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Rätsel der Kernphysik auf der Spur
Die Grafik zeigt einmal das reine Wasserstoff-Isotop und einmal Deuterium, also schweren Wasserstoff (Wissen Media Verlag / dpa picture alliance) Wie misst man die Größe eines Protons, eines Wasserstoffkerns? Das ist alles andere als einfach. Deshalb hat sich ein Forscherteam um Aldo Antognini vom Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz vor einigen Jahren ein raffiniertes Verfahren einfallen lassen - eine Methode, basierend auf einer höchst exotischen Sorte von Wasserstoff: "Normaler Wasserstoff besteht aus einem Elektron, das um ein Proton herumschwirrt. Wir haben das Elektron durch ein anderes Teilchen ersetzt, ein sogenanntes Myon. Das benimmt sich eigentlich genauso wie ein Elektron, ist aber rund 200 Mal schwerer. Deshalb umkreist es das Proton deutlich enger - und kann dadurch dessen Ausdehnung förmlich spüren." Allerdings ist die Herstellung dieser exotischen Atome kompliziert: Die Myonen müssen künstlich erzeugt werden, durch einen Spezialbeschleuniger am Paul-Scherrer-Institut. Diese Myonen lenken die Forscher auf Wasserstoff. Ab und zu dann schnappt sich eines der Protonen im Wasserstoff ein Myon und bildet mit ihm ein Atom. Unterschiedliche Messverfahren liefern widersprüchliche Ergebnisse zur Größe des Protons Das Problem: Myonen leben kaum länger als eine Mikrosekunde, dann zerfallen sie. Doch diese Mikrosekunde genügt, um das Exotenatom mit Lasern zu untersuchen und auszumessen. Das Resultat präsentierten die Experten vor einigen Jahren - und sorgten damit für eine Überraschung: "Unser Wert ist deutlich genauer als die Ergebnisse von anderen Messverfahren - aber er widerspricht diesen Ergebnissen. Irgendwo gibt es also ein Problem." Demnach misst der Radius des Protons nur noch 0,84 Femtometer, billionstel Millimeter. Das ist vier Prozent kleiner als das, was alte Verfahren gemessen hatten. Seitdem spricht die Fachwelt von einem Rätsel - dem Protonenradius-Rätsel. Doch ist der Messwert aus der Schweiz korrekt, hatten die Forscher womöglich Fehler gemacht? Um das zu prüfen, initiierten Antognini und seine Leute eine Nagelprobe - und wandten ihre Methode auf eine andere Wasserstoffsorte an, auf Deuterium, also schweren Wasserstoff: "Deuterium besitzt einen größeren Atomkern als Wasserstoff. Neben dem Proton enthält er ein Neutron. Indem wir die Größe des Deuteriumkerns gemessen haben, konnten wir prüfen, was es mit dem Rätsel um den Protonenradius auf sich hat." Auch der Deuteriumkern ist kleiner als erwartet Das Resultat überraschte das Forscherteam nicht wirklich: "Unser Wert für die Größe des Deuteriumkerns ist ebenfalls kleiner als erwartet. Und kombiniert mit einer anderen Messung konnten wir auch auf den Durchmesser des Protons schließen. Und diese Kombination hat unseren kleinen Wert bestätigt." Was die Physiker höchst zuversichtlich stimmt, dass ihr Wert korrekt ist und nicht das Ergebnis eines anderen Verfahrens, bei dem man gewöhnlichen Wasserstoff mit Präzisionslasern beleuchtet, um daraus den Protonenradius zu ermitteln. Von den Vertretern dieser Methode soll es bald neue Ergebnisse geben, auf die die Fachwelt gespannt wartet. Sind bislang unbekannte Elementarteilchen Ursache der kleineren Messergebnisse? Manche Theoretiker jedenfalls spekulieren schon munter drauflos, was hinter dem geschrumpften Proton stecken könnte. Eine der Theorien: Es sind neue, bislang unbekannte Elementarteilchen, die in die Messungen hineinfunken und das Proton sozusagen kleiner erscheinen lassen. Experimentalphysiker Antognini hält sich zurück: "Man könnte das zwar durchaus mit neuer Physik erklären, etwa mit der Existenz eines neuen Teilchens. Aber da müssen wir vorsichtig sein: Dieses neue Teilchen müsste sich dann auch in ganz anderen Experimenten bemerkbar machen, und dafür gibt es im Moment noch keine Anzeichen." Antognini und seine Kollegen jedenfalls wollen fleißig weitermessen. Bei ihnen steht nun ein weiterer Sonderling auf der Agenda - eine exotische Form von Helium.
Von Frank Grotelüschen
Protonen korrekt zu vermessen, also die Kerne von Wasserstoffatomen, ist alles andere als einfach. Vor einigen Jahren sorgte eine Messung für Aufsehen, die den Radius des Teilchens um vier Prozent kleiner auswies als bislang ermittelt. Manche Theoretiker spekulieren nun, ob bislang unbekannte Elementarteilchen Protonen plötzlich kleiner erscheinen lassen.
"2016-08-12T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:04.437000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschrumpftes-deuterium-raetsel-der-kernphysik-auf-der-spur-100.html
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Menschenrechte egal?
Der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew während der Wahl. (dpa / picture alliance / Alexey Kudenko) Nico Hülkenberg kann das Rennen in Aserbaidschan kaum erwarten. In einem Werbevideo für die Formel 1 schwärmt der deutsche Fahrer von der neuen Strecke in Baku: "Jeder spricht von dem Abschnitt durch die Altstadt von Baku, wo es richtig eng wird. Das hört sich ziemlich cool an!" Coole Strecken. Darüber redet die Formel 1 gerne. Zu einem anderen Thema schweigt man lieber – dazu, dass sich in Aserbaidschan Regierungskritiker vor Gefängnis fürchten. So wie Leyla Yunus. Die prominente Bürgerrechtlerin saß bis Ende letzten Jahres in Haft und fordert im Gespräch mit der ARD-Radio-Recherche Sport die Fahrer auf, Zeichen zu setzen: "Ihr könnt uns helfen! Macht Fotos von unseren politischen Gefangenen auf Euro Autos. Denn: Ihr seid aus Deutschland, Italien, Spanien! Euch kann unsere Polizei nicht schlagen, nicht einsperren. Macht die Fotos drauf – und ihr seid echte Helden!" Keine Stellungnahme von Formel-1-Fahrern Ein Appell, zu dem der ARD keiner der vier deutschen Fahrer Nico Hülkenberg, Nico Rosberg, Sebastian Vettel und Pascal Wehrlein vor der Rennpremiere in Aserbaidschan ein ausführliches Interview geben wollte – genauso wenig wie Organisatoren der Formel 1. Enttäuschend, findet die Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek, Vize-Präsidentin des Europaparlamentes: "Ich verlange von Sportorganisationen, die dort tätig sind, dass sie Menschenrechte auch ansprechen in Gesprächen mit den Regierenden dort und auch öffentlich dazu Stellung nehmen und Freilassung fordern beziehungsweise eine Verbesserung der Menschenrechtssituation fordern." Präsident Alijew: Vorwürfe sind erfunden Mit ihrer eher gleichgültigen Einstellung acht sich Formel 1 nach Meinung von Menschenrechtsaktivisten zum Handlanger des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew. Der bezeichnet alle Vorwürfe als erfunden und arbeitet erfolgreich daran, immer mehr Sportgroßereignisse in sein Land zu holen. So wie die ersten Europaspiele – das größte Sportereignis des Jahres 2015 mit etwa 6.000 Sportlern. Dass die Europaspiele und die damit verbundene internationale Aufmerksamkeit zu mehr Meinungsfreiheit und politischer Offenheit in Aserbaidschan geführt hätten, sieht Rebecca Vincent von der Initiative "Sport for Rights" nicht. "Es hat zwar ein paar Freilassungen politischer Gefangener gegeben. Aber viele sind noch in Haft und sie machen mit der Verfolgung fast wöchentlich weiter. Ich würde sagen, der Einfluss der Europaspiele und anderer Großereignisse in Aserbaidschan auf die Menschenrechtssituation in dem Land war sogar nachteilig." Welche Konsequenzen zieht der DOSB? Zu der Initiative "Sport for Rights" gehören mehr als 20 Organisationen wie "Human Rights Watch" oder "Reporter ohne Grenzen". Ihre Einschätzung widerspricht dem Deutschen Olympischen Sportbund. Der hatte zu den umstrittenen Europaspielen in Baku etwas mehr als 250 Athleten geschickt – und Kritik daran mit dem Verweis auf die möglichen Verbesserungen Aserbaidschans gekontert. "Wenn das so ist, wie Ihre Interviewpartner gesagt haben, dann ist das natürlich enttäuschend und dann würde ich mir wünschen, dass dieses sportliche Ereignis anders gewirkt hätte auf die politische Situation in Aserbaidschan." Sagt DOSB-Vorstandchef Michael Vesper heute, ein Jahr nach den ersten Europaspielen. Mal gucken, welche Konsequenz der Deutsche Olympische Sportbund daraus für die nächsten Europaspiele im Jahr 2019 zieht. Als bisher einziger Interessent für deren Ausrichtung gilt Sotschi in Russland. Auch nicht gerade eine Wiege der Menschenrechte. Für die Formel 1 ist das egal. Sie ist im russischen Sotschi längst Stammgast.
Von Bastian Rudde
An der Formel 1 kommt massive Kritik von Menschenrechts-Aktivisten auf. Es geht um das Rennen an diesem Wochenende im autoritär regierten Aserbaidschan. Dort startet die Formel zum ersten Mal und lässt dort den "Großen Preis von Europa" ausfahren.
"2016-06-19T19:45:00+02:00"
"2020-01-29T18:36:24.096000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/formel-1-menschenrechte-egal-100.html
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Rausch durch Badesalz und Raumduft
Gefährlich sind die sogenannten Legal Highs, weil sie Wirkungen haben können, die die Konsumenten weder suchen noch erwarten. (picture alliance / dpa / Pauline Willrodt) "Für jedermann ideal geeignet. Das Badesalz wird einfach geraucht und dann geht es auch schon ab." Mit solchen Sprüchen werben die Anbieter von Legal Highs im Internet für ihre Produkte. Es geht um den Kick, es geht ums Chillen, es geht um Rausch. "Das Aroma von Space ist kaum in Worte zu fassen. Kaufen lautet daher die Devise, damit auch Ihr endlich mal so richtig ausspannen könnt." Angeblich sind es Kräutermischungen, Reiniger, sogenannte Research Chemicals, Badesalze oder Raumdüfte, die so angepriesen werden. Völlig legal, wie die Anbieter versprechen, und sie sichern sich zumindest insofern ab, als sie auf die Packungen schreiben, der Inhalt sei "nicht für den menschlichen Verzehr" geeignet. Doch in Wahrheit geht es hier nicht um Badesalz und Raumduft, sondern um psychoaktive Substanzen aus dem Chemie-Labor, sogenannte Legal Highs. Sie werden geschluckt, geschnieft, geraucht oder gespritzt. Die Wirkstoffe, die in den Produkten stecken, sind Laien meist unbekannt:JWH-019 beispielsweise oder Pyrazolam. Diese sogenannten Legal Highs werden auch im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung eine Rolle spielen, den die Drogenbeauftragte Marlene Mortler am kommenden Donnerstag vorlegt. Denn die neuen psychoaktiven Substanzen sind nicht immer so legal wie ihr Name suggeriert und schon gar nicht ungefährlich. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU). (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka) So berichtet beispielsweise ein Mann in einem Internetforum, wie er sich nach nur drei Zigarettenzügen mit einer Legal-High-Räuchermischung gefühlt habe: sein ganzer Körper kribbelte, schreibt er, dann brach kalter Schweiß aus und alle seine Muskeln wurden schwach. " ... alles kam mir endlos vor. Ich hatte Todesangst" "Sprechen, geschweige denn bewegen, war mir nicht mehr möglich. Ich konnte nur mit großer Mühe den mir im Mund zusammengelaufenen Speichel schlucken, um nicht das ganze Bett damit zu benetzen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, alles kam mir endlos vor. Ich hatte Todesangst". "Legal High" lässt sich frei übersetzen als "legaler Rausch". Der Begriff fasst neue psychoaktive Substanzen zusammen, die ähnlich wirken können wie etwa Kokain oder Marihuana, aber bislang nicht durch das Betäubungsmittelgesetz verboten sind. Wer diese Stoffe konsumiert, hofft auf eine aufputschende, beruhigende oder halluzinogene Wirkung. Das erste "Legal High", das öffentliche Aufmerksamkeit erregte, war "Spice", ein Mittel, das ähnlich wirkt wie Cannabis und 2008 auf dem Markt großen Zuspruch fand. Der Freiburger Rechtsmediziner Volker Auwärter hat das Rauschmittel damals mit Kollegen im Selbstversuch ausprobiert: "Spice" ist inzwischen verboten (AP) "Die Augen waren also total rot, der Puls hat sich verdoppelt, der Mund war trocken, dass man kaum noch sprechen konnte und man fühlte sich etwas verwirrt und unkonzentriert für den restlichen Tag. Im Vergleich mit dem, was heute auf dem Markt ist, war da sehr wenig Wirkstoff drin und wir haben natürlich nur eine kleine Menge konsumiert, vorsichtig wie wir sind. Der Effekt war schon ziemlich drastisch, wir waren so beeindruckt, dass wir zwei Wochen später den Stoff auch identifiziert hatten, weil danach war wirklich klar, dass damit was nicht stimmen kann, mit diesen Produkten, dass da mehr drin sein muss als eine Mischung von ein paar harmlosen Kräutern." "Spice" ist inzwischen verboten. Die wichtigsten Wirkstoffe darin wurden dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt, wie mittlerweile auch einige andere Legal-High-Substanzen sind inzwischen illegal. Vor wenigen Tagen erst stimmte der Bundesrat zu, neun weitere Legal-High-Stoffe zu verbieten. Doch die Anbieter bringen immer neue und zum Teil gefährlichere Produkte auf den Markt. Fachleute sprechen von einem Hase-und-Igel-Spiel. Wie viele Menschen in Deutschland Legal-Highs konsumieren und wer das ist, darüber gibt es kaum fundierte Erkenntnisse. Das Drogenforschungszentrum an der Universität in Frankfurt am Main hat herausgefunden, dass es vor allem Männer sind, die Legal Highs nutzen, die meisten Anfang oder Mitte zwanzig. Auch der Pharmazeut und Toxikologe Tibor Harrach befasst sich seit Jahren mit dem Thema, er ist Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Drogen der Berliner Bündnisgrünen. Er charakterisiert die Konsumenten so: "Es gibt einmal so Experimentierer, die relativ reflektiert und informiert konsumieren, und eben Interesse an neuen Wirkungen von neuen Substanzen haben. Dann gibt es aber auch einen großen Konsumentenkreis, der Legal Highs bestellt, weil die traditionellen Drogen wie zum Beispiel Cannabis oder Ecstasy oder Amphetamine – also Speed – illegal sind, das heißt der Umgang damit ist kriminalisiert und darum kauft man dann lieber legale Alternativen." Manche Nutzer nehmen Legal Highs, weil die illegalen Drogen, die sie eigentlich bevorzugen würden, gerade nicht verfügbar sind oder sie diese in einem Suchthilfeprogramm nicht nehmen dürfen. Einige Konsumenten erhoffen sich auch bessere Chancen als bei klassischen Drogen, ihren Führerschein zu behalten, wenn sie berauscht in eine Polizeikontrolle geraten. Eine richtige Dosierung ist fast nicht möglich Gefährlich sind die sogenannten "Legal Highs", weil sie Wirkungen haben können, die die Konsumenten weder suchen noch erwarten, die sie selbst kurz- oder auch langfristig schädigen können und die sogar für Dritte gefährlich werden können, wenn die Stoffe zu Wahnvorstellungen und Aggressivität führen. Zu den häufig beobachteten Nebenwirkungen gehören Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzrasen, Muskelkrämpfe, Angstzustände, Bewusstlosigkeit und Abhängigkeit. Weder könnten die Konsumenten wissen, was sie da wirklich einnehmen, noch richtig dosieren, erklärt der forensische Toxikologe Volker Auwärter. "Also im Grunde genommen ist es Russisches Roulette, weil man nicht weiß, was man bekommt. Und viele Produkte verzichten ja auch völlig auf eine Deklaration der Wirkstoffe, und wenn man sich das dann zuführt, dann geht man ein sehr hohes gesundheitliches Risiko ein." Im vergangenen Jahr starben 25 Menschen durch Legal Highs Dazu kommt, dass die Wirkung viel länger andauern kann als erwartet, statt weniger Stunden beispielsweise tagelang. Immer wieder kommen Menschen durch Legal Highs auch zu Tode. Erst im April warnte der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, die Zahl der Opfer habe sich verfünffacht. Konkret heißt das: 25 Menschen sind laut BKA im vergangenen Jahr in Deutschland durch Legal Highs gestorben. Das ist verglichen mit den rund 1.000 Drogentoten pro Jahr zwar wenig, doch der rapide Anstieg hat auch die Polizei und die Drogenbeauftragte alarmiert. Ein Faktor dabei: Legal Highs sind preiswert zu haben, einzelne Portionen gibt es schon für ein paar Euro zu kaufen. Der Handel läuft im Wesentlichen über das Internet, die Anbieter sitzen meist im Ausland, die Ware kommt per Post. Das kann die Käufer nicht nur gesundheitlich in die Bredouille bringen. Das Zollamt in Berlin-Schöneberg. Wer als Berliner per Internet ein Legal-High-Produkt aus einem außereuropäischen Land bestellt hat, muss womöglich hier vorstellig werden. Nämlich dann, wenn die Post die Sendung wegen formeller Mängel wie zum Beispiel fehlender Inhaltsangaben an den Zoll weitergeleitet hat, wie Frank Reinicke, der Leiter des Zollamtes, erklärt. Der Postempfänger muss dann beim Zollamt erscheinen und detaillierte Fragen zum Inhalt der Sendung beantworten. Etwa inwieweit das bestellte Legal High auch wirklich legal ist. "Das ist sowieso ein Problem im Postverkehr, weil der Empfänger der Ware sich immer rausreden könnte in Anführungsstrichen 'Na ich wusste gar nicht, dass das drin ist'. Aber da hat natürlich der Gesetzgeber einen Riegel vorgeschoben, indem im Zollkodex eindeutig drinsteht, dass der, der hier die Anmeldung abgibt, der Zollschuldner ist, damit auch verantwortlich ist für den Inhalt der Sendung, bedeutet, er muss wissen, was drin ist, bedeutet: Warenzusammensetzung, Wert der Ware, welche Substanzen sind da drin!?" Das ist bei Legal Highs - so wie sie vermarktet werden - üblicherweise nicht möglich, weil die Inhaltsstoffe nicht deklariert werden. In solchen Fällen können die Zollbeamten chemische Labors einschalten. "Bei der Zollabfertigung reichen Vermutungstatbestände aus, der Beamte hat also die Vermutung, hier könnten verbotene Substanzen drin sein, auch wenn es legal heißt, schließt es chemische Zusammensetzung, Inhaltsstoffe, die verboten sind, nicht aus, und die kann der Beamte ja nicht hier vor Ort analysieren. Das heißt es werden Proben genommen und solange muss sich der Beteiligte damit abfinden, dass er seine Sendung bis zum Untersuchungsergebnis hier in Verwahrung behält." Das kann dauern, erklärt Reinicke, kostet den Empfänger aber erst mal nichts. Schwierig wird es für ihn, wenn das Labor tatsächlich Substanzen findet, die mittlerweile dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wurden. "Dann wird ein normales Strafverfahren eingeleitet wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, wenn da Stoffe jetzt gefunden werden, die in den Anlagen 1,2,3 des Betäubungsmittelgesetzes aufgeführt sind dann läuft ein ganz normaler Strafprozess." Legal Highs dürfen nicht als Arzneimittel eingestuft werden Was aber tun, wenn die Substanzen nicht verboten sind, wenn sie also nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen? Bis vor Kurzem halfen sich die deutschen Behörden mit dem Arzneimittelgesetz, das ebenfalls strenge Regeln für den Handel und Verkauf bestimmter Substanzen vorsieht. Legal Highs wurden also als Arzneimittel gewertet. Doch diese Praxis hat der Europäische Gerichtshof im Juli 2014 beendet. Die Luxemburger Richter stellten klar: Die sogenannten Legal Highs dürfen nicht als Arzneimittel eingestuft werden. Denn dafür müssten sie geeignet sein, der Gesundheit zuträglich zu sein. Das sei bei den Kräutermischungen, um die es bei dem Verfahren ging, jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Hier gehe es darum, mit gesundheitsschädlichen Substanzen einen Rausch hervorzurufen, urteilten Europas ranghöchste Juristen. Abgesehen von den wenigen Wirkstoffen, die inzwischen dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wurden, klafft im Umgang mit den Legal Highs nun also eine Regulierungslücke. Diese Lücke will Marlene Mortler schließen. Die CSU-Politikerin ist seit Januar 2014 Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Sie hat die Legal Highs früh auf ihre Agenda gesetzt: "Weil diese Legal Highs weder national noch international geregelt sind, weil sie gesundheitsschädigend sind, weil sie sogar in hohem Maße unsere Gesundheit schädigen können und bei der Vorstellung der Drogentodeszahlen musste ich leider gerade in diesem Bereich einen massiven Anstieg der Drogentodeszahl bekannt geben." Das sind die 25 Fälle, die Mortler im April gemeinsam mit dem BKA-Chef bilanziert hat. Bereits im November vergangenen Jahres hatte die CSU-Politikerin ein Verbot von Legal Highs angekündigt. Jetzt, im Mai 2015, liegt allerdings noch immer kein Gesetzentwurf dazu vor. "Wir betreten Neuland, wir wollen ein Gesetz auf den Weg bringen, das absolut rechtssicher ist, deshalb ist es kompliziert, es muss der Verfassung gerecht sein, der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit. Und in dem Fall gilt Sorgfalt vor Schnelligkeit, aber weil mich das Thema persönlich so bewegt, bin ich im Hause hinterher, dass wir endlich zu einer Lösung kommen." Die Drogenbeauftragte plant ein Stoffgruppenverbot. Nicht mehr einzelne Wirkstoffe, sondern ganze Wirkstoffgruppen sollen untersagt werden. Ein Ansatz, der sowohl Chemiker als auch Juristen vor große Herausforderungen stellt. Zum einen, weil eine solche Sortierung per se schwierig ist, zum anderen, weil die industrielle beziehungsweise pharmazeutische Nutzung solcher Substanzen weiterhin möglich sein soll. Mortler: "Wir versuchen, möglichst ähnliche Substanzen unter eine Stoffgruppe zu stellen. Unter Stoffgruppen verstehen wir verschiedene chemische Substanzen, die ähnlich zu bewerten sind und diejenigen, die am besten zusammen passen von den Inhaltsstoffen, die Fallen unter eine Stoffgruppe. Und die Frage 'Wie viele Stoffgruppen?' kann ich im Moment nicht beantworten, aber sie sind sich relativ ähnlich. Aber die Krux des Ganzen ist ja im Moment, dass mit einer kleinen Änderung eine einzelne Chemikalie, ein einzelner Stoff wieder eine neue Substanz darstellt und gerade das Spiel wollen wir beenden." Schwierig dürfte wohl auch sein, dass sich Mortler sowohl mit dem CDU-geführten Gesundheitsministerium als auch mit dem sozialdemokratischen Justizminister abstimmen muss. Dennoch gibt sich die CSU-Politikerin zuversichtlich. "Ich will nichts versprechen, ich will das Haus nicht noch weiter unter Druck setzen, aber ich versichere Ihnen, alle geben ihr Bestes. In diesem Sinne denke ich, dass wir spätestens im zweiten Halbjahr Entwarnung geben können." Und damit meint Mortler: einen Gesetzentwurf vorlegen. Die Bündnisgrünen halten diese Ankündigung für zu optimistisch. Ein Stoffgruppenverbot sei schon in der Vergangenheit an verfassungsrechtlichen Bedenken gescheitert, heißt es bei der Oppositionspartei. Tatsächlich hatte sich auch Mortlers Amtsvorgängerin Mechthild Dyckmans schon einmal vergeblich um ein Stoffgruppenverbot zu Legal Highs bemüht. Die Grünen bewerten die Legal Highs ohnehin weniger problematisch: Zu den meisten Substanzen gebe es kaum wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse. Regulierungen sollten sich jedoch an der Gefährlichkeit von Substanzen orientieren, sagt Harald Terpe, drogenpolitischer Sprecher der Grünenfraktion im Bundestag. Verbote fördern aus seiner Sicht nur das Schwarzmarktgeschäft. Etwas anders sieht es der drogenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Frank Tempel. Er hält die Legal Highs durchaus für gefährlich. "Legal Highs sind für den Konsumenten unberechenbar. Also wir haben unklare Zusammensetzungen, Wirkstoffe, die überhaupt nicht erforscht sind. Der Konsument weiß eigentlich gar nicht, was er konsumiert, sondern nur, welche Wirkung es haben soll. Nebenwirkungen - hat er in der Regel keine Ahnung davon, sodass wir es hier mit einem sehr problematischen Stoffbereich zu tun haben, der für den Konsumenten selbst mit einem großen Risiko behaftet ist." Allerdings zieht der Kriminalpolizist aus dieser Einschätzung gänzlich andere Schlüsse als die Bundesregierung. Er sieht keine Regulierungslücke, sondern eine Überregulierung. Sein Argument: Legal Highs seien nur deshalb so beliebt, weil andere Drogen wie Cannabis verboten sind. "Konsumenten suchen nicht den möglichst gefährlichsten Stoff, den sie konsumieren können, sondern die suchen ein bestimmtes Rauschverhalten, eine bestimmte Rauschbefriedigung. Diese Legal Highs sollen Sachen ersetzen, die verboten sind. Cannabis ist da ein wichtiger Teil, also von 1.500 Produkten, die wir bei den Legal Highs haben, sind zwei Drittel alleine im Bereich Cannabis-Ersatz angesiedelt." Verbote hätten in diesem Bereich keine Chance, weil sie nur die Kreativität der Anbieter befeuerten, neue Produkte anzubieten, die noch nicht dem Strafrecht unterstehen. Frank Tempel setzt eher auf eine streng kontrollierte Freigabe von Cannabis, Kokain und ähnlichen Drogen. Im Jahr 2014 wurden in der EU 100 neue Legal-High-Substanzen registriert Nicht nur in Deutschland ringt die Politik darum, den Verkauf und Konsum der neuen psychoaktiven Substanzen zu regeln. Auch auf EU-Ebene suchen Experten und Politiker nach Lösungen. In allen Ländern der Europäischen Union finden Legal Highs ihre Kunden, vor allem in den baltischen Staaten, in Irland, Polen und Großbritannien, so die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht. Sicher ist auch: Der Markt wächst stetig. Allein 2014 wurden in der Union 100 neue Stoffe registriert, die zusätzlich in der Angebotspalette der Legal-High-Substanzen auftauchten. 2013 hatte die damalige EU-Justizkommissarin Viviane Reding ein Modell zur Regulierung von Legal Highs vorgeschlagen: Demnach sollen neue Substanzen zunächst kurzfristig für ein Jahr für den Verbrauchermarkt verboten werden können, die industrielle Nutzung würde solange aber weiter möglich sein. Je nach Wirkung und Gefährlichkeit der jeweiligen Substanz soll sie dann in ein dreistufiges System einsortiert werden. Bei "geringem Risiko" als erlaubt, bei "gemäßigtem Risiko" mit beschränkter Freigabe und bei "schwerwiegenden Risiken" mit bleibendem Vermarktungsverbot und strafrechtlicher Sanktion. Die deutsche Drogenbeauftragte Marlene Mortler ist von diesem Ansatz allerdings nicht überzeugt: "Weil diese unterschiedliche Bewertung, die die EU vornehmen will, ja auch eine unterschiedliche Bestrafung nach sich zieht. Und wir sagen: Wir müssen konsequent – egal wie die einzelne Substanz bewertet wird – ein komplettes und umfassendes Verbot auf den Weg bringen, unabhängig davon, welche Auswirkungen diese Substanz hat. Denn bekannt ist: Alle diese Substanzen sind gesundheitsschädigend und insofern ist das für mich der zielführende Ansatz." Die Regulierungsvorschläge von Reding durchlaufen derzeit die zustimmungspflichtigen Instanzen der EU; ob und wann diese Regelung in Kraft tritt, ist daher noch offen. Während also national und international um juristische Lösungen gerungen wird, versuchen Experten vor allem über das Internet, die Verbraucher über Legal Highs aufzuklären. Die Leipziger Drogenberatungsstelle drugscouts veröffentlichte erst kürzlich auf ihrer Internetseite eine "Allgemeine Warnung vor Räuchermischungen": "In letzter Zeit erreichen uns vermehrt Erfahrungsberichte und Anfragen zum Thema Räuchermischungen. Die beschriebenen Nebenwirkungen und Entzugserscheinungen des Konsums nehmen teilweise ziemlich heftige Ausmaße an. Also passt beim Konsum von Räuchermischungen bitte besonders auf!" Und die Internet-Seite "Legal-High-Inhaltsstoffe.de" informiert umfangreich über Substanzen und Produkte auf dem Markt sowie mögliche Risiken. Ihr Fazit: "Grundsätzlich ist der Gebrauch von Legal Highs nicht ohne Gefahren".
Von Daniela Siebert
Sie werden als Kräutermischungen, Badsalze oder auch Reiniger angeboten. Doch in Wahrheit handelt es sich bei sogenannten Legal Highs um psychoaktive Substanzen, die geraucht, geschnieft oder geschluckt werden. Zwar sind sie nicht wie Ecstasy oder LSD durch das Betäubungsmittelgesetz verboten, dennoch können die Stoffe einem Menschenleben schnell ein Ende setzen.
"2015-05-17T18:40:00+02:00"
"2020-01-30T12:37:13.911000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/legal-highs-die-unterschaetzte-gefahr-rausch-durch-badesalz-100.html
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Wie funktioniert Crowd-Investment?
Wie funktioniert diese spezielle Art von Unternehmensfinanzierung durch private Kleinanleger? (imago stock&people / PPE) Für ambitionierte Anleger, die mit ihrem Investment gezielt nachhaltige Unternehmungen wie Solarparks oder Hightech-Start-ups fördern wollen, für die bieten Crowd-Investment-Plattformen eine stetig wachsende Auswahl an Anlageprodukten. Dort können Geldgeber per Mausklick selbst kleine Beträge in zwei- oder dreistelliger Höhe investieren. Wie funktioniert diese spezielle Art von Unternehmensfinanzierung durch private Kleinanleger? Für wen lohnt sich der Einstieg? Ist das Geld damit wirklich gezielt in nachhaltige und ethisch einwandfreie Ideen investiert? Und schließlich: Wie teuer kommt einem eine solche Geldanlage, wo verbergen sich Risiken, lassen sich diese vorher abschätzen? Antworten geben Branchenvertreterinnen und Branchenvertreter sowie Finanz- und Verbraucherexperten. Hörerfragen sind wie immer willkommen.Die Nummer für das Hörertelefon: 00 800 – 44 64 44 64Und die E-Mail-Adresse: marktplatz@deutschlandfunk.de Studiogäste: Wolf Brandes, Verbraucherzentrale Hessen, Frankfurt/Main Peter Mattil, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Kanzlei Mattil & Kollegen, München Karsten Wenzlaff, Bundesverband Crowdfunding, Berlin
Am Mikrofon: Manfred Kloiber
Geld anlegen ist mitunter schwer - nicht nur wegen der schon lange anhaltenden Niedrigzinsphase, sondern auch wegen der unüberschaubaren Menge an Anlageprodukten. Noch schwieriger wird es für jene, die ihr Erspartes in ganz bestimmte Projekte stecken wollen.
"2019-06-27T10:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:52:05.857000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geldanlagen-wie-funktioniert-crowd-investment-100.html
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Die Unsicherheit in Mali wächst
Mali wird zunehmend unsicherer - laut den Vereinten Nationen wurden allein im vergangenen Jahr mindestens 500 Menschen bei Massakern und anderen Menschenrechtsverletzungen getötet. Im Bild: Gedenkfeier für Opfer des Massakers von Ogossagou, 26.03.2019 (imago images / Le Pictorium) Binta Barry schüttet Reis in eine Aluschüssel, wäscht ihn gründlich. Die 29-jährige Malierin campiert seit dem 23. März auf dem Gelände des Krankenhauses in Sevaré, einer Stadt im Zentrum von Mali. Sie hat ein Massaker in ihrem Heimatdorf Ogossagou überlebt, bei dem fast 160 Menschen getötet wurden. Ihre zwölfjährige Tochter Fatmata wurde von einer Kugel im Arm getroffen und wird seitdem hier behandelt. "Diese Leute sind einfach ins Dorf gekommen und haben angefangen, Menschen zu töten." Die Angreifer seien Dogon gewesen, meint Binta Barry, also Angehörige einer Ethnie von Bauern. Binta Barry und die übrigen Dorfbewohner sind Fulani, ein Hirtenvolk. Seit 2015 kommt es immer wieder zu blutigen Konflikten zwischen Angehörigen dieser beider Volksgruppen. Das Massaker von Ogossagou im März erreichte die Nachrichtenmaschinerie Europas, alarmierte auch den Weltsicherheitsrat. Ravina Shamdasani ist Sprecherin des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Sicherheitslage deutlich veschlechtert "Diese Menschen werden gezielt angegriffen, Frauen, Männer und Kinder, einfach weil sie zum Volk der Fulani gehören." Milizen der Dogon werfen den Fulani vor, islamistische Gruppen zu unterstützen, die im Norden und seit 2015 auch im Zentrum Malis operieren. Die Gewalt in dem westafrikanischen Land eskaliert trotz der Präsenz tausender internationaler Soldaten. Die Vereinten Nationen haben schon 2013 die Blauhelmmission Minusma entsandt, mit inzwischen 13.000 Soldaten. Die Bundeswehr beteiligt sich mit bis zu 1.100 Soldaten an der Mission. Außerdem kämpfen rund 1.000 französische Soldaten in einer eigenen Militäroperation gegen islamistische Terrorgruppen. Trotzdem hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Seit 2015 entwickeln die Konflikte im Zentrum einen immer stärkeren ethnischen Charakter. Binta Barry lag in ihrer Hütte in Ogossagou und schlief, als sie plötzlich Schüsse hörte und aus dem Fenster sah. Noch immer kann sie kaum über die Ereignisse reden, ihre Verwandte Mariam springt ein, macht aus Bintas hingeworfenen Worten verständliche Sätze. "Sie war vor Angst wie gelähmt. Alle anderen flohen, aber sie konnte nicht weglaufen. Die Angreifer zogen die Leute aus ihren Hütten, zündeten die Hütten an, bis man auch bei ihr war und sie aus der Hütte zog. Aber man hat sie nicht getötet." "Es war der Wille Gottes" Etliche Hütten wurden mitsamt ihren Bewohnern in Brand gesetzt. Bintas Tochter Fatmata wurde auf der Flucht von hinten angeschossen. Mariam Barry, die nun übersetzt, war in der Nacht des Massakers nicht im Dorf, aber ihr einziger, fünf Jahre alter Sohn wurde getötet. Genauso wie ihre jüngere Schwester. Ihre Großmutter und ihre Schwiegermutter liegen noch immer mit schwersten Verbrennungen im Krankenhaus. "Als meine Großmutter eingeliefert wurde, konnte sie nicht sprechen. Es hat drei Tage gedauert, bis sie reden konnte. Ihr Zustand hat mich so schockiert, dass ich sogar geheult habe. Aber ich habe jetzt trotzdem keine Vorbehalte gegen irgendwen. Es war der Wille Gottes, gegen Gott können wir nicht kämpfen." Fulani gegen Dogon: Seit 2015 entwickeln die Konflikte im Zentrum Malis einen immer stärkeren ethnischen Charakter. Im Bild: Markttag im Dorf Dogon in Mali (picture alliance / dpa / Maxppp) Der Krankenpfleger Doucouré Oumar kramt in einem Pappkarton, der neben dem Bett von Mariams Schwiegermutter steht, darin liegen ein paar frische Verbände und ein Zettel – die Patientenakte. Er habe, sagt der 25-Jährige, zum ersten Mal so viele schwer verletzte Opfer ethnischer Konflikte gesehen. "Das war unmenschlich. Schockierend! Sehr schockierend." Doucouré Oumar ist Soninké, sein Volk ist bei den jetzigen Konflikten außen vor. Aber das Massaker von Ogossagou hat für ihn und etliche andere Malier vieles verändert. "Das hat mir Angst gemacht. Allen in meiner Familie geht das so. Nachts traut sich niemand mehr raus. Dabei wohnen wir in Sevaré, aber sogar hier in der Stadt haben die Leute jetzt Angst, auf die Straße zu gehen." Ohne offizielle Erklärung - Regierung tritt zurück Am Freitag, dem 5. April, gehen im Zentrum Bamakos Tausende auf die Straße, protestieren gegen die Unsicherheit und die Gewalt im Zentrum des Landes – wie schon oft in den vergangenen Wochen. Sie fordern den Rücktritt des Premierministers und etlicher seiner Minister, außerdem den Abzug der ausländischen Truppen. Organisiert hat die Demonstration der Hohe Islamische Rat von Mali. Das einflussreiche, höchste religiöse Gremium des Landes kündigt weitere Proteste für jeden Freitag an – bis die Regierung zurückgetreten ist. Keine zwei Wochen später, am 18. April, geben der Premierminister und sein gesamtes Kabinett ihre Ämter ab, ohne eine offizielle Erklärung. Philipp Goldberg leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako. "Ich denke, in Anführungsstrichen war das schon eine kleinere Sternstunde der malischen Demokratie, weil sie jetzt erstmalig dazu führte, dass auch Mitglieder der Präsidentenpartei das Vertrauen der Regierung entzogen haben, und das gab’s vorher so nicht." Neuer Regierungschef ist seither Boubou Cissé. Der Ökonom, der einige Jahre lang für die Weltbank arbeitete, gehörte seit 2013 jeder Regierung an, zuletzt war er Finanzminister. Der Familie des Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta steht er privat nahe. Seine Ernennung löste keine Euphorie aus, er gilt als Vertreter der politischen Klasse. "Dennoch ist er ja nicht Mitglied der Partei des Präsidenten, und hat also durchaus auch eigene politische Ambitionen und Standpunkte immer vertreten." Cissé bildete eine Regierung der nationalen Einheit. Im neuen – vergrößerten – Kabinett sitzen auch Politiker, die als Kritiker des Präsidenten und des bisherigen Kurses aufgefallen sind. "Nichtsdestotrotz muss man natürlich sagen: Die Herausforderungen für diese neue Regierung sind sicherlich nicht kleiner geworden. Die Staatskassen sind immer noch leer. Und es wird jetzt sicherlich auch eine Herausforderung für die Regierung sein, Vertrauen zu schaffen, Vertrauen in die Politik, in die Demokratie, aber auch in die Integrität Malis, in den nationalen Zusammenhalt dieses Landes." Der Staat schützt seine Bürger nicht Laut den Vereinten Nationen wurden im allein im vergangenen Jahr mindestens 500 Menschen bei Massakern und anderen Menschenrechtsverletzungen getötet, die Opfer sind Fulani ebenso wie Dogon. Dem Staat wird vorgeworfen, seine Bürger nicht zu schützen. Überlebende berichten, die Armee sei – wenn überhaupt – trotz frühzeitiger Hilferufe meist erst nach dem Ende der Massaker eingetroffen. Außerdem habe die Regierung eine wichtige Dogon-Miliz überhaupt erst gebildet, statte sie mit Waffen und Fahrzeugen aus. Vorwürfe, die die Regierung bestreitet. Auf die Interviewanfrage des Deutschlandfunks haben innerhalb von drei Wochen weder die beiden zuständigen Ministerien noch der Regierungssprecher positiv reagiert. Zunehmend unter Druck, auch von der eigenen Regierung: Malis Präsident Ibrahim Boubacar Keïta (AFP/Michele CATTANI) Währenddessen scheint sich die Sicherheitslage im Zentrum von Mali von Monat zu Monat zu verschlechtern, vor allem im so genannten Dogonland in der Nähe von Mopti. Guillaume Ngefa leitet die Menschenrechtsabteilung der UN-Mission für Mali. "Fast jeden zweiten Tag finden Angriffe statt. Mal zwei oder drei, mal einer am Tag. Mit Toten oder ohne. Aber selbst wenn die Angreifer unbeteiligte Zivilisten verletzen, ohne sie zu töten, ist das ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte." Wer steckt hinter diesen Angriffen? Diese Frage treibt die Malierinnen und Malier seit Monaten um. Sind es Selbstverteidigungsmilizen beider Volksgruppen? Bewaffnete Islamisten? Kriminelle Gruppen oder ausländische Söldner? Es gibt viele Hypothesen, noch mehr Gerüchte, keine Beweise. "Soldaten kamen erst nach dem Massakker" Auf dem Sofa in einem Wohnzimmer am Rande von Bamako sitzt ein junger Mann, 30 Jahre alt, sprechen will er nur im Schutz der Anonymität. Der junge Mann trägt ein Häkelkäppi und einen kurzen Bart, er gehört zum Volk der Fulani. Für das Interview ist er extra die rund 700 Kilometer aus Ogossagou gekommen, er gehört zur Selbstverteidigungsmiliz des Ortes. Ein Treffen mit einer weißen Reporterin ist in der Hauptstadt unverfänglicher als auf dem Land. Was der junge Fulani von dem Massaker in Ogossagou berichtet, ist verstörend: Die malische Armee und die Jäger der Dogon seien Komplizen. "Ich bin mir dessen so sicher, weil wir mit den Dogon aufgewachsen sind. Wir kennen uns alle, kennen von allen auch die Familien. Und bei dem Angriff auf Ogossagou war ich ja selbst als Kämpfer vor Ort. Wir wurden von anderen Fulani vor dem Angriff gewarnt. Mein älterer Bruder alarmierte daraufhin den Kommandanten der Militärbasis von Bankass. Auch alle staatlichen Stellen, die man informieren konnte, haben wir alarmiert und um Hilfe gebeten. Die Soldaten sind erst gekommen, als das Massaker vorbei war. Während des Gefechts haben wir Leute in Uniformen der malischen Armee gesehen, mit kugelsicheren Westen und modernen Waffen, wie sie auch die malische Armee hat." "Das waren keine Soldaten der malischen Armee, das muss ganz klar gesagt werden", betont Guillaume Ngefa, Leiter der Menschenrechtsabteilung der UN-Mission für Mali. Seine Abteilung hat eine Ermittlungskommission nach Ogossagou geschickt, an der Menschenrechtsexperten, Forensiker und Ballistiker beteiligt waren. "Bei den Ereignissen von Ogossagou waren etwa hundert traditionelle Jäger der Dogon die Täter, begleitet von jungen Männern aus den Dörfern der Nachbarschaft." Mit dabei waren auch Männer in militärischen Uniformen, das bestätigt Ngefa. Aus seiner Sicht ist das jedoch kein Beleg für die Beteiligung der Armee: Uniformen sind überall erhältlich, in der Region sind außerdem etliche Selbstverteidigungsmilizen aktiv, die zum Teil straff militärisch organisiert sind und entsprechende Uniformen tragen. Misstrauen gegen Staat und Armee Angesichts der vielen Toten bezeichnet Ngefa den Angriff als ein mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sei er doch geplant, organisiert und koordiniert gewesen. Wer dahinter steckt, und warum die Armee erst nach dem Ende des Gemetzels eintraf, bleibt trotz der UN-Ermittlungen weiterhin unklar. Das schürt Angst, weitere Gerüchte und das Misstrauen gegen Staat und Armee. Deren Rolle, vor allem ihr Verhältnis zu den Dogon-Milizen, scheint immer wieder problematisch. Im Radio läuft Musik der Fulani, ein lokaler Sender widmet sich besonders der Kultur dieses Volkes. Er gehört zu einer Internationalen Kulturorganisation der Fulani. Im Innenhof von deren Hauptquartier in Bamako sitzen zehn Männer auf Bastmatten, vertreiben sich die Zeit. Sie kommen aus dem Dorf Moniékana im Zentrum von Mali. "Ich heiße Boukary Bila Tamboura. Sie sind in unser Dorf gekommen. Sie haben keine Fragen gestellt, sie haben einfach alle Männer aus den Hütten geholt, haben uns gefesselt, geschlagen und verhaftet – Jäger der Dogon zusammen mit Soldaten. Sie haben uns auf alle erdenkliche Weise misshandelt – ich weiß gar nicht, welche Quälerei sie uns nicht angetan haben." Der 41-Jährige redet ruhig und unaufgeregt. Nach der brutalen Festnahme im Dorf habe das Militär sie über zwei Monate im Gefängnis gehalten. Seit zehn Wochen sind sie frei und in Bamako, unsicher, ob sie in ihr Dorf zurückkehren dürfen. "Bis jetzt hat uns niemand gesagt, was man uns vorgeworfen hat. Aber während sie uns prügelten, haben sie immer wieder gesagt: Ihr seid schlechte Menschen!‘" Gemeint war vermutlich der Vorwurf, die Dorfbewohner seien Sympathisanten oder Mitglieder einer der bewaffneten Gruppen. Auslöser dieser Verdächtigungen ist die Tatsache, dass der radikale Prediger Amadou Koufa, selbst ein Fulani, im Zentrum Malis besonders viele Fulani rekrutierte. Koufas Gruppe Katiba Macina ist mit dem Terrornetzwerk Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen in Mali verbündet. Vier von ihnen haben sich im März 2017 zusammengeschlossen, nennen sich Gruppe zur Unterstützung des Islam und der Muslime. Boukary und die anderen Männer in dem Innenhof betonen, mit den Islamisten nichts zu tun haben, sie sogar ihrerseits zu fürchten. "An dem Tag, als sie uns verhaftet haben, wurden zwei Menschen zu Tode geprügelt. Wir wissen, dass sie durch die Schläge gestorben sind. Sie hatten uns zwar die Augen verbunden, aber wenn derjenige geschlagen wird, der neben dir sitzt, dann hörst du ja die Schreie und die Schläge. Einer ist noch vor Ort gestorben, der andere später im Krankenhaus." Anderen mussten Arme oder Hände amputiert werden, berichtet Boukary, weil sie durch die zu engen Fesseln abgestorben waren. Islamisten werden als Sicherheits-Garanten gesehen In einigen Fällen hat die malische Regierung Übergriffe der Armee gegen die Bevölkerung zugegeben, darunter im Juni vergangenen Jahres außergerichtliche Hinrichtungen mit dutzenden Toten, die in Massengräbern gefunden wurden. "Jeder, der in diesem Land lebt, wurde schon Opfer der Regierung." Eine propagandistische Übertreibung, sie zeigt einen Ausschnitt aus der islamistischen Weltsicht: Derjenige, der diesen Satz sagt, gehört zur Terrorgruppe von Amadou Koufa, der Katiba Macina, die im Zentrum Malis operiert. Ein Mittelsmann hat den Kontakt hergestellt. Der Gesprächspartner gibt nur sein Alter an: Er sei 40. Unter seinem blauen Gewand zeichnet sich ein hagerer Körper ab. In der Terrorgruppe ist er, wie er sagt, für Öffentlichkeitsarbeit und so etwas wie "psychologische Kriegsführung" zuständig: Aus ihren Camps im Busch komme er regelmäßig in die Städte, um zu hören, was über die Islamisten geredet werde, und um neue Anhänger zu gewinnen. Seine ersten Antworten im Gespräch sind Propaganda. Mit der Zeit wird er persönlicher und erzählt schließlich doch, was ihn vor rund drei Jahren zu den Islamisten trieb. "Ich habe mit Zucker, Tee und vielen anderen Dingen gehandelt. Ich bin auf die Wochenmärkte in der Umgebung gefahren. Die Zollbeamten, die Polizisten – alle haben mir ständig Geld abgezwungen. Wenn du Glück hast, fragen sie dich an einem Tag nur ein Mal. Meist kommen sie ständig. Ständig! Vor allem wenn sie sehen, dass du Tee und Zucker dabei hast. Sie behaupten dann, dass das Schmuggelware ist, dass du keinen Zoll bezahlt hast, dass du das schwarz aus Mauretanien eingeführt hast und jetzt Zoll nachzahlen musst. Für alles, auch für Kekse und Speiseöl, verlangen sie Geld. So viel, dass dir am Ende nichts bleibt." Islamisten ziehen immer mehr Malier in ihren Bann Vor rund drei Jahren hätten dann auch Übergriffe der staatlichen Sicherheitskräfte gegen Fulani begonnen. "Einige haben sie verhaftet und getötet. Andere haben sie verhaftet und eingesperrt. Einige haben sie verhaftet und verschwinden lassen. Wir wissen nicht, ob sie noch leben oder tot sind. In meiner Familie wurden mehr als 10 Menschen getötet." Etwa zur selben Zeit habe die Katiba Macina die Kontrolle auch über sein Dorf übernommen. "Sie schlagen im Koran nach, welche Strafe demjenigen für sein Vergehen zusteht. Sie bringen nie jemanden einfach so um." - Kämper der islamistischen Gruppe Ansar Dine nahe Timbuktu. (picture alliance / AP Photo) "Was mich von der Gruppe überzeugt hat, ist das: In meinem Dorf habe ich erlebt, was sie mit denjenigen tun, die etwas Falsches tun. Sie schlagen im Koran nach, welche Strafe demjenigen für sein Vergehen zusteht. Sie bringen nie jemanden einfach so um. Wenn ein Fall sie überfordert, kontaktieren sie einen der Höherstehenden. Was die Regierung macht, hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun." Er aber heißt gut, was nicht zu rechtfertigen ist: Terroranschläge, den Mord an vermeintlichen Feinden des Islam, das Verminen von Straßen und Pisten, Entführungen, drakonische Strafen bei Verstößen gegen die vermeintlichen Regeln des Koran. Doch zieht die islamistische Ideologie immer mehr Malier in ihren Bann. "Das liegt daran, dass die Menschen Fragen, Probleme und Bedürfnisse hatten. Die Möglichkeit, sich in diesen extremistischen Gruppen zu engagieren, erschien ihnen wie eine Art Antwort." Baba Dakono arbeitet für das afrikanische Institut für Sicherheitsstudien ISS, er leitet das Büro in Bamako. "Wir haben die Gründe für ihr Engagement untersucht und sind auf viele verschiedene Faktoren gestoßen. Am häufigsten genannt wird das Bedürfnis nach Schutz. Der religiöse Aspekt ist nicht der bestimmende, er spielt eher eine nachrangige Rolle." Um die Attraktivität der Terrorgruppen zu brechen, heißt das, müsste vor allem der Staat seine ureigenen Pflichten erfüllen: Leben und Besitz schützen, Recht sprechen, Machtmissbrauch verhindern.
Von Bettina Rühl
In Mali sind inzwischen 13.000 UN-Soldaten eingesetzt, doch Sicherheit scheinen sie nicht schaffen zu können: Die Angriffe der Volksgruppen aufeinander nehmen zu – und es ist unklar, welche Rolle die staatliche Armee dabei spielt. Den Islamisten beschert die Situation Zulauf.
"2019-05-28T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:25.436000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ethnische-konflikte-die-unsicherheit-in-mali-waechst-100.html
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Das Schicksal von Oleg Sentsow
Der inhaftierte ukrainische Filmregisseur Oleg Sentsow (picture alliance / dpa / Mikhail Pochuyev/TASS) Während die Weltöffentlichkeit seit gut vier Wochen auf den Fußball starrt, spielt sich in einem Straflager am Polarkreis gerade ein Drama ab. Dort verbüßt seit vier Jahren der ukrainische Filmregisseur Oleg Sentsow eine 20-jährige Haft. Der Grund: Terrorverdacht. Amnesty International beschrieb den Prozess gegen Sentsow als "stalinistisch". Jetzt ringt er um sein Leben. Seit 61 Tagen ist Sentsow im Hungerstreik. Er will so auf die über 70 ukrainischen politischen Gefangenen aufmerksam machen und ihre Freilassung erreichen. Menschen fordern die Freilassung von Oleg Sentsow (imago stock&people / Sergii Kharchenkow) Der Fußball aber schweigt Alexander Tscherkassow von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial verfolgt das Schicksal von Sentsow mit großer Sorge. "Es sind schlechte Haftbedingungen und jetzt hat er noch sehr viel Gewicht verloren. Es wurde aber weder von der russischen Seite Beachtung geschenkt, noch von der FIFA oder von westlichen Politikern, die wegen der WM nach Russland gekommen sind. Stattdessen hat der Sport systematisch mit Russland zusammengearbeitet. Aber diese Zusammenarbeit wurde nicht dafür genutzt, um im Sinne der Menschenrechte zu handeln." Der Fußball aber schweigt. Heute merkte Gianni Infantino auf der Pressekonferenz der FIFA zum Thema Menschenrechte in Russland lapidar an, dass es Ungerechtigkeiten überall in der Welt gäbe. Das Statement des FIFA-Präsidenten ausgerechnet am Tag von Sentsows Geburtstag. FIFA-Präsident Gianni Infantino auf der Pressekonferenz: "Ungerechtigkeiten gibt es überall in der Welt." (imago sportfotodienst) Infantino gibt weiter Putins willfährigen Helfer. Alisa Ganieva ist bei diesen Aussagen fassungslos. Sie ist eine Teilnehmerin von wenigen, die sich trauen, am Freitag für Sentsows Freilassung in Moskau auf die Straße zu gehen. Sie riskiert viel. Demo als Spaziergang deklariert "Hier in Moskau dürfen wir leider nicht demonstrieren oder öffentlich politische Meinung äußern. Jegliche öffentliche Aktionen zur Unterstützung von politischen Gefangenen sind verboten. Wir haben beschlossen, diese Aktion als einen Spaziergang durchzuführen, zum Geburtstag von Oleg Sentsow." Russische Sicherheitsbehörden hatten während der WM immer wieder versucht, Demonstrationen für Sentsows Freilassung zu verhindern. Teilnehmer wurden festgenommen. Auch in Moskau ist die Polizei bei dem Spaziergang zum Geburtstag von Oleg Sentsow immer vor Ort. Sie beobachtet genau alle Teilnehmer, circa 15 sind gekommen. Einer der Teilnehmer, Konstantin, erzählt, warum es für ihn dennoch so wichtig ist, heute hier zu sein: "Ich bin hier um Oleg Sentsow zu unterstützen und die anderen politischen Gefangenen, für die er in Hungerstreik getreten ist vor 61 Tagen. Oleg hungert nicht nur für die politischen Gefangenen, sondern für uns alle und zeigt was es heißt, ein freier Mensch zu sein und was es heißt, Ungerechtigkeit nicht einfach hinzunehmen - was es heißt, keine Angst zu haben." Sentsows Mutter wandte sich nun zum ersten Mal an Präsident Putin persönlich und bat ihn in einem Brief ihren Sohn zu begnadigen. Sentsow selbst hatte diese Option bisher abgelehnt.
Von Olga Sviridenko
Menschenrechtsorganisationen gehen von über 170 politischen Gefangenen in Russland aus. Einer von Ihnen ist Oleg Sentsow. Seit vier Jahren sitzt er im Gefängnis, der Grund: Terrorverdacht. Während der WM schwebt er in Lebensgefahr, denn er befindet sich seit 61 Tagen im Hungerstreik. 
"2018-07-13T23:53:00+02:00"
"2020-01-27T18:01:47.359000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-wm-das-schicksal-von-oleg-sentsow-100.html
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Romane mit "starker Bodenhaftung"
Wer bekommt den Deutschen Buchpreis 2016? (dpa / picture-alliance / Wolfram Steinberg) "Die Romane der diesjährigen Shortlist decken ein breites inhaltliches Spektrum ab", sagte Jury-Sprecher Christoph Schröder. Was sie gemeinsam hätten, sei "eine starke Bodenhaftung, der unmittelbare Bezug zur beobachteten Realität". Folgende Bücher stehen auf der Shortlist und haben damit Chancen auf den Deutschen Buchpreis 2016. Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald (S. Fischer, August 2016) (Rezension im Deutschlandradio Kultur) Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis (Frankfurter Verlagsanstalt, September 2016) André Kubiczek: Skizze eines Sommers (Rowohlt Berlin, Mai 2016) (Rezension im Deutschlandradio Kultur) Thomas Melle: Die Welt im Rücken (Rowohlt Berlin, August 2016) (Rezension im Deutschlandradio Kultur) Eva Schmidt: Ein langes Jahr (Jung und Jung, Februar 2016) Philipp Winkler: Hool (Aufbau, September 2016) (Rezension im Deutschlandradio Kultur) Ende August war die Longlist für den Buchpreis veröffentlich worden, eine Vorauswahl von 20 Büchern. Wie eine solche Auswahl entsteht, erklärte Jury-Sprecher Christoph Schröder im DLF. Der Buchpreis wird am Vorabend der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse (19. bis 23. Oktober) vergeben. Der Gewinner des Deutschen Buchpreises bekommt 25.000 Euro, die anderen fünf Finalisten jeweils 2.500 Euro. Erfahrungsgemäß kurbelt die Auszeichnung den Verkauf des Siegerbuchs enorm an. Im vergangenen Jahr hatte der Offenbacher Autor Frank Witzel den Buchpreis bekommen für seinen Roman "Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969". (cvo/tgs)
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Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016 bekannt gegeben. Die Jury hat die ihrer Meinung nach sechs besten Neuerscheinungen des Jahres ausgewählt - eine von ihnen bekommt im Oktober die Auszeichnung verliehen. Bereits im Vorfeld lobte die Jury den "ausgezeichneten Jahrgang".
"2016-09-20T10:04:00+02:00"
"2020-01-29T18:54:32.812000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/shortlist-des-deutschen-buchpreises-2016-romane-mit-starker-100.html
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Politologe: Die politische Kultur in Tschechien muss sich ändern
Silvia Engels: Tschechien steckt seit Neuestem in einer Art Verfassungskrise. Die von Präsident Zeman eingesetzte Expertenregierung hat gestern Abend eine Vertrauensabstimmung im tschechischen Parlament verloren. Über den Rückhalt einer Abgeordnetenmehrheit verfügt Ministerpräsident Rusnok also nicht. Dennoch will er offenbar nicht zurücktreten und er hat dafür den Rückhalt des Präsidenten.Wir bleiben in Tschechien, denn gestern Abend sprach mein Kollege Mario Dobovisek über die mögliche Verfassungskrise dort mit Lukáš Novotný. Er ist Politologe in der tschechischen Stadt Usti Nad Labem und an ihn ging die Frage, warum die Parlamentarier Jirzi Rusnok das Vertrauen entziehen.Lukáš Novotný: Das ist eine klare Frage. Ich denke, klare Antwort ist, dass einfach die liberalen, konservativen Parteien einfach im Moment die Mehrheit im Parlament haben, und das hat einfach der Staatspräsident Zeman nicht akzeptiert, und daher ist es zu diesem Ergebnis gekommen.Mario Dobovisek: Aber die Kabinettsmitglieder, die Expertenregierung, die gehören doch keiner Partei an?Novotný: Das ist klar. Aber wir müssen bedenken, wenn schon eine Beamtenregierung ins Spiel gebracht wird – bisher war das zumindest so -, dass es immer eine Art Notlösung war und dass sich an der Bildung von dieser Regierung vor allem die Parteien selbst einigen müssen. Aber in diesem Fall wurde praktisch die Beamtenregierung den Parteien vom Staatspräsidenten angezwungen, und daher kann man sich natürlich nicht wundern, dass sie gegen praktisch die Regierung, an sich auch gegen den Staatspräsidenten abgestimmt haben.Dobovisek: "Ich versichere, dass ich innerhalb der nächsten Wochen keinen zweiten Regierungsauftrag vergeben werde", sagte Präsident Zeman heute im Parlament, "selbst wenn sie mich in der Luft zerreißen." Wie klingt das für Sie, Herr Novotný?Novotný: Das klingt ziemlich klar. Sie müssen eine Sache sehen, und zwar, dass natürlich die Regierung, die sogenannte Experten-, Beamtenregierung, egal wie man sie nennt, die ist gebildet vor allem aus Menschen von einer Partei, die Miloš Zeman mit begründet hat, die allerdings auch den Namen von Miloš Zeman direkt im Titel dieser Partei trägt, und daher will er, diese Menschen, die sollen auch eine Art neue Elite von dieser Partei sein und dass sie so lange wie nur möglich an der Macht bleiben. Das zum einen, und zum anderen, denke ich, dass auch die Einstellung vom Staatspräsidenten insofern richtig ist, dass er sagt, erst wenn die ganze polizeiliche Untersuchung zu Ende ist, dann wende ich mich auch an die Parteien, die halt auch diese Krise verursacht haben.Dobovisek: Aber was bedeutet das für die Demokratie in Tschechien, wenn sich der Staatspräsident über den Willen des Parlaments hinwegsetzt?Novotný: Ich denke, für die Demokratie bedeutet das natürlich eine neue Prüfung. Ich würde das aber nicht übertreiben, denn wir haben einfach zum ersten Mal einen Staatspräsidenten gewählt und der will natürlich seine Kompetenzen so weit wie möglich ausweiten.Dobovisek: Darf er das denn? Darf das Zeman als Präsident, sich über das Parlament hinwegsetzen?Novotný: Er darf das, weil es ist immer sehr kompliziert, die tschechische Verfassung zu interpretieren. Ich denke nicht, dass die falsch geschrieben ist, aber die war einfach vor diese Prüfung noch nie gestellt, noch nie so richtig gestellt. Und Sie müssen auch bedenken, dass auch die Vorgänger von Staatspräsident Zeman, also sowohl Vaclav Klaus wie vorher auch Václav Havel, auch an sich die Kompetenzen, die in der Verfassung verankert sind, immer einfach überschritten haben. Überschritten insofern, dass sie sich nicht daran gehalten haben, was die politischen Parteien, anders ausgedrückt, für normal gehalten haben. Aber ich denke, dieses Zusammenspiel, dieses Gegenspiel auch zum Teil, ist aber normal und das gehört einfach zur Demokratie. Das geht nicht gegen die Demokratie.Dobovisek: Dann fragen wir mal ein bisschen rhetorisch oder ketzerisch. Wer muss sich dann ändern in Tschechien, die Verfassung oder die Politiker?Novotný: Ich denke, es muss sich an sich die politische Kultur etwas ändern. Ich denke, das, was jetzt der damaligen Regierung passiert ist, die ganzen Korruptionsskandale und so weiter, die sind einfach nicht normal. Das, was normal ist, ist die Verfassung. Also die anderen müssen sich schon etwas ändern. Und natürlich denke ich auch, dass es mehr und mehr einfach zu einer Kooperation, zu regelmäßigen Gesprächen zwischen den Parteien, zwischen der Regierung und zwischen auch dem Staatspräsidenten kommen soll. Übrigens hat das auch der Staatspräsident Zeman deklariert, dass er wirklich um die Erweiterung des Dialogs mit der Regierung wirbt.Dobovisek: Wie wird es jetzt weitergehen?Novotný: Vor allem die tschechische Verfassung, die schreibt nicht vor, wann es zu dieser zweiten Ernennung des Ministerpräsidenten und damit auch der neuen Regierung kommen muss. Die bisherige Beamten-, Expertenregierung, die kann meines Erachtens auch bis zu dem regulären Wahltermin an der Macht bleiben.Dobovisek: Das wäre im Mai 2014, im Mai nächsten Jahres.Novotný: Das wäre im Mai 2014 und ich denke, Rusnok wird noch ziemlich viele Monate Ministerpräsident bleiben.Engels: Der tschechische Politikwissenschaftler Lukáš Novotný im Gespräch mit Mario Dobovisek.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Lukáš Novotný im Gespräch mit
Die Übergangsregierung von Ministerpräsident Jiri Rusnok hat in Tschechien die Vertrauensabstimmung im Parlament verloren. Der Politologe Lukas Novotny ist überzeugt, dass es zu mehr Kooperation zwischen den Parteien, der Regierung und dem Staatspräsidenten kommen müsse.
"2013-08-08T05:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:29:58.201000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/politologe-die-politische-kultur-in-tschechien-muss-sich-100.html
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Weiter auf Glyphosat setzen
Ein Traktor spritzt Glyphosat zur Unkrautvernichtung im Sommer in Rheinland Pfalz. (imago / Blickwinkel) Die deutsche Agrarchemiebranche ist nicht zufrieden mit dem vergangenen Jahr: Die Märkte für Mineraldünger und Pflanzenschutzmittel seien "stark rückläufig" gewesen. So brach der Umsatz mit Pflanzenschutzmitteln in Deutschland um 11 Prozent auf 1,4 Milliarden Euro ein, auch im Düngemittelmarkt setzte die Branche je nach Nährstoff zwischen 4 und 14 Prozent weniger ab. Es sei ein schwieriges Jahr gewesen und das nicht nur wegen der Witterung, meint Helmut Schramm, Präsident des Branchenverbands IVA: "Hauptgründe dafür sind ja einmal die Befallssituation. Wir empfehlen ja den integrierten Pflanzenbau und Pflanzenschutz, sprich: Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nur dann, wenn sie auch gefordert sind. Dann haben wir die Situation, dass wir Lagerbestände hatten aus den Jahren davor, und eben, dass auch die Agrarmärkte relativ soft sind, sodass der Landwirt auch zweimal überlegt, ob er jetzt Mittel einsetzt oder nicht." Dass der Einsatz von weniger Pflanzenschutzmitteln nicht zu einem Rückgang der Erträge führe, wie eine Studie in Frankreich nahelegt, kann Schramm für Deutschland nicht bestätigen: "Pflanzenschutzmittel werden dann eingesetzt, wenn der Befall da ist. Wir empfehlen nach sogenannten Befallsschwellen. Man weiß genau, wie der Erreger in den Bestand hineinkommt, wie er sich weiter verbreitet, ab wann Erträge reduziert werden, Qualitäten reduziert werden. Und dann wird Pflanzenschutzmittel empfohlen. Also, ich kann das jetzt nicht bestätigen. Was wir allerdings bestätigen können, ist: In Deutschland, da gibt es ja diesen Ringversuch durchgeführt vom Julius-Kühn-Institut zwischen ökologisch betriebener Landwirtschaft und moderner Landwirtschaft, dass die Erträge im Grunde genommen um die Hälfte einbrechen ohne Einsatz von Pflanzenschutzmitteln." Um ein Pflanzenschutzmittel kämpft die Branche: Glyphosat Die Auseinandersetzung um das Unkrautvernichtungsmittel, das vor allem von dem amerikanischen Hersteller Monsanto produziert wird, werde sehr emotional geführt, klagt Schramm. Dabei habe die europäische Chemikalienbehörde ECHA erst kürzlich nochmals bestätigt, dass Glyphosat nicht krebserregend sei und die Zulassung vorübergehend verlängert – eine Einschätzung, die Kritiker nicht teilen. Sie werfen der ECHA sogar vor, die Lobbyorganisation Glyphosat Task Force habe - anders als vorgeschrieben - noch kurz vor der offiziellen Risikobeurteilung ihre Bewertung einbringen können. IVA-Präsident Schramm: "Wir müssen wissenschaftsbasiert vorgehen. Die ganzen Vorwürfe sind einfach nicht haltbar. Wir werden das Glyphosat hoffentlich bekommen in der Zulassung und dann eben hoffentlich für Landwirte wieder einsetzen können. Hat ja auch riesige Vorteile, Glyphosat: Ich kann Minimalbodenbearbeitung durchführen, ich habe weniger Erosion, Wassererosion, weniger Bodenerosion, weniger CO2, weil ich nicht pflügen muss. Das sind alles Vorteile, die überhaupt nicht diskutiert werden." Unabhängig vom Glyphosat klagt die Branche über große Defizite bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln: Das Verfahren in Deutschland sei zu komplex, das habe selbst die EU in einem Audit festgestellt. "Das Ergebnis dieses Audits ist, dass die Zulassung nicht funktioniert und man quasi starke Maßnahmen umsetzen muss, damit sich das verbessert. Beispielsweise die Einführung einer Zulassungsbehörde. Und dann ist unsere Forderung eben, dass es da angesiedelt wird, wo auch Landwirtschaft angesiedelt wird – im Landwirtschaftsministerium."
Von Brigitte Scholtes
Für Pestizid- und Düngeproduzenten war 2016 ein schwieriges Jahr: Der Industrieverband Agrar (IVA) blickt in seiner Jahresbilanz auf rückläufige Umsatzzahlen - und klagt über große Defizite bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln.
"2017-05-09T11:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:58.657000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jahresbilanz-der-pestizid-und-duengeproduzenten-weiter-auf-100.html
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Uneins über Sterbehilfe für Minderjährige
Seit zehn Jahren arbeitet Dr. Joris Verlooy auf der Kinderkrebsstation im belgischen Gent. Täglich hat er mit schwerkranken Kindern zu tun. Aber das Schicksal eines Mädchens hat ihn besonders berührt: "Dieses Mädchen litt so sehr. Es konnte kaum noch atmen. Am Ende konnte es nicht mehr aus ihrem Bett aufstehen und dieser Zustand dauerte Monate an." Seit Jahren hatte er die junge Patientin wegen Leukämie behandelt. Im Alter von 16 Jahren schlugen die Medikamente dann nicht mehr an. Sie habe unter unerträglichen Schmerzen gelitten und sich nichts sehnlicher gewünscht, als von diesem Leid erlöst zu werden, erzählt Dr. Verlooy. "Es war ein sehr bewegendes Wochenende, am Freitag haben wir die Entscheidung getroffen, zusammen mit ihr und ihren Eltern. Wir beschlossen, dass sie all ihre Freunde an diesem Wochenende noch einmal sehen konnte. Und am Sonntag wollte sie ihr Leben beenden." Und Dr. Joris Verlooy half dem Mädchen dabei. Doch Sterbehilfe zu leisten, war nur deshalb legal, weil das Mädchen außerhalb Belgiens lebte, kurz hinter der Grenze, in den Niederlanden. Das soll sich ändern, fordert der Onkologe und hat jetzt einen offenen Brief an das belgische Parlament mit unterzeichnet. 16 Kinderärzte fordern darin, dass das belgische Gesetz geändert wird. Das erlaubt Sterbehilfe zwar bereits seit elf Jahren, aber nur bei Erwachsenen. Und nur dann, wenn sie unheilbar krank, aber mental in der Lage sind, die Entscheidung selbst zu treffen. Die Kinderärzte fordern nun das gleiche Recht für Minderjährige. Auch Kinder und Jugendliche seien durchaus in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Denn angesichts des nahenden Todes, so argumentieren die Kinderärzte aus ihrer langjährigen Erfahrung, entwickelten auch junge Patienten eine große Reife. Doch vielen in Belgien geht das entschieden zu weit: "Ich fürchte, dass mit diesem neuen Gesetz eine Grauzone entstehen kann, man kann Schritt für Schritt in eine Situation abgleiten, in der die schwächeren Personen möglicherweise Opfer werden." Pastor Steven Fuite ist Präsident der protestantischen Kirche in Belgien. Er hat seinerseits ein Communiqué unterschrieben, gegen die Sterbehilfe für Minderjährige. Gemeinsam mit den führenden Köpfen der anderen christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Sie warnen vor einer "wachsenden Banalisierung der Frage von Leben und Tod", wie es in ihrem Appell heißt. Dr. Joris Verlooy hält dagegen. Es müsse eben dafür gesorgt werden, dass Entscheidungen über Sterbehilfe bei Kindern besonders verantwortungsvoll getroffen würden. "Wir sollten dabei die Entscheidung der Eltern berücksichtigen, aber auch die Meinung des Betreuungsteams. Und ich sage nicht des Ärzteteams, sondern des Betreuungsteams. Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen und Sterbebegleiter für Kinder - all diese Leute sollten darüber zusammen entscheiden." Für Kritiker, wie Pastor Steven Fuite, bleibt dennoch eine Gefahr. "Also, ich fürchte, dass dieses neue Gesetz eine Tür öffnen könnte, um bestimmte Therapien, die sehr viel kosten, zu beenden." Dr. Joris Verlooy weist das zurück. Das Gesetz in Belgien schreibt zwar Ärzten vor, Kinder mit allen medizinischen Mitteln am Leben zu halten. Der Onkologe weiß aber aus der Praxis, dass auch die Apparatemedizin ihre Grenzen hat. Und dann wollen die Kinderärzte das Leiden auch junger Patienten beenden können. "Ich denke, am Ende ist es einfach ein Akt von Mitgefühl. Wir müssen mit dem Patienten mitfühlen. Und wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann muss man einfach Mitgefühl haben." Wann eine endgültige Entscheidung über das Sterbehilfegesetz für Minderjährige ansteht, ist derzeit nicht abzusehen, denn das belgische Parlament ist in dieser Frage ebenso entzweit wie Arzt und Pastor.
Von Simela Limbou
Sterbehilfe ist in Belgien seit elf Jahren erlaubt, allerdings nicht für minderjährige Kinder. Einige Kinderärzte fordern dies in einem offenen Brief. Doch das Parlament ist in der Frage ebenso zerstritten wie die belgische Gesellschaft.
"2013-12-03T00:00:00+01:00"
"2020-02-01T16:48:49.725000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/belgien-uneins-ueber-sterbehilfe-fuer-minderjaehrige-100.html
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Bundesverfassungsgericht verhandelt über Geheimhaltung
Das Bundesverfassungsgericht befasst sich mit der Frage, ob das Parlament bei Entscheidungen über Waffenexporte stärker eingebunden werden muss. Die Grünen wollten 2011 von der Bundesregierung wissen, ob Zeitungsberichte zutreffen, wonach der Export von 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien genehmigt worden sei. Die Bundesregierung hatte damals die Antwort aus Geheimhaltungsgründen verweigert. Die Grünen sehen darin einen Verstoß gegen die Abgeordnetenrechte und haben geklagt. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele sagte vor Beginn der Verhandlung, das Parlament müsse in solchen sensiblen Fragen eingebunden werden, das müsse in der Demokratie so sein. Bei ihrer Klage hätten die Grünen "einen tollen Verbündeten: das Grundgesetz". Seine Parteikollegin und Mitklägerin Katja Keul sagte im Deutschlandfunk, spätestens nach der Genehmigung von Rüstungsdeals durch das Wirtschaftsministerium müsse das Parlament in Kenntnis gesetzt werden. Der Bundestag sei in der Lage, Informationen vertraulich zu behandeln. Ströbele: "Verbündeter Grundgesetz" (dpa/Deck) Regierung beharrt auf Eigenverantwortung Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zeigte Verständnis für das Interesse des Parlaments an Rüstungsexporten. Die Entscheidung darüber erfolge aber "in exekutiver Eigenverantwortung der Bundesregierung", sagte er in Karlsruhe. Er verwies auf das vergangene Woche vorgestellte Eckpunktepapier von Union und SPD. Demnach soll die Öffentlichkeit künftig zweimal im Jahr über genehmigte Waffengeschäfte informiert werden. Der Bundestag soll binnen 14 Tagen nach Entscheidungen von jeder Genehmigung erfahren. "Die Bundesregierung hält die neue ergänzende Information politisch für klug, wenn auch nicht für verfassungsrechtlich geboten", sagte der Minister dazu. Nach bisheriger Praxis legt die Bundesregierung jährlich einen allgemeinen Rüstungsexportbericht vor, der im Rückblick statistische Daten aufführt. Informationen zu Voranfragen oder konkreten Genehmigungen solcher Deals gibt es nicht.
null
Die Informationspflicht der Bundesregierung über Rüstungsexporte ist seit heute ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Drei Politiker der Grünen fordern Auskünfte über einen angeblichen Panzerdeal mit Saudi-Arabien. Die schwarz-rote Bundesregierung bleibt hart.
"2014-04-15T10:20:00+02:00"
"2020-01-31T13:36:05.676000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ruestungsexporte-bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueber-100.html
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"Keine Anreize für Investitionen in Klimaschutz"
"Der Markt wurde mit internationalen Zertifikaten überschwemmt", so Claudia Kemfert vom DIW. (picture alliance / dpa/ Patrick Pleul) Stefan Römermann: Ein Kompromiss soll den Emissionshandel wieder in Schwung bringen und die Industrie zu mehr Klimaschutz bewegen. Das EU-Parlament hat ihn gestern beschlossen. Dabei sollen vor allem die Verschmutzungsrechte, die sogenannten CO2-Zertifikate, künstlich verknappt werden. Ob das wirklich hilft, darüber möchte ich jetzt sprechen mit Claudia Kemfert, Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Frau Kemfert, bevor wir jetzt richtig tief einsteigen - das Kernstück dieser neuen Regeln ist ja offenbar die Marktstabilitätsreserve. Können Sie vielleicht noch mal kurz für Laien erklären, was das ist und wie das funktionieren soll? Claudia Kemfert: Ja gerne, Herr Römermann. Es ist die Idee dahinter, dass man die überschüssigen Zertifikate - es gibt ja zu viele Zertifikate im Markt -, dass man die überführt in die sogenannte Marktstabilitätsreserve, die dann so funktioniert wie eine Art Zentralbank. So muss man sich das vorstellen. Wenn es zu viele Zertifikate gibt, wird ein Überschuss in diese Reserve überführt. Und umgekehrt, sollte es zu wenige geben, wird dann auch umgekehrt agiert. Das ist die Idee dahinter und jetzt versucht man, über diese Kompromisslösung den Markt wieder funktionsfähig zu machen. Das heißt, dass der Preis für CO2 wieder steigen soll. Abwarten, wie stark der Überschuss vermindert werden kann Römermann: Und ist das denn tatsächlich jetzt auch sicher, dass der Preis wirklich steigt? Kemfert: Nein, sicher ist das ganz bestimmt nicht, weil es geht ja darum, dass man jetzt erst mal diese gigantischen Überschüsse etwas abbaut, die sich angesammelt haben in den letzten Jahren mit über zwei Milliarden Tonnen CO2. Davon schöpft man jetzt etwas ab und hat auch schon einige Zertifikate beiseitegelegt, die dann jetzt auch in diese Reserve überführt werden. Das Ganze wird ab 2019 beginnen und dann muss man sehen, wie stark dieser Überschuss sich überhaupt vermindern kann. Darum geht es ja. Das heißt, Preisreaktionen wird man jetzt erst mal auch nicht in einer größeren Größenordnung sehen, vielleicht etwas, aber nicht in der Größenordnung, wie man es eigentlich bräuchte, um wirklich auf klimaschonende Technologien umzuschwenken. Römermann: Die Reform tritt jetzt 2019 in Kraft. Reicht das, oder ist das schon wieder zu spät? Kemfert: Im Grunde ist es viel zu spät, aber es ist erst mal besser als nichts. Zu spät ist es, weil wir ja schon seit Jahren jetzt damit kämpfen, dass der Preis für CO2 so niedrig ist, weil wir ja seit Jahren Überschüsse immer weiter anhäufen und der Markt überschwemmt wurde auch mit internationalen Zertifikaten. Man hat zu viele Zertifikate verteilt und all das hat dazu geführt, dass der Emissionshandel zwar funktioniert, aber es keine Anreize gibt, in klimaschonende Technologien zu investieren. Deswegen muss man agieren und insofern ist es spät, nicht zu spät, aber besser als nie. Römermann: Claudia Kemfert - eine kurze Einschätzung von der Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Vielen Dank für das Gespräch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Claudia Kemfert im Gespräch mit Stefan Römermann
Zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes will die EU die Verschmutzungsrechte verknappen. Es seien zu viele dieser CO2-Zertifikate ausgegeben worden, sagte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im DLF. Dadurch hätten Investitionen in den Klimaschutz keinen Reiz. Die EU reagiere zu spät.
