerade gehört: Es wird noch Wochen, vielleicht Monate dauern, bis wir wissen, was da gestern auf der A9 genau passiert ist. Sie werden natürlich immer informiert, immer auf dem Stand gehalten. Was halten Sie für die plausibelste Ursache? Herrmann: Klar ist, dass es sich um einen Auffahrunfall am Ende eines Staus handelt. Es spricht die Spurenlage vor Ort dafür, dass der Busfahrer möglicherweise in der letzten Sekunde noch gemerkt hat, dass er jetzt gleich aufprallt, versucht hat, den Bus noch nach rechts auf den Seitenstreifen zu fahren, das aber nicht mehr ganz gelungen ist, und er deshalb mit dem vorderen linken Eck seines Busses auf das hintere rechte Eck des Anhängers des Lkw aufgeprallt ist. Aber das ist ein Auffahrunfall, der ansonsten fast täglich irgendwo in Deutschland passiert. Wieso dann und offensichtlich in Sekundenschnelle nach diesem Aufprall dann dieses Feuer ausbrach und sich vor allen Dingen in Windeseile über den gesamten Bus ausgebreitet hat, das ist das eigentlich Spannende, das schwierige Thema. Da waren gestern schon die Brandsachverständigen auch der bayerischen Kriminalpolizei vor Ort, Kfz-Sachverständige, und das muss jetzt einfach ganz sorgfältig analysiert werden. Heuer: Also wir warten ab. – Sie haben gestern am Unfallort gesagt, Herr Herrmann, die anderen Autofahrer auf der A9, die hätten sich unverantwortlich verhalten. Können Sie noch mal genau schildern, was Sie da erlebt haben und was genau Sie damit meinen? Herrmann: Es war in meinen Gesprächen mit den Feuerwehrleuten vor Ort neben der großen Betroffenheit durch diesen extrem auch belastenden Einsatz eine der ersten Äußerungen der Feuerwehrleute, dass es wieder überhaupt keine vernünftige Rettungsgasse gab. Der Einsatzleiter war zunächst mit einem Feuerwehr-Pkw unmittelbar vor Ort. Der kam noch einigermaßen durch. Danach die eigentlichen Feuerwehrkräfte mit den bekannten Feuerwehr-Lkw mussten sich mühsam wieder durch den Stau einen Weg bilden, obwohl es ja eine klare rechtliche Vorschrift gibt, sobald ein Stau entsteht, egal weswegen, ist sofort die Rettungsgasse zu bilden. Das heißt, es ist ganz eindeutig, dass sich das Eintreffen der Feuerwehr-Rettungskräfte vor Ort um sicherlich mehrere Minuten verzögert hat, weil die Menschen wieder keine Rettungsgasse gebildet haben, und das ist einfach wirklich unverantwortlich. "Wir reagieren ja jetzt auch durch höhere Strafen" Durch das Fehlen der Rettungsgasse seien die Rettungskräfte erst mehrere Minuten später am Unfallort eingetroffen, kritisierte Bayerns Innenminister Joachim Hermann im Dlf. (dpa/Stefan Puchner) Heuer: Herr Herrmann, jetzt haben Sie in dieser Antwort drei- bis viermal gesagt, wieder einmal sei es so gewesen, und in der Tat häufen sich ja diese Fälle. Hat die Politik da auch was verschlafen? Herrmann: Wir haben in Bayern zum Beispiel jetzt an vielen Brücken über den Autobahnen extra Informationstransparente gespannt, wo den Leuten noch mal erklärt wird, wo und wie die Rettungsgasse zu bilden ist, dass man gerade auch bei einer dreistreifigen Autobahn weiß, das ist zwischen dem ganz linken und dem mittleren Streifen zu bilden. Aber wir reagieren ja jetzt auch durch höhere Strafen. Das wird jetzt am kommenden Freitag im Bundesrat endgültig behandelt, und zwar zum einen, dass in Zukunft höhere Bußgelder verhängt werden, wenn jemand keine Rettungsgasse bildet, und dass es jetzt auch ein eigener Straftatbestand sein wird, wenn jemand durch das Gaffen und ähnliche Fehlverhalten ganz konkret die Rettungstätigkeit behindert. Dann wird er in Zukunft mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Der Gesetzgeber reagiert da jetzt sehr konsequent und wir werden in Zukunft auch Kontrollen bei Rettungsgassen durchführen und dann entsprechend solche Bußgelder oder Verwarnungsgelder verhängen, weil wenn einer schon das nicht einsieht... Jeder von uns – und das hat man gestern wieder gesehen – kann ganz plötzlich selber in der Situation sein, dass er darauf angewiesen ist, dass die Rettungskräfte ganz schnell zu ihm kommen, um ihn zu retten. Diese Überlegung muss doch bei jedem eigentlich verankern, ja, es liegt in meinem eigenen Interesse, dass diese Rettungsgasse für Rettungskräfte freigehalten wird. Heuer: Herr Herrmann, nun ist es ja ein wirklich zeitlicher Zufall, dass der Bundesrat sich am Freitag mit dem Thema beschäftigt. Herrmann: So ist es. Heuer: Sie sagen nun, die Bußgelder werden erhöht. Das klingt sehr vorbildlich. Es hat aber im Vorfeld und bis gestern eine Auseinandersetzung gegeben zwischen den Bundesländern und dem Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, auch aus der CSU, weil die Länder nämlich gesagt haben, der Dobrindt, der will die Bußgelder nicht deutlich genug erhöhen. Herrmann: Ich glaube, dass das jetzt schon angemessen ist. Man muss intern sehen, dass auch der Bundesjustizminister schon gesagt hat, das sei jetzt schon sehr heftig, wie hier die Strafen erhöht werden, auch dass es bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe gibt, wenn jemand die Rettungskräfte behindert. Ich glaube, dass das schon angemessen ist. Das Entscheidende ist jetzt ... "Wir brauchen jetzt dann wirklich die Kontrollen" Heuer: Ganz kurz, Herr Herrmann. Entschuldigung! Das müssen wir jetzt den Hörern erklären. Erst mal: Der Straftatbestand ist was anderes als die Höhe des Bußgeldes. Herrmann: Richtig. Heuer: Und was meinen Sie jetzt mit angemessen? Welche Summe soll es sein? Ich erkläre noch mal für die Hörer: Bisher sind es mitunter nur 20 Euro Bußgeld und Alexander Dobrindt wollte die auf 115 Euro erhöhen. Und die Länder sagen – ich weiß nicht, ob das auch für Bayern gilt -, das ist immer noch viel zu wenig. Die wollten mindestens 155 Euro. Herrmann: Ich glaube, das ist jetzt nicht der entscheidende Streit. Ich glaube, dass man darüber jetzt keine lange Debatte mehr führen muss. Es wird in Zukunft Grundtatbestand 55 Euro, mit Behinderung 75 Euro, mit Gefährdung 95 Euro, mit Sachbeschädigung 115 Euro sein. Ich glaube, das Entscheidende, ob das jetzt da noch mal 20 oder 30 Euro mehr sind... Entscheidend ist, das sage ich noch mal: Wir brauchen jetzt dann wirklich die Kontrollen. In einer Situation – und das war ja gestern wieder der Fall -, wenn es dann brennt, wenn konkret Menschen vor dem Tod gerettet werden müssen, hat natürlich kein Polizist und kein Feuerwehrmann vor Ort die Zeit, sich jetzt auch noch mit der Verfolgung dieser Ordnungswidrigkeiten oder Straftatbestände von Gaffern oder von Leuten, die keine Rettungsgasse bilden, zu beschäftigen. Das ist ja gerade der Punkt. Das heißt: Die, die dann eigentlich Schuld sind, die kommen ungeschoren davon, weil in der Situation niemand sich mit diesen Leuten beschäftigen kann. Wir werden deshalb nicht umhin kommen, ... Heuer: Herr Herrmann, trotzdem. Entschuldigung! Lassen Sie uns kurz noch mal bei den Bußgeldern bleiben. Ich glaube, das interessiert Bürger, Hörer und Verkehrsteilnehmer. Herrmann: Ja. Heuer: Hohe Bußgelder schrecken ab. Deshalb werden die für andere Delikte auch ziemlich hoch erhoben. Ich hatte es gestern so verstanden, dass die CSU sich nun beweglich zeigt, dass Alexander Dobrindt sagt, er muss doch noch mal darüber nachdenken, ob er da nicht noch eine Schippe drauflegt auf diese geplanten 115 Euro. Wo soll es denn nun enden? Welche Marke ist jetzt gerade im Gespräch? Was wollen Sie am Freitag gemeinsam mit den Ländern genau beschließen? Herrmann: Wir haben heute Kabinettssitzung. Wir werden jetzt in den nächsten Tagen da noch mal drüber sprechen. Der Bundesverkehrsminister hat das klar angekündigt. Aber das Entscheidende wird wirklich sein: Wir müssen jetzt in Zukunft so wie Geschwindigkeitskontrollen, so wie Alkoholkontrollen auch solche Kontrollen durchführen, auch wenn noch nichts passiert ist, einfach wenn ein Stau da ist, dass in solchen Situationen in Zukunft die Leute auf der Autobahn kontrolliert werden und dann auch sofort vor Ort ein solches Bußgeld verhängt wird, auch wohl gemerkt, wenn noch kein Brand geschehen ist, wenn gerade kein riesen Einsatz läuft. Gerade in solchen Situationen: Jeder von uns muss kapieren, es steht seit Jahren schon klar in der Straßenverkehrsordnung. Sobald sich ein Stau bildet, ist die Rettungsgasse zu bilden. Das ist das Entscheidende. Und zwar nicht erst, wenn man merkt, da geht es jetzt wirklich um Menschenleben. Das kann keiner, der hinten im Stau steht, wirklich vernünftig erkennen. Jeder muss wissen: Wenn ein Stau sich bildet, dann hat er die Rettungsgasse freizumachen. "Klar ist, wir müssen da konsequent handeln" Heuer: Aber bisher wurde darauf ja offenbar von den Behörden und von der Politik nicht so viel Augenmerk gelegt, weil diese Vorfälle ja immer wieder vorkommen. Das war in Österreich übrigens auch so. Da wurde die Rettungsgasse auch meistens nicht gebildet, oder nicht hinreichend gebildet, und dann hat Österreich die Bußgelder auf fast 2.000 Euro erhöht. Seitdem funktioniert das. Ist das kein gutes Beispiel für Deutschland? Sollten wir dem nicht folgen? Herrmann: Ich glaube, dass das in der Höhe natürlich schon extrem hoch ist. Aber gleichwohl: Mir ist das wirklich ein großes Anliegen und ich kann nur sagen, wir haben die Informationspolitik in dem Bereich deutlich verstärkt. Wir senden auch im Fernsehen Informationsfilme, um den Menschen klar zu machen, wie das mit der Rettungsgasse ist. Ich glaube, dass es immer noch einige gibt, die das noch nicht richtig kapiert haben. Aber klar ist, wir müssen da konsequent handeln, und ich freue mich, wenn da alle an einem Strang ziehen. Ich bin sicher, dass wir da auch am Freitag im Bundesrat zu vernünftigen Beschlüssen kommen werden. Heuer: Und da noch mal abschließend die Frage, Herr Herrmann. Legt die CSU, legt Bayern, legt der Bundesverkehrsminister von der CSU für diese Sitzung am Freitag noch einmal nach, oder bleibt er bei seinem alten Vorschlag? Herrmann: Da müssen Sie bitte den Bundesverkehrsminister persönlich fragen. Heuer: Er ist Ihr Parteifreund und Sie sind beide Verkehrsminister. Herrmann: Deswegen hat da trotzdem jeder seinen eigenen Standpunkt, vom Land, vom Bund her. Ich kann nur als Innen- und Verkehrsminister in Bayern sagen, wir müssen da sehr konsequent handeln und wir müssen jedem, wenn er es schon nicht selber einsieht, dann auch sehr deutlich machen, es ist unverantwortlich, und das muss dann auch Bußgeld kosten, wenn jemand durch das nicht Bilden einer Rettungsgasse möglicherweise das Leben anderer Menschen gefährdet. Heuer: Sie haben gerade gesagt, der Verkehrsminister im Bund und im Land, die haben da jeder ihre eigene Auffassung. Das heißt, Sie würden über die Pläne von Alexander Dobrindt hinausgehen wollen? Herrmann: Wir werden da jetzt darüber reden. Ich bitte um Verständnis, wir führen solche Gespräche bitte nicht über den Deutschlandfunk, den ich wirklich sehr, sehr schätze, sondern das muss jetzt in den nächsten Tagen ... Heuer: Aber Sie müssen doch mal reden mit Alexander Dobrindt. Herrmann: Es werden wie üblich im Vorfeld der Bundesratssitzungen auch am Donnerstag die Ministerpräsidenten noch einmal miteinander reden, wie das vor jeder Bundesratssitzung der Fall ist, und dann wird sicherlich darüber auch noch mal gesprochen werden. Heuer: Joachim Herrmann, der bayerische Innen- und Verkehrsminister. Natürlich ist er ein Politiker von der CSU. Herr Herrmann, vielen Dank für das Gespräch. Herrmann: Ich danke Ihnen auch und ich wünsche Ihnen alles Gute und all Ihren Zuhörern heute eine unfallfreie Fahrt auf Deutschlands Straßen. Heuer: Ja, das wünschen wir auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Joachim Hermann im Gespräch mit Christine Heuer
18 Tote und zahlreiche Schwerverletzte - und wieder fehlte die Rettungsgasse: Bayerns Innenminister Joachim Hermann hat nach dem Busunglück auf der A 9 höhere Bußgelder und ein konsequentes Vorgehen gegen Gaffer gefordert. Jeder müsse kapieren: Wenn sich ein Stau bildet, dann sei die Rettungsgasse freizumachen, sagte er im Dlf.