"2015-07-09T11:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:46:49.986000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/emissionshandel-keine-anreize-fuer-investitionen-in-100.html
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"Am Ziel EU-Beitritt muss festgehalten werden"
Michelle Müntefering (SPD) (picture alliance / dpa / Andreas Keuchel) Christine Heuer: Der neue türkische Präsident will nichts anderes als eine neue Türkei, eine Türkei, die ganz von ihm und seinen Vorstellungen geprägt ist. Recep Tayyip Erdogan hat nach seinem beeindruckenden Wahlsieg gestern vor, sein Land umzugestalten: Nationaler, religiöser, wirtschaftlich noch stärker soll die Türkei werden. Seine Kritiker befürchten den endgültigen Untergang von Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten. Recep Tayyip Erdogan ist neuer türkischer Präsident und hat allerhand vor in diesem Amt. Und wie sieht all das die deutsche Politik? Am Telefon begrüße ich Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Guten Tag, Frau Müntefering! Michelle Müntefering: Guten Tag, Frau Heuer! Heuer: Erdogan ist Präsident, er ist am Ziel seiner Wünsche, eine neue Türkei zieht herauf. Freuen Sie sich darauf? Müntefering: Nun, die Türkei hat gewählt, Erdogan ist Präsident und das ist vor allen Dingen nun eine große Chance und eine historisch große Verantwortung, die Erdogan da hat. Und wir haben gerade gehört, auf dem Papier, auf dem Glückwunschschreiben der Kanzlerin, dass das eine ganz wichtige Partnerschaft für Deutschland ist. Und insofern natürlich arbeiten wir mit der Türkei ganz eng zusammen. Entwicklungen in der Türkei sind besorgniserregend Heuer: Sie sagen, eine historisch große Verantwortung. Glauben Sie denn, dieser Präsident wird dieser Verantwortung gerecht werden? Müntefering: Das wird sich zeigen. Die letzten Monate und die Entwicklung in der Türkei geben natürlich auch Anlass zu Sorge, wenn man sieht das Twitter-Verbot, die Inhaftierung von Polizisten und anderes. Natürlich sind diese Sorgen, die geäußert werden, nicht unbegründet. Aber es gibt keinen Anlass, hat Cem Özdemir gesagt, aber ich sage, es gibt auch keinen Automatismus. Das heißt, es wird jetzt darauf ankommen, wie der Umbau der sogenannten neuen Türkei, wie Erdogan es bezeichnet, aussehen wird. Einen Automatismus gibt es eben nicht, von daher müssen wir uns, glaube ich, darauf konzentrieren, auch konstruktiv in die Gespräche zu gehen, da, wo wir gefragt sind. Heuer: Aber wie konstruktiv kann man mit jemandem sein, der als autoritär gilt, der machtbesessen ist, korrupt, der Kritik und Demonstrationen niederknüppeln lässt? Im Grunde, Frau Müntefering, haben wir es da doch mit einer Art zweitem Putin zu tun? Müntefering: Ich würde diesen Vergleich nicht direkt ziehen. Heuer: Aber indirekt schon? Müntefering: Erdogan spricht von einer neuen Türkei und wir wissen, dass es darum geht, eine Präsidialdemokratie aufzubauen. Und für mich stellt sich die Frage, wie die eigentlich aussehen soll. Soll es eine Machtbalance geben etwa über die Region? Die Türkei ist ja ein sehr großes Land. Was ist eigentlich mit der Rolle des Parlaments? Und das ist die Aufgabe der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, auch mit den Parlamentariern in der Türkei darüber zu sprechen. Und das sehe ich auch dann als meine Aufgabe mit an, dort diese Gespräche zu führen. Presse- und Meinungsfreiheit muss angesprochen werden Heuer: Genau, das tun Sie ja aber auch schon und Sie sprechen da ja sicher auch oft mit türkischen Politikern aus der Opposition. Was wünschen die sich denn in diesen Gesprächen, was fordern die von Deutschland und der Europäischen Union? Müntefering: Nun ja, es gibt ja immer noch das Ziel, die Türkei auch in die Europäische Union mit aufzunehmen, und an diesem Ziel muss auch festgehalten werden. Das bedeutet aber auch aus meiner Sicht, dass man über die Kapitel reden muss, die auch kritisch sind. Das heißt, das, was Sie angesprochen haben, was ist eigentlich mit Pressefreiheit, mit Meinungsfreiheit, das, was ich gerade auch mit Sorge betrachtet habe, darüber muss, glaube ich, auch ganz offen gesprochen werden. Nur wenn das funktioniert, dann kann man überhaupt eine Form von Einfluss auch nehmen. EU-Beitritt bleibt Gesprächsthema Heuer: Also, die Opposition möchte nach wie vor in die Europäische Union, mehrheitlich. Aber wenn wir uns die Sache mal ganz ehrlich ansehen, hat man ja nicht den Eindruck, dass der neue Präsident das noch möchte! Müntefering: Das wird sich zeigen, wie diese Entwicklung jetzt voranschreitet. Ich halte an dem Ziel fest, aber natürlich muss man es auch abhängig machen davon, wie Gespräche laufen, wie Verhandlungen laufen. Und auf welcher Art und Weise man zusammenkommt zu einer Partnerschaft, zu einer Integration der Türkei in die EU. Das kann man nicht vorwegnehmen, sondern das ist eine Entwicklung, die jetzt einhergeht mit der Präsidentschaft von Erdogan. Und deswegen sage ich, das ist eine große Chance und eine historisch große Verantwortung. Heuer: Frau Müntefering, aber trotzdem, das sind ja alles hehre Ziele und das sind so Debatten, die haben wir jahrelang geführt und auch zum Teil sehr leidenschaftlich geführt, und inzwischen hat man den Eindruck, der Zug ist eigentlich abgefahren und es sind eigentlich nur noch Sonntagsreden. Wie realistisch ist es, dass die Türkei tatsächlich noch auf die EU zustrebt und dass die EU bereit ist, die Türkei aufzunehmen unter diesem Präsidenten? Müntefering: Ich stelle nicht in Abrede, dass in den letzten Monaten auch der Eindruck entstanden ist, dass sich die Türkei von Europa entfernt. Das ist, glaube ich, keine Frage, das ist mit den Entwicklungen dort, mit Verhaftungen, mit Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit tatsächlich auch einhergegangen. Aber darüber hat man auch immer noch nicht gesprochen, über diese Kapitel. Und ich glaube, dass es deswegen umso wichtiger ist, das nun auf den Tisch zu legen. Und das ist schon ein Lackmustest jetzt auch, der – da gebe ich Ihnen recht – nicht nur in Sonntagsreden besprochen werden muss, sondern der tatsächlich in Verhandlungen sich auch auswirken muss. Heuer: Klingt nach versöhnen statt spalten. Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete, Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Deutschlandfunk-Interview. Dafür herzlichen Dank, Frau Müntefering! Müntefering: Vielen Dank, Frau Heuer! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michelle Müntefering im Gespräch mit Christine Heuer
Angesichts der Wahl Erdogans zum türkischen Präsidenten hat Michelle Müntefering vor übertriebenem Pessimismus gewarnt. Es müsse nun abgewartet werden, wie dessen Pläne aussehen, sagte die Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe des Bundestages - auch wenn es Anlass zur Sorge gebe.
"2014-08-11T13:20:00+02:00"
"2020-01-31T13:57:55.774000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-am-ziel-eu-beitritt-muss-festgehalten-werden-100.html
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Grüne Farbenspiele
Auf Tour im grünen Wahlkampfbus. Mehr als 100 Städte steuern die Spitzenkandidaten Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt an, um dort ihre Botschaft zu verkünden. Die heißt: Wir wollen den grünen Wandel. "Sie sehen mich frohgemut, dass wir unser Wahlziel, nämlich eine komplette Ablösung von CDU und FDP durch eine rot-grüne Koalition hinzubekommen, dass wir das erreichen können."In ihrem Wahlprogramm haben sich die Grünen auf ein Bündnis mit der SPD festgelegt. Alles andere, da ist sich Trittin sicher, geht nicht:"Weil wir der Auffassung sind, dass die CDU eine Kampfansage an den grünen Wandel ist, das gilt für die FDP genauso. Und, weil wir die Erfahrung machen mussten, dass bei wesentlichen Reformvorhaben die Linke in der Regel abseitsstand und sich eher darin gefallen hat, Opposition gegen uns zu machen."Im Frühjahr gab es eine Diskussion über ein mögliches Bündnis mit der Union. Realos wie der Thüringer Oberbürgermeister Boris Palmer oder der bayerische Landesvorsitzende Dieter Janecek wollten nicht allein auf Rot-Grün setzen. Doch auf dem Parteitag Ende April war klar: Die Delegierten stehen voll hinter der dem linken Flügel zugehörigen Parteivorsitzenden Claudia Roth, die rief, tausendmal lieber kämpfe sie für Rot-Grün:"Als falsche Hoffnungen zu setzen auf die Spiegelfechtereien der Baroness Angela von Münchhausen und des Hotte Pinocchio Seehofer, liebe Freundinnen und Freunde." Dass laut Umfragen auch fast die Hälfte der grünen Wähler Angela Merkel für kompetent und sympathisch halten, ficht die Grünenspitze nicht an. Denn geht es um die konkrete Frage: Sollen die Grünen mit der Union koalieren, lehnen die meisten Befragten das ab, versichert Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt:"Weil sie dann sehen, dass die Veränderungen, die wir wollen: Energiewende, Mindestlohn, Ende der Zwei-Klassen-Medizin, mit ihr nicht durchzusetzen sind."Schwarz-Grün, Rot-Rot-Grün – auf der Wahlkampftour ist das ohnehin kein Thema, versichert Spitzenkandidat Jürgen Trittin:"Werden wir so gut wie überhaupt nie drauf angesprochen."Wenig später, auf dem Holzmarkt in Jena, hört sich das anders an:"Die Koalitionsfrage wurde auf mehreren Karten gestellt. Wie sieht es aus: reicht es mit der SPD, ja Schwarz-Gelb soll abgewählt werden. Aber, was heißt das für uns Grüne?" Göring-Eckardt: "Für uns Grüne heißt das, dass wir deutlich machen werden, dass es wirklich um Alternativen geht."Für einige der Zuhörer in Jena heißt Alternative nicht zwingend Rot-Grün. Auch Schwarz-Grün ist denkbar, sagt ein junger Mann, und zwar:"Erstmals. Ich denke, man kann sich ja auch noch mal in anderen Punkten verständigen. Also ich seh’s flexibler."Auch einem anderen Wähler ist die Festlegung auf Rot-Grün zu begrenzt:"Also es gab ja einige Anleihen, wo man hier gemerkt hat, okay, dass es relativ ähnliche Positionen gibt. Und wenn man sich die Programme anschaut, gibt’s in vielen Bereichen ja Überschneidungen. Und man versucht jetzt halt während des Wahlkampfes - so scheint es - die Unterschiede hervorzuheben, anstatt die Überschneidungen. Aber ich glaube, dass genügend Überschneidungen da wären."Eine Position, die die grüne Basis in Jena nicht teilt. Im Gegenteil: Reicht es nicht für Rot-Grün, gibt es für die Mitglieder am Rande der Veranstaltung nur eine denkbare Alternative: "Dann lieber Opposition. Also Schwarz-Grün ist überhaupt keine Alternative. Das passt inhaltlich nicht. – Ich glaub, das passt einfach fundamental nicht, das Menschenbild ist einfach ein anderes. – Rot-Rot-Grün wär 'ne Idee, aber wird wahrscheinlich dann eher an der SPD scheitern, also Schwarz-Grün dann auf keinen Fall. - Mit 'ner Bundeskanzlerin Merkel, gegen die wir ja hier wahlkämpfen, dann zu koalieren, weiß ich nicht, wer sich das trauen könnte, sein Gesicht zu verlieren." Ein klares Nein zu Schwarz-Grün lassen sich die beiden Spitzenkandidaten trotzdem nicht entlocken. Inhaltlich geht es nicht, heißt das Standardargument:"Es geht nicht mit Betreuungsgeld, es geht nicht mit Massentierhaltung, es geht nicht ohne Mindestlohn. Darauf können sich unsere Wählerinnen und Wähler in der Tat verlassen, dass wir in keine Koalition einwilligen, die da entweder nachgibt oder auch billige Kompromisse macht."Weitere Beiträge aus der Reihe "Endspurt im Wahlkampf" Weitere Beiträge, Interviews, Analysen, Umfragen und Reportagen zur Bundestagswahl im DLF in unserem Blog
Von Christel Blanke
Die Grünen haben sich auf die SPD als Koalitionspartner festgelegt. Und an dieser Position halten die Spitzenpolitiker auch im Wahlkampf fest. Einige Wähler könnten sich zwar auch Schwarz-Grün vorstellen, aber da würden viele von der Parteibasis wohl lieber in die Opposition gehen.
"2013-09-10T05:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:34:57.019000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gruene-farbenspiele-100.html
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Ein Marathon der Kantaten
Sänger des Thomanerchores bereiten sich in der Thomaskirche auf das Eröffnungskonzert des Bachfestes vor. (picture alliance/dpa - Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa ) Freitagabend in der Leipziger Nikolaikirche: Bei frühsommerlichen Temperaturen dirigiert John Eliot Gardiner zwei Adventskantaten und eine Weihnachtskantate von Johann Sebastian Bach. Ein ungewöhnlicher Start für ein ungewöhnliches Programm. Am vergangenen Wochenende erlebten die Festivalbesucher das ganze Kirchenjahr im Schnelldurchlauf. 33 Kantaten in 48 Stunden, aufgeführt von bedeutenden Bach-Interpreten der Gegenwart. Das war das ziemlich sportliche Pensum beim Leipziger "Kantaten-Ring", initiiert von John Eliot Gardiner, dem Präsidenten des Bachfests. Mit dem Kantaten-Schwerpunkt würdigt Gardiner eine Gattung, die lange Zeit ein Schattendasein führte. Das Etikett der geistlichen "Gebrauchsmusik" haftete den Werken an und verstellte den Blick auf ihre kompositorische Meisterschaft; auch beim Bachfest selbst spielten sie meist eine Nebenrolle, wie Gardiner sagt. "Es gab natürlich Kantaten in den Programmvorschlägen vor zehn Jahren, aber viel weniger. Jetzt sehen wir glaube ich alle, wie wichtig in Bachs Oeuvre die Kantaten sitzen, wie wichtig und wie zentral sie sind. Und das freut mich natürlich sehr." 200 von 300 geistlichen Bach-Kantaten erhalten Insgesamt schuf Johann Sebastian Bach etwa 300 geistliche Kantaten, von denen knapp 200 erhalten sind. Obwohl er die Stücke gerade während seiner Leipziger Zeit wie am Fließband komponierte, lieferte er immer höchste Qualität, betont Gardiner. "Mit seinem außergewöhnlichen Verantwortungsgefühl für die Aufgaben als Thomaskantor schrieb Bach für jeden Sonntag eine neue Kantate. Und das erstaunliche ist, was für ein Niveau er erreichte und wie unglaublich unterschiedlich die Kantaten von Woche zu Woche sind." Der Kantaten-Ring offenbarte die unerschöpfliche Vielfalt an Stilen, Formen und Farben, mit denen Bach die geistlichen Texte vertonte. Sie umfasst prachtvolle, mit reichen Bläserstimmen ausgeschmückte Chöre und schlichte Choräle, dramatische Szenen und anrührende Arien, oft von hinreißenden Instrumentalsoli begleitet. Vor allem die Oboe und die Oboe d’amore mit ihrem weichen Klang hat Bach bedrückend schön eingesetzt – wie in der Arie "Schlummert ein, ihr matten Augen" aus der Bass-Kantate "Ich habe genug". Mit seinem balsamischen Timbre gehört der Bariton Klaus Mertens mit fast 70 Jahren noch immer zu den herausragenden Bachsängern der Gegenwart. Für den Kantaten-Ring hat Festival-Intendant Michael Maul gemeinsam mit John Eliot Gardiner nicht nur die vermeintlich "besten" Werke, sondern auch einige der weltweit führenden Interpreten aus dem Bereich der Historischen Aufführungspraxis ausgewählt – auch da zeichnet sich der Wandel im Bachfest Leipzig ab, in dem Ensembles mit Originalinstrumenten früher ja eher die Ausnahme als die Regel waren. Neben den Auftritten von Gardiner präsentierte Michael Maul beim Festival Konzerte mit dem Amsterdam Baroque Orchestra and Choir und Ton Koopman, mit Masaaki Suzuki und seinem Bach Collegium Japan und mit der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann. Allesamt Dirigenten und Ensembles: "Die dadurch bekannt geworden sind, speziell als Interpreten der Bach-Kantaten, weil sie diese Gesamteinspielung vorgelegt haben. Auch das macht mich stolz, dass wir es geschafft haben, die mal in so einem interessanten Projekt zu vereinen, und nun ausgerechnet hier, in Bachs Kirchen." Hohes technisches Niveau und eine textnahe Phrasierung Eine schlanke Chorbesetzung mit etwa 20 Sängern und ein barockes Orchester mit historischen Instrumenten zählen für alle vier Dirigenten zum Standard, ebenso wie das grundsätzlich hohe technische Niveau und eine textnahe Phrasierung. Doch innerhalb dieses Rahmens, den die Historisch informierte Aufführungspraxis absteckt, bleibt noch viel Spielraum für eine eigene Handschrift. Es gebe nicht den einen Weg Bach aufzuführen, sondern viele unterschiedliche Möglichkeiten sich anzunähern, betont John Eliot Gardiner. Seine eigene Bach-Interpretation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gravierend verändert. Mit seinen English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir, aus dem er auch die Solopartien besetzt, spitzt Gardiner die Kontraste der Musik zu, er rückt ihre Ausdruckskraft immer stärker ins Zentrum und reizt dabei dynamische Extrembereiche in einer Weise aus, die fast schon wieder romantisch wirkt. Besonders aufregend im Eingangschor aus der Kantate "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen". In einem extrem langsamen Tempo kostete Gardiner da den Schmerzenston der Musik aus und ließ die Töne der Sänger in die dissonanten Reibungen hinein anschwellen. Wenig später dann beinahe gestammelt die Wörter "Angst und Not". Manche eingefleischten Bachianer empfanden Gardiners expressiven Stil in der Nikolaikirche als manieriert – sie fühlten sich bei Ton Koopman besser aufgehoben, dessen sanftere Lesart das andere Ende des Interpretationsspektrums repräsentiert. Im direkten Vergleich wirkte Koopmans Zugang allerdings etwas blasser, womöglich auch wegen der akustisch schwierigen Verhältnisse in der Thomaskirche. Gerade die Konturen der Streicher drohen dort leicht zu verschwimmen, zumindest wenn man nicht oben auf der Empore und damit auf Augen- und Ohrenhöhe mit den Musikern sitzt. Eine der Entdeckungen des Festivals Masaaki Suzuki und sein Bach Collegium Japan packten kraftvoller zu, erreichten aber nicht das Niveau ihrer Kantaten-Gesamteinspielung; die Intonation der Bläser litt hörbar unter den schwülen Temperaturen. Außerdem machte sich beim Tenorsolisten Makoto Sakurada noch ein zwar verständlicher, aber doch störender Rest Fremdheit gegenüber der Sprache bemerkbar. Wie essenziell ein selbstverständlicher Zugang zur deutschen Sprache für die Kantaten ist, demonstrierte Hans-Christoph Rademann gestern Nachmittag. Er belebte den Text ausdrucksvoll und natürlich zugleich, mit seiner Gaechinger Cantorey und den vier hervorragenden Solisten Dorothee Mields, Wiebke Lehmkuhl, Tobias Berndt und dem erst 30-jährigen Tenor Patrick Grahl, der an Peter Schreier erinnert und zu den größten Entdeckungen des Festivals gehört. Mit seinen exzellenten Ensembles fand Rademann eine gute Balance aus Ausdruck, Präzision und Transparenz und verdichtete Wort und Musik zu einer eindringlichen Glaubensbotschaft. Auch deshalb gehörte der Auftritt von Rademann neben den Gardiner-Konzerten zu den Höhepunkten des außergewöhnlichen Kantaten-Rings.
Von Marcus Stäbler
33 Bachkantaten in 48 Stunden - Besucher des diesjährigen Bachfestes in Leipzig konnten ein Kirchenjahr im Schnelldurchlauf erleben. Initiiert vom Präsidenten des Festivals, John Eliot Gardiner, wurden die Werke von international renommierten Interpreten vorgetragen.
"2018-06-11T20:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:33.397000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bachfest-leipzig-ein-marathon-der-kantaten-100.html
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Konversionstherapien sollen verboten werden
Fällt Sexualität vom Himmel? Einem Kongress des evangelischen Fachverbands Weißes Kreuz in Kassel wurde 2014 vorgeworfen, „Homoheilung“ zu propagieren. (imago stock&people / epd) Lange Zeit galt Homosexualität als Krankheit. Erst 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus der Liste anerkannter psychischer Krankheiten. Bis Ende der 70er-Jahre versuchten Psychiater, die sexuelle Identität unter anderem mit einer Aversionstherapie zu ändern: "Da hat man homosexuellen Menschen Bilder von gleichgeschlechtlicher Sexualität gezeigt und sie dazu angeregt, sich zu erbrechen oder ihnen auch Elektroschocks verpasst. Das macht man heute, soweit wir wissen, nicht mehr", erläutert Kerstin Lammer. Die Theologieprofessorin von der Evangelischen Hochschule Freiburg war Mitglied in einer Fachkommission des Gesundheitsministeriums. Die Theologin Kerstin Lammer von der Evangelischen Hochschule Freiburg (privat) Gerhard Kupper wurde nicht mit Elektroschocks behandelt. Er machte eine Konversionstherapie in den 90er-Jahren bei einem evangelikalen Institut im Odenwald. Ihm wurde gesagt: "Das ist eine frühkindliche Störung, die sich aus dem Genogramm ergibt, das man erstellt - dass man mal schaut, wie sah das Elternhaus aus, welche Störung gab es da. Dann kommt man dahin, dass diese Kindheitsfaktoren zu dieser Störung geführt haben, dass man sich nicht als normaler Mann fühlen kann. Dort wird geguckt, dass man diese psychische Störung bewältigen kann, um dann zu einem ‚normalen Mann‘ im biblischen Sinne zu werden, also heterosexuell." "Man wächst in diese Anti-Homosexuellen-Haltung hinein" Die homosexuellen Neigungen sollten als minderwertig bekämpft werden. Kupper, der in einer freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen war[*], setzte auf die vermeintliche Heilung. "Damals war ich davon sehr überzeugt, dass das funktioniert. Man wächst ja in diese Anti-Homosexuellen-Haltung hinein, und dann ist es fast logisch, was dort als Lösung angeboten wird. Dann habe ich nach ein paar Jahren festgestellt, dass es nicht funktioniert", sagt Kupper. Gerhard Kupper hat seine Homosexualität lange verdrängt und verheimlicht. Er hat geheiratet, hat zwei Kinder, war in der freikirchlichen Gemeinde voll integriert. Er hat lange gebraucht, bis er sich zu seiner Homosexualität bekennen konnte. Sein Coming-out führte zum Ausschluss aus der Gemeinde, die Ehe ging in die Brüche, Freunde wandten sich ab. "Ich hatte dann aufgrund dieses Psycho-Programmes und der Einbindung in das gesamtreligiöse Konzept - das hat dann ganz tiefe Spuren hinterlassen, und ich habe einige Jahre gebraucht mit psychologischer Hilfe, dass ich da überhaupt mit klar komme", sagt Kupper. Tendenziöse Beratung Auch Uwe Heimowsky hält nichts von den traditionellen Konversionstherapien. Er ist der politische Repräsentant der Deutschen Evangelischen Allianz, einem Netzwerk evangelikaler Christen. Er weiß, dass evangelikale Vereine unter dem Verdacht stehen, diese Therapien anzubieten. "Es gibt mit Sicherheit Gemeinden, die sagen: Homosexualität ist Sünde", sagt Heimowsky. "Daraus aber abzuleiten, dass sie auch Homosexualität als Krankheit und therapierbar verstehen, das halte ich für schwierig. Ich kenne keine einzige Einrichtung, die sagt: Deine Homosexualität ist ein Krankheitsbild und wir wollen dich behandeln." Vielleicht würden – so die Theologin Kerstin Lammer - die christlich-fundamentalistischen Anbieter nicht mehr von Homosexualität als Krankheit und von "Heilung" sprechen. Sie würden sich heute "geschickter tarnen", meint die evangelische Theologieprofessorin: "In ihren öffentlichen Diskussionsbeiträgen verwenden sie politisch korrekte Begriffe wie ‚Die Therapie soll in Krisen die Persönlichkeit stärken; sie soll ergebnisoffen sein‘, aber wir wissen aus Berichten Betroffener und aus Handreichungen, die diese Organisationen an Eltern gleichgeschlechtlich liebender Jugendlicher richten, wie tendenziös sie eingestellt sind und beraten", so Lammer. "Da wird Stimmung gemacht" Die Stiftung Magnus Hirschfeld geht davon aus, dass in Deutschland, dass heute noch rund 1.000 Menschen jährlich eine sogenannte Konversionstherapie machen. Uwe Heimowsky hält die Zahl für zu hoch gegriffen: "Das deckt sich in keiner Weise mit meinen Erfahrungen und das sind vollkommen willkürliche Zahlen. Da wird Stimmung gemacht", sagt Heimowsky. Zu den Anbietern zählen laut Kerstin Lammer vor allem das Institut für dialogische und identitätsstiftende Seelsorge und Beratung – besser bekannt unter dem alten Namen Wuestenstrom - und das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft in Reichelsheim im Odenwald. Dieses evangelikale Institut ist Mitglied im Diakonischen Werk der EKD. Dort war in den 90er-Jahren auch Gerhard Kupper. Er beobachtet seitdem die Szene jener Organisationen, die Konversationstherapien anbieten: "Mir ist aufgefallen, dass seit 2016 all diese Gruppierungen, die darauf Bezug nehmen, eine identitätsstiftende Seelsorge zu betreiben und zu beraten, die haben vorher von Heilung gesprochen. Aber inzwischen sprechen sie nur noch von identitätsstiftender Seelsorge und Beratung, wobei sie ja nicht sagen, mit welchen Inhalten sie diese Beratung füllen. Und es bleibt der Verdacht, dass sie das, was früher als Konversionstherapie angeboten wurde, heute in die Beratung integrieren." "Diese Therapien haben massiv schädigende Folgen" Auch wenn die Angebote heute nicht mehr als Konversionstherapie bezeichnet werden – Kerstin Lemmer warnt dennoch davor: "Die Gefahr liegt darin, dass sie suggerieren, Homosexualität sei falsch, schlecht, sei eine Störung, was sie nicht ist. Sie suggerieren den Betroffenen und auch dem sozialen Umfeld diese falsche Einstellung, und die Therapien haben massiv schädigende Folgen." Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). (dpa / Kay Nietfeld) Dem Argument mancher evangelikaler Christen, die Betroffenen würden doch freiwillig die Angebote in Anspruch nehmen, weil sie selbst unter ihrer Homosexualität leiden würden, kann Gerhard Kupper nicht folgen: "Wenn ich in einem solchen religiösen Umfeld groß werde und mir ständig gesagt wird, dass das Sünde ist, dann übernehme ich diese Wertehaltung auch. Und wenn ich feststelle, ich bin homosexuell, dass das zu einem Konflikt führt, ist vollkommen klar." Nicht die Homosexualität sei das Problem, meint Kupper heute, sondern dass sie als sündhaft verteufelt werde. "Eine Frage der Religionsfreiheit" Dennoch warnt Uwe Heimowsky von der Deutschen Evangelischen Allianz davor, die Bundesregierung könnte mit einem Gesetz zum Verbot von Konversionstherapien zu weit gehen. Denn man müsse konservativen Christen zugestehen, dass sie beispielsweise Homosexualität als Sünde betrachten: "Das ist eine geistlich-theologische Bewertung eines bestimmten Sexualverhaltens, das ist eine Frage der Religionsfreiheit", sagt Heimowsky. "Was wir mit Sorge betrachten, ist die Ausgestaltung dieses Gesetzes, wenn dadurch gleichzeitig die Begleitung von Menschen, die eine Veränderung suchen, ausgeschlossen wird. Es gibt Fälle, wo die Sexualität uneindeutig ist. Wenn diese Fälle nicht mehr begleitet werden dürften, das würden wir als Schwierigkeit empfinden." Strafverfolgung: "Signalwirkung ist enorm wertvoll" Kerstin Lammer hält dem entgegen: Die Seelsorger, die solche Menschen begleiten, würden von der eindeutigen Prämisse ausgehen, dass Homosexualität Sünde sei. Deshalb seien evangelikale und freikirchliche Seelsorger voreingenommen und in diesem Bereich ungeeignet: "Sie verstärken, was sie beseitigen wollen, nämlich Identitätskonflikte und Störungen", sagt Lammer. Die evangelische Theologin würde ein Gesetz gegen Konversionstherapien begrüßen. Allerdings: "Auf der Ebene der Ahndung von Anbietern wird es wahrscheinlich eine geringe Zahl an Verurteilungen geben, aber die öffentliche Signalwirkung ist enorm wertvoll", so Lammer. "Dass öffentlich klar gemacht wird: Homosexualität ist nicht krank, ist nicht falsch, aber dagegen vorzugehen ist falsch und gesetzeswidrig." [*] Diese Formulierung hat beim "Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland KdöR (FeG)" den Eindruck erweckt, dass Herr Gerhard Kupper in einer freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen sei, die zum Bund Freier evangelischer Gemeinden gehört. Richtig ist, dass die Gemeinde, in der Herr Kupper aufgewachsen ist, zum "Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R." gehört.
Von Michael Hollenbach
Die sexuelle Identität eines Menschen ändern, aus Homosexuellen Heterosexuelle machen - das versprechen sogenannte Konversionstherapien. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will sie verbieten. Einige Theologen jubeln, andere warnen.
"2019-08-22T09:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:07.662000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/homosexuelle-und-kirchen-konversionstherapien-sollen-100.html
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Der gefährliche Traum vom besseren Leben
Kinder protestieren am 13. August 2014 in Los Angeles gegen die Einwanderungspolitik der USA. (AFP PHOTO / Mark Ralston) Ein Armenviertel irgendwo in Guatemala. Unasphaltierte, enge, dreckige Straßen – Bretterbuden. Sara schneidet sich die Haare kurz, bindet sich die Brüste ab, zieht sich als Junge an, nimmt eine Pille zur Empfängnisverhütung. Sara will in die USA, den Tausende Kilometer weiten, gefährlichen Weg durch Mexiko. Und sie weiß, was ihr als Mädchen passieren kann. So beginnt "La Jaula de Oro", "Der Goldene Käfig", ein vielfach preisgekrönter Film des spanisch-mexikanischen Regisseurs Diego Quemada-Díez. Sara und Juan, die Protagonisten des Films, machen sich auf die Reise von Guatemala-Stadt in Richtung USA. Mit dem Bus, zu Fuß, auf Güterzügen. Die Jugendlichen im Film sind keine Schauspieler, sie stammen aus den Armenvierteln Zentralamerikas, haben selber versucht, die USA zu erreichen. Quemada-Díez hat Hunderte Jugendliche kennengelernt, ihre Erfahrungen sind ins Drehbuch eingeflossen. "Das war sehr gefährlich. In all diesen Barrios, diesen Armenvierteln, gibt es täglich Schießereien und Tote. Allein seit wir unseren Protagonisten kennen gelernt haben, sind bis jetzt sieben seiner Freunde ermordet worden, alle um die 15 Jahre alt. Im Film geht es darum, ihnen eine Stimme zu geben, den Migranten, vor allem den Jugendlichen. Es geht um junge Menschen, die heute kaum eine Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Und wir wollen zeigen, was für eine Welt wir unseren Jugendlichen anbieten." "Sie töten die ganze Familie, sogar die Babys" Ein anderes Armenviertel, diesmal in Honduras, in der Industriestadt San Pedro Sula. Es ist einer der gefährlichsten Städte der Welt. Deshalb verlassen viele Menschen und vor allem die Jugendlichen ihre Heimat. Elisa Sánchez ist Sprecherin einer lokalen Müttervereinigung: "Sie flüchten vor familiären Problemen und vor der Armut, aber viele fliehen auch vor den Maras, den gefährlichen Jugendbanden, die sie zwingen für die Drogenkartelle und Auftragsmorde zu begehen. So sieht die Realität hier aus. Und all die Leute, die hier ein kleines Geschäft haben, zum Beispiel einen Kiosk, müssen eine sogenannte Kriegssteuer an die Banden zahlen. Und wenn man das nicht kann, dann kommen sie und töten die ganze Familie, sogar die Babys. Deshalb denken diese Leute, es ist besser zu fliehen, auch wenn das lebensgefährlich ist, denn wenn sie hier bleiben, werden sie auf jeden Fall getötet." Hier im Barrio in San Pedro Sula ist auch José aufgewachsen. Der heute Zwanzigjährige mit dem Cowboyhemd und den kurz geschnittenen Haaren hat schon mit sieben Jahren versucht, in die USA zu gelangen: "Obwohl wir von den Gefahren wussten, sind wir weg von hier, haben uns auf einen Weg gemacht, den wir nicht kannten. Und das hat uns den schlimmsten Albtraum unseres Lebens beschert. Wir haben den Zug genommen. 20 Tage und Nächte hat das gedauert. Durst, Hunger, Kälte, Überfälle, Verfolgung, du musst in den Bergen schlafen, damit du sicher vor Maras und der Polizei bist. Es ist nachts so kalt, dass Du dich mit den anderen Migranten zusammen hockst, Dich umarmst, um nicht zu erfrieren. Du leidest unbeschreiblich. Und du siehst, wie die Mädchen vergewaltigt werden, Jugendliche vom Zug fallen und wie andere entführt werden, um deren Familie zu erpressen." Im Film, der Goldene Käfig, hat sich Juán und Sara inzwischen auch Chauk angeschlossen. Er ist ein Tzotzil-Indianer, der kein Spanisch spricht. Sie überqueren den Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko und springen schließlich auf die Bestie. So nennen die Migranten den Güterzug, der immer wieder Tote und Schwerverletzte fordert – weil völlig erschöpfte Menschen unter die Räder kommen oder weil Mitfahrende, die kein Wegegeld zahlen können, bei voller Fahrt rausgeschmissen werden. "Alle machen Geschäfte mit den Migranten" Juan, Sara und Chauk werden von der Polizei, von Soldaten und bewaffneten, erpresserischen Banden drangsaliert, ausgeraubt, misshandelt. Verbrecher und sogenannte Sicherheitskräfte, das macht hier keinen Unterschied. Sara fällt schließlich Menschenhändlern in die Hände, wie so viele Mädchen, die statt in die USA zu gelangen, in irgendeinem Bordell zur Sexarbeit gezwungen werden. Immerhin gibt es ein paar Zufluchtsorte auf dem Weg. Einer ist zum Beispiel die Unterkunft "Hermanos en el Camino", sie bietet auf halben Weg zwischen der guatemaltekischen Grenze und Mexiko-City den Migranten auf ihrem Weg ein Dach über dem Kopf an. Gegründet wurde die kirchliche Einrichtung von Pater Solalinde. In Hochzeiten kommen 4.000 Migranten im Monat vorbei. Pater Solalinde redet Klartext: "Hier in Mexiko machen alle Geschäfte mit den Migranten: die Polizei, die Migrationsbehörden, die organisierte Kriminalität, die Zugführer. Diese Geschäfte sind die Folgen des neoliberalen Kapitalismus. Ein System ohne Gefühle, Seele oder Herz. Die Migranten trifft das ganz besonders. In ihren Herkunftsländern haben sie immer weniger Perspektiven und wenn sie nach Mexiko kommen, werden sie misshandelt. Allein 10.000 Migranten sind verschwunden. Der Weg der Migranten durch Mexiko ist wie ein einziger Friedhof. Und wenn sie es bis in die USA schaffen, werden sie dort als billige Arbeitskräften ausgenutzt. Und was passiert mit den Kindern, die man zurückgeschickt? Der erste, den sie nach El Salvador zurückgeflogen haben, war ein elfjähriger Junge. Denn haben dort dann die Maras getötet und in Stücke zerhackt der Familie übergeben." Und dann müssen sie wieder zurück Im Film schaffen es Juán und Chauk bis über die Grenze in die USA. Doch dann fällt ein Schuss. Chauk fällt in der Halbwüste tot zu Boden, von einem Scharfschützen ermordet. Migranten sind hier Freiwild. Auch das ist gehört zur Realität. Nur Juán schafft es bis in irgendeine Stadt und findet einen harten Job in einer Schlachterei. Die meisten Migranten schaffen es nicht bis in die USA. In Nuevo Laredo, der nordmexikanischen Stadt am Grenzfluss Rio Bravo, sitzen Hunderte Migranten in Abschiebelagern fest. Sie alle werden wieder zurückgeschickt, in die gewalttätigen Armenviertel von Honduras, Guatemala oder El Salvador. Ohne jede Perspektive. Francis zum Beispiel, er ist gerade 18 geworden, wartet seit Wochen auf seine Abschiebung. "Ich habe Angst nach Hause zu kommen, anderseits möchte ich meine Familie wiedersehen. Doch es ist schon sehr hart, nach Honduras zurück zu müssen. Und dann wird man vielleicht nochmal den ganzen Weg versuchen, ich weiß es nicht. Wenn sie dich so kurz vor dem Ziel schnappen, nach so vielen Kosten, Schmerzen und Entbehrungen, das fühlt sich schlimm an." Der Exodus in Richtung USA und Kanada, er wird trotz der Abschiebungen und trotz der Gefahren nicht abbrechen – angesichts der Gewalt, der Armut, der Perspektivlosigkeit in Zentralamerika und in weiten Teilen Mexikos.
Von Markus Plate
Ihre Heimat bietet keine Perspektive, Kinder und Jugendliche aus vielen Ländern Mittelamerikas wollen deshalb in die USA. Doch auf dem Weg lauern große Gefahren, nicht selten werden die Migranten wie Freiwild behandelt. Und selbst wenn sie ihr Ziel erreichen, finden sie kein Glück.
"2015-01-02T00:00:00+01:00"
"2020-01-30T12:15:06.231000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mittelamerika-der-gefaehrliche-traum-vom-besseren-leben-100.html
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"Wir müssen die Dienstaufsicht verbessern"
Bundesanwaltschaft und Bundeswehr ermitteln: Oberleutnant A. hatte eine Doppelidentität, eine rechtsextreme Gesinnung, die auffiel, jetzt gab es Munitionsfunde in seinem Umfeld. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert) Christiane Kaess: Die Wehrmacht sei in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr. Dass die Verteidigungsministerin das klarstellen muss, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, das zeigt schon, wie tief das Entsetzen sitzt über den Fall des rechtsextremen Bundeswehrsoldaten Franco A., der ein Doppelleben als syrischer Flüchtling führte und einen Anschlag geplant haben soll. Seitdem er aufflog, ist die Verteidigungsministerin im Krisenmodus. In der Bundeswehr ist man sauer über ihre Kritik an der Truppe, die vielen zu pauschal war, und aus der Opposition heißt es, Ursula von der Leyen betreibe jetzt Selbstinszenierung. Um den Fall des terrorverdächtigen Franco A. kommen immer mehr Einzelheiten ans Licht. Darüber sprechen möchte ich mit Henning Otte. Er ist verteidigungspolitischer Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag. Guten Morgen, Herr Otte. Henning Otte: Guten Morgen, Frau Kaess. "Die Tatsache allein, dass tausend Schuss Munition fehlen" Kaess: Wir haben es gehört: Bei einem mutmaßlichen Komplizen von Franco A. ist Munition aus Bundeswehrbeständen gefunden worden. Können Sie erklären, wie so etwas passieren kann? Otte: Das kann ich mir nicht erklären. Aber dass die Tatsache stimmt und dass das tausend Schuss sein sollen verschiedenen Kalibers zeigt, wie brisant die Sache ist und dass es richtig war, dass die Leitung des Bundesverteidigungsministeriums dies deutlich angesprochen hat. Kaess: Und das zeigt auch, dass man offenbar keine Kontrolle über die Munition bei der Bundeswehr hat. Otte: Wie das im Einzelfall sich vollzogen hat, muss man prüfen. Offensichtlich gab es dort ein Sonderschießen. Ob die Munition dann verschossen worden ist oder beiseite geräumt, das gilt es zu klären. Kaess: Was heißt Sonderschießen? Otte: Dass eine Schießübung durchgeführt worden ist und hierbei Munition verbraucht worden ist, oder der Anschein erweckt worden war, dass Munition verbraucht worden sei, was am Ende nicht stimmt. Das muss geprüft werden. Die Tatsache allein, dass tausend Schuss Munition fehlen, berechtigt, die Untersuchung durchzuführen, wie die Ministerin dies auch angeregt hat. Kaess: Aber das heißt, wenn ich das richtig verstehe, bei so einem Sonderschießen, da wird unkontrolliert Munition ausgegeben. Das ist üblich so, oder wie muss man sich das vorstellen? Otte: Nein, das ist überhaupt nicht üblich. Hier hat offensichtlich die Dienstaufsicht nicht funktioniert und dieser Punkt muss angesprochen werden. Das reiht sich ein in diesen Vorfall Oberleutnant A., eine Doppelidentität, ein unberechtigter Waffenbesitz, jetzt Munitionsfunde im Umfeld. Also hier ist ganz klar, die Bundesanwaltschaft ermittelt, die Bundeswehr ermittelt, und das ist gut. "Hier sind klar rechtsradikale Strömungen festgestellt worden" Kaess: Was werden Sie in Ihrer Position mit dieser Information jetzt anfangen? Otte: Es ist so, dass wir zu jeder Zeit als Sprecher im Parlament unterrichtet werden, zum Schluss jetzt Dienstagabend. Das Ministerium hat gesagt, wir werden weiterhin telefonisch unterrichtet. Also wir sind hier gut aufgeschaltet. Aber hier muss man erst mal die Ermittlungen abwarten. Kaess: Aber nach allem, was bekannt ist, Herr Otte, war es ja so, was vorher schon an Informationen auf den Markt gekommen ist, dass die rechtsradikale Einstellung von Franco A. von Vorgesetzten zumindest heruntergespielt wurde. Haben Sie denn schon herausgefunden im Verteidigungsausschuss, wer das war? Otte: Es ist ja die Masterarbeit untersucht worden. Hier sind klar rechtsradikale Strömungen festgestellt worden. Und hier hat man dann Franco A. eine zweite Chance gegeben. Das ist zu verurteilen, das hätte angesprochen werden müssen, das hätte gemeldet werden müssen, und hier ist jetzt ein Verwaltungs-Ermittlungsverfahren eingeleitet worden gegen den damaligen entsprechenden Dienstvorgesetzten. Kaess: Das heißt, die Verantwortlichen sind klar zu benennen? Otte: Die Verantwortlichen sind klar zu benennen und das wird auch angesprochen, ganz klar. "Das ist hier ein Einzelfall" Kaess: Und welche Konsequenzen wird das für die jetzt haben? Otte: Das muss man sehen. Das kann ich am Telefon nicht beurteilen. Das muss nachher der Bericht im nächsten Verteidigungsausschuss deutlich machen. Das wäre jetzt ein Schuss ins Dunkle. Kaess: Franco A. ist seit Jahren mit diesem rechtsextremen Gedankengut aufgefallen. Auch das wissen wir mittlerweile. Aber mehr als Verwarnung hat es nicht gegeben. Im Fall dieser Munitionsentwendung haben Sie jetzt gerade gesagt, da hat die Dienstaufsicht versagt. Für welche Mentalität in der Bundeswehr spricht das eigentlich? Otte: Das spricht für keine allgemein verbindliche Mentalität. Das ist hier ein Einzelfall, der genau Kaess: Ein Einzelfall, wenn wir jetzt schon so viele verschiedene Fälle in diesem einzelnen Fall haben? Otte: Nein! Es geht immer um den Oberleutnant A. "Vielleicht ein Mehr-Augen-Prinzip einführen" Kaess: Aber es geht um verschiedene Vorgesetzte, die offenbar ihre Pflicht nicht erfüllt haben. Otte: Das kann ich nicht so bestätigen. Es gibt einen Dienstvorgesetzten, der die klare Radikalität in der Masterarbeit nicht entsprechend gewertet hat. Hier hätte man ein klares Stopp sagen müssen. Das ist nicht passiert und dagegen wird jetzt ermittelt auch. Kaess: Und es ist mehreren schon aufgefallen, dass Franco A. seit Jahren rechtsextremes Gedankengut pflegt, und bei der Munitionsentwendung, also eine weitere Geschichte in der Geschichte, haben Sie jetzt gerade selber gesagt, da hat die Dienstaufsicht versagt. Das sind doch schon mehrere Vorgesetzte, die versagt haben. Otte: Das zeigt ja gerade, dass dieser Fall genau untersucht werden muss, dass man nicht wegschauen darf, dass man es nicht verniedlichen darf und dass wir uns überlegen müssen bei der Wehrdisziplinarordnung, welche Änderungen müssen wir durchführen, vielleicht ein Mehr-Augen-Prinzip einführen. "Der übergroße Anteil der Bundeswehr leistet einen tadellosen Dienst" Kaess: Würden Sie der Verteidigungsministerin recht geben, wenn sie sagt, die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem und Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen? Otte: Die Bundesministerin hat in der Führungskräfte-Veranstaltung gestern ganz deutlich klargestellt, dass der übergroße Anteil der Bundeswehr – das ist eine Viertel Million Frauen und Männer – einen tadellosen Dienst leisten, dass aber, wenn im Einzelfall Fehlleistungen sind, dies nicht das Bild der Bundeswehr bestimmen darf, sondern es muss genau da hingeguckt werden, es müssen die Ermittlungen durchgeführt werden und es müssen auch die Dinge klar angesprochen werden, und das macht sie. "Was die Frau Ministerin macht, ist richtig" Kaess: Dennoch ist sie heftiger Kritik ausgesetzt. Warum kommt da eigentlich so wenig Unterstützung aus der eigenen Partei? Otte: Weil wir sagen, dass was die Frau Ministerin macht, ist richtig. Sie darf nicht wegschauen, sie muss das ansprechen. Die Opposition und insbesondere unser Koalitionspartner macht hier einen großen Auftrieb, kurz vor der Landtagswahl, verniedlicht die Rechtsradikalität. Dass die SPD auf dem linken Auge politisch blind ist, da hat man den Anschein. Aber dass sie jetzt auch auf dem rechten Auge blind ist, das verstehe ich nicht. Kaess: Diese Stimmen gibt es ja genauso aus der CDU. Ich nenne mal eine: Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl, der hat auch von der Leyen kritisiert und das, was sie gesagt hat, der Fall Franco A. zeige offenbar ein grundsätzliches Problem bei der Bundeswehr. Und Strobl sagt dazu, das ist nicht die Bundeswehr, die ich kenne, sondern das sind einzelne Fälle, die muss man aufklären, aber wir haben mit der Bundeswehr eine gute Truppe. Das hört sich anders an als das, was die Verteidigungsministerin sagt. Otte: Nein. Die Verteidigungsministerin sagt sehr deutlich, der übergroße Anteil leistet einen tollen Dienst, und dort, wo Verfehlungen im Einzelfall sind, muss dies angesprochen werden und vor allem muss angesprochen werden, dass wir die Dienstaufsicht hier verbessern müssen. Das stärkt die Truppe nach innen wie nach außen. "Ich sehe keine Gefahr im Verzuge" Kaess: Aber ist die Union da vielleicht etwas unkritisch mit der Bundeswehr, wenn selbst der Generalinspekteur Volker Wieker davon spricht, dass die Selbstreinigungskräfte in der Bundeswehr unzureichend sind? Otte: Die Union ist nicht unkritisch, aber sie ist sachlich. Sie macht nicht mit beim Klamauk, sondern sie sagt, das muss ordentlich aufgeklärt werden, hier müssen notwendige Konsequenzen gezogen werden, und dann muss vor allem wieder Ruhe in die Bundeswehr kommen. Kaess: Jetzt fordern Grüne und Linke, dass Verteidigungsministerin von der Leyen im Verteidigungsausschuss befragt werden soll, um so herauszufinden, ob Fehler schon früher gemacht worden sind. Unterstützen Sie das? Otte: Ich unterstütze, dass das Bundesverteidigungsministerium einen Bericht abgibt in der nächsten ordentlichen Verteidigungsausschuss-Sitzung. Aber jetzt eine Sondersitzung zu fordern, halte ich für nicht notwendig. Es gibt keine Beschlussnotwendigkeit. Die Sprecher aller Fraktionen sind zu jeder Zeit umfassend informiert, der parlamentarische Kontrollrat, und ich sehe keine Gefahr im Verzuge. "Dem Wehrbeauftragten ist offensichtlich nichts aufgefallen" Kaess: Aber es stellt sich ja schon die Frage, ob die Verteidigungsministerin nicht schon früher etwas hätte tun müssen gegen rechtsextreme Tendenzen in der Bundeswehr. Otte: Auf der einen Seite wirft man ihr vor, sie sei zu aktiv; auf der anderen Seite wirft man ihr vor, sie hätte früher reagieren müssen. Kaess: Das ist jetzt meine Frage an Sie. Wie sehen Sie es denn? Otte: Ich sehe es so, dass sie unmittelbar nach Kenntnis der Sachlage reagiert hat. Ich darf mal darauf hinweisen: Der Wehrbeauftragte war schon am 5. April am Standort Illkirch. Dem ist offensichtlich nichts aufgefallen. Da hätte ich auch sofort mal eine Information an das Parlament erwartet. Kaess: … sagt Henning Otte. Er ist verteidigungspolitischer Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen. Otte: Danke schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Henning Otte im Gespräch mit Christiane Kaess
Der mutmaßlich rechtsextreme Oberleutnant Franco A. soll 1000 Schuss Munition entwendet haben. Das Verteidigungsministerium hat daher nun auch Ermittlungen gegen dessen Vorgesetzten eingeleitet. "Hier hat die Dienstaufsicht nicht funktioniert ", sagte Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, im DLF. Die Verantwortlichen müssten nun klar benannt werden.
"2017-05-05T07:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:25.792000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ermittlungen-bei-der-bundeswehr-wir-muessen-die-100.html
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Die Legende vom unwissenden Zeitzeugen Albert Speer
Erstaunlicherweise kam Albert Speer mit seinen Erzählungen davon, obwohl er mit seinem rücksichtslosen Einsatz und Durchsetzungsvermögen eine nationalsozialistische Funktionselite repräsentierte. (picture alliance / dpa) "Herr Präsident, meine Herren Richter! Hitler und der Zusammenbruch seines Systems haben eine ungeheure Leidenszeit über das deutsche Volk gebracht.", erklärte Albert Speer in seinem Schlusswort am 31. August 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. "Die Welt aber wird aus dem Geschehenen lernen, die Diktatur als Staatsform nicht nur zu hassen, sondern zu fürchten." Bereits in den Vernehmungen zuvor war der ehemalige Rüstungsminister als reuiger Sünder aufgetreten. Er hatte sich zur allgemeinen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannt, jedoch seine eigene Rolle verharmlost und eine konkrete Mittäterschaft an den Gräueltaten des Regimes geleugnet. Speer schlüpfte gewissermaßen in die Rolle des eher unbeteiligten Zeitzeugen. Das rettete ihn möglicherweise vor dem Tod durch den Strang. Er kam mit 20 Jahren Haft davon. Wie der Historiker Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, in einer großen, beeindruckenden Biographie schreibt, versetzte sich Albert Speer mit der Legende vom unwissend-arglosen Bürger auf die schuldfreie Seite der Geschichte. "Auf der anderen standen die ungehobelten Parteimänner mit ihrem lauten Benehmen und den groben Visagen. Das waren 'die Nazis'. Irgendwie war er in deren Nähe geraten. Mit den dunklen Seiten des Dritten Reiches hatte der bürgerliche Speer kaum etwas gemein." Erstaunlicherweise kam Speer mit seinen Erzählungen davon, obwohl er mit seinem Ehrgeiz und Organisationstalent, seinem rücksichtslosen Einsatz und Durchsetzungsvermögen eine nationalsozialistische Funktionselite repräsentierte, die bis in höchste Kreise aufstieg, im Falle Speers sogar an die Seite Hitlers. Der Rüstungsminister verfügte über eine Kriegsmaschinerie, wie sie, so Brechtken, in der Weltgeschichte zuvor noch nicht eingesetzt worden war. "Speer sorgte für die Verlängerung des Krieges um Jahre, opferte dabei unzählige Menschen, um den Sieg des Nationalsozialismus zu erreichen, und sah sich in der Endphase des Krieges sogar ernsthaft als möglicher Nachfolger Hitlers." Wie die Täuschung gelang Wie konnte jemand, der freiwillig und zielstrebig die Ziele des NS-Regimes verfolgte, nach 1945 zum "guten Nazi" mutieren? Möglich war dies, weil Albert Speer als einziger aus der einstigen Führungsriege eine vage "Kollektiv-Verantwortung" übernahm und wichtige Dokumente zu den Verbrechen des NS-Regimes in der Nachkriegszeit noch nicht bekannt waren. So konnte Speer im Nürnberger Prozess zu den Arbeitsbedingungen in dem unterirdischen Rüstungswerk Mittelbau-Dora unwidersprochen behaupten, dort hätten einwandfreie Verhältnisse geherrscht - vergleichbar mit einer Nachtschicht in einem normalen Betrieb, mit Frischluft und gutem Licht. "Nichts davon, dass wusste Speer aus eigener Anschauung, entsprach auch nur im Entferntesten der Wahrheit." Von den in Mittelbau-Dora eingesetzten 60.000 KZ-Häftlingen kam ein Drittel ums Leben. Ähnlich geschickt setzte Speer in Nürnberg die Märchen in die Welt, er sei in das Attentat vom 20. Juli 1944 eingeweiht gewesen und habe geplant, gegen Ende des Krieges Giftgasgranaten in den Luftschutzbunker der Reichskanzlei zu werfen. "Tatsächlich war Speer zu keinem Zeitpunkt in die Pläne und Handlungen des Widerstandes gegen Hitler involviert. Er hat auch zu keinem Zeitpunkt selbst ein Attentat auf Hitler vorbereitet, wie er später behauptet hat, zunächst in einigen geschickten Aussagen im Nürnberger Prozess, dann in unzähligen Interviews und Erinnerungstexten." So zerpflückt Magnus Brechtken minutiös und schonungslos eine Behauptung nach der anderen und dekonstruiert Speers geschickt aufgebautes Lügengebilde. Was der Autor offen lässt ist, ist die Frage, ob Albert Speer am Ende nicht selber seinen zahllosen Legenden Glauben schenkte? Das dankbare Publikum Die deutsche Nachkriegsgesellschaft aber griff seine Erzählungen dankbar auf. Speer, der sich vor 1945 gerne an vorderster Front hatte ablichten lassen, vornehmlich in Uniform und an der Seite Hitlers, wurde nach 1945 der Deutschen liebster Zeitzeuge. "Er war repräsentativ für eine Vielzahl seiner Mitbürger. 'Die Nazis', das waren nach dem 8. Mai 1945 plötzlich 'die Anderen'. Er entwickelte sich zum prominentesten, eifrigsten und erfolgreichsten Protagonisten der Ablenkungserzählung: Ein Edel-Nazi mit Reue-Garantie. Das wiederum machte ihn zur idealen Projektionsfigur für die vielen kleineren und größeren einstmals Engagierten, die nun ebenfalls nichts mehr wissen wollten vom eigenen Anteil am Funktionieren der Herrschaft." Selbst ein kritisches Nachrichtenmagazin wie "Der Spiegel" erschien Ende September 1966, als Speer nach 20 Jahren Haft aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis entlassen wurde, mit einer Titelgeschichte über "Hitlers Freund und Gegner Albert Speer", der ein "unvorstellbares deutsches Rüstungswunder" vollbracht und sich "zum mächtigsten Gegner Hitlers" gewandelt hätte. Die "Entnazifizierung" des Nazis Albert Speer erfolgte unter tatkräftiger Mitwirkung des Verlegers Wolf Jobst Siedler und des Lektors Joachim Fest, des späteren FAZ-Herausgebers und Hitler-Biographen. Die beiden fungierten als "ideale Mitkonstrukteure für Speers Fabelgeschichten", so Brechtken. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Memoirenbände "Erinnerungen" und "Spandauer Tagebücher" fanden ein dankbares Publikum und wurden zu Bestsellern. Unkritische Historiker und andere Helfershelfer Kaum jemand prüfte den Wahrheitsgehalt. Der Historikerzunft attestiert Magnus Brechtken "langwährendes Unvermögen im Umgang mit Speer". So musste dieser keine kritischen Nachfragen fürchten, als ihn Joachim Fest im Oktober 1969 im Fernsehen interviewte. "Sie waren einer der einflussreichsten Minister in der Zeit des Dritten Reiches, haben Sie je den Namen Auschwitz in dieser Zeit gehört?" - "Ich habe ihn nicht direkt gehört. Ich bin dieser Frage ausgewichen mit dem Gefühl, dass es sich hier um eine ganz ungeheuerliche Angelegenheit handelt." Tatsächlich hatte der Reichsminister 1942 13,7 Millionen Reichsmark für die Vergrößerung des Lagers Auschwitz bewilligt. Am Ende bleibt Magnus Brechtken in seiner kritischen und sehr lesenswerten Biographie nur das Staunen über die Naivität vieler Zeitgenossen und auch mancher Historiker, die Speers Erzählungen ungeprüft Glauben schenkten, weil sie ihm glauben wollten. Magnus Brechtken: "Albert Speer. Eine deutsche Karriere"Siedler Verlag, München 2017, 910 Seiten, 40 Euro
Von Otto Langels
Zum "Edel-Nazi mit Reue-Garantie" habe sich Albert Speer nach 1945 selbst stilisiert, mit Unterstützung großer Teile der Nachkriegsbevölkerung. Der Historiker Magnus Brechtken nimmt den Rüstungsminister und Chefarchitekten des NS-Regimes genau unter die Lupe - vor allem die spätere Darstellung seiner Rolle im Dritten Reich.
"2017-08-16T19:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:10.415000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ns-geschichte-die-legende-vom-unwissenden-zeitzeugen-albert-100.html
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Verschärfung des Asylrechts tritt in Kraft
Inger Stojberg, Dänemarks Ministerin für Integration, will, dass deutlich weniger Menschen nach Dänemark kommen. (dpa/picture alliance/Claus Bech) Dass die im Juni gewählte dänische Regierung herumeiert, kann man ihr nun wirklich nicht vorwerfen. Mit der heute in Kraft tretenden Reform, die die Leistungen für Asylbewerber drastisch kürzt, sagt Integrationsministerin Inger Stojberg, verfolge man ein klares Ziel: Es sollen deutlich weniger Menschen nach Dänemark kommen: "Wir müssen tun, was wir können, um den massiven Zustrom von Asylbewerbern nach Dänemark zu stoppen. Und ich bin der Meinung, dass Kürzungen bei den Sozialleistungen es bei den Schleppern weniger attraktiv macht, Dänemark zu wählen." Massiver Zulauf, das hieß für dänische Verhältnisse im vergangenen Jahr: 15.000 Asylanträge, rund doppelt so viel wie 2013. Setzt man das ins Verhältnis zum nach Einwohnerzahl 16 Mal größeren Nachbarn Deutschland, kommt man auf eine Zahl von 240.000. Deutlich weniger als in Schweden, aber allemal ausreichend, um daraus ein Wahlkampfthema zu machen, das noch immer die politische Auseinandersetzung beherrscht. Dass es in der Bevölkerung Unterstützung für die jetzt geltenden Reformen gibt, zeigte das Ergebnis vom Frühsommer. Die dänische Volkspartei legte stark zu, wurde mit 21 Prozent zweitstärkste Kraft. Sie unterstützt nun die liberale Minderheitsregierung von Ministerpräsident Lars Lokke Rasmussen und erwartet, so ihr Abgeordneter Martin Henriksen, weitere Schritte, um die Zuwanderung zu bremsen: "Das ist ein guter Anfang, aber wir müssen natürlich noch mehr im Asylbereich machen und die Regeln weiter verschärfen. Wir erwarten, dass wir uns wieder zusammensetzen und weitere Verschärfungen einführen." Rotes Kreuz: Armut schafft das Gegenteil von Integration Bisher konnte ein Alleinstehender ohne Kinder monatlich mit einer finanziellen Unterstützung von umgerechnet 1450 Euro rechnen. Klingt großzügig, nur werden im teuren Dänemark noch die hohen Steuern abgezogen. Nach der Reform sind es nur 800 Euro vor Steuern, wer einen Sprachtest für Fortgeschrittene besteht, bekommt 200 Euro monatlich extra. So will der Staat jährlich rund 150 Millionen Euro einsparen, was bei Oppositionspolitikern wie Morten Östergaard stärkstes Unwohlsein hervorruft: "Mir dreht sich alles um, wenn ich sehe, wie sich eine Ministerin und eine willige Mehrheit hinstellt und behauptet, dass Menschen, die vor Bomben fliehen und ihr Leben aufs Spiel setzen, es deswegen tun, weil es hier so hohe Sozialleistungen gibt. Es ist eine Schande, so zu argumentieren." Auch Anders Ladekarl vom dänischen Roten Kreuz hält die Argumente der Regierung für nicht überzeugend: "Es gibt keine Untersuchung, die belegen, dass Sozialhilfen einen Einfluss darauf haben, wo die Menschen Asyl suchen. Keiner weiß also, ob die Politik der Regierung die Zahl der Asylbewerber beeinflusst. Wir wissen nur, dass sie zu mehr Armut führt." Armut, so fährt Ladekarl fort, treibe die Menschen in die Isolation und schaffe das Gegenteil von Integration. Die dafür zuständige Ministerin Inger Stojberg gibt sogar zu, dass es ihr darum auch gar nicht gehe. Auch die möglichen oder tatsächlichen Einsparungen stünden bei der Reform nicht im Vordergrund: "Für mich geht es hier nicht nur um Kronen und Öre, also die Staatausgaben, sondern in hohem Maße darum, das Dänemark zu bewahren, das wir kennen."
Von Albrecht Breitschuh
Die dänische Regierung will die Zuwanderung stark begrenzen. Sie hat bereits Leistungen für Asylbewerber gekürzt, um ihnen keinen Anreiz zu bieten, ins Land zu kommen. Die Opposition spricht von einer Schande und auch vom Roten Kreuz kommt Kritik.
"2015-09-01T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:57:04.739000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/daenemark-verschaerfung-des-asylrechts-tritt-in-kraft-100.html
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Die etwas andere Wirtschafts-Weise
Anny Hartmann bei "Zingsheim braucht Gesellschaft", 2019 (ton&bilk) In ihrem aktuellen Programm "NoLobby is perfect" zeigt die in Köln lebende Kabarettistin, dass sie weiß, wovon sie spricht: Anny Hartmann ist studierte Volkswirtin mit nur knapp überwundenem Sparkassen-Trauma. Stets sauber recherchiert, seziert sie punktgenau den Einfluss, den die Wirtschaft mithilfe ganzer Lobbybrigaden auf Politik und Gesellschaft ausübt. Und damit die Zahlenkolonnen nicht zu trocken daherkommen, wischt sie gerne auch mal feuchtfröhlich durch, auch in ihrem hintersinnig-geistvollen Jahresrückblick "Schwamm drüber". Anny Hartmann sagt: "Der Ursprung meines Jobs ist ja eigentlich ein sehr stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn." Darum benennt sie die Ungerechtigkeiten in Klartext: Gesetzestexte, die von wirtschaftsnahen Anwaltskanzleien geschrieben werden; die "freiwillige Selbstverpflichtung", die staatliche Eingriffe verhindert; blockierte Vermögens- und Erbschaftssteuer; Standvermietung auf Parteitagen; das EU-geförderte Weißwaschen von Steueroasen; oder gekaufte Seifenopern-Dialoge zur privaten Rentenvorsorge – was Anny Hartmann so alles zutage fördert, erzeugt Kopfschütteln am Rande der Selbstenthauptung. Zudem ist sie eine feminismuskritische Feministin und hat als solche einen Nachteil: Frauen traut man hierzulande politisches Kabarett immer noch nicht zu. Sie hat aber auch einen Vorteil: Frauen traut man hierzulande politisches Kabarett immer noch nicht zu.
Ein Porträt von Luigi Lauer
„Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt”, sagte einst Dieter Hildebrandt. In diesem Raum spielt Anny Hartmann. Sie macht ihn zu ihrem Strafraum, wo sie den Wirtschaftsweisen harte Bälle um die Ohren schießt und willfährigen Politikern kein Foul durchgehen lässt.
"2020-01-29T21:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:47:10.471000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-kabarettistin-anny-hartmann-die-etwas-andere-100.html
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Gewalt ist nur ein Aspekt
Wesentliche Ursprünge der nun entfesselten Energien liegen im späten 19. Jahrhundert. Damals formten sich die ersten Ansätze einer dschihadistischen Bewegung, eines militanten Islamismus. Dieser zog sich in verschiedenen Formen durch das gesamte 20. Jahrhundert. Der IS aktualisiert ihn nun auf hochprofessionelle Weise. Mit der Vorgeschichte des Terrors und dessen politisch-kulturellen Hintergründe hat sich der Islamwissenschaftler Christoph Günther befasst. Er lehrt an der Universität Leipzig und hat kürzlich die Studie "Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des Islamischen Staates Irak" veröffentlicht.In den Kulturfragen sprach Kersten Knipp mit dem Islamwissenschaftler Christoph Günther. Christoph Günthers Forschungsschwerpunkte sind neuzeitliche Reformbewegungen und politische Ideen in der arabisch-islamischen Welt sowie visuelle Kultur und Ikonografie. Das gesamte Gespräch mit Christoph Günthers können Sie in unserem Audio-on-Demand-Bereich mindestens noch fünf Monate nachhören.
Christoph Günther im Gespräch mit Kersten Knipp
Der Islamische Staat verbreitet in Syrien und im Irak weiter Angst und Schrecken. Mit ungeheurer Brutalität geht die Terrorgruppe gegen "Ungläubige" vor. Doch auf welche Traditionen – reale und erfundene – greift der IS zurück? Der Leipziger Islamwissenschaftler Christoph Günther im Gespräch über die Ursprünge der Organisation.
"2014-12-28T17:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:20:56.062000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-urspruenge-des-is-gewalt-ist-nur-ein-aspekt-100.html
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VW präsentiert Zukunftspakt
In fünf Jahren soll etwa jedes vierte oder fünfte VW-Auto mit einem Elektromotor gebaut werden. (imago) In kürzester Zeit soll sich der klassische Autobauer Volkswagen in einen weltweit führenden Anbieter nachhaltiger Mobilität verwandeln. Neue Fertigkeiten sind gefragt - zum Beispiel im Wolfsburger Stammwerk. "Und nach dem Öffnen wird dieses Bauteil immer ersetzt, einfach um die Dichtigkeit der Leistungselektronik zu gewährleisten." Der VW-Konzern schult seine Mitarbeiter im Umgang mit Elektromotoren und Bauteilen, die unter Spannung stehen. Den rund 60.000 Beschäftigten in Europas größter Autofabrik ist schon länger klar: Nur mit Blech verbiegen lässt sich auf Dauer kein Geld mehr verdienen. "Wir gehen davon aus, dass wir in fünf Jahren ungefähr jedes vierte oder fünfte Auto im Endeffekt mit einer Batterie oder mit einem Elektromotor antreiben werden. So Bernd Osterloh in einem Interview Ende August. Der Betriebsratschef, der auch im Aufsichtsrat sitzt, will – besser: muss – an den Wandel glauben. Doch Osterloh betont auch, dass VW noch auf längere Sicht Verbrennungsmotoren brauche, um die Investitionen in die Zukunft zu finanzieren. "Und das bedeutet erst einmal, dass wir gucken müssen, dass wir für die 80 Prozent ... dass es da keine Veränderung gibt - aber natürlich auch gucken, dass die Arbeitsplätze hier in Deutschland bleiben und nicht, dass wir ganz bestimmte Umfänge vielleicht aus dem asiatischen Raum bekommen!" Die Folgen von Dieselgate Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit die Abgasmanipulationen von VW und Audi in den USA aufflogen. Knapp 18 Milliarden Euro hat der Konzern für die juristische Bewältigung des Skandals zurückgestellt. Mit dem US-Justizministerium wird noch verhandelt, auch in Deutschland und zahlreichen Exportländern fordern Autohalter und Aktionäre Schadensersatz. Die Summe wird daher wohl kaum reichen, prophezeit Frank Schwope, Autoanalyst der Nord/LB. "Auch die Kosten der Drei-Liter-Autos stehen natürlich noch nicht fest. Ich gehe momentan von Kosten von 25 bis 35 Milliarden Euro aus, weltweit – und ich glaube, dass diese Spanne eher überschritten als unterschritten wird." Das Geld wird Volkswagen an allen Ecken fehlen. Sparen muss der Konzern auch bei jenen Zukunftsinvestitionen, die notwendig wären, um etwa bei der Digitalisierung, beim autonomen Fahren oder bei der Entwicklung neuer Antriebe voranzukommen. Wenn die Konzernstrategen heute über die Investitionspläne für die nächsten 5 Jahre entscheiden, werden sie einige Budgets kürzen, andere aufstocken – und Vieles neu gewichten. Zwang zur Veränderung Zu hohe Kosten, zu viele Mitarbeiter: Der Zwang zur Veränderung ist vor allem bei der Marke VW groß. Die Kernmarke ist wenig ertragreich, trägt zugleich die Hauptlast von Dieselgate. Ein zentraler Baustein des Sanierungsplans ist der sogenannte "Zukunftspakt". Vorstand und Betriebsrat wollen ihr Übereinkommen heute in Wolfsburg präsentieren. Seit Juni ringt VW-Markenchef Herbert Diess mit Betriebsrat Osterloh um jedes Detail. Das Ziel des Vorstands: Einsparungen von jährlich mehr als drei Milliarden Euro, bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität um 25 Prozent. In welchem Werk werden künftig Autos oder Autoteile gefertigt, wie viel Geld und wie viele Mitarbeiter werden dafür benötigt? Einer gemeinsamen Batteriefertigung mit anderen großen Autoherstellern, wie sie Betriebsräte etwa am Standort des Motorenwerks in Salzgitter vorschlagen, hat VW-Lenker Matthias Müller unlängst keine grundsätzliche Absage mehr erteilt. Der oberste Betriebsrat jedenfalls sieht eine Chance für den Wiedereinstieg in die Technologie - bei der nächsten, leistungsstärkeren Batteriezellengeneration: "Das gehört zu uns, das muss zum Unternehmen gehören, weil 40 Prozent der Wertschöpfung eines Batteriefahrzeuges zukünftig die Batterie sein wird!" Der Aufbau einer heimischen Fertigung würde indes viele Jahre dauern und viele Milliarden kosten. Langfristiger Stellenabbau unausweichlich Dass ein Stellenabbau angesichts des Sparzwangs unausweichlich ist, haben Osterloh und VW-Personalvorstand Karlheinz Blessing bereits angekündigt. Schon seit Monaten beschlossen ist der Abbau von 3.000 Stellen in der Verwaltung. Am Ende könnte an den deutschen Standorten gar eine fünfstellige Zahl von Arbeitsplätzen wegfallen – allerdings immer nur so viele wie altersbedingt ausscheiden. Betriebsbedingte Kündigungen werde es mit ihm nicht geben, betont Osterloh bei jeder Gelegenheit. Härter treffen könnte es die Leiharbeiter, deren Zahl – so verlautet aus Verhandlungskreisen - wohl deutlich reduziert werden soll.
Von Alexander Budde
Kosteneinsparungen von jährlich drei Milliarden Euro bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität von 25 Prozent: Ein Jahr nach dem Abgasskandal richtet sich der Volkswagen-Konzern neu aus. Helfen soll dabei der sogenannte Zukunftspakt.
"2016-11-18T07:20:00+01:00"
"2020-01-29T19:04:45.009000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-nach-dieselgate-vw-praesentiert-zukunftspakt-100.html
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Ex-Verfassungsrichter verteidigt gerichtliche Prüfung von Antikrisenpaket
Silvia Engels: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verhandelt heute über Eilanträge. Sie haben zum Ziel, die Gesetze über den Europäischen Stabilitätsmechanismus - kurz ESM - und den Fiskalpakt per einstweiliger Anordnung zu stoppen. Die Kläger drängen darauf, dass der Bundespräsident die Gesetze nicht unterschreibt, bevor die Richter in der Sache entschieden haben. Daneben werfen die zugrunde liegenden Gesetze auch inhaltliche grundsätzliche Fragen über die Kompetenzaufteilung zwischen deutschem Parlament und europäischen Institutionen auf. Darüber wollen wir sprechen mit Professor Winfried Hassemer, er war lange Jahre Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Guten Morgen, Herr Professor Hassemer.Winfried Hassemer: Guten Morgen, Frau Engels.Engels: Schauen wir auf die Anhörung heute. Die Kläger wollen ja, dass Bundespräsident Gauck weiterhin das Gesetzespaket nicht unterschreibt. Sie argumentieren, die Unterschrift des Bundespräsidenten werde Deutschland bei ESM und Fiskalpakt völkerrechtlich binden. Weshalb ist dieser Aspekt so wichtig?Hassemer: Der ist wichtig, weil es diesmal der Form nach um eine einstweilige Anordnung geht, aber dass auf der anderen Seite das, was dort verhandelt wird, möglicherweise gar nicht so einstweilig sein wird. Auf Deutsch, dass dort Dinge verhandelt werden und dass die auch im Gesetz drinstehen, welche dann nach einiger Zeit nicht mehr zurückgenommen werden können, so dass die Einstweiligkeit der Anordnung eigentlich nur Schein ist.Engels: Das heißt, wenn das Bundesverfassungsgericht später, nach der Unterschrift des Bundespräsidenten, dieses Gesetzeswerk in der Sache als verfassungswidrig einstufen würde, dann müsste es aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung in Kraft bleiben. Ist das die Argumentation und ist die schlüssig?Hassemer: Das haben Sie sehr präzise beschrieben, so ist es.Engels: Gibt es denn Beispiele, wo es genauso gelaufen ist, also das Verfassungsgericht hatte Zweifel, aber die völkerrechtliche Bindung war schon erfolgt?Hassemer: Das kann ich Ihnen jetzt nicht aus der Hand herzählen. Aber es gibt ein Strukturproblem und das deutet darauf hin, dass es so etwas nicht zum ersten Mal gäbe. Das Strukturproblem besteht darin, dass in dem Verhandlungssaal ja heute nicht nur der Senat sitzt und die Antragsteller und was weiß ich was alles, sondern es sitzt auch ein bisschen Brüssel da drin und es sitzt möglicherweise auch ein bisschen, was weiß ich, Griechenland oder was immer drin. Das heißt, dieses Rechtsproblem, um das es heute geht, das berührt sich mit anderen Interessen von anderen Institutionen, die möglicherweise ganz andere Vorstellungen haben als das, was in der Bundesrepublik dann zu gelten hat, und das ist eine Gemengelage, von der man sehr schwer nur beurteilen kann, was ist denn da eigentlich vorläufig und was wird am Ende endgültig sein.Engels: Aber muss das Bundesverfassungsgericht eigentlich schon aus Prinzip nicht den Eilanträgen stattgeben - schon allein deshalb, damit es für die Zukunft die eigene Handlungsfähigkeit wahrt?Hassemer: Das ist vielleicht doch ein ganz kleines bisschen zu radikal. Das Gericht will ja nicht blockieren und das Gericht will die Sache voranbringen im Rahmen des Grundgesetzes. Das Gericht will also hilfreich sein, davon bin ich ganz fest überzeugt, und deshalb muss es Lösungen anzielen, die pragmatisch sind. Und das heißt in diesem Fall zum Beispiel, dass das Gericht aufklären muss, und seine Agenda, die durchdiskutiert werden soll, die deutet auch darauf hin. Das Gericht muss herausfinden, was ist denn von den Inhalten der Gesetze möglicherweise am Ende gar nicht mehr revozierbar. Und juristisch? - Das Gericht wird im Rahmen dieser Prognose, wovon haben wir denn Gefahren zu erwarten, im Rahmen dieser Prognose wird es die Veränderbarkeit bestimmter Regelungen beurteilen.Engels: Die Veränderbarkeit bestimmter Regelungen - das heißt, wenn in dieser Eilentscheidung ein Urteil oder ein Spruch des Bundesverfassungsgerichtes fällt, dann kann man daraus durchaus schon ableiten, wie es dann auch später inhaltlich entscheiden wird?Hassemer: Man kann es eigentlich grundsätzlich immer, aber man muss in Rechnung stellen erstens: Zwischen der Entscheidung über die einstweilige Anordnung und der späteren Entscheidung in der Sache kann eine Menge passieren und die Richter können auf diese Weise, sagen wir mal, eine andere Sicht der Dinge kriegen. Oder es kann natürlich auch sein, dass die Richter durch ihre Diskussion, die vertieft über die Sache dann später zur Hauptsache stattfinden wird, anderer Meinung werden. Diese beiden Ausnahmen abgesehen, glaube ich, kann man Prognosen wagen.Engels: Die Argumente der Regierung sind ja bekannt: Eigentlich sollte gerade der ESM ja schon Anfang Juli in Kraft treten, schon jetzt sei ein deutscher Vertrauensverlust gegenüber europäischen Partnern eingetreten, weil Deutschland nicht liefere. Ist das auch ein schlüssiges Argument?Hassemer: Ich halte das für ein ziemlich bösartiges Argument am Ende. Es mag in der Sache ja gar nicht so falsch sein. Aber die Rücksicht auf die Verfassung in den Kontext zu stellen, dass hier in Deutschland die Bremser sitzen und dass diese Bremser vor allem in Karlsruhe sitzen, ist in meinen Augen nicht sehr förderlich für das Verhältnis von Exekutive und Justiz.Engels: Nun sind die Regelungen ja zum ESM und zum Fiskalpakt nicht mit einfacher, sondern jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden, das sind ja verfassungsändernde Mehrheiten. Inwieweit muss das Bundesverfassungsgericht das auch berücksichtigen?Hassemer: Das Bundesverfassungsgericht wird das berücksichtigen. Wenn es diese Mehrheiten nicht gegeben hätte, so würde die Sache sowieso keinen Fortgang bekommen. Aber Sie wissen, wir haben die sogenannte Ewigkeitsklausel in unserem Grundgesetz, den Artikel 79 Absatz drei. Dort werden beispielsweise Grundsätze des demokratischen Umgangs in der Bundesrepublik auf ewig gestellt. Das heißt, man muss an dieser Stelle besonders aufpassen, ob man nicht den Bereich des 79.3 erreicht und auf diese Weise Gefahr läuft, gewissermaßen Dinge zu akzeptieren, welche nach der Vorstellung unseres Grundgesetzes eigentlich unmöglich sind.Engels: Herr Hassemer, wagen Sie eine Prognose, in welche Richtung das Bundesverfassungsgericht tendiert?Hassemer: Ist schwer zu sagen. Bisher hätte ich, auch wenn Sie es mir nicht glauben, ungefähr das vorausgesagt, was das Gericht in dieser Hinsicht gemacht hat. Nur diesmal - und das ist ja auch gewissermaßen ein Indiz dafür, dass eine einstweilige Anordnung in mündlicher Verhandlung verhandelt wird, was wirklich ganz selten ist - scheint es so zu sein, dass das Gericht doch gezwungen sein wird, auf die Sache intensiv auch einzusteigen, und da ist schwer zu sagen, ob die am Ende der Meinung sind, das geht noch oder das geht jetzt nicht mehr.Engels: Sind wir also an der Grenze angekommen dessen, was das Grundgesetz an Kompetenzübertragung an Europa zulässt?Hassemer: Dafür gibt es gute Gründe. Die Gründe liegen insbesondere darin, dass - übrigens aus guten Gründen - Kontrollmöglichkeiten aufgebaut werden, welche es verhindern, dass eine Partei auf Kosten einer anderen Partei Schulden macht, ohne dass diese andere Partei das verhindern kann. Das ist grundsätzlich ein neues Problem und das ist nicht einfach zu lösen, und deshalb kann es immer sein, dass dem Gericht durchaus etwas Innovatives einfällt.Engels: Innovativ - könnte das auch sein, dass eine Empfehlung kommt, dass nun das Volk in einer eigenen Befragung abstimmen müsste?Hassemer: Das könnte theoretisch sein und das hört man ja auch immer mal wieder, aber ich glaube nicht, dass das Gericht so etwas macht. Das wäre vielleicht eine Nebenbemerkung oder, wie wir das nennen, eine Segelanweisung. Aber das wäre nebenbei. Das ist nicht gefragt heute, sondern gefragt ist eben, ist die Grenze erreicht, ja oder nein, und wenn sie überschritten ist, dann meine ich, die Konsequenzen, die muss man dann auch nicht mehr aussprechen.Engels: Sind Sie froh, dass Sie angesichts des Gewichts und der Folgewirkung dieser anstehenden Entscheidung nicht mehr in der Robe des Verfassungsrichters stecken?Hassemer: Nein, das bin ich nicht. Ich sehe schon, dass die Probleme schwierig sind, und ich sehe, dass die Lösungen folgenreich sein werden, aber das macht die Arbeit eines Bundesverfassungsrichters aus und so weit bin ich vom Gericht noch nicht entfernt, um mich auch davon entfernt zu haben.Engels: Professor Winfried Hassemer, früherer Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes. Vielen Dank für das Interview.Hassemer: Ja ich danke Ihnen auch.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr zum Thema:Stoppt Karlsruhe den Euro-Rettungsschirm?Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über Eilanträge (Aktuell)Die Grenzen der VerfassungZur Verhandlung über ESM und Fiskalpakt in Karlsruhe (DLF)Erklärwerk: ESMAlles über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (DLF)Fiskalpakt: Vom Gipfelbeschluss bis zum noch offenen EndeWas hinter dem Fiskalpakt steht (DLF)
Winfried Hassemer im Gespräch mit Silvia Engels
Der Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer hat Kritik an der gerichtlichen Prüfung von ESM und Fiskalpakt zurückgewiesen. Dass Deutschland nicht rechtzeitig liefere, sei "ein ziemlich bösartiges Argument", da man nur Rücksicht auf die Verfassung nehme.
"2012-07-10T07:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:16:44.955000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ex-verfassungsrichter-verteidigt-gerichtliche-pruefung-von-100.html
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Fünf Jahre Pariser Klimaabkommen: Erst Euphorie, dann Ernüchterung
Mitwirkende: Georg Ehring, Deutschlandfunk, Redaktion Umwelt und Verbraucher Christiane Florin, Deutschlandfunk, Redaktion Religion und Gesellschaft Rückmeldungen an: dertag@deutschlandfunk.de
Von Sonja Meschkat
Fünf Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen ist von der Anfangseuphorie nicht mehr viel übrig. Es bleibt schwer, die weltweiten Klimaziele zu erreichen - aber es ist möglich. Außerdem: Schwere Vorwürfe gegen den Kölner Kardinal Woelki. Er soll einen Fall sexuellen Missbrauchs vertuscht haben. Über kirchliche und individuelle Moral.
"2020-12-11T17:00:00+01:00"
"2020-12-12T11:45:41.865000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-fuenf-jahre-pariser-klimaabkommen-erst-euphorie-100.html
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"Jetzt keine Asche auf das Haupt der Medien"
"Spiegel"-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer. (picture alliance / Maurizio Gambarini / dpa) Christoph Sterz: Kurz vor der Sendung habe ich mit Klaus Brinkbäumer, dem Chefredakteur des "Spiegel" gesprochen, und ihn gefragt, ob der "Spiegel" bisher zu euphorisch mit Martin Schulz umgegangen ist? Klaus Brinkbäumer: Nein. Ist er nicht. Sind wir nicht. Weil wir es ja gemischt haben. Sie werden sich erinnern: Wir hatten im Heft diverse Enthüllungsgeschichten, und damit haben wir auch natürlich in den Tagen des Hypes aufgehört; Enthüllungsgeschichten darüber, wie Martin Schulz mit Vertrauten in Brüssel umgegangen ist. Die haben wir selbstverständlich zu dem Zeitpunkt veröffentlicht, als wir sie hatten. Das ist nun das Gegenteil von, nennen wir es mal Fanberichterstattung. Und, wenn ich mir die Titel anschaue, die sie gerade angesprochen haben, "Sankt Martin", die Unterzeile lautete: "Der Machthunger des Kandidaten Schulz". Das Bild hatte eine Ironie. "Sankt Martin" konnte man nun gewiss nicht zu 100 Prozent ernstnehmen. Die Kritik würde ich annehmen bei dem Begriff "Merkeldämmerung". Die eigentliche Titelzeile lautete: "Kippt sie?" Darüber stand aber der Begriff "Merkeldämmerung", haben Sie gerade zitiert, und der stand da wie eine Tatsache, ohne Fragezeichen, ohne irgendeine Form von Ironisierung oder Infragestellung. Und ob es nun wirklich eine "Merkeldämmerung" gibt, muss man zumindest nach dem Wahlergebnis von gestern bezweifeln. Sterz: Man kann natürlich auch über die Titel sehr stark diskutieren und sie verschiedentlich auslegen. Trotzdem nehme ich da mal ein Zitat rein von Martin Hoffmann, dem ehemaligen Social-Media-Chef der "Welt". Der schreibt bei Twitter: Wie sehen Sie das? Gerne auch über den "Spiegel" hinaus. Brinkbäumer: Das entspricht, glaube ich, dem Gefühl vieler Menschen. Wenn ich mir aber Medien anschaue, konkrete Berichterstattung bei der Süddeutschen, bei der F.A.Z., in den Fernsehsendungen, in den Talkshows und selbstverständlich auch bei uns - darüber rede ich am liebsten und, ich glaube auch, am kompetentesten - stimmt das nicht. Wir haben Schulz weder hochgejubelt noch verdammt. Wir haben eine freundlich-neugierige, kritische Berichterstattung gemacht; als er der Kandidat wurde, haben ihn vorgestellt, haben vielen Leuten, die ihn vorher nur als aus Brüssel, weit entfernt amtierenden Politiker wahrgenommen hatten, erklärt, wer Martin Schulz ist, wofür er steht, was er gemacht hat in der Vergangenheit; haben parallel dazu Nachrichtengeschichten oder, nennen Sie es, Investigativgeschichten gemacht über das, was in seiner Vergangenheit vielleicht mal nicht ganz so sauber gelaufen ist. Und: Das war geprägt von einer kritischen Grundhaltung, nicht von Euphorie. Und diesen Trend, den es ja gab zu den 30 Prozent und darüber, der dann auch getragen wurde durch die 100 Prozent, als er zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, also mit 100 Prozent, der war ja real, der existierte ja tatsächlich. Sterz: Wobei da ja selbst Meinungsforscher sagen, dass zum Beispiel dieser Umfragentrend auch daher kommen könnte, dass eben in den Medien sehr viel und sehr positiv berichtet wurde über Martin Schulz. Und dass das deswegen auch ein schwieriges, um sich selbst drehendes System ist. Brinkbäumer: Dem würde ich nicht zustimmen. Selbstkritik liebend gerne, und wenn wir Fehler machen, dann korrigieren wir sie. Aber jetzt auch keine Asche auf das Haupt der Medien, wenn es denn nicht gerechtfertigt ist. Also Medien wie die Süddeutsche, die F.A.Z. und wir haben nach wenigen Wochen angefangen, zu fragen: Was denn aber jetzt konkret, Herr Schulz? Wollen Sie eigentlich wirklich Themen wie soziale Gerechtigkeit angehen? Was bedeutet das für steuerpolitische Fragen? Die kritischen Fragen kamen schnell, die kamen nicht erst, als Umfragen wieder in die andere Richtung gingen. Das war Journalismus, wie er sein sollte: Er war kritisch, er war hinterfragend. Dass Schulz zunächst mal wohlwollend begrüßt wurde, finde ich richtig. Weil er diese konstruktive Neugierde verdient, als einer, der die Bühne neu oder jedenfalls anders betritt. Die SPD hatte, das ist der Stand von Januar, Februar, tatsächlich andere Chancen mit ihm. Der Wert von 30, 31 Prozent, der war ja nicht erfunden. Das waren reale Umfragen. Plötzlich offenbarte sich eine Perspektive für die SPD, und das spiegeln Medien. Ich würde nicht sagen, dass das eine Euphorie durch Medien erzeugt wurde, die sich dann in Umfragen spiegelte, sondern ich würde sagen, dass Medien natürlich Umfragen abgebildet haben. Ich würde da auch gerne wieder Selbstkritik annehmen und Medien bitten, wieder weniger auf Umfragen zu hören. Das tun wir Journalisten. Dass Umfragen zu viel Bedeutung bekommen haben, das halte ich für wahr. Dass wir eine Euphorie herbeigeschrieben hätten, daran glaube ich nicht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Brinkbäumer im Gespräch mit Christoph Sterz
Haben die Medien eine Euphorie um Martin Schulz entfacht? Klaus Brinkbäumer widerspricht: Man sei dem SPD-Kanzlerkandidaten mit "konstruktiver Neugierde", aber auch kritisch begegnet, sagte der "Spiegel"-Chefredakteur im DLF. Mehr Selbstkritik von Journalisten erwarte er allerdings beim Umgang mit Umfragen.
"2017-05-15T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:27:53.870000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hype-um-martin-schulz-jetzt-keine-asche-auf-das-haupt-der-100.html
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Pflanzenschutz mit Hacke und Kieselsäure
Nicht billig, aber häufig auch gar nicht aus der Region: Obst und Gemüse aus biologischem Anbau (picture alliance / dpa) Duftende Erdbeeren neben frischen Salatköpfen, Spargelstangen, Spitzkohl und dem erste Mangold, fast wie ein Stillleben sind Obst und Gemüse auf dem Marktstand des Biohofes Bursch arrangiert. Zweimal in der Woche bringen der Demeter-Landwirt Heinz Bursch und seine Mitarbeiter frische Ware vom Umland in die Kölner Innenstadt. Dass es sich um ökologisch angebautes Gemüse und Obst handelt, sieht man den makellosen Früchten nicht an, kein Schorf, keine Dellen, kein Wurmstich. Heinz Bursch: "Wir sehen zu, dass wir die Pflanzen hier natürlich ernähren also über Kompost und Gründüngung. Dass das Bodenleben da ist, das Regenwürmer da sind, dass ein aktiver Boden da ist, da kann die Pflanze ihre ganzen Mineralien, alles was sie braucht aufnehmen und langsamer wachsen, die wächst mit unserem Dünger langsamer und dadurch ist die robuster und ist nicht so anfällig." In der ökologischen Landwirtschaft, in der Pestizide wie das Glyphosat-haltige Round up nicht zugelassen sind, wird Pflanzenschutz von der anderen Seite her angegangen. Der Boden und die Umgebung sollen gesund sein, sodass sich auf ihm gesunde Pflanzen, entwickeln die weder Herbizide noch synthetischen Dünger benötigen. Doch neben den Nutzpflanzen gedeihen auch unerwünschtes Kräuter gut auf diesem gesunden Boden. Wie Biobauern die unliebsame Konkurrenz für Kartoffeln oder Kräuter fernhält, erklärt Bernhard Rüb von der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen: "Der ökologisch wirtschaftende Landwirt -und auch manch konventionell wirtschaftende Landwirt - rückt dem Unkraut mit biblischen Methoden bei, insbesondere mit Jäten und Hacken! Jäten im kleinen Stil mit der Hand beim Feldgemüse, zum Beispiel beim Kräuteranbau, wenn sie zum Beispiel Petersilie vom Unkraut befreien wollen." Mit alten Maschinen ans Unkrautjäten Das klingt mühsam. Wie befreit Heinz Bursche seine Salatbeete von Unkraut? "Mechanisch! Das wird bei uns alles mit der Hacke gemacht, per Hand oder wir haben auch Maschinen, teilweise sind alte Maschinen wieder neu entwickelt worden. " Maschinen kommen allerdings selten zwischen Kräutern oder Salaten zum Einsatz. Sondern meist vor der Aussaat: Um das Beet oder den Acker von Unkraut zu befreien, verwenden die meisten konventionellen und auch die ökologischen Betriebe den Pflug. Desto tiefer der Pflug in die Krume greift, je mehr klimaschädliches CO² wird allerdings freigesetzt. Auch muss der Landwirt auf die Neigung des Ackers achten, weil sonst der aufgelockerte Boden erodiert. Einige Biolandwirte wandeln den Acker deshalb in eine Weide um oder setzten auf eine reduzierte Bodenbearbeitung ohne Pflug. Das könnte allerdings den Arbeitsaufwand während der Vegetationsphase erhöhen, und das bedeutet in der Praxis: mehr Unkraut hacken. Doch auch die Biolandwirtschaft könnte von der Digitalisierung profitieren Landwirtschaftsberater Bernhard Rüb: "Allerdings gibt es auch bei der mechanischen Unkrautbekämpfung einen technischen Fortschritt, heute kann man vieles mit GPS machen. Mit der richtigen Technik erreicht man da eine Genauigkeit von zwei Zentimeter Abweichung auf einen Kilometer Fahrstrecke. Das kann man sich auch fürs Hacken zunutze machen. Es gibt auch schon in der Praxis Maschinen, bei denen die Hackmesser über GPS gesteuert werden, man kann sogar in Reihenkulturen, die bewässert werden, Hacken ohne die Bewässerungsrohre aus dem Boden zu hacken." Bewässerung ist in diesem Sommer wohl ohnehin nicht nötig, doch bei dieser feuchten Witterung kommt dem Boden die mechanische Bearbeitung doppelt zu Gute, weil das Wasser besser abfließen kann als bei einem verdichteten Boden, der mit schwerem Gerät bearbeitet wurde. Neben Hacken und Jäten setzt der Ökolandwirt auch noch auf die Vorzüge der Fruchtfolge: Bernhard Rüb:"Natürlich spielt der Unkrautdruck auch bei der Wahl der Fruchtfolge eine Rolle, weil es ja in bestimmten Kulturen bestimmte Unkräuter gibt, die da gut zu passen, von Zeit und Abstand her, wenn man diesen Unkräuter eine andere Umgebung bietet, haben die es auch schwerer, um raus zu kommen. Man kann auch die Fruchtfolge nutzen, um Unkrautsamen aus dem letzten Jahr auflaufen zu lassen." Ungeziefer mit Kieselsäure bekämpfen Wenn die Nutzpflanzen dennoch von Schädlingen befallen werden, bleibt dem Biobauern neben der mechanischen Bodenbearbeitung auch noch auf eine kleine Auswahl von Pflanzenschutzmitteln zurückgreifen. Doch das sind ausschließlich Substanzen, die auch in der Natur vorkommen wie Kieselsäure aus Horn oder: "Es werden Kompostpräpararte eingesetzt wie Baldrian, Schafgabe, alles natürliche Sachen." Die Vorgaben für die Landwirte, die nach Demeter-Maßstäben arbeiten sind besonders streng, Heinz Bursch muss deshalb auch häufiger zur Hacke greifen. Bernhard Rüb: "Die Erträge im Ackerbau liegen doch so 20 bis 30 Prozent unter denen im konventionellen Landbau, gleichzeitig ist der Aufwand höher. Dementsprechend braucht der Ökolandwirt für seine Produkte einen deutlich höheren Preis."
Von Britta Fecke
In der Öko-Landwirtschaft sind Pestizide nicht zugelassen. Darum wird der Pflanzenschuss häufig ganz mechanisch betrieben. Ob mit Hand oder alten Maschinen. Doch diese lassen sich inzwischen auch mit digitaler Technik aufrüsten. Und statt chemischem Pflanzenschutzmittel werden Kompostpräparate zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt.
"2016-06-22T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:36:45.610000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oekolandwirtschaft-pflanzenschutz-mit-hacke-und-kieselsaeure-100.html
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Auf der Suche nach den Spuren der Vernunft
Der Philosoph Jürgen Habermas (dpa / picture alliance / Simela Pantzartzi) Wie beginnen mit diesem Buch des bedeutendsten und renommiertesten gegenwärtigen deutschen Philosophen, der in diesem Sommer 90 Jahre alt geworden ist? Dies ist womöglich sein letztes großes Buch, ein letztes Wort in eigener Sache, eine zusammenfassende Bilanz. Trotzdem, so bin ich mir sicher, würde es der Autor nicht mögen, wenn man seine Schrift nicht als solche erst einmal zur Kenntnis und ernstnehmen würde, ohne Ehrfurcht, ohne weihevollen Ton, ohne Abschiedsgeschenkkorb, so als wäre der Habermas schon der Gegenwart entrückt und in das Pantheon der Klassiker eingezogen. Das würde ihm nicht gefallen, unserem Hegel der Bundesrepublik. Also keine Gedenkveranstaltung, sondern hinein in das Buch. Mit Vorfreude und mit Spannung, aber auch mit den Mühen der Ebene. Es wird eine voraussetzungsvolle Lektüre, am besten hat man Philosophie studiert. Das Buch stützt sich auf ein überaus komplexes Gedankensystem wie schon Habermas‘ Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns". Manche Passagen muss man zwei Mal lesen. Ein Stift in der Hand ist unentbehrlich. Die nüchterne Sprache, die wissenschaftliche Diktion verlangt große Konzentration. Aber immer wieder gibt es kurze Momente des Glücks und des Staunens über dieses schier unglaubliche Universum an Wissen und komplexen Denkens. "Auch eine Geschichte der Philosophie" heißt es in Anspielung auf Herders "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit". Zu Herders Zeit hat man eine Philosophie zur Geschichte gemacht, heute im postmetaphysischen Zeitalter, in dem die letzten Gründe, Ursachen und Prinzipen der Welt nicht mehr erkennbar sind, schreibt man nur noch Philosophiegeschichte. Auch darum geht es in diesem Buch. Bei Habermas darf man zudem sicher sein, dass seine Philosophiegeschichte durchaus ein Kommentar zur Zeit sein soll. "Auch eine Geschichte der Philosophie" heißt nämlich: nicht nur eine weitere Philosophiegeschichte, sondern auch eine aktuelle Einmischung. Daher – weil es eine Frage der Gegenwart an die Geschichte ist – wählt Habermas die Konstellation von Glauben und Wissen für seinen Gang durch die Philosophiegeschichte Europas. Die Religion ist ja keineswegs verschwunden, wie viele Modernisierungstheoretiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angenommen hatten. Im Gegenteil. Die Säkularisierungsthese, die solches behauptet hat, ist auf den Prüfstand geraten. Habermas gehörte selbst zu dieser Strömung und geriet nach den Anschlägen von 9/11 ins Grübeln. Um diese Zeit traf er sich mit dem damaligen Kardinal Ratzinger, um über die Dialektik der Säkularisierung, Vernunft und Religion zu diskutieren. Einwanderung theologischer Gehalte ins profane Denken Also, warum das Verhältnis von Glauben und Wissen? Habermas bezieht sich auf einen enigmatischen Satz von Adorno: "Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern." Die Einwanderung theologischer Gehalte ins profane Denken als ein philosophisch nachvollziehbarer Lernprozess ist die eine Säule des Buches. Die andere entsteht aus folgender Motivation: "Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein […]" Das ist ein Angebot zur Verständigung, das der säkulare Philosoph den religiösen Kollegen macht. Habermas interessiert sich dafür, wie die Kommunikation zwischen einerseits Philosophie und andererseits Theologie und Religion nach der Trennung von Glauben und Wissen fortgesetzt werden kann. Aber er ist nicht bedingungslos gesprächsbereit. Zum einen trennt er die Säkularisierung des Welt- und Selbstverständnisses von der Säkularisierung der Staatsgewalt und der Gesellschaft. Zum anderen stellt er fest, dass die Theologie selbst seit Kierkegaard eine anthropologisch-nachmetaphysische Gestalt angenommen hat und sie damit ein legitimer Konkurrent geworden ist. Aber eben nur dadurch. Die Grenzen der Toleranz sind für Habermas erreicht, wenn der Universalitätsanspruch der Vernunft vom dogmatischen Wahrheitsanspruch des religiösen Glaubens bestritten wird. Leitfaden der Philosophiegeschichte ist "die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen" – es geht astronomisch ausgedrückt darum, wie diese beiden Planeten von Glauben und Wissen in verschiedenen historischen Epochen zueinander standen. Die Philosophie speiste sich stets aus beidem, aus Religion und Wissenschaft. Die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens soll zeigen, "wie sich die Philosophie – komplementär zur Ausbildung einer christlichen Dogmatik in Begriffen der Philosophie – ihrerseits wesentliche Gehalte aus religiösen Überlieferungen angeeignet und in begründungsfähiges Wissen transformiert hat." Spezialisierung des Wissens Die Frage, die Habermas beschäftigt heißt: Was kann heute noch ein angemessenes Verständnis der Aufgabe von Philosophie sein? Das hatte er 1971 schon einmal in einem brillanten Aufsatz, "Wozu Philosophie?" thematisiert. Er sah im nachmetaphysischen Zeitalter für die Philosophie drei Möglichkeiten: Philosophiegeschichte, Erkenntnistheorie, Fachspezialisierung. Heute schreibt er: "Mich bewegt die Frage, was von der Philosophie übrigbleiben würde, wenn sie nicht nach wie vor versuchte, zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen […] Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine Wissenschaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer ‚weniger‘, das heißt enger und genauer definierter Gegenstandsbereiche zu lernen; sie unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen." […] "Die Frage, was sich die Philosophie noch zutrauen kann und soll, entscheidet sich heute, ungeachtet ihres unverhohlen säkularen Charakters, an jenem transformierten Erbe religiöser Herkunft." Auch wenn die Gesellschaft also immer komplexer wird und wir wegen der Spezialisierung des Wissens als Einzelne immer weniger wissen und können, obwohl wir immer mehr Informationen haben und auch Zeit, uns diese anzueignen, fordert Habermas seine Leser und Leserinnen auf, von ihrer Vernunft autonomen Gebrauch zu machen und ihr gesellschaftliches Leben praktisch zu gestalten. Dieser innere Zusammenhang von theoretischer und praktischer Vernunft, den Kants Gedanke des Transzendentalen enthält, geht nach Habermas verloren, wenn Philosophie rein szientistisch wird. Eine große Erzählung der Moderne Habermas‘ Genealogie nachmetaphysischen Denkens geht von der der Achsenzeit aus. Damit ist das von Karl Jaspers so bezeichnete halbe Jahrtausend von 800 bis 200 vor Christus gemeint, in der die bis heute wirkenden Religionen entstanden sind. Habermas verfolgt hier – immer mit Blick auf die sich verändernden Formen der Sozialintegration – kognitive Schritte im Selbst- und Weltverständnis von intellektuellen Eliten mit gesellschaftlicher Wirkungspotenz. Solche kognitiven Schritte sind zum Beispiel die Entwicklung vom Mythos zum Logos oder der diskursive Streit um die Wahrheit, der den mythischen Erzählungen noch fremd war, oder die Moralisierung des Heiligen durch das Gesetz, das Gehorsam fordert und rettende Gerechtigkeit verspricht. Das sind gemeinsame Vorgänge, die den jüdischen (später den christlichen und islamischen) Monotheismus wie die griechische Metaphysik, die ineinander verschränkt sind, prägen. Ähnliches beobachtet Habermas im indischen Buddhismus und in den chinesischen Lehren. In der Achsenzeit findet also nach Habermas eine kognitive Revolution statt: vom mythischen zum metaphysischen Denken. "Ich erkläre die achsenzeitliche Weltbildrevolution damit, dass das mythologische Selbstverständnis der Hochkulturen infolge des Wachstums eines ausdifferenzierten Wissensstandes und der fortgeschrittenen Sensibilisierung und Entwicklung des moralischen Bewusstseins kognitive Dissonanzen verarbeiten musste, die sich in diesen grundbegrifflichen Rahmen schließlich nicht integrieren ließen." Und auf diese Weise verfolgt er den Strukturwandel von Weltbildern und Weltwissen, Mensch- und Menschheitsvorstellungen weiter in der Philosophiegeschichte. Seit der Weltbildrevolution der Achsenzeit verzweigen sich die Entwicklungspfade der großen Zivilisationen. Habermas konzentriert sich auf den okzidentalen Entwicklungspfad, der zu der spezifisch westlichen Konstellation von Glauben und Wissen geführt hat, und beschreibt ihn als einen Lernprozess. Der große Erzählstrang ist dabei, wie Glauben und Wissen im christlichen Platonismus und unter dem Dach der römisch-katholischen Kirche zueinander finden, sich dann im späten Mittelalter ausdifferenzieren und schließlich in der frühen Neuzeit sich voneinander trennen. Die große Wegscheide ist das 17. Jahrhundert, in dem die Philosophie und die Wissenschaft auf Distanz zum Christentum gehen, und zwar polemisch, da das Christentum mächtig und repressiv ist. Die Trennung von Glauben und Wissen bedeutete für den sakralen Komplex eine Veränderung seiner Substanz, vor allem in machtpolitischer Hinsicht. Der Philosophie wies sie den konsequenten Weg der Verwissenschaftlichung – "als ob es Gott nicht gäbe" –, aber mit zwei alternativen Wegen nachmetaphysischen Denkens innerhalb des Rahmens der Subjektphilosophie. Und das ist der Höhe- und Wendepunkt in Habermas‘ Narration: Mit Hume und Kant verzweigen sich die Pfade in eine szientistische, also verwissenschaftlichte, und eine komprehensive, also das rationale Welt- und Selbstverständnis umfassend betreffende Philosophie, in Empirismus und nichtkognitivistische Auffassung der praktischen Vernunft einerseits und eine transzendental welterzeugende als auch praktische gesetzgebende Vernunft andererseits. Hier entsteht eine neue Konstellation zwischen Philosophie, Wissenschaft und Religion. Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens "Das philosophische Wissen soll erklären, was das wissenschaftlich akkumulierte Weltwissen für uns als Menschen, für uns in unserer persönlichen und gesellschaftlichen, unserer historischen und zeitgenössischen Existenz bedeutet. In diesem – implizit politischen Sinne – sind David Hume und Immanuel Kant herausragende Repräsentanten der Aufklärung. […] Die beiden Entwicklungspfade scheiden sich an der Frage, ob und gegebenenfalls wie die Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt an dem Anspruch festhalten kann und soll, das im lebensweltlichen Hintergrund verankerte intuitive Welt- und Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Generationen zu erklären und so weit wie möglich im Lichte des wissenschaftlich akkumulierten und jeweils verbesserten Weltwissens kritisch zu prüfen und zu korrigieren." Kant teilt also mit Hume die Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens, doch er vollzieht eine transzendentalphilosophische Wende der Subjektphilosophie, um das universalistische Begriffspotential der jüdisch-christlichen Überlieferung zu rekonstruieren. Und er gibt sich mit den nachmetaphysischen Grenzen der Vernunft nicht zufrieden. Anders als Hume will Kant jene aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden Grundfragen so rekonstruieren, dass sie noch unter den Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können. Nach Hume und Kant folgt im Zuge der Revolutionen in Amerika und Frankreich sowie der Ausweitung und Verselbständigung kapitalistischer Wirtschaftskreisläufe und der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihrer Wissenschaften im 19. Jahrhundert ein weiterer Paradigmenwechsel von der Subjekt- zur Sprachphilosophie. Denn der Mensch, so Habermas, ist zuerst ein kommunikativ vergesellschaftetes Subjekt. Geschichte, Gesellschaft und Kultur werden von der Philosophie wahrgenommen und dringen in sie ein. Hegels Schüler betreiben die soziale und linguistische Wende. Ein Kind der Aufklärung Stimmt das überhaupt alles, was Habermas über die Achsenzeit, das römische Kaiserreich, das frühe und hohe Mittelalter etc. schreibt? Über den Weg und die Weichenstellungen in die Moderne, von der Metaphysik zur Subjektphilosophie, dann zum Objektivismus der Naturwissenschaften, schließlich zur Sozial- und Sprachphilosophie? Man darf gespannt sein, was die Spezialisten der einzelnen Epochen und wissenschaftlichen Disziplinen zur den Einzelheiten dieser philosophiegeschichtlichen Großschau sagen werden. Oder die Vertreter der analytischen Philosophie, also die "Jünger von Hume", und jener philosophischen Strömungen, die sich jenseits von Kant und Hume begreifen. Ist die Philosophiegeschichte bloß eine Evolution zum vernünftigen Diskurs? Was ist mit der Kunst? Wie werden die Kritiker der Säkularisierungsthese reagieren, denen Habermas zwar entgegengekommen ist, ohne aber den Begriff selbst zu verabschieden? Habermas ist ein Freund von Prozessbegriffen wie funktionale Differenzierung, Rationalisierung und Objektivierung. Gab es nicht auch gegenläufige Prozesse: Sakralisierung, Entdifferenzierung, Emotionalisierung? Ist die Philosophiegeschichte wirklich ein großer Lernprozess und somit eine Erfolgsgeschichte? Das Projekt der Moderne nach wie vor noch nicht beendet Desungeachtet ist sicher: Das neue Werk von Habermas ist ein großer Wurf, ein ganz großer Wurf sogar. Aber gerade wegen der Weite des Wurfes muss doch gefragt werden, ob diese Philosophiegeschichte nicht einen geschichtsphilosophischen touch hat. Nun, nicht direkt, dazu ist die Beweisführung zu argumentativ und empirisch – und somit "fallibel", um in Habermas‘ eigenen Worten zu sprechen. Aber sie steht noch in Kontakt zum geschichtsphilosophischen Erbe von Kant, Hegel und Marx. Letztendlich ist Habermas auf der Suche nach den Spuren der Vernunft in der Philosophiegeschichte. In Anlehnung an und in Abweichung von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung könnte man seine These so ausdrücken: Schon im Mythos ist Aufklärung, aber Aufklärung muss nicht in Mythologie zurückschlagen, wenn sie anders als der Szientismus an einer "komprehensiven" Vernunft interessiert ist – also einer umfassenden Vernunft, die mehr ist als die instrumentelle der Selbsterhaltung und Naturbeherrschung und alle menschlichen Lebensbereiche umfasst. Für Habermas ist das Projekt der Moderne nach wie vor noch nicht beendet. Er selbst sieht sich noch immer als ein Kind der Aufklärung: Man soll die Welt nicht nur beobachten und feststellen was ist. Man soll und darf sie auch beurteilen, sich an ihr beteiligen, sie politisch gestalten. Wir können lernen, wir können fortschreiten, wie können Nein sagen. Eine vernünftige Freiheit ist möglich. "Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das ‚Vernunft habende‘ Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten." […] "Aus dieser Sicht zieht sich die subjektive Vernunft in handelnde und lernende Subjekte zurück, die in ihren jeweiligen lebensweltlichen Kontexten miteinander vergesellschaftet sind. So verschränkt sich die Vernunft der Subjekte mit einer kommunikativen Vernunft, die in der historischen Vielfalt der einander überlappenden sozialen Lebenswelten nur noch auf prozedurale Weise Einheit stiften kann." Das ist Habermas‘ eigene Sozialtheorie auf den Punkt gebracht. Nun wird die gesamte Philosophiegeschichte auf sie zugerichtet. Atemberaubend. Und gleichzeitig sehr optimistisch, wenn man sich die gegenwärtigen Krisenerscheinungen der kapitalistischen Demokratien in Amerika und Europa vor Augen hält, die Rückkehr von Diktatur und völkischen Mythen oder die globalen Probleme von Finanzkrisen und Flüchtlingsdramen, Kriegen, Kulturkämpfen und Klimawandel, nicht zu vergessen die Onlinekulturindustrie und die asozialen Netzwerke. Habermas glaubt gleichwohl an den sozialkognitiven Fortschritt, ja sogar an den moralkognitiven Fortschritt als Denkbewegung. In diesem Sinn beantwortet er seine Frage von 1971, wozu und vor allem wie Philosophie heute zu betreiben sei: Philosophie müsse vom Geist der Wissenschaft durchdrungen sein – Habermas folgt damit Humes unumkehrbaren Lernschritt der Ausdehnung des grundsätzlich fallibilistischen Bewusstseins auf Aussagen der Philosophie. Aber in den Fragen der praktischen Philosophie steht Habermas auf Kants Seite, denn hier sei die religiöse Hoffnung auf rettende Gerechtigkeit, auf Erlösung von Leid, auf Versöhnung durch eine vernünftige Gesellschaft bewahrt. Habermas ist Kantianer. Vor allem aber ist er, der an die kommunikative Vernunft und den sozialkognitiven Fortschritt glaubt, Habermasianer. Postskriptum Habermas dankt am Ende nicht seinen Lehrern, sondern seinen Schülern, von denen nicht mehr alle leben, so betagt ist er der Meister bereits. Er nennt sie natürlich seine "ehemaligen" Schüler und setzt den Begriff Schüler sogar in Anführungszeichen. Wenn man im Sommer die vielen Artikel dieser Schüler zu seinem 90. Geburtstag gelesen hat, dann weiß man, dass dies die pure Bescheidenheit ist. Es ist allerdings eine professionelle Bescheidenheit, keine zur Schau gestellte und auch keine falsche. Habermas weiß, was er geleistet hat. Aber er weiß auch, was er der Diskussion mit anderen und der Kritik durch Andere verdankt. Das gehört alles zu seiner eigenen Philosophie, die auf die vernünftige Kraft von Sprache, Kommunikation und Streit hofft. Auf solchen Ideen beruht eine offene Gesellschaft. Wenn dann einmal, vielleicht in 150 Jahren, vielleicht auch früher, wieder jemand in Anspielung an Herder und Habermas "auch" eine Geschichte der Philosophie vorlegt, wird diese aus dem Jahr 2019 darin gewiss ihren Platz finden. Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie" Band 1: "Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen" Band 2: "Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen"Suhrkamp Verlag, Berlin. 1752 Seiten, 98 Euro.
Von Jörg Später
Fast 2000 Seiten von Deutschlands wichtigstem Intellektuellen, Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie" ist eine Art Werkbilanz seines wissenschaftlichen Lebenslaufs - der davon bestimmt ist, sich seit den 1950er-Jahren ständig in öffentliche politische Debatten einzumischen.
"2019-11-17T16:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:18:54.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/juergen-habermas-auch-eine-geschichte-der-philosophie-auf-100.html
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Paragraf 217 vor Gericht
Wiederholte Suizidbeihilfe ist in Deutschland strafbar. Palliativmediziner sehen sich dadurch kriminalisiert (imago/Becker&Bredel) Matthias Thöns ist Palliativmediziner in Witten im Ruhrgebiet und behandelt im Jahr circa 400 Menschen. Sie leiden unter starken Schmerzen, Atemnot oder Übelkeit. Bei den allermeisten seiner Patientinnen und Patienten ließen sich die Beschwerden lindern, sagt Thöns. Es gebe aber Ausnahmefälle, in denen die Palliativmedizin kaum helfen könne: "So eine Entstellung durch einen Gesichtstumor, der durch die Haut bricht oder stinkende Wunden, das kriegt man relativ schlecht in den Griff. Und da kann man tatsächlich den Wunsch mancher Menschen verstehen zu sagen: Das ist für mich würdelos, so möchte ich nicht weiterleben." Palliativmediziner sehen sich kriminalisiert Wenn jemand einen Arzt um todbringende Medikamente bittet und dieser die Dosis verschreibt, kann sich der Arzt der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe schuldig machen. Darauf steht laut Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Angehörige und nahestehende Personen, die bei einem Suizid helfen, werden nicht bestraft. Eigentlich wollte der Bundestag vor allem Sterbehilfevereinen das Handwerk legen. Durch den Strafgesetz-Paragrafen 217 sehen sich indes auch Palliativmediziner wie Matthias Thöns kriminalisiert. "Die Juristen verstehen unter 'geschäftsmäßig', wenn jemand etwas wiederholt macht oder wiederholt plant. Das heißt, auch wenn ich als Arzt in diesen ganz, ganz seltenen Fällen einmal helfe, dann droht mir das Strafrecht schon, weil ich ja in der gleichen Konstellation das nächste Mal mit großer Wahrscheinlichkeit wieder helfen werde", sagt Thöns. "Mein Gewissen ist ja keine Eintagsfliege, das nächste Mal werde ich es genauso sehen." Thöns legte vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen Paragraf 217 ein, ebenso weitere Mediziner, Patienten und Sterbehilfevereine. Das Gesetz beschneide die Persönlichkeitsrechte Sterbewilliger. Außerdem verletze es die Gewissens- und Berufsfreiheit von Ärzten. Palliativmediziner Thöns meint sogar, die Regelung bedrohe seine alltägliche Arbeit: "Normalerweise ist es so, dass ich Patienten mit schweren Erkrankungen ganz normal behandle. Aber jeder vierte von denen spricht mich irgendwann im Verlaufe dieser Begleitung an: Ich habe keine Lust mehr, das Leben ist nur noch eine Qual für mich. Wenn das ein Angehöriger mithört, kann er das als Suizidwunsch verstehen. Wenn ich diesem Patienten jetzt - wie jedem meiner Patienten auch - Morphium und Beruhigungsmedikamente, Mittel gegen Schmerzen und gegen Atemnot verschreibe, und der nimmt sich das Leben damit, bin ich ja automatisch schon Straftäter." Palliativmediziner Matthias Gockel - Tod darf nicht tabuisiert werden Der Palliativmediziner Matthias Gockel hält den Tod immer noch für ein Tabu. Der Tod käme "irgendwann extrem kurzfristig". Palliativmedizinische Beratungen müssten früher stattfinden. "Paragraf 217 verletzt die Würde der schwerkranken Menschen erheblich" Zwar ist bisher kein Fall bekannt, in dem ein Arzt verurteilt wurde. Doch Staatsanwaltschaften ermittelten, auch gegen Thöns. 2017 dann sorgte eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts für Aufsehen, die die geltende Rechtslage konterkarierte. Die Verwaltungsrichter urteilten, der Staat dürfe im extremen Einzelfall den Zugang zu einem todbringenden Betäubungsmittel nicht verwehren. Daraufhin beantragten mehr als hundert Betroffene ein solches Mittel bei der zuständigen staatlichen Stelle, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Bislang erfolglos, denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wies das Institut offenbar an, die Begehren abzulehnen. Der Streit werde auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen, sagt Facharzt Thöns: "Der aktuelle Paragraf 217 verletzt die Würde der schwerkranken Menschen erheblich: einerseits dadurch, dass sie in den seltenen Fällen, in denen Palliativmedizin nicht ausreichend helfen kann, die Patienten mit harten Suizidmethoden im Stich lässt. Auf der anderen Seite kriminalisiert sie palliative und hospizliche Versorgung." Der Bundestag hatte das Gesetz 2015 nach einer längeren Debatte ohne Fraktionszwang beschlossen. Zuvor hatten die Abgeordneten intensiv diskutiert: Über das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen am Lebensende einerseits. Andererseits darüber, inwieweit Staat und Gesellschaft das Leben Schwerstkranker schützen müssen. "Sterbende schützen vor Erwartungsdruck" Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie an der Universität Freiburg, sieht in dem Gesetz die verschiedenen Interessen gut ausbalanciert: "Deshalb eben, weil man den Raum des Sterbens schützen möchte vor dem Erwartungsdruck, den dann Sterbende selbst als Erwartungszwang empfinden können. Dass man ihnen nahelegt, dass sie eigene Lasten vermeiden. Aber eben auch die Zumutung, die sie möglicherweise annehmen, die das für ihre Umgebung bedeuten würde. Und dass man verhindern möchte, dass das ein öffentliches Leitbild wird, das eine Sogwirkung entfacht, die dann Sterbende auch ergreift, die sie als Einschränkung ihrer Autonomie auffassen könnten." Der katholische Moraltheologe nennt als Beispiel die liberalen Sterbehilfe-Gesetze in Belgien oder den Niederlanden. "Wir erleben dort, dass es eine ständige Ausweitung der Grenzen gegeben hat. Zum Beispiel hat man in den Niederlanden zunächst psychiatrische Erkrankungen ausgenommen. Dann hat man sie später doch einbezogen. Dann gab es Regelungen zum Schutz von Minderjährigen. Dann hat man gesagt, nur mit der Zustimmung beider Elternteile, später hat man auch das revidiert. Also es hat sich gezeigt: Die befürchtete Verschiebung, die dann eintritt, die faktische Ausweitung der Grenzen über das hinaus, was man zunächst regeln wollte." Damit könnten sich auch die Aufgaben von Ärzten fundamental verändern, argumentiert Schockenhoff. In Belgien dürfen Menschen, die sich für Sterbehilfe entscheiden, wählen: Entweder, sie nehmen ein vom Arzt verschriebenes tödliches Mittel selbst ein. Oder der Mediziner setzt eine tödliche Spritze. "Zwei Drittel entscheiden sich dann für die Lebensbeendung durch den Arzt. Das ist ein Indiz dafür, dass die Legalisierung der ärztlichen Suizidbeihilfe nicht das Ende der Fahnenstange wäre. Sondern dann würde man weitergehen und würde argumentieren, dass die eigentlichen Wünsche der Patienten ja nicht darauf gerichtet sind, dass sie sich selber töten möchten. Sondern dass es ihnen noch lieber wäre, wenn dieses unangenehme Geschäft auch der Arzt für sie erledigen würde." Palliativmediziner - "Wir lassen extrem leidende Menschen im Stich"Sterbehilfe müsste für Menschen zugelassen werden, die am Ende ihres Lebens extrem leiden, sagte der Palliativmediziner Gian D. Borasio im Dlf. Andernfalls lasse man diese Menschen würdelos leiden. Angst vor Dammbruch Im vergangenen Herbst sprachen sich Christen, Juden und Muslime in einer gemeinsamen Erklärung mehrerer Institutionen erstmals gemeinsam gegen Euthanasie und assistierten Suizid aus. Sie seien aus moralischer wie religiöser Sicht falsch und sollten ausnahmslos verboten werden. Moraltheologe Schockenhoff sieht die Gesellschaft in der Pflicht, Schwerstkranke vor wirtschaftlichen Überlegungen zu schützen. Statistiken zufolge fielen 90 Prozent aller medizinischen Behandlungskosten im letzten Lebensjahr eines Menschen an. "Wenn man das unter einer utilitaristischen Perspektive betrachtet, dann könnte man ja sagen, diese 90 Prozent im letzten Lebensjahr haben den geringsten Nutzeneffekt. Und dann könnte man ja durchaus auf die Idee kommen, dass man auch aus Gründen der Kostenersparnis versucht, die Sterbephase abzukürzen. Vor solche Überlegungen muss man von vornherein einen klaren Riegel schieben." Bundestag muss Rolle der Ärzte neu fassen Palliativmediziner Matthias Thöns hingegen glaubt nicht, dass ein gesellschaftlicher Druck auf Schwerkranke entstehen könnte, Suizid zu begehen. "In unserer Gesellschaft ist es eher so, dass schwerstpflegebedürftige Menschen zum Leben gezwungen werden – mit allem, was die Medizintechnik so kann. Wenn man nicht mehr richtig isst, wird man künstlich ernährt. Wenn man nicht mehr trinkt, bekommt man Infusionen. Und wenn man nicht mehr atmet, ganz am Schluss des Lebens, und die Aussicht ist minimal, dann wird man beatmet. Die Problematik, die da hochbeschworen wird, dass es einen Dammbruch gibt, dass es dann Druck gibt auf Alte und Pflegebedürftige, sich zu suizidieren, ist völlig absurd. Aber das Problem genau in die andere Richtung ist tägliche Realität bei uns." Wie also wird der assistierte Suizid künftig in Deutschland geregelt? Beobachter erwarten, dass die Verfassungsrichter das bisherige Gesetz kippen. Die öffentliche Verhandlung in Karlsruhe vor einigen Monaten ließ erkennen, dass der Bundestag wohl zumindest die Rolle der Ärzte neu fassen muss.
Von Burkhard Schäfers
Wenn Ärztinnen und Ärzte auf Wunsch Schwerstkranker todbringende Medikamente verschreiben, gilt das als geschäftsmäßige Suizidbeihilfe und ist strafbar. Palliativmediziner sehen sich kriminalisiert. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich morgen mit dem Gesetz.
"2020-02-25T09:35:00+01:00"
"2020-03-17T08:45:29.310000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sterbehilfe-paragraf-217-vor-gericht-100.html
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Raus aus der Kohle – aber sozialverträglich
Dieses Bild soll es demnächst in Deutschland nicht mehr geben: Kohlekraftwerk Neurath in Nordrhein-Westfalen (picture alliance / dpa / Horst Ossinger) Am Kohleausstieg ist nicht zu rütteln – diese Botschaft verbreitet Bundesumweltministerin Svenja Schulze auch bei der Klimakonferenz in Kattowitz: "Kohle hat keine Zukunft. Der CO2-Abdruck von Kohle ist viel zu hoch. Wir werden aus Kohle aussteigen müssen, wenn es darum geht, unseren Planeten zu retten und das muss die erste Priorität sein. Wir wollen auch für die künftigen Generationen noch einen lebenswerten Planeten hinterlassen." Doch so schnell wie die Ministerin sich das vorgestellt hat, geht es nicht voran mit dem Kohleausstieg. Eigentlich wollte Svenja Schulze mit einem Ausstiegsplan nach Polen reisen, doch die zuständige Kommission will sich damit jetzt bis zum Februar Zeit lassen. Die Arbeit dieser Kommission allerdings stößt auf großes Interesse in Kattowitz. Viele Länder haben schließlich ähnliche Sorgen wie Deutschland, so der Gastgeber Polen. Schulze: Sorgen der Menschen ernst nehmen Svenja Schulze warb in ihrer Rede vor den Delegierten auch für Verständnis dafür, dass Deutschland den Ausstieg nicht einfach dekretieren will: "Dies ist keine Entschuldigung für Verspätungen. Ich bin davon überzeugt, dass Klimaschutz nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen, die in den Kohleregionen leben und arbeiten. Die Politiker müssen ihnen Alternativen eröffnen, vor allem in strukturschwachen Regionen." Allein in Europa gibt es 40 Regionen mit Kohleförderung - unter anderem das oberschlesische Revier, in dem auch Kattowitz liegt. Die Konferenz tagt auf einem ehemaligen Zechengelände. Es komme darauf an, die Leistung der Bergleute anzuerkennen und ihnen neue Perspektiven zu geben, sagt Sharan Burrow, Australierin und Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC: "Wenn die Veränderungen ausgehandelt werden, so dass sich die Arbeiter sicher fühlen können, so dass neue Investitionen abgesichert sind, dann können die Menschen auch die Hoffnung haben, dass die Zukunft ihren Vorstellungen entspricht. Das ist der Weg, der uns zu hohen Ambitionen auch im Klimaschutz bringt." Regelbuch soll gerechten Übergang berücksichtigen In Deutschland steht die Lausitz besonders im Fokus. Die Region hat bisher außerhalb der Braunkohle nur wenige Arbeitsplätze zu bieten. Die Bundesregierung will das ändern. Svenja Schulze: "Wir haben neu jetzt auf den Weg gebracht in Cottbus ein Kompetenzzentrum für Dekarbonisierung. Also wir wollen der Industrie helfen auf dem Pfad, weniger CO2 zu produzieren. Das ist die erste Initiative, die wir als Umweltministerium jetzt in dieser Region auf den Weg gebracht haben." Die Forderung nach einem gerechten Übergang zu einer CO2 freien Wirtschaft soll sich auch in den Abschlusspapieren des Gipfels wiederfinden. Derzeit wird darüber verhandelt, wie das Regelbuch für den Klimaschutz diese Frage berücksichtigen soll. Es soll zum Ende der Konferenz verabschiedet werden.
Von Georg Ehring
Der gerechte Übergang zu einer CO2-freien Wirtschaft ist ein Punkt auf der Agenda des UN-Weltklimagipfels. Großes Interesse besteht daher auch an der Kommission, die den deutschen Kohleausstieg gestalten soll. Umweltministerin Svenja Schulz erläuterte in Kattowitz, warum der länger dauert als geplant.
"2018-12-12T12:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:25:14+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimagipfel-in-kattowitz-raus-aus-der-kohle-aber-100.html
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Fehlende Lokführer sorgen für Ausfälle bei der Bahn
Schienenersatzverkehr der Deutschen Bahn. (dpa) Es könnte so einfach sein: Ein junger hipper Typ steigt in einen modernen Schnellzug… Iggy Pop: "I‘m the passenger…" Per Smartphone lässt er sich zum richtigen Platz leiten und kommt auf dem Weg dorthin an jeder Menge lustiger Menschen vorbei. Angekommen dann die Erkenntnis: Da sitzt schon jemand. Und zwar ein alter Punkrocker mit nacktem Oberkörper! So zu sehen in einem Werbeclip der Deutschen Bahn. Der Konzern hat es geschafft, dafür Nico Rosberg und Iggy Pop zu gewinnen. Die sollen nun vermitteln: Mit den digitalen Services der Deutschen Bahn ist alles leichter! Doch womöglich ist der eigentliche Hauptzweck der DB aus dem Fokus geraten? Nämlich Fahrgäste einigermaßen bequem und zuverlässig von A nach B zu bewegen - und das über die Schiene? Zum Beispiel am Lübecker Hauptbahnhof - dem meistgenutzten Bahnhof Schleswig-Holsteins. Wer von hier aus in Richtung Kiel, Fehmarn, Lüneburg oder Travemünde fahren will, braucht seit Kurzem mehr Zeit und sollte keine Angst haben vor schleswig-holsteinischen Landstraßen. Insgesamt 18 Verbindungen in den Früh- und Abendstunden hat die Deutsche Bahn auf diesen Strecken gestrichen. Denn: Es gibt nicht genügend Lokführer. Immerhin: Zum Ersatz fahren Taxis und Busse. Es muss ja irgendwie weitergehen. Bloß: Diesen Schienenersatzverkehr zu finden, ist schwierig. Zum Beispiel für die Regionalbahn ins ostholsteinische Neustadt, die eigentlich um 18:12 in Lübeck losfahren soll. Auf der Anzeigentafel taucht weder der Zug noch der Ersatzbus auf, sondern lediglich der Hinweis auf umfangreiche Änderungen im Zugverkehr und die Sonderaushänge. Keine guten Hinweise auf den Schienenersatzverkehr Der Schaukasten mit eben diesen Sonderaushängen entpuppt sich als unübersichtliche gelbe Tabellenwüste. Ein Schild mit dem Hinweis "Schienenersatzverkehr" sucht man in der historischen Eingangshalle vergebens. Gehen Sie rüber zum Busbahnhof, lautet stattdessen die Ansage vom DB-Infostand. Die Suche nach der richtigen Haltestelle hat etwas Harry-Potter-mäßiges und erinnert an die Reise nach Hogwarts: Der Ersatzbus nach Neustadt soll von Bussteig 13 fahren. Doch neben Bussteig 12 liegt Bussteig 1. Wer soll als Nicht-Lübecker ahnen, dass Bussteig 13 etwa 50 Meter weiter liegt? "Das ist natürlich so eine Primetime-Verbindung, wenn man bedenkt, um 18 Uhr fahren natürlich viele Pendler nach Hause. Dass sie nun da einen Zug ausfallen lassen, ist verwunderlich, find‘ ich." Seit zwei Jahren pendelt Daniel Lukoschus jeden Morgen mit dem Zug von Scharbeutz zur Arbeit nach Hamburg. 1:45 Stunden dauert für ihn die Fahrt von Tür zu Tür – je Richtung. Doch meist gehe es entspannt zu, nur selten gebe es Probleme mit den Züge, so die Erfahrung des 44-Jährigen. Doch der Schienenersatzverkehr verlängert Lukoschus‘ Fahrt jetzt um eine halbe Stunde. Damit betreibe die DB doch beste Lobbyarbeit für die Autoindustrie. "Ich dachte eigentlich, Mensch, super, mit der Bahn und man tut was für die Umwelt und kommt ja ganz gut voran. Aber so ist es dann eventuell doch wieder die Alternative, auf’s Auto umzusteigen." Dass die Bahn nun kurzfristig so viele Verbindungen "bis auf weiteres" streiche sei ein Armutszeugnis. "Also, mittelständische Unternehmen, wenn die keine Auszubildenden mehr hätten, würden die pleite gehen." DB sucht händeringend Lokführer Tatsächlich buhlt die Deutsche Bahn schon länger um Fachkräfte – auch bei den Lokführern. Man sei dabei, mit einer Ausbildungsoffensive gegenzusteuern, heißt es von der DB Regio Schleswig-Holstein. Alle zwei Monate sollten nun neue Ausbildungslehrgänge beginnen. Bloß: Selbst ein solcher Schnellkurs zum Lokführer dauert zehn bis zwölf Monate. "Es ist richtig, dass wir Lokführer suchen", sagt Bahnchef Richard Lutz im Interview mit dem Deutschlandfunk. "Allerdings auch Lokführer - Gott sei Dank - finden, die mit viel Spaß in das Unternehmen kommen, weil sie eben sehen, dass es ein bunter Laden ist, wo nicht alles perfekt funktioniert. Wo sie aber mithelfen können, einen wichtigen Verkehrsträger, nämlich die Schiene nach vorne zu bringen." Doch Schleswig-Holstein ist für die DB schon länger ein schwieriges Pflaster. Auf der Marschbahn zwischen Hamburg und Sylt dauern die Probleme seit nun knapp zwei Jahren an. Auch auf anderen Strecken mehren sich Zugausfälle. Wegen Problemen bei den Fahrzeugen. Aber auch wegen Personalmangel. Beate Rache leitet die Schleswig-Holsteinische Geschäftsstelle der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft in Kiel. Die EVG vertritt auch die Lokführer. Dass die Deutschen Bahn nun wegen Lokführermangel Zugverbindungen streicht, wundert Beate Rache: "Dass nicht genügend Lokführer vorhanden sind, das war mir schon klar, das zeichnet sich schon eine ganze Weile ab." Das Problem sei hausgemacht, sagt sie mit Blick auf die DB. Andererseits werde es auch für private Bahnunternehmen immer schwerer, Lokführer zu finden. "Die negativen Aspekte der Arbeit sind halt naturgemäß damit verbunden, dass dort Schichtdienst vorherrscht, der natürlich nicht eine Arbeit so attraktiv macht." Schleswig-Holstein droht mit Strafzahlungen Dass Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Bernd Buchholz der DB auch nun wieder mit Strafzahlungen droht und den Konzern bei künftigen Ausschreibungen kritisch sieht, hält Beate Rache jedoch für kontraproduktiv. Das verunsichere die Belegschaft und sorge womöglich dafür, dass die Lokführer sich nach anderen Jobs umschauten. Anders sieht das Stefan Barkleit, der Landesvorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn. Er sagt, der Verkehrsminister von der FDP tue gut daran, gegenüber der DB auf die Einhaltung der Verträge zu pochen. Ob und wie sich die Ausbildungsbemühungen bei der DB auswirken, sei abzuwarten. Immerhin sei der Konzern jetzt mal bereit, offen einzugestehen, dass er ein Problem habe. "Dass man von vornherein sagt, wir kommunizieren das, was wir nicht fahren können und wir schauen mit Bedacht praktisch, welche Leistungen davon betroffen sind. Beziehungsweise, bei welchen Leistungen wir am wenigsten Fahrgästen wehtun. Wobei natürlich jede Leistung, die ausfällt ist eine Leistung zu viel." Gegen 19:30 Uhr erreicht der Ersatzbus den Bahnhof von Neustadt. Die Bahn hätte für die circa 35 Kilometer lange Strecke von Lübeck hierher 40 Minuten gebraucht. Der Bus braucht 75 Minuten. Auf dem verträumten Bahnhofsvorplatz wartet ein Taxifahrer, der seinen Namen nicht im Radio hören will. Für ihn und seine Kollegen seien die gestrichenen Fahrten ein kleines Konjunkturprogramm… "Kann man so sagen, ist nicht schlecht." Der 53-Jährige hat nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gerade erst wieder einen Job gefunden als Metallarbeiter. Taxi fährt er noch nebenbei. Zwischendurch hatte er sich auch bei der Bahn in Lübeck beworben für einen Quereinstieg als Lokführer. Doch eingeladen wurde er nicht.
Von Johannes Kulms
In Schleswig-Holstein musste die Deutsche Bahn in letzter Zeit etliche Verbindungen streichen - weil Lokführer fehlen. Zwar gibt es Ersatzbusse, die Fahrtzeit verlängert sich dadurch aber deutlich. Kritiker sprechen von einem hausgemachten Problem.
"2018-09-15T06:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:05.223000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zugverbindungen-im-norden-fehlende-lokfuehrer-sorgen-fuer-100.html
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"Eine übergroße Politik-Nähe"
Otto Dibelius spricht während des Evangelischen Kirchentages in München 1959 (dpa/Gerhard Rauchwetter) Otto Dibelius - ein schillernder Kirchenmann. So schillernd, dass er bis heute viele Fragen aufwirft. Auch die, wie eng Staat und Kirche verquickt sein dürfen. Trotz aller Dispute zu Dibelius - der Berliner Historiker Manfred Gailus ist sich sicher: "Man kann vieles über ihn sagen, es wird nichts daran ändern, dass er die Jahrhundertfigur der Berliner Kirche des 20. Jahrhunderts ist. Von 1920 bis 1960, also über 40 Jahre, spielte er fast immer eine dominante beherrschende Rolle, war also der wichtigste Mann der Berliner Kirche im 20. Jahrhundert, daran lässt sich nicht rütteln." Otto Dibelius entstammte einer preußischen Beamtenfamilie. Erste Stationen seines pastoralen Wirkens waren Guben, Danzig und Lauenburg in Pommern. Bald machte er Karriere in Berlin, wurde 1925 Generalsuperintendent der Kurmark. Unterstützung für Machtergreifung Hitlers "Otto Dibelius war in der Weimarer Republik deutsch-national, also 'Deutsch-Nationale Volkspartei'. Sie bekämpft die Weimarer Republik heftig, also eine Partei, die zweifellos mit zu den Totengräbern der ersten deutschen Demokratie zählt. Und Otto Dibelius war ein Parteimitglied, im Kern Revision des Versailler Vertrages, eine Beendigung der Demokratie, der Parteienherrschaft und Aufrichtung eines autoritären Regimes, also eine Art christlich-autoritärer Staat." Otto Dibelius war nicht nur antidemokratisch, er begrüßte auch die Machtergreifung Adolf Hitlers. Beim Tag von Potsdam am 21. März 1933 hielt er die Festpredigt als führender evangelischer Geistlicher. "Ein großes Ja zum politischen Umschwung und ein kleines verstecktes Nein zu Begleiterscheinungen - das ist kurz zusammengefasst der Tenor seiner Predigt in der Nikolaikirche vor begeisterten auch Nationalsozialisten", sagt Gailus. "Das war ein Jubeltag. Nach der Predigt, so hat er selbst geschrieben, kam Göring auf ihn zu und hat ihm gesagt, das war die beste Predigt, die ich in meinem Leben gehört habe. Also das war keine distanzierende Predigt, das war schon gar nicht eine Widerstandspredigt." 21.3.1933: Reichspräsident Paul von Hindenburg bei seiner Rede vor dem neu konstituierten Reichstag in der Potsdamer Garnisonkirche. (picture alliance / dpa / IMAGNO) Auch begrüßte Otto Dibelius den Kampf gegen alles Jüdische. Der Antisemitismus von Otto Dibelius sei nicht wegzudiskutieren, sagt der Historiker Manfred Gailus. "Er hat es mehrfach gesagt: In der Zeit 1933, aber auch in der Nachkriegszeit, gehörte ein gewisser Antisemitismus bei uns zum guten Ton. Im Jahr 1933, wo er sich sogar exponiert, in der Zeit des Judenboykotts, am 1. April gehört er zu den Leuten, die beschwichtigen und sagen, das ist hier gar nicht so schlimm. Er hält eine Rundfunkansprache, die auch in den USA gesendet wird, worin er die amerikanische Öffentlichkeit zu beruhigen versucht auf Wunsch und Anregung von Joseph Goebbels." Für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung Allerdings sei der führende evangelische Geistliche eine schillernde Persönlichkeit gewesen. So setzte er sich 1930 in seinem Buch "Friede auf Erde" für eine geradezu visionär neue Zusammenarbeit der Nationen und der Welt-Kirchen ein. Der Kirchenhistoriker Hartmut Ludwig erinnert daran, … "… dass er auch hier in Deutschland eine Arbeitsgemeinschaft für den Völkerbund geleitet hat. Dass er sich für eine Revision des Verhältnisses der Sicht von Krieg und Frieden in der evangelischen Kirche damals eingesetzt hat." Und etwa zehn Jahre bevor die Nazis die Welt in Brand setzten, sprach sich Otto Dibelius für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus. Zumindest indirekt. Aus Sicht des Regimes war das Vaterlandsverrat, wenn Dibelius argumentiert: "Die Kirche kann nicht aufrufen zur Kriegsdienstverweigerung, aber wenn jemand von seinem Gewissen her den Kriegsdienst verweigern will, dann muss die Kirche ihm zur Seite stehen. Und das ist 1930 überraschend." Auch ging Otto Dibelius in Opposition zu den Deutschen Christen und arbeitete im Brandenburger Bruderrat der Bekennenden Kirche mit. Dafür kam Dibelius mehrfach in Haft. Überraschend auch, dass Otto Dibelius sich zwar antisemitisch äußerte, konkret aber verfolgten Juden geholfen hat, etwa der nach Nazi-Definition so genannten Halbjüdin Senta Maria Klatt. Kirchenhistoriker Hartmut Ludwig. "Senta Maria Klatt ist seine Sekretärin geworden. Es berichten auch andere Helfer für jüdische Verfolgte, dass er auch Finanzmittel beschaffte, auch da eine totale Wandlung!" Steile Karriere nach dem Krieg Nach dem Krieg ging die Karriere von Otto Dibelius steil bergauf. In seiner Person gab es eine so vorher noch nie dagewesene evangelische Machtfülle, weiß Historiker Manfred Gailus. "Wenn man sich mal vor Augen hält, welche Positionen er verkörperte, in sich vereinigte: Es war niemand anderes da, der ihm das streitig machen konnte." Andere evangelische Kirchenpersönlichkeiten wurden geradezu an den Rand gedrängt. "Also es gab einige berühmte Personen, die auf Grund ihres Mutes, aufgrund ihres Engagements im Kirchenkampf eigentlich die Kirchenführung, die Leitung in Berlin hätten haben sollen", sagt Gailus. "Sie waren entweder nicht da oder sie wurden an die Seite gedrängt. Also Martin Niemöller, Martin Albertz, der Spandauer Superintendent, der eine sehr geradlinige Haltung auch in den Kriegsjahren vertreten hat, dafür jahrelang im Gefängnis gesessen hat. Martin Albertz wird an den Rand gedrängt." Schweigen über Verquickung von Nationalsozialismus und Kirche Otto Dibelius wurde schließlich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vor allem ging es dem Berliner Bischof nach 1945 darum, seine Kirche möglichst unbeschadet wieder als gesellschaftlich wichtige Instanz zu etablieren. Jegliche Diskussion über die Verquickung von Nationalsozialismus und Protestantismus unterband Otto Dibelius. "Dibelius nach '45 steuert einen Kurs mit großem Verständnis für die ehemaligen Deutschen Christen", sagt Gailus. "Da gibt es also die extremsten Nazi-Theologen, Joachim Hossenfelder, Leiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen, Karl Themel, der nazimäßige Judenforschung in der Kirche betrieben hat, Walter Hoff, ein extremer Nazi, der sich selber gerühmt hat, im Ost-Krieg bei der Judenvernichtung geholfen zu haben, Friedrich Tausch, der fanatische Leiter der Deutschen Christen in Berlin. Alle diese Theologen werden auf die eine oder andere Weise wieder in der Kirche aufgenommen." Otto Dibelius, selbst CDU-Mitglied, unterstützte die neue Regierung unter Konrad Adenauer. So wie er zum Machtantritt von Adolf Hitler predigte, so nahtlos konnte Otto Dibelius nun die Festpredigt zur Eröffnung des Deutschen Bundestages in Bonn im September 1949 halten. "Nach dem Krieg entsteht eine Fraktion im Protestantismus, die ich - in Anführungszeichen - 'CDU-Protestantismus' nenne. Das waren Protestanten, die mit der politischen Richtung in Bonn sehr eng zusammen gingen. Eine katholisch dominierte deutsche Regierung, und ein Teil der konservativen deutschen Protestanten machten da mit. Der andere Teil - ich nenne nur Niemöller oder Gollwitzer, Heinemann - kommt dann auch ins Spiel, sagte: 'Wir machen da nicht mit!' Aber Dibelius ist ein deutlicher Vertreter des CDU-Protestantismus, macht dann eben auch eine entsprechende CDU-Politik in den 50er-Jahren mit, Wiederbewaffnung, die ganze Atomfrage ist ja heiß umstritten. Bischof Dibelius ist ein 'cold war bishop', wirklich ein Kalter-Kriegs-Bischof!" 1964 in Berlin: Martin Luther King, Otto Dibelius und Willy Brandt (v. lks.) (picture-alliance/ dpa) Für Otto Dibelius sei es vor allem darum gegangen, dass die deutsche Kirche international wieder anerkannt wurde. Der evangelische Theologe und Journalist Jens Gundlach aus Hannover: "Ich glaube Dibelius, der hatte die Größe der evangelischen Kirche in Deutschland im Auge. Er blendete die NS-Zeit einfach aus. Er kam damit opportunistisch sowohl dem deutschen Volk als auch den deutschen Eliten entgegen, die einer Selbstreinigung im Wege standen und sich selbst frei sprachen von jeglicher Mitschuld. Dass die Kirche von dem Volk und den Eliten wieder anerkannt wurde und als wichtige Institution in Staat und Gesellschaft wieder ins Amt kam." Bis heute fehle es an einer kritischen Aufarbeitung der Dibelius-Zeit in der evangelischen Kirche. Auch Historiker Manfred Gailus meint, Otto Dibelius sei prototypisch für eine zu große Nähe der protestantischen Kirche zur Politik. Daraus müssten evangelische Christen in der Gegenwart und in der Zukunft Konsequenzen ziehen.
Von Thomas Klatt
Er gehört zu den umstrittensten Persönlichkeiten der evangelischen Kirche des 20. Jahrhunderts: Otto Dibelius. Sein Todestag jährte sich am 31.1.2017 zum fünfzigsten Mal. Dibelius unterstützte Adolf Hitler und später den CDU-Kanzler Adenauer. Eine schillernde Persönlichkeit, die die Frage aufwirft, wie eng Staat und Kirche verquickt sein dürfen.
"2017-02-21T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:52.508000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/evangelischer-bischof-dibelius-eine-uebergrosse-politik-100.html
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"Der Slogan 'Get Brexit Done' hat einen Nerv getroffen"
David McAllister, CDU (dpa/Mohssen Assanimoghaddam) Christoph Heinemann: Am Telefon ist der CDU-Politiker McAllister. Er ist der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. Und je nachdem, in welcher Heimat er sich gerade aufhält, wird er entweder David oder David gerufen, denn er besitzt den deutschen und den britischen Pass. Guten Morgen! David McAllister: Guten Morgen, Herr Heinemann. Heinemann: Wie blicken Sie auf dieses Wahlergebnis? McAllister: Ich habe die ganze Nacht die Wahlkreis-Bekanntgaben verfolgt und das Ergebnis ist ganz eindeutig. Die Konservativen haben eine absolute Mehrheit und ich teile die Einschätzung von Friedbert Meurer: Der Brexit wird jetzt sehr, sehr wahrscheinlich zum 31. Januar über die Bühne gehen. Heinemann: Wenigstens Klarheit. Ist das gut? McAllister: Ja, wir haben Klarheit. Aber gleichwohl mache ich aus meiner persönlichen Meinung keinen Hehl. Ich halte den Brexit für einen historischen Fehler. Am Brexit ist gar nichts gut. Aber diese Wahl hat jetzt entschieden, dass das Vereinigte Königreich am 1. Februar nicht mehr Mitglied der Europäischen Union sein wird. Heinemann: Warum sieht das die Mehrheit der Britinnen und Briten anders? McAllister: Der Brexit war das ganz klar beherrschende Thema in diesem Wahlkampf und Boris Johnson hat eines geschafft: Er hat nicht nur die ohnehin überzeugten Brexit-Befürworter für die Konservativen gewinnen können, sondern er hat auch die Situation ausgenutzt, dass die Brexit-Müdigkeit im Land groß ist, und das dieses Versprechen von Boris Johnson, das jahrelange Gezerre zu beenden und das Land endlich aus der Europäischen Union zu führen, das hat offensichtlich die Stimmung in Teilen der Bevölkerung getroffen. Der Slogan "Get Brexit Done" hat einen Nerv getroffen. "Unerwartete Mehrheit für die Konservativen" Heinemann: Mit welchen Mitteln, wollte ich Sie gerade fragen, hat er diesen Wahlsieg erzielt? McAllister: Wenn Sie sich die Wahlkreis-Geographie Großbritanniens anschauen, sieht man ja bemerkenswerte Veränderungen bei dieser Wahl. Die Konservativen haben einige Wahlkreise im Großraum London, der traditionell proeuropäisch ist, zwar verloren, aber man ist ja massiv eingebrochen in Regionen, wo normalerweise für die Konservativen nichts zu holen ist. Im Norden, in den Midlands, sogar in Wales hat man der Labour Party Wahlkreise abgejagt, und das hat letztlich dazu geführt, dass es diese, in dieser Höhe unerwartete Mehrheit für die Konservativen gibt. Heinemann: Nationalismus ist schick! – Was heißt das für die CDU? McAllister: Die CDU ist eine alles andere als nationalistische Partei. Das waren wir nicht, das werden wir auch nicht sein. Die Christlich-Demokratische Union in Deutschland ist proeuropäisch und wir wollen jetzt, dass die Europäische Union mit 27 Staaten erfolgreich weitermacht. Heinemann: Wieso ist Populismus erfolgreich? McAllister: Das ist eine gute Frage. Der Populismus hat die Gabe, politisch komplizierte Sachverhalte sehr einfach zu beantworten, zu einfach. Demokratie ist komplex und man muss immer wieder den Menschen in einer Demokratie deutlich machen, dass es oft nicht nur ein einfaches Ja oder Nein auf eine Frage geben kann in einer Demokratie. Was ich den Populisten im Vereinigten Königreich nach wie vor vorwerfe ist, dass die ganze Kampagne für den Brexit auf falsche Tatsachen aufgebaut wurde. Man hat den Menschen Halbwahrheiten und Dreiviertel-Lügen aufgetischt. Aber so sehr wir den Brexit bedauern, wir müssen jetzt diese Entscheidung akzeptieren. "Empörung über verantwortliche Politiker" Heinemann: Herr McAllister, wer Boris Johnson gewählt hat, der wusste, was sie oder er bekommen würde. War die Brexit-Abstimmung 2016 so gesehen doch kein Betriebsunfall? McAllister: Die Menschen im Vereinigten Königreich haben 2016 demokratisch entschieden. Es gab damals eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union, auch wenn die Kampagne für britische Verhältnisse ungewöhnlich polarisierend geführt wurde und, wie ich eben betont habe, auch wirklich mit falschen Fakten gearbeitet hat. Aber seit 2016 führt dieses Land eine leidenschaftliche Debatte über die Umsetzung des Brexits. Das britische Unterhaus war über mehrere Monate nicht handlungsfähig. Es gab eine Mehrheit bei der Abstimmung 2016 in der Bevölkerung für den Brexit. Das Parlament hat es nicht umgesetzt. Eine Müdigkeit hat sich breitgemacht, zum Teil auch eine Empörung über verantwortliche Politiker in London, und das hat Boris Johnson mit einer zugegebenermaßen geschickten Kampagne für sich ausnutzen können. Und im Übrigen hat er auch die eigentliche Brexit-Party von Herrn Farage komplett marginalisiert in dieser Wahl. Heinemann: Was folgt aus der Art der Debatte und der Auseinandersetzung für künftige Wahlkämpfe zum Beispiel auch in Deutschland? McAllister: Wahlen in Deutschland folgen nach anderen Prinzipien. Wir haben das Verhältniswahlrecht. Insofern gibt es nicht diese Zuspitzung auf die einzelnen Wahlkreise. Was wir aus Großbritannien nicht lernen sollten ist, dass die Sprache in der Politik so aggressiv geworden ist, dass die Spaltungen tiefer geworden sind. Wir sind alle klug beraten, in Deutschland einen Beitrag dazu zu leisten, dass der politische Diskurs bei uns kompromiss- und konsensorientiert bleibt, dass wir uns gegenseitig respektieren und dass es nicht zu einer weiteren Verrohung der Sprache in der politischen Auseinandersetzung kommt. "Die schottischen Nationalisten haben abgeräumt" Heinemann: Was folgt Ihrer Meinung nach aus dem Wahlsieg der schottischen Nationalisten für die Einheit des Landes? McAllister: So sehr sich die Farbe der Wahlkreise im Vereinigten Königreich in England blau gefärbt hat in weiten Teilen, so sehr haben die schottischen Nationalisten in Schottland abgeräumt, nahezu alle Wahlkreise gewonnen. Im Wahlkampf in Schottland spielte wie überall im Land weniger das Thema schottische Unabhängigkeit eine Rolle, sondern es ging schon um das Thema Brexit, um Gesundheitspolitik und andere Fragen. Aber natürlich wird die schottische SNP-Regierung in Edinburgh jetzt dieses Wahlergebnis dazu nutzen, das als Forderung und Unterstützung für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland einzusetzen. Ein zweites Referendum in Schottland kann es nur geben, wenn es eine einvernehmliche Regelung gibt zwischen London und Edinburgh, und die britischen Konservativen haben ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum ausgeschlossen. Heinemann: Herr McAllister, schauen wir noch mal auf den Brexit-Fahrplan. Am 1. Februar würde das Vereinigte Königreich die EU planmäßig verlassen. Wenn es denn so kommt, dann blieben die Insel und der Inselteil noch einige Monate im Binnenmarkt und in der Zollunion. Ende 2020 wäre dann endgültig Feierabend, sofern bis Oktober die künftigen Beziehungen geregelt und ein Freihandelsabkommen unter Dach und Fach gebracht werden könnte. – Lange Rede, kurze Frage: Reichen dafür neun Monate? McAllister: Nahezu alle Experten sagen, dass das nicht möglich ist. Sie haben in der Tat recht: Am 1. Februar gehen wir in die nächste Runde. Dann beginnen die Verhandlungen über unsere künftigen Beziehungen, insbesondere über ein Freihandelsabkommen. Aber das in weniger als sieben, acht Monaten über die Bühne zu bringen, das ist extrem ambitioniert, meines Erachtens ausgeschlossen, denn erfahrungsgemäß dauern solche Verhandlungen mehrere Jahre. Die britische Regierung hat die Möglichkeit, die Frist für diese Phase, wo wir dieses neue Abkommen verhandeln, nochmals um bis zu zwei Jahre zu verlängern, aber dieser Antrag müsste bis spätestens 1. Juli gestellt werden, und bislang hat Boris Johnson das ja ausgeschlossen, dass er um eine Verlängerung der Übergangsperiode bitten würde. Aber vielleicht jetzt, wo die Wahllokale geschlossen sind, wird man noch mal in Ruhe in London über diese Position nachdenken. Heinemann: Am Brexit gibt es keinen Zweifel? McAllister: Leider nicht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
David McAllister im Gespräch mit Christoph Heinemann
Nach dem Erfolg von Boris Johnson bei den Unterhauswahlen in Großbritannien führt kein Weg mehr am Brexit vorbei. Der CDU-Politiker David McAllister sagte im Dlf, Johnson habe die Empörung der Bevölkerung über die Handlungsunfähigkeit der Politik geschickt zu seinen Gunsten genutzt.
"2019-12-13T07:15:00+01:00"
"2020-01-26T23:23:37.690000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mcallister-cdu-zum-sieg-johnsons-der-slogan-get-brexit-done-100.html
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Studioaufnahmen mal anders
Bis Mitte Februar lädt PJ Harvey ihre Fans dazu sein, bei den Aufnahmen zu ihrem neuen Album live dabei zu sein und in einem gläsernen Studio mitzuhören. Sie selbst sieht ihr Projekt "Recording in Progress" weniger als Performance oder Mini-Konzert, sondern eher wie eine Ausstellung in einer Galerie, bei der die Zuhörer den "Flow und die Energie mit erleben können". Den vollständigen Beitrag können Sie im Rahmen unseres Audio-on-demand-Angebotes mindestens fünf Monate lang nachhören.
Von Stephanie Pieper
Das gab es im Musikgeschäft noch nie: Während andere Künstler peinlich darauf achten, dass vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums keinerlei Ausschnitte vorab zu hören sind, wagt die britische Musikerin PJ Harvey den Tabubruch.
"2015-02-02T15:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:19:52.875000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musikgeschaeft-studioaufnahmen-mal-anders-100.html
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Weizsäcker: Italien handelt gegen eigenes Interesse
Beim EU-Bankenstresstest stehen besonders die italienischen Banken im Fokus (picture alliance/dpa) Christoph Heinemann: Europas Banken bekommen heute ein Zeugnis. Über Monate mussten die Geldhäuser Krisenszenarien durchrechnen. Heute Abend will die Europäische Bankenaufsicht EBA und die Europäische Zentralbank EZB die Ergebnisse des diesjährigen Stresstests veröffentlichen. Mit Sorgen blicken Finanzfachleute auf Italien. Die EU-Kommission hat die Haushaltsplanung der italienischen Regierung zurückgewiesen. Ein Defizit von 2,4 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das erhöhte den unüberschaubaren italienischen Schuldenberg weiter. Die Handelnden in Rom zeigen sich aber wenig beeindruckt von der Roten Karte. Am Telefon ist Jakob von Weizsäcker, SPD-Mitglied des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europäischen Parlaments. Guten Tag! Jakob von Weizsäcker: Guten Tag! Nicht im Interesse Italiens Heinemann: Herr von Weizsäcker, halten Sie die Haushaltspolitik der italienischen Regierung für gefährlich? Weizsäcker: Ja, und zwar in erster Linie für Italien selbst. Wir werden ja heute erfahren, wie die Stresstests für die europäischen Banken und insbesondere die Banken der Eurozone ausgehen werden, und da haben die italienischen Banken bereits heute ein Problem. Seit Regierungsantritt der neuen Regierung in Italien hat sich der Zinsaufschlag für italienische Staatsanleihen gegenüber den deutschen Anleihen etwa verdoppelt. Das bedeutet, dass die italienischen Staatsanleihen, die zuhauf in den Bilanzen der italienischen Banken schlummern, sehr deutlich bereits an Wert verloren haben, denn höher Zinsen, also Zinsaufschlag, bedeutet immer niedriger Wert der vorhandenen Staatsanleihen, und das reißt ein tiefes Loch in die Bilanzen der italienischen Banken. Das wiederum führt dazu, dass die Banken weniger freudig an vernünftige Vorhaben in Italien Geld verleihen, droht also das Wirtschaftswachstum zu verlangsamen. Das heißt, wir haben die paradoxe Situation, dass die italienische Regierung, die unvernünftige Wahlversprechungen gemacht hat bei der Wahl, dass die italienische Regierung versucht, diese Versprechungen zu erfüllen, die Märkte reagieren darauf mit höheren Zinsen, das wiederum sorgt dafür, dass die italienische Wirtschaft schlechter mit Krediten versorgt wird. Heinemann: Das weiß aber auch die … Bitte. Weizsäcker: Das heißt also, diese Vertrauenskrise, die wir jetzt erleben, da schneidet sich die italienische Regierung ins eigene Fleisch, und das macht mich so besorgt. Heinemann: Genau, aber das weiß auch die Regierung in Rom, aber sie bleibt dabei. Wie sollte die EU-Kommission darauf reagieren? Weizsäcker: Das ist das große Problem. Ich bin nicht ganz sicher, ob die italienische Regierung die Tragweite ihres Handelns überschaut, und zwar für Italien. Die befindet sich im Moment in so einem Modus, wo sie sagt, wir machen einfach die Dinge, die verboten sind laut europäischem Regelwerk und wehren uns damit in Italien gegen das Diktat aus Brüssel. Das ist aber, wie eben dargelegt, ein tiefes Missverständnis, und deshalb mache ich mir so große Sorgen. Wenn die italienische Regierung rational handeln würde, dann würde ich sagen, findet man einen rationalen Kompromiss, aber wenn erkennbar der Verhandlungspartner auf der anderen Seite Dinge tut, die eigentlich gar nicht im eigenen Interesse sein können, dann haben wir ein gravierendes Problem, und das macht mich so besorgt. "Wirtschaftswachstum und mehr Jobs schaffen" Heinemann: Ist die Frage, ob das alles unsinnig ist - nehmen wir das frühere Rentenalter: wenn man ältere Menschen früher in den Ruhestand schickt, dann können einige der vielen arbeitslosen jungen Menschen in Lohn und Brot gebracht werden, ist das nicht dringend notwendig in Italien? Weizsäcker: Also auf jeden Fall ist es notwendig, dass man mehr Wirtschaftswachstum und mehr Jobs schafft. Leider ist es so, dass die Rechnung, wir schicken ältere Leute in den Ruhestand, und dann können jüngere Leute die Jobs übernehmen, eine Milchmädchenrechnung, denn es ist keineswegs so, dass die Zahl der Arbeitsplätze in einem Land konstant ist. Die Zahl der Arbeitsplätze in einem Land hängt sehr davon ab, welche Art von Politik gemacht wird und natürlich auch, ob Banken für die Privatwirtschaft für vernünftige Projekte Geld zur Verfügung stellen können. Deshalb fürchte ich, dass das, was Sie da gerade schildern, also erst mal einleuchtend klingt, nicht so aufgeht. Das haben wir auch in Deutschland gemerkt, dass durch Frühverrentung auf die Dauer die wirtschaftliche Gesundheit eines Landes eher bedroht ist als befördern wird. Heinemann: Herr von Weizsäcker, wären Sie dafür, wenn jetzt alles dabei bleibt, wenn Italien, wenn die Regierung in Rom sagt, wir ziehen das jetzt durch, wären Sie dann dafür, dass Italien zum Beispiel EU-Fördergelder gestrichen würden? Weizsäcker: Der Weg ist ein anderer, der vorgesehen ist. Wir haben ja europäische Fiskalregeln, gegen die Italien im Begriff ist auf sehr wahrnehmbare und absichtliche Art und Weise zu verstoßen, dann wird ein Defizitverfahren stehen, und am Ende dieses Defizitverfahrens - das kann im Übrigen relativ rasch gehen, weil ja auch schon in der Vergangenheit in Italien nicht alles im grünen Bereich war, was die Fiskalpolitik anging - kann dann eine Strafe verhängt werden. Das ist der vorgesehene Weg. Es geht also nicht um Fördergelder, sondern es geht um ein Defizitverfahren, und in diesem Defizitverfahren stehen dann am Ende möglicherweise auch Strafen. Das kommt jetzt sehr darauf an, wie die italienische Regierung sich verhält. Das Paradoxe an der Situation ist natürlich, ein Land, was sich selbst gerade im Begriff ist zu bestrafen durch eine Regierung, die nicht besonders kluge Dinge tut, das noch zusätzlich zu bestrafen, ist möglicherweise auch schwierig, aber das sind die Regeln. Es geht also nicht um Fördermittel, sondern es geht um die Spielregeln des Defizitverfahrens. Italien zu bestrafen "nicht Aufgabe der Geldpolitik" Heinemann: Wird die Lage in Italien dazu führen, dass die EZB das laufende Aufkaufprogramm von Staatspapieren und damit die Zeit der niedrigen Zinsen später als geplant auslaufen lassen wird? Werden wir das hier zu spüren bekommen? Weizsäcker: Nein. Ich glaube, es ist wirklich ganz wichtig, dass man die Dinge auseinanderhält. Wir haben fiskalische Regeln, diese fiskalischen Regeln sind verstärkt worden in den letzten Jahren auf Basis der Erfahrungen, die man in der Krise gesammelt hat. Das ist das Instrument, mit dem eine Regelübertretung in einem Land der Eurozone geahndet wird. Es ist nicht Aufgabe der Europäischen Zentralbank Länder, die sich nicht an die Regeln halten, zu bestrafen oder, wie Sie jetzt in Ihrer Frage implizieren, zu belohnen, sondern es ist Aufgabe der Europäischen Zentralbank, die Preisstabilität sicherzustellen, und da hat die EZB ja bereits angedeutet, dass sie ihr Anleihekaufprogramm auf geordnete Art und Weise zurückführt, vorerst nicht die Zinsen erhöht, weil die Inflationsraten im Durchschnitt der Eurozone noch nicht über zwei Prozent liegen. Sobald man in die Nähe der zwei Prozent kommt, werden natürlich auch Zinsen angehoben, was im Übrigen bedeutet, dass die Refinanzierung von einer sehr hohen Staatsschuld - in Italien 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - dann noch schwieriger wird. Da kann und wird die Europäische Zentralbank keine Rücksicht nehmen, aber umgekehrt wird die Europäische Zentralbank natürlich auch nicht, weil sich Italien nicht an die Regeln hält, nun die Zinsen schneller erhöhen, um ein Land wie Italien zu bestrafen. Das ist nicht Aufgabe der Geldpolitik. Heinemann: Der SPD-Europapolitiker Jakob von Weizsäcker, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören! Weizsäcker: Bitte sehr, Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jakob von Weizsäcker im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die italienische Regierung schneide sich im Haushaltstreit mit der EU ins eigene Fleisch, sagte SPD-Politiker Jakob von Weizsäcker im Dlf. Italien sei im Begriff gegen europäische Fiskalregeln zu verstoßen. Das werde zu einem Defizitverfahren führen - an dessen Ende eine Strafe verhängt werden könne.
"2018-11-02T08:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:37.797000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italienische-schuldenpolitik-weizsaecker-italien-handelt-100.html
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Klangreisen ins Unbekannte
Stereo-Effekte, ganz ohne Elektronik: No Tongues-Trompeter Alan Regardin ist ein Klangforscher am Instrument (Deutschlandradio / Karl Lippegaus) No Tongues sind ein Quartett mit zwei Bässen, Saxofon bzw. Klarinette und Trompete. Der Bandleader Matthieu Prual hatte die Idee, zu ethnologischen Feldaufnahmen aus entlegenen Winkeln der Erde in Echtzeit zu improvisieren. Auf Gesänge von indigenen Völkern reagiert die Gruppe so, dass neue, imaginäre Klanglandschaften entstehen.House of Echo ist die 2012 gegründete Band des jungen Pianisten Enzo Carniel. Ihr subtiles Spiel mit Klangfarben und schimmernden Effekten öffnet weite Hörräume. Dabei bilden sich Klangskulpturen, die umpulst sind von energiegeladenen Rhythmen.Das Foltz Quartet zeigt starke Bezüge zur Jazz-Geschichte: ohne den Einfluss Eric Dolphys wäre das betörende Bassklarinettenspiel des Straßburgers Jean-Marc Foltz wohl kaum denkbar. Zu seinen Kammerjazz-Kompositionen hat er sich von Tierfotografien aus der afrikanischen Steppe inspirieren lassen. Aufnahmen vom 6. und 7.6.2019 beim Festival Jazzdor in Berlin
Am Mikrofon: Karl Lippegaus
Alljährlich Anfang Juni fand bisher in Berlin das französisch-deutsche Jazzdor Festival statt. Sein Schwerpunkt: zeitgenössische Improvisationsmusik. Mit den fulminanten Newcomer-Bands No Tongues und House Of Echo wurde es auch 2019 seinem Ruf gerecht, Überraschungen und Entdeckungen zu präsentieren.