"2017-07-04T07:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:35:20.460000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoehere-strafen-fuer-gaffer-die-dann-eigentlich-schuld-sind-100.html
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Integration auf Finnisch
Unterricht in einer finnischen Schule (dpa / picture alliance / Kuvatoimisto Rodeo / Tero Sivula) Deutsch-Unterricht der etwas anderen Art an der Hiidenkivi Gesamtschule im Nordosten Helsinkis. Lehrerin Sara Vaarmola steht in einer Art Innenhof, von dem drei lichtdurchflutete Klassenzimmer abgehen, und ruft vier Achtklässlerinnen deutsche Personalpronomen zu. An den Wänden hat Sara große Zettel aufgehängt. Auf den Blättern stehen verschiedene Formen von "sein": ist, seid, sind. Die Schülerinnen rennen nun der Reihe nach zur richtigen Verbform – spielerisches Lernen nennt die Deutsch-Lehrerin das. Vor vielen Klassenzimmern hängen blau illuminierte Ladestationen für Tablet-PCs, die Architektur der Schule ist transparent, mit klaren Formen, viel Holz und Glas. Spielerisches Finnisch lernen Auch ein Stockwerk tiefer geht es spielerisch zu an diesem Morgen. Kein Wunder, die 20 Schüler in Tiina Aaltos Unterricht sind Erst- und Zweitklässler. Sie sollen in kleinen Gruppen Tiere darstellen und beschreiben, wie sich Kater, Hund oder Hase verhalten. Im Anschluss daran überlegen die Kinder mithilfe von Bildern, welche neuen Wörter sie dabei gelernt haben. Das sei auch wichtig, weil nicht alle Kinder gleich gut Finnisch sprächen, erzählt Tiina Aalto. Ein aus dem Irak stammendes Mädchen etwa beherrsche die Sprache so gut wie gar nicht: "Das Mädchen ist zwar in Finnland geboren, aber dann ist die Familie zurück in den Irak gezogen, und die Kleine hat ihr Finnisch komplett vergessen. Aber die anderen Kinder helfen ihr, wir arbeiten viel mit Bildern, und das funktioniert gut, viel besser jedenfalls als in einer Vorbereitungsklasse, in der die meisten schlecht oder gar kein Finnisch sprechen." Integration von Anfang an Die Klasse an der Hiidenkivi-Schule ist Teil eines Pilotprojekts der Stadt Helsinki: Erst- und Zweitklässler aus anderen Ländern werden nicht wie bisher in speziellen Vorbereitungsklassen unterrichtet, sondern nehmen von Anfang an am Regelunterricht teil. Die ersten Ergebnisse seien vielversprechend, sagt Vizerektor Ilppo Kivivuori: "In dieser Altersstufe lernen die Kinder ja sowieso viel voneinander, sie schauen sich Dinge ab von den anderen. Und in diesen isolierten Finnischklassen kommen sie nicht in Kontakt mit gleichaltrigen Muttersprachlern, sozialisieren sich nicht richtig." Die Integration von jungen Migrantenkindern in Regelklassen ist auch einer der Kerngedanken des neuen finnischen Unterrichts-Curriculums, das ab Herbst 2016 für alle Schulen verpflichtend ist. Die neuen Regelungen seien zwar vor der Flüchtlingskrise ausgearbeitet worden, doch sie kämen jetzt genau zum richtigen Zeitpunkt, findet Fred Dervin. Der Professor für multikulturelle Bildung an der Uni Helsinki hat den Verfassern des neuen Curriculums beratend zur Seite gestanden: "Dieses Denken: Ich trenne Schüler nach Sprache und kulturellem Hintergrund finde ich beängstigend und auch ermüdend. Denn wie bekomme ich das Gefühl integriert zu sein und dazuzugehören zu einer Gruppe, wenn ich mit diesen Menschen nicht zusammen bin, zusammen lerne? Aber dieses Denken ist in Finnland noch immer stark ausgeprägt. Wenn jemand bei uns zum Beispiel einen finnischen Pass bekommt, nennt man ihn einen 'Neuen Finnen', wir wählen sogar jedes Jahr den 'Besten Neuen Finnen' - die Frage ist: Was ist dann eigentlich ein 'normaler Finne'? Darum halte ich es für wichtig, dass im neuen Curriculum kein besonderer Akzent mehr auf eine speziell "finnische Kultur" gelegt wird und das Thema Sprache sehr viel weiter gesehen wird. Es heißt dort jetzt explizit: Jeder Lehrer ist gleichzeitig auch ein Sprachlehrer!" Vorsorgen für die Zukunft In Helsinkis Schulen werden bislang nur wenige Flüchtlinge unterrichtet. Das liege auch daran, dass die meisten dieser Menschen bislang in eher ländlichen Gegenden untergebracht sind, erklärt Ilppo Kivivuori. Doch der Vizerektor der Hiidenkivi-Schule ist sich sicher: Diese Menschen werden irgendwann in Richtung der größeren Städte ziehen und dann auch noch weitere Familienmitglieder aus der Heimat nachholen. Und dafür sieht der Lehrer sich und seine Schule gut gerüstet, auch durch den Unterricht in Regel- statt Vorbereitungsklassen.
Von Christoph Kersting
Voneinander lernen statt in separaten Klassen: Noch ist es ein Pilotprojekt, aber ab Herbst 2016 soll die Integration von Migrantenkindern in Regelklassen nach dem Willen der finnischen Regierung verpflichtend werden. Erste Erfolge gibt es bereits, dennoch bleibt noch einiges zu tun.
"2015-11-09T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:08:16.177000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-skandinavien-integration-auf-finnisch-100.html
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Syrische Ärzte scheitern an deutscher Bürokratie
Nicht nur, dass ein Großteil von Aleppo zerstört ist. Die syrischen Ärzte in Neumünster müssten indirekt auch ihre Treue gegenüber dem syrischen Geheimdienst nachweisen, bevor sie ihre Papiere bekämen, so der Direktor des Friedrich-Ebert-Krankenhauses. (AFP / Karam al-Masri) Seit zwei Tagen habe er Magenschmerzen, erzählt Dilovan Alnouri. Seit Sonntag habe er nichts mehr gegessen, nachts um drei Uhr sei er aufgestanden, wegen seiner Angst und wegen Albträumen. Dass es nicht so wird, wie er und seine Familie es sich erhofft haben. Und dass er nicht mehr weiter arbeiten kann am Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster, sagt der 40-Jährige. "Wir sind hier in Deutschland nicht für Sozialhilfe oder Jobcenter oder was. Wir wollen hier arbeiten, ganz einfach. Wir sind für Sicherheit hier, das ist am wichtigsten. Der nächste Schritt ist arbeiten." Alnouri stammt aus Syrien. Er hat in Aleppo studiert und arbeitet seit rund einem Jahr als Assistenzarzt in der sogenannten Flüchtlingsambulanz. Die Einrichtung sei bundesweit einmalig, sagt die Klinik. Die Idee: Ärzte, die selber als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, behandeln hier Landsleute ebenso wie alteingesessene Schleswig-Holsteiner. Und machen nebenbei ihre Approbation. Alnouri hat in seiner syrischen Heimat eine lange Ausbildung durchlaufen: "Ich habe zwei Ausbildungen dort abgeschlossen: Viszeralchirurgie und Gefäßchirurgie, war in Syrien auch als Facharzt für Viszeralchirugie. Ich war in Damaskus auch als Assistenzarzt an einem großen Krankenhaus." Schließungsszenario für die Flüchtlingsambulanz ganz akut Zuletzt war die Flüchtlingsambulanz wegen fehlender Weiterfinanzierung von der Schließung bedroht. Inzwischen geht das Krankenhaus davon aus, dass die Förderung sogar über den Februar 2017 hinaus weiter laufen könnte. Doch seit einigen Tagen ist das Schließungsszenario für die Flüchtlingsambulanz plötzlich wieder ganz akut, meint Ivo Markus Heer, Ärztlicher Direktor des Friedrich-Ebert-Krankenhauses. "Wir werden wahrscheinlich noch im Oktober den operativen Betrieb der Einheit Integrierende Versorgung