"2020-06-09T21:05:00+02:00"
"2020-05-29T22:07:22.269000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jazzdor-berlin-2019-nachlese-klangreisen-ins-unbekannte-100.html
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"Das ist für uns eine zentrale Forderung"
Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich jetzt die stellvertretende Vorsitzende des DGB. Einen schönen guten Morgen, Ingrid Sehrbrock.Ingrid Sehrbrock: Guten Morgen, Herr Barenberg.Barenberg: Frau Sehrbrock, die Wirtschaft hat in den letzten Jahren viele neue Lehrstellen geschaffen, in einem Kraftakt oftmals. Erkennen jetzt auch die Gewerkschaften, dass der Ausbildungspakt ein Erfolgsmodell ist?Sehrbrock: Wir sind nach wie vor kritisch, was das alte Modell anbetrifft, aber es gibt ja neue Überlegungen jetzt für den Pakt, die wir eingebracht haben. Wir bleiben bei unserer Kritik am alten Pakt, dass viele junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen, nicht in dieser Statistik auftauchen, beispielsweise diejenigen, die ausbildungsreif sind, aber doch noch in eine Maßnahme geschickt werden, oder die sich für die Zeit einen Job suchen, oder dann doch noch die Schule weiter besuchen, aber trotzdem ein Interesse aufrecht erhalten an einem Ausbildungsplatz. Die gelten nach der bisherigen Statistik als versorgt, die tauchen in der Statistik nicht auf, und deshalb haben wir gesagt, das ist eine geschönte Bilanz und die jungen Leute finden sich in dieser Bilanz nicht wieder, gerade diejenigen, die seit Jahren einen Ausbildungsplatz suchen. Und wenn sie die Statistik nehmen von 1,5 Millionen Jugendlichen ohne Ausbildung im Alter zwischen 25 und 29, dann müssen die ja irgendwo herkommen. Also so erfolgreich kann der alte Pakt nicht gewesen sein.Barenberg: 1,5 Millionen Jugendliche ohne Ausbildung, das heißt, in jedem Fall sind alle Schuld, nur nicht die Jugendlichen selber? Tragen die auch Verantwortung dafür?Sehrbrock: Ja, natürlich. So einfach ist es natürlich nicht. Junge Leute müssen sich auch selbst bemühen. Aber wir wissen natürlich, gerade auch für Hauptschulabgänger mit und ohne Abschluss sind die Perspektiven – das zeigen die Statistiken – sehr, sehr schlecht. Wenn man sie befragt, sagen über 70 Prozent, sie sehen überhaupt keine Perspektive, nicht nur für einen Ausbildungsplatz, sondern auch für eine Beschäftigung. Natürlich müssen auch die Schulen stärker darauf achten, dass junge Leute die Qualifikationen mitbringen, die sie brauchen für einen Ausbildungsplatz. Häufig haben junge Leute auch völlig falsche Vorstellungen über das, was an Anforderungen besteht. Da ist noch Nachholbedarf, das ist überhaupt keine Frage. Aber man darf sich es auch nicht zu leicht machen und sagen, die sind alle nicht ausbildungsreif und deshalb finden die keinen Platz.Barenberg: Das heißt, die Kritik der Unternehmen an dieser Stelle halten Sie für weitaus überzogen?Sehrbrock: Die halten wir für überzogen und die ist auch so ein bisschen eine Ausrede unserer Meinung nach. Wir haben ja auch vorgeschlagen, dass man es auch mit schwächeren jungen Leuten versuchen soll. Wir haben vorgeschlagen, dass man die ausbildungsbegleitenden Hilfen ausbaut, dass man fachlich begleitet wird, dass man auch sozialpädagogisch begleitet wird. Das geht ja alles, das Instrument gibt es, es ist viel zu wenig bekannt und es würde jungen Leuten helfen und den Betrieben.Barenberg: Die Instrumente gibt es, sagen Sie. Insofern: Was müssen die Unternehmen noch mehr machen? Viele Unternehmen geben ja heute schon Nachhilfe und begleitende Maßnahmen, um den jungen Leuten zu helfen.Sehrbrock: Genau das ist eben das Problem. Das passiert eben nicht in dem Umfang und manchmal sind die Betriebe ja auch tatsächlich überfordert. Deshalb sagen wir, dritter Partner, ein Träger beispielsweise, der Erfahrung hat mit jungen Leuten, kann dieses tun. Das ist unsere Vorstellung. Dann schafft man es eben auch, dass schwächere junge Leute die Prüfung packen. Das ist durchaus möglich. Aber es gibt ja auch andere Initiativen, beispielsweise auch von den Gewerkschaften, dass man schwächeren Jugendlichen erst mal ein halbes Jahr eine Möglichkeit gibt, in einem Betrieb reinzuriechen und festzustellen, was da an Qualifikation erforderlich ist. Das machen ja gerade beispielsweise auch die BASF. Das ist auch ein Ansatz, der gerade von den Gewerkschaften auch verfolgt wird.Barenberg: Nun haben sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert in den vergangenen Jahren. Es war früher ja so, dass die Schulabgänger verzweifelt eine Lehrstelle gesucht haben. Jetzt finden Handwerksmeister und auch Banken oder Versicherungen oft keine geeigneten Bewerber. Welchen Sinn macht es dann noch, wenn Sie auf Ihrer Forderung beharren, die Wirtschaft müsste in jedem Fall 60.000 neue Lehrstellen im Jahr schaffen und organisieren?Sehrbrock: Na ja, ich habe ja diese 1,5 Millionen jungen Leute genannt, die keine Ausbildung haben. Die müssen ja eigentlich – nicht eigentlich, sondern die müssen ja auch ein Angebot haben. Die sollten ja auch eine Ausbildung haben. Jetzt gerade, wo wir schon vom Fachkräftemangel reden, müssten wir ja die Potenziale nutzen. Ich denke insbesondere an die sogenannten Altbewerber, die ja schon seit Jahren sich beworben haben, denen eigentlich nichts fehlt außer einem Ausbildungsplatz. Es ist ja inzwischen auch ein riesengroßes Übergangssystem entstanden, wo junge Leute drin stecken, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, aber die von der Bundesagentur in eine Maßnahme gesteckt werden zur Berufsvorbereitung, zur Berufsorientierung, in unterschiedlichsten Projekten stecken, und dieses Übergangssystem gilt es erst mal abzubauen und solange dieses Übergangssystem noch nicht abgebaut ist, denke ich, können wir auch noch nicht die Notbremse ziehen und sagen, es ist jetzt schon alles in Ordnung, sondern wir müssen erst mal die Mängel und die Fehler der vergangenen Jahre aufarbeiten, und da haben wir noch erheblichen Bedarf.Barenberg: Aber sind auf gutem Wege, frage ich Sie, denn was die Altbewerber angeht, so hat sich ihre Zahl ja auch nahezu halbiert, wenn ich das richtig weiß?Sehrbrock: Die Zahl ist natürlich auch zurückgegangen, aber wir haben ja sehr unterschiedliche Situationen in der Bundesrepublik. Es gibt Regionen, wo der Bedarf inzwischen schon, oder sagen wir mal das Angebot schon höher ist als die Nachfrage, aber wir haben immer noch viele Regionen, wo die Nachfrage erheblich höher ist als das Angebot an Ausbildungsplätzen. Also wir müssen erst mal aufräumen, und bevor wir sagen können, es ist alles in Butter.Barenberg: Was können denn die Gewerkschaften beisteuern zu einem solchen Pakt, wie können sie sich sinnvoll einbringen?Sehrbrock: Zum einen gibt es Sozialpartnervereinbarungen, beispielsweise eben für schwächere junge Leute ein Angebot zu machen, die ein halbes Jahr schon vor der Ausbildung im Betrieb zu beschäftigen mit der Zusage, einen Ausbildungsplatz dann auch zu bekommen. Das ist das eine. Das zweite ist, wir machen schon seit vielen Jahren Angebote für die Berufsorientierung, vertiefte Berufsorientierung beispielsweise für junge Leute, die noch nicht so genau wissen, wo es eigentlich lang gehen soll. Wir haben dazu auch ein spezielles Angebot gemacht über zwei Wochen, was sehr gut angenommen worden ist von jungen Leuten, um einfach mal einen breiteren Einblick in bestimmte Arbeitsbereiche zu finden, um nur mal diese beiden Beispiele zu nennen. Und wir können natürlich auch in den Betrieben selber dafür sorgen, über die Betriebs- und über die Personalräte, dass der Betrieb Ausbildungsplätze aufrecht erhält, oder zusätzliche einwirbt und sich entsprechend festlegt.Barenberg: Zum Schluss, Frau Sehrbrock: Die Wirtschaft sperrt sich noch, was die 60.000 neuen Lehrstellen angeht. Halten Sie an dieser Forderung fest, sonst machen Sie nicht mit?Sehrbrock: Das ist für uns eine ganz zentrale Forderung. Wir haben ja eigentlich immer zusätzliche Ausbildungsplätze erwartet, und nun heißt es in diesem Pakt, die Wirtschaft strebt an. Das ist ja auch schon eine offene Formulierung und es steht in diesem Text auch, dass die demographische Entwicklung möglicherweise das eine oder andere Ziel nicht möglich macht. Also sehr viel mehr Flexibilität, denke ich, ist eigentlich nicht möglich auch von unserer Seite.Barenberg: Ingrid Sehrbrock, die stellvertretende Vorsitzende des DGB, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Frau Sehrbrock.Sehrbrock: Bitte sehr.
Ingrid Sehrbrock im Gespräch mit Jasper Barenberg
Ingrid Sehrbrock, stellvertretende DGB-Vorsitzende, fordert 60.000 neue Lehrstellen. Grundsätzlich stünde der DGB aber für einen neuen Ausbildungspakt zur Verfügung. Unerlässlich sei aber auch, dass Jugendliche besser qualifiziert die Schulen verließen.
"2010-10-26T07:15:00+02:00"
"2020-02-03T18:10:28.786000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-ist-fuer-uns-eine-zentrale-forderung-100.html
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Neues Schiffsunglück im Mittelmeer sorgt für Bestürzung
Neues Schiffsunglück vor Lampedusa. (Italy Alpine Rescue/dpa) Die EU-Staaten müssten außerdem mehr Ressourcen für Such- und Rettungsoperationen bereitstellen, verlangten das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die Internationale Organisation für Migration und das Kinderhilfswerk Unicef in einer gemeinsamen Stellungnahme. Die Organisationen sprachen zudem von "völliger Skrupellosigkeit" der Schlepper, die untaugliche Boote auf den Weg nach Europa brächten und die Passagiere der Gefahr eines Todes auf See aussetzten. Die italienische Küstenwache hatte heute vier überlebende Flüchtlinge nach Lampedusa gebracht. Ihr Boot war gekentert, laut Aussage der Geretteten hatten sich 41 weitere Personen darauf befunden. Diese Nachricht wurde am 09.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
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Nach einem weiteren Bootsunglück mit Migranten im Mittelmeer haben mehrere internationale Organisationen erneut sichere Einwanderungs- und Fluchtwege nach Europa gefordert.
"2023-08-09T22:20:15+02:00"
"2023-08-09T17:31:34.459000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-schiffsunglueck-im-mittelmeer-sorgt-fuer-bestuerzung-100.html
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Keine klaren Ansagen
Debatte um die Spitzensportreform im "Aktuellen Sportstudio" im ZDF. (imago - Hoffmann) Die Ausgangslage skizziert Bundesinnenminister Thomas de Maizière: "Das wissen ja auch alle, dass wir drohen, ins Mittelmaß abzurutschen und deswegen wollen wir eine Reform machen, die das besser macht." Das heißt: Medaillen statt Mittelmaß, und das bitteschön sauber. Hörmann: "Es muss in jeder Hinsicht dopingfrei agiert werden. Wir wollen Medaillen, aber nicht um jeden Preis. De Maizière: "Das ist exakt das, was ich für richtig halte: erfolgreich fair und sauber." Sind sich DOSB Präsident Alfons Hörmann und der Bundesinnenminister einig. Das ist ihr Auftrag an die Athleten. Die allerdings haben vor zwei Wochen bei der Athletenvollversammlung in Bonn das erste Mal von Sport und Staat überhaupt Einzelheiten zur Reform erfahren. Nachlesen können sie das Ganze in einem knapp 40-seitigen Eckpunktepapier. Dort geht es unter anderem auch um die Kriterien, nach denen ein Computerprogramm die in Zukunft die förderungswürdigen Disziplinen ausmachen soll. Das wirft Fragen auf, auch bei Triathlon-Olympiasieger Jan Frodeno: Grabenkämpfe, weil jeder für seine Sportart das Optimum rausholen will "Dass man nicht weiß, was analysiert diese Software? Was macht man mit dieser Software und da die Kultur in Deutschland im Sport momentan meiner Meinung nach schwierig ist, von dem, was ich mitbekomme von Grabenkämpfen innerhalb der Verbände - ist sowas, finde ich, etwas, was vielleicht Misstrauen schafft." Von Grabenkämpfen in den Verbänden berichtet Frodeno. Damit spricht der Triathlet an, was öffentlich bisher niemand gesagt hat: Nach außen wird Einigkeit demonstriert und hinter den Kulissen versuchen alle, für ihre Sportart oder Disziplin das Beste herauszuholen. In diesem Umfeld müssen die Athleten derzeit Sport treiben. Welche Auswirkungen die Reform konkret für ihren Alltag haben wird, wissen sie noch nicht. Dabei sollen eigentlich die Sportler im Mittelpunkt der Neuordnung stehen, heißt es. Auch darauf bezieht sich Säbelfechter und Athletensprecher Max Hartung, wenn er fragt: Verwirrung: Müssen Sportler umziehen? Gar aufhören? "Was bedeutet es für den Athleten, wenn Bundesstützpunkte beispielsweise geschlossen werden? Muss der vielleicht umziehen, wie wird das kompensiert?" Statt einer direkten Antwort ergänzt Moderator Jochen Breyer: "Max, passend dazu haben wir über Facebook die Frage bekommen von Nadine Apez, einer Boxerin. Sie fragt: Wie finde ich heraus, ob mein Bundesstützpunkt geschlossen wird?" Präsident Alfons Hörmann darf sich bei seiner Antwort hinter Zahlen verstecken: Hörmann: "Die Kürzung von 205 auf 165 Stützpunkte ist offiziell transparent an alle Fachverbände kommuniziert. Breyer: "Also sie muss bei ihrem Fachverband nachfragen." Hörmann: "Auch am jeweiligen Stützpunkt liegt die Information längst vor." Breyer: "Alles klar. Prima." Ein "prima" entlässt Hörmann aus der Verantwortung und befreit ihn von der Antwort. Athleten wie Säbelfechter Max Hartung wissen nach wie vor nicht, müssen sie umziehen, können sie ihre Ausbildung an ihrem derzeitigen Wohn- und Trainingsort weiterführen? Müssen sie ihren Sport an den Nagel hängen? Welche Auswirkung die Schließung eines Bundesstützpunktes im Schwimmen haben kann, skizziert Schwimm-Bundestrainer Henning Lambertz: "Wenn ich 80 Athleten habe und ich die bisher auf acht Stützpunkte konzentriert habe und das jetzt auf vier tue, habe ich 20 Athleten an einem Stützpunkt. Die soll jetzt ein Stützpunkt-Trainer, der sowieso schon überfrachtet ist, der administrative Dinge tun soll, der Planungsdinge tun soll, der innenpolitisch wirken soll, der die Kaderathleten trainieren soll und der noch sichten soll in der Peripherie. Das wird nicht funktionieren." De Maizière: Hilfen für restliche Stützpunkte Da konnte der für den Sport zuständige Bundesinnenminister nur beipflichten und sicherte umfangreiche Hilfen für die verbleibenden Stützpunkte zu: "Wenn Sie an vier Standorten besser sind als an acht Standorten, dann wird man sagen, wenn ihr dafür mehr Trainer braucht, dann wird es dafür mehr Geld geben." Mehr Geld für die Potenziale der Zukunft, also für Medaillen. Wie diese Potenziale ermittelt werden, bleibt weiter nebulös. Und was passiert mit denen, die durch das Potenzialraster fallen? Die klare Antwort: "Die kriegen kein Geld mehr" gibt’s nicht. Statt dessen viel Unverständliches vom DOSB-Präsidenten: Keine klaren Ansagen von Hörmann "Wir reden über potenzialorientierte Fördersystematik von bestimmten Disziplinen, also geht’s auch gar nicht nur um den Einzelsportler, sondern wir reden über die Disziplin in ihrer Gesamtheit." Die Ausführungen von Alfons Hörmann gehen noch länger so weiter. "Die Schlechten kriegen kein Geld mehr" – dieser Satz fällt dabei nicht. Wäre aber wichtig, meint Christina Schwanitz. Für die Kugelstoß-Weltmeisterin ist die Höhe der Förderung ein wichtiger Punkt bei der Entscheidung der Athleten für eine Disziplin: Schlüsselfrage: Wie soll man Sportler noch motivieren? "Wie soll man denn dann noch jemanden dazu motivieren und sagen: 'Ey, ich mach aus Lust und Laune, meine Eltern müssen beide 24 Stunden arbeiten, weil es wird nicht mehr gefördert, es ist ne dopingverseuchte Sportart, klar mach ich das.'" Auch Chef-Bundestrainer Henning Lambertz befürchtet, dass seinen Schwimmern Kürzungen drohen. Er rechnet vor: Der britische Verband habe für einen Spitzenschwimmer fünf bis sechsmal soviel Geld zur Verfügung wie der deutsche. Vielleicht sucht er ja sogar in Großbritannien sein Glück? Wie alle Bundestrainer in Deutschland – außer denen in den Profisportarten - hat Henning Lambertz sechs Wochen vor Jahresende noch keinen Vertrag für 2017.
Von Andrea Schültke
Die Spitzensportreform ist ein Thema, an dem niemand vorbei kann. Nicht einmal das "Aktuelle Sportstudio" im ZDF. Am Samstag kam die Sendung ungewohnt sportpolitisch daher: Der Bundesinnenminister, der DOSB-Präsident und Vertreter aus dem Sport diskutierten unter dem Motto: "Mehr Medaillen zu welchem Preis?" Doch klare Ansagen von Hörmann und de Maizière blieben aus.
"2016-11-13T19:10:00+01:00"
"2020-01-29T19:04:01.040000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spitzensportreform-als-fernsehthema-keine-klaren-ansagen-100.html
91,882
Garcia-Einspruch abgeschmettert
Ein Fifa-Logo an einem Gebäude des Verwaltungssitzes des Fußballweltverbandes in Zürich, Schweiz. (afp / Fabrice Coffrini) Die FIFA-Berufungskommission hat den Einspruch von Chefermittler Michael Garcia gegen die Bewertung seines Untersuchungsberichts zu den WM-Vergaben nach Russland und Katar durch den Vorsitzenden der Spruchkammer des Ethikkomitees, Hans Joachim Eckert, abgeschmettert. Der Einspruch sei unzulässig, hieß es heute in einer offiziellen Stellungnahme, weil die Erklärung Eckerts keine Entscheidung nach Artikel 30 und 73 des FIFA-Ethikcodes darstelle. Daher sei die Erklärung weder rechtlich bindend noch anfechtbar. Kein Schlussbericht Der FIFA-Ethikcode sei so angelegt, Individuen zu bestrafen, wenn sie gegen den Kodex verstoßen, heißt es in der Stellungnahme weiter, doch richte sich Eckerts Erklärung weder gegen Individuen noch gegen mehrere Personen und enthalte auch keine Sanktionen. Der Garcia-Report sei zudem kein Schlussbericht und es würden keine Regelverstöße einer beschuldigten Person aufgelistet oder eine Empfehlung von Sanktionen gegen jemanden ausgesprochen. Der Dissens existiert nach wie vor Damit hat die Berufungskommission zwar einen juristischen Punkt geklärt, doch den Hauptvorwurf Garcias überhaupt nicht angesprochen. Denn der FIFA-Chefermittler hatte kurz nach der Publikation der Erklärung des Münchner Richters Eckert kritisiert, sein Bericht sei fehlerhaft und unvollständig wiedergegeben worden. Anders gesagt: Der Dissens bei den beiden Chefethikern der FIFA existiert nach wie vor und ist nicht ausgeräumt.
Von Hans-Jürgen Maurus
Der Bericht zur Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an Russland und Katar sorgt weiterhin für Zündstoff. FIFA-Sonderermittler Michael Garcia hatte zahlreiche unvollständige und fehlerhafte Darstellungen der Tatsachen und Schlussfolgerungen kritisiert und Berufung gegen den Bericht eingelegt. Ohne Erfolg.
"2014-12-16T17:58:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:17.276000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-berufungskommission-garcia-einspruch-abgeschmettert-100.html
91,883
Gar nicht cool
Der Jamaika-Bob von Jazmine Fenlator-Victorian und Carrie Russell. (imago sportfotodienst) Wer sich für die Karriere der Bobpilotin Jazmine Fenlator-Victorian interessiert, kann auf ihrer Instagram-Seite viele Momentaufnahmen finden, die ihren sportlichen Werdegang illustrieren. Darunter solche aus dem Winter vor vier Jahren, als sie zum ersten Mal an Olympischen Spielen teilnahm. In einem engen blauen Rennanzug mit drei großen weißen Lettern auf dem Rücken: "USA". Die Zweierbob-Fahrerinnen Jazmine Fenlator-Victorian und Carrie Russell aus Jamaika. (imago sportfotodienst) Die 32-jährige aus New Jersey ging damals mit der prominenten Hürdensprinterin Lolo Jones ins Rennen. Das Resultat war eine Enttäuschung: Platz elf von neunzehn Bobs und weit abgeschlagen hinter den beiden anderen amerikanischen Teams, die in Sotschi Silber und Bronze gewannen. Es war nicht das Ende ihrer Ambitionen. 2015 wechselte sie – Tochter eines jamaikanischen Vaters und einer Mutter mit deutschen, polnischen und lettischen Wurzeln – einfach den Verband. Und sie schrieb sich bei der Gelegenheit ein neues Thema auf die Fahnen: Vorbild in Sachen Hautfarbe. Inspiriert von "Cool Runnings" Ein emotionales Anliegen, wie sie bei einer Pressekonferenz in Pyeongchang deutlich machte: "Es ist mir wichtig, dass kleine Mädchen und kleine Jungen jemand erleben, der so aussieht und redet wie sie. Der dieselbe Kultur repräsentiert, der krause Haare und dunkle Haut hat. Wenn du ohne das aufwächst, hast du das Gefühl, dass du so etwas nie schaffen wirst. Und das ist einfach nicht richtig." Es klang nach einer der Wohlfühl-Geschichten, auf die man beim IOC so stolz ist. Einfach zu erklären. Inspiriert vom jamaikanischen Viererbob in Calgary 1988. In Hollywood später unter dem Titel "Cool Runnings" inszeniert. Trainerin wurde ihres Amtes enthoben Cool ging es in Südkorea allerdings überhaupt nicht zu. Denn kurz vor Beginn der Bob-Wettbewerbe wurde die einzige wirkliche Fachkraft im Team, Trainerin Sandra Kiriasis, einfach ihres Amtes enthoben. Sie war verblüfft, dass sie "das Jamaika-NOK-Team verlassen muss, aus dem Dorf ausziehen muss, meine Akkreditierung abgeben muss, noch einen Bahn-Pass bekommen soll, damit ich weiterhin Bahntrainerin sein kann. Mit dem Zusatz, und nicht nur einmal mit dem Zusatz: ohne Kontakt zu den Athleten zu haben. Der wurde mir untersagt." Die Bob-Olympiasiegerin und Trainerin von Bobteam Jamaika, Sandra Kiriasis, steht im Zielbereich. (dpa) Kiriasis spitzte die Sache zu, als sie sich weigerte, dem Team den teuren Bob zu überlassen. Den habe sie persönlich besorgt und fühle sich für ihn verantwortlich. Die Wortgefechte in den Medien konnten aber nicht aufklären, was eigentlich der Auslöser für die Auseinandersetzung gewesen war. Jazmine Fenlator-Victorian hüllt sich bis heute in Schweigen. "Eine untergeordnete Trainerin" Auch Leo Campbell, der Chef de Mission der jamaikanischen Olympiamannschaft, blieb in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" eher wolkig. Betonte aber, dass die unbotmäßige Angestellte seines Verbands eigentlich sowieso nichts zu sagen gehabt hätte: "Sie war Assistenzcoach, kein Chefcoach. Sagen wir, eine untergeordnete Trainerin." Jamaika-Bob nur Vorletzter Zum Glück für den Verband sprang eine jamaikanische Brauerei ein und zahlte das Geld, um denselben Bob zu kaufen. Fenlator-Victorian und Bremserin Russell Carrie landeten allerdings nur auf dem 19. Platz von 20 Teilnehmern. Schlagen konnten sie mal gerade die Mannschaft aus Nigeria, die sie mit ihrem Knatsch in den Schatten gedrängt hatten. Dass in Pyeongchang die ersten Repräsentanten Afrikas im olympischen Eiskanal an den Start gegangen waren, wurde durch das Theater im Lager der Jamaikaner völlig in den Hintergrund gedrückt. Pilotin Jazmine Fenlator-Victorian und Anschieberin Carrie Russell aus Jamaika starten. (dpa) Auch die deutsche Trainerin sah irgendwann nicht mehr besonders gut aus, weil einige ihrer Behauptungen von der BSC Winterberg Marketing GmbH, dem ursprünglichen Besitzer des Bobs, in Abrede gestellt wurden. "Frau Kiriasis hat den Bob für Jamaika nicht organisiert oder besorgt", hieß es in einer Stellungnahme, die darüberhinaus erklärte: Die Goldmdaillengewinnerin von 2006 sei schon gar nicht "zu irgendeiner Zeit 'Besitzerin' des Bobs" gewesen". Die ganze Episode brachte kurioserweise die Vorbereitungsroutine einer anderen Fahrerin durcheinander – der zweimaligen Olympiasiegerin Kaillie Humphries aus Kanada. "Sandra ist eine starke Frau" Sie wird ebenfalls von Kiriasis trainiert, die nun, weil ihr die Jamaikaner die Akkreditierung weggenommen hatten – nicht mehr an die Strecke durfte. Sie schätzte gegenüber der Internetplattform Sport1 die Auseinandersetzung so ein: "Ich glaube, dass irgendwann ein Punkt erreicht wurde, an dem der Stolz gewisser Personen verletzt wurde. Sandra ist eine starke Frau. Sie weiß, wie man gewinnt, deshalb wollte ich sie auch in meinem Team. Davon fühlen sich Männer manchmal bedroht und davon fühlen sich Organisationen und Verbände bedroht, die ihren Laden nicht im Griff haben." Gold ging an Mariama Jamanka Der Streit wirkte sich für Humphries, die einst übrigens die Verbindung zwischen der Deutschen und den Jamaikanerinnen eingefädelt hatte, ganz offensichtlich ebenfalls negativ aus. "Wenn sie nicht hier an der Bahn ist, wird es schwierig", prophezeite sie. Und tatsächlich. Humphries holte diesmal nur Bronze. Gold ging an Mariama Jamanka. Jamanka. Nicht Jamaika.
Von Jürgen Kalwa
Beim Streit um den Jamaika-Bob kommt keiner gut weg. Weder der Bobverband von der Karibikinsel noch die deutsche Trainerin Sandra Kiriasis. Die Kollateralschäden reichen weit.
"2018-02-25T19:33:00+01:00"
"2020-01-27T17:40:54.012000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jamaika-bob-gar-nicht-cool-100.html
91,884
Google sagt, wo es im Online-Werbemarkt lang geht
Das Logo von Google auf dem Firmencampus (picture-alliance / dpa / Christoph Dernbach) Dienstag, 10:30 Uhr Johannes Müller hält das wichtigste Referat der Konferenz. Auf der SMX ist er Googles John Müller. Er ist der Mann, der sagt, was Sache ist bei der Suchmaschinen-Optimierung. Mobile-First-Indexing lautet dieses Jahr die Ansage. Greg Gifford vom US-Marketing-Unternehmen Dealeron erklärt, was es damit auf sich hat: "Bis vor ein, zwei Wochen basierte Googles Suchindex auf den Desktop-Versionen der Sites. Egal, ob man mit einem Desktop-PC oder mit einem Mobilgerät gesucht hat, entscheidend waren die Desktop-Versionen. Das wird jetzt umgestellt. Jetzt ist die mobile Version ausschlaggebend für die Reihung der Ergebnisse – auch bei der Suche mit dem Desktop." Mobile-First-Index wird nur schrittweise eingeführt Also Googles geheimnisumwitterter Algorithmus rechnet künftig bevorzugt mit Daten von Web-Seiten, die für die kleinen Bildschirme von Smartphones ausgelegt sind. Die auf Browser unter Windows ausgerichtete Version einer Seite tritt dagegen in den Hintergrund. Mobile First eben. Keine große Sache - sollte man meinen, zumal sich überhaupt nichts ändert, wenn es nur eine Version einer Seite gibt. Und darüber hinaus wird der Mobile-First-Index nur schrittweise eingeführt wird. Aber wieder einmal bekommt eine ganze Branche – die der Suchmaschinen-Optimierer - neue Geschäftsbedingungen diktiert wie jedes Mal, wenn Google etwas bei der Internet-Suche verändert. Und betroffen sind auch Werbeträger und Online-Handel. "Google warnt seit Jahren, dass diese Umstellung kommt, dass Unternehmen mit inhaltsarmen mobilen Sites aus den Suchergebnissen fallen können." Also Webshops etwa müssen jetzt ihr gesamtes Angebot auch mobil vorhalten. Zu erwarten, dass sich die Kundschaft zum Kaufen schon an den PC setzen wird und deshalb die mobile Site zu vernachlässigen, das könnte sich existenzgefährdend auswirken. Google reagiert mit dem Mobil-First-Indexing zum einen auf den Bedeutungszuwachs, den das mobile Internet in den vergangenen zehn Jahren erfahren hat. Und zum anderen beschleunigt der Konzern diesen Wandel und setzt Technologien durch, die ihn unterstützen. Das reponsive – das anpassungsfähige - Webdesign beispielsweise. Spracheingabe wird später berücksichtigt "Responsive bedeutet, eine Site nur einmal zu programmieren, anstatt eine Desktop- und eine mobile Version vorzuhalten - beispielsweise auf einer Subdomain. Der Code organisiert dann die angezeigten Inhalte verschieden, je nachdem wie groß der Bildschirm des Geräts ist." Und weitere Trends zeichnen sich ab, die Spracheingabe beispielsweise. Viele Surfer sprechen mittlerweile Suchanfragen in ihr Smartphone, anstatt sie auf der winzigen Bildschirmtastatur einzutippen. Hier ist Google mit seinem Assistant auf den meisten Smartphones präsent. Und die Sprachein- und -ausgabe bildet auch die bevorzugte Benutzerschnittstelle im Internet der Dinge. Der smarte Lautsprecher Home ist das bekannteste Produkt des Konzerns auf diesem Gebiet. Es ist absehbar, dass Google auch auf die Spracheingabe mit seinem Algorithmus reagieren wird. Aber das dürfte noch etwas dauern, glaubt Greg Gifford. "Derzeit ist es bloß eine andere Art der Suchanfrage. Anstatt Suchbegriffe einzugeben, spricht man mit einem Gerät. Gegenwärtig ändert die Spracheingabe nichts. Künftig müssen die Inhalte stärker dialogorientiert sein, also sich darauf ausrichten, wie jemand mit der Suchmaschine spricht. Aber aktuell müssen sich Site-Betreiber deswegen noch keine Sorgen machen."
Von Achim Killer
Bei der Internetsuche ist Google das Maß aller Dinge. Wer seine Website möglichst oben in der Google-Trefferliste sehen möchte, muss einige Dinge beachten: das nennt sich Suchmaschinen-Optimierung und ist nicht ganz so einfach. Denn Google ändert die Regeln ab und zu. Jetzt gibt es wieder Neuerungen.
"2018-03-24T16:30:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:56.779000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/finden-und-gefunden-werden-google-sagt-wo-es-im-online-100.html
91,885
Mein Partner mit dem Roboter-Händchen
Ein Roboterarm: Zukünftig soll die Zusammenarbeit sicherer und einfacher werden. (dpa / Uli Deck) Beim amerikanischen Elektroautobauer Tesla stockt ja bekanntlich die Produktion des Model 3. 5.000 Exemplare dieses Mittelklasse-Elektromobils sollten inzwischen pro Woche vom hochautomatisierten Band im kalifornischen Freemont rollen. Derzeit sind es höchstens 2.000. Firmenchef Elon Musk postete letzten Monat auf Twitter eine mögliche Begründung für die Verzögerungen: "Die exzessive Automatisierung bei Tesla war ein Fehler – mein Fehler, um genau zu sein. Menschen sind unterbewertet." Die Frage ist aber: Was ist das richtige Maß an Automatisierung? Und wie integriert man die vielen cleveren Roboter, die es heute zweifelsfrei gibt, in die Arbeitsabläufe? Anschauungsbeispiele sind im Future Work Lab in Stuttgart zu sehen. Es ist eine Art Forschungs-, Spiel- und Demonstrationswiese für neueste Entwicklungen in den Werkhallen der Welt. "Was Sie hier sehen, ist unser Demonstrator zum Thema Kooperation von Menschen mit sehr großen Robotern. Stellt dar, wie der Roboter in Zukunft zu einer Art Kollege für den Werker werden könnte." Erklärt der Ingenieur Thomas Dietz vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung. Er steht in der Halle des Future Work Lab vor dem orangefarbenen Arm eines tonnenschweren Industrieroboters. Eigentlich sollte man bei solch kräftigen Maschinen einige Meter Sicherheitsabstand einhalten. Aber neben diesem Exemplar können sich Mitarbeiter sicher fühlen. "Das Ganze wird überwacht durch ein Kamerasystem. Das stellt sicher, dass sie sich nicht zu nahekommen, weil so ein Roboter ein gewisses Gefährdungspotenzial hat für den Menschen. Hier sehen sie die Überwachung mit den Zonen. Wenn wir hier mal kurz rausgehen, ist die nicht verletzt. Wenn wir reingehen, verletzen wir die Zone, was dem Roboter sagen würde: Halt an, ansonsten kannst du dem Menschen gefährlich werden." Statt einem physischen Sicherheitskäfig hat dieser Roboter sozusagen einen virtuellen Schutzzaun. Bei dieser Demonstration sollen Mensch und Maschine gemeinsam einen industriellen Sensor für Flüssigkeiten zusammenzuschweißen. Der Sensor besteht aus einem Gehäuse und einer Haube, beide mehrere Kilo schwer. Eigentlich eine kräftezehrende Aufgabe. Aber hier stellt der Roboter zunächst das Material bereit und nimmt dem Menschen das Heben ab. "Jetzt gehen wir in die nächste Phase der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter. Und zwar geht es darum, diese Haube hier einzufädeln. Das ist sehr schwierig zu automatisieren, weil es ein hakeliger Prozess ist, auch ein toleranzbehafteter Prozess. Und hier kommt die Fähigkeit des Menschen ins Spiel, zu reagieren, die Situation einzuschätzen, Entscheidungen zu treffen, kreativ nach Lösungen zu suchen." Roboter übernimmt das schwere Tragen Der Roboter trägt jetzt die schwere Haube. Thomas Dietz greift den Arm der Maschine und führt ihn mit seiner Hand zum Gehäuse des Sensors. Die Maschine lässt sich folgsam in die richtige Position bugsieren und der Mensch kann das Bauteil ausrichten. Dann beginnt die dritte Phase. "Jetzt wird der Roboter zu einer Art intelligenter Vorrichtung. Er greift sich diese Baugruppe. Jetzt geht es darum, das Ganze auszuschweißen. Wenn ich das machen würde, müsste ich mich stark nach unten beugen, was Probleme mit sich bringt. Wenn der Roboter mir das Bauteil anreicht, kann er das in einer optimalen ergonomischen Position anreichen." Das Besondere an diesem Beispiel ist, dass Mensch und Maschine ihre jeweiligen Fähigkeiten in flexibler Arbeitsteilung ausspielen. "Wir versuchen, die ergonomisch problematischen Prozesse auf den Roboter zu übertragen und gleichzeitig den Werker permanent in den Arbeitsfluss einzubinden, sodass seine Expertise, seine Erfahrung weiter nutzbar wird." Auf diese Weise kann man die Maschine in bestehende Arbeitsabläufe integrieren. Der positive Effekt ist dabei nicht nur, dass so alles schneller und effizienter vorangeht. Auch die Ressourcen werden nachhaltiger genutzt. Man kann nämlich sagen, dass der Mensch im Laufe seines Arbeitslebens ein immer besserer Schweißer wird. Das bringt die Erfahrung mit sich. Und wenn die Maschine ihm die harte körperliche Arbeit abnimmt, kann der Mensch seine wertvolle Erfahrung viel länger ausspielen.
Von Piotr Heller
Der Mensch hat Fähigkeiten, die sich auch in der Produktion nur schwer von einem Roboter umsetzen lassen. Der kann aber helfen, wenn es zum Beispiel ums schwere Heben geht - intelligente System vereinfachen die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine.
"2018-05-04T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:57.651000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mensch-und-maschine-mein-partner-mit-dem-roboter-haendchen-100.html
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Auf der Flucht von der Flucht
Die transsexuelle Sofia steht in der Küche der Wohnung in Nürnberg, die der Verein Fliederlich speziell für homo- und transsexuelle Flüchtlinge bereitstellt. (Deutschlandradio / Judith Dauwalter) "Dann holen wir mal die Post raus! Da haben wir gleich Stadtführer von Nürnberg, in Englisch und Russisch. Und den Szeneführer für Lesben und Schwule." Ralph Hoffmann ist Vorsitzender von Fliederlich, dem schwul-lesbischen Nürnberger Verein, der die deutschlandweit erste Unterkunft für homosexuelle Flüchtlinge betreibt. Heute besucht er die ersten vier Bewohner, die erst vor Kurzem in zwei Wohnungen im Nürnberger Stadtteil Gostenhof eingezogen sind. "Hallo Sofia. Hallo…" In der Wohnung im zweiten Stock sitzen Sofia, Mark und Hamid zusammen. Ein großer Esstisch steht in einem lichtdurchfluteten Raum, mittendrin führt eine Wendeltreppe auf eine Art Galerie, der Durchgang zur Gemeinschaftsküche ist offen. Hamid kocht gerade für seine Mitbewohner. Er ist - klein, drahtig, trägt Sportklamotten. Die dunklen Haare hat er grünlich gefärbt. Hamid ist seit vier Monaten in Deutschland. Er ist schwul, floh deswegen aus dem Iran. Amnesty International berichtet immer wieder von Prügel- oder sogar Todesstrafen für Homosexuelle im Iran. Systematisch schikaniert werden Homosexuelle auch in Russland. Das berichtet der 34-jährige Mark, der seinen echten Namen nicht nennen will, aus eigener Erfahrung. "Ich habe ständig Angst, weil ich in Russland mehrfach geschlagen wurde. Ich bin in einem Land aufgewachsen, wo du einfach nicht schwul sein kannst, weil es unnormal ist. Und wenn du schwul bist und denkst, das ist unnormal - dann ist das ziemlich hart." In der Flüchtlingsunterkunft diskriminiert Mark und sein Freund sind zusammen aus Sankt Petersburg geflohen und die neuesten Bewohner dieser besonderen Unterkunft. Wenn Mark sich umsieht im neuen Zuhause wirkt er immer noch ein bisschen ungläubig. Doch aus den hübschen, dunklen Augen spricht auch Dankbarkeit. Mark und sein Freund waren glücklich als ihnen die Flucht gelang, hofften darauf, in Deutschland endlich sicher zu sein. Doch Angst hatten sie in den ersten Monaten hier immer noch. Diskriminierung erfuhren sie auch in ihrer ersten Flüchtlingsunterkunft in Parsberg, in der bayerischen Oberpfalz. "Wir waren in einem Zimmer untergebracht im gleichen Stockwerk mit Leuten aus Armenien. Die waren sehr, sehr brutal. Sie haben herausgefunden, dass wir schwul sind und uns Schwuchtel genannt. Einer von ihnen war sehr aggressiv. Sie fingen an uns zu bedrohen, weil sie herausgefunden haben, dass wir einmal die Polizei gerufen haben." Das, was Mark und sein Freund in der klassischen Flüchtlingsunterkunft erlebt haben, ist kein Einzelfall. Zur Beratung beim Nürnberger Verein Fliederlich kamen Ende vergangenen Jahres immer mehr homosexuelle Flüchtlinge mit ähnlichen Geschichten, erzählt Vorstand Ralph Hofmann. "Da hat es einfach nicht mehr gereicht, Kaffee zu trinken, Tee zu trinken, sich auszuquatschen, vielleicht auch mal ein paar Tipps zu geben, wo man hingehen kann. Sondern wir haben auch die konkreten Nöte erfahren, was die Leute in den Unterkünften erlebt haben. Wo sie selber diskriminiert, geschlagen und verfolgt wurden. Es ist eine Flucht von der Flucht." Zwei Wohnungen für acht Personen Und so entstand im Nürnberger Verein Fliederlich die Idee, eine eigene Unterkunft für Homosexuelle zu eröffnen. Die zwei Wohnungen mit Zimmern für acht Personen wurden schon Anfang Februar bezugsfertig. Doch die Behörden ließen sich Zeit mit den Formalitäten, erzählt Fliederlich-Vorstand Hoffmann. Vier Umzugsanträge laufen noch, vier Bewohner sind bereits eingezogen. Unter ihnen ist auch die transsexuelle Sofia aus Armenien. Die kurzen Haare hat sie rosa gefärbt und zum Zopf gebunden, ihre Augen hat sie mit schwarzem Lidstrich eingerahmt, die Augenbrauen sind sorgfältig nachgezogen. "Ich kann jetzt ganz frei Makeup tragen. Ich beginne jetzt mein transsexuelles Leben." An ihrer Stimme möchte Sofia nicht erkannt werden. Etwas ungewohnt sind die neuen Freiheiten eben doch noch, die sie weder zuhause in Armenien, noch in einer normalen deutschen Flüchtlingsunterkunft hatte. Sofia zeigt mir ihr Zimmer in der WG. Ein Schrank, ein Spiegel, ein einfaches Bett - viel mehr gibt es in dem kleinen Raum, ihrem Zimmer, nicht. Aber Sofia ist glücklich, dankbar - und fühlt sich endlich frei. Sie nimmt ein schwarzes Jäckchen mit silbernen Glitzerpailletten, zieht es an und stöckelt in High Heels zurück zu ihren Mitbewohnern. "Das ist meine Jacke für die Disko. Heute will ich in die Disko gehen!"
Von Judith Dauwalter
Für einige Flüchtlinge ist ihre Flucht mit der Ankunft in einem Heim in Deutschland nicht vorbei. Vor allem Homo- und Transsexuelle werden auch dort weiter diskriminiert. In Nürnberg hat deswegen jetzt ein Verein eine Unterkunft speziell für diese Zielgruppe eröffnet.
"2016-03-31T14:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:21:28.112000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/homo-und-transsexuelle-fluechtlinge-auf-der-flucht-von-der-100.html
91,887
"Hinter uns sah es nicht so rosig aus"
Beachvolleyball-Olympiasieger Julius Brink (imago sportfotodienst) Julius Brink sollte nach Wunsch des DVV, der zurzeit einige teils umstritten Umstrukturierungen plant, Sportdirektor Beach im Verband werden. Brink nahm den Posten jedoch nicht an und sagte im Deutschlandfunk: "Von 'keine Lust kann' kann keine Rede sein. Ich hätte den Job sehr gerne gemacht, hätte dafür aber Vollzeit arbeiten müssen. Und zeitlich habe ich die Ressourcen nicht." Sein Herz schlage weiter für die Sportart, die aktuellen Veränderungen findet er weitgehend richtig. "Unser Verband denkt langsam in richtigen Schritten und hat Sportdirektoren für Halle und Beach gefunden." Wenn man sich die Personalentscheidungen anschaue, "dann sage ich: Das kann sich sehen lassen." "Ein Bundestrainer, der ein Team aufstellt" Beachvolleyball werde endlich zu einer von Verbandsseite gelenkten Sportart, sagte Brink. "Es gibt jetzt einen Bundestrainer wie auch im Hockey, der sein Team aufstellt. Der ist nicht nur damit beauftragt, die akut besten Spieler zu finden", sagte Brink. Zwar hätte er mit Jonas Reckermann 2012 wie Laura Ludwig und Kira Walkenhorst 2016 Olympisches Gold gewonnen. "Dahinter sah es jedoch nicht so rosig aus. Viele sind da hinter ihren Möglichkeiten geblieben." Das könne in Zukunft besser werden. Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julius Brink im Gespräch mit Marina Schweizer
Julius Brink war 2012 Olympiasieger im Beachvolleyball. Ihm fehle die Breite an starken Spielern, die Umstrukturierungen im Deutschen Volleyballverband könnten die Lösung sein. "Unser Verband denkt langsam in richtigen Schritten", sagte Brink im Deutschlandfunk.
"2017-03-12T19:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:18:40.935000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beachvolleyball-hinter-uns-sah-es-nicht-so-rosig-aus-100.html
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"Im Extremfall kann das lebensgefährlich sein“
Sport kann bei hohen Temperaturen lebensbedrohlich werden. (imago ) Im Dlf-Interview äußerte sich Sportmediziner Prof. Dr. Hans-Georg Predel zum Thema 'Sporttreiben bei großer Hitze' unmissverständlich: "Im Extremfall kann das tatsächlich lebensgefährlich sein." In Hamburg findet am Sonntag die Meisterschaft im Ironman statt. Dabei fällt das Schwimmen wegen einer Blaualgenbelastung der Alster aus; eine Folge der hohen Temperaturen. Dass der Wettbewerb trotz der hohen Temperaturen gestartet wird, findet Professor Predel gefährlich: "Als Mediziner muss ich sagen: Das ist wirklich nicht vernünftig. Da würde ich ganz klar abraten." Sport besser im Schatten Denn das gefährliche bei Sport in großer Hitze sei "die Komponente der direkten Sonneneinstrahlung. Die Konvektion der Sonnenstrahlen über die Haut in den Körper mit zusätzlichen Belastungen der Haut. Deswegen solle man Sport generell besser im Schatten ausüben", so Professor Predel. Leistungssportler lernen, mehr zu schwitzen Leistungssportler seien bei Hitze allerdings weniger gefährdet, denn "Hitzeresistenz oder Akklimatisation ist ein ganz wesentliches Trainingsziel im Zusammenhang mit Wettkämpfen. Man lernt die Schweißmenge wesentlich zu erhöhen und damit die Verdunstungskälte deutlich zu optimieren." Gleichzeitig würde der Schweiß elektrolytärmer, also der Verlust an Elektrolyten und Kochsalzen wäre geringer. Daher seien Breitensportler noch hitzeanfälliger, weil ihre Resistenz nicht so trainiert sei wie bei Leistungssportlern. Kollapse passierten daher öfter, verschwänden allerdings unter dem medialen Radar. Auf den Körper hören Insgesamt rät der Sportmediziner: "Ist es schwül, sollte man sich ab 28 - 29 °C schonen. Haben wir eine trockene Hitze, kann man sich sicherlich, wenn man der direkten Sonneneinstrahlung ausweicht, noch bei etwas höheren Temperaturen ganz moderat bewegen." Prof. Dr. Hans-Georg Predel (Deutsche Sporthochschule Köln) Dabei sollten Sportler allerdings auf die Warnsignale des Körpers hören. Dazu zählten: Allgemeine Erschöpfung, Schwindel, Sehstörungen, Lustlosigkeit. Wer dann noch weitermacht, "der begeht Raubbau an seiner Gesundheit. Das kann dann zum Kollaps führen und das kann dann im schlimmsten Fall zu neurologischen Ausfällen führen, bis hin zur Bewusstlosigkeit." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans-Georg Predel im Gespräch mit Marina Schweizer
Gerade im Hochsommer finden oft große Sportereignisse statt: Wimbledon, Tour de France oder Fußball-Turniere. Doch hohe Temperaturen können Sportlern sehr gefährlich werden. Wer es übertreibt, "der begeht Raubbau an seiner Gesundheit", sagte Sportmediziner Hans-Georg Predel im Dlf-Interview.
"2018-07-28T19:26:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:44.396000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sport-bei-hitze-im-extremfall-kann-das-lebensgefaehrlich-100.html
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Kauder wird herausgefordert
Schwindende Unterstützung? Unionsfraktionschef Volker Kauder muss sein Amt in einer Kampfkandidatur verteidigen (picture alliance / Jens Büttner) Es gibt auch in der Politik so etwas wie wunderbare Freundschaften, oder jedenfalls wundersame Beziehungen, die man so nicht für möglich gehalten hätte. Die von Angela Merkel und Volker Kauder ist so eine Beziehung. Gut 17 Jahre dauert sie nun. Hier fing sie an. Kauder - vom Feind zum Vertrauten Im Sommer 2001 macht Angela Merkel, gerade einmal ein Jahr lang CDU Vorsitzende, eine Deutschlandtour. Betriebsbesichtigungen, Besuche an der Parteibasis. Bei Rottweil im südlichen Baden-Württemberg hat sie das innerparteiliche Feindesland erreicht. Es ist der Wahlkreis von Volker Kauder, damals Generalsekretär der Baden-Württembergischen CDU. "In Baden Württemberg hat die Frau Merkel Sympathie, aber da hat natürlich auch der Edmund Stoiber aus großer Tradition der Zusammenarbeit Südländer auch große Sympathie". Sätze wie dieser sind damals eine leicht zu entschlüsselnde Botschaft: Mit Merkel lassen sich keine Wahlen gewinnen, nächster Kanzlerkandidat soll Edmund Stoiber werden, Merkel wird eine Übergangsfigur in der CDU bleiben, so denken damals viele. Auch Kauder dürfte so gedacht haben. Zwölf Jahre später rockt Volker Kauder im Siegesrausch nach der Bundestagswahl 2013 die Parteizentraler der CDU. Kauder ist längst einer der Getreuesten auf dem Karriereweg Angela Merkels. Nachdem Edmund Stoiber die Bundestagswahl 2002 knapp verloren hatte und Angela Merkel den Fraktionsvorsitz der Union übernahm, war die wichtigste Personalentscheidung die Besetzung des Postens des Parlamentarischen Geschäftsführers. Er würde ihr den Rücken freihalten und die Fraktion organisieren müssen. Merkel entschied sich für Volker Kauder, den Stoiber-Sympathisanten aus dem südlichen Feindesland. Anders, als mach andere Personalentscheidung Merkels erwies sich diese als Glücksgriff. Als sie Kanzlerin wurde, folgte Kauder ihr in den Fraktionsvorsitz nach - hielt ihr den Rücken frei, organisierte die Fraktion. Bei der Feier zu Angela Merkels 60. Geburtstag drückte Kauder das eigene Staunen über die Entwicklung seiner Partei aus. "Wer hätte gedacht, dass die männerdominierte CDU so etwas hervorbringt, meine Damen und Herren." Brinkhaus will "frischen Wind" in die Fraktion bringen So lange wie Merkel Kanzlerin ist, führt Kauder nun die Fraktion. Manchmal mit burschikosem Stil. Es heißt, es habe auch menschliche Verwundungen gegeben. Das wird als eine der Erklärungen dafür angeführt, dass Kauder bei der turnusmäßigen Neuwahl des Fraktionsvorstandes heute einen Gegenkandidaten hat. "Ja, das ist in der Tat ein ungewöhnlicher Vorgang, das hat es in der Geschichte der CDU/CSU-Fraktion noch nicht gegeben. Aber wir haben auch ungewöhnliche Zeiten." Sagt Ralph Brinkhaus, bisher einer der Stellvertreter Kauders, Experte der Unionsfraktion für Haushalts- und Finanzpolitik. Ende August warf er mit einer kurzen Kampfansage in einer Fraktionssitzung seinen Hut gegen Kauder in den Ring. "Ich möchte frischen Wind in die Fraktion, in die Fraktionsarbeit hineinbringen." Der 50-jährige Steuerberater ist seit 2009 Abgeordneter für den Wahlkreis Gütersloh. Er gehört nicht zu den bekannten Kritikern des Merkel-Kurses in Partei und Fraktion, stimmte zum Beispiel in seinem Fachbereich für die auch fraktionsintern umstrittene Griechenland-Rettungspolitik. Befreiung aus den Koalitionszwängen Gerade aber weil Brinkhaus als moderater und fachlich kompetenter Politiker gilt, könnte er für diejenigen eine Alternative zu Kauder sein, die sich nach einer Befreiung der Fraktion aus den Loyalitätszwängen der Großen Koalition sehnen. Die letzten Tage dürften diesen Wunsch noch einmal verstärkt haben. "Es ist nicht mehr vermittelbar. Wir kriegen die Rückmeldungen auch aus den Wahlkreisen, dass die Menschen es nicht mehr verstehen. Wir haben da ganz, ganz viel Vertrauen verspielt und deswegen muss da jetzt ganz schnell ein Schlussstrich gezogen werden." Kommentiert Brinkhaus die koalitionsinternen Querelen um den Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen. Dass er sich am Ende gegen Kauder durchsetzen könnte, hält auch in der Fraktion kaum jemand für möglich. Bis zu 40 Prozent aber werden ihm zugetraut. In jedem Fall gilt die geheime Abstimmung auch als Vertrauenstest für die Kanzlerin.
Von Stephan Detjen
Die CDU/CSU-Fraktion wählt heute ihren Vorsitzenden - und zum ersten Mal seit 13 Jahren muss sich Amtsinhaber Volker Kauder Sorgen um seine Wiederwahl machen. Beobachter trauen Herausforderer Ralph Brinkhaus 40 Prozent der Stimmen zu. Damit wird die Wahl auch zum Vertrauenstest für Kanzlerin Merkel.
"2018-09-25T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:12:30.151000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unionsfraktion-waehlt-chef-kauder-wird-herausgefordert-100.html
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Missbrauch-Skandal im US-Fußball weitet sich aus
"NoMoreSilence"-Banner bei einem Spiel in der NWSL nach den Missbrauchs-Vorwürfen im US-Frauenfußball. (IMAGO / ZUMA Wire) Am Montag wurde der 172 Seiten umfassende Bericht veröffentlicht. Darin geht es unter anderem um verbale und emotionale Gewalt und auch um körperliche Übergriffe wie Berührungen und erzwungener Geschlechtsverkehr. Die Komission stellt fest, dass Missbrauch in der National Women's Soccer League (NWSL) tief verwurzelt sei. Die ehemalige Staatsanwältin Sally Q. Yates stellte die Ergebnisse der Untersuchung vor. Sie und ihre Komission hatten im Rahmen der Untersuchung mit mehr als 200 Spielerinnen der NWSL gesprochen. Yates sprach von einer normen Tragweite des Missbrauchs und erklärte, dass "systematischer Missbrauch und sexuelles Fehlverhalten" in der Liga an der Tagesordnung seien. Missbrauch-Vorwürfe von Spielerinnen sorgen für Untersuchung Hintergrund der Untersuchung waren die Vorwürfe von den beiden ehemaligen Spielerinnen Sinead Farrelly und Mana Shim gegen den ehmaligen Trainer der Portland Thorns, Paul Riley, wegen sexueller Nötigung und Belästigung. Der Bericht mit Aussagen mehrerer Spielerinnen erschien damals beim Online-Portal "The Athletic". Der NWSL-Klub entließ Riley daraufhin und der US-Verband entzog ihm die Lizenz. Riley bestreitet die Vorwürfe. Dennoch wurden sie auch öffentlich heftig diskutiert und trug damit zum Start der Untersuchung bei. Yates konnte die Vorwürfe nun bestätigen. Gleichzeitig spricht sie aber auch davon, dass Portland Thorns ihre Untersuchungen absichtlich erschwert habe, indem wichtige Informationen über Paul Riley vorenthalten worden seien.   Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Eines von Riley’s Opfern ist Mana Shim. Gegenüber ESPN behauptet die ehemalige Mittelfeldspielerin unter anderem, dass der Trainer sie in sein Hotelzimmer eingeladen habe: “Ich hatte Panik. Und ich wusste, dass ich einen Ausweg finden musste. Denn ich war nicht bereit, mich diesem Typen hinzugeben, um meine Karriere zu retten.” Frauenfußball-Verband US Soccer will Konsequenzen ziehen Auch Cindy Parlow Cone, Präsidentin von US Soccer, äußerte sich zu den Untersuchungsergebnissen. Sie seien “herzzerreißend” und “zutiefst verstörend.” Sie hat angekündigt, dass ihr Verband umgehend eine Anlaufstelle einrichten wird, in der Vorwürfe von Fehlverhalten gemeldet werden können. Zudem soll es künftig Hintergrundüberprüfungen für den gesamten Mitarbeiterstab von US Soccer geben.
Von Heiko Oldörp
Einer unabhängigen Untersuchung zufolge ist Missbrauch im nordamerikanischen Frauen-Fußball systembedingt. Der Missbrauch-Skandal nimmt damit immer größere Ausmaße an.
"2022-10-04T22:50:00+02:00"
"2022-10-04T21:09:25.229000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsskandal-im-us-fussball-weitet-sich-aus-100.html
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"Besonders attraktiv" für rechtsextreme Hooligans
Hooligans, Rechtsextreme und Querdenker - die Schnittmengen dieser Milieus bestätigt nun ein Bericht der Bundesregierung auch offiziell. (imago images / Future Image) Große Menschenmengen, ein unübersichtliches Teilnehmerfeld – und zu erwartende gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder politisch Andersdenkenden: Diese Melange hat die sogenannten Anti-Corona-Politik-Demonstrationen in Leipzig, Berlin oder Dresden "besonders attraktiv" für Rechtsextremisten aus dem Fußballhooligan- und Kampfsport-Milieu gemacht. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der oppositionellen Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die dem Deutschlandfunk bereits vor Veröffentlichung vorliegt. Demnach wusste die Bundesregierung auch, dass die Szenen im Vorfeld über soziale Medien und Messenger-Dienste zur Demo-Teilnahme mobilisiert hatten. Für Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, ist klar: "Wenn solche Gruppen gezielt zu solchen Anti-Corona-Maßnahmen-Demos aufrufen, dass es dann im Wesentlichen darum geht, bei einer Konfrontation mit anderen Gruppen eben auch Gewalt auszuüben oder bei einer Konfrontation mit der Polizei sich Kämpfe zu liefern und damit auch Teile der Anti-Corona-Bewegung auch für eigene Zwecke zu vereinnahmen." Zunehmende Gewaltkompetenz Dazu passt: Laut Bundesregierung habe sich die Gewaltkompetenz von Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht – vor allem durch den seit 2017 in der Szene immer populärer gewordenen Kampfsport, der vermehrt auch rechtsextreme Hooligans anzieht. Nicht nur die Schnittmengen zwischen ihnen und rechtsextremen Kampfsportlern seien dadurch gewachsen, sondern auch der Grad der Professionalisierung sowie die Anzahl von Neugründungen regionaler, neonazistischer Kampfsportgruppen – und damit auch die Gefährdungslage. Diese Entwicklung, so heißt es zur Überraschung von Grünen-Politikerin Irene Mihalic weiter, werde bereits seit geraumer Zeit mit "hoher Priorität" bearbeitet: "Ich habe diese hohe Priorisierung in der Arbeit der Bundesregierung bisher nicht wahrgenommen. Es ist tatsächlich so, dass gerade die Kampfsportszene ziemlich unterbelichtet ist und wir nicht genau wissen, wie dort diese Strukturen aussehen oder wer hinter einzelnen Kampfsportlabels steckt. Da muss die Bundesregierung noch dringend genauer hinschauen." Querdenken-Bewegung - Rechte Hooligans und Kampfsportler als „Rammbock“Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen spielen rechtsextreme Hooligans und Kampfsportler eine Hauptrolle. Die Szene habe sich immer stärker politisiert, meinen der Forscher Robert Claus und Stephan Kramer, Verfassungsschutzpräsident in Thüringen. Einerseits müsse die Analysekompetenz der Sicherheitsbehörden ausgebaut und andererseits der Entwicklung auch mit sportpolitischen Mitteln entgegensteuert werden. Denn: Rechtsextreme würden die Leute da abholen, wo sie schon sind. Auch im Sport, wo sie auf bereits vorhandene Strukturen und organisierte Fanszenen treffen würden: "Und deswegen muss man mit entsprechend nicht nur sicherheitspolitischen Programmen oder Maßnahmen, sondern auch ganz gezielt mit Präventionsprogrammen versuchen gegensteuern, um den Sport, den Breitensport und einzelne Sportarten nicht anfällig zu machen für solche Vereinnahmungsstrategien von rechts." Sportpolitisch relevant Doch die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort explizit: Für sportpolitische Konsequenzen sieht sie keine Notwendigkeit. Die Begründung: Der Bund sei nur für den Spitzensport und seine Verbände zuständig – nicht aber für Kampfsportarten wie z.B. Mixed Martial Arts. Für Mihalic eine unzureichende Begründung, für Extremismusforscher Robert Claus sogar Politikverweigerung: "Wir tun gesellschaftlich nicht gut daran, wenn Sportpolitik sich selber auf Olympiapolitik reduziert, d.h. nur auf die Sportarten, die auch bei Olympiaden vertreten sind. Sport ist ein viel größerer Bereich und wie wir genau an diesem Beispiel vom Kampfsport sehen, gibt es einen sehr großen freien Markt, mit dem man sich auch sportpolitisch beschäftigen kann." Claus kritisiert zudem, dass potenziell zuständige politische Gremien wie der Sportausschuss des Deutschen Bundestags das Thema bislang noch nie auf ihre Agenda gesetzt hätten – und es dadurch verpassten, sich zumindest einen Überblick über die ausdifferenzierte, hoch-kommerzialisierte und nur in Teilen rechtsextreme Kampfsport-Landschaft zu verschaffen: "Man kann mal abfragen, welche Bedürfnisse, welche Bedarfe an Förderung haben eigentlich die ganzen Gyms und Verbände des freien Marktes, wie viele Mitglieder haben die, wie viele gibt es davon und was tun die im Bereich von Prävention. So was hat natürlich auch mit politischer Anerkennung zu tun. Denn Prävention in einem Sportbereich zu tun, den man sonst weitestgehend meidet, ist sehr schlecht möglich." Präventionsprogramme fördern Obwohl es einige sportpolitische Hebel geben würde, um Einfluss zu nehmen: So könnten Präventionsansätze gefördert, ein eigenes Bundesprogramm gegen rechte Gewalt im Sport aufgelegt, die Eröffnung von Kampfsportgyms an staatliche Lizenzverfahren geknüpft und Trainerausbildungen standardisiert werden. Neben den Grünen wollen auf Deutschlandfunk-Nachfrage auch Mahmut Özdemir und Eberhard Gienger, die sportpolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen SPD und Union im Bundestag, das Thema Rechtsextremismus im Kampfsport auf die Tagesordnung des Sportausschusses setzen. Ob noch in dieser Legislaturperiode? Unklar. "Querdenken"-Demonstrationen - Hooligans als militanter Arm rechter VerschwörungserzählerHooligans vor allem von ostdeutschen Fußballklubs spielten schon länger eine zentrale Rolle als Rammbock bei den "Querdenken"-Demonstrationen, sagte Journalist Olaf Sundermeyer im Dlf. Eine Verantwortung dafür hätten auch die Vereine, die zuwenig gegen diese Entwicklung unternommen hätten. Klarer sind da schon die Erkenntnisse der Bundesregierung über die Hooliganszene: So sollen an zwei Anti-Corona-Politik-Demonstrationen in Leipzig neben Kampfsportlern auch rechtsextremistische Hooligans aus dem Umfeld der Fußball-Vereine 1. FC Lokomotive Leipzig und Chemnitzer FC teilgenommen haben. "Wir können das nicht aus der Welt reden, dieses Problem gibt es", sagt Martin Ziegenhagen, Diplom-Pädagoge und seit März 2020 Anti-Rassismus-Beauftragter des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC: "Wir haben in Teilen unserer Fanszene ein rechtsextremes Potenzial. Dem müssen wir uns stellen." "Wenn die Szene erstmal ausgeprägt ist, ist sie ein Faktor" Mit harter sozialer Arbeit und über das vom Land Sachsen teilfinanzierte Präventionsprojekt "Lernort Stadion", mit dem Ziegenhagen nach der Pandemie politische Bildung für Jugendliche ins Chemnitzer Stadion bringen will. So soll verhindert werden, dass junge Menschen aus der Fußball-Fanszene überhaupt in den Sog von Rechtsextremen geraten. Zugleich warnt er jedoch vor zu hohen Erwartungen: "Wenn eine Szene da ist und sich etabliert hat und immer größer ist und auch entsprechend schlaue Strukturen dahinterstehen. Davon müssen wir im Chemnitzer Raum leider sprechen, weil wir einen starken Zuzug von rechtsextremen Aktivisten erleben. Wenn sich diese Szene erstmal ausgeprägt hat, dann ist sie ein Faktor." Nicht nur für Bundesregierung und Sportpolitiker und -politikerinnen ein warnendes Beispiel dafür, sich neuen Entwicklungen wie Rechtsextremismus im Kampfsport lieber zu früh als zu spät anzunehmen.
Von Matthias von Lieben
Als es auf den Querdenken-Demonstrationen 2020 teilweise gewalttätig wurde, mischten auch rechtsextreme Fußball-Hooligans und Kampfsportler ganz vorne mit. Szenekenner hatten das schon damals beobachtet, jetzt hat es auch die Bundesregierung offiziell bestätigt.
"2021-01-24T19:20:00+01:00"
"2021-01-25T12:08:53.344000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/querdenker-demos-besonders-attraktiv-fuer-rechtsextreme-100.html
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Gute Laune trotz gescheiterter Jamaika-Verhandlungen
Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen sei ein Innovationsimpuls durch Deutschland gegangen, so Marco Buschmann von der FDP (dpa) Um elf Uhr wird die stellvertretende Vorsitzende Agnes Strack-Zimmermann den Parteitag der Liberalen eröffnen. Es ist der erste nach den Bundestagswahlen. Berlin-Kreuzberg, Luckenwalder Straße, am gleichen Ort hatte man nach der Niederlage 2013 den Wiederaufbau der Partei begonnen. Man werde diesmal fröhlich zusammenkommen, versichert sie: "Wir haben wieder eine Bundestagsfraktion, das heißt, wir werden Themen diskutieren, die wir im Parlament unmittelbar einspielen können. Also für die, die es vergessen haben, wie die letzten vier Jahre waren, ich vergesse es nicht, weil ich dabei sein durfte, die Partei wieder nach vorne zu bringen und insofern wird es mit Sicherheit ein gut gelaunter Parteitag, aber natürlich auch mit der Bürde, das was wir wollen, jetzt auch parlamentarisch umzusetzen." Dass es nach den Wahlen im Herbst nicht zu einer Jamaika-Koalition kam, ist längst nicht vergessen. Immerhin kann FDP-Chef Christian Lindner schon darüber scherzen. Er sprach vor einigen Wochen im Bundestag mit Blick auf die gescheiterten Verhandlungen von einer traumatisierenden Phase seines Lebens. Ein Innovationsimpuls für die deutsche Politiklandschaft Unterm Strich richtig gehandelt, so sieht es Marco Buschmann, der parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag, auch wegen politischer Entwicklungen danach: "Die Grünen stellen sich jetzt neu auf, in der Union hat sich viel getan, die neue Generalsekretärin spricht jetzt davon, dass die Union ein neues Grundsatzprogramm braucht, also wir stellen fest, nach unserer Entscheidung ist ein Innovationsimpuls in die deutsche Politiklandschaft gekommen und das zeigt mir, dass das auch eine Riesenchance ist." "Innovation Nation", so lautet das Motto des Parteitags, in einem Leitantrag werden Themen betont, die schon den Wahlkampf der FDP bestimmten, Bildung, Digitalisierung, Zukunftstechnologien. Die Konkurrenz in der parlamentarischen Opposition ist groß. Mit sachorientierter Arbeit will die FDP als bürgerliche Oppositionsstimme punkten. Auch in bewusstem Kontrast zur Krawall-AfD. Im Bundestag sitzt man direkt nebeneinander. Vor allem in den hinteren Sitzreihen wird gepöbelt, klagen FDP-Abgeordnete, wie Gyde Jensen, mit 28 Jahren die jüngste Ausschussvorsitzende im Bundestag: "Ich frage mich manchmal, warum man so böse werden muss, dass man persönlich wird. Wir sind alle erwachsene Menschen, wir können alle konstruktiv miteinander streiten. Aber sobald der AfD ein Antrag zuwiderläuft, werden sie grantig und ungehalten, die schreien rum und verhalten sich nicht wie Parlamentarier." Diskussionen um das Verhältnis zu Russland Innerhalb der FDP wird am Wochenende das Verhältnis zu Russland kontrovers diskutiert. FDP-Vize Wolfgang Kubicki hatte sich vor einigen Wochen im Deutschlandfunk für mehr Dialog und einen Kurswechsel in der Sanktionspolitik ausgesprochen. "Die Beschlusslage der Partei ist eine andere", hatte Christian Lindner unmittelbar nach dem Kubicki-Interview via twitter unterstrichen. Putin kennt nur die harte Sprache, gibt ihm Agnes Strack-Zimmermann recht. Auch Buschmann meint zum Thema Sanktionslockerungen: "Da bin ich der Meinung, dass das falsch ist, weil dieses Signal falsch interpretiert werden würde. Dann wird die internationale Szene und möglicherweise auch die Russen nicht sagen, aah, die Deutschen wollen jetzt in einen kritischen Dialog eintreten, sondern die sagen, ach die wollen einfach nur ihr Zeug verkaufen." Kubicki hält die Kontroverse ohnehin für mediengemacht. Er kennt die Mehrheitsverhältnisse, am Ende gewinnt Lindner, sagt Kubicki im ZDF. Und denjenigen, die in diesem Dissens den Kern eines Machtkampfs in der Parteiführung sehen, sagt Parteivize Agnes Strack-Zimmermann: "Das ist albern. Wir haben mit Christian Lindner einen Vorsitzenden, der die letzten vier Jahre, salopp gesagt, gerockt hat. Christian Lindner ist 39, Wolfgang Kubicki ist 66. Fakt ist natürlich, dass die Zukunft nicht den heute Mitte 60-jährigen gehört, sondern denen, die in den 30ern sind und insofern erledigt sich das. Dass Wolfgang Kubicki ein Alpha-Tier ist, das wird er immer sein, auch wenn er 99 ist und ich wünsche ihm da weiterhin viel Schwung und dass er gesund bleibt." Christian Lindner selbst ist gerade als bester Wahlkampfredner vom Verband der deutsche Redenschreiber geehrt worden. Er kann dieses Talent heute erneut unter Beweis stellen. Die Rede des Parteichefs ist für zwölf Uhr vorgesehen.
Von Klaus Remme
"Innovation Nation" lautet das Motto des ersten FDP-Bundesparteitages nach der Bundestagswahl in Berlin. Neben Themen wie Bildung, Digitalisierung und Zukunftstechnologien wollen die Liberalen vor allem mit sachorientierter Arbeit als bürgerliche Oppositionsstimme punkten. Aber: Es gibt auch Diskussionsbedarf.
"2018-05-12T07:45:00+02:00"
"2020-01-27T17:52:00.807000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-fdp-parteitag-in-berlin-gute-laune-trotz-100.html
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"Irgendwann ist da auch mal das Geld alle"
Christian Heidel, Manager von Schalke 04, sieht die Bundesliga gut aufgestellt (dpa) Die Phase vor Saisonbeginn und vor Ende der Transferperiode, sei durchaus intensiv, sagte Christian Heidel. "Man wird von morgens bis abends angerufen. Die Berater sind rund um die Uhr im Einsatz und bieten irgendetwas an und das ist sehr zeitaufwändig." Für ihn sei es aber nicht die stressigste Zeit der Spielzeit. Auch das vorgezogene Ende der Transferphase in England, wonach die Premier League-Clubs direkt mit Saisonbeginn keine Spielerkäufe mehr tätigen dürfen, habe keinerlei Auswirkungen. Mit einer Ausnahme: "Die englischen Agenten nerven momentan von morgens bis abends, weil sie wahrscheinlich in England noch 100 Spieler abzugeben haben. Da die Mannschaftgrößen teilweise 30, 40 Spieler sind", sagte der Sportvorstand von Schalke 04 im Deutschlandfunk. "England? Da entsteht eine Blase" In England habe Heidel derweil schon langsam den Eindruck, als "entstehe dort eine Blase", sagte er im Dlf-Sportgespräch. Es gebe immer mehr Spieler in den Mannschaften. Zwar könne man sagen, "Okay, das Geld ist da", aber es sei die Frage, ob man die Spieler dann im nächsten Transferfenster auch wieder erfolgreich loswerde und gleichzeitig würde man ja auch wieder neue Spieler einkaufen. In Deutschland schaue man sich die Situation auf der Insel mit einer gewissen Gelassenheit an, sagte der 55-Jährige. "Irgendwann ist da auch mal das Geld alle." Die englische Premiere League ist aktuell die umsatzstärkste Fußballliga der Wellt (Martin Rickett / PA Wire / dpa) Der Schalker Sportvorstand betonte auch, dass es immer wehtue, wenn man einen eigenen Jugendspieler verkaufe, aber "das ist das Fußballgeschäft. Ich gebe zu, dass da die Romantik teilweise etwas zu kurz kommt, geht mir auch so, aber das zählt heute wenig." "Da ist Schalke meilenweit hinterher" Die generierten Transfereinnahmen seien aber extrem wichtig, um diese in die eigenen Jugendleistungszentren, wie die Schalker Knappenschmiede zu stecken. Von dort würden immer wieder Spieler in die Schalker Profielf vorstoßen, wenngleich Heidel selbstkritisch hinzufügte, dass es "in den letzten zwei, drei, vier Jahren nicht so funktioniert hat." Schalke-Manager Christian Heidel will in Zukunft viel Geld in das Schalker Jugendleistungszentrum stecken. (imago - Eibner) Auch in die Infrastruktur der Knappenschmiede wolle man in Zukunft massiv investieren, denn "da muss ich sagen, ist Schalke weit hinterher", sagte er kritisch. Die aktuelle Kritik am deutschen Fußball, vor allem durch das frühe Aus der Nationalmannschaft bei der WM in Russland, teile Heidel derweil nicht. Vielmehr sei dies für ihn nur eine "Momentaufnahme".  Kein Rassismus-Problem in Deutschland "Wir hatten eine besondere Situation im letzten Jahr in der Europa League. Wir hatten ein 'schlechtes Jahr' von Borussia Dortmund. Aber jetzt zu sagen, der deutsche Fußball ist komplett am Ende, dagegen wehre ich mich. Wir haben sicherlich alle Fehler gemacht. Aber nicht alles in Frage stellen, das ist so eine deutsche Mentalität, damit kam ich noch nie klar", sagte der ehemalige Manager von Mainz 05. Der Rücktritt von Mesut Özil aus der Nationalmannschaft kam für Heidel nicht überraschend (picture alliance / dpa / Sven Simon) Auch zum Özil-Rücktritt und die gesamte Affäre rund um die Erdogan-Fotos, äußerte sich der Schalker Manager. Ihn störe, dass die Affäre zu einer Staatskrise überhöht wurde. Dafür habe er keinerlei Verständnis. "Ich weiß nicht, was die Leute, die Mesut seit Ende der WM aufgefordert haben, sich doch endlich zu äußern, was haben die eigentlich erwartet, was der Junge sagt. Haben die geglaubt, dass der sagt, 'es tut mir alles leid.' Es war doch völlig klar, dass das so ausgeht, wie es jetzt ausgegangen ist." Ein Rassismus-Problem in Deutschland sehe er definitiv nicht. Fußballkultur in Deutschland nicht aufs Spiel setzen Heidel positionierte sich im Sportgespräch auch klar gegen eine Abschaffung der 50+1-Regel, um möglicherweise die Bundesliga durch ausländische Investoren spannender, ausgeglichener und international konkurrenzfähiger zu machen und griff dabei vor allem auch RB-Leipzig-Trainer Ralf Rangnick an. "Wenn ich bei RB Leipzig wäre, glaube würde ich nichts anderes sagen. Das kann ja RB Leipzig komplett egal sein. Es ist auch leicht zu reden, wenn man bei RB Leipzig ist, dass Tradition keine Rolle spielt, wenn Tradition nur fünf oder sechs Jahre alt ist." Wenn 50+1 abgeschafft werden, bestehe gleichermaßen auch Gefahr. "Dann kommt eben ein Amerikaner oder Chinese mit dem großen Geldkoffer zu einem Klub aus den Niederungen der Zweiten Liga, spielt in zwei oder drei Jahren um die Deutsche Meisterschaft mit. Der hat dann ein Fanaufkommen von 3754 und auswärts fährt ein VW-Bus mit." Die Probleme des deutschen Fußballs würden mit der Abschaffung von 50+1 nicht gelöst, sagte Heidel. Man müsse aufpassen, dass man die Fußballkultur in Deutschland nicht aufs Spiel setze. Tradition wird auf Schalke immer noch extrem groß geschrieben. (dpa / picture alliance / Ina Fassbender) "Da würde das Rad dann überdreht" Man müsse aufpassen, dass man das Rad der Kommerzialisierung im Fußball nicht überdrehe. Aktuell sehe er dafür aber keine Gefahr, sagte der Schalke-Manager. Ein sensibler Punkt seien die Ticketpreise, die laut Heidel im europäischen Vergleich in deutschen Stadion unterdurchschnittlich sind. "Fußball muss in Deutschland für Familien und junge Leute finanzierbar sein", sagte Heidel. Bei seinen Stadionbesuchen in England bemerke er immer wieder, wie sich die Stimmung, die Atmosphäre und das Klientel verändert habe. "Das hat für mich mit Fußball nichts mehr zu tun." Er halte es auch für "kompletten Schwachsinn", ein Bundesliga-Pflichtspiel in den USA, China oder Japan auszutragen. "Da würde das Rad dann überdreht." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian Heidel im Gespräch mit Matthias Friebe
Kurz vor dem Bundesliga-Start nerven Christian Heidel eigentlich nur die englischen Spielerberater. "Da entsteht eine Blase", sagte er im Dlf mit Blick auf die Insel. Im Sportgespräch sprach der Schalke-Manager über den Zustand des deutschen Fußballs, Kommerz und warum ihm Stadionbesuche in England keinen Spaß machen.
"2018-08-26T23:30:00+02:00"
"2020-01-27T18:07:04.120000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dlf-sportgespraech-irgendwann-ist-da-auch-mal-das-geld-alle-100.html
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Weltweites Projekt soll Impfstoff-Sicherheit verbessern
Impfung in Zimbabwe (picture alliance / AA / Abdulhamid Hosbas) Als im Jahr 1976 eine Schweinegrippe-Epidemie drohte, entschieden die Gesundheitsbehörden der Vereinigten Staaten, eilig einen Impfstoff zuzulassen, um den Ausbruch einzudämmen. Die Pandemie blieb aus, aber etwa 450 Impflinge erlitten aufsteigende Lähmungen des Guillain-Barré-Syndroms, sagt Bruce Carleton von der University of British Colombia im kanadischen Vancouver. „Diese Menschen erhielten ein Schmerzensgeld. In den Vereinigten Staaten sind viele Menschen nicht krankenversichert. Wenn die Komplikationen erleiden, benötigen sie Geld, um die Behandlungen zu bezahlen. Darum wurden Entschädigungen die Regel. Aber niemand hat sich die Biologie angeschaut, die hinter den Nebenwirkungen steckt.“ Die Biologie – damit meint der Pharmakologe, wie sich zum Beispiel die genetischen Voraussetzungen zwischen Menschen unterscheiden. Bei Medikamenten sind solche Studien längst gang und gäbe. Bruce Carleton und seine Kollegen vom Global Vaccine Data Network wollen solche Studien jetzt für Impfungen nachholen, und deren Nebenwirkungen nach Biomarkern aufschlüsseln. „Zu behaupten, dass Impfstoffe keine unerwünschten Nebenwirkungen verursachen, wäre töricht. Die eigentliche Frage ist: Wie groß ist das Risiko, zum Beispiel für eine Herzmuskelentzündung? Das ist nach einer Corona-Impfung zwar viel niedriger, als bei einer Covid-Erkrankung. Aber natürlich möchte überhaupt niemand so etwas bekommen. Wir wollen verstehen, was an den Menschen anders ist, bei denen Impfnebenwirkungen auftreten.“ Untersuchen, bei welchen Personen Impfnebenwirkungen auftreten Auch die Gesundheitsbehörden überwachen Impfstoffe. Dazu beobachten sie, ob Nebenwirkungen – etwa die Herzmuskelentzündungen – bei Geimpften häufiger auftreten als bei Ungeimpften – in sogenannten Observed-versus-Expected-Studien. „Solche Studien können sehr hilfreich sein, klinische und demographische Besonderheiten zu zeigen. Aber das reicht nicht. Ich ziehe sogenannte Fall-Kontroll-Studien vor. Wenn wir Menschen mit Impfschäden finden, katalogisieren wir sorgfältig klinische und demographische Variablen und bestimmen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie tatsächlich von den Impfungen kommen.“ Besonderheiten im Blut von Betroffenen Wenn ein Zusammenhang einigermaßen wahrscheinlich ist, vergleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sie mit einer Kontrollgruppe, mit Menschen also, die nicht betroffen waren. Auf diese Weise suchen sie nach Besonderheiten im Blut von Betroffenen. Und dann suchen sie andere Menschen mit diesen Biomarkern und schauen, ob sie ebenfalls stark auf die Impfungen reagiert haben. Gelingt das, ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass hier ein Zusammenhang besteht. Und schließlich testen sie die Biomarker mit weiteren Methoden – etwa in Zellen in der Petrischale oder Tierversuchen. „Wenn die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen sich gegenseitig bestätigen, können wir zum Beispiel Patienten warnen, die ein höheres Risiko haben. Genauso wichtig ist es aber, dann zu erforschen, wie wir Impfstoffe entwickeln können, die diese Risiken in Zukunft vermeiden.“ Wichtig ist den Wissenschaftlern dabei, Menschen aus der ganzen Welt einzuschließen. „Nicht alle Menschen sind europäischer Abstammung. Bei Menschen aus anderen Regionen können Medikamente andere Effekte haben. Im Fall von Vincristin zum Beispiel einem wichtigen Krebsmittel, bekommen Kinder in Kenia eine um 42 Prozent höhere Dosis als in Nordamerika, ohne dass sie neurotoxische Effekte erleiden: weil sie sich genetisch unterscheiden! Wir müssen unbedingt Patienten aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in unsere Studien einschließen.“ Genetische Unterschiede spielen eine Rolle Zwar arbeiten nordamerikanische und europäische Gesundheitsbehörden und natürlich auch die Weltgesundheitsorganisation bei der Überwachung von Impfstoffen zusammen. Doch Bruce Carleton von der Global Vaccine Initiative sieht da Mängel: „Die Zusammenarbeit zwischen den Überwachungsbehörden ist nicht wirklich gut. Oft begrenzen ihre Budgets ihre Möglichkeiten. Und ihr Auftrag ist, sich auf die Bürger ihrer Länder zu konzentrieren. Wir hingegen haben einen weitaus globaleren Blickwinkel eingenommen, wir sagen: Es darf keine Rolle spielen, woher Du kommst.“ In dem Punkt hat die Pandemie die Global Vaccine Initiative vorangebracht. Auch dieses Projekt hat zusätzliches Geld erhalten.
Von Joachim Budde
Nebenwirkungen gibt es bei jedem Medikament, also auch bei Impfungen. Die Frage ist: Warum erleiden manche Menschen Impfnebenwirkungen und andere nicht, was unterscheidet sie voneinander? Um das herauszufinden wollen Forschende des "Global Vaccine Data Network" Studien für Impfungen nachholen.
"2022-07-07T16:35:00+02:00"
"2022-07-07T16:35:00.024000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/impfstoff-sicherheit-100.html
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Der Kronprinz räumt auf
Die jüngsten Entscheidungen des Kronprinzen Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien deuten eine wirtschaftliche und kulturelle Öffnung des Lands an. (AFP/FAYEZ NURELDINE) Viele Saudis kommen da nicht mehr mit. Seit Jahrzehnten wurde ihr Land von gebrechlichen Greisen regiert – jetzt hat ein Mann Anfang 30 die Zügel in die Hand genommen, unterstützt von seinem Vater, dem König. Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud krempelt alles um. Was er vorhat, erklärt er von Zeit zu Zeit in langen Fernsehinterviews: "Heute beruht unsere Verfassung auf dem Heiligen Buch und auf dem Erdöl. Das ist sehr gefährlich. Im Königreich haben wir eine Art Sucht nach dem Öl. Das verhinderte die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche in den vergangenen Jahren." Plan für ein Saudi-Arabien nach dem Öl Mohammed bin Salmans Plan heißt "Vision 2030". Damit soll das Land fit gemacht werden für die Zeit nach dem Öl. Alle Wirtschaftsbereiche außerhalb des Energiesektors will der Kronprinz stärken. Mohammed bin Salman fungiert auch als Verteidigungsminister und als eine Art Oberaufseher über die Wirtschaft – damit ist er ungeheuer mächtig. Er war es, der sein Land in den Krieg gegen die Rebellen im Jemen schickte. Er war es, der die Partnerländer in der Region in eine Blockadefront gegen Katar brachte. Und er ist es, der den Einfluss Irans überall im Nahen Osten eindämmen will. Respekt für vorislamische Kulturgeschichte Halb Ziehvater, halb guter Freund ist ihm dabei Mohammed bin Zayed, der deutlich ältere Kronprinz von Abu Dhabi. Doch alle drei Politik-Projekte sind bislang ohne greifbare Erfolge geblieben. Wie sich Mohammed bin Salman sein Land in einigen Jahren vorstellt, weiß niemand. Doch der Prinz scheint das Königreich tatsächlich öffnen zu wollen. Das wird deutlich, wenn er über seine Pläne für die Kultur und den Tourismus spricht: "Während wir die islamische Geschichte ohne Zweifel als sehr wichtig betrachten, haben wir aber auch eine viele hundert Jahre alte Geschichte der Araber. Dazu kommt, dass wir einen Teil der europäischen Kultur und deren Kulturstätten in Saudi-Arabien haben. Und wir haben Ruinen untergegangener Kulturen, tausende Jahre alt, viel älter als vieles andere. Das ist nur ein Teil unseres Kulturguts." Gegen Kritiker geht er hart vor So viel Respekt für die vorislamische Kulturgeschichte hat vor ihm wohl noch kein ranghohes Mitglied des Königshauses öffentlich geäußert. Respekt hin oder her: Mit Kritikern seines Kurses geht Mohammed bin Salman hart um. Vor zwei Wochen erst wurden mindestens 30 Religionsgelehrte, Journalisten, Akademiker und Aktivisten festgenommen. Diese Verhaftungswelle – so Amnesty International – ziele auf die "letzten Reste der freien Meinungsäußerung" im Land. So kometenhaft schnell Mohammeds Aufstieg, so untypisch mittelmäßig war seine Ausbildung: Er studierte nicht im Ausland und hat nur einen Bachelor in Rechtswissenschaften. Man weiß, dass er vier Kinder hat – und in der Gerüchteküche heißt es, Mohammed liebe alle Produkte von Apple, und sein Lieblingsland sei Japan. Ambitioniert, energiegeladen, impulsiv Ohne Zweifel: Der Kronprinz ist der eigentliche Macher hinter dem König. Er ist ambitioniert und energiegeladen. Gleichzeitig gilt er aber auch als ein wenig impulsiv. Dass der König nun auch Frauen das Autofahren erlaubt, zeigt: Sein Sohn meint es ernst, in Saudi-Arabien hat eine Zeit beispielloser Umbrüche begonnen.
Von Carsten Kühntopp
Saudi-Arabien wird gerade von einem jungen Thronfolger umgekrempelt. Mohammed gibt sich fortschrittlich, davon zeugen die Entscheidung, dass Frauen künftig Auto fahren dürfen und seine "Vision 2030" für ein Saudi-Arabien nach dem Öl. Mit Kritikern geht er allerdings wenig liberal um.
"2017-09-30T13:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:44.279000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-kurs-in-saudi-arabien-der-kronprinz-raeumt-auf-100.html
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Ein Schock für viele Schweden
Ein schwedischer Polizist mit Flüchtlingen in der Nähe von Malmoe. (picture alliance / dpa / Johan Nilsson) "Das ist ja die christliche Botschaft, dass man dem Nächsten hilft und auch wenn Frau Merkel sagt, "das schaffen wir schon", das, finde ich, sitzt in uns allen, dass man das wirklich gerne macht." Schwedens Ruf als "Supermacht der Menschlichkeit" Königin Silvia im Herbst in einem ARD-Interview. Ein dickes Lob für Deutschland und fast schon die Beschwörung auch der eigenen schwedischen Tradition größtmöglicher Hilfsbereitschaft. Aber die ist seit einem Jahr gebrochen. Unter dem Druck von 163.000 Flüchtlingen, die 2015 ins Land gekommen waren, und unter dem Druck der laut dagegen protestierenden rechtspopulistischen Schwedendemokraten hatte die rot-grüne Regierung Grenzkontrollen eingeführt, trotz vieler Bedenken in der EU, und danach hatte sie das Asylrecht des Landes von einem der liberalsten zu einem der strengsten gemacht. Klappe zu, Flüchtlinge weg, vor allem solche ohne Papiere! Ein Schock für viele Schweden, die stolz waren auf den Ruf ihres Landes als "Supermacht der Menschlichkeit". Margit Silberstein vom schwedischen Rundfunk brachte es auf den Punkt: "Heute sind wir, wie selbst der Ministerpräsident sagt, auf dem Minimalniveau der EU. Und das ist sehr schmerzhaft besonders für die Grünen gewesen, die ja auch in der Regierung sind. Sie waren die großzügigste Partei im Reichstag, was die Flüchtlingspolitik angeht. Man kann sagen, dass sie auf diesem Gebiet ihre Seele verloren haben." Harte Zeiten auch für die, die schon länger im Land sind Und viele Asylsuchende haben eine große Hoffnung verloren. Schwedens Einwanderungsbehörde geht für 2016 nur noch von gut 30.000 Flüchtlingen aus, das wären 80 Prozent weniger als im Vorjahr. Das Ergebnis der "Wir schaffen es nicht"-Politik. Seit dem Sommer gibt es nur noch befristete Aufenthaltsgenehmigungen, die Familienzusammenführung wurde massiv erschwert. Einer der Betroffenen ist Amin Koko aus Stockholm: "Wir haben Pech gehabt, denn unsere Fälle sind nicht vor dem 20. Juli entschieden worden. Das ist nicht gerecht, sondern unfair." Harte Zeiten auch für diejenigen, die schon länger im Land sind, das sagt Samar Hadrous vom arabischen Dienst des schwedischen Radios: "Selbst die Asylbewerber, denen man noch unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen gegeben hat, haben es schwer. Etwa bei der Wohnungssuche. Sie lernen dazu kaum Schwedisch, finden nur selten Arbeit und können sich so unserer Kultur nicht wirklich anpassen. Das alles sind ungelöste Probleme." Rot-grün und konservative Oppositionspartei sind nervös Und sie werden wohl erst einmal ungelöst bleiben. 2018 Jahr sind Wahlen. Rot-grün wie auch die führende konservative Oppositionspartei sind nervös und nach Meinung von Margit Silberstein auf einem gefährlichen Weg: "Sowohl die Politik der Moderaten als auch die der Regierung ähnelt ja sehr dem Programm der Schwedendemokraten. Selbst wenn sie völlig andere Beweggründe, einen ganz anderen Ausgangspunkt haben als diese Schwedendemokraten. Aber im Grunde ist es doch dieselbe Einstellung." Man könnte das auch Rechtspopularisierung der Politik nennen. Die Umfragen zufolge übrigens nichts bringt. Denn während Flüchtlinge und auch das Image des Landes unter der neuen Asylpolitik erheblich leiden, sind die einst aus dem Neonazi-Milieu gekommenen Schwedendemokraten so laut und so stark wie nie zuvor und mit gut 21 Prozent auf dem Weg zur zweitstärksten Partei im Land.
Von Carsten Schmiester
Unter dem Druck von 163.000 Flüchtlingen, die 2015 nach Schweden gekommen waren, verschärfte das Land sein Asylrecht von einem der liberalsten zu einem der strengsten. Viele Schweden hatten damit Probleme, galt ihr Land doch bis dato als "Supermacht der Menschlichkeit". Ein Jahr danach sind viele Probleme in der Flüchtlingspolitik noch immer ungelöst.
"2017-01-04T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T09:25:40.295000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kehrtwende-im-asylrecht-ein-schock-fuer-viele-schweden-100.html
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Umstrittenes Rüstungsgeschäft mit Russland
"Das frage ich den Bundesrat. Für mich unverständlich, weil die Kommunikation gegen außen war ein Lieferstopp. Dieser Lieferstopp wurde offenbar nicht eingehalten. Diese Frage ist zu klären." Max Chopard, SP-Nationalrat, hat für heute Nachmittag eine parlamentarische Fragestunde einberufen. Dass die Schweiz noch im Herbst 2014, also mitten im Krieg, dem Export von Rüstungsmaterial nach Russland zugestimmt hat, findet der linke Abgeordnete unerhört. Man muss schon etwas genauer unterscheiden, meint dagegen Thomas Hurter, der für die rechtskonservative SVP im Nationalrat sitzt. "Wir sprechen hier von Textilien, von Tarnmaterial. Also wir sprechen hier nicht von Waffen. Die Journalisten werfen das immer in einen Topf. Bei den Angriffswaffen ist die Schweiz extrem restriktiv. Also ich muss Ihnen sagen, die Schweiz ist überhaupt kein Schurkenstaat." "Tatsächlich unterscheidet die Schweiz bei der Prüfung von Exporten zwischen Kriegsmaterial einerseits und sogenannten besonderen militärischen Gütern andererseits. Rüstungsgüter also, die nicht zwingend im Gefecht eingesetzt werden müssen, erklärt Jannik Böhm von der "Gruppe für eine Schweiz ohne Armee": "Also Kriegsmaterial ist ganz explizit zum Töten vorgesehen, während besondere militärische Güter auch für militärische Zwecke genutzt werden, aber nicht direkt zum Töten. Ein gutes Beispiel ist ein Flugsimulator: Mit dem kann man niemanden töten, aber es ist klar, dass damit Leute trainiert werden, die Leute töten." Eine ganz normale Geschäftspraxis? Nun hatte der Bund im Sommer 2014 die Ausfuhrbeschränkungen auf diese "besonderen militärischen Güter" ausgeweitet. Und in diese Kategorie fällt eigentlich auch das an Russland gelieferte Tarnmaterial. Es dient dazu, Soldaten und Panzer vor Infrarotüberwachung zu schützen - ermöglicht ihnen also beispielsweise, unbemerkt eine Landesgrenze zu passieren. Trotzdem gaben die Prüfer des Bundes im Herbst grünes Licht für das Geschäft im Wert von 90 Millionen Franken. Sie beriefen sich dabei auf eine Ausnahmeklausel: Demnach gelten die Beschränkungen nicht für Verträge, die vor dem August 2014 abgeschlossen wurden. Eine ganz normale Geschäftspraxis, meint Thomas Hurter von der SVP: "Die Geschäftstätigkeit, die beginnt irgendwann und die dauert natürlich auch eine gewisse Zeit, bis das ausgeführt ist. Also es ist natürlich so wie im täglichen Leben: Wenn Sie etwas Umfangreicheres bestellen, dann gehen teilweise Jahre dieser Bestellungen voraus. Und deshalb hat es hier auch eine gewisse Überschneidung gegeben." Max Chopard von den Sozialdemokraten widerspricht: "Es geht nicht darum, wann welches Geschäft abgeschlossen wurde. Es geht darum, dass wir nicht mehr liefern. Und man hat klar im Sommer 2014 kommuniziert, man macht keine Lieferungen mehr von militärischen Gütern in diese Konfliktregionen. Das ist mit den Flugzeugträgern in Frankreich genau gleich. Die Geschäfte wurden auch früher abgeschlossen und werden jetzt trotzdem nicht umgesetzt - respektive es gibt einen Lieferstopp bis eine Befriedung eintritt." Keine Stellungnahme vom Staatssektretariat für Wirtschaft Rechtlich wäre der Rüstungsdeal mit Russland also korrekt. Die Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutraler Vermittler stehe aber durchaus auf dem Spiel, findet Chopard: "Wenn es so eine Ausnahmeklausel gibt, dann ist diese zu verurteilen. Es kann nicht sein, dass die Schweiz eine Verordnung, die sie selbst in Kraft gesetzt hat, auch wieder selbst umgeht. Das wäre eine hochproblematische Sache, die wir aus der Welt schaffen müssen. Die ist inakzeptabel." Just im letzten Herbst hatte die Schweiz den OSZE-Vorsitz inne, und Außenminister Didier Burkhalter erntete viel Lob für seine Friedensbemühungen. Von der Genehmigung für den Tarnmaterialexport hat er angeblich nichts gewusst. Das Staatssekretariat für Wirtschaft, das für die Kontrollen verantwortlich zeichnet, ist trotz mehrmaliger Anfragen nicht zu einer Stellungnahme im Radio bereit. Der SVP-Politiker Thomas Hurter kann die ganze Aufregung nicht nachvollziehen: "Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dieser Fall, der jetzt hier genommen wird mit diesem Gewebe, diesen Stoffen, aus meiner Sicht wird das völlig überbewertet."
Von Stefanie Müller-Frank
Trotz des Konflikts in der Ostukraine hat die Schweiz die Ausfuhr von militärisch nutzbarem Hightech-Gewebe nach Russland bewilligt. Dazu muss der Bundesrat nun in einer parlamentarischen Fragestunde Stellung nehmen.
"2015-03-16T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T12:26:41.022000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schweiz-umstrittenes-ruestungsgeschaeft-mit-russland-100.html
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Deutschlands Umgang mit Autokraten
Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (links) und Syriens Präsident Bashar al-Assad während des Gipfeltreffens der Arabischen Liga im Mai 2023. Ihre Verbrechen sind gut dokumentiert. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Uncredited)
Thörner, Marc
Syriens Diktator wird für den Tod von Tausenden Menschen verantwortlich gemacht, Saudi-Arabiens Kronprinz wird der Mord an einem Journalisten vorgeworfen. Beide sind öffentlich stark präsent. Der Umgang mit ihnen ist in Deutschland strittig.
"2023-08-11T18:40:00+02:00"
"2023-08-11T17:33:24.530000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-saudi-arabien-deutschland-100.html
91,900
"Man kann sich jetzt nicht zurücklehnen"
Schulen sollen als Erstes bedacht werden, wenn es Lockerungen geben werde, sagt der SPD-Politiker Michael Müller im Dlf (dpa / picture alliance / Fabian Sommer) Vor dem Bund-Länder-Treffen am Mittwoch (10.02.2021) zu den weiteren Corona-Maßnahmen hat Berlins Regierender Bürgermeister zum gemeinsamen Zusammenhalt auch auf Bundesebene appelliert: "Wir haben es bundesweit noch nicht geschafft unter die Inzidenz 50 zu gekommen, aber es gibt natürlich regionale Unterschiede", sagte Michael Müller (SDP) im Deutschlandfunk. Man habe eine gemeinsame Aufgabe und werden den Weg noch einige Zeit weiter zusammen gehen müssen, aber man werde auch über konkrete Lockerungsmaßnahmen nachdenken, da einige Regionen die 50er-Marke schon erreicht haben oder in Kürze erreichen werden. Die 50 sei nach wie vor wichtig, weil sie die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter und der medizinischen Versorgung in den Kliniken zeige. "Unter 50 ist das alles sehr viel besser möglich", sagte Müller. Allerdings hätten die Virus-Varianten die Situation auch verschärft, man dürfe deswegen nicht alles auf den Inzidenzwert 50 ausrichten, die Gefahr sei, dass die Zahlen nach Lockerungen dann wieder in die Höhe steigen könnten und es deswegen vielleicht besser sei, die Zahlen noch deutlich stärker zu drücken. Allerdings gebe es bislang eine dünne Datenbasis zu den Mutationen. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) "Virusvarianten haben die Lage verschärft" Man wisse aber, dass die Variante aggressiver sei und man sich deutlich schneller anstecken könne. "Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten, innerhalb von wenigen Tagen gibt es eine Vervielfachung der Infektionszahlen", sagte Müller. Die Variante sei aggressiver und man stecke sich schneller an. Es sei aber unsicher, inwieweit die Virusvarianten schon in Deutschland verbreitet ist. Es sei aber umstritten, in welcher Größenordnung und inwieweit man darauf mit zusätzlichen Maßnahmen reagieren müsse, so Müller im Dlf. Die Politik bewege sich bei der Debatte um mögliche Lockerungen in einem schmalen Grat. So würden bestimmte Bereiche, wie der Einzelhandel oder die Kultur und Menschen in Deutschland von der Politik Perspektiven verlangen. Andere Teile in der Bevölkerung würde von der Politik verlangen, die Menschen und Risikogruppen zu schützen. "Genau in diesen Wochen befinden wir uns", sagte der Berliner Bürgermeister. Müller sprach sich deswegen gegen vorschnelle Lockerungen aus, um die Inzidenz weiter zu drücken: "Man kann sich jetzt nicht zurücklehnen. Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, sind wir wieder bei einer Inzidenz von über 100 und beginnen alles von vorne. Das wäre unzumutbar." Schulen sollen aber als Erstes bedacht werden, wenn es Lockerungen geben werde, sagt der SPD-Politiker. Der Schulbetrieb könnte durch mehr Testungen und Impfungen der Lehrer schneller möglich gemacht werden. Lesen Sier hier das vollständige Interview. Barenberg: Herr Müller, wir sind von der angestrebten Sieben-Tage-Inzidenz von 50 ja noch ein gutes Stück entfernt. Die Gefahren der mutierten Corona-Varianten sind weiter schwer abzuschätzen. Ist damit eigentlich schon klar, dass es nächste Woche keine Lockerungen geben kann? Müller: Sie sagen, wir sind ein Stück weit entfernt. Das stimmt. Wir haben es bundesweit noch nicht erreicht, aber es gibt natürlich regionale Unterschiede. Wir wissen, wir müssen soweit es geht zusammen bleiben und haben hier eine gemeinsame Aufgabe. Insofern gehe ich davon aus, dass wir diesen gemeinsamen Weg auch noch weitergehen werden. Aber natürlich beschäftigen wir uns deswegen auch schon mit möglichen ersten Lockerungsschritten, ein Stück Normalität auch wieder zurückzugewinnen, weil wir auch Länder haben, die die 50 schon in greifbarer Nähe haben oder in den nächsten Tagen erreichen werden, und insofern ist es richtig, sich auf unterschiedliche Szenarien vorzubereiten. "Diese Virusvarianten haben die Situation verschärft" Barenberg: Diese Inzidenz-Zahl von 50, die ist für Sie weiterhin die zentrale Richtschnur bei diesen ganzen Diskussionen? Da gibt es ja auch Kritik. Müller: Na ja, es gibt von beiden Seiten Kritik. Die einen sagen, ihr habt doch jetzt endlich den Punkt erreicht, wo es auch mal wieder ein Stück Normalität geben muss, und die anderen sagen, ihr habt es noch längst nicht erreicht. Auch aus der Wissenschaft gibt es da ja unterschiedliche Positionen. Die 50 ist einfach nach wie vor sehr wichtig, weil sie die Leistungsfähigkeit ausdrückt, sowohl der Gesundheitsämter wie dann auch der medizinischen Versorgung in den Kliniken, wo man nicht einen Punkt erreicht, wo man einfach bestimmte Dinge nicht mehr leisten kann. Unter 50 ist das alles sehr viel besser möglich. Aber wir müssen auch ganz klar sagen, diese Virusvarianten, nenne ich es jetzt auch mal, weil es verschiedene sind, haben die Situation verschärft. Insofern haben wir große Sorge, wenn man es nur an der Zahl 50 misst, dass man möglicherweise dann doch zu früh wieder in einen anderen Status kommt, wo man zu schnell dann auch wieder höhere Zahlen sieht. Viele von uns sagen, jetzt sehr besonnen bleiben und möglichst auch deutlich unter die 50 kommen, wegen der Virusvarianten. Leiter des Kölner Gesundheitsamtes - "Wir können uns auf keinen Fall eine höhere Inzidenz leisten"Der Leiter des Kölner Gesundheitsamtes sieht seine Behörde in der Lage, auch bei hohen Inzidenzwerten die Nachverfolgung sicherzustellen. Er plädierte aber dafür, die Zahlen weiter zu drücken, sagte Johannes Nießen im Dlf. "Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten" Barenberg: Weil Sie die Virusvarianten jetzt mehrmals angesprochen haben, sind wir damit wieder vor einer völlig neuen Situation, weil unklar bleibt, ob wir das Schlimmste jetzt eigentlich hinter uns haben, oder gar noch vor uns? Müller: Ja, es ist immer noch eine klare Situation. Ich habe mich auch gestern wieder beraten lassen aus der Wissenschaft und es ist immer noch eine sehr dünne Datenbasis. Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten. Innerhalb von wenigen Tagen gibt es eine Vervielfachung der Infektionszahlen. Und wir wissen offensichtlich, dass diese Virusvariante deutlich aggressiver ist, dass man sich deutlich schneller ansteckt und dass es durchaus auch zu schwereren Krankheitsverläufen kommen kann. Inwieweit sie aber jetzt auch schon bei uns ist, in welcher Größenordnung wir darauf jetzt auch reagieren müssen, vielleicht durch zusätzliche Maßnahmen, das ist immer noch umstritten. Unbestritten ist, dass man es im Blick haben muss und deswegen sehr vorsichtig sein muss mit den ersten Öffnungsschritten. Virologin Brinkmann: Die Menschen brauchen Stabilität und PerspektiveDie Wissenschaftlerin Melanie Brinkmann plädierte im Dlf für eine Ziel-Inzidenz von zehn. Sie habe ansonsten die Sorge, dass man in eine dritte Welle hineinlaufe. Dann müsste man mit schärferen Maßnahmen nachsteuern. Barenberg: Aber es gibt ja Stimmen unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – wir hatten gestern Frau Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, die ja in Ihrer Runde auch schon zu Gast war und auch im "Spiegel"-Interview in dieser Woche, die gesagt hat, das ist quasi Naturgesetz, dass diese Mutationen uns überrennen werden. Das kann man jetzt schon sagen. Da haben Sie noch Zweifel? Müller: Was heißt ich habe Zweifel? Da gibt es in der Wissenschaft auch Zweifel, ob diese Aussage so stimmt, und das ist für uns ja genau das Schwierige, eine Gratwanderung. Wir werden von vielen Seiten beraten und müssen einen Weg finden, der ja akzeptabel ist und der auch mitgetragen wird. Einerseits erwarten die Menschen zurecht, dass wir alles tun, um sie zu schützen, und niemand will ja auch in der Bevölkerung jetzt diese schweren Wochen, die wir hinter uns haben und wo wir gemeinsam so viel erreicht haben, in Frage stellen. Auf der anderen Seite sagen viele, auch im Einzelhandel, auch in der Kultur, es sind Belastungsgrenzen erreicht, ihr müsst uns eine Perspektive geben. Genau in diesen Wochen bewegen wir uns jetzt, einerseits sensibel auch noch weitermachen mit dem eingeschlagenen Weg, um noch mehr zu erreichen, und andererseits aber auch schon deutlichmachen, wenn es losgeht mit den Öffnungen, wo geht es dann los und in welchen Schritten. Rasche (FDP): Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu öffnenMan wisse womöglich erst in einigen Wochen oder Monaten mehr über die Mutationen. So lange könne man mit den Öffnungen aber nicht warten, sagte Christoph Rasche, Fraktionsvorsitzender der NRW-FDP im Dlf. Barenberg: Aber wenn Christian Lindner, der FDP-Chef, jetzt sagt, Öffnungsschritte jetzt unter den Gegebenheiten, die wir im Moment haben, sind möglich und sie sind auch jetzt schon nötig, da widersprechen Sie? Müller: Da widerspreche ich zum heutigen Stand, weil schlichtweg die Zahlen das nicht hergeben. Ich will einfach mal an meiner Berliner Situation es deutlichmachen. Ich habe im Dezember eine 220er-Inzidenz gehabt und habe jetzt eine knapp unter 70. Das ist eine gute Entwicklung. Aber die 50 habe ich noch nicht erreicht und es gibt sogar eine Warnstufe in Berlin, die eigentlich bei 30 liegt. So ist es in vielen Ländern. Man kann sich, obwohl wir einen guten Weg eingeschlagen haben, jetzt nicht zurücklehnen. Wenn wir jetzt zu schnell wieder alles öffnen, sind wir sofort wieder bei einer Inzidenz über 100, über 150 und beginnen alles von vorne, und das wäre unzumutbar. Barenberg: Wenn wir nicht in dieser Endlosschleife bleiben sollen, die ja auch ihren Teil dazu beiträgt, dass die Menschen langsam frustriert sind und immer Pandemie-müder werden, müssen die Zahlen dann nicht noch sehr viel deutlicher nach unten gedrückt werden, bevor es überhaupt Lockerungen geben kann, Stufenpläne hin oder her? Müller: Ich habe es Ihnen ja gerade gesagt. Die 50 ist das Minimum. Wir orientieren uns in vielen Ländern eher an der 30 oder 35, so auch in Berlin. EZero Covid? No Covid? Wo liegt der Unterschied?Um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen, fordern die einen Wissenschaftler eine Zero-Covid-Strategie, die anderen wollen das Ziel "No Covid" erreichen. Wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Barenberg: Warum nicht an der 10? Müller: Das ist auch ein Richtwert, den man anstreben kann. Aber auf dem Weg zu einer 10, glaube ich, ist auch schon wieder vieles möglich. Da spielt zum Beispiel der Bildungsbereich eine große Rolle. Wenn wir über schrittweise Öffnung und Lockerung reden, machen Sie ja nicht von heute auf morgen sofort wieder alles auf und wir haben den Normalbetrieb von 2019, sondern Sie werden ja schrittweise das eine oder andere ermöglichen und auch auf dem Weg, die 30 zu erreichen oder unter die 30 zu kommen, werden Sie Dinge wieder ermöglichen können. Zumindest setzen wir uns damit in den Ländern schon ganz konkret auseinander. Wie die Schulen wieder öffnen könntenBundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat Leitlinien für einen Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen vorgestellt. Doch allzu viel Neues enthält das Papier nicht. Barenberg: Da sind sich auch alle einig? Das ist ja immer die große Frage und später erfahren wir dann, dass die Einigkeit doch nicht so groß ist. Da sind sich aber doch alle einig, die Kinder und die Schülerinnen und Schüler, das sind die ersten, an die bei Lockerungen gedacht werden soll? Müller: Ja, aus zwei Gründen. Erstens sehen wir natürlich die sozialen Folgen, was man auch den Kindern antut, wenn man ihnen kein Bildungsangebot macht, was es für soziale Folgen in vielen Familien hat. Das ist etwas, was uns alle umtreibt und was wir in allen Bundesländern sehen.Das zweite ist: Die Wissenschaft sagt nach wie vor, ja, auch in den Schulen gibt es natürlich Infektionsrisiken. Aber es sind in aller Regel vor allen Dingen in den ganz jungen Jahrgängen nicht Ausbruchsherde, die man dann irgendwann nicht mehr kontrollieren kann, sondern es trägt zum Infektionsgeschehen bei. Aber wenn man zum Beispiel den Schulbetrieb jetzt auch durch deutlich mehr Testungen absichert, oder gegebenenfalls sogar schrittweise durch Impfungen für die Lehrerinnen und Lehrer, dann kann man auch schon schrittweise wieder mit dem Schulbetrieb bei den ganz jungen, bei den Jahrgängen 1 bis 3 zum Beispiel beginnen. KMK-Präsidentin: "Wir wünschen uns Lockerungen für den Schulbetrieb"Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst (SPD), hat sich für Lockerungen für den Schulbetrieb ausgesprochen. Ein Lockdown sei mit manchen Lernangeboten nicht vereinbar, sagte sie im Dlf. Barenberg: Und Szenarien vermeiden wie in Irland oder Portugal, wo die Zahlen doch wieder explodiert sind. Müller: Genau! Barenberg: Was heißt es, wenn Sie sagen, zunächst mal scheint Einigkeit zu bestehen, dass man verlängern soll? Heißt das, unterm Strich werden nicht mehr Zeitpunkte zählen, sondern Zahlen am Ende, Inzidenz-Zahlen? Müller: Ja! Wir haben ja auch die Zeitpunkte immer wieder schieben müssen. Das ist eine furchtbare Situation. Mitte Januar wollten wir ja schon viel weiter sein und wieder mehr Normalität zulassen können. Aber wir mussten immer wieder schieben durch Veränderungen, weil Zahlen entweder nicht erreicht wurden, oder weil wir diese Mutationen mit zu bewältigen hatten. Wir sehen jetzt, dass natürlich viele Faktoren wichtig sind: Einerseits die Dynamik, die sich weiter ausdrückt ja durch die Inzidenzen und diesen R-Faktor, also den Reproduktionsfaktor. Aber ganz besonders wichtig ist einfach auch die Zahl, die deutlich macht, wie unser Gesundheitssystem noch die Aufgaben bewältigt. Und auch da wieder: Ich bin in Berlin hervorragend aufgestellt mit der Charité und anderen Kliniken, die helfen. Aber auch die kommen, wenn wir nicht aufpassen und die Zahlen weiter drücken, an Leistungsgrenzen. Und das ist für uns alle ein wichtiger Indikator, wie können wir auch Schwersterkrankten weiter gut helfen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Müller im Gespräch mit Jasper Barenberg
Vor dem nächsten Bund-Länder-Treffen hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Dlf davor gewarnt, vorschnell Termine für erste Öffnungsschritte festzulegen. "Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, sind wir wieder bei einer Inzidenz von über 100 und beginnen alles von vorne", so Müller.
"2021-02-09T08:10:00+01:00"
"2021-02-10T12:06:17.594000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berlins-buergermeister-zu-corona-massnahmen-man-kann-sich-100.html
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Das Virus als Sprungbrett in die "Postwachstumsgesellschaft"?
Flugzeuge am Boden statt klimaschädlich in der Luft - ist das ein "Kollateralnutzen" der Corona-Pandemie? Ist die Anomalität die anzustrebende Normalität? (imago) "Das ist ja etwas, womit auch wir Soziologinnen und Soziologen nicht gerechnet haben, dass eine Krise diesen Ausmaßes verursacht wird durch eine Krankheit, eine Seuche, durch einen Virus. Und das Management dieser Pandemie - das hatten wir alle nicht auf dem Ticket." Wie Klaus Dörre von der Schiller-Uni in Jena eingestehen muss. Auch eine ansonsten so kritisch vorausschauende Disziplin wie die Soziologie geriet durch Corona ins Straucheln, obwohl sich in der Krise genügend Anknüpfungspunkte für sozialwissenschaftlich relevante Fragen offenbaren sollten: über unser gesamtes wachstumsabhängiges Konsummodell, die Wiederentdeckung des Etatismus und die Grenzen des Ausnahmezustands, die Prävention als Bürgerpflicht bis hin zur globalen Gerechtigkeit im Kontext der Impfstoffverteilung. Zu Beginn der Debatten um die Anti-Corona-Maßnahmen stand zunächst das Drehen und Wenden des Solidaritätsbegriffs. Warum die Coronakrise ein Umdenken erfordert Corona ist ein Stresstest für unsere Gesellschaft. Die Pandemie hat unsere globalen Abhängigkeiten überdeutlich gemacht. Und sie provoziert neue Weichenstellungen für die Zukunft, die tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen werden. Damit beschäftigten sich auch die Geisteswissenschaften. Solidarität als "große Chance" Dessen Herkunft erläutert Ute Frevert, Historikerin am Max-Planck-Institut in Berlin, zuständig für die "Geschichte der Gefühle": "Er war ja ursprünglich ein rechtstechnischer Begriff – einer haftet für alle, alle haften für einen. Dann ist er im 19. Jahrhundert in den politischen Sprachgebrauch gewandert zu einem extrem emotionalisierten Gemeinschaftsbegriff der Arbeiterbewegung. Im zwanzigsten Jahrhundert mit der Entwicklung des Sozialstaats wird er wieder verrechtlicht. Der Sozialstaat an sich ist zwar ein extrem solidarisches Unterfangen, aber niemand denkt an den Sozialstaat, wenn man über Solidarität nachdenkt, sondern da ist eher wieder das individuelle Verhalten wichtig. Genau dieses individuelle Verhalten, das dann wieder die Emotionen, die Bindungskraft dieses Begriffs mit sich bringt. Genau dieses individuelle Verhalten ist ja jetzt in der Coronakrise wieder gefragt und auf diese Weise sind wir wieder als solidarische Bürger angesprochen und ein Stück weit auch in die Pflicht genommen. Eigentlich liegt darin eine große Chance." Herzerwärmende Selbstvergewisserung oder tatsächlicher Gesellschaftswandel - was bedeutet eigentlich "Solidarität"? (picture alliance / dpa / Uli Deck) Solidaritätsbegriff ist völlig "übernutzt" Die Solidarität sei momentan als politischer und sozialer "Hochwertbegriff" völlig "übernutzt", stellt dagegen der Solidaritätsforscher Stephan Lessenich fest. Noch jede Praxis des Helfens oder Geste der Empathie werde derzeit schon als Solidarität im öffentlichen Diskurs hochgejubelt. Für den Soziologen von der LMU in München stellt Solidarität aber eine "anspruchsvollere Konzeption" dar, jedenfalls mehr als das individuelle Verhalten der nützlichen nachbarschaftlichen Unterstützung in extremen Situationen. "Solidarität ist eigentlich immer kollektives Handeln. Solidarität ist Handeln in Gemeinschaft mit anderen, klassischerweise auch in physischer Auseinandersetzung, dass nicht nur die Symptome repariert, sondern auch die Strukturen verändert werden. Eine solche transformative Solidarität sehe ich jetzt während der Corona-Pandemie eigentlich nicht. Ich würde sagen, es ist nicht solidarisch, sich 1,5 Meter von anderen Personen entfernt aufzuhalten, sondern solidarisch ist es, sich mit ihm auszutauschen, wie jetzt beispielsweise zukünftige Pandemien verhindert werden können und nicht nur die gegenwärtige eingedämmt." Idealistische Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft An Covid-19 und seine Folgen knüpfen sich viele gesellschaftsverändernde Hoffnungen. Stillstand als Chance heißt die Losung. Doch die Erwartung, das Virus könne als Sprungbrett dienen, um uns in eine demokratische "Postwachstumsgesellschaft" zu katapultieren, hält der Arbeits- und Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre für "zu idealistisch". Der Diskurs müsse endlich "vom Kopf auf die Füße" gestellt werden. "Mir hat am Anfang vor allen Dingen gefehlt, dass in der Euphorie des ‚Jetzt eine andere Gesellschaft machen‘ vieles gesagt worden ist, ohne dass es wirklich verbunden gewesen wäre mit Akteuren, die in der Lage gewesen wären, die Gesellschaft zu verändern. Man belässt es beim Aufruf. Und das ist in dieser Situation viel zu wenig." Andere versuchen das Positive der Pandemie hervorzuheben und apostrophieren dies flott als "Kollateralnutzen". Die Krise habe eine neue Form von Aufklärung beflügelt, die uns auf veränderte klimatische, biopolitische und digitale Gegebenheiten hinweise. So stellt Albrecht von Lucke, Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik" die Pandemie aus ökologischer Perspektive in einen größeren, systemischen Rahmen. Denn zum ersten Mal sei in der Corona-Zeit dank weitestgehend eingehaltener Verzichtsauflagen das Wachstum an schädlichen Emissionen gemäß aller Beschlüsse der bisherigen Klimagipfel gebremst worden. "Die Anomalität der Corona-Zeit ist in klimapolitischer, emissionspolitischer Hinsicht eigentlich eher das anzustrebende Normale. Und die große Frage ist natürlich jetzt: Gelingt es uns, diesen Emissionsverlust, diese Einbuße über die Anomalität der Corona-Zeit auch in Normalzeiten zu praktizieren?" Freie Fahrt, saubere Luft - der Lockdown sorgt für ganz neue Weltwahrnehmungen (imago/Lichtgut) Soziologie in zwei Lager geteilt? Was lehrt uns das als Konsument und was heißt das für die Sozialwissenschaften? Stephan Lessenich ist eher skeptisch, ob die Soziologie als Disziplin mit Überlegungen in Richtung eines transformativen Prozesses Anstöße liefern könne. Denn er sieht sein Fach derzeit in zwei Lager geteilt: "Entweder Unterhaltungswissenschaften für die gehobenen Stände, also intellektuelle hochfliegende Reflexionen in den Feuilletons der Qualitätszeitungen. Oder sie ist Hilfswissenschaft für die politischen Regulierungsinstanzen. Aber zwischen der hilfswissenschaftlichen Kritik und der Reflexionswissenschaften für die höheren Klassen findet in der Mitte nicht viel statt. Nämlich da, wo es wirklich um die Zukunft geht, da müsste es viel mehr soziologische Beiträge zu der Frage geben: Wofür steht Corona eigentlich strukturell und was können wir und was müsste auch gesellschaftlich verändert werden, um aus Corona wirklich Lehren zu ziehen? Da hat die Soziologie meines Erachtens nicht viel zu bieten." Prävention leisten für künftige Pandemien und dabei stärker mit den Naturwissenschaften kooperieren ist für Klaus Dörre das vorrangige soziologische Thema, um aussagefähig zu werden für die Zukunft nachhaltiger Gesellschaften: "Sie hätte im ersten Schritt zu erkunden, wie eigentlich Systeme aussehen könnten, die eine Art Prävention leisten für künftige Pandemien. Die werden ja kommen. Prävention sollte heißen, solche Entwicklungen schon im Keim zu ersticken, dass man sich die Frage stellen müsste, und das müsste eine öffentliche Soziologie verstärkt tun, ob wir nicht dringend eine Umverteilung und Demokratisierung von Entscheidungsmacht benötigten. Denn salopp gesprochen: Besser, als einen SUV nicht zu fahren oder nicht zu kaufen, wäre unter ökologischen Gesichtspunkten, ihn nicht zu bauen." Dass die Menschen die Corona-Einschränkungen als wünschenswertes Lebensmodell weiterführen möchten, ist reichlich utopisch (Rupert Oberhäuser / dpa) Rückkehrbewegung hin zu altem Wachstum und Wohlstand Statt auf große Masterpläne zu setzen, sieht Ute Frevert die Sozialwissenschaften zunächst auf ihre ureigenen Kompetenzen verwiesen: "Ich brauche keinen neuen Foucault, der mir diese Situation erklärt. Ich fände es großartig, wenn die Sozialwissenschaften das tun, was sie auch am besten können: Daten sammeln, Daten auswerten, Daten interpretieren, Daten in Beziehung setzen zueinander. Und das in einer vergleichenden Art zu tun, zu sehen, welche Gesellschaft mit welchen Steuerungsmitteln, welchen Interventionen staatlicher, kirchlicher, zivilgesellschaftlicher Art am weitesten gekommen sind." Für Nachsorge und Prävention, empirische Routine und überschießende Fantasie gibt es also mit und nach Corona hinreichend soziologischen Bedarf. Zumal mit einer Rückkehrbewegung gerechnet werden muss - hin zum alten Wachstum und Wohlstand. Stephan Lessenich: "Ich fürchte, dass eher verhandelt wird: Wie kommen wir wieder zu einem Zustand, wie wir ihn kannten, sodass wir wieder frei uns bewegen können? Aber dass es wenig Diskussionen gibt: Kommen wir nach vorne raus aus der Situation? Wie können wir wirklich Dinge verändern und alternative Gesellschaftsformen diskutieren?" Mehr Unkenrufe als Aufbruchsignale. Dass alle Chancen der Coronakrise, den mühsam errungenen klimapolitischen Vorteil auf Dauer sicherzustellen, in einer wahren Nachholwelle zunichte gemacht werden könnte, dämmert auch dem Wachstumskritiker Albrecht von Lucke: "Man muss befürchten, dass nach dem Ende von Corona die Schädigungen noch größer sein werden, weil wir mehr konsumieren, weil wir mehr im Wachstum leben werden."
Von Norbert Seitz
In den Sozialwissenschaften wird die Pandemie nicht nur negativ gesehen. Von Solidarität, von "Stillstand als Chance", sogar vom ökologischen „Kollateralnutzen“ ist erwartungsfroh die Rede. Demgegenüber befürchten Skeptiker eher ein Rollback des Konsumismus, wenn das Wachstum wieder angekurbelt wird.
"2021-02-25T20:10:00+01:00"
"2021-02-27T12:46:10.667000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/soziologische-diskussionen-um-corona-das-virus-als-100.html
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Japan verliert seinen Olympia-Macher
Shinzo Abe ist der am längsten amtierende Ministerpräsident in der Geschichte Japans. (picture alliance / dpa / MAXPPP) Das Engagement Shinzo Abes sei entscheidend dafür gewesen, "dass das Organisationskomitee von Tokio das am besten vorbereitete aller Zeiten wurde", so IOC-Präsident Thomas Bach in einem Pressestatement zum Rücktritt des japanischen Ministerpräsidenten. Shinzo Abe sei immer ein vertrauensvoller und starker Partner gewesen, sodass "selbst unter den schwierigsten Bedingungen der COVID-19-Pandemie" Lösungen hätten gefunden werden können, "die es ihm ermöglichten, seine Vision für Japan noch immer zu verwirklichen, wenn auch mit einem Jahr Verspätung", so Thomas Bach in einer schriftlich veröffentlichten Erklärung. Olympiagastgeber Japan - Von Einheit und Vielfalt keine SpurWegen Corona wurden die Olympischen Spiele in Tokio verschoben – und damit auch das Projekt, Japan als weltgewandtes Land zu präsentieren. Vor allem Ausländer im Land werden immer wieder diskriminiert. Einen Nachfolger gibt es noch nicht Am Freitagmorgen hatte Shinzo Abe auf einer Pressekonferenz seinen Rücktritt offiziell verkündet. Ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin steht noch nicht fest. Auf Olympia bezogen sagte der scheidende Ministerpräsident: "Wir wollen gewährleisten, dass die Athleten unter den bestmöglichen Konditionen antreten können. Außerdem sollen die Zuschauer sich sicher fühlen und unter tatsächlich sicheren Umständen die Spiele begleiten können." Kritik am Corona-Krisenmanagement JapansSeit die Olympischen Spiele verschoben wurden, haben sich im Gastgeberland Japan die COVID-19-Infektionszahlen vervielfacht. Haben die Offiziellen über weite Strecken Gesundheitsrisiken vernachlässigt, um Tokio 2020 zu retten? Komplett offen, ob die Spiele 2021 stattfinden können Vor sieben Jahren hatte das Internationale Olympische Komitee Japan den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio gegeben. Eigentlich hätten die Spiele in diesem Sommer stattfinden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie waren sie um ein Jahr verschoben worden. Noch ist offen, ob das Sportereignis im Sommer 2021 stattfinden kann. "Wir möchten eng mit dem IOC, dem IOC-Exekutivkomitee und der Stadt Tokio zusammenarbeiten und die Vorbereitungen dem Zeitplan nach voranbringen. Es liegt an uns, die Verantwortung als Austragungsland zu erfüllen", so Shinzo Abe auf der heutigen Pressekonferenz. Sollten die Olympischen und Paralympischen Spiele im kommenden Jahr stattfinden, wird auf jeden Fall ein anderer Ministerpräsident oder eine Präsidentin im Amt sein.
Von Andrea Schültke
Seit Freitagmorgen ist es offiziell: Der japanische Premierminister Shinzo Abe tritt aus gesundheitlichen Gründen zurück. Während seiner Amtszeit hatte er die Olympiabewerbung Japans für die Spiele in Tokio 2020 intensiv unterstützt. IOC-Präsident Thomas Bach drückte sein Bedauern über den Rücktritt aus und würdigte Abes Einsatz.
"2020-08-28T22:52:00+02:00"
"2020-09-04T17:07:14.863000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ruecktritt-von-shinzo-abe-japan-verliert-seinen-olympia-100.html
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Wie USA und Iran zu Feinden wurden
Der Hass auf die USA im Iran hat eine lange Geschichte und vielfältig Ursachen (picture alliance / Abedin Taherkenareh) Mitte des 20. Jahrhunderts werden im Iran, in der südwestlichen Provinz Khusistan, stattliche Ölfelder erschlossen – offiziell von Iranern und Engländern gemeinsam, doch die Gewinne gehen fast ausschließlich nach Großbritannien. Schon 1950 regen sich deshalb in Iran erste Proteste – 1951 lässt Teheran die Ölindustrie verstaatlichen. Die Briten bieten Geld, doch Präsident Mohammad Mossadeq bleibt eisern: "Die Engländer wollen mit einigen Millionen Pfund die Verhandlungen zur Verstaatlichung immer wieder in die Länge ziehen. Sie wissen nicht - und da bin ich mir ganz sicher -, dass jeder von uns alles Hab und Gut zur Rettung des Vaterlandes hergeben würde." Boykott nach Verstaatlichung der Ölindustrie Zwar bewegen die Briten nach ihrer Ausweisung ihre westlichen Verbündeten zu einem vollkommenen Boykott der iranischen Erdölausfuhr. Doch in Iran - so berichtete damals Horst Scharfenberg aus Teheran für die ARD – stößt die Verstaatlichung auf großen Zuspruch: "Ob die Nationalisierung für Persien gut oder schlecht ist, will ich nicht zu entscheiden wagen. Dass sie das ist, was die Perser wollen, darüber kann es keinen Zweifel geben. 'Wir wollen nicht mehr Geld, wir wollen unsere Unabhängigkeit': Das ist es, was heute jeder Perser - gleich welcher politischen Richtung - jedem Fremden immer und immer wieder versichert." CIA stützt Militärputsch Der weltweite Boykott von iranischem Erdöl stürzt Teheran in eine Krise. Das Gerücht, die Kommunisten planten die Regierung zu stürzen, müsste eigentlich die USA auf den Plan rufen. Doch Präsident Harry Truman zeigt sich zurückhaltend. Erst Anfang 1953, als Dwight D. Eisenhower an die Macht kommt, greift Washington ein. Die CIA nimmt Kontakt zu General Fazlollah Zahedi auf, der einen Putsch vorbereiten soll. Und auch der Schah wird "überzeugt" - so Professor Günter Meyer, Nahost-Experte an der Universität Mainz: "Am 19. August fand der Putsch statt - mit massiver Unterstützung durch die CIA. Es gab neun Stunden Straßenkämpfe, Mohammad Mossadeq wurde unter Hausarrest gestellt, und der zuständige General übernahm das Kommando als Regierungschef, das heißt: Ab dem 19. August 1953 haben wir eine Militärherrschaft, die der Schah dann in der Folgezeit dazu benutzt hat, um seine Herrschaft in außerordentlich tyrannischer Art und Weise auszubauen - mit Unterstützung der Amerikaner." Bereits wenige Wochen nach dem Putsch lösen die Amerikaner die Briten bei der Kontrolle über das persische Erdöl ab. Gleichzeitig wird Iran mit mehr als 3.000 Militärberatern zum bedeutendsten US-Stützpunkt im Nahen Osten ausgebaut. Die islamische Revolution Der Sturz Mossadeqs hat im iranischen Nationalbewusstsein ein Trauma hinterlassen. Einige Stimmen behaupten sogar bis heute, dass es ohne ihn 26 Jahre später keine islamische Revolution gegeben hätte - quasi als Befreiungsschlag. 1979 wird der Schah vertrieben und Ayatollah Ruhollah Khomeini installiert eine Islamische Republik. Von ihr erhoffen sich die meisten Iraner zweierlei: Mehr soziale Gerechtigkeit sowie Unabhängigkeit vom Einfluss ausländischer Mächte. Die Machtdemonstrationen der Khomeini-Anhänger gelten vor allem den USA. "Marg bar amrika" - "Tod Amerika" skandieren deshalb auch am Morgen des 4. Novembers 1979 revolutionstreue Demonstranten, von denen dann einige Dutzend auf das Gelände der US-Botschaft dringen und 66 US-Bürger in ihre Gewalt bringen. Staatssekretär Sadegh Tabatabai erklärt später der ARD: "Da es nachgewiesen worden ist, dass diese Leute in der amerikanischen Botschaft schon nach der Revolution an vielen Unruhen im Lande beteiligt waren, und dies sogar geplant hatten, so kommt man mit Recht auf die Schlussforderung, dass es sich dort nicht um ein regelrechtes Diplomatiezentrum handelte, sondern um ein Spionagezentrum." Misslungene US-Befreiungsaktion Ayatollah Khomeini lässt die Botschaftsbesetzer gewähren, denn er weiß, dass mit jedem Tag, den die Geiselnahme dauert, seine Autorität wächst und damit zugleich auch der Druck auf Washington. Da Verhandlungen erfolglos bleiben, startet Präsident Jimmy Carter am 24. April 1980 eine militärische Befreiungsaktion, bei der jedoch zwei Helikopter zusammenstoßen und acht US-Soldaten sterben. Das Unglück lässt Carters Popularität sinken, und im November 1980 wird Ronald Reagan ins Weiße Haus gewählt. Doch am 20. Januar 1981 kann der abgewählte US-Präsident seine freigelassenen Landsleute in Frankfurt am Main in Empfang nehmen - nach genau 444 Tagen Geiselhaft: "Ich möchte es ganz deutlich sagen, dass die iranische Regierung – alle, die dafür verantwortlich sind - auf alle Zeiten verdammt sein mögen für diese Behandlung, die sie unseren Mitbürgern haben angedeihen lassen." Auch wenn Ende 1986 die US-Regierung unter Ronald Reagan, um US-Geiseln im Libanon frei zu bekommen, Waffen an Iran verkauft: Offiziell herrscht zwischen Washington und Teheran Eiszeit. Das ändert sich erst, als 1997 der Reformer Mohammed Khatami zum iranischen Präsidenten gewählt wird – jedoch nur kurzfristig: 2002 bezeichnet Präsident George W. Bush in seiner State-of-the-Union-Rede den Iran zusammen mit Irak und Nordkorea als "Achse des Bösen". Annäherung als Episode Als aber Weihnachten 2003 ein Erdbeben die südostiranische Stadt Bam erschüttert und mehr als 30.000 Menschen tötet, schicken selbst die USA Helfer. Erstmals nach einem Vierteljahrhundert reist eine offizielle Delegation Washingtons in die Islamische Republik: 81 Soldaten, die respektvoll empfangen werden und auch selbst überwältigt sind. "Die Zusammenarbeit ist bislang hervorragend. Schon als wir in Kerman landeten, wurden wir von Regierungsoffiziellen begrüßt. Sie gaben uns einen Terminal am Flughafen, wo wir die Nacht verbrachten. Es ist ein sehr gutes Arbeitsverhältnis." Die Annäherung zwischen Washington und Teheran, die so tief menschliche Züge angenommen hatte, bleibt nur eine Episode. Denn 2003 wird auch bekannt, dass Iran neue Atomreaktoren baut und sich somit in den Stand versetzen könnte, Atomwaffen zu produzieren.
Von Ulrich Pick
Am Anfang stand der Streit ums Öl: Er entzweit in den 1950er Jahren den Iran und den Westen. Mithilfe der CIA führen die USA 1953 einen Militärputsch herbei, verhelfen dem Schah zur Macht. Die islamische Revolution 1979 und die Geiselnahme des US-Botschaftspersonals ruinieren das Verhältnis dauerhaft.
"2019-07-13T13:30:00+02:00"
"2020-01-26T23:01:44.291000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mittlerer-osten-wie-usa-und-iran-zu-feinden-wurden-100.html
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Ungleich und gespalten
80 Prozent der Einwohner des ostjerusalemer Stadtteils Silwan sind arm (dpa / Stefanie Järkel) "Es gibt dieses arabische Sprichwort: Ein Jahr in Jerusalem ist wie zwei Jahre woanders. Ich glaube, das ist genau: das fängt das ein. Jerusalem ist einfach intensiv, komplett unfähig zum Smalltalk und wirklich eine Stadt ja, die wirklich vibriert." Nikodemus Schnabel, groß gewachsen, stämmig, dunkler Vollbart, steht auf dem Kirchenturm der Dormitio-Abtei und schaut über die Stadt, die ihn nun schon so viele Jahre nicht mehr los lässt. Eine Stadt, die so vielen so viel bedeutet und um die in ihrer langen Geschichte immer wieder gerungen wurde. Der Benediktiner-Mönch zeigt hinüber zum Zions-Tor, wo noch immer Einschusslöcher an die Kämpfe im Sechstage-Krieg 1967 erinnern. Jerusalem, sagt Nikodemus Schnabel, ist eine Stadt, die den Menschen, die in ihr leben, viel abverlangt. Abgrenzungen: Die israelische Sperrmauer in Shuafat (Tim Aßmann) "Das ist mehr als Zuneigung. Das ist Liebe. Also, ich bin in diese Stadt unsterblich verliebt, aber vielleicht bin ich mittlerweile - wie auch bei einer guten Liebe - schon längst über diese Verliebtheit hinweg, die alles (durch eine) rosarote Brille sieht, sondern ich sag mal, ich bin schon an der echten Beziehungsarbeit. Jerusalem ist so eine Stadt, die mich täglich küsst und beißt. Also, eine Stadt, die ich wirklich liebe, aber die auch manchmal unglaublich viel kostet, das muss man ehrlich sagen. Also, Jerusalem ist jetzt nichts für naive Romantiker, die sich dann irgendwie die Welt schön reden. Jerusalem ist einfach wirklich ungefilterte Realität." Jerusalmer erster und zweiter Klasse Eine Realität, die man vom Kirchenturm mit seinem 360 Grad-Blick über den jüdischen West- und den arabischen Ostteil der Stadt, gut erkennen kann. 50 Jahre nachdem israelische Truppen den Ostteil im Sechs-Tage-Krieg eroberten, ist Jerusalem eine Stadt mit unterschiedlichen Verhältnissen. Nikodemus Schnabel zeigt in Richtung der großen arabischen Wohnviertel östlich der Altstadtmauern. "Und wenn man einfach fragt, ok wie bietet sich Jerusalem dar, muss man halt sagen, Jerusalem ist nicht gleich Jerusalem, sondern man kann natürlich ganz klar sehen: es gibt unterschiedliche Wohnverhältnisse, es gibt unterschiedliche Infrastrukturen; natürlich. Das ist auch eine Realität und natürlich ist es schon eine Frage, ob nicht eine Quelle von Konflikten und Spannungen auch die ist, dass halt Bewohner von Ostjerusalem sagen, naja es gibt halt Jerusalemer erster und zweiter Klasse." Dann spricht der Benediktiner-Mönch Nikodemus Schnabel über die hohe Arbeitslosigkeit und die grassierende Armut unter der arabischen Bevölkerung und darüber, dass in unmittelbarer Nähe der Mauern der Dormitio-Abtei ein sozialer Brennpunkt liegt - der arabische Teil der Jerusalemer Altstadt. Nicht weit vom Kloster beteten im Sommer Zehntausende Muslime auf der Straße. Sie weigerten sich, zum Gebet auf den Tempelberg mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom zu gehen. Israel hatte als Reaktion auf einen Terroranschlag im Juli, bei dem zwei Polizisten ermordet wurden, an den Zugängen zu dem Hügelplateau Metalldetektoren und Absperrgitter aufgestellt. Die Proteste gegen die Maßnahmen dauerten zwei Wochen und verliefen teils gewalttätig. Es gab Tote und Verletzte. Schließlich lenkte die israelische Regierung ein und nahm die Sicherheitsmaßnahmen zurück. Sicherheit gegen Freiheit Nikodemus Schnabel ist froh über die Beruhigung der Lage. Eine Prognose will er aber nicht wagen. Jerusalem ist unberechenbar, sagt der Mönch. "Es gibt ein sehr ausgeprägtes Selbstmitleid. Eine sehr schwach ausgeprägte Selbstkritik. Und ich glaube, was es wirklich braucht ist also Verständnis für die Sehnsüchte der anderen. Das war bei der Tempelbergkrise eigentlich wirklich auch mal symptomatisch. Das fehlende Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Israelis, aus dem das ja alles gespeist war von palästinensischer Seite. Und eben das fehlende Freiheitsbedürfnis der Palästinenser im Verständnis auf der israelischen Seite. Das war ja genau der Punkt, da kann man es genau wieder ablesen. Die einen wollen Sicherheit und denen ist dann gerademal die Freiheit vollkommen egal. Und die einen wollen Freiheit und denen ist die Sicherheit vollkommen egal. Und da sind wir genau beim Grundthema. Und das wird halt in verschiedenen Phasen durchdekliniert in dieser Stadt." Von der Dormitio-Abtei sind es nur ein paar Fußminuten in die Altstadt. Mounir Nusseibeh macht Pause in einem Café unterhalb des Tempelberges, den die Muslime der Stadt Al Haram al Scharif nennen. Nusseibeh kommt gerne hierher. Sein Büro ist nicht weit entfernt. Der Mittdreißiger hat im Ausland studiert - dauerhaft leben will er nur in Jerusalem. Wie schon der Mönch Nikodemus Schnabel, sagt auch Mounir Nusseibeh von sich, er sei in Jerusalem verliebt. Die enge Verbundenheit zu dieser Stadt liegt bei ihm sozusagen in der Familie. Palästinenser: keine Bürger, sondern Residenten "Die Nusseibeh-Familie ist eine der ältesten Jerusalems. Wir haben hier eine dauerhafte Präsenz seit dem 7. Jahrhundert, nur unterbrochen durch die Zeit der Kreuzfahrer. Eine wichtige Aufgabe, die wir seit Jahrhundert haben, ist das Öffnen und Schließen der Grabeskirche." Seine Familie habe der Stadt Jahrhunderte gedient, erzählt Mounir Nusseibeh. Er habe das Gefühl, das auch tun zu müssen. Nusseibeh kennt den Alltag der Bewohner des arabischen Ostteils der Stadt sehr genau - aus juristischer Sicht. Er ist Anwalt und arbeitet in einem Büro, das die Al-Quds-Universität in der Altstadt betreibt. Dort werden Rechtsberatungen angeboten und es gibt reichlich Bedarf. Dafür sorgt schon der rechtliche Status der Palästinenser, die in den Teilen der Stadt leben, die 1967 erobert wurden. Israel hat diese Viertel annektiert und das ungeteilte Jerusalem zu seiner Hauptstadt gemacht. Die Palästinenser im Ostteil aber sind sogenannte Residenten und keine Bürger, erklärt Mounir Nusseibeh. Einwohner Jerusalems sind entweder Bürger - ohner haben einen Status als "Resident" (Tim Aßmann) "Der wichtigste Unterschied ist, dass einem der Status als Bürger nicht einfach entzogen werden kann und dass man politische Rechte hat. Ein Bürger kann sich an den Parlamentswahlen beteiligen. Ein Resident darf das nicht. Der größte Unterschied ist aber eben, dass der Residenzstatus widerrufen werden kann. Von 1967 bis heute hat Israel das Residenzrecht von mehr 14.500 Palästinensern in Jerusalem widerrufen." Die Einwohner mit Residenz-Status dürfen zwar den Jerusalemer Stadtrat mitwählen. Von israelischen Parlamentswahlen sind sie aber ausgeschlossen. Wenn die Behörden daran zweifeln, dass die Betreffenden noch dauerhaft in Jerusalem leben, kann der Residenzstatus aufgehoben werden, was in der Praxis auch tatsächlich passiert. In diesen und anderen Fällen versucht Anwalt Mounir Nusseibeh zu helfen. "Es kommen auch viele Eltern, denen es nicht gelungen ist, ihre Kinder als Residenten eintragen zu lassen. Vor allem Paare mit einem Partner aus dem Westjordanland oder aus Gaza haben dieses Problem. Wenn ein Resident von Jerusalem jemanden ohne Residenz-Status heiratet, bekommen die Kinder diesen Status nicht automatisch. Es ist ein langer Behördenweg erforderlich, um das Kind als Resident eintragen zu können." Zu Nusseibeh und seinen Kollegen kommen auch Menschen, deren Häuser die israelischen Behörden abreißen wollen, weil sie ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Nach israelischem Recht sind diese Bauten damit illegal. Allein im vergangenen Jahr wurden 200 Häuser arabischer Familien in Ostjerusalem abgerissen. Aus Sicht der Betroffenen hatten sie gar keine andere Wahl, als ohne Erlaubnis zu bauen, denn Baugenehmigungen für arabische Antragssteller sind in Ostjerusalem äußerst selten. Gleichzeitig werden die jüdischen Siedlungen im Ostteil der Stadt immer weiter ausgebaut. Tempelberg-Proteste – ein Sieg der Straße Mounir Nusseibeh war auch dabei, als viele Muslime in der Stadt gegen die Sicherheitsmaßnahmen an den Zugängen zur Al-Aksa-Moschee protestierten. Die Moschee ist für ihn das wichtigste Symbol palästinensischer Identität, sagt er. Wie viele Palästinenser glaubt auch er, dass die Metalldetektoren nur ein Vorwand waren und Israel schleichend die Kontrolle über das Hügelplateau übernehmen wollte, das von einer jordanischen muslimischen Stiftung verwaltet wird. Als Mounir Nusseibeh von den Protesten erzählt, davon wie Zehntausende auf den Straßen beteten und schließlich den Abbau der Detektoren durchsetzten, leuchten seine Augen. "Es war ein Sieg der Straße. Da waren Leute, die in ihrem ganzen Leben noch nicht gebetet hatten und nun in den Straßen vor der Moschee beteten. Einige meiner Freunde zum Beispiel. Die Leute hatten verschiedene Gründe. Manche gehörten zu den Parteien und den politischen Führern. Die meisten aber nicht. Sie taten es, weil sie Jerusalem lieben. Und um zu schützen, was in Jerusalem wichtig ist." Eine Bewegung der Straße. So beschreiben viele die Proteste der Muslime während der sogenannten Tempelbergkrise. Israel gab schließlich nach. Das hat den Menschen im Ostteil Jerusalems viel Selbstbewusstsein gegeben - Mounir Nusseibeh ist da nur ein Beispiel. "Das gibt den Palästinensern ein Gefühl von Stärke. Sie haben gemerkt, dass sie keine Unterstützung brauchen. Dass sie auch selbst etwas erreichen können und keine lokalen Politiker dafür brauchen. Ja, ich glaube, das hat etwas in den Menschen verändert. Es muss sich noch zeigen, wie sich das auf künftige Auseinandersetzungen mit der Besatzungsmacht auswirkt. Aber ich denke, es ist bedeutend." "Alles was wir wollen, ist unsere Würde" Der Schneider Issa Qawasmeh sitzt in seiner Werkstatt in Sheikh Jarrah, einem arabischen Viertel außerhalb der Altstadt. Ruhig führt Issa die Nähte eines Kleides unter der Maschine hindurch. Der 55-Jährige ist ein Multitalent. Neben seinem Beruf als Schneider hat Issa mehrere kleine Novellen über das Leben in Jerusalem geschrieben. Im Sommer war Issa zwei Wochen lang aber vor allem Fotograf. Während der Proteste gegen die Sicherheitsmaßnahmen an der Al-Aksa-Moschee war er jeden Tag unterwegs. Er machte Bilder von Demonstranten und israelischen Polizisten. Dazu schrieb er kurze Texte und postete alles auf Facebook - Zehntausende lasen seine Berichte. Facebook und andere soziale Medien hatten während der Proteste sehr viel mehr Einfluss auf die Menschen, als die etablierte palästinensische Politik und auch als Palästinenserpräsident Abbas, sagt Issa. Issa Qawasmeh in seiner Werkstatt in Jerusalem - Schneider, Schriftsteller, Fotograf (Tim Aßmann) "Er hatte überhaupt keinen Einfluss auf die Entwicklungen. Die gesamte Autonomiebehörde hat die ganzen zwei Wochen lang keine Rolle gespielt. Deshalb hat Abbas damals auch finanzielle Hilfen für die Demonstranten angeboten. Wir brauchen kein Geld. Wir haben auch nicht darum gebeten. Die Bevölkerung hier hat sich gegenseitig unterstützt. Alles, was wir wollten, ist unsere Würde. Die Leute haben bewiesen, dass das Ganze nicht politisch gesteuert ist. Und sie haben einen Sieg errungen - nur weil sie daran geglaubt haben." Von der Solidarität, die er damals erlebte, schwärmt er nun. Das neue Selbstbewusstsein, von dem der Rechtsanwalt Mounir Nusseibeh sprach - dem Schneider Issa Qawasmeh ist ins Gesicht geschrieben. Auch er glaubt, dass die Proteste nachwirken werden. "Es ist noch nicht vorbei. Ich glaube, es wird den Leuten jetzt um ihren Status als Bewohner Jerusalems gehen und nicht mehr nur um Al-Aksa. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Proteste wiederholen. Die Leute müssen hier die ganze Zeit Druck aushalten und dann war da diese friedliche und mächtige Demonstration. Israel kann gegen diese Art der Mobilisierung nichts machen. Es geht um unsere normalen Rechte und gegen die Besatzung." Silwan: Zentrum der Hausübernahmen durch Siedler Unterwegs in Silwan, einem arabischen Viertel, das direkt an die Altstadtmauern grenzt. Betty Hershman hat sich Zeit genommen. Die jüdische Israelin, die aus den USA stammt, gehört zu Ir Amim, einer Nichtregierungsorganisation, die auf den Siedlungsbau in Ostjerusalem aufmerksam machen will. Ir Amim führte auch schon Bundesaußenminister Gabriel durch die Stadt. In Silwan wurden in den vergangenen Jahren viele Häuser arabischer Familien von jüdischen Siedlerorganisationen übernommen. Manche Häuser wurden ihren Eigentümern abgekauft. In anderen Fällen war es so, dass die Siedler erfolgreich Rechtsansprüche ehemaliger jüdischer Eigentürmer geltend machten, die ihrer Darstellung nach vor der israelischen Unabhängigkeit 1948 in den Gebäuden lebten oder denen die Grundstücke gehörten. Silwan mit seinen historischen Ausgrabungsstätten und seiner Nähe zur Altstadt, steht im Mittelpunkt dieser Hausübernahmen durch Siedler, erzählt Betty Hershman. "Hier finden Sie die absolut überzeugten Siedler, wie man sie auch in Außenposten im Westjordanland antrifft. Man kann sich vorstellen, welches ideologische Bekenntnis nötig ist, um hier mitten in einer feindlich gesinnten, palästinensischen Umgebung, die einen nicht willkommen heißt, quasi mit dem Fallschirm abzuspringen, Häuser zu übernehmen und seine Kinder in kugelsicheren Jeeps zur Schule zu bringen. Dazu muss man wirklich unbedingt hier leben wollen." Viele Einwohner Silwans haben Angst, ihre Häuser zu verlieren (Tim Aßmann) Betty Hershman geht eine Straße hinauf, am oberen Ende sieht man die Mauern der Altstadt. Wenn man sich umdreht und den Blick hinunter über die Dächer von Silwan schweifen lässt, sieht man die israelischen Fahnen auf einzelnen Häusern, die Fenster sind vergittert, an den Mauern ist zum Teil Stacheldraht montiert. Betty Hershman holt eine Karte heraus. "Diese Leute schaffen Fakten. Alle diese blauen Punkte auf der Karte stehen für Siedlungsaktivität innerhalb der Altstadt und um sie herum. In Sheik Jarrah lagen Pläne viele Jahre auf Eis und werden nun wieder aufgenommen - inklusive des Baus einer sechsstöckigen jüdischen Religionsschule am Eingang des Viertels. Nichts könnte brandgefährlicher sein als das." 80 Prozent der Ostjerusalemer sind arm Wenn sie mit Palästinensern in Ostjerusalem spreche, treffe sie oft auf Furcht, erzählt Betty Hershman. Die Leute hätten zum Beispiel Angst, ihren Residenzstatus oder ihr Haus zu verlieren. "Man muss sehen, welcher Druck da insgesamt aufgebaut wird. 80 Prozent der Bevölkerung von Ostjerusalem gilt als arm. Es fehlt an städtischen Leistungen und Infrastruktur. Kulturelle und politische Einrichtungen wurden geschlossen. Es gibt eine Zunahme von Hauszerstörungen. Allein im letzten Jahr waren es mehr als 200. Es werden Häuser übernommen und jeden Tag neue Fakten geschaffen. All das führt zu einer Verdrängung aus dem Herzen von Jerusalem in die Gebiete hinter der Sperrmauer." Ben Avrahami ist in der Jerusalemer Stadtverwaltung Berater des Bürgermeisters und zuständig für den Ostteil der Stadt. Avrahami ein junger Mann Mitte 30, spricht arabisch und er kennt die Fakten, versucht nicht die Probleme in den arabischen Vierteln klein zu reden. Rund 320.000 Einwohner leben in den arabischen Vierteln Ostjerusalems mit dem sogenannten Residenzstatus. Dass die Lebensbedingungen dieser Menschen nicht denen der jüdischen Einwohner der Stadt entsprechen, räumt Ben Avrahami unumwunden ein. Betty Hershman will auf den Siedlungsbau in Ostjerusalem aufmerksam machen (Tim Aßmann) "Diese Unterschiede finden sich in ganz vielen Bereichen: in der Infrastruktur, der Stadtreinigung und in den Schulen und Anzahl der Klassenzimmer, die wirkliche große Abweichungen aufweisen. Das sind in etwa die zentralen Bereiche. Obwohl auch im Bereich des Rechtsvollzugs - die Frage, wie wir dort für Recht und Ordnung sorgen, ist noch nicht geklärt. Es gibt also noch viel zu tun, nicht nur mit Bezug auf die Dienstleistungen für den Bürger, sondern auch bezüglich der Regierbarkeit." In den Schulen Ostjerusalems fehlen mehr als 1.000 Klassenzimmer. Diese und andere Zahlen verschweigt der Vertreter der Stadtverwaltung nicht. Er sieht die Ursache dafür in einer falschen politischen Annahme in der Vergangenheit. "Es stimmt, dass das Augenmerk der Entscheidungsträger des Staates Israel - von Bürgermeistern bis hin zu Ministerpräsidenten - während der letzten 50 Jahre nicht auf diese Bezirke Ostjerusalems gerichtete wurde. Ich denke, dass der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass hinter diesen Bezirken immer ein großes Fragezeichen stand. Zu wem gehören diese Bezirke? Wohin führt der Weg? Dieser ganze politische Limbo der Ungewissheit führte dazu, dass die Politiker Israels sich nicht auf diese Bezirke konzentrierten." Frustrierende Ungleichheit Das habe sich nun geändert, sagt Avrahami. Seit ungefähr fünf Jahren investiere die Stadt mehr, baue unter anderem neue Straßen und Klassenräume und habe die Müllabfuhr personell verstärkt. Wenn es nur nach der Stadtverwaltung ginge, sagt der Berater des Bürgermeisters, gäbe es auch mehr Baugenehmigungen für Palästinenser in Ostjerusalem. Man stoße aber auf Probleme auf Regierungsebene. Können die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in der Stadt auch ein Grund dafür sein, dass die Muslime zu Zehntausenden auf die Straße gingen und gegen die Metalldetektoren an den Zugängen zur Al-Aksa-Moschee protestierten? Brach sich damals - im vergangenen Juli - der generelle Frust über die Ungleichheit Bahn? Ben Avrahami sieht es nicht so und in seiner Antwort geht er auch nicht auf den friedlichen Teil der Proteste ein, sondern spricht nur über die Gewalt und den Terror, die es auch gab. "Ich würde nicht sagen, dass die Menschen aufgrund der Unterschiede in der Stadt losziehen, um Terror und Gewalt zu verbreiten. Diese Verbindung lehne ich ab. Ich denke, es gibt dafür tiefere Faktoren, die sich in der eigenen Identität und in äußeren Einflüssen wiederfinden. Die äußeren Einflüsse können auch Menschen beeinflussen, deren Lebensumstände gut sind." Ben Avrahami gibt sich insgesamt zuversichtlich. Man glaubt ihm, wenn er sagt, dass ihm die Verbesserung der Lebensumstände der arabischen Bevölkerung wichtig sei. Er ist davon überzeugt, dass etwas zusammen wächst in Jerusalem. Wenn man mit den Palästinensern in der Stadt spricht, hat man diesen Eindruck aber eher nicht und man fühlt sich an etwas erinnert, das Mönch Nikodemus Schnabel oben auf dem Kirchturm der Dormitio-Abtei sagte, als er auf die Stadt blickte, die er so liebt. "Das falscheste Bild von Jerusalem ist, dass Jerusalem ein Schmelztiegel ist, weil hier schmilzt gar nichts. Sondern Jerusalem ist die perfektionierte Kunst aneinander vorbei zu leben und eben eine Stadt, wo man sich immer mehr aus dem Weg geht. Immer mehr auch kritisch beäugt. Immer mehr auch Parallelwelten existieren - das eben diese Stadt eine Stadt ist voller Skepsis, voller Misstrauen, voller - ja - Abgrenzung."
Von Tim Aßmann
Kein Schmelztiegel, sondern ein Ort des Misstrauens und der Abgrenzung: 50 Jahre nachdem Israel den Ostteil Jerusalems eroberte, könnten die Lebensverhältnisse dort nicht unterschiedlicher sein. Die Gräben zwischen der jüdischen und arabischstämmigen Bevölkerung sind tief - mit weitreichenden Folgen.
"2017-09-23T18:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:52:31.114000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ostjerusalem-ungleich-und-gespalten-100.html
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Eine Warnung für die Ampel-Koalition
Anhänger der Partei "Bürger in Wut" in Bremen (picture alliance / dpa / Philip Dulian) Bürger in Wut, das Heizungsgesetz bringt die Menschen auf die Barrikaden. "Bild" macht kräftig mit, Springer fährt seit Monaten eine Kampagne gegen Energieminister Robert Habeck. Auch die Union springt auf, macht plumpe Stimmung gegen eine Klimapolitik, die sie selbst nie für wichtig und nötig gehalten hat. All das hat nicht nur, aber ganz wesentlich auch die Bürgerschaftswahl im kleinen Bremen beeinflusst. Was sich dort abzeichnet, lässt Böses ahnen für den Bund. Das populistische Protest-Potential ist groß, es braucht nicht einmal einer AfD, die sogenannten Bürger in Wut, bisher nur in Bremerhaven stark, springen mit knapp zehn Prozent sofort in die Bresche. Nach der Bürgerschaftswahl Wie geht es in Bremen weiter? Nach der Bürgerschaftswahl Wie geht es in Bremen weiter? Die Menschen in Bremen und Bremerhaven haben eine neue Bürgerschaft gewählt. Welche Koalitionen sind möglich? Mit wem könnte SPD-Spitzenkandidat Bovenschulte künftig regieren? Welche Folgen hat der Absturz der Grünen? Ein Überblick. Das muss eine Warnung für die Ampel sein. Denn die Kontroverse über die Heizungswende ist Wasser auf die Mühlen von Populisten. Die Vorstellung des Gebäudeenergiegesetzes war kommunikativ eine Katastrophe, die Grünen haben es zuallererst vermasselt, die Graichen-Affaire hat dem ganzen noch die Krone aufgesetzt. FDP arbeitet gegen eigene Regierung Zugleich aber hat der Kanzler beinahe schon genüsslich zugesehen, wie FDP-Chef Christian Lindner ein zentrales klimapolitisches Projekt dieser Koalition zerlegt. Olaf Scholz lässt das zu, weil er die Grünen als Konkurrenz betrachtet. Längst ist ein Wettbewerb darüber entbrannt, wer klimapolitische Lasten besser abfedert: SPD oder Grüne. Statt das vorab zu klären, sorgt diese Koalition weiter für Unsicherheit, gefördert von einer FDP, die in der eigenen Regierung opponiert. Wahl in Bremen Bürgerschaftswahlen in Bremen SPD wieder stärkste Kraft 04:37 Minuten15.05.2023 Nach der Bremen-Wahl Bijan Djir-Sarai (FDP): Signalwirkung für Berlin überschaubar 05:05 Minuten15.05.2023 Nach der Bremen-WahlEsken (SPD): "Bovenschulte hat die Wirtschaft stark gemacht" 07:50 Minuten15.05.2023 Scholz ist offenbar getrieben von Angst vor den Wählern, er blickt zum Beispiel auf die Bauernproteste in den Niederlanden, die gegen Klimaauflagen rebellieren. Doch statt die Bürger mit einer intern abgestimmten, geeinten Klimapolitik mitzunehmen, treibt seine Regierung den Populisten die Wähler weiter in die Arme. Der unsägliche und weiter schwelende Bund-Länder-Streit über die Flüchtlingspolitik bewirkt da ein Übriges. Koalition des Streits und des Stillstands Das zeigt Wirkung, nicht nur in Bremen: Nur äußerst knapp ist die Republik im Kreis Oder-Spree gestern daran vorbeigeschrammt, den ersten AfD-Landrat Deutschlands zu bekommen. In den ostdeutschen Ländern kommt die AfD in den Umfragen mittlerweile auf durchschnittlich 26 Prozent. Nur noch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sind die Regierungsfraktionen noch stärker als die Konkurrenten von rechts außen. Und die Wut der Bürger wird weiter wachsen, wenn die Ampel nicht endlich einlöst, was sie versprochen hat: Eine Koalition des Fortschritts zu sein und nicht des Streits und des Stillstands.
Von Frank Capellan
Fast Zehn Prozent für eine Partei, die sich "Bürger in Wut" nennt: Der Ausgang der Bürgerschaftswahl in Bremen muss die Bundesregierung alarmieren, kommentiert Frank Capellan. Die Koalition des Streits treibe den Populisten die Wähler in die Arme.
"2023-05-15T19:05:00+02:00"
"2023-05-15T18:46:33.745000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bremen-buergerschaftswahl-warnung-100.html
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Erfolgreichster Tag für Deutschland
Vier Jahre nach ihrem überraschenden Olympiasieg im Teamsprint gewinnt Kristina Vogel wieder Gold - jubelnd hält sie eine deutsche Fahne in die Höhe (dpa) Fabian Hambüchen beendete seine große Turn-Karriere mit Gold an seinem Spezialgerät Reck. Kurz danach siegte Bahnradfahrerin Kristina Vogel im Sprint. Die Erfurterin bezwang im Finale die Britin Rebecca James mit dem winzigen Vorsprung von vier Tausendstelsekunden und verlor auf den letzten Metern sogar noch ihren Sattel. Das erste Gold des Tages hatte Vorzeige-Kanute Sebastian Brendel geholt. Er wiederholte im Canadier über 1.000 Meter seinen Triumph von 2012. Im Kajak-Zweier fuhren Franziska Weber und Tina Dietze über 500 Meter auf Rang zwei. Zudem sind durch die beiden Halbfinal-Siege der Beachvolleyballerinnen und Fußballerinnen zwei weitere Medaillen fix - Silber ist also mindestens sicher. Wasserspringer Patrick Hausding holt Bronze vom Drei-Meter-Brett. Ebenfalls schon Bronze sicher hat der Boxer Artem Harutyunyan. Er erreichte das Halbfinale im Halbweltergewicht. Die Verlierer der Halbfinals bekommen beide Bronze. Die Bilanz nach elf Rio-Tagen: 26 Medaillen, davon elfmal Gold, achtmal Silber und siebenmal Bronze. Die deutschen Hockey-Herren erreichten erstmals seit 2004 nicht das Finale. Sie unterlagen der Mannschaft aus Argentinien mit 2:5. Damit bleibt zumindest die Chance auf Bronze. Russland bekommt Gold aberkannt In Rio gab es noch eine ganz andere Medaillen-Entscheidung - dabei ging es um die Olympischen Spiele 2008. Das Internationale Olympische Komitee hat der russischen 4x100-Meter-Staffel der Frauen die Goldmedaille von den olympischen Leichathletik-Wettbewerben in Peking aberkannt. Julia Schermoschanskaja war bei Nachtests positiv auf Anabolika getestet worden. Zur Staffel gehörten noch Jewgenia Poljakowa, Alexandra Fedoriwa und Julia Guschtschina, die alle ihre Goldmedaillen zurückgeben müssen. Neuer Olympiasieger ist die Staffel aus Belgien, Silber geht an Nigeria und Bronze an Brasilien. Deutschland rückt in der Wertung von Platz fünf auf vier vor. Das IOC hatte von den Sommerspielen in Peking und London 2012 insgesamt 1.243 Proben nachgetestet. Insgesamt waren bislang 98 Proben nachträglich positiv. (rm)
null
Gold für Vogel, Hambüchen und Brendel - es läuft für die deutsche Olympia-Mannschaft. Tag elf ist der bislang erfolgreichste bei den Rio-Spielen gewesen. Insgesamt gab es sechs Medaillen für das deutsche Team.