einstellen." Das hängt weniger mit mangelnder Finanzierung zusammen – sondern schlichtweg damit, dass das Krankenhaus zwei seiner vier syrischen Ärzte zum Ende dieser Woche wohl ziehen lassen muss. Zu ihnen gehört auch Dilovan Alnouri. Er wird dann einen neunmonatigen Vorbereitungskurs über die Arbeitsagentur beginnen, um sich auf die Kenntnisprüfung vorzubereiten – und damit die Zulassung als Arzt in Deutschland zu erhalten. Nicht weil er das möchte, sondern weil er keine Alternative sieht. Eigentlich sei geplant gewesen, dass die teilnehmenden Ärzte ihre Approbation nach anderthalb bis zwei Jahren Arbeit am Friedrich-Ebert-Krankenhaus erhalten, sagt Ivo Heer. Doch diese Pläne habe das Landesamt für soziale Dienste nun abrupt durchkreuzt. Wie Stundennachweise aus Aleppo nachbringen? "Gefordert wird also seitens des Landesamtes, dass die Antragssteller die entsprechenden Stundenübersichten mit praktischen und theoretischen Anteilen von Heimatuniversität sich bestätigen lassen sollen und sie gegebenenfalls erneut einreichen sollen. Also, wer die Bilder aus Aleppo kennt, dem fehlt absolut die Fantasie, wie die beiden Kollegen nun aus Aleppo nun irgendwelche Stundennachweise nachbringen sollen. Sie haben das versucht, sind dann aber mit der Geheimpolizei konfrontiert worden, die von ihnen gewissermaßen erst Bescheinigungen über die Regimetreue erst haben wollten, bevor dann Bescheinigungen aus der Universität zurückkommen." Aus den ins Deutsche übersetzten Unterlagen gehe doch klar hervor, welche Teile der theoretischen und praktischen Medizin sein syrischer Kollege belegt habe, sagt Heer. "Und die sind in der Summe deutlich mehr als das deutsche Curriculum vorsieht – und trotzdem werden sie nicht als Voraussetzung für eine Approbation anerkannt." Eine klare Handlungsanweisung hätte sich das Neumünsteraner Krankenhaus von dem Landesamt erhofft: Wo genau liegen die Defizite, wo muss was mit Stunden an Theorie und Praxis aufgefüllt werden – doch das stehe in dem entsprechenden Gutachten an keiner Stelle, sagt Heer. Landesamt will medizinischen Standard nicht im Einzelfall absenken Das Landesamt für soziale Dienste untersteht dem schleswig-holsteinischen Sozial- und Gesundheitsministerium. Und das pocht im Falle der in Neumünster tätigen syrischen Ärzte auf die Gesetze. Auf Deutschlandradio-Anfrage heißt es aus dem Ministerium: "Ein Abweichen von den rechtlichen Rahmenbedingungen widerspricht den Grundsätzen der Gleichbehandlung und des Patientenschutzes. Deshalb können wir den Standard nicht im Einzelfall absenken." Gefäßchirurg Dilovan Alnouri bringt all das zur Verzweiflung. Er findet: Den Beruf und die Integration lerne man doch nur in der Praxis. Und nicht in einem Kurs: "Das zerstört uns, wissen Sie? Also, nicht so wenig dachten wir, dass wir sind auf Beine gestanden. Aber jetzt wieder viele Schritte zurück – das ist - ich weiß, nicht, was kann ich dazu erzählen, aber das ist schwierig, ehrlich."
Von Johannes Kulms
In der Flüchtlingsambulanz am Krankenhaus in Neumünster arbeiten Ärzte, die selbst als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Hier behandeln sie ihre Landsleute und sollen nebenbei ihre Approbation erlangen. Doch jetzt fordert das Landesamt für soziale Dienste: Die Ärzte sollen Ausbildungsnachweise aus Syrien beibringen.
"2016-09-27T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:55:50.792000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-und-arbeit-syrische-aerzte-scheitern-an-100.html
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NASA verschiebt Ausstieg im All
Weltraumschrott kreist um die Erde (grafische Darstellung) (ID&Sense/ONiRiXEL/ESA/dpa) Die Entscheidung wirkte überraschend: Am Dienstag sagte die NASA einen seit Wochen geplanten Weltraumausstieg auf der Internationalen Raumstation kurzerhand ab. Es gebe eine Warnung, dass Weltraumschrott der Station nahe kommen könnte. Doch nur einen Tag zuvor hatte Dana Weigel noch Sorgen um die Gefahren des Weltraumschrotts zurückgewiesen. Die stellvertretende Chefin des ISS-Programms bei der NASA hatte zuversichtlich geklungen. Eine Astronautin und ein Astronaut sollten eine defekte Antenne austauschen – eine Routinearbeit, bei der sich beide sechseinhalb Stunden außerhalb der Station aufgehalten hätten. Die meisten Fragen der Journalisten beschäftigten sich daraufhin aber mit den Überresten eines von Russland abgeschossenen und ursprünglich zwei Tonnen schweren Spionagesatelliten, der am 14. November bei einem Militärmanöver gezielt zerstört worden war.  „Am Anfang war die Trümmerwolke sehr konzentriert. Die ISS ist bei jedem Umlauf hindurch geflogen. Deshalb waren wir besonders in den ersten 24 Stunden sehr besorgt.“ ISS: Risiko für Zusammenstöße verdoppelt Zwar fliegt die ISS auch zwei Wochen später noch immer regelmäßig durch die Trümmerwolke, aber mittlerweile hätten sich die Bruchstücke stark verteilt. Das Risiko für die gesamte Station, von einem Stück Weltraumschrott getroffen zu werden, habe sich durch den russischen Waffentest zwar verdoppelt – die Gefahr für frei fliegende Astronauten im Raumanzug sei dagegen fast unverändert geblieben.  „Ein Raumanzug ist sehr viel anfälliger gegenüber kleinen Trümmern. Und von denen gibt es sowieso schon relativ viele natürliche. Vor allem sind das Mikrometeoriten, weshalb das Risiko getroffen zu werden, durch die Trümmerwolke nur um ungefähr sieben Prozent gestiegen ist.“ Ein Weltraumausstieg ist laut der NASA per se nicht ganz ungefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem sechseinhalbstündigen Einsatz getroffen zu werden, liege bei eins zu 2.700. Ein Raumanzug könne aber ein kleineres Loch problemlos kompensieren, ohne dass dem Raumfahrer sofort die Luft ausgeht. Dennoch ist das Problem des Weltraumschrotts mittlerweile äußerst ernst geworden, bestätigt Luisa Innocenti, die bei der Europäischen Raumfahrtagentur das Programm Clean Space für eine saubere Raumfahrt leitet. Und daran seien bei weitem nicht nur militärische Manöver schuld.  „Haben wir es immer noch nicht verstanden, dass das All eine Resource ist, um die wir uns kümmern müssen? Wir starten immer noch kontinuierlich und lassen die Satelliten dann dort oben. Manche von ihnen explodieren, weil ihre Batterien nicht getrennt wurden oder weil ihre Treibstofftanks nicht geleert wurden. Deswegen war ich auch nicht schockiert, weil die Menge an Weltraumschrott sowieso weiter ansteigt.“ Nur elf Prozent der neuen Trümmer bisher vermessen Ob die neueste Kollisionswarnung für die Internationale Raumstation auch mit dem neuen Schrott vom russischen Satellitenabschuss zusammenhängt, ist unklar. Denn die Flugbahnen, der dabei entstandenen Fragmente, sind noch weitgehend unbekannt. Sie müssen erst mühsam vermessen werden. Von rund 1.700 Bruchstücken, die wegen ihrer Größe vom Boden aus überhaupt verfolgt werden können, sind gerade erst elf Prozent genauer bekannt. Bis alle diese Fragmente vermessen werden, dürften viele Monate vergehen. Bis dahin wird auch der Alltag auf der Raumstation etwas schwerer planbar: Der eigentlich für heute geplante Weltraumausstieg soll nun am Donnerstag stattfinden. Jedenfalls, wenn nichts mehr dazwischen kommt.