"2016-08-17T05:33:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:47.993000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympische-spiele-2016-erfolgreichster-tag-fuer-deutschland-100.html
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Eine Insel inmitten internationaler Konflikte
Der Krisenstaat Zypern, fotografiert aus dem All (imago images / UIG) Beide Teile Zyperns – der griechische wie der türkische – wollen die Erdgasvorkommen vor der Küste ausbeuten. Zudem kommen seit Monaten mehr und mehr Flüchtlinge nach Zypern, weil viele andere Flüchtlingsrouten geschlossen sind. Die wenigsten Menschen reisen allerdings übers Meer. Sie fliegen von der Türkei aus in den Nordteil der Insel und überqueren im Schutz der Dunkelheit die Demarkationslinie in den Süden – der Weg in die EU. Der Inselsüden ist mit den Asylverfahren komplett überfordert. Und die Friedensverhandlungen der seit 1974 geteilten Insel – sie sind angesichts dieser massiven Konflikte längst wieder zum Erliegen gekommen. Der Süden schließt GrenzübergängeIn ganz Europa sind Grenzen wegen der Corona-Krise plötzlich geschlossen worden - auch auf Zypern. Zum Beispiel in Nicosia - der letzten geteilten Hauptstadt Europas. Doch hier protestierten die Menschen, denn sie vermuten andere Gründe. Umweltschützer kritisieren Pläne zur GasförderungDer Süden Zyperns will vor seiner Küste Erdgas fördern lassen, der Norden wurde nicht gefragt. Umweltschützer auf beiden Seiten fordern, dass der sonnenreichste Ort Europas besser auf Solarenergie und Windkraft setzen sollte. Immer mehr Flüchtlinge landen auf Zypern Kein anderes EU-Land nimmt pro Kopf so viele Flüchtlinge auf wie Zypern. Neuerdings kommen viele über die Türkei in den türkischen Norden der Insel. Ihr Ziel ist jedoch der Süden - die EU. Unterwegs in der Geisterstadt FamagustaZypern ist seit 1974 geteilt, Versuche der Wiedervereinigung sind gescheitert. Eine Initiative will in der Sperrzone wenigstens die ehemalige Touristenhochburg Famagusta wiederbeleben. Wie ein Nord-Süd-Paar mit der Grenze umgehtZwischen Nord- und Südzyprern gibt es Freundschaften und Liebesbeziehungen. Jetzt fürchten die Menschen, die geschlossenen Grenzen könnten nicht wieder öffnen. Dabei wünschen sich viele mehr Nähe.
Von Manfred Götzke
Wie unter einem Brennglas konzentrieren sich auf der geteilten Mittelmeer-Insel Zypern gleich mehrere Konflikte der europäischen Peripherie. Da ist zum einen der eskalierende Streit ums Erdgas. Zum anderen kommen seit Monaten mehr und mehr Flüchtlinge nach Zypern und überfordern den Inselsüden.
"2020-04-04T11:05:00+02:00"
"2020-02-18T15:27:17.951000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zypern-unter-zugzwang-eine-insel-inmitten-internationaler-100.html
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Abkehr von der Medaillenjagd?
Langstreckenläuferin Gesa Felicitas Krause will auch nach Rio. (dpa/picture-alliance/Michael Kappeler) "Wir wollen besser werden. Und was ist der Maßstab für bessere Leistung im Spitzensport? Das sind Spitzenplätze und das heißt nun mal Medaillen im Sport." Medaillen sind die Währung, da ist sich Bundesinnenminister Thomas de Maiziere sicher. Und so hatte er vor einem halben Jahr das Ziel für Rio ausgegeben. Ein Drittel mehr Medaillen als bei den Spielen in London 2012. Damals haben die deutschen Athleten 44 Mal Edelmetall gewonnen. Nach de Maizieres Rechnung wäre das für die kommenden Spiele die Vorgabe: 58 Medaillen. Umso verblüffender ist es nun, dass Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes und damit erster Ansprechpartner für die Politik, von Medaillenvorgaben für Rio gar nichts mehr wissen will. Erst kürzlich sagte Hörmann in einem Interview mit der Deutschen Welle. "Bisher haben wir uns dazu noch in keiner Weise geäußert oder festgelegt. Natürlich wird es immer so sein, dass man sich an den Ergebnissen der letzten Spiele in irgendeiner Form orientiert, aber intern gibt es ein klares Medaillenziel nicht. Wir fahren mit einem schlagkräftigen Team nach Rio und werden versuchen die bestmöglichen Erfolge mitzubringen. Wenn da möglichst viele Medaillen mit von der Partie sind, ist das schön." Kein Platz für Olympia-Touristen Klingt ganz nach olympischem Motto. Doch glaubwürdig ist es nicht. Bislang sollten stets nur Athleten zum deutschen Olympia-Team gehören, die eine Zitat "begründete Endkampfchance" besitzen. Verlierer oder Olympia-Touristen wollte man offenbar vermeiden. In der Kernsportart Leichtathletik existierten deshalb besonders hohe Kriterien. Die nationalen Normen waren meist weit strenger als die internationalen. Bislang zumindest. Perikles Simon renommierter Doping-Forscher von der Uni Mainz beurteilte das im Deutschlandfunk mal so: "Mit welchem Grund macht man denn so eine restriktive Politik bei der Besetzung der Felder? Ich meine, was ist das für ein Signal an diese Athleten, die jetzt ihr Bestes gegeben haben, die hart gekämpft hatten und nicht antreten durften, und das selbst nicht, wenn sie die Norm erfüllt hatten? Das ist doch schon geradezu verrückt. Was soll denn das Signal an den Athleten sein? Soll das Signal sein, ich muss mich auf Gedeih und Verderb in diesen Bereich reinbewegen, wo ich dann eine Endkampfchance habe?" Jetzt hat der DOSB auf Antrag des deutschen Leichtathletik-Verbands die Anforderungen an die des Weltverbandes IAAF angeglichen. Hintergrund: Zum einen hatte die IAAF selbst ihre Olympia-Normen bereits gesenkt nach den zahlreich en Doping-Affären der jüngeren Vergangenheit. Zum anderen hatten mehrere Leichtathleten mit Klagen gedroht. Der DLV wollte seine Nominierungshoheit verteidigen. "Welchen Anspruch haben wir?" Die meisten Athleten freut es. "Da man in den vergangenen Jahren den hohen Normen so hinterher hetzen musste, dass man da gar nicht mehr richtig fit war und oft dann wirklich nur dabei war und nicht in einer ansprechenden Form. Ich finde das einen richtigen Schritt und bin sehr glücklich darüber", sagt zum Beispiel Langstreckenläuferin Sabrina Mockenhaupt. Ihre Norm über 10.000 Meter hat sich um eine halbe Sekunde erleichtert. Etwas kritischer sieht dagegen Timo Benitz die Senkung der Norm. Der 1.500 Meter-Läufer schreibt auf seiner Internetseite: "Ich messe mich an hohen Zielen und trainiere dann auch effektiver. Wir müssen uns fragen: Welchen Anspruch haben wir?" Genau diese Diskussion findet aber weitestgehend nicht statt. Bislang sind weiterhin Medaillen die Währung, darüber kann die Anpassung der Olympia-Normen nicht hinwegtäuschen. Man habe den Norm-Maßstab, nicht aber den Leistungsanspruch korrigiert heißt es vonseiten des DLV. Und der Leistungsanspruch wird von der Politik vorgegeben, sagt dessen Präsident Clemens Prokop als Fazit der Leichtathletik-WM im vergangenen August. "Tatsächlich ist die Politik derzeit ausgerichtet auf eine qualifizierte Endkampfchance. Darüber kann man lang diskutieren." Ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen in Rio, wäre es dafür noch nicht zu spät.
Von Jonas Reese
Das olympische Motto lautet, dabei sein ist alles. Für manche Leichtathleten ist das nun etwas realer geworden. Denn der Deutsche Olympische Sportbund hat seine Normen für Rio gesenkt. Offiziell wurden die Dopingskandale der Vergangenheit als Grund dafür angeführt. Ist das die Abkehr von der Medaillenjagd?
"2016-02-06T19:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:29.801000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leichtathletik-abkehr-von-der-medaillenjagd-100.html
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Deutschland nutzt seine Potenziale nicht
Der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) kritisiert die Energiepolitik der Regierung. (picture alliance / dpa) Die Botschaft des Verbandes kommunaler Unternehmen VKU lautet kurz gefasst: Die Potenziale der Gasinfrastruktur werden zu wenig beachtet. Und zwar durch die Bundesregierung im Kontext der Klima- und Energiepolitik. Kommunale Unternehmen sind selbst zentrale Akteure im Gasbereich. Sie haben nach eigenen Angaben einen Marktanteil von 56 Prozent in der Versorgung von Industrie und Haushalten mit Gas. Und all die Potenziale, die die Gasinfrastruktur für die Gestaltung der Energiewende bietet, die würden zu wenig gehoben, speziell in puncto Energiespeichern, sagt Katherina Reiche, die Hauptgeschäftsführerin des VKU. "Die 519.000 Kilometer Erdgasleitungen in Deutschland bieten a) eine perfekte Ergänzung zur volatilen Stromerzeugung und bieten zum Zweiten Puffer, Speicher und Wärmekonzepte, also das, was momentan noch fehlt." Kritik an der Energiepolitik der Regierung Die Bundesregierung sieht aber nicht nur diese Möglichkeiten nicht, kritisiert der VKU, sie behindert sogar aktiv deren Gedeihen, vor allem durch ihre ständigen Neuregulierungen und Änderungen etwa im Erneuerbare-Energien-Gesetz. Biogasanlagen und Anlagen zur Kraftwärmekopplung seien wichtige Faktoren, um das Gasnetz im Sinne der Energiewende zu nutzen, doch diese Märkte wurden zuletzt stark verunsichert, was natürlich den Bau von neuen Anlagen und Investitionen bremst. Im Bereich Kraftwärmekopplung gebe es, nicht zuletzt durch neue Ausschreibungsmodelle, eine Stagnation, bedauert Katherina Reiche. Auch bei kommunalen Unternehmen. Der Unmut über die Energiepolitik des Bundes scheint riesig: "Der wirkliche Gipfel des Ganzen war der Klimaschutzplan, der in seinem Rohentwurf schon gar nicht mehr vorsah, dass man überhaupt noch auf Wärme, Gas, es kann ja auch Biogas sein, auf Wasserstoff, also auf eine ganze Bandbreite an Lösungsmöglichkeiten setzt, sondern nur noch auf eins: auf Strom, Kupferplatte, den Tauchsieder. Ein anderer Bereich, der nicht dabei ist, ist die Mobilität. Erdgasmobilität, Wasserstoffmobilität, als wichtiger Komplementär eines CO2-freien Konzeptes in Deutschland." Energieversorgung mit Gas ist nicht unkompliziert Allerdings ist die Energieversorgung via Gas auch nicht so einfach und unkompliziert wie das der VKU skizziert. Die Umwandlung von Energie aus erneuerbaren Quellen wie z. B. Mais oder Windkraft in Gas ist selbst energieaufwendig, die Effizienzdefizite sind erheblich, weil aus diesen Quellen erst Wasserstoff oder Methan erzeugt werden muss, um sie ins Gasnetz einspeisen zu können. Das kostet. Aber Katherina Reiche macht eine Gegenrechnung auf. Derzeit zahlten vor allem die Verbraucher unnötig. "Momentan tun wir Folgendes: Teuer erzeugter regenerativer Strom, wenn er nicht gebraucht wird, wird quasi über die Grenze verschenkt. Verluste ohne Ende. Die Bürgerinnen und Bürger zahlen das aber trotzdem. Ist dann noch zuviel Strom im Netz, werden die Anlagen abgeregelt, aber die Anlagenbetreiber bekommen trotzdem Geld dafür. Zahlen wieder alle Verbraucher. Und wir brauchen außerdem ein Signal, weiter forschen und daran entwickeln zu dürfen, dann bin ich mir sehr sicher, werden wir auch bessere Effizienzen hinbekommen." Beim VKU hätte man sich eine Befreiung von Energiespeichern von Umlagezahlungen gewünscht, konnte die aber nicht durchsetzen. Was Kosten und Effizienz angeht, könnte es schon bald eine interessante neue Lösung geben: gasgespeiste Brennstoffzellen in Neubauten, die weitaus effizienter sein sollen als herkömmliche Heizquellen, sagen die Gas-Lobbyisten der Organisation Zukunft Erdgas. Zum Status quo lautet die Botschaft: Das Gasnetz in Deutschland ist hocheffizient und sicher, nur man könnte eben noch mehr daraus machen.
Von Daniela Siebert
Bei 42 Millionen Deutschen wärmt Erdgas die Wohnung. Es wird meistens von kommunalen Unternehmen geliefert. Deren Verband, der VKU, hat heute Vorschläge gemacht, wie sich Erdgas sonst noch nutzen lässt. Er kritisiert, dass die Potenziale der Gasinfrastruktur von der Regierung zu wenig beachtet würden.
"2017-01-23T11:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:30:58.272000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erdgasversorgung-deutschland-nutzt-seine-potenziale-nicht-100.html
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Debatte um geplantes Kulturprogramm
Flaggen mit den Olympischen Ringen und dem Wappen von Hamburg hängen neben einem Straßencafe am Rathausmarkt in Hamburg (dpa / Christian Charisius) Es genügt heute nicht mehr, Sportstadien zu errichten, man braucht auch ein unverwechselbares und spektakuläres kulturelles Umfeld. Aus diesem Grund lud die Kultursenatorin jüngst 140 Künstler aller Sparten ein, um von ihnen Vorschläge für die kulturelle Gestaltung des Mega-Ereignisses zu hören. Einer ging gar nicht erst hin, der Autor Christoph Twickel: "So eine Veranstaltung verstand ich als propagandistisch. Ich wollte nicht an einer Veranstaltung beiwohnen, wo von Anfang an klar ist, wir sollen jetzt erst mal einen Fahnenappell leisten pro Olympia. Das fand ich unanständig." "Es ging tatsächlich – es stimmt - ganz konkret darum, was könnten die Kulturschaffenden dazu beitragen", sagt Amelie Deufelhard, Intendantin des Kampnagel-Theaters. "Es gab zwar auch einen Tisch, wo die kritischen Stimmen auch versammelt waren – es gab so unterschiedliche Tischrunden – und es gab einen Tisch mit Kritikern." Aber an dem saß – ziemlich einsam – nur Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen: "Ich bin mir ganz sicher, dass es ein paar Institutionen gibt, die sich davon erhoffen, dass sie eine ordentliche Budgetspritze bekommen. Das will ich ihnen auch überhaupt nicht verdenken. Das ist auch in Ordnung, wenn man sagt, es kommt so ein Ereignis, dann soll die Kultur aber auch was abkriegen. Solange der Prozess in eine interessante Richtung geht, ist meine persönliche Meinung, dass es besser ist, ihn mitzugestalten, als außen zu stehen, und sagen wir mal dagegen zu sein." Vorbild London London, Austragungsort der Olympischen Spiele 2012, hat es der Welt vorgemacht: Gigantische 150 Millionen Pfund flossen in das kulturelle Rahmenprogramm, mehr als 14 Millionen Briten und Gäste nahmen an Kulturveranstaltungen teil. An diese herausragende Bilanz muss Hamburg anknüpfen, wenn es den Zuschlag im Bewerbungsverfahren des IOC erhalten will. Die Verheißung eines dreistelligen Millionen-Etats für die Kulturolympiade an der Elbe lässt die chronisch unterfinanzierte Künstlerszene natürlich nicht unberührt. Da werden die Bedenken gegen Olympia schnell mal vergessen, glaubt Christoph Twickel: "Traditionell hat Kunst ja ornamentale Funktion. Man muss zur Eröffnung ein enormes Spektakel abfeuern - den Ort sozusagen festivalisieren. Das heißt: So etwas zu erzeugen wie eine besondere Aura, die darauf hinweist, dass diese Stadt für ein paar Wochen ganz anders funktioniert. Sind das Projekte, die wir gutheißen? Was machen wir eigentlich dort? Und das geschieht zu wenig, wenn man Olympia einfach nur als Anlass nimmt, ein bisschen Budget abzugreifen." Mehr als Helene Fischer 100 Ideen für Olympia – das ist das selbst gesteckte Ziel, das Kulturschaffende und Kultursenatorin verabredet haben. Konkret Ideen liegen zwar noch nicht vor, aber dass es keine Helene-Fischerisierung der Spiele geben soll, gilt als ausgemacht. Der Rahmen soll anspruchsvoll und politisch gestaltet werden. Und da hat das Kampnagel-Theater gute, multikulturelle Vorleistungen erbracht - etwa in dem es etliche Lampedusa-Flüchtlinge in seinen Kunstbetrieb integrierte. "Man will versuchen, die Stadt in ihrer Diversität darzustellen, die ja oft sehr unsichtbar ist. Ich finde, auch die Flüchtlingsfrage ist eine, die auch die ganze Zeit aufgepflockt ist, weil sie eben so einen riesigen Stellenwert in den öffentlichen Debatten hat. Ich glaube, das sind alles Dinge, wo man mit so einem Zusammenschluss der Kulturschaffenden was leisten kann für die Stadt, selbst wenn die Olympiade gar nicht kommt." Vorschlagen dürfen die beteiligten Künstler alles – was dann davon umgesetzt wird, entscheiden allerdings die Herren über die fünf olympischen Ringe, deren Sponsoren und die hamburgischen Honoratioren. Da dürften Enttäuschungen vorprogrammiert sein. "Dass ich mir natürlich auch vorstellen kann, dass es in die falsche Richtung laufen kann, also es ist für mich ein Prozess, den ich kritisch begleiten werde. Aber ich finde zunächst mal: Dieser Ansatz, dass man versucht, möglichst viele Akteure aus allen Feldern dieser Stadt einzubeziehen, partizipieren zu lassen, ihre Stimme auch zu hören, macht mir durchaus Hoffnung, dass es ein interessanter Prozess werden kann. Immer, wenn Hamburg sozusagen großeventmäßig wird, wird es kulturell gesehen immer schrecklich. Ich glaube, eine Kultur, die Großereignisse garniert, ist in gewisser Weise immer grauenhaft." Referendum im Herbst Im Herbst werden erst einmal die Hamburger und Hamburgerinnen in einem Referendum befragt werden, ob sie die Spiele vor der Haustür wirklich haben wollen. Danach entscheiden die alten Männer des IOC. In jedem Fall sollten Hamburgs Olympia-Planer umgehend einen gut dotierten Kompositionsauftrag vergeben. Denn sollte im Jahr 2024 dieser Ruf erklingen - "Ladies and Gentlemen, let's sing the olympic Hymn" - hätte die Hansestadt nur diese deprimierende Stadthymne aus dem Jahr 1828 anzubieten. "Stadt Hamburg an der Elbe Auen" von 1828 Heil über dir, Heil über dir, Hammonia, Hammonia!O wie so glücklich stehst du da!Stadt Hamburg, Vielbegabte, Freie!So reich an Bürgersinn und Treue,So reich an Fleiß und Regsamkeit,Dein Lob erschalle weit und breit!Heil über dir, Heil über dir, Hammonia, Hammonia!
Von Rainer Link
Um den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Spiele 2024 zu erhalten, muss Hamburg nicht nur mit Stadien und Infrastruktur überzeugen, sondern vor allem mit einem imposanten kulturellen Rahmenprogramm. Das es keine Helene-Fischerisierung der Spiele werden soll, darüber sind sich die Kulturschaffenden einig. Über vieles andere hingegen nicht.
"2015-08-10T15:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:50.891000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hamburg-und-olympia-debatte-um-geplantes-kulturprogramm-100.html
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"Es wird nicht besser, je länger man verhandelt"
"Wenn man seine Leute auf die Bäume hochjagt, dann muss man sie irgendwann auch wieder runterholen."- Dorothee Bär hat kein Verständnis für neue Forderungen der SPD (XAMAX / dpa ) Mario Dobovisek: Knapp war es, das Ergebnis auf dem SPD-Sonderparteitag am Sonntag in Bonn. Jetzt können Union und SPD mit ihren Koalitionsverhandlungen beginnen - theoretisch. Doch die Skepsis bei den Sozialdemokraten, sie bleibt. Die Sondierungspakete noch einmal aufschnüren wollen sie deshalb, nachverhandeln sagen die einen, bloß über Details sprechen die anderen. Über das große Ganze sprachen jedenfalls am Abend erst einmal die Parteichefs von CDU/CSU und SPD. Einen Fahrplan haben sie sich und ihren Parteien für die Koalitionsverhandlungen gegeben. Am Telefon begrüße ich Dorothee Bär. Sie ist stellvertretende CSU-Vorsitzende. Guten Morgen, Frau Bär. Dorothee Bär: Guten Morgen. "Die Punkte wurden wurden auch von der SPD-Delegation festgehalten" Dobovisek: Ihre Reaktion auf die Abstimmung beim SPD-Sonderparteitag am Sonntag kam ziemlich schnell per Twitter-Nachricht: "Kein sehr deutliches Ergebnis", schreiben Sie da der "lieben SPD. Nachverhandeln gibt es nicht mehr. Steht jetzt mal zu Ergebnissen und eurer Verantwortung." - Was meinen Sie damit, Frau Bär, kein Nachverhandeln? Bär: Na ja. Wir haben ja ganz viele Punkte festgelegt in den Sondierungen, aber nicht zu allen Themen. Aber die Punkte, die wir festgelegt haben, die wurden tatsächlich am Freitag, vor elf, zwölf Tagen von allen einmütig angenommen, auch von der gesamten SPD-Delegation. Und es war schon merkwürdig, kaum dass das Papier ausgedruckt war, noch warm war, dass die ersten aus der SPD sich schon gemeldet haben und gesagt haben, das haben wir alles gar nicht so gemeint. Dann wissen Sie selber, dann gab es jetzt eine gute Woche die Diskussionen auch im ganzen Land, und dann haben sich am SPD-Parteitag ja nicht nur der gesamte Vorstand, alle Bundesminister, auch die sehr geschätzten Ministerpräsidenten der SPD mit Verve reingehängt und dann kommen trotzdem nur 56 Prozent raus. Da habe ich mir schon mehr vorgestellt. "Man kann statt Sondierungs- auch schon Koalitionspapier drüber schreiben" Dobovisek: Aber die Verhandlungen, die beginnen ja erst. Bär: Ja, es kommt immer darauf an, wissen Sie. Wenn man sagen würde, es wären Sondierungen gewesen, wie ich sie mir eigentlich gewünscht hätte, nämlich was auch mal ursprünglich angedacht war … Dobovisek: Dann erklären Sie uns doch bitte den Unterschied zwischen Sondierungsgesprächen, die vor Koalitionsverhandlungen geschehen. Bär: Theoretisch ist es so, zumindest nach meiner Auffassung, dass man sagt, eine Sondierung soll erst mal dazu dienen, kann man und will man miteinander, ja oder nein. Dann ist es aber natürlich so gewesen: Bei Jamaika waren dann plötzlich nach vier Wochen 60 Seiten und man hat gesagt, man macht den gleichen Fehler nicht noch mal, so lange und so detailliert. Dann war ursprünglich mal das Ziel fünf Seiten. Dann sind es ja doch, auch weil Herr Schulz ja auch ein riesen Europaprogramm, gegen das ich gar nichts habe, detailliert aufnehmen wollte, dann waren es am Schluss ja wieder knapp 30 Seiten, und 30 Seiten sind schon … Dobovisek: Daran ist aber das Europaprogramm nicht schuld. Da steht ja auch noch viel, viel mehr drin auf den 28 Seiten. Bär: Eben! - Eben! - Eben! Dobovisek: Auch viele Punkte der CSU. Bär: Ja, weil man kann ja auch nicht nur einen Punkt reinschreiben. Wenn man aber dann sagt, man macht so viele Punkte und man schreibt so viele Punkte rein, dann sind die schon so ausformuliert, dass die Mehrheit meiner Kollegen auch der Meinung ist, man kann statt Sondierungs- auch schon Koalitionspapier drüberschreiben. Keine Verfechterin der "Basta-Politik" Dobovisek: Frau Bär, die Leitung ist ein schwachbrüstig, wahrscheinlich viel schwachbrüstiger als Ihre starke Meinung. Vielleicht drehen Sie sich ein bisschen zum Fenster und dann stelle ich die Frage noch mal in die Richtung. - Das Paket (dieses Sondierungspaket) wird aus Ihrer Perspektive nicht mehr aufgeschnürt. Es sind Vorfestlegungen, Punkt, Aus, Basta! Bär: Was heißt Vorfestlegungen, und ich gehöre jetzt auch nicht zur Basta-Politik. Dobovisek: Klingt aber so. Bär: Nee! Wir haben noch so viele Punkte, die noch beraten werden müssen, die gar nicht drinstehen im Sondierungspapier, dass wir da auch noch genug zu tun haben werden. Dobovisek: Ich glaube, das hat so keinen Sinn mehr, weil wir verlieren Sie immer wieder, Frau Bär. Ich mache den Vorschlag, falls Sie mich noch hören, dass wir kurz auflegen. Wir rufen Sie noch einmal an und spielen solange noch ein bisschen Musik für unsere Hörer, und dann hören wir uns hoffentlich gleich wieder in ein paar Sekunden. Dorothee Bär, CSU-Vize, ist wieder am Telefon. Hoffentlich verstehen wir uns jetzt an dieser Stelle besser. - Wir waren stehen geblieben bei der Frage, wie weiter mit den Sondierungen und Verhandlungen und so weiter und so fort. Spinnen wir das mal ein bisschen weiter. Die CSU könnte an dieser Stelle ja auch sagen: Gut, Verhandlungen ergeben unter diesen Umständen, wenn die SPD jetzt alles noch mal aufmachen will, keinen Sinn. Also sagen wir ab und wollen Neuwahlen. Streit um die Härtefallregelung Bär: Wir sind konstruktiv und wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen diese Koalition. Wir wollen eine stabile Bundesregierung. Deswegen hoffen wir natürlich von allen jetzt auch ein bisschen Bewegung. Dobovisek: Auch von der CSU? Bär: Ich sage noch mal: Wir haben so viele Punkte schon verhandelt. Es ist ja nicht so, dass wir bei den Punkten, die wir jetzt durchgesetzt haben, bislang die reine CSU-Lehre durchgesetzt haben. Da gäbe es schon noch mal einige Punkte, wo wir uns auch noch selber mehr hätten vorstellen können. Das sind ja alles schon Kompromisse, die im Sondierungspapier drinstehen. Dobovisek: Zum Beispiel gibt es den Familiennachzug, der soll begrenzt werden auf 1.000 Menschen im Monat. Die SPD fordert nun eine Härtefallregelung. Wir hören Stimmen auch aus der CDU, die sich das durchaus vorstellen können. Sie auch? Bär: Wir haben ja da auch schon Kompromisse gemacht. Wir wollen ja auch die komplette Aussetzung. Jetzt gab es schon diese Kompromissformel und jetzt soll die Kompromissformel noch mal aufgemacht werden. - Wir haben bei der Mütterrente zum Beispiel jetzt den Kompromiss selber angeboten, dass diejenigen, die vor … Dobovisek: Bleiben wir doch für einen Moment bei der Härtefallregelung. Wollen Sie eine Härtefallregelung mitgehen oder nicht? Bär: Wir haben sie so beschlossen, wie sie im Papier steht, und das ist schon mehr, als wir ursprünglich wollten. Also weiß ich nicht, warum man bei so einem Kompromiss, der für die CSU auch nicht leicht ist, jetzt noch mal den Kompromiss aufschnüren muss. Dobovisek: Die Härtefallregel schreiben ja auch im Prinzip deutsche Richter längst vor, Beispiel das Berliner Verwaltungsgericht vor einem Monat. Die Familie eines syrischen minderjährigen Flüchtlings dürfe nachziehen, weil andernfalls das Kindeswohl erheblich und akut gefährdet sei. Das war schon eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung und ihren Stopp des Familiennachzugs. Wie können Sie weiter an bloßen Zahlen festhalten? Bär: Ich finde es immer ein bisschen merkwürdig, dass man jetzt in der gesamten Flüchtlingsdebatte nur über Härtefälle spricht. Wenn es wirklich so wenige sind, wie immer suggeriert wird, dann ist das kein Problem. Wenn aber die Regelung so großzügig ausgelegt wird, dass plötzlich jeder Fall ein Härtefall ist, dann wird die ganze Regelung ja ad absurdum geführt. "Das kann für eine stabile Regierung schon reichen" Dobovisek: Gibt es am Ende eine Obergrenze, anderes Thema aus diesem Bereich? Bär: Die steht ja drin im Sondierungspapier und zumindest die Jusos haben das genauso gesehen wie wir, dass sie faktisch festgeschrieben ist. Und jetzt wird man mal sehen, ob da noch Forderungen kommen. Ich habe ja vollstes Verständnis auch für die Lage, in der sich die SPD befindet. Die Frage ist nur, ob man nicht ein bisschen noch realistischer bleiben kann. Und wenn man seine Leute auf die Bäume hochjagt, dann muss man sie irgendwann auch wieder runterholen. Dobovisek: Weiterhin sagt Martin Schulz, der SPD-Chef, mit der SPD gibt es keine Obergrenze, und das sagt er in einer beeindruckenden Klarheit und das steht ja auch so im Sondierungspapier. So lesen Sie es zumindest selber, sagen Sie auch gerade. Ich sehe da viele, viele Hürden für eine gemeinsame Zusammenarbeit, auch wenn wir uns die Stimmung angucken. Können Sie sich beide überhaupt unter diesen Vorzeichen vertrauen? Bär: Vertrauen? - Wem vertraut man schon so komplett im Leben, außer vielleicht seiner eigenen Familie? - Ich glaube, es ist wichtig, dass wir eine gute Arbeitsbeziehung haben. Natürlich wäre es schön, wenn da auch ein gewisses Maß an Vertrauen da wäre. Aber wenn einfach alle sich an das halten, was dann letztendlich ausgemacht ist, dann kann das für eine stabile Regierung schon reichen. Den Rest werden die nächsten Tage und Wochen zeigen, hoffentlich nicht zu lange, weil ich glaube nicht, dass es besser wird, je länger man jetzt verhandelt. Dobovisek: Fassen wir zusammen. Sie erwarten von der SPD, dass sie sich bewegt, aber die CSU wird sich nicht bewegen? Bär: Na ja, das ist jetzt eine sehr merkwürdige Zusammenfassung. Ich habe ja vorhin schon gesagt, dass wir so viele Themen noch gar nicht besprochen haben, dass ich eigentlich meinen Schwerpunkt darauf legen möchte. Wir haben zum Beispiel, was für mich das wichtigste Problem im Land ist, von einer Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung noch gar nichts aufgeschrieben. Das wäre wichtig für Wachstum und Wohlstand in unserem Land. Die anderen Punkte sind formuliert, aber ehrlicherweise werden da auch mehr die Probleme von gestern gelöst. Ich will die Probleme von morgen lösen. Dobovisek: Die stellvertretende CSU-Chefin Dorothee Bär bei uns im Deutschlandfunk-Interview. Ich danke Ihnen ganz herzlich. Bär: Danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dorothee Bär im Gespräch mit Mario Dobovisek
"Ich habe ja vollstes Verständnis für die Lage, in der sich die SPD befindet", sagte CSU-Vizechefin Dorothee Bär im Dlf. Allerdings habe man im Sondierungspapier bereits Kompromisse festgehalten, die auch für die CSU schmerzhaft gewesen seien - die könne man jetzt nicht ohne Weiteres wieder in Frage stellen.
"2018-01-23T06:50:00+01:00"
"2020-01-27T17:36:06.927000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/csu-vize-baer-zur-spd-es-wird-nicht-besser-je-laenger-man-100.html
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In Afrika ist "schnelle Hilfe notwendig"
Dirk-Oliver Heckmann: Viel Konkretes hat das Treffen der Welternährungsorganisation gestern in Rom nicht erbracht. Es bestehe die Notwendigkeit, schnell zu helfen, so in etwa kann man das Ergebnis zusammenfassen. Konkreter soll es morgen werden, da will die FAO mindestens eine Milliarde Euro zusammenbekommen. Man wird sehen, wie erfolgreich man auf diesem Weg sein wird. In der Zwischenzeit aber, da sterben Tausende Menschen. – Am Telefon ist jetzt Ursula Langkamp, sie ist Regionaldirektorin der Welthungerhilfe am Horn von Afrika. Sie erreichen wir in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Schönen guten Morgen, Frau Langkamp.Ursula Langkamp: Ja, guten Morgen!Heckmann: Frau Langkamp, hat sich die Lage in den vergangenen Tagen verschärft oder etwas entspannt?Langkamp: Also wir haben den Eindruck, dass sich die Lage zusehends verschärft, vor allen Dingen, weil die Gebiete, die betroffen sind, von Pastoralisten-Gruppen bevölkert werden, die ganz stark von ihren Herden abhängen, und was wir gestern bei einem Treffen von einem Netzwerk von äthiopischen NGO's mitbekommen haben ist, dass die Herden mittlerweile um mehr als 50 Prozent reduziert sind. Das heißt, die Pastoralisten können kaum noch Vieh verkaufen, was sie dringend benötigen, um Nahrungsmittel einzukaufen. Und die Rückmeldung, die wir bekommen haben, ist, dass ganz viele Menschen im Moment eben gerade in diesen Gebieten im Osten und Südosten Äthiopiens unter extremem Hunger leiden.Heckmann: Vor allem betroffen sind ja Somalia, Kenia, Äthiopien, Uganda. Muss man davon ausgehen, dass die Lage in Somalia am dramatischsten ist?Langkamp: Also ich muss dazu sagen, dass ich hier in diesem Regionalbüro für Äthiopien und Somaliland zuständig bin, aber natürlich verfolgen wir die Nachrichten aus dem gesamten Horn von Afrika und wir wissen, dass der Süden von Somalia am aller stärksten betroffen ist, aus Gründen, die sich eben aus der Dürre ergeben, aber eben auch aus der schweren Zugänglichkeit der Gebiete.Heckmann: Und verglichen damit die Lage in Ihrem Zuständigkeitsbereich, in Äthiopien? Wie kann man das bewerten, wie kann man das einordnen, einschätzen?Langkamp: Also in Äthiopien sehen wir, dass die Lage dramatisch ist, einfach weil eine unheimlich hohe Zahl von Menschen betroffen ist. Wir sprechen hier von 4,56 Millionen Menschen. Davon sind 150.000 ungefähr in den Flüchtlingscamps, das heißt, das sind somalische Flüchtlinge, und die anderen 4,35 Millionen befinden sich in den semiariden Gebieten, in denen hauptsächlich eben, wie ich vorher erwähnte, die Pastoralisten leben, die dort auf den Weidegründen ihre Herden halten.Heckmann: Lassen Sie uns vielleicht noch mal einen kleinen Blick werfen nach Somalia, auch wenn das nicht in Ihren engeren Zuständigkeitsbereich fällt. Da sind ja die islamistischen Milizen, die dafür sorgen, dass ausländische Helfer ihrer Arbeit nicht nachkommen können. Wer oder was könnte diese Kräfte davon überzeugen, endlich Hilfe ins Land zu lassen?Langkamp: Ich glaube, was passiert ist, dass die Vereinten Nationen ja zusehends die Gespräche aufnehmen, auch die EU nimmt zusehends Gespräche auf. Ich denke, dass der Druck auch aus der Bevölkerung nach Versorgung mit Nahrungsmitteln immer mehr wächst, die Abwanderung in die Flüchtlingscamps in Nordkenia und auch in Äthiopien, und dass aufgrund wirklich des humanitären Drucks, der gerade entsteht, auch eben die islamistischen Gruppen im Moment zurückweichen, und obwohl es nach wie vor Probleme gibt, sind erste Lieferungen jetzt bereits angekommen.Heckmann: Ich hoffe, Frau Langkamp, dass unsere Leitung hält. Ich höre gerade, dass ein paar Störungen vorliegen, aber das ist vielleicht auch kein Wunder. Sie erreichen wir ja in Äthiopien, in der Hauptstadt Addis Abeba. – Frau Langkamp, gestern gab es ja die Krisensitzung der Welternährungsorganisation in Rom, da wurde schnelles Handeln gefordert. Ist das aus Ihrer Sicht nicht ein bisschen wenig?Langkamp: Ja, natürlich! Ich meine, wir kriegen mit hier im Land, dass vier Millionen Menschen von Hunger betroffen sind, dass bisher die Nahrungsmittelversorgung von den Vereinten Nationen und der Regierung angelaufen ist, aber dass der Bedarf unglaublich groß ist. Und daher denken wir, dass eben auch schnelle Hilfe notwendig ist. Aber ich möchte auch darauf aufmerksam machen, dass langfristige Hilfe notwendig ist, weil eben die Gruppen, die betroffen sind, wenn die ihre Viehbestände verlieren, können die über Jahre weg zu Nahrungsmittelempfängern werden. Das heißt, wir haben ein großes Interesse natürlich an Soforthilfe, aber auch an Rehabilitierung in der Folge von der Dürre.Heckmann: Die Bundesregierung hat ja ihre Soforthilfe auf 60 Millionen Euro aufgestockt. Was ist dran an der Kritik, dass die Bundesregierung zu wenig mache?Langkamp: Zu wenig, das können wir im Moment erst mal nicht sagen. Wir sagen nur, es müsste schneller sein. Die Situation hat sich seit Januar angekündigt, das war der La Nina-Effekt. Das heißt, man konnte absehen, dass eine Dürre eintreten wird. Erste Wasserversorgungs-Soforthilfe hat ab April stattgefunden im Süden von Äthiopien und auch im Osten von Äthiopien. Und die Lage, wie sie sich jetzt zugespitzt hat, fordert einfach ganz schnelle und sofortige, aber auch eben längerfristige Hilfe.Heckmann: Die Regionaldirektorin der Welthungerhilfe am Horn von Afrika, Ursula Langkamp, war das hier live im Deutschlandfunk. Besten Dank und schöne Grüße nach Addis Abeba.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ursula Langkamp im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Ursula Langkamp von der Welthungerhilfe fordert schnellere Hilfe für die Hungernden am Horn von Afrika. Die Lage verschärfe sich derzeit zusehends. Am schwersten sei der Süden Somalias betroffen. Bereits im Januar habe man absehen können, dass eine Dürre eintreten werde.
"2011-07-26T08:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:25.087000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/in-afrika-ist-schnelle-hilfe-notwendig-100.html
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Radiolexikon Gesundheit: Muttermale und Pigmentflecken
" Also ich hab am Unterarm auf der Unterarmrückseite ein Muttermal, das hab ich schon seit der Kindheit.sind schon Muttermale und Leberflecken, das sind so viele, dass man einen ganzen Tag verbringen müsste, um die zu zählen.In der letzten Zeit hat sich das so ein bisschen verändert, es ist häufiger rot, juckt.Es sind etliche, klein und groß, manche sind zuckerkörnchenklein, manche bis zu Erbsengröße.Mir ist selber auch aufgefallen, dass es so ein bisschen unregelmäßig geworden ist und dann hab ich gedacht, ich geh mal lieber zum Arzt und lass es untersuchen."Manche Menschen haben viele braune Flecken auf der Haut, andere wiederum haben gar keine und manche kommen schon mit diesen Flecken zur Welt. In der Umgangssprache werden dafür verschiedene Begriffe verwendet: den Ausdruck "Muttermal" nutzt man meist als Überbegriff für diese gutartigen angeborenen Hautveränderungen. Professor Peter Altmeyer, Direktor der Klinik für Dermatologie und Allergologie der Ruhr-Universität Bochum:" Der Mensch hat i.a. Flecken auf der Haut, braune Hautflecken. Hier kann man grundsätzlich unterscheiden zwischen denen, die angeboren sind, die wir schon bei der Geburt finden, das sind eigentlich wenige und dann gibt es die erworbenen. Die erworbenen Pigmentflecken, Leberflecken, sind durch die Sonnenbestrahlung erworben. Das heißt, wenn die Sonne auf die Haut trifft, kommt es zu einer Vermehrung dieser Hautzellen und das führt dazu, dass an einer Stelle dann ein brauner Fleck entsteht."Die Haut besteht aus weißen Hautzellen und aus wenigen dunklen Hautzellen, sogenannten Pigmentzellen. Die dunklen Hautzellen sind diejenigen, die für die Bräunung sorgen. Warum entstehen nun eigentlich diese dunklen Pigmentflecken?" Diese braunen Flecken entstehen dadurch, dass Sonne, also UV, wenn es auf die Haut trifft, dass diese Pigmentzellen in der Haut, dass die aktiviert werden. Die werden zum Wachstum angeregt. Normalerweise verbleiben die in einer gleichmäßigen Schicht und dann gibt es einen gleichmäßigen Braunton. Nun, bei Hellhäutigen ist es so, dass bestimmte Zellen, eben bestimmte Areale, empfindlicher sind als die Nachbarareale, sodass an diesen Stellen die Pigmentzellen sich stärker vermehren und dann kommt es an diesen Stellen zu einem braunen Farbton, den wir nach außen sehen. Also er ist dadurch bedingt, dass die Pigmentzellen dort aktiver sind und auch vermehrt sind."Auch Sommersprossen sind Pigmentflecken, die aber im Winter verschwinden und im nächsten Sommer mit der Sonne wiederkehren.Anders verhält es sich mit den sogenannten Leberflecken, die im Laufe des Lebens entstehen. Sie bleiben, vergrößern sich und werden zahlreicher mit zunehmendem Alter." Die Anlage für Leberfleckenbildung wird sicher in der Kindheit gelegt. Wir haben die Kinder früher am Strand rumlaufen lassen als Nackedeis und fanden das prima. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert, heißt also, es gibt ein Gefühl dafür, dass man Kinder schützen muss. Dass sie also ein T-Shirt auf den Körper bekommen, wenn sie am Strand herumlaufen und ein Mützchen auf den Kopf. Also, wir sollten unsere Kinder schützen, weil einfach die Wiege dieser Pigmentfleckbildung in der Kindheit liegt und sie wird dann nach Jahren realisiert."Sonnenschutz ist für Kinder besonders wichtig, denn die Haut von Kindern ist dünner als die von Erwachsenen und sie hat noch keinen Reparaturmechanismus für sonnenbedingte Schäden. Bisher galten vor allem Sonnenbrände in der Kindheit als Hauptfaktor, der Leberflecken begünstigt. Doch heute weiß man: auch Sonnenbäder, die keine Verbrennung auslösen, fördern die Entwicklung von Leberflecken. Und: Sonnenschutzmittel schützen nicht vor Leberflecken." Die Haut vergisst eben keine UV-Strahlung. Wie auf einer Computerplatte werden die UV-Strahlen registriert. Irgendwann ist die Platte voll. Dann gibt es Schreibfehler in der Computerplatte und dann wird die Zelle bösartig.Aus den Pigmentzellen entsteht der schwarze Hautkrebs, das sogenannte maligne Melanom. "Maligne Melanome entstehen oft aus einem gutartigen Leberfleck oder einem Muttermal. Sie können sich aber auch neu bilden. Die Unterscheidung zwischen einem Leberfleck und einem malignen Melanom ist nicht immer leicht. Maligne Melanome sind eine hochgradig bösartige Entartung der Pigmentzellen. Sie können schnell in tiefere Hautschichten wachsen und früh Metastasen streuen. Deshalb müssen sie möglichst früh entfernt werden." Ich hab am Unterarm ein Muttermal. Das hab ich schon seit der Kindheit und erst in letzter Zeit ist mir aufgefallen, es juckt häufiger. Wenn ich in der Sonne bin, brennt es häufiger und es wird rot. Und dann hab ich gedacht, ich geh mal lieber zum Arzt und lass es untersuchen."Anke Werries kam also in die Hautklinik der Ruhr-Universität Bochum. Sie wird untersucht von Oberarzt Dr. Sebastian Rotterdam." Ihnen ist ein Muttermal aufgefallen - ja genau, ich hab am Unterarm ein Muttermal - ja, dann wollen wir uns das mal angucken. Was wir sehen, ist ja hier am Unterarm ein Muttermal, was ganz leicht erhaben ist. Es ist auch tastbar im Zentrum und es ist eigentlich nicht ganz klar abgrenzbar. Ich will mal mit dem Auflichtmikroskop die ganze Sache angucken. Mit zehnfacher Vergrößerung sieht man mehr als wenn wir's einfach so machen. Von der Größe her haben wir einen Befund, der knapp fünf Millimeter ist, würde ich sagen. Aber wie Sie schon beschreiben, er ist nicht mehr ganz gleichmäßig. Im oberen Anteil sieht man doch ne deutliche Zunahme des Pigments. Im Zentrum sieht man so zwei, drei Haare, die auch rauskommen. Also das ist sicherlich was, was auffällig ist."Solch auffällige Muttermale oder Leberflecken müssen regelmäßig kontrolliert werden. Eine Untersuchung, die die meisten gesetzlichen Krankenkassen wieder übernehmen. Manchmal wird auch gleich zur Entfernung geraten, weil man dann sicher zwischen gutartig und bösartig unterscheiden kann. Dr. Rotterdam:" Was würde da genau gemacht? - Wir machen das so, dass wir eine kleine Spritze machen und dann praktisch eine kleine Operation durchführen können. Der operative Eingriff ist sicher nicht so ganz aufwändig. Aber wir müssen schon die Wunde vernähen. So etwa nach zehn Tagen können wir dann die Fäden ziehen. Und was wichtig ist, wir haben dann auch das Ergebnis vom Histologen, der uns dann die Beurteilung erlaubt, ob ein gutartiger oder bösartiger Befund vorliegt."Welche Anzeichen gibt es, dass Muttermale oder Leberflecken bösartig sein könnten?" Hier ist es so, dass auf der einen Seite die Asymetrie zu nennen ist. Für uns ist es so, dass die Begrenzung eine Rolle spielt, die Farbgebung an sich, also ein homogenes Farbmuster spielt hier eine Rolle. Es ist so, dass wir neben der Farbgebung auch den Durchmesser zu beurteilen haben, alles, was mit einer Größe über fünf mm ist, bzw. was eine Größenzunahme darstellt, ist sicher auffällig. Und es ist wichtig, ob die Veränderung erhaben ist oder nicht, bzw. noch wichtiger, ob der Patient angibt, dass es zu einer Blutung gekommen ist."
Von Renate Rutta
Den Ausdruck "Muttermal" benutzt man meist als Überbegriff für gutartige angeborenen Hautveränderungen. Manche Menschen haben viele braune Flecken auf der Haut, andere wiederum haben gar keine und manche kommen schon mit diesen Flecken zur Welt.
"2007-09-04T10:10:00+02:00"
"2020-02-04T14:03:20.754000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-muttermale-und-pigmentflecken-100.html
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Aztekische Leckerbissen
Heuschrecken sind die Avantgarde der Insektenküche", sagt der mexikanische Koch Alejandro Escalante (Deutschlandradio / Ellen Wilke) Man hat es nicht so leicht als Küchen-Enthusiast, als Connaisseur auf der Suche nach Restaurants, die sowohl urig sind – als auch delikat. Gemütlich – als auch kulinarisch auf höchstem Niveau. Laut und feucht-fröhlich – und dennoch mit raffiniertesten Speisen. Selten, dass man eine solche Wundermischung trifft, und erst recht selten in den gentrifizierten Großstädten, die von Chichi-Restaurants nur so strotzen. In der 30-Millionenstadt Mexiko City ist das nicht anders, denn inzwischen ist die Metropole überrannt von japanischen, russischen und mitteleuropäischen Touristen und zu weiten Teilen gentrifiziert. Und doch haben wir bei einem Rundgang ein bemerkenswertes Lokal gefunden, in Coyoacán, dem kleinen eingemeindeten Dörfchen im Süden des Molochs – da, wo Frida Kahlo wohnte und der russische Revolutionär Leo Trotzki ermordet wurde. In der Nähe des beschaulichen Dorfplatzes mit seinen Drehorgelspielern, den Maiskolbenverkäufern und Gauklern existiert seit gut 16 Monaten ein Restaurant, das sich ein besonderes Vorhaben auf die Flagge schreibt: Es tischt die "authentisch-mexikanische" Küche auf. Doch die "authentisch-mexikanische" Küche – was ist das eigentlich? Tacos mit Schmetterlingslarven "Also, unsere Karte umfasst Gerichte, die die prähispanischen Indianer gegessen haben. Wir haben Tacos mit Heuschrecken, Tacos mit Schmetterlingslarven, Tacos mit Ameisenlarven, Tacos mit Wanzen..." Tacos mit L-a-r-v-e-n und W-a-n-z-e-n – so die schöne, adrette Bedienung....? Da müssen wir nachfragen, beim 55-jährigen Besitzer, Chefkoch und Gourmet Alejandro Escalante, ein bärbeißiger Mann mit Glatze, herzhaftem Lachen, umschatteten Triefaugen und wilden Zähnen, war zwanzig Jahre lang Restaurantkritiker der Zeitung "Reforma", hat die Welt bereist und schreibt kulinarische Bestseller. Und hier – im Restaurant "La Casa de los Tacos" – hat er sich einen Traum verwirklicht: Er tischt das auf, was früher eines der Hauptnahrungsmittel der Azteken war: Insekten. Erfunden und aus der Taufe gehoben hat er dieses Konzept allerdings nicht: "Das erste Restaurant mit indianischer Insekten-Küche, das es in Mexiko gab, war damals das "Don Chon" in den achtziger Jahren. Es war ein faszinierender Laden, voller Genießer und Gastro-Interessierter, in der Nähe des verrufenen Merced-Markts. Es war die Zeit, als auch die Sushi-Mode nach Mexiko herüberschwappte – mit dieser völlig verrückten Idee, rohen Fisch zu essen! Da wurde das Essen – so erschien es uns damals – zu einer Art Mutprobe, und das inspirierte auch wieder unsere eigenen Köche! Daher griff man im "Don Chon" auf indianische Gerichte zurück, auf Leguan, Gürteltier, Schlange und Fliegeneier. Damals machten wir auch unsere ersten Erfahrungen mit dem Agavenwein Pulque, und den typischen Pulque-Ausschänken, wo man zum Humpen Alkohol automatisch frittierte Heuschreckenbekam. Diese Pulque-Ausschänke waren sehr heruntergekommen und billig, aber auch sehr gemütlich, und heute kosten dieselben Heuschrecken ein Vermögen. Aber so ist das ja immer in der Gastronomie: Volkstümliche Gerichte gentrifizieren irgendwann." "Heuschrecken besitzen völlig unterschiedliche Geschmacksnoten" Eröffnet hat Alejandro die "Casa de los Tacos" eigentlich als ganz normales Tacos-Restaurant, mit stinknormalen Gerichten – es gab Tacos mit Rindfleisch, Tacos mit Käse, Tacos mit Gemüse –, bis zu dem Tag, an dem Alejandro ausnahmsweise auch frittierte Heuschrecken mit auf die Speisekarte dazu nahm. Die Gäste jedenfalls rissen ihm das Gericht fast aus den Händen: "Heuschrecken sind die Avantgarde der Insektenküche. Es handelt sich um sehr fröhliche, schöne, gefällige Tiere. Natürlich sind sie eine Plage – sie fressen den Bauern ja den Kopfsalat, den Hafer und den Mais weg, deswegen werden sie seit Urzeiten gejagt. Heuschrecken besitzen völlig unterschiedliche Geschmacksnoten, je nachdem von welchen Pflanzen sie sich ernähren. In den kargen Berg-Gegenden schmecken sie beispielsweise viel bitterer. Unsere Heuschrecken beziehe ich von einem Landwirt in Tlaxcala, in der Nähe der Vulkane. Man fängt die Heuschrecken, indem man zu Mehreren ein Plastiknetz durch die Maispflanzung zieht. Dann springen die Heuschrecken hoch und verheddern sich im Netz." Die Heuschrecken serviert Alejandro Escalante frittiert in Öl, Limonensaft und Knoblauch. Dann werden sie in einen gebackenen Taco-Fladen gegeben, wobei Alejandro mehrere Soßen reicht, eine mit Tamarinde-Schoten, eine mit gegrillten Habanero-Chili, und eine mit Mango. Die Heuschrecken fanden also so großen Absatz, dass Alejandro bald auch andere Insekten in seine Speisekarte inkorporierte: In Butter angebratene Ameisenlarven "Durch meinen Kontaktmann in Tlaxcala habe ich auch andere indianische Landwirte kennengelernt, und die belieferten mich mit Ameisenlarven, Schmetterlingslarven und weißen Magueywürmern. Ameisenlarven beispielsweise sind sehr schwierig zu ernten. Diese mexikanische Ameisen-Art baut ihre Höhlen nur in einem bestimmten Habitat, es muss Pinien geben und eine spezielle Art von Milben. Die Bauern wissen, wo die Höhlen versteckt sind, aber sie graben lediglich einen Teil der Larven aus. Denn die Ameisen sind nicht dumm! Wenn sie merken, dass man ihre Gruben ausplündert, ziehen sie woanders hin. Also nehmen die klugen Bauern nur einen Teil der Larven, damit die Ameise nicht weg zieht. Der Aushub ist eine regelrechte Schlacht, denn man muss mit der Hand in die Höhlen greifen, und die Ameisen verteidigen ihre Nachkommenschaft bis auf den Tod, also braucht man Spezialhandschuhe." In Butter angebraten, werden die Ameisenlarven gemeinsam mit Zwiebeln, grünen Chili und dem Gewürz Drüsengänsefuß ebenfalls in einem Taco serviert. Das Gericht ist in den indianischen DörfernTlaxcalas und Hidalgos Tradition.Und wie sieht es mit den anderen fremdartigen Delikatessen aus? Stinkwanzen werden lebend gegessen "Dann gibt es da noch die Stinkwanzen, die lebend gegessen werden, die "hormigas chicatanas", die fliegenden Ameisen, und die Skorpione, die "alacránes". Die fliegenden Ameisen benutzen wir für eine Soße – eine sehr dunkle, rote, komplexe Soße, mit tiefroten Chili und Knoblauch. Die Stinkwanzen dagegen fungieren als Hauptgericht. Es sind sehr große, spektakuläre Insekten, sie haben einen gemüse-artigen Geschmack nach comalchile, und wir reichen sie mit Guacamole. Und die Skorpione, die haben wir früher paniert zubereitet. Aber die Gäste möchten das Insekt lieber sehen, also braten wir es seitdem an – und es schmeckt köstlich. Den Stechdorn ziehen wir natürlich raus, weil niemand möchte so einen Dorn im Mund haben." Ja, die präkolumbianischen Indianer. Sie kannten weder Schweine noch Rinder noch Schafe noch Pferde noch Esel – das alles brachten erst die Spanier nach Amerika, deswegen mussten sie ihren Bedarf an tierischen Proteinen durch Insekten decken – oder durch Wild, Truthahn, Hund, Krokodil und Leguan. Das alles gibt es in der "Casa de los Tacos" ebenfalls. Und ein besonderes Augenmerk legt Alejandro dabei auf den Mais und die Qualität der verschiedenen Mais-Küchelchen und Mais-Fladen. Eine eigene Köchin ist ausschließlich dafür zuständig, unablässig Maisfladen zu backen, zu pressen und zu kneten - eine Kunst für sich. Maisfladen mit langer Geschichte "Das hier sind Küchelchen mit Schweinegrieben, Küchelchen mit Rindermark, Küchelchen mit Paprikawurst, Fladen aus blauem Maismehl, Fladen aus gelbem Maismehl." Und Alejandro erläutert: "Maisfladen reichen mindestens zurück bis 700 vor Christus, bis zur klassischen Periode der mesoamerikanischen Kulturen wie z.B. Teotihuacán. Denn das ist die heilige Dreifaltigkeit: Der Maisfladen, die Einlage, und die Soße! Und es ist doch eine phantastische Sache, dass sich in der mexikanischen Küche eine Tradition aufrechterhalten hat, die so uralt ist." Nun, Mut braucht man also sehr wohl ein bisschen, um in die "Casa de los Tacos" zu gehen. Und wer über den nicht verfügt, der kann es auch einfach bei einem Tacos mit Rindfleisch oder Gemüse belassen!
Von Stefan Wimmer
Wie wäre es mal mit Tacos mit Heuschrecken? Oder besser, Tacos mit Schmetterlingslarven oder Stinkwanzen? In Mexiko-Stadt bietet ein ehemaliger Spitzen-Gastrokritiker Gerichte nach Rezepten aus vorkolumbianischer Zeit an. Mit großem Erfolg.
"2017-04-30T11:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:34.778000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mexikos-insektenkueche-aztekische-leckerbissen-100.html
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Götter am Abgrund
Science-Fiction-Autor Neil Gaiman: Für ihn sind Götter Kopfgeburten der Menschen; sie gehen, wohin der Mensch geht und sind daher gewissermaßen Kulturfolger. (dpa/picture alliance/Daniel Bockwoldt) Wer von "American Gods" zu erzählen verspricht, von "Amerikanischen Göttern", wird sich manchem Verdacht aussetzen: Soll etwa folkloristisch von Manitou und seinesgleichen die Rede sein? Hat Amerika überhaupt eingeborene Götter? Oder geht es kulturkritisch darum, den theologischen Status der Helden im Trikot zu erörtern, der Supermen, der Basket- und Baseballstars? Nein, darum geht es nicht in Neil Gaimans Roman. Es geht um einen Triumph der Einbildungskraft, um ein herausragend fantastisches Epos im Rang von Wunderwerken wie "Herr der Ringe" oder "Alice in Wunderland". Und es beginnt wie diese auch in einem vergleichsweise kleinen Raum - in diesem Fall in einer Gefängniszelle: Shadow Moon ist 32 Jahre alt. Er wird in den nächsten Wochen eine dreijährige Haftstrafe wegen Körperverletzung verbüßt haben. Er ist groß und stark, ein Bild von einem Mann, aber ein Schläger ist er eigentlich nicht. Shadow hatte seine Gründe. Seine Frau Laura wartet auf ihn - eine attraktive Reisebürokauffrau. Auch er selbst wird bald wieder Arbeit haben: Robbie Burton, ein alter Kumpel und Betreiber einer "Muskelfarm", hat ihm einen Job als Trainer versprochen. Von seinem Zellengenossen, einem gewissen Low Key Lyesmith, Trickbetrüger aus Minnesota, hat Shadow Moon vor einiger Zeit die Taschenbuchausgabe eines Klassikers geschenkt bekommen: die Historien von Herodot. Shadow, eigentlich kein großer Leser, liest. Und wenn er nicht liest, übt er sich in Münztricks. Er ist gut darin. Er liebt Laura, und Laura liebt ihn. Robbies Muskelfarm winkt. Doch dann wird Shadow ins Büro des Gefängnisdirektors gerufen. Er soll einen Monat früher als geplant entlassen werden. Der Grund: Seine Frau ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Den Wagen hat Robbie gesteuert und war wohl ein wenig abgelenkt: Laura hat ihn unter der Gürtellinie oral vergnügt. Nun sind beide tot. Shadow soll auf Lauras Beerdigung gehen können. So weit, so schnulzig oder - wie man sagen könnte - so seifenopernhaft: Verbotene Liebe im Fitness-Milieu. Sex and Crime. Und wie heißt noch der Leidtragende dieses Geschlechtsverkehrsunfalls? Shadow Moon - Schatten und Mond. Odin als Trickbetrüger Noch auf dem Flug zur Beisetzung wird ihm von seinem Sitznachbarn ein Job angeboten - eine Stelle als Chauffeur und Botengänger, Bodyguard und Mädchen für alles: "Sie arbeiten für mich. Sie beschützen mich. Sie helfen mir. Sie transportieren mich von einem Ort zum anderen. Von Zeit zu Zeit stellen Sie Ermittlungen an - Sie reisen herum und holen in meinem Auftrag Erkundigungen ein. Sie machen Besorgungen. Im Notfall, aber nur im Notfall, tun Sie Leuten weh, die das verdient haben.In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich sterben sollte, werden Sie für mich eine Totenwache halten. Und im Gegenzug werde ich dafür Sorge tragen, dass Ihre Bedürfnisse angemessen befriedigt werden." Nach einigem Zögern nimmt Shadow das Angebot an. Sein Arbeitgeber nennt sich Mr. Wednesday. Er ist gediegen gekleidet; mit einem seiner Augen freilich stimmt etwas nicht, die Iriden zeigen leicht unterschiedliche Farben, ein Glasauge vielleicht?Shadow will es wissen: "Wie haben Sie Ihr Auge verloren?Wednesday schaufelte sich ein halbes Dutzend Speckstücke in den Mund, kaute, wischte sich mit dem Handrücken das Fett von den Lippen.Ich habe es nicht verloren, sagte er. Ich weiß noch genau, wo es ist." Wir werden es erfahren. Mr. Wednesday, ein windiger Kerl, ist ein ebenso passionierter wie wahlloser Schürzenjäger. Er hat, wie sich zeigt, eine langjährige Berufserfahrung als Trickbetrüger. Womit der Plot des Romans sich ein wenig in Richtung Gaunerkomödie zu drehen scheint - ein Verdacht von "Paper Moon" kommt auf, ein Hauch von "Der Clou". Außerdem raucht er starken Tobak - er wie auch die meisten seiner offenbar zahlreichen Bekannten, denen man nach und nach einen Besuch abstattet. Denn Mr. Wednesday will diese eigenartigen Damen und Herren zu einer Zusammenarbeit überreden. Immer wieder Zigaretten, Zigarillos. Manchmal schmaucht und raucht es, als ritte der Marlboro-Mann zwischen den Zeilen. Aber es ist nicht der Marlboro-Mann, der hier unterwegs ist, sondern Shadow mit Mr. Wednesday. Und die wahre Identität von Mr. Wednesday - dem Herrn Mittwoch - bleibt Shadow nicht lange verborgen. In unserer Sprache ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Wochentags ausgelöscht. Die christlichen Missionare haben den alten Namen neutralisiert und einen Mittwoch daraus gemacht. Der Tag des Wednes heißt im Niederländischen Woensdag, im Skandinavischen Onsdag. Er ist der Tag des Wotan beziehungsweise des Odin. Und Mr. Wednesday ist kein geringerer als dieser alte, nordische Gott - verschlagen in die USA wie etliche andere Gottheiten aus aller Welt auch. Ja, es sind Gottheiten, die dieser Odin in Menschengestalt besucht und für seine Sache gewinnen will. Odin, der Allvater; Odin, der sich selbst geopfert und neun Tage am Baum Yggdrasil gehangen hat, der Weltesche, ohne Nahrung und Trank; Odin, der eines seiner Augen dahingegeben hat für die Erlaubnis, aus der Quelle der Weisheit zu trinken. Wenn er und die anderen so leidenschaftlich paffen, dann ist das nichts als eine Reminiszenz an eine große Vergangenheit, als ihnen noch Rauch und Menschenfleisch zum Opfer gebracht worden waren. Der fette Junge: die Gottheit der PCs und des Internets Die Sache aber, für die Odin sie anwerben will, ist die: Die alten Götter, Odin und Czernobog, der slawische Gott der Finsternis, die ägyptischen Gottheiten Thot und Anubis, Easter, die germanische Göttin des Frühlings, der afrikanische Spinnengott Anansi, Bilquis, die gottgleiche Königin von Saba, Hindu- und Voodoo-Gottheiten, Dschinns, Ifriten und Kobolde, sie alle stehen am Abgrund. Übrigens auch Loki, der vielseitigste und vielgestaltige Gott im nordischen Pantheon - denn natürlich verbirgt sich hinter Low Key Lyesmith - also dem Lügenschmied, Shadows Ex-Zellengenossen - niemand anders als der Trickster Loki. Ihnen allen droht die Vernichtung durch die neuen amerikanischen Götter, durch die Gottheiten des Aktienmarktes, durch die Men in Black, durch die Gottheiten des Autos, der Flugzeuge, des Fernsehens und des Internets. Einer der Wortführer dieser neu entstandenen und doch durchaus alttestamentarisch-eifersüchtigen Numina ist der fette Junge - die Gottheit der PCs und des Internets: "Shadow hatte den Eindruck, dass (...) die Augen des Jungen leuchteten - und zwar so grün wie ein vorsintflutlicher Computerbildschirm.»Also, du richtest Wednesday was aus. Sag ihm, er ist Geschichte. Niemand erinnert sich an ihn. Er ist alt. Und das sollte er besser akzeptieren. Sag ihm, dass wir die Zukunft sind und dass wir auf ihn und seinesgleichen einen Scheißdreck geben. Seine Zeit ist vorbei. (...)Sag ihm, dass wir die verdammte Realität neu programmiert haben«". Die Götterdämmerung zieht herauf, und die altern Götter kämpfen gegen die neuen ums Überleben. Stattfinden soll dieses letzte Gefecht auf dem Staatsgebiet der USA. Wer denkt sich dergleichen aus? Neil Gaiman ist kein Amerikaner, sondern Engländer; er wurde 1960 in Portchester in der südenglischen Grafschaft Hampshire geboren; allerdings lebt er seit 1992 in Wisconsin in den Vereinigten Staaten. Schon die Familie ist in bestimmter Weise amerikanisch orientiert gewesen, mit einem leichten Touch von Science-Fiction: Seine Eltern befassten sich mit Scientology, einer von dem SF-Autor L. Ron Hubbard ausgedachten Pseudo-Religion; Claire, eine der beiden Schwestern von Neil, arbeitete für die Kirche der Scientologen in Los Angeles. Auch Gaimans erste Frau, Mary McGrath, studierte Scientology. Neil Gaiman erklärte, nichts mit Scientology zu tun zu haben. Götter kommen in Gaimans Sicht nicht von Natur aus vor; schon gar nicht gehen sie dem Menschen voran, als Weltenschöpfer oder Beseeler von menschengestaltigen Lehmfiguren. Götter sind für Gaiman Kopfgeburten der Menschen; sie gehen, wohin der Mensch geht und sind daher gewissermaßen Kulturfolger. Die Ewigen benötigen keine Gläubigen, um zu existieren - die Götter sehr wohl Einige Grundlagen für seine menschenbasiert-polytheistische Theologie mag Neil Gaiman schon als Jugendlicher in seinen Lieblingsbüchern gefunden haben. Seine frühe Lektürebiografie umfasst mit "Herr der Ringe", den "Chroniken von Narnia", "Alice's Adventures in Wonderland" klassisch-fantastische Werke der englischen Literatur ebenso wie US-amerikanische Science-Fiction-Romane und die Batman-Comics von DC. Gaiman war früh in Richtung Graphic Novel unterwegs. Im Anschluss an einige kleinere, aber aufsehenerregende Arbeiten für das britische SF-Comic-Magazin "2000 AD" erhielt er eine Einladung: Er sollte für den US-amerikanischen Comic-Verlag DC eine von dessen älteren Figuren wiederzubeleben: den Sandman nämlich. Er tritt auch als Morpheus in Erscheinung, als Oneiros und als Traumweber und gehört - laut Gaimans Privatmythologie - zu den sogenannten Sieben Ewigen, die zugleich mit dem Universum entstanden sind, proto- oder metaphysische Gestalten, die in mancher Hinsicht den Göttern, wie sie bislang in Gebrauch waren, weit überlegen sind. Denn die Ewigen benötigen keine Gläubigen, um zu existieren. Die Götter dagegen sehr wohl. "Ich hatte für Sandman ein ganz und gar erdachtes Amerika erschaffen. Ein Amerika im Delirium, einen unwahrscheinlichen Ort jenseits der Grenzen des Realen.(...) Und ich habe damals neun Jahre in den USA gelebt. Lange genug, um zu begreifen, dass alles falsch war, was ich aus Film und Fernsehen gelernt habe. Ich wollte über Mythen schreiben. Ich wollte über Amerika als einen Ort der Mythen schreiben." Gaiman lässt die uralten mythischen Figuren in den realen USA umgehen - per Auto oder Flugzeug. Er versetzt sie ins reale Wisconsin und ins wirkliche Chicago, ins wirkliche San Francisco, Boulder, Dallas, Seattle, ins wirkliche Cairo, Illinois, und ins wirkliche Spring Green mit dem House on the Rock und seinem gigantischen Karussell, ins wirkliche Lakeside in den Northwoods. Die eingewanderten Götter mussten umschulen Die Grundidee aber bleibt gleich: Götter und Geistwesen wandeln auf der Erde - und treten mit ihren Erzeugern, den Menschen, in Verbindung. Denn der Menschen und ihres Glaubens bedürfen auch die neuen amerikanischen Götter - diese Inkarnationen von Technologien, die Menschenkraft himmelhoch transzendieren und Menschengeist in ihren Bann schlagen, diese Götter des Internets, der Flugzeuge, dieses Idol einer Börse, die ihre Taschenspielertricks mit immateriellen Einheiten vorführt, mit Ziffern, Zeichen, Aktienindizes. Darin unterscheiden sich die modernen Götter nicht von ihren Vorgängern. Die Idee, den bejahrten und verblühten Göttern des Altertums bis in die Gegenwart nachzuspüren, ist nicht neu. Hierzulande kennt man sie besonders schön ausgeführt von Heinrich Heine in seinem großen Aufsatz "Die Götter im Exil" aus dem Jahr 1853. Dort erzählt er davon, welche Umwandlungen "die griechisch-römischen Gottheiten erlitten haben, als das Christentum zur Oberherrschaft in der Welt gelangte": Apollo muss sich bei Viehzüchtern verdingen; Mars dient als Landsknecht; und so weiter. Auch bei Gaiman mussten die eingewanderten Götter umschulen. Allvater Odin schlägt sich als Trickbetrüger durchs Leben; Thot und Anubis, altägyptische Herrschaften, betreiben ein Bestattungsinstitut in Cairo, Illinois. Auch Bilquis, Königin von Saba außer Dienst, muss sich ihren Lebensunterhalt verdienen - wenn sie für ihre Dienste auch etwas mehr verlangt als bloßes Geld: "In einem dunkelroten Zimmer (...) steht eine große schlanke Frau in geradezu lächerlich engen Seidenshorts, die Brüste von einer gelben Bluse, die unter ihnen verknotet ist, nach oben und nach vorn gedrückt. Ihr schwarzes Haar ist aufgetürmt und zu einem Zopf geflochten. Neben ihr steht ein kleiner Mann (...).»Fünfzig Mäuse.«»Ja.«(...)»Okay, Süßer«, sagt sie. »Gleich. Aber machst du auch etwas für mich, während wir es tun?«»Hey«, sagt er, plötzlich gereizt, »wer bezahlt hier wen?«Sie setzt sich mit einer fließenden Bewegung rittlings auf ihn und flüstert. »Du natürlich, mein Süßer. (...) Süßer, während du es mir besorgst (...) möchte ich, dass du mir huldigst.« »Dass ich was?«(...)»Wirst du Göttin zu mir sagen? Wirst du mich anbeten? (...)«Er lächelt. Wenn das alles ist ...»Klar«, sagt er." Die groteske Konfrontation des Herabgekommen-Göttlichen mit dem Profan-Alltäglichen elektrisiert immer wieder. Schamlos bellestristisch Wunderdinge geschehen. Shadow begegnet seiner toten Frau, die ihm als Leichnam beisteht und sein Leben rettet. Shadow wird entrückt an einen Ort "hinter den Kulissen" der Welt, wo die Zeit zähflüssig wird oder auf Touren kommt, mit den Uhren jedenfalls nicht mehr zu fassen ist. Fabelwesen gehen um wie in den Randzonen von Herodots Welt. Eine Katze verwandelt sich in eine beinahe selbstlose Liebhaberin. Da ist ein Ort, dem es besser geht als andere, der arbeitslosenstatistisch besser dasteht als alle vergleichbaren Orte in den USA, nur, dass er sich dafür unter den Schutz eines Dämons stellen muss, der nicht weniger verlangt als ein Kind pro Jahr. Shadow träumt; Shadow gewinnt im Traum Einsichten in ganz andere Welten; Shadow muss, als Wednesday von den neuen Göttern getötet wird, vertragsgemäß seine Totenwache antreten und dazu neun Tage in der Esche hängen. Shadow stirbt im Baum. Shadow steigt hinab in das Reich der Toten. Shadow erkennt, wer er wirklich ist: der Sohn des Allvaters Odin. Dann kehrt Shadow zurück zu den Lebenden. Das Buch ist nicht nur handlungs- und wendungsreich; es ist geradezu schamlos belletristisch. Es wimmelt und sprudelt von mythologischen Anspielungen und Querverweisen. Es wird immerzu und viel gelesen. Man ertappt die Figuren mit Romanen von John Grisham in der Hand oder mit dem SF-Roman "Fremder in einer fremden Welt" von Robert A. Heinlein. Am Sterbebett seiner Mutter hat sich Shadow im Roman "Das Ende der Parabeln" von Thomas Pynchon vertieft. Ein großes und ein großartiges Buch Immer wieder kreuzt Gaiman Motive der amerikanischen Populärkultur mit mythischen Bildern und beleuchtet gleichmäßig beide Seiten: "Er hörte den Widerhall winziger Geräusche. Er hörte sogar, wie der Staub herabsank.Von diesem Ort hatte er geträumt (...): die endlose Gedächtnishalle der Götter, deren Namen in Vergessenheit geraten waren, und derjenigen, an deren Existenz sich nicht einmal irgendjemand erinnerte.Er wich einen Schritt zurück, ging zu dem Weg auf der anderen Seite hinüber und spähte in den Korridor hinein: Mit den schwarzen Plexiglaswänden, in die Lichter eingelassen waren, hätte das Disneyland sein können. Die bunten Lichter blinkten und blitzten, erweckten aus keinem bestimmten Grund den Anschein von Ordnung wie die Lichter an der Steuerkonsole eines Raumschiffs im Fernsehen." Unter den vielen Göttern und Menschen, die Shadow unterwegs trifft, ist Sam, mit vollem Namen Samantha Black Crow - eine Menschenfrau. Vermutlich. Aber was ist schon unwiderruflich festgestellt auf dem Territorium der amerikanischen Götter? Sam legt Shadow gegenüber ein umfassendes US-amerikanisches Glaubensbekenntnis ab: "Ich (...) glaube so ziemlich alles. Sie haben ja gar keine Ahnung, was ich glauben kann.(...) Ich kann Dinge glauben, die wahr sind, und ich kann Dinge glauben, die nicht wahr sind, und ich kann Dinge glauben, bei denen keiner weiß, ob sie wahr sind. Ich kann an den Weihnachtsmann glauben und an den Osterhasen, an Marilyn Monroe, die Beatles, Elvis und Mister Ed. (...) Ich glaube, dass (...) Jade getrocknetes Drachensperma ist und dass ich in einem früheren Leben vor tausenden von Jahren ein einarmiger sibirischer Schamane war. Ich glaube, dass die Bestimmung der Menschheit in den Sternen liegt.(...)" Soviel Glaube - gut für die Götter, die althergebrachten wie die aktuellen, für die Götter aus aller Welt und allen Zeiten und für die American Gods. "Ich wollte ein dickes, merkwürdiges, ausschweifendes Buch schreiben, und das tat ich auch." Nun liegt der Text, wie vom Titelbild verkündet, in einem "Director's Cut" vor, von Hannes Riffel vorzüglich übersetzt. In dieser ungekürzten Version werden die wahren Dimensionen der "American Gods" noch deutlicher sichtbar: Es ist ein großes und ein großartiges Buch. Neil Gaiman: American Gods, Directors Cut, Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. 672 Seiten, Eichborn/Bastei Lübbe Verlag, Köln 2015, 14,00 Euro.
Von Hartmut Kasper
Götter und Geisterwesen, die auf der Erde wandeln, sind kein neues Erzählmotiv. Neil Gaiman belebt es in seinem neuen Roman "American Gods" trotzdem wieder - und das herausragend. Darin kämpfen die alten Götter wie Odin oder Anubis gegen die neuen Götter - die des Aktienmarktes oder des Internets. Ein fantastisches Epos im Rang von "Alice im Wunderland" oder "Herr der Ringe".
"2015-08-02T16:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:51:19.390000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neil-gaiman-american-gods-goetter-am-abgrund-100.html
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Bombenhagel auf Daraa
Auch die syrische Armee bombardiert Daraa (dpa/picture alliance/Ammar Safarjalani) In einem jordanischen Armeelazarett in der Nähe der Grenze zu Syrien behandeln Ärzte verletzte und geschwächte Syrer. Die Patienten seien zumeist Frauen und Kinder, erläutert der Militärarzt Muhammad Jayousi, aber auch ältere Menschen und solche, die behindert sind oder an chronischen Krankheiten leiden. In den Zelten des Lazaretts liegen sie auf Feldbetten. Unter ihnen Abu Ziyad, dem gerade der rechte Fuß verbunden wird. Die Situation im Südwesten Syriens sei schlimm, erzählt er: Kampfflugzeuge, Luftangriffe, Bomben, die Menschen zerfetzt hätten. Am Donnerstag haben die syrische und die russische Luftwaffe ihre Angriffe auf Ziele in der Provinz Deraa im Südwesten Syriens noch einmal verstärkt. Die Lage der Flüchtenden verschlechtere sich ständig, betont Anders Pedersen, der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen in Jordanien. "Die Situation entwickelt sich vom schlimmsten möglichen Szenario zu einem unvorstellbaren. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern." Am Mittwoch scheiterten Verhandlungen zwischen den Aufständischen in der Provinz und der russischen Armee. Kurz darauf wurden die Bombardements intensiviert. Am Donnerstag sollen innerhalb weniger Stunden Hunderte von Bomben niedergegangen sein, berichtet die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben nicht unabhängig überprüft werden können. Etliche Augenzeugen aus verschiedenen Orten in dem Gebiet schildern ähnliches. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP, der sich im Süden der Provinzhauptstadt Deraa aufhält, beschreibt die Angriffe als die stärksten seit Beginn der Offensive vor gut zwei Wochen. Flucht vor Angriffen Zuerst brauche man eine Waffenruhe. Nur dann könne eine humanitäre Katastrophe verhindert werden, erklärte der jordanische Außenminister Ayman al-Safadi am Mittwoch in Moskau. Seine Regierung habe zusammen mit Russland und den USA eine Deeskalationszone für die Provinz Deraa ausgehandelt, und sie fühle sich dieser Vereinbarung immer noch verpflichtet. Die Vereinbarung erlaubt es, trotz Waffenruhe die Extremisten von der einstigen Nusra-Front und vom IS zu bekämpfen. Die gibt es zwar in der Provinz, aber nach übereinstimmenden Berichten sind es mehrheitlich Aufständische anderer Gruppen, die dort aktiv sind. Der russische Außenminister Sergej Lavrov besteht offenbar trotzdem darauf, dass die Armeen Syriens und Russlands im Rahmen der Abmachungen handeln. Die Vereinbarung über die Deeskalationszonen würde eine Reihe von Optionen zulassen, erklärte er in Moskau vage. Gleichzeitig verlange sie, dass es gegenüber den Milizen der Nusra-Front und des IS keine Nachgiebigkeit geben dürfe. Nach Angaben der Vereinten Nationen könnten es inzwischen bis zu 330.000 Menschen sein, die vor den Angriffen fliehen. Die meisten suchen Schutz an der Grenze zu Jordanien oder in der Nähe der Golanhöhen, die Israel besetzt hält. Jordanien lässt flüchtende Syrer derzeit nur ins Land, wenn sie medizinische Nothilfe brauchen.
Von Jürgen Stryjak
Die syrische Provinz Daraa ist eine der letzten Regionen, die von oppositionellen Kräften gehalten wird. Verhandlungen zwischen Rebellen und Russland sind gescheitert. Nun wird die Gegend noch heftiger bombardiert. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bereits Hunderttausende vor den Angriffen fliehen.
"2018-07-06T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:00:34.925000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-krieg-bombenhagel-auf-daraa-100.html
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Lesung und Gespräch mit Preisträgerin Judith Schalansky
Die Schriftstellerin Judith Schalansky (imago / Lichtgut) Der Raabe-Preis ist mit 30.000 Euro einer der höchstdotierten im deutschsprachigen Raum und einer der renommiertesten. Er wird vergeben für ein in deutscher Sprache verfasstes erzählerisches Werk, das eine wichtige Etappe in der Entwicklung des jeweiligen Autors darstellt. Das Buch muss im Jahr der Preisvergabe erschienen sein. Der Raabe-Preis selbst geht zurück auf das Jahr 1944, als Ricarda Huch ausgezeichnet wurde. Ein Neuanfang nach zehn Jahren Pause wurde dann im Jahr 2000 gemacht, mit dem Deutschlandfunk, mit neuen Statuten und einem Pool von rund 20 ausgezeichneten Juroren, die rochieren, so dass die jeweils neunköpfige Jury in jedem Jahr auf einigen Positionen verändert ist. In diesem Jahr sind u. a. mit von der Partie: Prof. Dr. Moritz Baßler, Germanist an der Universität Münster Prof. Dr. Gert Biegel, Vorsitzender der Wilhelm-Raabe-Gesellschaft Alexander Cammann, ZEIT-Redakteur Thomas Geiger, Programmleiter des LCB in Berlin Dr. Anja Hesse, Kulturdezernentin der Stadt Braunschweig Dr. Michael Schmitt, Literaturredakteur der Sendung ,Kulturzeit' bei 3sat Prof. Dr. Renate Stauf, Literaturwissenschaftlerin an der Technischen Universität Braunschweig Katharina Teutsch, Literaturkritikerin aus Berlin Hubert Winkels, Literaturredakteur im Deutschlandfunk und Vorsitzender der Jury In einem Festakt im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig wurde schließlich am 4. November - immer der Sonntag, der dem Todestag Raabes am nächsten liegt - der Raabe-Preis verliehen. Nach Reden des Intendanten des Deutschlandfunks und des Oberbürgermeisters der Stadt wurde, immer aufgelockert durch Musik, eine Laudatio gehalten und der Preisträger bedankte sich mit einer Rede. Diesen Festakt übertragen wir in voller Länge und fügen ihm ein Gespräch und eine Lesung der Preisträgerin an, die am Abend vorher, in der "Langen Nacht der Literatur" in Braunschweig stattgefunden hat.
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Zum 14. Mal vergibt der Deutschlandfunk gemeinsam mit der Stadt Braunschweig den Wilhelm Raabe-Literaturpreis. In diesem Jahr erhält ihn die Berliner Buchgestalterin, Herausgeberin und Autorin Judith Schalansky für ihren Band mit Prosa, die sich zwischen Poesie, Erzählung, Wissenschaft und Essayistik bewegt. Der Titel des Buches: "Verzeichnis einiger Verluste".
"2018-11-24T20:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:19:20.172000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wilhelm-raabe-literaturpreis-2018-lesung-und-gespraech-mit-100.html
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Wetzel: "Die alte Bundesregierung hat Wildwuchs betrieben"
Silvia Engels: Seit dem Jahr 2000 ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft. Verbraucher zahlen einen Aufschlag auf den Strompreis, der soll im Umkehrschluss die Produzenten von Ökostrom entlasten, ihnen helfen. Zahlreiche Unternehmen sind von dieser Umlage befreit, und genau das ruft nun die EU-Kommission auf den Plan. Sie übt seit Monaten Kritik und will ab heute prüfen, ob diese Entlastungen unrechtmäßige Beihilfen sind. Am Telefon ist Detlef Wetzel, er ist Vorsitzender der IG Metall. Guten Morgen, Herr Wetzel! Detlef Wetzel: Schönen guten Morgen. Engels: Ist es für Sie grundsätzlich Teufelszeug, die Befreiungen und Preisrabatte für bestimmten Industriestrom zu beschneiden? Wetzel: Nein. Wissen Sie, Frau Engels, es ist Folgendes: Wir sagen, eine energieintensive Industrie, die im internationalen Wettbewerb steht, die muss von den zusätzlichen Kosten, die durch die Energiewende entstehen, befreit werden. Wir sprechen uns nicht für eine generelle Befreiung der Industrie von der EEG-Umlage aus. Hier geht es um die energieintensive und um die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Engels: Was halten Sie dann von dem Konzept, die Zahl der derzeit von der Ökostromumlage entlasteten Firmen zusammenzustreichen? Die ist ja zuletzt stark gestiegen. Wetzel: Da sind wir sehr für. Die alte Bundesregierung hat ja die Kriterien auch stark verändert. Früher musste man 10 Gigawatt Strom verbrauchen im Jahr, um überhaupt ein energieintensives Unternehmen zu sein. Das ist auf ein Gigawatt heruntergesetzt worden. Die alte Bundesregierung hat auch hier Wildwuchs sozusagen zugelassen. Schlimm ist jetzt nur, dass durch dieses Beihilfe-Prüfverfahren auch die Unternehmen, die zweifelsfrei eine Befreiung benötigen, in den Fokus kommen und damit viel Schaden für die deutsche Industrie angerichtet werden kann. Engels: Da spielen Sie vor allen Dingen auf Firmen der Stahl- und Aluminiumindustrie an, die ja viel Energie verbrauchen. Welche Firmen sind es denn auf der anderen Seite, die Ihrer Meinung nach diese Entlastungen von hohen Stromkosten nicht mehr bekommen sollen? Wetzel: Auf alle Fälle Firmen, die nicht zehn Gigawatt Strom benötigen, und vor allen Dingen nicht die, die gar nicht im internationalen Wettbewerb stehen. Wir haben ja die Listen öffentlich sehen können, dass dort sehr viele Firmen auch befreit worden sind, die gar nicht im internationalen Wettbewerb stehen, die also gar kein Problem haben, aus Konkurrenzgründen diese Strompreise nicht zu bezahlen. Da hat die alte Bundesregierung Wildwuchs betrieben und die Zahl der befreiten Betriebe unverhältnismäßig ausgeweitet. Aber das ist noch kein Grund, warum die europäische Kommission nun auch alle die anderen Firmen auf den Prüfstand stellt. Hier wächst bei mir der Verdacht, dass die EU-Bürokratie auch noch einen geheimen Plan hat, die Energiewende in Deutschland wieder zurückzudrehen. Engels: Wie steht es denn dann, wenn wir bei den Firmen mal bleiben, mit Firmen, die durchaus im internationalen Wettbewerb stehen, aber vielleicht nicht so präsent wie eben Stahl und Aluminium, beispielsweise Schokoladenproduzenten oder Mineralwasserfirmen, die derzeit zum Teil auch entlastet werden? Wetzel: Ich habe es eben schon gesagt. Für uns sind die Kriterien entscheidend. Wir plädieren sehr dafür, dass die Regelung, die ja schon viele, viele Jahre gegolten hat, nämlich zehn Gigawatt Stromverbrauch im Jahr, dass man diese Grenze wieder einführt, und dann sind alle diejenigen, die auch Strom benötigen in einem größeren Umfang als ein privater Haushalt, aber nicht so stark anteilsmäßig belastet sind durch Stromkosten, dass sie auch diese zusätzlichen Stromkosten tragen könnten. Wenn wir vielleicht ein paar Hundert Firmen weniger hätten, die von der EEG-Umlage befreit sind, dann wäre das richtig. Aber das würde nicht die Initiative der EU-Kommission infrage stellen, denn die sagen nicht, es sind zu viele Firmen, sondern die sagen, grundsätzlich ist dieses Instrument rechtlich nicht zulässig, und das ist das, was wir wirklich aufs Schärfste zurückweisen und verurteilen. Engels: Aber für Sie bleibt die Hauptsache, dass die Firmen entlastet bleiben, wo IG-Metall-Mitglieder drinstecken? Wetzel: Es geht nicht um IG-Metall-Mitglieder. Die chemische Industrie zum Beispiel ist auch ganz, ganz stark betroffen, die Kupfer erzeugende, die Aluminium erzeugende und die Stahl erzeugende Industrie, die aus technischen Prozessen bedingt eben so viel Energie benötigen. Es geht nicht nur um IG-Metall-Betriebe; es geht genauso um chemische Betriebe. Das heißt, das produzierende Gewerbe, die Industrie in Deutschland, die ist betroffen. Engels: Je umfassender die Ausnahmen für Firmen sind, umso mehr müssen das die Verbraucher über ihren steigenden Strompreis ausgleichen. Klagen nicht auch IG-Metall-Mitglieder über zu teueren Strom? Wetzel: Ja, und deswegen ist ja die große Kunst des neuen Wirtschaftsministers, hier nicht nur die Industrie zu schützen vor übermäßigen Belastungen, dass Arbeitsplätze verloren gehen, sondern auch der private Verbraucher ist natürlich zu schützen vor übermäßiger Beanspruchung durch die Kosten der Energiewende. Da gibt es ja Vorschläge genug. Der, der am meisten profitiert zurzeit von steigenden Strompreisen, das ist der Staat ja selber, indem er die Umsatzsteuer auf diese Erhöhungen sogar erhebt. Er hat eine Stromsteuer auf Energie erhoben. Also hier muss was für die privaten Verbraucher auch getan werden. Aber wir dürfen aus meiner Sicht natürlich nicht ausspielen die Befreiungstatbestände einiger weniger notwendiger Industrien, damit keine Arbeitsplätze verloren gehen. Das kann man nicht dagegenstellen, dass der private Verbraucher entsprechend betroffen ist, sondern hier müssen wir die Interessen sorgfältig abwägen und der Staat kann eine ganze Menge tun, um die privaten Verbraucher zu entlasten. Wir fordern schon seit mehreren Jahren, dass die Stromsteuer reduziert wird und dass auf die Erhöhungen der EEG-Umlage nicht auch noch Mehrwertsteuer gezahlt wird. Dann könnten wir mit einem Schlag 20 Prozent der Steigerungskosten reduzieren, wenn der Staat auf die Mehrwertsteuer auf diese Erhöhungsbeträge zum Beispiel verzichten würde. Engels: Wie wäre es denn damit, auch die Subventionen für die Solarmodul-Hersteller und Windanlagen-Bauer zu kappen? Wetzel: Wissen Sie, diese Energien oder diese Technologien sind ja überhaupt erst entstanden dadurch, dass es die EEG-Umlage gab, dass es garantierte Einspeisevergütungen gab. Engels: Aber irgendwann müssen sie auch in den Wettbewerb. Wetzel: Und das ist auch richtig. Da plädieren wir sehr für. Wir plädieren dafür, dass sukzessive die Subventionen, die unterstützenden Zahlungen für diese Technologien auch aufgelöst werden. Aber das ist ja auch schon längst der Fall. Die Zuschüsse, die gezahlt werden für die verschiedenen Stufen der Technologieentwicklung im Sinne von einer natürlich abnehmenden Höhe, das ist ja heute auch schon Gesetz und auch schon Praxis. - Ja, die Erneuerbaren Energien, die müssen auch zu einem bestimmten Zeitpunkt wettbewerbsfähig für sich gestellt in der Lage sein, kostengünstigen Strom zu produzieren, was übrigens bei dem Bereich Solar und bei dem Bereich Windenergie an Land auch heute schon der Fall ist. Engels: Sie haben schon im Vorfeld gewarnt, Herr Wetzel, dass es Tausende von Arbeitsplätzen kosten könnte, wenn die EU-Kommission verfügt, dass neben Neuregelungen auch bereits gewährte Entlastungen von der Industrie zurückgezahlt werden müssten. Haben Sie da konkrete Hinweise, dass es wirklich so weit kommt, oder haben Sie Interesse, da einen Teufel an die Wand zu malen? Wetzel: Wir malen keinen Teufel an die Wand, und wenn die EU-Kommission heute bei ihrem Eröffnungsbeschluss vielleicht schon einige Dinge etwas nicht so weitgehend formuliert, wie sie es noch vor einigen Wochen gemacht haben, dann ist das ja gerade den Protesten nicht nur der IG Metall oder der chemischen Industrie oder der Stahlindustrie verursacht, sondern das hat ja eine ganz breite Debatte gegeben, und wir hoffen, dass diese Debatte auch schon dazu geführt hat, dass der Eröffnungsbeschluss dieses Beihilfeverfahrens nicht so scharf ausfällt, wie das noch vor einigen Wochen der Fall gewesen ist. Engels: Das heißt, Sie haben Anzeichen dafür? Wetzel: Ja. Ich weiß auch nur das, was veröffentlicht worden ist, und heute Morgen habe ich bei Ihnen im Sender ja auch schon gehört, was dazu gesagt worden ist, und da ist ja es vielleicht möglich, dass es nicht ganz so scharf formuliert worden ist, wie ursprünglich angedacht. Aber das müssen wir uns erst anschauen, wenn dieser Eröffnungsbeschluss heute im Laufe des Tages auch wirklich der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Engels: Die EU-Kommission stellt heute ihre Vorschläge vor, wie sie jetzt umgehen will mit dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz. Wir sprachen darüber mit Detlef Wetzel, er ist der Vorsitzende der IG Metall. Vielen Dank für das Gespräch. Wetzel: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Detlef Wetzel im Gespräch mit Silvia Engels
Energieintensive Industrien im internationalen Wettbewerb müssten von den zusätzlichen Kosten der EEG-Umlage befreit werden, fordert der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel im Deutschlandfunk. Die Zahl der befreiten Betriebe sei aber unverhältnismäßig ausgeweitet worden. Der Staat könne zudem "eine ganze Menge" zur Entlastung privater Verbraucher tun.
"2013-12-18T07:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:51:42.041000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eeg-umlage-wetzel-die-alte-bundesregierung-hat-wildwuchs-100.html
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Gibt es schon Corona-Kunst?
Mona Lisa mit Maske - ein Werk der Kölner Künstlerin Ursula Düster (imago images / Future Image) Zunächst müsste man den Begriff Corona-Kunst eingrenzen: Einmal fällt durch die Pandemie und die Lockdowns ein Großteil der gewohnten globalen Infrastruktur des Kunstbetriebes aus, viele Aktivitäten von Künstler*innen verlagern sich ins Netz. Auch das ist eine Art von corona-bedingter Kunst, für die es inzwischen schon eine ganze Datenbank gibt.Dazu gehören aber auch außerhalb des Netzes Solidaritäts- und Förderprojekte. Seit einigen Wochen läuft zum Beispiel eine Projektausschreibung der Stadt München zum Thema Social Distancing. Dann gibt es eher dokumentarische Arbeiten, wie prominenterweise der Film "Coronation" von Ai Weiwei aus diesem Jahr, der sich als Collage von Handyfilmen dem Ausbruch der Pandemie in China widmet, wo man all die einschlägigen äußeren Merkmale der Krise sieht: Die Schutzkleidung in den Krankenhäusern, die Beatmungsstationen, die Straßensperren, die menschenleeren Städte im Lockdown. Eine Katastrophe allein macht noch keine Kunst Aber Arbeiten, die die Naturkatastrophe unverwechselbar zu einem Zeichen, zu einem Mythos des 21. Jahrhunderts umformen, fehlen momentan. Im Gegenteil: Viele Künstler*innen sagen ganz offen, ihnen falle zu Corona eigentlich nichts ein. Für einen Mythos fehlt der Corona-Krise wohl noch das große, signifikante Geheimnis. Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern. Der oft bemühte Vergleich mit der Spanischen Grippe zeigt auch: Eine Katastrophe riesigen Ausmaßes, mit Auswirkungen auch in der Kunst wird nach einiger Zeit überlagert und verdrängt von anderen historischen Zäsuren, in jenem Fall dem Ende des Ersten Weltkrieges, dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, Weltwirtschaftskrise usw. und die Kunst schließlich subsumiert unter dem Begriff der Moderne. Und so sind auch in der Corona-Krise etliche Themen angelegt, die schon vorher da waren und auch noch viel grundsätzlicher erscheinen: Die Klimakrise, neuer Nationalismus, soziale Exklusion, der Einfluss von Verschwörungstheorien, generell die Phase des Posthumanismus, die später möglicherweise das Corona-Thema überlagern werden. Kunst für das Familienalbum Dass wir überhaupt über Corona-Kunst sprechen, hat vielleicht weniger mit Corona zu tun, als mit einem zunehmend musealen Verhältnis zur Wirklichkeit, das dieser posthumanistischen Phase geschuldet ist. Diese Tendenz lässt sich gut in den letzten Jahrzehnten beobachten. Immer wenn etwas allgemein Erschütterndes passiert, wird nach Kunst oder Literatur gerufen. Das war bei der Wiedervereinigung so, bei 9/11, der Finanzkrise, der Klimakrise, und jetzt selbstverständlich auch bei Corona. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Die Rolle, die Geschichte dabei bekommt, lässt es so erscheinen, als seien wir nur noch passive Zuschauer, Konsumenten der Geschichte, die irgendwie außer Kontrolle ist, und wollten unsere Erlebnisse für kommende Generationen verewigt wissen. Das wäre sozusagen die Familienalbum-Variante. Aber es geht auch umgekehrt, dass wir, in welchem geringen Umfang auch immer, selbst immer schon an dieser Geschichte mitwirken. Dann bräuchten wir aber eigentlich auch keinen Mythos mehr, den die Kunst beisteuert.
Von Carsten Probst
An aktueller Kunst, die sich mit Corona auseinandersetzt, herrscht kein Mangel. Aber haben Arbeiten, die im Kontext der Pandemie entstehen, wirklich derart markante Eigenarten, dass sie sich von allen anderen abheben und nachwirken? Unser Kunstkritiker Carsten Probst ist skeptisch.
"2020-11-14T17:35:00+01:00"
"2020-11-15T11:51:04.429000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlich-mal-erklaert-gibt-es-schon-corona-kunst-100.html
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Renaissance der Stadtwerke
In der Tat sprechen die drei Veranstalter bereits von einer Renaissance der Kommunalgesellschaft. Der Deutsche Städtetag führt dieses Umdenken unter anderem auf negative Erfahrungen zurück: Die Privatisierungswelle habe nicht immer zum Vorteil der kommunalen Versorgung beigetragen, die Preise seien gestiegen, es fehle an Transparenz und Verbraucherfreundlichkeit. Dadurch habe auch in der Öffentlichkeit und in der Politik ein Umdenken eingesetzt.Die Zeit sei auch deshalb günstig, weil aktuell inzwischen viele Konzessionsverträge wieder ausliefen, die Kommunen somit vor der Entscheidung stünden, wie es weitergehe. Monika Kubahn ist stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetages."Für uns hat es nie einen Zweifel daran gegeben, dass öffentliche Daseinsvorsorge, und dazu gehört eben auch die öffentliche Infrastruktur, eine Aufgabe der öffentlichen Hand ist. Dass die Bürger davon profitieren, wenn sich die öffentliche Hand auch in diesen Bereichen engagiert."Der Städtetag geht davon aus, dass in allen Tätigkeitsbereichen in Deutschland, das können der Energie- und Wasser- oder auch der Verkehrs- und Abfallbereich sein, rund 20.000 Konzessionsverträge allgemein bestehen, davon stünden derzeit rund 780 zur Verlängerung oder eben auch zur Kündigung an. Die Kommunen hätten somit Handlungsspielräume, die sie nutzen sollten. Ein gutes Beispiel dafür: In Folge des Verkaufs einer Energiesparte des Unternehmens "E.on" mit dem Namen Thüga haben sich erst neulich Stadtwerke wieder neu gegründet. Die Energieversorgung steht deshalb auch im Mittelpunkt der Überlegungen. Zeit zum Handeln, sagt Monika Kubahn."Wir sollten die Zeit der auslaufenden Konzessionsverträge nutzen: Zum einen innerhalb der Verträge - da könnten dann entsprechende Konditionen untergebracht werden. Zum anderen aber auch durch einen Wiedereinstieg in den Markt. Durch den Einstieg der kommunalen Stadtwerke gibt es mehr Wettbewerb und die Versorgung in diesem Bereich wird nicht mehr nur dem Renditeaspekt folgen, sondern auch den Themen Versorgungssicherheit und Umweltqualität."Über die energiepolitische Zukunft soll also unter anderem auch direkt vor Ort in den Kommunen entschieden werden. Die Stadtwerke hätten in der Bevölkerung zudem eine hohe Akzeptanz. Auch langfristig sieht man sich auf der richtigen Seite, denn gerade im Energiebereich stünden derzeit wichtige Weichenstellungen an. Hans-Joachim Reck, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes Kommunaler Unternehmen, positioniert sich deshalb recht eindeutig: Es gehe künftig darum, auch beim Klimaschutz Vorreiter zu sein."Der Punkt ist der, dass der energiepolitisch notwendige Umbau dezentral erfolgen wird. So wird die Kraft-Wärme-Kopplung einen ganz entscheidenden Ausbaustandard bekommen - zur Garantie nachhaltiger Energieproduktion. Nachhaltige Energieformen wie Biomasse, Windkraft und andere sind auch meist dezentral. Auch das Thema Energieeffizienz, nicht zuletzt auch in öffentlichen Gebäuden, sind dezentrale Fragestellungen, die jetzt unsere Geschäftsmodelle auch neu begründen."Mit einer heute vorgestellten gemeinsamen Publikation wollen die drei Veranstalter auch den Entscheidungsträgern in den Kommunen eine Arbeitshilfe bieten. Hier sind viele Beispiele bereits erfolgter Übertragungen auf die kommunalen Träger enthalten. Es geht auch um rechtliche und wirtschaftliche Aspekte, die es bei solch gravierenden Schritten zu berücksichtigen gilt. Klar ist auch, die Kommunen werden dann in diesen Bereichen auch investieren müssen. Bei der Energieversorgung etwa auch in den Netzausbau, sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindetages."Es ist ein wesentlicher Punkt: Die Kommunen müssen prüfen, ob sie sich das leisten können. Energiefragen sind ja auch wirtschaftlich interessant. Die Energiepreise werden natürlich wieder deutlich ansteigen, damit sind auch Chancen verbunden. Meist geht es aber nicht erstrangig um das Geldverdienen, es geht um andere Leistungen, die man damit verbindet. Das sind Stichworte wie alternative Energien, Energieberatung - all das muss eine Stadt oder Kommune prüfen. Wir sagen ja nicht, dass jetzt überall Stadtwerke gegründet werden sollen. Wir sagen aber, dass jeder das Potenzial eines auslaufenden Konzessionsvertrages prüfen sollte."Die Kommunen sollen somit künftig eine stärkere Rolle spielen, so die drei Verbände, vor allem im Energiebereich.
Von Dieter Nürnberger
Als in den 90er-Jahren in vielen Kommunen Geld fehlte, da wurde verkauft, was verkauft werden konnte. Viele Städte gaben die Strom-, Wasser- und Gasversorgung aus der Hand und überließen diesen Markt den großen Energiekonzernen. Mittlerweile bereuen viele Kommunen diesen Schritt.
"2009-08-19T11:35:00+02:00"
"2020-02-03T10:05:53.984000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/renaissance-der-stadtwerke-100.html
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Der Kinderfreund als Kinderschänder
"Now for the first time we explore ..."Es war nicht die BBC, sondern der britische Privatsender itv, der die Nation schockierte als er Anfang des Monats die andere, dunkle Seite der Fernsehikone Jimmy Savile aufdeckte. Savile, eine Institution der BBC, DJ der Top of the Pops, Moderator zahlloser Kindersendungen."Your letter was only the start of it ... "In Jim’ll Fix it, Jim wird’s richten, erfüllte der exzentrische Clown mit dem strohblonden Prinz-Eisenherz-Haarschnitt Kinderwünsche vor einem Millionenpublikum. "Jim’ll fix it." Vor einem Jahr verstarb Sir Jimmy Savile mit 84 und Zehntausende säumten die Straßen in Leeds, als sein Sarg vorbeigefahren wurde."Rolls Royce, Goldketten, viele Häuser, Weltreisen, berühmte Freunde – vom Tanzpalast zum Radio, zum Fernsehen, in Paläste und zur Ritterschaft,"so würdigte ein Freund von der Kanzel das Leben dieses "Königs des Herzen". Ein Jahr später ist der König vom Sockel gestürzt, das pompöse Grabmal von der Familie zerstört und abgetragen worden aus Angst vor der Wut der Fans - "Rest in pieces", spottet das Boulevardblatt Sun. Denn ITV hatte am 3. Oktober enthüllt, dass der BBC-Mann sechs Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche missbraucht hat, meist am Rande seiner Shows in seiner Garderobe."Jim hat nicht geküsst oder Gefühle gezeigt, es gab kein Vorspiel – nur das, was er wollte, rein – raus und das war’s. Und nachher – als wäre nichts geschehen."Aber er bedrohte seine Opfer, den Mund zu halten und deren Angst war so groß, dass sie sich erst nach Saviles Tod an die Öffentlichkeit trauten – zu Dutzenden. Die Polizei geht inzwischen von über 200 möglichen Missbrauchsopfern aus. Besonders erschreckend ist, dass Saviles kriminelle Neigung ein offenes Geheimnis war. Zeitungsreporter erzählten Rodney Collins schon Anfang der 70er-Jahre: "Wir haben diese Beschuldigungen gehört, Rodney. Wir wissen, dass es sie gibt, aber keine Zeitung wird sie bringen, egal ob wahr oder nicht, weil Jimmy eine Menge spendet an Wohltätigkeitsorganisationen, er ist so populär, den können wir nicht angreifen."Rodney Collins war Pressesprecher der BBC, er war von seinem Vorgesetzten los geschickt worden, um herauszufinden, ob die Boulevardpresse Stories über Savile und seine Mädchen in der Schublade hatte. Die Entwarnung beruhigte den Aufseher der BBC-Radioprogramme 1 und 2. Doch die Gerüchte um Savile verstummten nie. Im Jahr 2000 fragte ein BBC-Journalist Jimmy Savile in einem Filmporträt, wieso er öffentlich behauptet habe, Kinder nicht zu mögen. Saviles Antwort: "Es ist für mich als Junggeselle einfacher zu sagen: Ich mag keine Kinder. Das hält eine Menge lüsterner Boulevardjournalisten von der Jagd ab." Auch in den letzten Wochen machte die BBC keine gute Figur. Die Direktoren des öffentlich-rechtlichen Senders taten zunächst so, als ginge sie der Skandal nichts an und der neue BBC-Generaldirektor George Entwistle sagte: "Die BBC hat nicht die Möglichkeit, Leute zur Befragung zu zwingen, die nicht länger für sie arbeiten, oder Beweise sicherzustellen. Und die Polizei hat mich explizit gebeten, nichts zu tun, was eine kriminaltechnische Untersuchung beeinträchtigen könnte."Die anfängliche Weigerung, eigene Nachforschungen anzustellen, empörte konservative Politiker und Murdochblätter wie die Sun, die lustvoll auf die BBC eindrosch und schon kommentierte, der Savile-Skandal stelle das eigene Phonehacking-Vergehen bei Weitem in den Schatten. Auch der BBC wohlgesonnene Politiker wie Labour-Vizechefin Harriet Harman sind entsetzt:"Was den Abscheu noch vertieft, ist, dass der Missbrauch bei der BBC geschah, einer Institution, die so geschätzt und der so vertraut wird, dass sie als Tantchen bekannt ist. Das aber hat die BBC befleckt." Die hat nun drei eigene interne Nachforschungen angekündigt: vor allem über ihre komplizenartige Unternehmenskultur, die Saviles Treiben in BBC-Räumen so lange möglich machte und stillschweigend duldete. Auch hat sich ihr Generaldirektor öffentlich bei den missbrauchten Frauen entschuldigt. Labour-Chef Ed Miliband reicht das nicht. Er verlangt eine unabhängige, öffentliche Aufarbeitung"Ich bin ein großer Unterstützer der BBC, aber man kann sie nicht die eigene Untersuchung machen lassen. Den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, heißt, dass die Institution, wo das alles geschehen ist, und wo möglicherweise Leute wussten, was vor sich ging und falsch war, nicht ihre eigene Untersuchung durchführt, sondern dass die von außen geleitet wird." Zu alledem steht die renommierte Rundfunkanstalt im Verdacht, im letzten Dezember eine kritische Sendung über den Kinderschänder Savile aus dem Programm genommen zu haben. Die BBC-Geschäftsleitung weist jeden Zensurverdacht zurück und behauptet, es sei um ein anderes Thema gegangen; doch eine nun bekannt gewordene interne email weist darauf hin, dass es explizit um den Missbrauch durch Savile gehen sollte. Auch dieser Vorfall ist Gegenstand einer internen Untersuchung; nächste Woche steht Generaldirektor Entwistle den Parlamentariern Rede und Antwort und am Montagabend will auch die BBC endlich eine eigene, investigative Sendung über ihre einstige Legende ausstrahlen.
Von Jochen Spengler
Vor einem Jahr verstarb mit Sir Jimmy Savile eine Fernsehikone der BBC. Anfang Oktober schockierte der Bericht eines britischer Privatsenders die Nation: Er enthüllt, dass der BBC-Mann sechs Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche missbraucht hat, meist am Arbeitsplatz.
"2012-10-20T17:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:30:05.771000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-kinderfreund-als-kinderschaender-100.html
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Highlights und Enttäuschungen
Sein neues Album führte im Gespräch zu einigen Diskussionen, nicht aber über seine sängerische Leistung: der Bariton Holger Falk. (Kaupo Kikkas) Die besprochenen CDs: Highlights: Dirty MindsLieder von Schubert, Wolf, Schoenberg, EisslerOlivia Vermeulen, MezzosopranJan Philip Schulze, KlavierChallenge Verdi: OtelloJonas Kaufmann, Carlos Alvarez, Federica LombardiAntonio Pappano, LeitungOrchestra dell'Accademia Nazionale di Santa CeciliaSony Classical OctetsStreichoktette von Mendelssohn Bartholdy und EnescoMeta4, StreichquartettGringolts Quartet, StreichquartettBIS Entdeckungen/Überraschungen: BarricadesWerke u.a. von Couperin, Rameau, Marais, CharpentierJean Rondeau, CembaloThomas Dunford, LauteErato La Passionemit Werken von Nono, Haydn und GriseyBarbara Hannigan, Sopran und LeitungLudwig OrchestraAlpha Classics Il Gondoliere Venezianomit Werken u.a. von Vivaldi, Cerutti, MayrHolger Falk, Baritonnuovo aspettoMerzouga, elektroakustisches DuoProspero Enttäuschungen: Beethoven: Songs and FolksongsIan Bostridge, TenorAntonio Pappano, KlavierWarner Bach: RedemptionAnna Prohaska, SopranLautten CompagneyAlpha Classics Mozart: Messe in c-Moll "Große Messe"Ana Maria Labin, SopranAmbroisine Bre, MezzosopranStanislas De Barbeyrac, TenorNorman Patzke, BaritonMarc Minkowski, LeitungLes Musiciens du LouvrePentatone
Eleonore Büning und Bjoern Woll im Gespräch mit Jonas Zerweck
Drei Personen, neun neue CDs: Eleonore Büning, Bjørn Woll und Jonas Zerweck diskutieren über Tops und Flops auf dem Plattenmarkt der letzten Monate. Welche Aufnahmen lohnen sich? Welche enttäuschen?
"2020-09-02T22:05:00+02:00"
"2020-09-04T17:09:16.314000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anspiel-die-diskussionsrunde-highlights-und-enttaeuschungen-100.html
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Jesus in der Kneipe
Jörg Ratgebs Herrenberger Altar von 1519 (Staatsgalerie Stuttgart) Hier das Drunter und Drüber einer wilden Kneipen-Runde.Dort die Würde und Erhabenheit einer ruhigen Gelehrten-Tafel.Hier die Kneipenrunde des Malers Jörg Ratgeb.Dort die Gelehrten-Tafel des Malers Lucas Cranach. Zwei Abendmahlsdarstellungen. Beide Abendmahlsdarstellungen - sowohl die Kneipenrunde von Ratgeb als auch die Gelehrtentafel von Cranach - zeigen das Bild der Reformation und die Reformation im Bild. "Das religiöse Tafelbild bekommt durch die Reformation eine intensive Veränderung. Vor allem werden die Reformatoren selber und die reformatorischen Gedanken nun in die Bildwelt einbezogen", sagt Professor Wolfgang Urban. "So ein Abendmahl hab ich noch nie gesehen. Schau, wie der Judas, der Hund, nach dem Bissen schnappt. Sogar seinen Stuhl hat er umgeschmissen vor lauter Hast." "Wie ein Fugger kommt er daher, ganz in Gold..." Die Gläubigen trauen ihren Augen nicht Die Gläubigen, die sich um das neugeschaffene Altarbild scharen, trauen ihren Augen nicht. Sie stehen am Hochaltar in der Stiftskirche "Unserer Lieben Frau" zu Herrenberg. Und das sollen fromme Darstellungen aus dem Leben des Heilands sein? Diese Bilder von verstörender Drastik, mit groben Pinselstrichen hingeworfen? Das Durcheinander von verrenkten Gliedmaßen bei der "Dornenkrönung", die chaotischen, ja, wüsten Szenen bei der Kreuzigung? Und dann auch noch: diese Tafel! Das Bild eines Abendmahls? Wohl kaum. Gleicht doch die Szene eher einem Gelage in einer verrufenen Spelunke! Hier flegelt sich ein Haufen ungehobelter Gesellen um einen Tisch herum. Sie schwatzen wild gestikulierend aufeinander ein, haben das Mobiliar umgeworfen und den Wein verschüttet. Es sind grobschlächtige Typen mit abgerissener Kleidung und stumpfen, einfältigen Gesichtern: "Sie sehen überhaupt recht irdisch aus. Sind ja auch einfache Menschen gewesen. Arme Leut‘ wie wir..." "Ganz aufgeregt wird man vom Anschauen. Aber zur Andacht taugt er nichts, der Altar..." Nein, wirklich nicht! Denn heilloser ist Heilsgeschichte wohl nie zuvor dargestellt worden. Auf dem Herrenberger Altarbild verursachen die Jünger Christi beim letzten Abendmahl ein heilloses Durcheinander (Staatsgalerie Stuttgart) Auf dieser Tafel des Herrenberger Altars, gemalt um die Jahre 1518/19, findet sich keine Spur von der melancholischen Erhabenheit, die in anderen Abendmahls-Szenen dieser Zeit vorherrscht; nichts von der sanften Schönheit der Gesichter im Abendmahl eines Leonardo da Vinci, nichts von der inszenierten Eleganz und ruhigen Würde eines Tizian. Stattdessen: Vertreter eines entfesselten, spätmittelalterlichen Prekariats in einer kneipenähnlichen Umgebung. Kann es sein, so mögen sich bestürzte Zeitgenossen in der Herrenberger Stiftskirche gefragt haben, dass der Satan dem Meister Jörg Ratgeb den Pinsel geführt hat? "Es ist so, dass jemand hier vom Teufel geritten ist und dies in aller Deutlichkeit auch dargestellt wird", so Professor Wolfgang Urban. Die letzten Stunden Jesu in einem Debattierklub Szenenwechsel! Ein ganz anderes Abendmahl! Im Festsaal eines Schlosses! Ein üppig gedeckter Tisch, auf einer Platte das unzerteilte Osterlamm. Das Dessauer Abendmahl von Lucas Cranach dem Jüngeren (dpa / Hendrik Schmidt) Auch das - wirklich ein Bild des Letzten Abendmahls? Oder doch eher das eines geselligen Abends unter Freunden? Denn versammelt ist hier eine akademische Diskursgemeinschaft: Gelehrte, Professoren, Adlige. Etwas schemenhaft sieht man im Hintergrund Angehörige der anhaltinischen Fürstenfamilie. Hier rückt das biblische Geschehen in eine höfische Atmosphäre. An diesem Tisch sitzen keine Jünger, sondern Honoratioren. Und doch ist natürlich auch hier alles vorhanden, was seit Jahrhunderten dazugehört, wenn das Abendmahl dargestellt wird: Jesus, die Jünger, das Brot, der Wein und - der Verräter. Aber auch hier ist ein Künstler am Werk, der eine seit Jahrhunderten vertraute Bilderwelt mit einem Schwung hinwegfegt: Während Jörg Ratgeb sein Abendmahl in diese heruntergekommene Kneipe verlagert, versetzt Lucas Cranach der Jüngere die letzten Stunden Jesu in diesen gelehrten Debattierklub. Beide siedeln das biblische Geschehen nicht mehr in einem sakralen Raum an. Und beide tun das als Zeitzeugen vor dem Hintergrund des hitzigen Dramas der Reformation: "Das religiöse Tafelbild bekommt durch die Reformation eine intensive Veränderung." Wolfgang Urban, langjähriger Kustos am Diözesanmuseum in Rottenburg am Neckar: "Vor allem werden die Reformatoren selber und die reformatorischen Gedanken nun in die Bildwelt einbezogen. Das ist ein Prozess, der sich schon Ende der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts abzeichnet." Zu dieser Zeit verändern Abendmahlslehre und -praxis das Bild der Kirchenräume. Sie werden jetzt, je nach Ritus - lutherisch, reformiert oder römisch-katholisch - zu "Konfessionskirchen". In der Abendmahlsfeier wird nun die jeweilige konfessionelle Identität der Gemeinde erkennbar. Die Kunsthistorikerin und evangelische Theologin Ruth Slenczka notiert: "In Raumausstattung und Zeremoniell der Abendmahlsfeier kennzeichnet der Inhaber des Kirchenregiments seinen Anspruch auf Lehre und Bekenntnis innerhalb seines Herrschaftsbereichs." Unterwegs - vom alten zum neuen Glauben Und so sehen die Betrachter des Altarbildes der Kirche St. Marien im anhaltinischen Dessau nun eine vornehm-höfische Gesellschaft - und zwar mit ganz realen, identifizierbaren Menschen. Es ist die Elite der Reformation, eine geballte Ansammlung von Gelehrsamkeit und Standesbewusstsein: "Das Dessauer Abendmahl hat nun die ganze Crème de la Crème der Wittenberger Reformatoren am Tisch des Herrn versammelt..." Geeint durch ein gemeinsames Anliegen: die Kirchenreform. Sie alle sind unterwegs - vom alten zum neuen Glauben: Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen, Justus Jonas, Bartholomäus Bernardi, Johannes Pfeffinger, Caspar Cruciger, Georg Major, Johannes Forster... Und natürlich in der Bildmitte, zwei Plätze von Christus entfernt: Martin Luther! Eine massige Figur, die Bibel in der Hand, voll unverrückbarer protestantischer Festigkeit und Zuversicht. In Cranachs Abendmahl sitzen Luther und Jesus an einem Tisch (dpa / Hendrik Schmidt) Hier macht Lucas Cranach die biblische Botschaft an Menschen seiner Gegenwart fest. Statt der Jünger porträtiert er lebendige Zeitgenossen sagt Professor Urban: "Es soll ausgedrückt werden, dass sie die Jünger sind, die nun ganz dem Willen Jesu folgen und sein Gedächtnis in dieser Abendmahlsfeier, wie er es gefordert hat: "Tut dies zu meinem Gedächtnis", das Brot gebrochen, den Segen über den Wein gesprochen hat, dass sie jetzt die Jünger Jesu sind und dass sie diesen Glauben weitergeben." Auch Jesus ist hier nicht das entrückte Objekt frommer Anbetung, nein, er ist - ganz so, wie er es verkündet und Luther übersetzt hat - "mitten unter" denen, die sich "in seinem Namen" versammelt haben. Das ist protestantische Ikonographie in ihrer reinsten Form. Das Abendmahl ist eines der zentralen Themen der Reformation. Im Kern geht es um das Wesen der Eucharistie und um die Frage, ob Christus in den eucharistischen Elementen Brot und Wein leiblich oder nur symbolisch anwesend ist. Dabei sprengen die Auseinandersetzungen um die Abendmahlslehre während der Reformation durchaus den theologischen Rahmen gelehrter Dispute und haben direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft, schreibt Ruth Slenczka: "Um die Abendmahlslehre stritten nicht weltferne Theologen; sondern auch interessierte Gelehrte und Laien, Kirchengemeinden, Stadträte und Fürstenhöfe, der Kaiser und die Reichstage. Das Abendmahl betraf die Grundordnung kirchlichen Lebens und damit die Grundordnung von Kirche und Gesellschaft sowie die Basis jeder politischen Ordnung." Maler der Reformation "Die lutherische Richtung der Reformation vertrat auch für die Abendmahlsfeier den Gedanken der realen Gegenwart Christi. Nicht jetzt in dieser scholastisch-philosophisch-theologischen Erklärung der Transsubstantiation, aber: Wenn das nun in Gemeinschaft gefeiert wird, dieses Gedächtnismahl im Auftrag Jesu und dieser Auftrag erfüllt wird, ist auch unter den Gestalten von Brot und Wein Christus selber real gegenwärtig. Das ist die reformatorische Sicht. Lutherisch gilt die Realpräsenz", erklärt Professor Urban. Der Meister Lucas malt protestantische Programmatik. Er wird zum Schöpfer einer rein evangelischen Bildersprache und zum Deuter und Dolmetscher der reformatorischen Idee. Er wird zum Maler der Reformation! Dabei scheut er vor Schärfe nicht zurück, greift entschlossen in innerprotestantische Streitigkeiten ein. Mit seinen Mitteln, denen der Kunst, bezieht er Stellung. Sichtbar wird das vor allem an einer Figur auf seinem Abendmahlsbild: "Ganz im Vordergrund - und das ist vielleicht besonders denkwürdig und gibt Rätsel auf - ist Matthias Flacius Illyricus. Er ist in der Gestalt des Judas wiedergegeben, sogar mit dem roten Geldbeutel, also das Blutgeld in Rot, damit auch in der Farbe noch symbolisiert, und mit gelbem Gewand wie häufig Judas dargestellt wird. Er ist die Gegengestalt nicht zu Christus, sondern zu Philipp Melanchthon. Das mag damit zusammenhängen, dass Matthias Flacius Illyricus ein Gegner der "Leipziger Artikel" des Philipp Melanchthon gewesen ist. In den "Leipziger Artikeln" hat Melanchthon noch einen Kompromiss gesucht, in der Liturgie und in den Feiern des Kirchenjahres; er hat einige Marienfeste beibehalten, das Fronleichnamsfest nicht abschaffen wollen. Und Matthias Flacius Illyricus war ein Gegner solcher Kompromisse", so Professor Urban. Wolfgang Urban war lange Jahre Diözesankonservator in Rottenburg (dpa / Marc Herwig ) Cranachs Judas begeht also nicht Verrat an seinem Heiland, sondern an einer Idee. Er ist hier nicht der treulose Denunziant, der seinen Herrn dem sicheren Tod ausliefert, sondern ebenfalls ein Gelehrter - allerdings einer, der andere Ansichten vertritt als der Rest der Tafelrunde. Seine Rolle ist die des Außenseiters, des intellektuellen Widersachers, des theologischen Gegenspielers in einem innerprotestantischen Disput: "Das ist nicht unbedingt ein Verrat an der reformatorischen Sache. Es ist nur eine Gegnerschaft zu dieser vermittelnden Position, auf die noch Philipp Melanchthon 1548 einschwenkte, um noch einmal eine Brücke zu schlagen für die Einheit innerhalb des christlichen Glaubens." Zwar prägt Cranach das künstlerische Bild der Reformation, doch er wird nie zum "Aktivisten", zum Rebellen. Nicht in der Theologie und schon gar nicht in der Politik. Seine Waffen bleiben die des Intellekts und der Kunst. Die Waffen der Kunst Ganz anders sein Zeitgenosse Jörg Ratgeb! Der vertauscht die Waffen der Kunst mit der Kunst der Waffen. Kompromisslos, unnachgiebig.Er ergreift Partei. Wird zum Kämpfer im Bauernkrieg. Stellt sich auf die Seite der Armen und Entrechteten. Gleichzeitig wird er - malend - zum Chronisten der Geschehnisse. Die Künstler gehörten zu den Ersten, die von der Reformationsbewegung erfasst wurden. Es entstehen Bilder und Altäre mit kaum verhülltem, reformatorischem Inhalt. Die Kunst hält ihrer Zeit den Spiegel vor und spart auch die sozialen Spannungen nicht aus. Fürsten, Adlige, Patrizier und reiche Handelsherren treten oft als Pfeffersäcke und Ausbeuter auf. Prälaten und Kirchenfürsten werden als feiste Heuchler porträtiert. Kurz nach Luthers Thesenanschlag - also 1518/19 - malt der etwa 40-Jährige Ratgeb den Hochaltar für die Herrenberger Stiftskirche. Auftraggeber sind die "Brüder vom Gemeinsamen Leben". Sie sind Mitglieder einer klosterähnlichen Gemeinschaft, die eine praktische Frömmigkeit predigen und dem unwissenden Volk die Bibel erklären. Ratgeb versteht diesen Auftrag als Verpflichtung, sich für die Armen einzusetzen. Am Horizont zeichnet sich eine Revolte der Bauern ab - gerichtet gegen die ökonomischen und politischen Privilegien von Adel, Patriziern und Klerus. 1524 brechen alle Dämme. Die Bauern greifen zu den Waffen. Sie fordern eine Reform der Kirche. Ihre Ansprüche stützen sie auf eine "revolutionäre" Interpretation des Evangeliums. Und - hoffen dabei auf die Reformatoren. Hatte denn nicht der Doktor Luther zu Wittenberg geschrieben: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan..." Zerreißt er denn nicht die Fesseln, die den Glauben der Menschen an die römischen Dogmen binden? Tritt er nicht dafür ein, dass der Glaube zur Sache des Gewissens und der persönlichen Verantwortung wird? Ja und Nein. Manch einer versteht Luther falsch. Auf tragische Weise. Denn der Reformator hat keineswegs die Befreiung von der Obrigkeit gemeint. Nicht auf das Leben im Diesseits bezieht er seine Aussage; mit Freiheit meint er die Freiheit des von seinen Sünden erlösten Menschen. Der Wittenberger Reformator, in den man so viel Hoffnung setzt, will seine Lehre nicht den Schwertern überlassen, sondern der Diskussion von Theologen und Gelehrten. Ganz so, wie Lucas Cranach das im Bild festhält! Schmerzhaft wird den Bauern jetzt deutlich, dass auch die Reformation an ihrer Lage nichts ändern wird. Die Bauernfrage soll nach Herrenart gelöst werden. Unterstützung finden die Bauern bei Meister Ratgeb. Er sympathisiert nicht nur mit den Aufständischen, wie auch seine Künstler-Kollegen Matthias Grünewald oder Tilman Riemenschneider. Mehr noch: Er stellt sich mit der Waffe in der Hand auf ihre Seite. Und er macht sich ihre Auslegung des Evangeliums zu eigen, porträtiert dort: "Typen, die man von den Straßen und den Zäunen geholt hat, um das Evangelium zu zitieren. Und eine solche zusammengewürfelte Gesellschaft ist die, die sich bei Jörg Ratgeb zeigt." Judas - ein Rüpel, ein ungehobelter und bösartiger Flegel Und dann malt er das Drama des Verrats: Judas Ischarioth. Dieser Judas ist kein Gelehrter wie Cranachs Flacius Illyricus, sondern ein Rüpel, ein ungehobelter und bösartiger Flegel in einem gelben Wams. Er springt auf, wirft seinen Stuhl um und rempelt einen Diener an, der prompt den Wein verschüttet. Die dunkelrote Weinlache am Boden weist auf das kommende Blutvergießen bei der Kreuzigung hin. Dieser Judas ist die Inkarnation aller Laster, so Professor Urban: "Es ist dargestellt das Laster der "superbia", des Hochmuts mit dem erhobenen Kopf. Es ist aber auch dargestellt das Laster der Unbeherrschtheit, des "ira"- dadurch, dass er den Stuhl umgestoßen hat. Es ist dargestellt das Laster des Neids, "invidia", durch die gelbe Farbe seines Gewandes. Das ist zugleich auch die Farbe des Goldes und damit des Lasters der "avaritia", der Habgier. Und es ist dargestellt das Laster der "gula", der Fresssucht. Wie er den Mund geöffnet hat und dann, das ist ganz entscheidend, ihm eine Schmeißfliege in den Mund fliegt. Alle anderen kommunizieren mit dem Leib Christi, er kommuniziert mit einer Schmeißfliege." Ratgebs Judas ist die personifizierte Sünde (Staatsgalerie Stuttgart) Dem Sinnbild des Teufels! Denn das hebräische Wort "Beelzebub" bedeutet "Vater der Fliegen." Und unter den Tisch lässt dieser Judas dann auch noch die "Gebetbücher des Teufels" fallen: Spielkarten. Aus seinem Gewand fallen drei Würfel, die alle die Augenzahl 6 zeigen. Sechs, sechs, sechs - das ist die Satanszahl der Apokalypse. Und dann ist da noch etwas ganz Ungeheuerliches zu sehen: Ratgeb hat es gewagt, seinen Judas mit dem Merkmal der "concupiscentia", der unersättlichen Begierde auszustatten: "Er wird mit einer Erektion dargestellt. Das ist durch die Bekleidung hindurch erkennbar." Die Fassungslosigkeit seiner Zeitgenossen scheint Ratgeb nicht zu kümmern. Schließlich weiß er sich auf der richtigen Seite: "Er hat sich ans Evangelium gehalten." Dokumentaristen der religiösen Umbrüche ihrer Zeit Zwei Abendmahlsbilder wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: die derbe, fast vulgäre Kneipenrunde des Jörg Ratgeb und die vornehme Gelehrtentafel des Lucas Cranach. Und doch findet sich bei aller Verschiedenheit vieles, was beide Darstellungen und ihre Schöpfer verbindet. Das Leben beider Künstler ist geprägt vom "Herbst des Mittelalters". Und beide werden auf je unterschiedliche Weise in den Strudel der Reformation gerissen. Mit künstlerischen Mitteln wagen sie den Schritt vom alten zum neuen Glauben, den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Beide haben ein klares theologisches Programm und übersetzen diese Botschaft in ihre ganz eigene Bildersprache. Und beide sind Berichterstatter, Dokumentaristen und Kommentatoren der politischen, sozialen und religiösen Umbrüche ihrer Zeit. Jörg Ratgeb, der Aufrührer, der Hitzkopf wird seine Teilnahme am Bauernkrieg mit dem Leben bezahlen. Die "leiblichen Reste" des Hofmalers Lucas Cranach ruhen in der kühlen Stille der Stadtkirche in Wittenberg, der Predigtkirche Luthers, der "Mutterkirche der Reformation". Martin Luther reformierte das Christentum. Lucas Cranach und Jörg Ratgeb illustrierten das reformierte Christentum - jeder auf seine Weise. Sie zeigen das Bild der Reformation. Und die Reformation im Bild.
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
Jesus sitzt am Abend vor seinem Tod mit den Jüngern am Tisch - diese Szene hat viele Künstler inspiriert. Meistens sind die Darstellungen voller Erhabenheit. Im frühen 16. Jahrhundert allerdings nicht. Da konnte aus dem Mahl schon mal ein wildes Gelage werden.
"2019-04-10T20:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:10.839000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-abendmahl-und-die-kunstgeschichte-jesus-in-der-kneipe-100.html
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Faszination Schlagzeug und E-Gitarre
Spielte auf der Deutschlandradio-Bühne während der Musikmesse 2016 in Frankfurt: Schlagzeugerin Anika Nilles. (Foto: Jan-Martin Altgeld ) Sie hat wirklich "nur" zwei Arme, doch wer Anika Nilles Schlagzeug spielen hört und sieht, kann das wohl erst einmal schwer glauben. In der Sendung "On Stage" erzählt die Mannheimerin, wie sie als kleines Kind die Drums entdeckte, spricht über ihre musikalischen Einflüsse und zeigt, wie der Money Groove klingt. Jens Filser hat Jazzgitarre studiert, beherrscht aber auch andere Stilrichtungen wie Blues, Funk und Rock: mit seiner Elektrogitarre demonstrierte er eindrucksvoll, wie man das Instrument mit viel Gefühl oder mit Wucht spielen kann. Der Gitarrist Jens Filser auf der Musikmesse - zusammen mit Deutschlandfunk-Musikredakteur Tim Schauen (Deutschlandradio/Susanne Van Loon)
Moderation: Tim Schauen
Die Profi-Schlagzeugerin Anika Nilles und den Gitarristen Jens Filser eint die Liebe zu ihrem Instrument. Was macht die Faszination der Instrumente aus und wo liegt das Geheimnis ihrer Spielkunst? "On Stage spezial" von der Frankfurter Musikmesse.
"2016-04-08T21:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:20:17.292000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankfurter-musikmesse-2016-faszination-schlagzeug-und-e-100.html
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Alles unter dem Label des Friedens
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (von rechts), Russlands Präsident Wladimir Putin und der iranische Präsident Hassan Ruhani: Der Einfluss der drei Länder in Syrien könnte bald weiter wachsen. (Mikhail Klimentyev / POOL SPUTNIK KREMLIN /AP / dpa) Einen Tag lang wollen sich die drei Staatschefs in der türkischen Hauptstadt Ankara an einen Tisch setzen: Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin und Hassan Rohani. Alle drei mischen mit im Syrien-Konflikt und alle drei haben unterschiedliche Interessen. Russland gilt mit dem Iran als militärische Schutzmacht der syrischen Regierung. Die Türkei hingegen unterstützt syrische Rebellen und gilt als erbitterter Gegner von Syriens Machthaber Baschar al-Assad. Der Krieg in Syrien – seit sieben Jahren dauert er schon an. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Waffenruhe ist brüchig, immer wieder gibt es Gefechte. Umso wichtiger ist auch dieses Treffen in Ankara, meint der türkische Journalist Deniz Zeyrek von der Zeitung Hürriyet: "Dieses Treffen ist wichtig, insbesondere, um eine Grundlage für eine erneute Waffenruhe in Syrien zu erwirken. In der Türkei werden sich die Vertreter jener Mächte an den Tisch setzen, die zumindest den Westen Syriens kontrollieren. Das ist angesichts einer nachhaltigen Stabilität und einer neuen Verfassung für Syrien wichtig." Gibt es eine Lösung mit oder ohne Assad? Syrien stabilisieren. Keine leichte Aufgabe. Über ihr schwebt die Frage: Gibt es eine Lösung mit oder ohne Assad? Und dabei gehen die Sichtweisen der Länder, die sich heute treffen, auseinander: Teheran will den Sturz von Assad verhindern. Denn er ist Irans einziger Verbündeter in der arabischen Welt. Vor seiner Reise nach Ankara machte der iranische Präsident Rohani klar: "Der Punkt ist, dass es aus unserer Sicht keine militärische Lösung für Syrien gibt. Es müssen diplomatische Wege gefunden werden und durch einen allumfassenden freien, und gerechten Dialog eine Lösung erreicht werden, die die Zustimmung der gesamten Bevölkerung von Syrien findet." Die Gespräche heute in Ankara sind nicht die ersten. Die drei Staaten sind die Garantiemächte im sogenannten Astana-Prozess. Bei den Verhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana geht es vor allem um Waffenruhen in Syrien. Eine vierte Schutzzone wurde vereinbart – in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Dort hat die Türkei mehrere Beobachtungsposten eingerichtet, um die Einhaltung einer Waffenruhe zu überwachen, sie war mit Russland und dem Iran vereinbart worden. Der Hürriyet-Journalist Zeyrek sieht dort aber Probleme: "Beispielsweise hat Staatspräsident Erdoğan beklagt, dass die Türkei zur Überwachung der Waffenruhe in der Sicherheitszone um Idlib bislang sieben Posten eingerichtet habe, Russland und das Assad-Regime aber dennoch Pläne schmiedeten, Idlib zu erobern." "Die interessante Position der Türkei" Auch Idlib könnte deshalb möglicherweise ein wichtiges Thema auf der Tagesordnung der Gespräche in Ankara sein. Wenn Erdogan heute in Ankara auf Putin und Rohani trifft, dann trifft er auf zwei Lager in dem Konflikt. Zwei besonderen, meint Hakan Çelik von CNN Türk: "Zwei Staatschefs, die der Westen in Beschuss nimmt, werden in der Türkei sein. Die USA stellen Rohani derzeit ins Zielvisier wegen des Atom-Deals. Und Putin wird ja auch stark bedrängt. Hier zeichnet sich die interessante Position der Türkei ab: Die Türkei, einerseits Bestandteil des westlichen Bündnisses, Nato-Mitglied - auf der anderen Seite hält sie enge Beziehungen zu Russland und den Iran aufrecht. Staatspräsident Erdogan ist wohl ohne Übertreibung jener Leader, den Putin am meisten kontaktiert." Das war nicht immer so: Das Verhältnis zwischen Putin und Erdogan war durch den Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei im Jahr 2015 schwer angekratzt. Inzwischen ist man sich wieder nah. Zuletzt kaufte die Türkei das russische Raketensystem S-400. Und auch bei der Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG im nordsyrischen Afrin hatte Putin Erdogan gewähren lassen. Der Einfluss der drei Länder in Syrien könnte bald weiter wachsen, nachdem US-Präsident Donald Trump angekündigt hatte, den Einsatz seiner Armee in Syrien bald zu beenden. Bei dem Treffen heute werden sich die Türkei, Russland und der Iran wieder neu sortieren – mit ihren jeweiligen Interessen. Alles unter dem Label des Friedens in Syrien. Denn genau darum wird es auch weiterhin gehen.
Von Isabel Gotovac
In der türkischen Hauptstadt Ankara kommen heute die Staatschefs der Türkei, Russlands und des Irans zusammen, um über die Stabilisierung Syriens zu beraten. Die drei Länder verfolgen dabei unterschiedliche Interessen. Insbesondere über die Rolle von Machthaber Baschar al-Assad herrscht Uneinigkeit.
"2018-04-04T05:06:00+02:00"
"2020-01-27T17:46:14.884000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-gipfel-in-ankara-alles-unter-dem-label-des-friedens-100.html
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Zeitgenössisch alt
Das Duo Hat Fitz & Cara beim Bluesfestival 2016 in Schöppingen (Peter Bernsmann) Zurückhaltend bis komisch, skurril und dann doch in aller australischer Coolness seine Sensibilität in jeden Ton legend: Der bärtige Gitarrist Hat Fits beeindruckte die Zuschauerinnen und Zuschauer beim Bluesfestival Schöppingen. Meist überliess er seiner (auch musikalischen) Partnerin Cara die Rolle der Ansagerin. Die beiden konnten und wollten aber bei allem Hang zur slapstickartigen Situationskomik nicht davon ablenken, wie einzigartig und hochwertig die Musik ist, die sie da auf die Bühne brachten. Sparsam instrumentiert, einfach in der Melodieführung und dennoch charmant und mitnehmend fragil. Zum Beispiel das Stück über die "Stille nach dem Regen" ... Cara Robinson (l.) und Hat Fitz (r.) beim Bluesfestival Schöppingen 2015 (Peter Bernsmann) Aufnahme vom 15.5.16 beim Bluesfestival Schöppingen
Am Mikrofon: Tim Schauen
Der australische Musiker Hat Fitz lernte während einer Europatournee Cara Robinson kennen, die u.a. für Jamiroquai und Rihanna gesungen hatte: Er spielt Gitarre, sie Schlagzeug, Waschbrett und Flöte. Eine skurrile, höchst spannende Mischung von australischem Blues und irisch-amerikanischer Rootsmusik.
"2019-03-01T21:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:31:57.395000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/duo-hat-fitz-cara-zeitgenoessisch-alt-102.html
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Streit um Gaskraftwerke
"Also hier wird die Zufahrtstrasse für das GuD sein."Bürgermeister Christian Konrad ist euphorisch. Hier mitten im Wald auf dem Gelände des ehemaligen Fliegerhorstes von Leipheim soll eines der wichtigsten Gaskraftwerke für Süddeutschland stehen. Leistung bis zu 1200 Megawatt. Ersatz für das wenige Kilometer weiter gelegene Atomkraft Gundremmingen, das 2017 abgeschaltet werden soll:"Also wir schaffen jetzt die planungsrechtlichen Voraussetzungen, das heißt: Die Flächennutzungspläne werden jetzt speziell für das Gaskraftwerk geplant, Bebauungspläne werden erstellt für dieses Sondergebiet. Das heißt: Wir investieren viel Zeit und Kosten."Gut zwei Millionen Euro Gewerbesteuern hat der Bauträger, die Stadtwerke Ulm, der Gemeinde Leipheim versprochen, rund 140 Arbeitsplätze. Seit vier Jahren wird geplant und diskutiert. Die neuesten Meldungen aus der bayerischen Staatskanzlei lassen Konrad jedoch verzweifeln:"Wir erleben jetzt die ganze Diskussion um Energiewende einfach so, dass keiner so richtig weiss, was eigentlich kommen soll und wo es hingehen soll. Das schafft ganz viel Unsicherheit. Für uns heisst das, kommt es oder kommt es nicht. Wir machen jetzt nur eines. Wir planen ins Blaue hinein."Bis zur Genehmigungsplanung will auch Jürgen Schäffner, technischer Geschäftsführer der Stadtwerke Ulm Gelder in das Projekt investieren, weiter nicht. Zwei Vollzeitkräfte wurden eigens dafür eingestellt. Interessenten aus ganz Deutschland wollen sich an dem gut 900 Millionen Euro teuren Projekt beteiligen. "Also wir möchten gerne investieren. Voraussetzung ist, dass es sich auch von der Rendite her lohnt und das Marktdesign mit politischer Unterstützung so gestaltet wird, dass es auch wieder Geld verdienen kann, so ein Kraftwerk."Genau dort jedoch hakt es. Bei einem derzeitigen Strompreis von fünf Cent pro Kilowattstunde winkt jeder Investor in Bayern ab, auch wenn staatliche Förderprogramme aufgelegt würden. Einzige Lösung, so SWU-Vertreter Schäffner, sei die Einführung einer Kapazitätsvergütung statt der herkömmlichen Leistungsvergütung, das heißt, der Verbraucher zahlt für die Bereitstellung eines Kraftwerkes, auch wenn dies keinen Strom produziert. Der Bund und nicht die Bundesländer, sei jetzt also gefragt, sagt Wirtschaftsminister Zeil:"Wir haben verschiedene Vorschläge gemacht: Vom Kapazitätsmarkt bis hin zu Grünstromzertifikaten, Mengensteuerung, Fortentwicklung des EEG. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch, der Bund muss jetzt endlich handeln."Fünf Gaskraftwerke mit bis zu 4000 Megawatt hatte Bayerns Wirtschaftsminister Martin Zeil im vergangenen Jahr den Konzernen wie Eon versprochen, ungefähr die Leistung, die die bayerischen Atomkraftwerke heute bringen, viel zu viel meint Ludwig Hartmann, energiepolitischer Sprecher der Grünen im bayerischen Landtag. "Die 6000 Megawatt Kraftwerksleistung in Bayern wurden im Jahr 2010 nur an 21 Stunden im Jahr benötigt, an 21 Stunden, 6000 Megawatt Kraftwerksleistung, das heißt ungefähr anderthalb Gaskraftwerke, wovon eines eine Milliarde Euro kostet für 21 Stunden im Jahr."Die neueste Idee von Bayerns Ministerpräsident Seehofer macht die Verwirrung komplett. Bayern solle doch lieber auf dezentrale Biogasanlagen setzen. Und eigentlich solle der Freistaat wieder eigene Bayernwerke besitzen. Oppositionspolitikerin Natascha Konen, Generalsekretärin der bayerischen SPD, winkt nur ab: "Wir als SPD sehen Gasgroßkraftwerke als sehr problematisch, weil es das System von früher wieder manifestiert. Das heisst, man hat Oligopole, man hat fünf Zentren, muss sich auf 20, 30 Jahre festlegen und das passt nicht zusammen mit dem Gedanken der erneuerbaren Energien, die sehr flexibel sein müssen."Während Leipheims Bürgermeister Christian Konrad von einem Baubeginn in zwei Jahren ausgeht, haben die Stadtwerke Ulm mit Blick auf die Politik den Zeitrahmen bis 2018 verschoben. In der Kommune werden die Bürger langsam ungeduldig. Der Bürgermeister bleibt zweckoptimistisch:"Wenn hier nichts kommt, dann werden wir aufforsten, dann wird das Wald bleiben und wir werden das der Natur übergeben, ganz einfach."
Von Susanne Lettenbauer
In Süddeutschland sollen Gaskraftwerke mögliche Engpässe in der Energieversorgung abfedern. Bis zu fünf neue Gaskraftwerke will Bayern bauen lassen. Von einer Realisierung ist der Freistaat jedoch noch weit entfernt.
"2012-05-31T17:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:11:42.313000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-gaskraftwerke-102.html
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Schwerer Unfall bei Proben für die Eröffnungsfeier
Olympische Jugend-Winterspiele in Lausanne (Jean-Christophe Bott/KEYSTONE/dpa) Die 35-jährige Russin, die in Deutschland lebt, hatte sich an Ringen in die Höhe ziehen lassen. Dabei habe sie das Gleichgewicht verloren und stürzte fünf Meter hinab auf den Boden der Eishalle in Malley, einem Vorort von Lausanne – so die Angaben der Polizei. Die Athletin wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Eröffnungsfeier soll wie geplant stattfinden Unklar blieb zunächst, ob sie bei den Proben angeseilt war oder nicht. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen ein. Das Internationale Olympische Komitee und die Organisatoren der Jugendspiele übermittelten ihre Genesungswünsche. "Wir sind traurig über diesen Unfall", sagte ein Sprecher der Veranstalter. Und weiter: "Unsere Gedanken sind bei der Sportlerin." Trotz des Unfalls soll die Eröffnungsfeier morgen, wie geplant stattfinden. Die Olympischen Jugendspiele dauern bis zum 22. Januar. An ihnen nehmen knapp 2.000 Sportler zwischen 15 und 18 Jahren teil.
Von Dietrich Karl Mäurer
Bei den Proben für die Eröffnungsfeier der Olympischen Jugendspiele in Lausanne hat sich ein schwerer Unfall ereignet. Eine russische Eiskunstläuferin stürzte und verletzte sich lebensgefährlich.
"2020-01-08T22:52:00+01:00"
"2020-01-26T23:27:01.066000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympische-jugendspiele-schwerer-unfall-bei-proben-fuer-die-100.html
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Ryanair in Turbulenzen
Immer billiger: das Unternehmenskonzept von Ryanair geht auf Kosten des Personals (imago / Markus van Offern) Die Piloten des irischen Billigfliegers Ryanair kämpfen seit Monaten für höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen. Zum großen Ärger für Urlauber, denn mitten in der Ferienzeit streiken die Piloten immer wieder. Beim Unternehmens-Chef Michael O'Leary schien all das lange abzuprallen. "Wir müssen günstiger sein als alle anderen" Für viele Ryanair-Mitarbeiter dürfte das zynisch klingen. Im Luftfahrtimperium des Michael O'Leary gibt es seit Monaten heftige Turbulenzen, die er lange ignorieren wollte. "Es ist wahrscheinlich eine Obsession. Wir müssen größer sein, schneller sein und günstiger sein als alle anderen. Ich will die Tarife einfach immer weiter drücken", sagte O'Leary in einer Talk-Show noch vor ein paar Jahren. Das Konzept ging für ihn bislang auf. Doch diese Unternehmenspolitik geht auch auf Kosten des Personals. Der Ryanair-Chef befindet sich seit Monaten im Konflikt mit seinen Mitarbeitern. Die Piloten fordern mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Nicht alle, die für den Billigflieger arbeiten, sind auch dort angestellt. Viele sind gezwungen eine ICH-AG zu gründen, sie sind quasi scheinselbstständig 150 Flüge wegen Streiks gestrichen Ende der Woche droht der größte Streik in der Geschichte des irischen Unternehmens, das 1984 gegründet wurde. In Irland, Belgien und Schweden wollen die Piloten die Arbeit erneut niederlegen. Bereits im Vorfeld wurden rund 150 Flüge gestrichen. Die Pläne von Tausendenden Urlaubern werden durchkreuzt. Mit Entschädigungen können die Kunden nicht rechnen, erklärte Ryanair-Marketing-Chef Kenny Jacobs vor einigen Tagen in einem irischen Radiosender. Das Unternehmen stützt sich dabei auf EU-Recht. "Entschädigungen gibt es nicht, weil wir keine Kontrolle über den Streik haben. Wir tun alles was in unserer Macht steht, um ihn zu vermeiden. Deswegen haben wir auch schon im Vorfeld Flüge gecancelt. Wir führen Gespräche mit den Gewerkschaften, wir machen Vorschläge. Wir versuchen jegliche Störung für die Kunden zu vermeiden, wir informieren sie, versuchen sie auf eine andere Maschine umzubuchen. " In Irland scheinen sich Piloten und Unternehmen anzunähern. Ein Schlichter soll zwischen den Mitarbeitern und Unternehmen vermitteln. Dennoch haben sich die irischen Piloten für einen Streik am Freitag entschieden - es ist bereits der fünfte Tag. Ryanair hatte beim letzten Streik angedroht, wegen der bisherigen Arbeitsniederlegungen Stellen in Irland abzubauen. Stattdessen soll die Flotte in Polen aufgestockt werden. Das irische Unternehmen ist geschwächt, sagt der britische Luftfahrtexperte John Strickland. Kein Wachstum mehr in diesem Jahr "Es kommen auf das Unternehmen höhere Personalkosten zu, der Streik der letzten Monate sorgt natürlich für Einbußen, hinzu kommt der gestiegene Ölpreis. Ryanair kann mit keinem großen Wachstum in diesem Jahr rechnen." Bleibt die Frage, ob das Unternehmen sein Konzept aufrechthalten kann, das im Kern darauf basiert, die Kosten so gering wie möglich zu halten. So wie es aussieht werden sich wohl auch die deutschen Piloten dem Streik am Freitag anschließen, denn das Unternehmen hat bislang für die Gewerkschaft kein ernstzunehmendes Angebot vorgelegt. Am Mittwoch will die Pilotenvereinigung Cockpit ihr weiteres Vorgehen erläutern.
Von Anne Demmer
Flüge werden gestrichen, Urlauber sitzen auf ihren Koffern: Bei Ryanair herrscht wegen des anhaltenden Tarifstreits und damit verbundener Streiks Chaos. Ende der Woche droht nun der größte Streik in der Geschichte des irischen Unternehmens. Grund dafür: die geplante Verlegung von Arbeitsplätzen nach Polen.
"2018-08-08T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:13.273000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tarifstreit-ryanair-in-turbulenzen-100.html
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Greenpeace: 770 Millionen To-go-Verpackungen landen täglich im Müll
MIt jedem Einwegbecher würden endliche und wertvolle Ressourcen verschwendet, rund zehn Prozent von Gast und Strom würdne nur zur Herstellung von Plastik aufgebracht, sagte Viola Wohlgemuth (Greenpeace" im Dlf. (picture alliance I Sebastian Gollnow/dpa | Sebastian Gollnow)
Kuhlmann, Susanne
Mehrweg müsse "das neue Normal" werden, fordert Viola Wohlgemuth von Greenpeace. Zur Umsetzung der Mehrwegpflicht brauche es jedoch ein flächendeckendes System für Deutschland und den Willen großer Firmen, verantwortungsbewusst voranzugehen.
"2023-01-02T11:42:33+01:00"
"2023-01-02T12:43:38.615000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/greenpeace-recherche-deutschland-macht-den-mehrweg-test-int-wohlgemuth-dlf-eb469e95-100.html
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Terroranschläge erschüttern die Stadt
Evakuierung des Brüsseler Flughafens. (OLIVIER HOSLET/dpa) Die Flughafenhalle in Brüssel nach einer der Explosionen. (Twitter @wardmarkey) Anschläge an der Brüsseler U-Bahn. (afp / Seppe Knapen) Nach der Explosion in der U-Bahn hat die Brüsseler Polizei eine Straße in der Nähe der Station Maelbeek abgeriegelt (picture alliance / dpa / Laurie Dieffembacq) Passagiere werden nach dem Terroranschlag in Brüssel aus dem Airport-Terminal evakuiert. (dpa / picture allaince / Olivier Hoslet ) Belgische Einsatzkräfte leisten Erste Hilfe. (afp / Emmanuel Dunand) Sanitäter kümmern sich um Verletzte an der Metro-Station Maelbeek in Brüssel (dpa / picture alliance / Francesco Calledda) Passagiere werden aus dem Flughafen Brüssel in Sicherheit gebracht. (afp / John Thys) Nach Terroranschlägen herrscht in Brüssel Ausnahmezustand. (dpa / picture-alliance / Nicolas Maeterlink) Die Sicherheitsvorkehrungen in Brüssel wurden nach den Anschlägen verschärft. (AFP / Philippe Hugen) Das Bild einer Überwachungskamera im Flughafen von Brüssel zeigt drei Männer, die die Ermittler als Terrorverdächtige einstufen. (picture alliance / dpa / Belga) Menschen schreiben in der Innenstadt von Brüssel ihre Gedanken auf die Straße. (picture-alliance / dpa/ Nicolas Maeterlinck) Weltweite Anteilnahmen: Rosen liegen vor der belgischen Botschaft in Moskau. (picture-alliance / dpa/ ) Die Trauer nach den Anschlägen ist groß. (picture alliance / dpa / Edouard Bride)
null
Mehrere Explosionen am Brüsseler Flughafen und an U-Bahn-Stationen haben heute morgen die belgische Hauptstadt in eine Schockstarre versetzt. Die Sicherheitsbehörden gehen von Terroranschlägen aus.
"2016-03-22T10:50:00+01:00"
"2020-01-29T18:19:58.051000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fotostrecke-terroranschlaege-erschuettern-die-stadt-100.html
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"Wir wollen die europäische Asylpolitik besser machen"
Die Bundesregierung hat entschieden, nur Familien und unbegleitete Minderjährige aus den Camps auf den griechischen Inseln in Deutschland aufzunehmen (Socrates Baltagiannis/dpa) Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria hat die Bundesregierung sich darauf geeinigt, rund 1.700 geflüchtete Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Die Reaktionen auf diese Entscheidung sind geteilt. Der deutsche Städtetag etwa begrüßte sie, Linksfraktion und Grünen geht sie nicht weit genug. Die Menschen, die aus Griechenland nach Deutschland kommen sollen, haben alle einen anerkannten Schutzstatus. Es handelt sich nach Angaben von Stephan Mayer, CSU-Politiker und Staatssekretär im Bundesinnenministerium, um 150 unbegleitete Jugendliche und 408 Familien. Der neue Streit um die FlüchtlingspolitikAuf allen politischen Ebenen ist nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria die Auseinandersetzung um Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen wieder angekommen. Deutschlandfunk-Korrespondenten berichten. Stephan Mayer erklärt im Dlf, warum er es für sinnvoll hält, dass Deutschland als einziges Land in der EU jetzt Menschen aufnimmt. Er hofft, dass dieses Vorgehen in der EU eine Vorbildfunktion haben wird, die auch die Entscheidung anderer EU-Länder in der Flüchtlingsfrage beeinflusst. Denn Ende September will die EU-Kommission ihren neuen Vorschlag für einen gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspakt vorlegen, der eigentlich schon für März angekündigt war. Doch wegen der Corona-Pandemie wurde der Termin verschoben. Mayer betonte im Dlf, dass die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tun werde, "um zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu kommen". Außerdem sprach er darüber, wie die Entscheidung für die Aufnahme der geflüchteten Menschen aus Griechenland zustande gekommen ist. Philipp May: Musste dafür erst ein Lager brennen? Stephan Mayer: Nein, natürlich musste dafür kein Lager brennen. Wir haben uns schon vor dem Brand in Moria intensiv darum bemüht, vor allem schutzbedürftige, behandlungsbedürftige Kinder nach Deutschland zu bringen. Das Engagement der Bundesregierung hat ja nicht erst letzte Woche begonnen. Das ist ja teilweise auch eine Fehlwahrnehmung auch in der Öffentlichkeit. Seit vielen Monaten ist die Bundesregierung intensiv bemüht, den griechischen Behörden, der griechischen Regierung zu helfen mit Hilfstransporten, um insbesondere, was aus meiner Sicht nach wie vor das erste und das wichtigste Gebot ist, vor Ort zu helfen, aber auch, indem wir beispielsweise seit einigen Monaten vor allem behandlungsbedürftige Kinder und deren Familienangehörige, aber auch unbegleitete Minderjährige nach Deutschland übernommen haben. Es wäre eine vollkommene Fehldarstellung und falsche Wahrnehmung, wenn man behauptet, dass die Bundesregierung jetzt erst durch den Brand in Moria in die Puschen gekommen ist und entsprechend tätig geworden ist. Geisel (SPD): "Deutschland muss jetzt handeln"Angesichts der humanitären Katastrophe auf Lesbos müsse man jetzt Hilfe leisten, sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Dlf. Berlin sei bereit, 300 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. "Wir tun dies im Einvernehmen mit den griechischen Behörden" May: Aber, Herr Mayer, Ihre Bemühungen würde ich niemals in Abrede stellen und Ihre Bemühungen auch in allen Ehren. Aber die Entscheidung, die fällt ja jetzt, acht Tage nach dem Brand, nach den ersten Bränden in Moria, und da stellt sich ja schon die Frage, wieso es erst diese Bilder braucht, damit die Bundesregierung zu einer Entscheidung kommt. Mayer: Wir sind natürlich jetzt durch dieses sehr schwerwiegende Ereignis auch sofort aufgefordert worden, tätig zu werden. Wir tun dies auch, im Einvernehmen mit den griechischen Behörden. Das muss ich bei allem auch immer mit dazu sagen, dass wir ja nicht autonom entscheiden können, was auf Lesbos passiert. Sprich: Die griechischen Behörden haben selbst erst mal die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Obdachlosen entsprechend untergebracht werden. Aber wiederum auch hier unterstützt die Bundesregierung sehr vielfältig. Wir sind jetzt dabei, einen zweiten Hilfstransport nach Athen zu schicken, mit Zelten, mit Decken, mit Schlafsäcken, mit Isoliermatten. Ich möchte mal schon behaupten, kein EU-Mitgliedsland unterstützt Griechenland derzeit so intensiv und so akkurat wie Deutschland. Und natürlich gehört auch mit dazu, dass wir besonders schutzbedürftige Personen – und dazu zählen nun mal vor allem unbegleitete Minderjährige, aber auch anerkannte, schutzbedürftige Familien – nach Deutschland holen, und ich muss sagen, diese Entscheidung ist jetzt weniger als eine Woche nach dem Brandereignis gefallen. Ich halte das durchaus für eine sehr akkurate und prompte Reaktion der Bundesregierung. Der Moria-Irrtum - aus Moria wird niemand nach Deutschland kommen In Deutschland wird über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannte Flüchtlingslager Moria diskutiert, doch in Griechenland lehnt man deren Ausreise ab. Europäische Hilfe vor Ort ist aber dringend gewünscht. May: Weil Sie gerade auch die griechische Regierung angesprochen haben, frage ich das noch mal. Wieso war denn die Aufnahme von 1553 Menschen – das ist ja per se schon mal eine überschaubare Zahl, verglichen beispielsweise mit 2015 -, wieso war die denn nicht schon vorher möglich, vor dem Brand beispielsweise? Die kommen ja auch nicht alle aus Moria, sondern von allen griechischen Inseln. Mayer: Ja, die kommen zum einen nicht alle aus Lesbos, um auch zu gewährleisten, dass wir hier eine Gleichbehandlung vornehmen gegenüber allen fünf griechischen ägäischen Inseln, auf denen sich Hotspots befinden. Und um das noch mal klarzumachen: Das Engagement der Bundesregierung hat nicht erst jetzt seit fünf oder sechs Tagen begonnen. "Ich halte das durchaus für ein sehr starkes humanitäres Zeichen" May: Das ist vollkommen klar! Ich frage jetzt ganz konkret nach der Entscheidung. Mayer: Diese Entscheidung hat sich natürlich jetzt aufgedrängt, nachdem insbesondere Familien obdachlos geworden sind. May: Und vorher nicht? Mayer: Wie gesagt, wir haben ja schon vor dem Brandereignis sehr umfänglich unbegleitete Minderjährige genommen. Weit über 400 Personen sind allein schon in diesem Jahr schon vor dem Brandereignis, wohl gemerkt, aus den griechischen Hotspots nach Deutschland gebracht worden. Ich halte das durchaus für ein sehr starkes humanitäres Zeichen, das die Bundesregierung hier gesetzt hat. Wünschenswert wäre es natürlich, dass sich noch mehr EU-Mitgliedsländer diesem Zeichen anschließen. May: Dazu kommen wir gleich. Schauen wir vorher noch mal auf die Zahl. 1553 Menschen, sagte ich bereits ein paar Mal. Warum nicht 1554 oder 1314? Mayer: Erstens ist es mit jeder Zahl so, dass sie natürlich veränderbar ist. Aber ich habe ja auch in dem Einspieler gehört, dass einige Oppositionskollegen klar gefordert haben, es würde klarer Abgrenzungskriterien bedürfen für die Festlegung des Personenkreises, und genau das hat die Bundesregierung ja gemacht. Diese Zahl erklärt sich so, dass es derzeit auf den fünf griechischen Inseln genau 408 Familien gibt, die bereits anerkannt sind, die ein Asylverfahren in Griechenland durchlaufen haben und einen Schutzstatus ausgesprochen bekommen haben. Und das sind in diesen 408 Familien genau 1553 Personen. So erklärt sich die Zahl, weil sich dieser Personenkreis aus unserer Sicht klar abgrenzen lässt von Personen, die bereits abgelehnt wurden – auch solche gibt es auf den Inseln -, die ein Asylverfahren durchlaufen haben und einen Ablehnungsbescheid erhalten haben. Die kommen aus unserer Sicht überhaupt nicht für den Transport nach Deutschland in Betracht. Und natürlich gibt es auch – und das ist der Großteil derer, die sich auf den Inseln befinden – diejenigen, die noch im Asylverfahren sich aufhalten und sich befinden. Deswegen ist dies aus unserer Sicht ein sehr klares und ein sachgerechtes und auch ein nachvollziehbares Abgrenzungskriterium, dass wir genau die Personen nehmen, die schutzbedürftig sind, die formalrechtlich auch den Schutzstatus schon zuerkannt bekommen haben. "Wir sind bereit Familien, die anerkannt sind, zu nehmen" May: Verständnisfrage: Alle Menschen von den griechischen Inseln, deren Asylantrag bewilligt worden ist, die kommen jetzt nach Deutschland? Mayer: Alle Familien! May: Alle Familien. Mayer: Nicht alle. Es geht nicht um Alleinreisende, weil natürlich auch – und das zeigen jetzt die Ermittlungen der griechischen Behörden – die Wahrscheinlichkeit aus unserer Sicht gegen null tendiert, dass unter den Brandstiftern sich Familienangehörige befunden haben. Es gibt ja offenbar jetzt auch schon erste Festnahmen von mutmaßlichen Brandstiftern und es handelt sich dabei offenkundig – man muss sagen, das ist alles natürlich jetzt erst mal vorläufig – um Alleinreisende. Wir sind bereit, als Deutschland Familien, die anerkannt sind, zu nehmen, und das sind insgesamt auf den fünf griechischen Inseln ausweislich der Listen, die der UNHCR uns übersandt hat, 408 Familien. May: Sie haben gerade die anderen europäischen Partner, um es mal so zu nennen, angesprochen. Das klingt nach einem Alleingang, den eigentlich gerade in der Union viele vermeiden wollten. Mayer: Das ist aber kein Alleingang, weil wir sowohl bei den unbegleiteten Minderjährigen bereits Länder mit ermuntern konnten, sich uns anzuschließen. "Da ist zum jetzigen Zeitpunkt noch kein anderes Land dabei" May: Ich meine jetzt die 1553. Das sind ja nicht die unbegleiteten. Ich meine jetzt einfach nur die neue Entscheidung, 1553 Menschen, die Familien, die wir gerade besprochen haben, zu holen. Da ist ja kein anderes Land in Europa mit dabei innerhalb der EU. Mayer: Da ist zum jetzigen Zeitpunkt noch kein Land dabei, aber wir werben natürlich intensiv dafür, dass sich weitere Länder innerhalb der Europäischen Union unserem Schritt anschließen und es uns gleich tun und besonders schutzbedürftige Personen von den Inseln übernehmen. Wie gesagt: Bei den unbegleiteten Minderjährigen ist uns dies bereits gelungen. Es gibt insgesamt elf EU-Mitgliedsländer plus Norwegen und Serbien, also insgesamt 13 europäische Länder, die sich bereit erklärt haben, unbegleitete Minderjährige beziehungsweise so wie wir behandlungsbedürftige, kranke Kinder aus Griechenland zu übernehmen. Es ist natürlich ein dickes Brett, das es zu bohren gilt, hier weitere Unterstützer unter den EU-Mitgliedsländern zu finden, insbesondere wenn es jetzt um die Aufnahme weiterer EU-Mitgliedsländer geht, aber wir haben nun mal derzeit auch die EU-Ratspräsidentschaft inne. Wir sind ein wirtschaftlich starkes Land innerhalb der Europäischen Union. Wir gehen hier jetzt auch mit einem klaren Schritt voran in der Hoffnung, dass entsprechend auch unserem Grundsatz der Ordnung und der Humanität uns weitere EU-Mitgliedsländer folgen. "Es gibt kein gemeinsames europäisches Asylsystem" May: Herr Mayer, ich zitiere aus der Unions-Fraktionssitzung von gestern. Ich lese aus der "Bild"-Zeitung vor. Angela Merkel soll da gesagt haben: "An Lesbos und am Lager Moria zeigt sich das ganze Elend der europäischen Migrationspolitik, die keine ist. Das muss man einfach so nüchtern feststellen." – Hat sie das so gesagt? Mayer: Sie hat auf jeden Fall so recht. Ich zitiere nicht intern aus Fraktionssitzungen, aber diese Feststellung ist natürlich vollkommen richtig, weil bedauerlicherweise es kein gemeinsames europäisches Asylsystem gibt, auch keine gemeinsame europäische Asylpolitik gibt. In etwa einer Woche wird ja die EU-Kommission ihren neuen Vorschlag unterbreiten für einen europäischen Asyl- und Migrationspakt. Wir sind selbst sehr gespannt darauf, was die Frau Kommissarin Johansson in einer Woche vorstellen wird. Wir werden auf jeden Fall als Bundesregierung alles in unserer Macht stehende tun, um zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu kommen. Bislang, in den letzten Jahren sind bedauerlicherweise alle Versuche gescheitert – wohl gemerkt nicht an Deutschland, um dies auch klarzumachen, sondern an den sehr unterschiedlichen heterogenen Interessen innerhalb der Europäischen Union. Ob dies gelingt – ich kann es nicht versprechen. Wir werden auf jeden Fall,wie gesagt, alles in unserer Macht stehende tun, um zu einem Kompromiss innerhalb der Europäischen Union zu kommen. Es ist dringend erforderlich. "Wir wollen die europäische Migrations- und Asylpolitik verändern" May: Ist dieses Pochen auf die europäische Lösung – ich verstehe das ja – nicht eine Fata Morgana, mit der man es sich auch irgendwie bequem machen kann, weil jeder weiß, es wird sie nie geben? Mayer: Nein, so fatalistisch sehe ich es nicht. Es ist schwierig, das ist jetzt kein Geheimnis. Nicht ohne Grund sind bislang alle Versuche gescheitert. Aber als politischer Verantwortungsträger, glaube ich, hat man die Aufgabe, sich nicht mit dem Status quo abzufinden, sondern alles dafür zu tun, dass sich die Dinge verändern. Wir wollen die europäische Migrations- und Asylpolitik verändern als Bundesregierung, weil wir der festen Überzeugung sind, dass letzten Endes diese nach wie vor epochale Herausforderung der Migrations- und Flüchtlingskrise nicht durch ein Land alleine, auch nicht durch Deutschland alleine gelöst werden kann, sondern zumindest im europäischen Verbund. Wir werden darauf hinwirken, dass es hier zu einer Verständigung innerhalb der Europäischen Union kommt. Aber natürlich muss dieser Kompromiss dann auch in der Sache richtig sein. Es geht nicht darum, einen Formelkompromiss zu schließen, sondern wir wollen natürlich insgesamt auch die europäische Asylpolitik besser machen, mit einem stärkeren Außengrenzenschutz, mit einem Grenzverfahren, das ermöglicht, dass schutzbedürftige Personen innerhalb der Europäischen Union verteilt werden, Personen, die aber keine Aussicht darauf haben, einen Schutzstatus zuerkannt zu bekommen, überhaupt nicht in die Europäische Union einreisen, sondern an der europäischen Außengrenze dann entsprechend insbesondere, wenn sie aus sicheren Herkunftsstaaten einreisen, auch wieder zurückgewiesen werden in ihr Herkunftsland. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stephan Mayer im Gespräch mit Philipp May
Der Innenpolitiker Stephan Mayer (CSU) hat die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Camps in Griechenland begrüßt. Deutschland gehe jetzt mit einem klaren Schritt voran, in der Hoffnung, dass andere EU-Länder folgen, sagte Mayer im Dlf.