Von Karl Urban
Bei einem Waffentest am 14. November schoss Russland einen eigenen Satelliten ab. Der Weltraumschrott behindert weiter die Raumfahrt: Ein geplanter Weltraumausstieg auf der Internationalen Raumstation wurde sicherheitshalber verschoben.
"2021-12-01T16:35:00+01:00"
"2021-12-01T16:20:16.039000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/weltraumschrott-100.html
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"CDU und CSU sind ganz, ganz eng beieinander"
Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld) Spahn verwies auf die aktuelle Entwicklung in den USA und der Europäischen Union, wo "Selbstverständliches" nun infrage gestellt sei. Die Anfangs zurückhaltende Unterstützung der CSU von Merkels Kandidatur begründete Spahn mit inhaltlichen Fragen. Zunächst hätten sich beide Seiten in Fragen der inneren Sicherheit und der Flüchtlingspolitik verständigen müssen. Den Begriff der Obergrenze für den Zuzug von Flüchtlingen nannte Spahn "Wortklauberei". Hier seien CDU und CSU ganz nah beieinander. "Man wisse, das man nicht jeden unbegrenzt aufnehmen könne". "Entscheidend ist doch: wir haben eine gemeinsame Spitzenkandidatin" Spahn betonte, die Schwesterparteien würden nicht gegeneinander antreten. Die CSU tue dies in Bayern, die CDU in den anderen 15 Bundesländern. Es werde ein gemeinsames Wahlprogramm geben. Auch in den vergangen Jahren hätten die Bayern für sie wichtige Themen in einem eigenen Plan aufgeführt. CSU-Chef Seehofer hatte angekündigt, die Obergrenze für Flüchtlinge in dem sogenannten Bayern-Plan zu thematisieren. Jens Spahn: "Das ist okay". Am Ende seien es zwei verschiedene Parteien, die an regional verschiedenen Orten antreten würden, betonte der CDU-Politiker. "Entscheidend ist doch: wir haben eine gemeinsame Spitzenkandidatin". Das komplette Interview zum Nachlesen: Jasper Barenberg: Über ein Jahr lang hat Horst Seehofer die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel beschimpft. Monatelang hat die CSU die Kanzlerin hingehalten und ein klares Bekenntnis zu ihr vermieden. Selbst das lang geplante Treffen in München hat Seehofer demonstrativ und bis zuletzt infrage gestellt. Heute aber soll die Kanzlerkandidatin in der bayerischen Hauptstadt auch den Ritterschlag der CSU bekommen. Offizieller Titel der gemeinsamen Sitzung der Parteipräsidien "Zukunftstreffen"; inoffizieller Titel "Versöhnungsgipfel". - Vor einer halben Stunde hatte ich Gelegenheit über die neue Geschlossenheit mit Jens Spahn zu sprechen, Mitglied im Präsidium der CDU. Die SPD feiert Martin Schulz dieser Tage euphorisch; die CSU unterstützt Angela Merkel nur zögerlich und halbherzig. Ist das ein kraftvoller Start in diesen Bundestagswahlkampf? Das habe ich ihn zu Beginn des Gesprächs gefragt. Jens Spahn: Na klar ist das ein kraftvoller Start, weil auch die CSU wie die CDU nicht nur halbherzig, sondern mit voller Kraft will, dass die Kanzlerin Kanzlerin bleibt, weil wir mit Angela Merkel jemanden haben, die in unruhigen Zeiten - und wir sehen ja allein, was in den USA gerade an Unsicherheiten zumindest - viel Selbstverständliches steht infrage - rüberkommt, wir haben die Situation in der Europäischen Union -, die mit viel Erfahrung auch für einen klaren Kurs in all diesen Fragen steht. Insofern bin ich da ganz gelassen. Barenberg: Wenn die CSU so kraftvoll ist, wie Sie sagen, warum hat sich Horst Seehofer dann so lange davor gedrückt, die Kandidatur von Angela Merkel zu unterstützen? Spahn: Es ging jetzt zuerst einmal darum, auch inhaltliche Fragen miteinander zu klären. Und das haben wir ja in den letzten Monaten zusammen entwickelt. Wissen Sie, wenn es um Fragen geht wie innere Sicherheit, mehr Polizei, vor allem auch Unterstützung der Polizei in den Einsätzen, etwa durch Videoüberwachung. Wenn es um die Frage geht der kulturellen Sicherheit, Leitkultur, dass wir für unsere Werte und Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau einstehen, dann sind CDU und CSU ganz, ganz eng beieinander. Und das gilt im Übrigen auch bei der Frage, dass Deutschland nicht alle, die nach Deutschland wollen, die nach Europa wollen, aufnehmen kann, sondern sich vor allem auf diejenigen konzentriert, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Auch da sind wir uns ziemlich einig. Und nachdem wir das alles geklärt haben, geht es jetzt um die Frage, gemeinsam in diesen Wahlkampf mit einem Wahlprogramm zu ziehen. Barenberg: Warum konnten Sie eine der wichtigsten inhaltlichen Fragen nicht klären, nämlich die Frage, ob eine Obergrenze ins Wahlprogramm soll oder nicht? "An vielen Stellen auch Wortklauberei" Spahn: Ich finde, das ist am Ende an vielen Stellen auch Wortklauberei. Wir als CDU haben im Übrigen schon vor eineinhalb Jahren gesagt, wir müssen die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, spürbar reduzieren, um eine Gesellschaft, um unsere Gesellschaft nicht zu überfordern. Und jeder von uns spürt ja, natürlich gibt es irgendwo eine Grenze dessen, was geht an Integrationsfähigkeit. Wenn wir die Menschen nicht einfach nur irgendwie unterbringen wollen, sondern wenn wir sie auch Teil der Gesellschaft werden lassen wollen, wenn sie die Sprache Deutsch lernen sollen, wenn es um Arbeitsmarktintegration geht, um Wohnungen, dann weiß ja jeder, wir können nicht unbegrenzt aufnehmen. Die Frage ist nur, ob man eine fixe Obergrenze macht, oder ob man zumindest grundsätzlich anerkennt, unser Herz ist weit, unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Bei dieser Aussage, da sind wir ja ganz, ganz nah beieinander. Und das ist im Übrigen ja auch ein Widerstreit sozusagen, man möchte vielen helfen, aber man kann nicht allen helfen, den jeder einzelne von uns ja auch in sich spürt. Barenberg: Umso entscheidender ja die Frage, warum die Union jetzt zweigleisig fährt im Wahlkampf und es dem Wähler überlässt, ob er nun eine Obergrenze erwartet oder nicht. Spahn: Was heißt zweigleisig? Wir treten ja nicht gegeneinander an. Barenberg: Ja, doch! Es gibt den Bayern-Plan, das eigene Wahlprogramm der CSU auf der einen Seite und das gemeinsame Wahlprogramm von Union auf der anderen Seite. Woran soll sich der Wähler denn dann halten? Spahn: Erst einmal: Die CSU tritt in Bayern an, die CDU in allen anderen 15 Bundesländern. Insofern treten wir gemeinsam in allen 16 Bundesländern an. Es wird ein gemeinsames Wahlprogramm geben und es gibt wie schon in den vergangenen Wahlen einen Bayern-Plan, wo die Bayern einige Themen, die für sie wichtig sind, und das ist mehr als nur die eine Frage der Obergrenze, noch mal aufführen. Das finde ich auch okay. Es sind am Ende ja zwei Parteien, die da an zwei verschiedenen regionalen Orten sozusagen antreten. Entscheidend ist doch, wir haben eine gemeinsame Spitzenkandidatin mit Angela Merkel. Wir haben ein gemeinsames Wahlprogramm, das sich vor allem auch auf Fragen der kulturellen Sicherheit, Leitkultur, innere Sicherheit, wie stärken wir unsere Polizei gerade in Zeiten, wo wir merken, dass etwa an Bahnhöfen viele Menschen sich unsicher fühlen, all diese Themen sind unsere gemeinsamen Themen. Und mit denen wollen wir antreten. Barenberg: Und in einem Bundesland gilt dann, sollte die Union in der nächsten Bundesregierung beteiligt sein, es soll eine feste Obergrenze geben und in allen anderen Bundesländern gilt dann, es wird keine feste Obergrenze geben? "Wir stehen für eine bürgerliche Mehrheit" Spahn: Wissen Sie, Herr Barenberg, diese Fixierung auf dieses Wort, ich finde, das trifft auch nicht ganz die Ausgangslage in dieser Wahl. Wir haben mit Herrn Schulz aus Brüssel, der jetzt gerade als Messias bei der SPD ein bisschen dafür sorgt, dass die aus der Depression rauskommen, jetzt die Situation, dass die Menschen eine wirkliche Wahl haben. Herr Schulz kann nur Kanzler werden, wenn er Rot-Rot-Grün macht. Eine andere Machtperspektive gibt es nicht. Wir stehen für eine bürgerliche Mehrheit, für die Mitte in der Gesellschaft. Und insofern gibt es doch eine wirkliche Auswahl zu dieser Wahl. Und ich finde, darüber sollten wir mal etwas mehr reden, worum geht es in diesem Wahlkampf, welches Bild von der Gesellschaft hat man. Allein die Frage, ob sie Steuern senken wollen, weil sie sagen, wir sind gerade in einer guten Lage, da sollen auch die was haben, die hart arbeiten. Oder ob sie sagen, wir müssen die Steuern noch mehr erhöhen, wir brauchen neue Steuern, ist ein völlig unterschiedliches Gesellschafts- und Menschenbild. Und da, würde ich doch sagen, sollten wir die Auseinandersetzung auch übrigens in der Berichterstattung sehen, denn nur wenn die beiden großen Volksparteien sich stärker unterscheiden und das wahrnehmbar wird, dann haben die Spalter in diesem Land weniger Chancen. Barenberg: Soweit ich mich erinnere, Herr Spahn, hat ja die Union diese Wortklauberei um die Obergrenze zu einem so großen Diskussionspunkt und zu einer Machtfrage geradezu gemacht. Das waren ja nicht die Beobachter der politischen Entwicklung. Aber lassen Sie uns gerne über Martin Schulz sprechen. Die SPD macht mit ihm ja einen sehr großen Sprung in den Umfragen. Sie haben jetzt ganz gönnerhaft gesagt, da freuen Sie sich selber drüber, wenn die SPD nicht mehr in der Depression versinkt. Was spricht denn dafür, dass dieser Höhenflug eine Eintagsfliege ist aus Ihrer Sicht? Spahn: Natürlich ist das der Zauber des Anfangs sozusagen an der Stelle. Aber jetzt muss Herr Schulz auch konkret werden. Ich meine, wenn er von sozialer Ungerechtigkeit im Land redet, wie furchtbar alles ist, dann muss man schon fragen, wer stellt eigentlich die entscheidenden Minister für diese Fragen, für Rente, für Soziales, für Familien, für sozialen Wohnungsbau, für Verbraucherschutz. Das sind seit vielen Jahren alles SPD-Minister. Und gleichzeitig Regierung sein wollen und Opposition und alles infrage zu stellen, das hat noch nie funktioniert. Da habe ich jedenfalls ein paar Fragen. Und wenn es um die Inhalte geht: Ich kenne bis jetzt nur Inhalte, die europäische Politik betreffen, die Vergemeinschaftung der Spareinlagen zum Beispiel, die Eurobonds, da werden wir ihn jetzt auch inhaltlich natürlich stellen und auch an vieles dann messen, was er in der Vergangenheit gesagt hat. Barenberg: Martin Schulz wendet sich ja zum Beispiel gegen absurd hohe Abfindungen, wie wir sie gerade bei Volkswagen erlebt haben, mit elf Millionen Euro. Sie sind dafür, diese Praxis beizubehalten beispielsweise. "Doppelzüngigkeit anprangern" Spahn: Ich bin erst mal dafür, Doppelzüngigkeit anzuprangern. Wissen Sie, wer Sonntagsabends in der Talkshow sitzt und mit der Wortwahl, mit der Herr Schulz das gemacht hat, solche Vergütungen anprangert, der kann nicht gleichzeitig bei einem Land Niedersachsen, das im Aufsichtsrat von Volkswagen sitzt und mit der IG Metall, mit den Gewerkschaften eine Mehrheit im Aufsichtsrat hat, dann solchen Zahlungen auch zustimmen. Ich glaube auch gar nicht, dass es zuerst immer ein Gesetz braucht. In jedem DAX-Konzern, in jedem großen Unternehmen in Deutschland sitzen zur Hälfte Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften in den Aufsichtsräten. Allermeistens werden diese Entscheidungen einstimmig gefasst. Wenn Herr Schulz mal zuerst bei seinen sozialdemokratischen Freunden meistens bei den Gewerkschaften anruft und mal sagt, die sollten nicht immer zustimmen, dann wäre schon ohne ein neues Gesetz viel erreicht. Barenberg: Sie haben gerade den Punkt Steuersenkungen angesprochen. Die SPD will ja - und Martin Schulz unterstützt das ja offenkundig - mehr tun gegen marode Schulen und schlechte Straßen. Ist das ein Unterschied, wo Sie sagen würden, Sie sind mit maroden Schulen ganz einverstanden? Spahn: Natürlich nicht und deswegen hat ja Wolfgang Schäuble, der Finanzminister, auch gerade noch mal dreieinhalb Milliarden, insgesamt sieben Milliarden für die Kommunen in Deutschland zur Verfügung gestellt, um mehr zu investieren. Unser Problem im Moment in Deutschland - und da möchte ich mit der SPD drüber reden - ist doch, dass wir das Geld gar nicht verbaut kriegen, dass viel von unseren Investitionsmitteln im Moment zurückfließt, auch, weil das Planungsrecht so ist wie es ist. Die Frage ist, ist ein Nistplatz für Fledermäuse immer moralisch wertvoller als Arbeitsplätze für Menschen zum Beispiel, wenn es um Straßen, Gewerbegebiete, Industriegebiete geht. Oder auch bei Schulen, wie schnell wir entsprechend neue Gebäude, neue Einrichtungen planen können. Wenn wir mal übers Planungsrecht in Deutschland reden und warum wir so lange brauchen, um das Geld, das gerade da ist - das scheitert alles gerade nicht am Geld -, entsprechend zu verbauen, wenn die SPD sich darauf einlässt, bin ich gern bereit. Barenberg: Zum Schluss, Herr Spahn, Julia Klöckner, die stellvertretende Parteivorsitzende, sieht ja in Schulz das Gesicht einer rot-rot-grünen Linksfront. Wird die Union mit Angstmacherei in diesen Bundestagswahlkampf gehen? Spahn: Es geht ja weniger um Angstmacherei als darum, die Unterschiede herauszuarbeiten. Rot-Rot-Grün, ein linkes Bündnis, das ist natürlich ein anderes Gesellschaftsbild, ein anderes Menschenbild als eine bürgerliche Mehrheit, die regiert. Barenberg: Was ist daran nicht bürgerlich? Spahn: Ich kann Ihnen das ja an ein paar Beispielen sagen. Wenn Sie Steuern senken, weil Sie sagen, die Menschen sollen von ihrem Einkommen, von dem, was sie arbeiten, mehr haben, und Sie trauen ihnen zu, das Richtige damit zu machen. Dann haben Sie mehr Vertrauen in die Menschen als wenn Sie sagen, wir müssen noch mehr Steuern einnehmen, wir wissen besser, wie wir das verteilen. Wenn Sie sagen, in guten Zeiten wollen wir Schulden tilgen, um auch an künftige Generationen zu denken. Oder wenn Sie sagen, die Zinsen sind niedrig, wir hauen noch mal richtig einen raus, dann steckt dahinter ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wenn Grüne sagen, wenn Du nur noch Arabisch in Deiner Straße hörst, dann musst Du halt Arabisch lernen, und wir sagen, wir erwarten von denjenigen, die zu uns kommen, dass sie Deutsch sprechen, dann sind das unterschiedliche Menschen- und Gesellschaftsbilder. Und da könnte ich noch munter an verschiedenen Stellen weitermachen. Da habe ich gar keine Angst vor der inhaltlichen Auseinandersetzung. Um die geht es. Wenn wir in 2017 mal wieder etwas mehr über Inhalte streiten, nicht nur über einen Veggie-Day wie letztes Mal 2013, sondern über wirkliche fundamentale wichtige gesellschaftliche Fragen für Deutschland, dann kann das ein spannender Wahlkampf werden. Barenberg: ... sagt Jens Spahn, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Mitglied im Präsidium der CDU. Danke heute Morgen für das Gespräch. Spahn: Sehr gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jens Spahn im Gespräch mit Jasper Barenberg
Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn sieht die Union für die Bundestagswahl gut gerüstet. CDU und CSU wollten, dass Kanzlerin Merkel Regierungschefin bleibe. Sie stehe in diesen unruhigen Zeiten für einen klaren Kurs, sagte Spahn im DLF.
"2017-02-06T07:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:43.551000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahlkampf-cdu-und-csu-sind-ganz-ganz-eng-100.html
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Der Weltraumdäne und der Rabe des Odin
Der Rabe über Dänemark und der Erde: Das Logo der ESA-Mission „Huginn“ von Andreas Mogensen zur ISS. (ESA)
Lorenzen, Dirk
Unser nördliches Nachbarland spielt in der Astronomie seit Jahrhunderten eine große Rolle – in der Raumfahrt aber gehört es zu den Kleinen: Erst ein Däne war bisher im Weltraum. Bald startet er zu seiner zweiten Mission.
"2023-07-25T02:57:30+02:00"
"2023-07-25T00:00:00.411000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sternzeit-25-juli-2023-der-weltraumdaene-und-der-rabe-des-odin-dlf-8ec4fb3f-100.html
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Bayer erhöht beim Saatguthersteller Monsanto
Bayer erhöht sein Angebot an die Aktionäre des Saatgutherstellers Monsanto. (picture alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner) Um den größten Agrarchemie- und Saatgutspezialisten der Welt zu bauen, bietet Bayer drei Dollar pro Aktie mehr. 125 Dollar je Monsanto-Aktie statt bisher 122 Dollar. Bayer will also für den amerikanischen Saatgutkonzern statt gut 55 nun rund 56,5 Milliarden Euro zahlen. Analysten sehen die geballte Marktmacht, die sich bei diesem fusionierten Konzern ansammeln würde, loben diese Idee, halten deshalb auch den kleinen Aufschlag auf das Angebot für strategisch richtig: "Man signalisiert auf der einen Seite jetzt Entschlossenheit mit dem erhöhten Angebot, damit auch gleichzeitig den Druck auf das Monsanto-Management , signalisiert aber auch den eigenen Aktionären, dass man auch nicht zu viel bezahlen will. Aber das ist das übliche Spiel. Das wird vermutlich auch noch nicht das letzte Wort gewesen sein. Sprich: Vermutlich wird man noch mal nachlegen." So Uwe Treckmann, der für die Commerzbank das Tauziehen zwischen Bayer und Monsanto beobachtet. Was strategisch richtig ist, muss gleichwohl nicht preisgünstig sein. Der Leverkusener Konzern weiß, dass er viel Geld in die Hand nehmen, neue Aktien einwerben und gleichwohl die Schulden erhöhen muss, um Monsanto zu bezahlen. Entschuldung könnte ein Problem werden Aber das werde schon klappen, meint Bayer-Chef Werner Baumann. Die hohen fei verfügbaren Mittel des fusionierten Unternehmens erlaubten eine schnelle Entschuldung. Es bleibe auch noch genügend Geld, um organisch zu wachsen, also in die bisherigen Standorte und in die Forschung zu investieren. Da hat Analyst Treckmann angesichts von 17,5 Milliarden Euro Nettoschulden allerdings Zweifel: "Die Verschuldung beispielsweise des Bayer-Konzerns würde dramatisch ansteigen und auch langfristig gegeben sein, weil man das über den laufenden Cashflow nicht so schnell reduzieren kann." Bayer hofft nun, mit dem erhöhten Angebot so viel ernsthaftes Interesse gezeigt zu haben, dass Monsanto die Leverkusener endlich ins Unternehmen lässt, um die Bücher genau prüfen zu können. Monsanto, Hersteller des in Europa umstrittenen, aber gebräuchlichen Pflanzenschutzmittels Glyphosat, will das neue Angebot prüfen und sich erst einmal nicht weiter äußern.
Von Michael Braun
Der Pharma- und Chemiekonzern Bayer will den US-Saatgutkonzern Monsanto übernehmen. Und sollte diese Übernahme zustande kommen, dann wäre das die größte in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Um sein Ziel zu erreichen, hat Bayer nun sein Angebot nachgebessert.
"2016-07-15T17:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:41:23.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/uebernahmeplaene-bayer-erhoeht-beim-saatguthersteller-102.html
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Honig ohne Gentechnik
Das Urteil bewerten Bienenschützer und Imkerverbände als ein Versagen des Gesetzgebers. Hinter der Klage des bayerischen Imkers steht ja ein ganzes Bündnis aus verschiedenen Imkerverbänden und Arbeitsgemeinschaften, angeführt vom Deutschen Imkerverbund Mellifera. All diese Interessenvereinigungen stehen für den Schutz der Bienen vor Gentechnik. Thomas Radetzki vom Vorstand des Vereins Mellifera hat das Bündnis zum Schutz der Bienen initiiert. Er vertritt die Auffassung, dass Erzeuger, deren Lebensmittel die Kennzeichnung "ohne Gentechnik" tragen, einen Schutzanspruch haben sollten. Schließlich nehme der Handel gentechnisch verunreinigten Honig nicht ab. Die Verbraucher wollen ihn nicht, erklärt Thomas Radetzki. "Wir wollen erreichen, dass klar wird, dass die Imker geschützt werden müssen und wir wollen, dass die Vorschriften in der Gentechnikpflanzenerzeugungsverordnung entsprechend angepasst werden."Das Bündnis zum Schutz der Bienen werde weiter klagen, denn die Imker fürchten neue Gefahren. So hat die Europäische Kommission gerade erst dem Pollen des Monsanto-Gentech-Maises MON 810 eine europaweite Zulassung als Lebensmittel erteilt und somit gentechnisch veränderte Pollen im Honig legalisiert. Dabei ist MON 810 seit vier Jahren in Deutschland und in sieben anderen EU-Staaten verboten. Die Imker fürchten nicht nur MON 810. Die EU-Kommission will demnächst auch den Anbau der Maislinie 1507 der Firma Pioneer erlauben. Nur Schutzabstände von bis zu fünf Kilometern könnten einen ausreichenden Schutz garantieren, meint Thomas Radetzki vom Imkerverband Mellifera. "Wir wollen, dass für die Imkerei Schutzabstände um jeden festen Bienenstand eingerichtet werden von mehreren Kilometern, so wie die Griechen das schon lange machen."Das Bündnis prüft derzeit, ob ein Gang vor das Bundesverfassungsgericht möglich ist. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der BUND, fordert die neue Bundesregierung auf, Bienen und Imker künftig vor Gentechnik zu schützen. Nach Angaben von Unterhändlern von SPD und Union ist es durchaus möglich, dass es die Biene bis in den Koalitionsvertrag schaffen kann. Demnach sollen die gefährdeten Bienen eine Sonderstellung bekommen. Darauf hofft auch der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Auch er fordert wirksame Maßnahmen zum Schutz der Bienenvölker wie etwa Sicherheitsabstände zwischen Gentech-Feldern und Bienenstöcken. "Es wäre auch für uns ganz wichtig, wenn die neue Bundesregierung sich verpflichtet, auf europäischer Ebene gegen die Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen vorzugehen und gegen die drohenden Aushebelungen unserer europäischen und nationalen Gesetzgebungen durch das Freihandelsabkommen zwischen der USA und der Europäischen Union."Der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger verweist auf Zahlen des deutschen Imkerbundes. Demnach hat die Bestäubungsleistung von Bienen einen volkswirtschaftlichen Nutzen von etwa zwei Milliarden Euro pro Jahr.
Von Verena Kemna
Bienen lassen sich von vielen Blüten anlocken, und auch die von MON 810 verschmähen sie nicht. MON 810 ist eine gentechnisch veränderte Maissorte, die allerdings seit einigen Jahren in Deutschland nicht mehr angebaut werden darf. Imker fordern die neue Bundesregierung auf, Bienen und Imker künftig vor Gentechnik zu schützen.
"2013-11-13T11:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:44:58.956000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/honig-ohne-gentechnik-100.html
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Schlammschlacht gegen Bürgerrechtsbeauftragten
Der polnische Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar kritisierte den Umgang der Polizei mit einem mutmaßlichen Mörder. Seitdem ist er massiven Anfeindungen des öffentlichen polnischen Fernsehens TVP ausgesetzt. (picture alliance / PAP / Jacek Turczyk) Das öffentliche polnische Fernsehen TVP sendete gestern am Morgen einen kritischen Beitrag über den Bürgerrechtsbeauftragten Adam Bodnar. Zu sehen war, wie ihn ein Reporter auf der Straße anspricht: "Warum verteidigen Sie Verbrecher?", fragte der Journalist. Dann wurde es noch peinlicher. Ein anderer Reporter tritt auf: "Aus Recherchen von TVP-Journalisten geht hervor, dass der Sohn von Adam Bodnar Probleme mit dem Gesetz haben könnte. Der 14-jährige Sohn soll Ende Mai an einer Erpressung von anderen Jugendlichen beteiligt gewesen sein, unter Einsatz eines Messers. Die Polizei hat die Sache einem Gericht übergeben." "Er verteidigt einen Verbrecher" Eine Schlammschlacht gegen den Bürgerrechtsbeauftragten, in Gang gehalten vom öffentlichen Fernsehen, das von der rechtskonservativen Regierungspartei PiS kontrolliert wird. Adam Bodnar, 42 Jahre alt, hat sein Amt noch in der vorigen Legislaturperiode angetreten. Die PiS-Regierung sieht er äußerst kritisch. Deshalb wird er schon seit langem aus dem Regierungslager angegriffen. Aber so persönlich wurden die Attacken noch nie. Der Grund: Bodnar wagte es, die Art zu kritisieren, in der die Polizei einen mutmaßlichen Mörder festgenommen hatte. Marek Suski, Bürochef von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki: "Davon zu sprechen, dass man sich doch um den Tätern hätte kümmern sollen, das ist komisch. Das ist ein Verbrecher, der ein Kind auf besonders grausame Weise getötet hat. Und den soll die Polizei höflich in den Einsatzwagen bitten? Das ist doch wohl ein Hohn. Der Bürgerrechtsbeauftragte sollte etwas für die Geschädigten tun, für die Opfer. Aber er verteidigt einen Verbrecher." Die Polizei hatte den Studenten überwältigt, als der im Bett lag. Sie legte ihm kombinierte Hand- und Fußschellen an und zerrte ihn barfuß und in der Unterhose in den Polizeiwagen. Sie filmte die Festnahme bis ins Polizeipräsidium und veröffentlichte einen knapp zwei Minuten langen Zusammenschnitt später im Internet. Auch Fotos von der Vernehmung kamen an die Öffentlichkeit. Rechte der Schwächsten einfordern Adam Bodnar kritisierte das und beugte sich auch den Anfeindungen nicht: "Der Bürgerrechtsbeauftragte kann sich nicht nach den Emotionen in der Gesellschaft richten. Er ist kein Eisverkäufer, der bei allen beliebt sein will. Ich bin dafür da, die Rechte der Schwächsten einzufordern, derer, für die keine andere Institution eintritt." Ganz anders die Regierung: Sie nutzte das Verbrechen für ihr Image. Das darin besteht, gegen Verbrecher besonders hart durchzugreifen. Justizminister Zbigniew Ziobro bezeichnete den mutmaßlichen Täter als "Bestie". Und bekannte sich als Anhänger der Todesstrafe bei solch schweren Verbrechen. Aber als EU-Mitglied könne Polen diese Strafe nicht einführen, bedauerte er. Ziobro lobte sich dafür, dass der Sejm auf seine Initiative hin das Strafrecht erst vor kurzem wesentlich verschärft hat. Es sieht jetzt eine lebenslange Freiheitsstrafe vor, ohne Chance auf Entlassung. Auch das hatte der Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar scharf kritisiert.
Von Florian Kellermann
Ein Mord beschäftigt seit einer Woche Polens Medien. Diskutiert wird aber nicht nur die Tat: Als demütigend kritisierte der Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar die Art der Festnahme des geständigen Täters – und geriet so ins Visier des regierungsnahen öffentlichen Fernsehens.
"2019-06-22T07:17:00+02:00"
"2020-01-26T22:58:34.390000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-schlammschlacht-gegen-buergerrechtsbeauftragten-100.html
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