"2020-09-16T07:11:00+02:00"
"2020-09-18T09:25:07.932000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aufnahme-von-fluechtlingen-aus-griechenland-wir-wollen-die-100.html
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Pro Asyl: Neues Gesetz schützt nicht vor Straftaten
Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler) Jochen Spengler: Am Telefon ist jetzt Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl", die sich seit über 25 Jahren für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Guten Abend, Herr Burkhardt. Günter Burkhardt: Guten Abend. Spengler: Herr Burkhardt, dass die vielen unbescholtenen Hilfesuchenden in Deutschland nicht mit ausländischen Straftätern in einen Topf geworfen werden, das müsste doch eigentlich auch in Ihrem Interesse liegen. Burkhardt: Ja, das geht in diesen Tagen unter. Es haben sich Flüchtlinge distanziert von diesen Übergriffen, von den Angriffen, von den wirklich widerlichen Vorfällen, um es mal so deutlich zu formulieren. Es ist eine verschwindend kleine Minderheit, die hier auffällig geworden ist. Erst mal muss ein Täter gefasst sein, völlig egal, ob er deutscher Herkunft ist oder eine ausländische Staatsangehörigkeit hat. Es muss in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein, dass es einen Gerichtsprozess gibt, dass die Beweise vorgelegt werden. Mich hat sehr überrascht, wie schnell in Deutschland die Unschuldsvermutung zur Disposition gestellt wurde, nach dem Motto, wir schieben doch einfach mal die Leute ab, bevor überhaupt sie verurteilt sind. Und das Gesetz, auf das Sie zu sprechen kommen, tut so, als wenn es an der Ursache etwas ändern würde. Es ändert doch aber nichts daran, wenn ich nicht entsprechend als Staat bei der Exekutive reagiere. Es ist reflexartig, wie in Deutschland, wenn es zu einem Behördenversagen kommt, sofort die Politik nach dem Gesetzgeber ruft, und der Gesetzgeber macht schärfere Gesetze, als wenn das so etwas verhindern würde. Spengler: Aber was ist an diesem Gesetz falsch? Burkhardt: Wenn Straftaten geschehen, müssen sie vor Gericht geahndet werden. Dann ist die Frage natürlich zu stellen, was geschieht mit der Person, wenn sie ihre Strafe verbüßt hat. Da gilt auch in Deutschland, auch bei Straftaten, die man ablehnt, die man in keinster Weise billigen kann, dass die europäische Menschenrechtskonvention eine Abschiebung verbietet, wenn in dem Herkunftsstaat Gefahren für Leib und Leben drohen, dem Betroffenen etwa eine unmenschliche Behandlung droht. Das ist nicht sympathisch vielleicht im Einzelfall, das sind aber die Grundlagen, auf denen unsere Gesellschaft beruht, auf Grund- und Menschenrechten, und die gelten auch dann, wenn ein Mensch hier eine Straftat begangen hat, die man missbilligt. "Es sind ja keinesfalls alles Asylsuchende gewesen" Spengler: Aber das Gesetz widerspricht doch diesem Grundsatz gar nicht. Das Gericht müssten Sie mir zeigen, das zum Beispiel einen Straftäter nach Syrien abschieben würde. Burkhardt: Das Gesetz ist erst mal so angelegt, dass, wenn ein Straftäter - und hier müssen wir betonen: Es sind ja keinesfalls alles Asylsuchende gewesen, die sich hier in Deutschland aufhalten, sondern es gibt in der Gruppe den Verdacht, dass einige Asylsuchende sind. Und wenn ein Asylverfahren läuft, dann kann nach diesem Gesetz schneller, einfacher abgeschoben werden, indem man abwägt, was ist die Gefahr für die Sicherheit dieses Landes, für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, steht das im Verhältnis zur Abschiebung des Straftäters. Spengler: Insofern ist der Rechtsstaat doch gewahrt. Burkhardt: Der ist aber dann nicht gewahrt, wenn hier erwogen wird, eine Abschiebung auch dann vorzunehmen, zu ermöglichen, die Hürden zu senken, wenn eine Gefahr besteht, dass der Betroffene ein Flüchtling sein könnte, und Flüchtling heißt jetzt nicht, der kommt her und sagt, ich brauche Schutz, sondern Flüchtling heißt, er ist verfolgt, hat gravierende Gefahren zu fürchten, wenn er abgeschoben wird, und dann kann man, selbst wenn jemand eine Straftat begeht, jedenfalls nicht einfach so den Menschen abschieben. Spengler: Aber warum sollte einer hier den Schutz unseres Staates vor Verfolgung überhaupt erhalten, wenn vor diesem Asylbewerber der Staat zugleich die hier lebenden Bürger schützen muss? Burkhardt: Das ist genau die schwierige Frage: Wie weit darf man gehen, um die Menschen, die hier sind, zu schützen? Noch einmal: Ein Gesetz schützt nicht. Wenn einer wiederholt Straftaten begeht, Terrorismusgefahr droht, dann kann man ihn sehr wohl ausweisen, den Schutz entziehen. Aber es muss abgewogen werden und zugleich muss man wissen: Wenn Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland drohen, dann muss das berücksichtigt werden. Spengler: Ich habe den Eindruck, das wird auch in dem neuen Gesetz berücksichtigt, Herr Burkhardt. Es geht nur darum, dass man leichter abschiebt, indem man die Straftat-Schwelle senkt. Das heißt, wenn jemand zu mehr als einem Jahr Haft verurteilt wird, das reicht dann aus, um abzuschieben. Burkhardt: Ich glaube, dass diese Diskussion im Moment in Deutschland vorschnell mit dem Flüchtlingsetikett geführt wird, dass man sehen muss, wer waren denn die Täter. Da ist auch sehr die Frage zu stellen, sind dies Schutzsuchende, die Schutz genießen müssen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Das wäre überhaupt einmal erst festzustellen. Hier wird mit diesem Gesetz eine Gruppe in den Brennpunkt der Öffentlichkeit gestellt, die ohnehin mit Vorurteilen überschüttet wird, wo Stimmung geschürt wird, wo Ablehnung besteht und wo dann das Verhalten einzelner Personen, was nicht zu billigen ist, der ganzen Gruppe zugeschoben wird. Das ist das Problem, was wir mit diesem Gesetz haben. "Dieses Gesetz hat einige Fallstricke" Spengler: Herr Burkhardt, verstößt dieses Gesetz, was im Bundeskabinett durchgewunken wurde, verstößt es gegen die Genfer Flüchtlingskonvention? Burkhardt: Das ist eine Frage, die kann man nicht so ganz einfach beantworten. Da muss man tief in das Gesetz einsteigen. Es muss aus unserer Sicht in jedem Einzelfall abgewogen werden und es ist schwierig, und von daher hat dieses Gesetz einige Fallstricke, wo Juristen der Auffassung sind, das berührt sehr wohl die Genfer Flüchtlingskonvention, und es ist fraglich, ob das so einfach geht, wie es die Bundesregierung möchte. Spengler: ... sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von "Pro Asyl". Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Günter Burkhardt im Gespräch mit Jochen Spengler
Es sei eine verschwindend kleine Minderheit von Flüchtlingen, die durch Übergriffe auffällig geworden seien, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl", im DLF. Das schärfere Asylgesetz könne die Ursache für Straftaten nicht verhindern.
"2016-01-27T23:15:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:50.928000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verschaerfung-des-asylgesetzes-pro-asyl-neues-gesetz-100.html
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"Jetzt beginnt Kampf um Mitglieder"
Ex-Innenminister Gerhart Baum (FDP) bei einer Talkshow im Fernsehen (Imago/Müller-Stauffenberg) Baum sagte, das Gesetz sei so offensichtlich verfassungswidrig, dass er sich über die heutige Debatte im Bundestag nur wundern könne. Beim Streikrecht und der Tarifautonomie handele es sich um eherne Verfassungsgrundsätze, die nicht verletzt werden dürften. Die Streiks der vergangenen Wochen würden schlimmer gemacht, als sie seien. "Wir haben keine dramatische Streikbilanz." Das heute beschlossene Gesetz sieht vor, dass in einem Betrieb mit konkurrierenden Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern gilt. Gerichte können Streiks der Minderheitsgewerkschaft verbieten. Baum äußerte Zweifel daran, wie geklärt werden soll, welche Gewerkschaft in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Da greife man in die Datenschutzrechte der Mitglieder ein. Zudem schüre das Gesetz den Konkurrenzkampf unter den Gewerkschaften. "Jetzt wird ein Kampf um Mitglieder stattfinden: Wer hat die Mehrheit und wer hat die Minderheit?", sagte Baum. Die Pilotengewerkschaft Cockpit will nach den Worten von Baum gegen das Tarifeinheitsgesetz klagen. Das Interview in voller Länge: Martin Zagatta: Die Große Koalition will den Einfluss kleiner, durchsetzungsstarker Spartengewerkschaften eindämmen, dadurch sollen Streiks in rascher Folge wie aktuell bei den Lokführern oder auch bei den Piloten mit erheblichen Einschränkungen für das öffentliche Leben und die Wirtschaft erschwert werden. Die Opposition und einige Gewerkschaften halten das Gesetz für verfassungswidrig, die Abgeordneten der Großen Koalition haben es aber am Vormittag verabschiedet. Am Telefon ist der frühere Innenminister Gerhart Baum, der als Anwalt für die Pilotengewerkschaft Cockpit tätig ist und dieses Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht stoppen will. Guten Tag, Herr Baum! Gerhart Baum: Guten Tag! Zagatta: Herr Baum, haben Sie die Klage gegen dieses Gesetz, haben Sie die schon in der Schublade? Baum: Ja, wir arbeiten daran. Und das Gesetz ist so offensichtlich verfassungswidrig, dass mich die Debatte nur verwundert. Man muss doch nur sich vor Augen führen, wenn letztlich eine Mehrheit entscheidet, ist die Minderheit ausgeschlossen. Die kann keinen Arbeitskampf mehr führen, da kann Frau Nahles drum herumreden, wie sie will. Das ist auch das Ziel des Gesetzes. Unser Streikrecht, die Tarifautonomie ist ein eherner Verfassungsgrundsatz. Die Löhne werden nicht von irgendjemandem diktiert, sondern sie werden ausgehandelt. Und zum Aushandeln gehört als Ultima Ratio der Arbeitskampf. Und es ist auch überhaupt nicht Lebenswirklichkeit, dass in einem Betrieb gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Man gucke sich nur die Automobilherstellung an, an den Fließbändern stehen Leute mit ganz unterschiedlichen Tarifverträgen! Zagatta: Aber neun Streiks wie jetzt bei der GDL, neun Streiks in ein- und demselben Tarifkonflikt, neunmal Millionen von Pendlern und Reisenden in eine Art Geiselhaft zu nehmen, erscheint Ihnen das nicht auch irgendwo übertrieben? Baum: Ja, natürlich ist das übertrieben, aber Sie müssen die Ursachen feststellen! Der Weselsky hat ja dafür gekämpft, dass er für alle seine Mitglieder abschließen kann. Er hat also gegen das Tarifeinheitsgesetz gekämpft. Denn wenn das Gesetz kommt, wird seine Gewerkschaft in einer ganzen Reihe von Bereichen der Bahn bedeutungslos. Und das ist also eine Sondersituation. Wir haben keine dramatische Streikbilanz in Deutschland, die Gewerkschaften haben sich im Großen und Ganzen an dem Gemeinwohl orientiert. Das wird jetzt alles dramatisiert und im Grunde ist das Gesetz auch gar nicht praktikabel. Es sind ja nicht nur einige, die das Gesetz bekämpfen, die Richtervereinigung, die Anwaltsvereinigung, viele Wissenschaftler haben das gesagt. Und das Gesetz ist auch insofern schwierig zu handhaben, als sie eine Mehrheit erst mal feststellen müssen. Da greifen sie in die Datenschutzrechte der Mitglieder ein. Müssen die denn ihre Mitgliedschaft offenbaren? Wer prüft das nach? Alles in einem Eilverfahren mitten in einem Streik! Und in den Anhörungen ist immer wieder darauf hingewiesen, der Betriebsfrieden wird nicht gefördert, sondern er wird gestört, denn jetzt wird ein Kampf um Mitglieder stattfinden, wer hat die Mehrheit und wer ist die Minderheit? Baum: Ungleiche Löhne für den gleichen Job stören den Betriebsfrieden nicht unbedingt Zagatta: Aber stört man nicht gerade den Betriebsfrieden, wenn man für exakt die gleiche Arbeit, wie das bei den Lokführern ja dann vielleicht in Zukunft der Fall ist, für exakt die gleich... für exakt den gleichen Job dann den einen zugesteht, dass sie weniger arbeiten müssen und vielleicht sogar noch mehr Geld bekommen? Das stört doch den Betriebsfrieden! Baum: Nein, das ist nicht unbedingt der Fall. Es gibt ja auch unzählige Betriebe, wo das praktiziert wird. Und es gibt verschiedene Schwerpunkte, die einen legen mehr Wert auf Lohn, die anderen mehr auf Freizeit, also auf die Arbeitszeitregelung. Das ist doch keine dramatische Situation, die zu einem Verfassungsverstoß Anlass gibt! Das ist ein Verfassungsverstoß und das wird das Gericht zu bewerten haben! Und wir werden auch für Cockpit versuchen, das Inkrafttreten des Gesetzes zu hindern durch eine einstweilige Anordnung. Cockpit ist zwar in der Mehrheit bei der Lufthansa, aber in der Minderheit bei anderen Unternehmen. Zagatta: Also, dass das Gesetz erst gar nicht in Kraft treten kann? Baum: Nein, das Gesetz sollte nicht in Kraft treten. Es ist so offensichtlich verfassungswidrig, dass ... und das auch noch von einer Sozialdemokratin vertreten, das verwundert mich doch sehr! Zagatta: Herr Baum, jetzt abgesehen da von juristischen Feinheiten: Machen Sie sich nicht, wenn Sie da jetzt für die Piloten zum Beispiel eintreten, zum Gehilfen von Berufsgruppen, die eben das Glück haben, dass sie über ein ganz, ganz hohes Erpressungspotenzial verfügen? Baum: Ja, wer hat denn das sogenannte Erpressungspotenzial nicht bei einem Streik? Ich war Verhandlungsführer für den öffentlichen Dienst als Innenminister, da wurde die Müllabfuhr stillgelegt, da wurde der Verkehr stillgelegt. Streik ist unangenehm und natürlich steht dahinter ein Druck. Ein Druck, der auch die Öffentlichkeit trifft. Der Kita-Streik trifft jetzt unzählige Eltern. Und dennoch ist er rechtmäßig und aus meiner Sicht sogar notwendig. Zagatta: Aber es gibt ja bestimmte Bereiche, man spricht da eigentlich von öffentlicher Daseinsfürsorge. Sollten da nicht andere Regeln gelten für Streiks? Baum: Ja, im Extremfall würde ich sagen: Ja. Also, wenn jemand die Wasserversorgung von Köln abstellt. Aber doch nicht wenn andere Versorgung gefährdet ist! In Köln beispielsweise hat im letzten Jahr die Straßenbahn zwei Tage gestreikt. Ist das Daseinsvorsorge oder nicht? Hier macht man ein Fass auf, um die Grenze zu ziehen, was ist wirklich Daseinsvorsorge und was ist nur unangenehm? Das ist sehr schwierig. Und im Übrigen, man kann über Weselsky alles Mögliche sagen, ein Drittel der Züge ist gefahren! Und wie hat sich denn der Arbeitgeber verhalten? Zu einem Tarifvertrag gehören immer zwei! Zwei sind verantwortlich! Zagatta: Die FDP, Ihre Partei, die gilt ja eigentlich als wirtschaftsfreundlich. Warum treten Sie dann für kleine Gewerkschaften ein, die wie jetzt die GDL der Wirtschaft eigentlich einen enormen Schaden zufügen? Baum: Ja, Streik ist immer schädlich, das ist gar nicht auszuschließen. Im Übrigen hat die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger... Zagatta: Die ehemalige! Baum: ... in der letzten Periode des Bundestags dieses Gesetz verhindert, weil sie es genauso wie ich als verfassungswidrig angesehen hat. Also, Wirtschaftsfreundlichkeit ist nicht unbedingt Verfassungswidrigkeit. "Möchte daran festhalten, dass wir unser Grundgesetz auch in schwierigen Zeiten leben" Zagatta: Aber aus der Wirtschaft kommen jetzt Forderungen, dringende Forderungen, das Streikrecht von besonders privilegierten Gruppen – also, um die geht es ja – endlich zu begrenzen. Baum: Wer ist denn besonders privilegiert? Sind die Kindergärtnerinnen besonders privilegiert? Wo fängt man an, wo hört man auf? Zagatta: Ja, darüber ließe sich wahrscheinlich diskutieren und eine Einigung finden! Baum: Ja, aber das ... Sie können das Streikreicht nicht einschränken. Ich erwarte von den Gewerkschaften, dass sie sich verantwortungsvoll verhalten, ich erwarte das auch von den Arbeitgebern. Aber es gab bisher keine Exzesse. Und der GDL-Streik ist nicht symptomatisch. Er hatte eine besondere Ursache und er hat mir auch nicht gefallen, aber die Ursache muss man erkunden. Und die Ursache lag darin, dass die GDL – wie übrigens auch der Marburger Bund – in ihrer Existenz bedroht sind, wenn das Gesetz kommt. Zagatta: Was halten Sie denn von Forderungen, die jetzt Jura-Professoren schon vor einiger Zeit vorgelegt haben? Die sagen, in ganz wichtigen Bereichen, die man dann festlegen müsste, da sollte man verpflichtende Schlichtungen erst einmal einführen. Solche Schlichtungen zur Pflicht machen, schon gesetzlich. Könnten Sie sich damit anfreunden? Baum: Ja, aber letztlich wird das nicht viel ändern. Eine Schlichtung kann ja nicht verbindlich sein. Die Schlichtung ... Es kann ja nicht der Zwang bestehen, das Schlichtungsergebnis dann umzusetzen. Es kann eine Abkühlungsphase sein. Also, das kann man diskutieren, aber meines Erachtens führt es nicht zu einer Entspannung. Eine Entspannung ist, dass wir ... dass beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, rechtzeitig versuchen, aufeinander zuzugehen. Streik wird es immer geben, sonst gibt es keine Tarifautonomie. Und das ist die Geschichte der Bundesrepublik. Wir haben ja Situationen erlebt, unter den Nazis und in der DDR wurden die Löhne festgesetzt vom Staat, hier werden sie ausgehandelt. Das ist das Merkmal einer freien Gesellschaft. Und die Gewerkschaften, die Minderheitsgewerkschaften haben sich ja vielfach deshalb gegründet, weil sie sich nicht mehr vertreten sahen von den großen Gewerkschaften! Und im Übrigen, die großen Gewerkschaften konkurrieren selber jetzt in einigen Betrieben, untereinander. Zagatta: Herr Baum, Sie haben eben "rechtzeitig" gesagt. In anderen Ländern soll es solche Regelungen geben, dass man gerade in wichtigen Bereichen, zum Beispiel im Verkehrsbereich, da Fristen setzt, dass sehr lange oder mit einigen Tagen Vorlauf das angekündigt werden muss. Würde das Sinn machen, da klarere Regeln zu schaffen? Baum: Man kann überlegen, im Arbeitskampfrecht etwas zu tun, aber dem sind enge Grenzen gesetzt. Aber hier geht es ja nicht um das Arbeitskampfrecht, sondern es geht um das Tarifrecht. Und mit Verlaub, wir haben ein wunderbares Grundgesetz. Das Grundgesetz ist eine Reaktion auf Zeiten der Unfreiheit. Und die Grundrechte sind unabänderlich und unabwägbar. Ich möchte gerne daran festhalten, dass wir unser Grundgesetz auch in schwierigen Situationen leben! Zagatta: Heute Mittag im Deutschlandfunk der frühere Innenminister Gerhart Baum, der das Tarifeinheitsgesetz, das der Bundestag heute beschlossen hat, jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht noch stoppen will. Herr Baum, ich bedanke mich für das Gespräch! Baum: Ja, Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerhart Baum im Gespräch mit Martin Zagatta
Als verfassungswidrig bezeichnet Gerhard Baum das neue Gesetz zur Tarifeinheit. Künftig entscheide in Betrieben die Mehrheit, sagte der Ex-Bundesinnenminister, der als Anwalt die Pilotenvereinigung Cockpit vertritt. Kleinere Gewerkschaften könnten keinen Arbeitskampf mehr führen.
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"2020-01-30T12:38:14.767000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tarifeinheitsgesetz-jetzt-beginnt-kampf-um-mitglieder-100.html
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Flaggschiff in immer neuen Gewässern
Am 26.12.2022 wird die „Tagesschau“ 70 Jahre alt - hier ein Blick in den Newsroom im neuen Nachrichtenhaus von ARD-aktuell (picture alliance / dpa / Marcus Brandt) Bilder der ersten Ausgabe der „Tagesschau“ sucht man vergebens, sowohl im Internet als auch den Archiven der zuständigen ARD-Anstalten. Die einzige erhaltene Sendung aus den Fünfzigerjahren beginnt mit den Schwarz-Weiß-Aufnahmen eines Wasserfalls – und kommt heute ohne Ton aus. Noch bis Ende dieses Jahrzehnts besteht die „Tagesschau“ nur aus Filmbildern, in drei Ausgaben pro Woche mit weniger als 1000 Zuschauerinnen und Zuschauern zu Beginn. Erst im März 1959 kommt ein fünfminütiger Wortnachrichtenblock dazu, gesprochen von Karl-Heinz-Köpke. In den folgenden Jahrzehnten bleibt der gelernte Hörfunk-Sprecher dabei und wird am Ende „Mr. Tagesschau“ genannt. 1987 präsentiert er seine letzte Sendung, live und in Farbe, mittlerweile vor einem Millionenpublikum. Und: gegen neue Konkurrenz. Umbrüche in den 80er- und 90er-Jahren Die ARD-Sendung muss sich Ende der Achtzigerjahre nicht mehr nur gegen die Heute-Nachrichten im ZDF behaupten. RTL und andere private Sender mischen damals bereits mit und auch den Markt der Newsformate auf. Zeit für einen Wandel auch bei der „Tagesschau“, wie sich Ulrich Deppendorf im Deutschlandfunk erinnert, von 1993 bis 1998 Chefredakteur der von Anfang an in Hamburg produzierten Sendung. 30 Jahre "RTL Aktuell" Seriöses Outfit fürs Knallbunte 30 Jahre "RTL Aktuell" Seriöses Outfit fürs Knallbunte Vor 30 Jahren wurde zum ersten Mal "RTL Aktuell" ausgestrahlt. Es war nicht die erste Nachrichtensendung auf RTL – und dennoch verpasste sich der Privatfernsehsender mit ihr einen neuen Anstrich. So habe es Überlegungen gegeben, aus den 15 Minuten eine „große Nachrichtensendung mit Moderation zu machen“. Doch Umfragen hätten gezeigt: „Die Zuschauer wollen diese strenge 15 Minuten“, so Deppendorf. Deshalb habe man entschieden: „Wir bleiben dabei, aber ein bisschen verändern müssen wir uns auch.“ Unter Deppendorf beginnt ein Umbruch bei den Gesichtern, die die „Tagesschau“ präsentieren: Moderatoren statt Sprecher, „Mitarbeiter, die journalistisch vorgebildet sind“, wie der frühere Chefredakteur sagt. Und aus einer 15-Minuten-Sendung am Abend werden viele, unterschiedlich lange, im Laufe des Tages, bis spät in die Nacht. Beginn der Erfolgsgeschichte Internet Am nachhaltigsten verändert die „Tagesschau“ aber wohl diese Frage aus den Reihen eines kleinen Teams: „Sollen wir das mal probieren?“ Und gemeint gewesen sei das Internet, so Deppendorf heute, mehr als 25 Jahre später. „Da hab‘ ich gesagt: Machen Sie’s! Und dann schauen wir mal, wie es weitergeht." Der Beginn einer Erfolgsgeschichte: Aus „Tagesschau“ wird zusätzlich tagesschau.de. Und zum Fernsehen gesellen sich unter dieser Dachmarke bis heute zahlreiche weitere Ausspielwege im Internet, von Facebook (2,3 Millionen Follower) über Twitter (3,9 Millionen) bis zuletzt TikTok (1,3 Millionen).  Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. "Wo immer wir hingehen und wo immer wir auftauchen, tauchen wir als die Marke ‚Tagesschau‘ auf. Und wir definieren das immer als Tagesschau plus X. Und im Kern muss immer eine Nachricht stehen", betont gegenüber der Deutschen Presse-Agentur Marcus Bornheim, Deppendorfs aktueller Nachfolger als Chefredakteur. "Tagesschau" auf TikTok "Die Plattform wird vorsichtig sein" "Tagesschau" auf TikTok "Die Plattform wird vorsichtig sein" Sorgt die "Tagesschau" für mehr Offenheit bei TikTok? Oder sorgt Deutschlands renommierte Nachrichtenredaktion dafür, dass die Plattform Legitimation erhält? Diese Frage stellten wir 2019 zu Beginn der "Tagesschau" auf TikTok. "Die Bedeutung der "Tagesschau" für die Information der Gesellschaft ist nach allem, was wir aus Studien wissen, enorm, auch bei jungen Zielgruppen. Dies gilt verstärkt in Krisenzeiten", ordnet im Porträt der Nachrichtenagentur anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums Wolfgang Schulz ein, Direktor des Leibniz-Institutes für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut. Online-Journalistin Pörzgen: Gelungene Auslandsstrategie Eine Einschätzung, die Gemma Pörzgen, freie Journalistin und Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West Europäische Perspektiven“, bestätigt. Viele andere Online-Redaktionen orientierten sich an tagesschau.de, sagt Pörzgen im Gespräch mit @mediasres. Sie spricht von einer „Vorbildrolle“, auch deshalb, weil man bei der verantwortlichen Abteilung ARD-aktuell viel in Online-Redaktion und Social Media investiere. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Pörzgen beim medienkritischen Portal Übermedien kritisiert, die ARD sei im Krieg „schlecht aufgestellt“ und damit auf das Fehlen von Korrespondenten vor Ort hingewiesen. Fünf Jahre „Faktenfinder“ „Auf Podest, wo es nicht hingehört“ Fünf Jahre „Faktenfinder“ „Auf Podest, wo es nicht hingehört“ Seit fünf Jahren will der „Faktenfinder“ der ARD Desinformationen aufdecken. Im Krieg gegen die Ukraine gebe es aktuell eine „Flut an Bildern“, sagte der Leiter des ARD-Portals, Patrick Gensing, im März im Dlf. Ein Gespräch über die Grenzen seiner Arbeit. „Bei aller Kritik, die ich habe, dass bestimmte Weltgegenden weniger auftauchen, finde ich aber, dass tagesschau.de vor allem im Vergleich zu den meisten Tageszeitungen Auslandsnachrichten sehr umfassend abbildet“, unterstreicht Pörzgen. So seien etwa Auslandskorrespondenten inzwischen in die Auslandsstrategie eingebunden, so dass tagesschau.de entsprechend viele Inhalte anbieten könne. Deppendorf: Zeit für Chefredakteurin gekommen Der vor kurzem verstorbene frühere WDR-Intendant Fritz Pleitgen hatte 2012 kritisiert, die Ausrichtung der „Tagesschau“ sei zu sehr auf deutsche Ereignisse fokussiert. 15 Minuten seien "zu kurz, um das Weltgeschehen adäquat abzubilden", so Pleitgen damals im „Spiegel“. Diese Kritik gelte heute so nicht mehr, findet Pörzgen. Die Auslandsberichterstattung auch in der „Tagesschau“ sei in den vergangenen Jahren „sehr verstärkt“ worden, beobachtet auch Ulrich Deppendorf. Er wünsche sich manchmal, „dass wir schneller mit bei Ereignisse auch mit eigenen Leuten vor Ort sind“, sagt der 72-Jährige. Außerdem sei es an der Zeit, dass auch einmal eine Frau das Ruder der Redaktionsleitung in die Hand bekomme. „Wir waren jetzt lange Zeit eine Männertruppe.“ Aber nun sei die Zeit reif für eine Chefredakteurin.
Text: Michael Borgers | Ulrich Deppendorf im Gespräch mit Bettina Köster
Am 26.12.1952 lief die "Tagesschau" zum ersten Mal im TV. Bis heute gilt sie als erfolgreichstes Nachrichtenformat – längst auch auf anderen Ausspielwegen. Nicht nur für den früheren Chefredakteur Ulrich Deppendorf ist das ein Schlüssel zum Erfolg.
"2022-12-21T15:35:00+01:00"
"2022-12-21T14:32:18.713000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/70-jahre-tagesschau-100.html
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"Die SPD könnte auch noch unter 20 Prozent sinken"
Der emeritierte Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann. (dpa / Heinrich-Heine-Universität) Martin Zagatta: Mit uns verbunden ist jetzt der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann. Herr von Alemann, guten Tag! Ulrich von Alemann: Guten Tag, Herr Zagatta. Zagatta: Wenn Sie eben zugehört haben, man fragt sich ja: Warum muss Sigmar Gabriel eigentlich so kämpfen, so werben um die Zustimmung seiner Parteigenossen? Denn eigentlich, verglichen mit seinen Vorgängern, hat er die Sozialdemokraten doch in relativ ruhiges Fahrwasser gebracht. Woher kommt da schon wieder die Kritik? Wie erklären Sie sich das? von Alemann: Ja, die SPD ist immer schon eine Partei gewesen, die mit sich kämpft, manchmal mit sich mehr kämpft als mit dem politischen Gegner. Das hat es schon immer gegeben, im Grunde in der ganzen über 100jährigen Geschichte der SPD. Sigmar Gabriel ist deshalb auch besonders umstritten, immer gewesen, weil man ihn eigentlich für im übertragenen Sinne leichtgewichtig hielt, auch wenn er das real auf der Waage nicht zeigt. Aber er hat schon sechs Jahre im Amt überstanden. Vor ihm haben die meisten seit Willy Brandt nur ein, zwei Jahre im Amt es ausgehalten. Er muss aber trotzdem kämpfen, weil nun auch gerade im Journalismus in etwas übertriebener Weise diese 83 Prozent von seiner letzten Wahl hochgehalten werden als die Latte, die er jetzt unbedingt noch höherlegen muss, um sie dann erfolgreich zu überspringen. Insofern hat er sich kräftig ins Zeug gelegt in seiner Rede heute Morgen. Ob das dann wirklich reicht, das weiß man nicht jetzt im Augenblick. Ich nehme jedenfalls an, ich persönlich, da das nicht ein so besonders gutes Ergebnis war damals mit diesen 83,6 Prozent, dass er da schon ein wenig drauflegen können wird. "Eine ganz merkwürdige Parallele jetzt zur Union" Zagatta: Trotzdem, Herr von Alemann, kommen ja die Zweifel, ob er der richtige Kanzlerkandidat ist, auch aus seiner eigenen Partei. Da wird ja jetzt schon spekuliert, ob Steinmeier vielleicht der bessere Kandidat sei. Hat die SPD da etwas Selbstzerstörerisches, oder wie ist das zu erklären? von Alemann: Die SPD hat immer schon an sich selber gezweifelt und in der evangelischen Kirche sagt man, wenn man am Glauben zweifelt, dann ist man schon ein ganzes Stück weiter, als wenn man selbstgewiss ist. Das scheint, die SPD verinnerlicht zu haben. Es gibt da aber eine ganz merkwürdige Parallele jetzt neuerdings zur Union. Auch Frau Merkel muss kämpfen in ihrer Partei, was sie gar nicht gewohnt ist für mehrere Jahre lang, und dieses ist jetzt nun für beide Parteien akut. Beide Parteien haben an diesem Wochenende Parteitag. Und Sigmar Gabriel hat trotz aller Kritik, die man an ihm üben kann und üben darf und üben wird in der Partei auch - schon vor einem halben Jahr war seine Position eigentlich stärker infrage gestellt -, doch wieder an Statur gewonnen und ist, denke ich, als Spitzenkandidat für die nächste Wahl 2017 im Grunde völlig unersetzlich. Wer soll ihn denn in irgendeiner Weise angreifen? Und das ist wiederum eine Parallele zur CDU. Auch wenn die Kritik an der Frau Merkel überall laut wird in der eigenen Partei und in der Union, auch da gibt es eigentlich überhaupt keine Alternative. Zagatta: Jetzt kommt die Kritik in der SPD vor allem ja vom linken Flügel, wenn ich das richtig einschätze, auch an seinem Kurs, dass er daran festhält, Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Gilt das für die SPD überhaupt noch, jetzt wo die CDU ja ziemlich sozialdemokratisch geworden ist und die Grünen auch eher realpolitisch? von Alemann: Genau das ist das Problem für die SPD. Sie ist weiter eine Mitte-Partei, eine zentristische Partei. Die CDU rückt ihr da näher auf den Pelz durch Merkel. Allerdings wird das in der Union auch zurzeit sehr stark infrage gestellt, man müsse das konservative Profil wieder stärken. Aber die SPD hat im Grunde für diesen Mittelkurs, den sie führt und den auch Gabriel führt - es gibt natürlich auch sozusagen rechte Sozialdemokraten und linke, die ihn beide kritisieren -, er will diesen Mittelkurs durchhalten, weil er auf der linken Seite jedenfalls den linken Teil der Grünen in Konkurrenz sieht und auch noch die Linkspartei und weil er überzeugt ist, dass er da eigentlich keinen Blumentopf gewinnen kann, wenn er die SPD jetzt nach links führen sollte. In der Mitte sind immer noch die meisten Wähler nach allen Umfragen, die wir kennen, versammelt. Insofern macht sein Kurs durchaus Sinn. "Die SPD muss ihre Position stabilisieren" Zagatta: Auch wenn die SPD bei diesem Kurs so um die 25 Prozent verharrt? Von dieser ganzen Flüchtlingskrise profitiert ja im Moment offenbar fast nur die AfD. Kann die SPD unter diesen Umständen, so wie das im Moment läuft, die nächste Wahl eigentlich fast schon abschreiben? von Alemann: Sie kann die nächste Wahl wahrscheinlich nicht wirklich gewinnen und den nächsten Kanzler stellen. Das ist im Augenblick relativ unwahrscheinlich. Sie muss ihre Position stabilisieren. Wir haben in Deutschland so stabile oder auch stagnierende Verhältnisse in der Politik, wie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr. Das einzige ist richtig, dass die AfD bis auf zehn Prozent in den Umfragen kommt. Die anderen Parteien, die beiden großen, Union um die 40, SPD um die 25, Grüne und Linke um die zehn. Das bleibt so stabil, wie ich mich wirklich in der Geschichte der Umfragen gar nicht mehr daran erinnern kann, dass es jemals das gegeben hat. Insofern kann die SPD sagen, das ist ganz schlimm, wir als SPD müssten ja eigentlich wieder über die 30 Prozent rüberkommen. Man kann aber auch andererseits sagen, wenn man den Blick nach Frankreich führt und andere Länder: Die SPD ist nicht darauf abonniert, 25 Prozent zu haben; sie könnte auch noch unter die 20 Prozent sinken, wie derzeit in Baden-Württemberg in den Umfragen. Das ist auch immerhin eine Stabilisierung, nicht nur eine Stagnation, wenn die SPD diese 25 Prozent und damit ein Viertel der Wählerschaft erst mal weiterhin hält. "Die Union braucht einen Koalitionspartner" Zagatta: Sind das dann, böse gesagt, was die Sozialdemokraten da machen, Scheingefechte, die sie führen? Hat dann die dreijährige Tochter, wie wir das eben in der Rede von Sigmar Gabriel gehört haben, ganz gute Aussichten, ihren Vater bald öfter zu sehen? von Alemann: Ja. Man weiß ja nicht, was dann für ein Wahlergebnis herauskommen wird. Auch wenn die Union weiterhin die unangefochten stärkste Partei sein wird bei den beiden Volksparteien, muss die Union in jedem Fall einen Koalitionspartner haben. Noch vor ein, zwei Jahren wurde die Union gehandelt, sie könne ja auch die absolute Mehrheit holen. Das ist längst vorbei, daran glaubt im Augenblick niemand mehr. Die Union braucht also einen Koalitionspartner und die SPD ist damit weiterhin einer der möglichen Koalitionspartner. Ob es gut ist, auf Dauer und auf längere Zeit eine Große Koalition zu haben, ist eine ganz andere Frage, aber diese Große Koalition, wenn sie denn weiter kommen würde, hätte ja eine ziemlich starke Opposition aus mehreren Parteien gegen sich. Zagatta: Dann aber unter Umständen nicht mit Sigmar Gabriel. von Alemann: Ja, das wäre durchaus denkbar. Zagatta: Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann. Herr von Alemann, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch und für Ihre Einschätzungen. von Alemann: Ja, ich danke auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ulrich von Alemann im Gespräch mit Martin Zagatta
Es sei im Augenblick relativ unwahrscheinlich, dass die SPD die nächste Wahl gewinne und den nächsten Kanzler stelle, sagte der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann im DLF. Auch wenn die SPD bei etwa 25 Prozent zu stagnieren scheine, müsse sie sich dort erst einmal stabilisieren - denn sie könnte auch weiter absinken.
"2015-12-11T13:15:00+01:00"
"2020-01-30T13:13:43.809000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-parteitag-die-spd-koennte-auch-noch-unter-20-prozent-100.html
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"Verächtlichmachung unserer demokratischen Institutionen"
Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags (Bündnis 90/Die Grünen) (imago / Sven Simon) Demonstrierende hatten am Samstag (29.08.2020) nach der Demonstration gegen die Corona-Auflagen eine Absperrung vor dem Reichstag durchbrochen und versucht, in das Gebäude einzudringen. Auf der Treppen wurden schwarz-weiß-roten Reichsflaggen geschwenkt. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth spricht von einem "unerträglichen und inakzeptablem Vorgang". Im 75. Jahr nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror seien diese Bilder nicht auszuhalten. Die krude Mischung der Demonstrierenden sei unterschätzt worden - auch von CSU-Innenminister Horst Seehofer, kritisiert Roth. Es müsse deutlich werden "dass wir ein Rechtsextremismusproblem haben und dass wir in einer wehrhaften Demokratie endlich stärker damit umgehen müssen. Das Meinungsrecht und die Demonstrationsfreiheit gilt, aber nicht wenn sie zur Gefährdung wird und zum Angriff auf die Demokratie und auf die Gesundheit der Menschen." " Die Friedlichen müssen sich von den Rechtsextremen abgrenzen"Demonstrationen gehören für den Publizisten Heribert Prantl zur Kernsubstanz der Demokratie. Doch Rechtsextremisten versuchten, die Proteste friedlicher Kritiker der Corona-Maßnahmen zu dominieren, sagte er im Dlf. Roth: Bundestag ist und bleibt ein offenes Haus Zur Strategie der Rechten gehöre unter anderem die "Verächtlichmachung unserer demokratischen Institutionen". Dieser Strategie müsse man nun etwas entgegensetzen. Der Bundestag dürfe dadurch allerdings nicht zur Festung werden, meint Roth. "Der Bundestag ist und bleibt ein offenes Haus", aber er müsse geschützt werden und dafür müsse ein Konzept erarbeitet werden. Ob Fehler gemacht wurden, müsse jetzt überprüft werden. Die Fraktionen von SPD und Union wollen heute gemeinsam eine Sondersitzung des Ältestenrats für den kommenden Donnerstag beantragen. Darin soll es auch um die Frage gehen, ob die Bestimmungen für die Bannmeile verändert werden sollten. Soziologe Nassehi: "Die Maske ist eine Zivilisierungsübung"Die Maske sorge für Distanz und ermögliche darüber Nähe, sagte der Soziologe Armin Nassehi im Dlf. Damit symbolisiere sie im Grunde alltägliches Verhalten im Zusammenleben großer Gruppen. Das Interview im Wortlaut: Schulz: Wir haben Bundestagspräsident Schäuble gerade gehört, der sagt, die Polizei sei mit der Sache gut fertig geworden. Finden Sie das auch? Roth: Ich bedanke mich auch bei den Polizisten und Polizistinnen, die versucht haben, Schlimmeres zu verhindern. Aber gleichwohl bleibt es natürlich ein sehr schlimmer, ein unerträglicher und auch ein inakzeptabler Vorgang. Ich verstehe, wenn viele Menschen sagen, auch übrigens Auschwitz-Überlebende sagen, die gestrigen Bilder, die sind eigentlich nicht auszuhalten. In einem Jahr, in diesem Jahr, wo wir 75 Jahre Befreiung vom nationalsozialistischen Terror begehen, wo wir das Ende unermesslichen Leids und unfassbarer Menschheitsverbrechen gedenken, da stehen dann Menschen mit der Reichsflagge vor unserem Bundestag. Das ist wirklich nicht zu ertragen! "Es ist unterschätzt worden, wie krude diese Mischung ist" Schulz: Haben Sie für uns schon Erklärungsansätze? Wie konnte das passieren? Roth: Ich glaube, es ist unterschätzt worden. Ja, es ist unterschätzt worden. Es ist unterschätzt worden, wie krude diese Mischung ist, und ich finde, ehrlich gesagt, dass unser Innenminister es immer noch unterschätzt. Wenn Herr Seehofer von Chaoten redet, wenn ein CSU-Kollege von versprengten, kindsschreienden Chaoten redet, dann, glaube ich, ist nicht erkannt worden, worum es gegangen ist und worum es den Rechtsextremisten geht. Da waren Rechtsextremisten, da waren Neo- und Altnazis unterwegs, da waren Reichsbürger unterwegs, da war die Jugendorganisation der AfD unterwegs mit der Reichsfahne in der Hand, und das ist ein eindeutiges Nazi-Symbol, das antisemitisch konnotiert ist und das ganz, ganz, ganz klar ein Ausdruck der Feinde der parlamentarischen Demokratie ist. Und das muss endlich auch deutlich gemacht werden, auch von unserem Innenminister, der unser Verfassungsminister ist, dass wir ein Rechtsextremismus-Problem haben und dass wir in einer wehrhaften Demokratie endlich stärker damit umgehen müssen. Schulz: Haben Sie es denn als Präsidiumsmitglied des Deutschen Bundestages auch unterschätzt? Wenn ich die Äußerung von Wolfgang Schäuble richtig verstehe, dann gab es kein Sicherheitskonzept für den Bundestag. Roth: Das muss ich Ihnen sagen, wir werden natürlich im Präsidium darüber diskutieren. Wir werden ganz sicher im Ältestenrat darüber diskutieren. Die SPD, aber auch die Grünen und andere haben schon gesagt, wir wollen natürlich so schnell wie möglich eine Ältestenrat-Sitzung. Es muss diskutiert werden und wird heute ja auch von den Berliner Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuss in Berlin diskutiert werden. Dann wird zu überprüfen sein, wie war die Strategie, wo sind Fehler gemacht worden, wo muss man verbessern. Denn eines ist klar: Der Bundestag ist ein Symbol. Der Bundespräsident hat es ja gesagt: Es ist die Herzkammer unserer Demokratie. Und die Strategie der Rechtsextremisten ist zum einen, mit entgrenzter Sprache Menschen in unserem Land Angst zu machen, Minderheiten zu bedrohen, zum Zweiten unsere Geschichte zu relativieren und zum Dritten die Verächtlichmachung von unseren demokratischen Institutionen. Das haben wir übrigens auch von AfD-Seite schon im Bundestag erlebt. Und dieser Strategie müssen wir was entgegensetzen. "Ich will nicht noch einmal solche Bilder sehen" Schulz: Frau Roth, lassen Sie mich zwischenfragen. Ich verstehe Sie richtig, Sie werden das auch selbstkritisch diskutieren mit Blick auf mögliche Versäumnisse auch des Bundestagspräsidiums? Roth: Ja, natürlich. – Natürlich! – Ich will doch nicht noch einmal solche Bilder sehen. Ich will nicht, dass Rechtsextremisten vor dem Bundestag triumphierend aufmarschieren. Wir sind viel, viel mehr, wir Demokratinnen und Demokraten, und das war alles andere als ein Sturm, aber es muss klar sein, worum es geht. Und übrigens: Wir sollen den Bundestag schützen, wir sollen die demokratischen Institutionen schützen. Wir müssen in unserem Land aber die Menschen auch schützen, die Angst haben: Juden und Jüdinnen, Muslime, Sinti und Roma, LGBTIQ, Menschen of Color, schwarze Menschen, schwarze Menschen. Auch die werden angegriffen von Rechtsextremisten und deswegen muss aufhören, dass man jetzt von ein paar versprengten Chaoten redet, und man muss sich auch genau anhören, was die AfD gestern gesagt hat. Frau von Storch hat von einem guten Tag gesprochen. Das war kein guter Tag, sondern es war ein Tag, der uns als Demokratinnen und Demokraten aufwecken muss, dass wir wachsam sind, dass wir Gesicht zeigen, dass wir die Stimme erheben und dass jede und jeder von uns Verfassungsschützer*in wird. Schulz: Dann lassen Sie uns noch mal über die praktischen Konsequenzen sprechen. Stand jetzt: Man kann im Bundestag, im Parlament, aus der gläsernen Kuppel ins Plenum schauen. Das ist ein Symbol für Volksnähe, auch für Transparenz. Muss der Bundestag jetzt zur Festung werden? Roth: Um Gottes willen! Nein! Genau das, aber doch genau das wäre ja das Ziel derjenigen, die diese offene demokratische Institution, die diese Herzkammer oder den Maschinenraum, wie Sie wollen, der Demokratie angreifen wollen. Wir sind kein Hochsicherheitstrakt! Wir sind kein Hochsicherheitstrakt. Der Bundestag ist und bleibt ein offenes Haus, das Bürgerinnen und Bürger, das Gäste aus der ganzen Welt empfängt, einlädt, unsere Demokratie zu erleben. Aber es muss geschützt werden. Ja, es muss geschützt werden, auch vor Situationen, wie wir sie jetzt erlebt haben, und dafür muss ein Konzept erarbeitet werden. Das wird sicher auf der Berliner Ebene zu diskutieren sein. Das wird aber auch bei uns im Haus zu diskutieren sein. Wir haben ja auch eine eigene Polizei. Aber ich will nicht, dass wir uns verschließen, denn das ist genau die Kraft unseres Hauses, dass wir ein offenes demokratisches Haus sind und bleiben und übrigens sehr, sehr, sehr viel mehr Demokraten dort sind als Antidemokraten. "Das Demonstrationsrecht ist ein sehr hohes Gut" Schulz: Über die würde ich gerne jetzt auch genauer sprechen. Lassen Sie uns noch mal schauen auf dieses Hin und Her vor der Demonstration. Berlins Innensenator Geisel wollte die Demonstration verbieten lassen, wurde dann von den Gerichten korrigiert, weil das Verbot nicht verhältnismäßig war. Hat das auch zu einer Polarisierung jetzt in der Stadt, in der Situation beigetragen? Roth: Das weiß ich nicht. Das wird ja jetzt behauptet, dass dieses Hin und Her dazu geführt hätte, dass mehr angereist wären. Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht waren bestimmte Maßnahmen oder bestimmte Versuche eher unglücklich. Aber es ist auch Ausdruck unserer Demokratie, wenn ein Berufsverbot erlassen wird, dass es dann Gerichte gibt, die es überprüfen. Schulz: Ein Demoverbot. Roth: Die Gerichte haben die Demonstration zugelassen. Übrigens auch bemerkenswert, dass diejenigen, die demonstriert haben, dann immer noch von Diktatur in unserem Land reden. Wir sind keine Diktatur, sondern es ist überprüft worden von den Gerichten, und die haben die Demonstration zugelassen. Das Demonstrationsrecht ist auch wirklich ein sehr, sehr, sehr hohes Gut. Aber wir leben auch in Pandemie-Zeiten, in denen es Auflagen und Schutzmaßnahmen gibt, die zum Wohl der Gemeinschaft erlassen und durchgesetzt werden müssen, und deswegen muss überlegt werden, wie man beides schützen kann, zum einen die Meinungsfreiheit, das Demonstrationsrecht, und auf der anderen Seite aber auch Schutzmaßnahmen zum Wohle der Gemeinschaft. Schulz: Frau Roth, wenn ich da zwischenfragen darf? Roth: Ja. – Entschuldigung! "Man muss sich ganz genau überlegen, mit wem man sich da zusammentut" Schulz: Da habe ich eben die Position auch Ihrer Partei nicht verstanden. Es hat jetzt dieses Verbot gegeben. Es ist gekippt worden als nicht verhältnismäßig. Man kann Ihrer Partei ja nun wirklich auch überhaupt nicht nachsagen, aus Demonstrationsmuffeln zu bestehen, wenn wir auf Brokdorf und Gorleben schauen, auf Ihre Geschichte. Als es dieses Verbot Mitte der Woche gab, wo waren da die kritischen Stimmen von den Grünen? Roth: Noch einmal: Ich glaube, dass es auch Argumente gab zu sagen, eine Demonstration, in der schon im Ansatz aufgerufen worden ist zu Gewalt, eine Demonstration, in der von Anfang an gesagt worden ist, wir halten uns nicht an die Maßnahmen, die wichtig sind, um vor der Pandemie zu schützen, da gibt es durchaus Argumente zu sagen, diese Demonstration ist eine Gefährdung für die Gesundheit von den Menschen, die Angst haben vor der Pandemie, die Angst haben, sich zu infizieren. Es sprechen Gründe dafür, es sprachen auch Gründe dafür, die Demonstration nicht zu verbieten. Aber noch einmal: Wir haben Gerichte, die das überprüfen, und das macht unseren Rechtsstaat aus. Schulz: Jetzt muss man ja nicht unbedingt Neonazi sein, man muss nicht unbedingt Reichsbürger sein, um Kritik zu üben an der aktuellen Corona-Politik. Wir wissen, dass zehn Prozent der Bevölkerung die Corona-Politik zu scharf finden. Wo ist denn da das Angebot der Grünen? Wo können diese Menschen auf der Straße, was ja laut grüner DNA für Sie auch ganz wichtig ist, wo können die diesen Protest artikulieren, frage ich Sie mit einer Bitte um eine kürzere Antwort, weil wir auf die Nachrichten zulaufen? Roth: Ja, natürlich muss man die Menschen ernst nehmen, die sagen, sie verstehen die Maßnahmen nicht, sie finden sie falsch. Selbstverständlich! Das ist Meinungsfreiheit in unserem Land. Aber ich finde schon, man muss sich ganz genau überlegen, mit wem man sich da zusammentut. Schulz: Was ist Ihr Angebot? Roth: Ja, das Demonstrationsrecht gilt. Aber ich sage, wenn die NPD aufruft, wenn die AfD aufruft, wenn es ganz klar ist, dass versucht wird, von den Rechtsextremisten in unserem Land zu missbrauchen, dann muss man sich überlegen, mit wem ich mitmarschiere. Debatten, Auseinandersetzungen, was ist richtig, die führen wir im Bundestag und die muss man selbstverständlich auch in der Öffentlichkeit führen. Niemand kann ganz hundertprozentig sicher sein, was die richtigen Maßnahmen sind in einer Situation, wo wir es mit einer Pandemie zu tun haben. Das Meinungsrecht, die Demonstrationsfreiheit gilt, aber nicht, wenn sie zur Gefährdung wird und zum Angriff auf die Demokratie und auf die Gesundheit der Menschen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Claudia Roth im Gespräch mit Sandra Schulz
Die Grünen-Politikerin Claudia Roth hat das Vordringen von Demonstranten vor das Reichstagsgebäude scharf kritisiert. Die krude Mischung der Demo-Teilnehmer sei vorab unterschätzt worden - auch von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Es müsse deutlich werden, dass man in Deutschland ein Rechtsextremismusproblem habe.
"2020-08-31T07:15:00+02:00"
"2020-09-04T17:07:50.808000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/proteste-vor-dem-reichstag-veraechtlichmachung-unserer-100.html
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Warnung an den Westen
Political Correctness ist nicht der Maßstab, nach dem Ernst Nolte sich richtet. Warum sollte er auch? Er fühlt sich, ordentlicher öffentlicher Professor, wie das früher hieß, der Wahrheit verpflichtet, und die muss geschrieben, gesagt, gedruckt werden. Der heute über 80 Jahre alte Professor Emeritus hat ein Lebenswerk hinter sich, das seinesgleichen sucht – an Tiefe und Thesenstärke ebenso wie an Kontroverse und Polemik. An Ehren fehlt es ihm nicht, an Feinden auch nicht. "Der Faschismus in seiner Epoche" war vor vier Jahrzehnten eine souverän vergleichende, typologische Auseinandersetzung mit einer der großen Kampfideologien des 20. Jahrhunderts; die Studien über Marxismus und Revolution die andere, vorher und hinterher. Beide haben Nolte internationalen Ruhm und Ruf eingetragen, in Frankreich und Italien, wo man den philosophischen Entwurf über die historische Kleinarbeit stellt, mehr als in der Bundesrepublik. Im sog. Historikerstreit, den 1986 Jürgen Habermas vom Zaune brach, stand Noltes These im politischen Mittelpunkt, dass der Nationalsozialismus den Sowjetkommunismus zur Voraussetzung habe und beide in Wahlverwandtschaft verbunden seien, Variationen über Gewalt und Ideologie im 20. Jahrhundert. Man dürfe nicht vergleichen, hieß das dürftige Verdikt, so als ob Lenin und Hitler auf verschiedenen Planeten gewirkt hätten. Es ging der Partei Habermas darum, den antitotalitären Konsens der Bundesrepublik zu brechen. 1990 hat die Weltgeschichte ihre eigene Antwort gegeben. Jetzt legt Nolte, wie um die Trilogie der großen Werke zu vollenden, eine Studie über Islamismus vor. Der Gedanke dahinter, kämpferisch vorgetragen: Eine neue totalitäre Kampfideologie bedroht den Westen, die Freiheit, die offene Gesellschaft, und sie steht an Energie und Bedrohlichkeit den Vorgängern, ob bolschewistisch oder nationalsozialistisch, nicht nach: Das Hauptkennzeichen des Schritts zum Thema des ‚Islamismus’ besteht darin, dass die Frage nach Faschismus und Bolschewismus in einen bisher nur am Rande berührten Bereich übertragen wird, nämlich in jenen, der in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Länder, der ‚Dritten Welt’". So die These in der Einleitung zu dem neuen Buch in schwerem Gelehrtenstil – gleichwohl deutlich. Nolte erkennt die historische Leistung des Islam in seinen frühen Epochen an, sieht aber auch die dann folgenden Spaltungen und Reaktionen. Sein Programm: Das mag ein guter Ausgangspunkt sein, um genauer auf das Selbstverständnis und die Zielsetzungen einer Kultur einzugehen, deren Wortführer ihre Gegenwart durchweg als zurückgeblieben betrachteten, aber aus einer glorreichen Vergangenheit Kraft und Zuversicht zu gewinnen versuchten und sogar für die konkrete Gegenwart nicht selten ein Gefühl der Überlegenheit artikulierten. Nolte hat bedeutende Bücher über den Kalten Krieg geschrieben, und auf sie kommt er immer wieder zurück. Doch nach dem 11. September 2001 ist deutlich, dass, was bis dahin wie unverbundene Ereignisse wirkte, inneren Zusammenhang hat: Die Rückkehr des Ayatollah Chomeini in den Iran und die nachfolgende sozial-religiöse Revolution, die Katastrophe der Russen in Afghanistan und der Triumph der Mudjaheddin, darunter ein gewisser Osama Bin Laden. Die Wiederkehr der Religion als gewalttätige Ideologie. West und Ost glaubten noch in den 1980er Jahren, der Kalte Krieg würde ewig dauern. Doch da hatte längst ein anderes Welttheater die Tore eröffnet: Der Weitere Mittlere Osten, wo heute alle Konflikte und Katastrophen der Welt ihren Kreuzungspunkt finden. Öl und Erdgas, Atomwaffen, religiöse Rebellionen , asymmetrische Kriege, harte Regime, soziale Unruhe. Man kann Nolte nicht vorwerfen, die großen philosophisch-historischen Fragen zu ignorieren. Im Gegenteil, die meisten Historiker würden vor so viel unvermittelter Gegenwartsnähe zurückschrecken. Aber es liegt darin auch doppelte Gefahr, zum einen die Konstruktion von Erbe und Kontinuität, wo die Wurzeln viel tiefer liegen, zum anderen die Selbstverliebtheit in die alten Themen, die konservativen Züge im Marxismus und die revolutionären im Nationalsozialismus oder, in Noltescher Diktion, Radikalfaschismus. So kommt es, dass Nolte 200 Seiten braucht in dem Opus von rund 400 Seiten, bis er zu den Anfängen des Islamismus kommt. Von da an wird es interessant. Doch kehrt Nolte auch danach immer wieder zu den alten Themen zurück: Theodor Herzls Zionismus und der Staat Israel als Erklärung des islamischen Zorns. Das ist wenig überzeugend, und oft nur Rechtfertigung arabischer Militärdiktaturen. Wie kommt es im übrigen, dass die meisten Muslime gar nicht Araber sind? Wenn Nolte vom Islam spricht, meint er zumeist die Araber. Eine schlüssige Erklärung für das Zurückbleiben der islamischen Kultur über viele Jahrhunderte, Beispiel: das Osmanische Reich, bleibt Nolte dagegen schuldig. Er sieht den Zionismus als entscheidende Prägung des Islamismus – obwohl da, wenn man sich an die Fakten aus Geographie und Geschichte hält, erhebliche Zurückhaltung geboten wäre. In seiner Deutung des Islam und seiner Militanz geht Nolte vor allem auf den Chefdenker der Muslim-Brüder ein, den Ägypter Sayyid Qutb, den 1966 der ägyptische Diktator als Aufrührer hinrichten ließ: Damit wurde er zu einem der vielen Todesopfer des Kampfes der Muslimbrüder gegen eine ‚unislamische’ Regierung – Todesopfer, die sowohl Voraussetzung wie Folge ihrer terroristischen Anschläge waren… Intellektuell aber überlebte Qutb seinen Feind Nasser … denn nun war er ein Märtyrer, der in der ganzen islamischen Welt gelesen und verehrt wurde". … und den, so muss man hinzufügen, nichts so sehr schockiert hatte wie der American Way of Life: Drei Merkmale waren für ihn deprimierend, ja entsetzenerregend: Der Materialismus, der Rassismus und die sexuelle Freizügigkeit. Daraus entstand ein revolutionäres Programm, das gegen die konservativen Regime der arabischen Welt ebenso wie gegen die amerikanische Hegemonie gerichtet war und ist: … die universalistische und anarchistische Lehre von dem ‚Reich Gottes’, das in der Gegenwart nur in der Gestalt des islamischen Friedensreiches existiert, welches in einem ständigen, … von Rückschlägen unterbrochenen, aber im Ganzen siegreich fortschreitenden Krieg – Djihad – gegen die nicht-islamische, die ungläubige Welt stattfindet. Das ist der Kern der Botschaft Noltes, mit der er nicht nur das eigene Oeuvre abrunden, sondern auch den Westen warnen will – wenngleich man zwischen den Zeilen durchaus Sympathie erkennen kann für den puristischen, konservativen Ausgangspunkt der islamischen Lehre.Das Ganze ist ein Spätwerk, in dem ein großer Historiker wieder und wieder zurückkehrt zu den eigenen Erkenntnissen, die doch – das muss Kernpunkt der Kritik sein – zeitgebunden und ortsgebunden waren, zeitgebunden an den Kalten Krieg, ortsgebunden an Europa.Die große Aufgabe für Analyse wie Strategie unter der Drohung des Djihad ist nicht, die Einheit der islamischen Welt zu konstruieren, die in sich so tief zerrissen ist wie es nur sein kann, sondern Unterschiede und Bündnis-Chancen zu erkennen und zu nutzen. Wenn man so will: Nicht George W. Bushs: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", sondern Obamas ausgestreckte Hand. Die Kritik an Nolte kann sich nicht an dieser oder jener Einzelheit festmachen. Es geht ums Prinzip. Entweder hat Nolte recht, und das Abendland von Vancouver bis Wladiwostok sollte auf der Hut sein, oder er hat unrecht, und statt die islamischen Strömungen, Schulen und Lebensformen zu nehmen, wie sie sind, nämlich heterogen und gegensätzlich, redet Nolte dem Westen mit seiner demokratisch säkularen Kultur einen Weltkonflikt auf, den es in der Wirklichkeit gar nicht gibt, wo Bin Laden den saudischen Prinzen und ihrem sehr effektiven Geheimdienst den Krieg erklärt hat, wo Schia und Sunni einander bis aufs Messer bekämpfen, wo die alten Konflikte zwischen Persern und Arabern so aktiv sind wie am ersten Tage, und wo die islamische Welt mehr durch ihre Verschiedenheit als durch ihre Einheit geprägt ist. Entweder ist Nolte der Retter des Abendlandes oder der Verkünder einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die lautet: der Islamismus ist eine gewalttätige Ideologie wie Bolschewismus und Nationalsozialismus, die auf Weltrevolution und Weltherrschaft setzt, und der Westen steht in einem Überlebenskampf. Ernst Nolte, Die Dritte Radikale Widerstandsbewegung: Der Islamismus, Landtverlag 2009, 414 Seiten, 32,90 Euro
Von Michael Stürmer
Der Historiker Ernst Nolte versucht in seinem neuen Werk, den Islamismus in eine ideengeschichtliche Übereinstimmung mit dem Faschismus und dem Kommunismus zu bringen. Alle drei Ideologien, so seine These, seien militante Widerstandsbewegungen gegen die westliche Moderne. Nolte hatte in den 80er-Jahren mit dem sogenannten Historikerstreit für Schlagzeilen gesorgt.
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"2020-02-03T09:55:34.256000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/warnung-an-den-westen-100.html
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Weniger Deutsch für Flüchtlingskinder
Hessische Lehrer kritisieren die Reduktion der Stundenzahl für Deutsch-Intensivklassen. (dpa / picture alliance / Wolfram Kastl) Barbara Newels arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin für sogenannte Intensivklassen. Das bedeutet, sie unterrichtet Migrantenkinder, die ohne Deutschkenntnisse an die Schule kommen. Nach einem Jahr intensivem Deutschunterricht sollen diese Kinder in die Regelklassen integriert werden. Das ist das Ziel. Doch von ehemals 28 Stunden pro Woche ist die Zahl der Unterrichtsstunden in hessischen Intensivkassen schrittweise auf aktuell 22 Stunden reduziert worden, um neue Klassen für Flüchtlingskinder zu schaffen. Barbara Newels ist Klassenlehrerin an der Paul-Hindemith-Gesamtschule im Multi-Kultiviertel Gallus in Frankfurt am Main. Die Schüler, die hier unterrichtet werden, stammen aus mehr als 60 Nationen. Barbara Newels fürchtet nun wegen der Stundenreduzierung um die Qualität des Unterrichts: "Es ist sowie eine Herausforderung, Kinder mit so unterschiedlichen Herkunftsländern und unterschiedlicher Schulbildung in einem Jahr so weit zu bringen, dass sie am Regelunterricht teilnehmen können. Und je weniger Stunden wir dafür zur Verfügung haben, desto mehr geht es zulasten dessen, dass wir die Fähigkeiten, die schon vorhanden sind, auch ausgraben können sage ich mal. Und die Kinder darin fördern können, dass sie die deutsche Sprache so lernen, dass sie da erfolgreich bestehen." Diese Sorgen teilt auch Matthew George. Der im britischen Birmingham geborene 50-Jährige ist seit vier Jahren der Schulleiter der Paul-Hindemith-Gesamtschule im Gallus-Viertel von Frankfurt am Main. Die Stundenkürzungen in den Deutsch-Intensivklassen für Migrantenkinder könne man nur mit zusätzlicher ehrenamtlicher Arbeit einiger Lehrer auffangen, so George. Oder mit der freiwilligen Hausaufgaben-Betreuung, die Mitarbeiter der benachbarten amerikanischen Großbank J.P. Morgan für die Schüler anbieten: "Weil wir sagen: Wir schaffen das! Und wir sind erfolgreich. Jedoch haben wir festgestellt, um das zu erreichen, müssen wir zusätzliche Angebote machen. Zum Beispiel: Eine Kollegin von mir, die die Klasse 7 unterrichtet - also die Intensivklasse - macht zwei Angebote in der Woche, wo sie nachmittags mit den Schülern zum Beispiel zu J.P. Morgan geht, wo sie eine Hausaufgabenbetreuung haben. Oder sie geht mit ihren Schülern ins Mehrgenerationenhaus. Das ist hier im Gallus. Da gibt es zusätzliche Angebote im künstlerischen Bereich. Jedoch sind diese Stunden freiwillig." Neue Klassen, aber reduzierter Umfang Und eben unbezahlt für die Lehrer, die die Schüler begleiten. Das wird wohl auch so bleiben. Denn die zusätzlichen 40 Millionen Euro, die die Landesregierung für weitere Deutsch-Intensivklassen für Flüchtlingskinder nun bereitstellt, soll lediglich neue Klassen schaffen. Der Umfang des Unterrichts bleibt jedoch reduziert. Das hessische Kultusministerium hält 22 Stunden Intensiv-Unterricht nach Rücksprache mit Experten der Staatlichen Schulämter "unter fachlichen Aspekten für verantwortbar", heißt es in einer Stellungnahme. Barbara Newels, die auf diesem Feld jahrzehntelange Erfahrung hat, wurde allerdings vom CDU-geführten Wiesbadener Kultusministerium nicht konsultiert: "Nein, ich wurde nicht gefragt. Ich habe das auch gelesen, hat mich ein bisschen gewundert und ich denke: Alles Mögliche kann man schaffen, es wird nur alles immer schwieriger, vor allem für die Schüler. Die haben einfach weniger Zeit, weniger Angebote, so gut Deutsch zu lernen, das sie wirklich erfolgreich in der Regelklasse teilnehmen können. Die können natürlich alle nach einem Jahr sich verständlich machen, die haben dann aber sehr viele Schwierigkeiten, in den Regelklassen Sachtexte zu verstehen. Zum Beispiel in GL scheitern ganz viele." GL steht für Gesellschaftslehre. Eigentlich ein besonders wichtiges Fach für Flüchtlingskinder aus fremden Kulturkreisen. Hier sollen sie etwa lernen, welche Werte die hiesige Gesellschaft hat und woher sie kommen. Doch damit hapert es in der Regelklasse dann, weil im Deutsch-Intensivkurs zuvor die Unterrichtszeit zu knapp war. Gelungene Integration sieht wohl anders aus.
Von Ludger Fittkau
Schnelle Integration der Flüchtlingskinder durch intensiven Deutschunterricht - das ist das Ziel. Doch in Hessen werden nun die Wochenstunden für Deutsch-Intensivkurse reduziert, um mehr Klassen einrichten zu können. Lehrer und Schulleiter schlagen deshalb nun Alarm: Dadurch könne sich die Integration länger und schwieriger gestalten.
"2015-11-23T14:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:37.045000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hessen-weniger-deutsch-fuer-fluechtlingskinder-100.html
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"Das Informationsrecht für Frauen ist nicht erreicht"
Die Ärztin Kristina Hänel bietet auf ihrer Website Informationen zu Abtreibungen an, was nach Paragraf 219a als unerlaubte Werbung gilt. Sie wurde dafür zu einer Geldstrafe verurteilt. (dpa-Bildfunk / Silas Stein) Christiane Kaess: Monatelang stritten Union und SPD darüber, wie umgehen mit dem Paragrafen 219a, der Werbung für Abtreibungen verbietet. Viele sahen in dem Gesetz einen Grund, dass viele Frauen, die über eine Abtreibung nachdenken, zu wenig relevante Informationen darüber bekommen. Im Dezember einigten sich dann die beteiligten Ministerien von Justiz, Familie, Gesundheit und Inneres auf Eckpunkte, und jetzt gibt es einen Gesetzentwurf, der am 6. Februar durch das Kabinett gehen soll. Ich kann darüber jetzt sprechen mit der Gießener Ärztin Kristina Hänel. Sie war nach Paragraf 219a zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie auf der Internetseite Ihrer Praxis darüber informiert hatte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, und vor einem Jahr hat das die heftige Debatte um das Gesetz ausgelöst. Guten Tag, Frau Hänel! Kristina Hänel: Guten Tag! Kaess: Wir haben auch gerade schon kurz gehört, dass Sie das neue, diesen Gesetzentwurf keinen guten Kompromiss finden. Warum? Hänel: Ja gut, also als erstes möchte ich doch sagen, dass es einen kleinen Fortschritt gibt. Dass nämlich Ärzte und Ärztinnen in Zukunft sagen dürfen, ob sie Abbrüche machen oder nicht. Das müssen wir anerkennen, das ist ein Schritt in die richtige Richtung, ein klitzekleiner Schritt. Unterm Strich bleibt aber der 219a bestehen, das heißt, wir Ärztinnen und Ärzte werden weiter als potenzielle Verbrecherinnen dargestellt, wenn wir Frauen sachlich und seriös informieren, was ich getan habe. Und es bleibt auch für mich weiterhin meine Homepage strafbar, sodass mein Gang durch die Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht letztlich, wo ja geklärt werden muss, ist dieser 219a überhaupt mit unserem Grundgesetz vereinbar, dieser Gang bleibt völlig unberührt. Das heißt, ich werde nicht freigesprochen. "Wir dürfen nicht mit unseren Worten informieren" Kaess: Bleiben wir … Hänel: Damit ist quasi das Informationsrecht für Frauen nicht erreicht. Kaess: Bleiben wir kurz bei diesem Punkt, den Sie … Hänel: Entschuldigung. Kaess: Nein, gerne. Bleiben wir kurz bei diesem Punkt, den Sie angeführt haben, Ihre Homepage. Sie sagen, die bleibt auch weiterhin illegal. Warum? Hänel: Weil der neue Entwurf vorsieht – und so hat Katharina Barley es eben auch wieder erklärt –, dass Ärzte sagen dürfen, dass sie Abbrüche machen. Für alle weiteren Informationen müssen sie dann auf offizielle Stellen verweisen. Mit ihren eigenen Worten dürfen sie weiterhin nicht als Fachleute informieren. Also wir dürfen nicht unsere eigene Sprache sprechen, wir dürfen nicht unsere Patientinnen mit unseren Worten auf der Homepage aufklären und informieren. Das bleibt weiterhin verboten. Und damit ist es kein Schritt in die nötige Richtung, dass Frauen das Informationsrecht endlich bekommen. Kaess: Was steht da auf Ihrer Website, von dem Sie glauben, dass die Information nicht in Ordnung ist auch mit diesem neuen Gesetzesentwurf? Hänel: Es geht grundsätzlich darum, dass wir nicht mit unseren eigenen Worten nähere Informationen zum Abbruch geben dürfen. Wir dürfen nur verweisen auf zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das ist so vorgesehen. "Diese Frauen sind in Not" Kaess: Oder alternativ, wenn jemand sagt, ich möchte einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, geht auf Ihre Website, sieht, Sie machen das, könnte diese Patientin ja in dem Fall bei Ihnen einen Termin ausmachen und sich bei Ihnen in der Praxis beraten lassen. Hänel: Ja, aber diese Frauen sind in Not, die haben Zeitdruck, die können nicht zehn Ärzte besuchen und gucken, was die Ärzte, was das für Menschen sind, wie oft die das schon gemacht haben, welche Methoden die anbieten und so weiter. Diese Zeit haben Frauen nicht, und auch diese Kapazitäten hat eine Arztpraxis nicht. Und warum soll denn ausgerechnet die Gruppe, die sich am besten auskennt, ein Sprechverbot bekommen? Kaess: Aber gehört auf der anderen Seite, muss ich mal fragen, gehört denn die direkte Beratung in so einem Fall nicht für Sie als Ärztin auch fest dazu? Hänel: Ja, natürlich. Also in dem Moment, wo eine Frau kommt und einen Termin ausmacht, wird sie natürlich beraten und informiert. Das ist ja ganz klar. Also darüber sprechen wir ja gar nicht. Es geht darum, dass Frauen heutzutage – und das machen ja alle Menschen – sich in einer bestimmten Situation an den Computer setzen und versuchen, sich zu informieren. Und dann geraten sie auf die Seiten der Abtreibungsgegner, und demnächst können sie dann die offiziellen Listen einsehen, aber dann haben sie immer noch kein Bild von dem Arzt oder der Ärztin, wo sie eventuell hingehen werden. Kaess: Ich muss da noch mal nachfragen, weil Sie diese Methoden angesprochen haben. Es soll ja jetzt eine Liste mit Ärzten, Krankenhäusern und entsprechenden Einrichtungen geben, die Abtreibungen durchführen. Die Bundesärztekammer soll die erstellen, und diese Liste, die soll auch Angaben über die jeweils angewendeten Methoden geben. Also was fehlt Ihnen da noch? Hänel: Ja, wir haben ja in Bayern momentan die Situation, dass Beratungsstellen keine Informationen rausgeben dürfen, also keine Adressen, und dass dann an staatliche Stellen verwiesen wird. Und da wissen wir einfach, dass das in der Realität schlecht oder gar nicht funktioniert. Also so eine Liste ist in der Regel nicht aktuell. Ob wirklich dann da draufsteht, bis zur wievielten Woche die Ärzte das machen, welche Narkoseform sie nehmen, das wird sich ja alles erst zeigen. "Klar, dass wir diese Listen brauchen" Kaess: Aber wäre es nicht dann an der Bundesärztekammer, auf die zurückzukommen, um zu sagen, sie müssen diese Liste aktuell halten, denn das kann man ja erst mal unterstellen, dass dieser Gesetzesentwurf das auch sich wünschen würde. Hänel: Ja, natürlich. Natürlich wird das so sein. Und wir haben ja bereits im Dezember 2017 diese Listen gefordert und haben begonnen, dass die Gesundheitsämter diese Listen erstellen und den Frauen zur Verfügung stellen. Das ist ja schon zum Großteil da oder teilweise erfüllt in Deutschland. Das ist ja jetzt keine ganz besondere Neuerung. Das ist natürlich klar, dass wir diese Listen brauchen, aber das ändert ja nichts daran, dass unsere Berufsfreiheit, dass wir Frauen informieren möchten, eingeschränkt wird. Kaess: Aber ich muss noch mal nachfragen, warum ist diese Information … Also wenn wir jetzt mal davon ausgehen, wir haben eine aktuelle Liste, und diese Liste führt die entsprechenden Methoden auf, so wie Sie das gerne hätten, das würde jetzt in Zukunft auch so sein, warum ist es Ihnen dann immer noch so wichtig, dass Sie über das Internet noch mal extra informieren? Denn, wie gesagt, die Patientin kann ja auch zu Ihnen in die Praxis kommen, wenn sie sich vorinformiert hat über diese Listen, und kann dann noch mal mit Ihnen persönlich drüber sprechen. Hänel: Fragen wir doch lieber noch mal andersrum: Warum soll ich als Ärztin ausgerechnet an dieser Stelle, wo das für Frauen so ein relevantes Thema ist, nicht mit den Frauen kommunizieren dürfen? Warum muss ich ein Sprechverbot bekommen? Und warum soll ich dafür ins Gefängnis gehen, dass ich Frauen informiere? Was ist denn der Sinn davon, wofür soll das denn gut sein, dass Frauen von diesen Informationen ferngehalten werden sollen? Es ist doch unwürdig zu glauben oder es entmündigt Frauen, dass sie sich aufgrund von Werbung, die wir ja gar nicht machen – wir wollen ja informieren –, zu einem Abbruch entscheiden würden. Und dieses Frauenbild … "Die Mehrheit der Bevölkerung ist für mündige Patientinnen" Kaess: Hätte es für Sie dann eventuell noch klarer definiert werden müssen in diesem Gesetzesentwurf, was Werbung ist und was Information ist? Hänel: Das ist ja das Problem des 219a, dass er die sachliche Information unter Werbung unter Strafe stellt. Das ist ja das Grundproblem des ganzen Paragrafen, und solange das nicht gelöst ist, wird die Justiz weiter damit beschäftigt sein. Es ist ja keine Lösung. Also ich kann ja als Ärztin nicht noch Jura studieren, nur um zu wissen, wie ich mich verhalten darf. Kaess: Sagen Sie uns noch kurz zum Schluss, Frau Hänel, es geht ja auch ein bisschen darum, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden, denn die Positionen liegen ja sehr weit hier auseinander. Hat der Gesetzentwurf uns da zumindest ein Stück weitergebracht Ihrer Meinung nach? Hänel: Das glaube ich nicht. Es ist ein Versuch zu beschwichtigen, aber die Mehrheit der Bevölkerung ist ja für mündige Bürgerinnen und für mündige Patientinnen und steht da deutlich hinter mir, auch die Mehrheit des Bundestages. Wenn jetzt versucht wird, den 219a auf irgendeine Art doch noch zu halten, um eine Lobbyarbeit, also um Menschen zu beschwichtigen und um die Debatte kleinzureden - ich glaube, das wird nicht funktionieren. Das werden die Frauen sich nicht gefallen lassen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kristina Hänel im Gespräch mit Christiane Kaess
Ärzte sollen künftig darüber informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Diese Lockerung des Werbeverbots hält die Ärztin Kristina Hänel für einen kleinen Fortschritt. Das Problem, dass sachliche Information als Werbung unter Strafe stehe, sei aber nicht gelöst, sagte Hänel im Dlf.
"2019-01-29T12:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:35:27.154000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einigung-zu-paragraf-219a-das-informationsrecht-fuer-frauen-100.html
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"Wir wissen, dass wir keine unwägbaren Risiken eingehen"
Mit gentechnischen Methoden wie CRISPR/Cas lässt sich DNA gezielt verändern. (imago/stock&people/Science Photo Library) Lennart Pyritz: Welche Rolle könnten "am Erbgut operierte" Nutzpflanzen künftig für die Welternährung spielen? Armin Scheben: Dazu ist es, glaube ich, wichtig, erst mal festzustellen, dass die Menschen ja schon seit 10.000 Jahren Pflanzen genetisch verändert haben und damit erst die heutigen ertragreichen und schädlingsresistenten Sorten gezüchtet werden konnten. Das Problem, das wir jetzt haben, ist, dass die Anbaufläche für Nutzpflanzen eben begrenzt ist und der Großteil der Fläche schon genutzt ist. Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung, sodass wir etwa in 30 Jahren unsere Erträge aus dem Ackerbau verdoppeln müssen, um weiterhin alle zu ernähren. Dazu kommt dann eben, dass der Klimawandel zu gewissen Risiken im Ackerbau führt, das heißt, Witterungsbedingungen könnten sich schlagartig ändern, extreme Wetterereignisse wie Dürren können häufiger auftreten. Und das heißt, wir brauchen auch stresstolerantere Nutzpflanzen. Und all diese Herausforderungen bedeuten eben, dass herkömmliche Methoden zur Nutzpflanzenverbesserung beschleunigt werden müssen. "Wir brauchen Nutzpflanzen, die höhere Erträge bringen" Pyritz: Welche Eigenschaften der Pflanzen könnten denn konkret genetisch verändert werden, um diese Probleme, die Sie jetzt geschildert haben, durch steigende Temperaturen oder vermehrte Dürrephasen, zu umgehen oder denen zu begegnen? Scheben: Also, vor allem brauchen wir Nutzpflanzen, die höhere Erträge bringen und gleichzeitig weniger Dünger und weniger Pestizide benötigen. Beispielsweise kann man die Dürretoleranz von Pflanzen erhöhen, was vor allem Entwicklungsländern, die stark vom Klimawandel betroffen werden, helfen kann, da es hier keine künstliche Bewässerung gibt wie zum Beispiel im deutschen Ackerbau. Andere Eigenschaften, die verändert werden können, sind zum Beispiel die Reifedauer, damit wichtige Fenster in der Entwicklung von Pflanzen verschoben werden können, um sie dann anzupassen an steigende Temperaturen, und zuletzt ist eine ganz wichtige Eigenschaft die Resistenz gegen Krankheitserreger. Gentechnische Methoden sind genauer als die der herkömmlichen Züchtung Pyritz: Wo liegen da die Vorteile dieser Genomchirurgie gegenüber traditioneller Züchtung? Das haben Sie eben schon mal kurz gestreift. Scheben: Bei der herkömmlichen Züchtung wird das Erbgut verändert durch Strahlung, UV oder radioaktiv, durch Chemikalien oder durch sogenannte spontane Mutation, also spontane Veränderungen beim Erbgut, die bei Kreuzungen von Pflanzen herbeigeführt werden. Und die Herausforderung bei diesen konventionellen Züchtungsmethoden ist, dass sie relativ ungezielt sind. Man kann sich vorstellen, wenn man eine Pflanze einfach bestrahlt, dann erscheinen viele zufällige Mutationen und viele von diesen sind auch unerwünscht. Gentechnische Methoden, vor allem neuere gentechnische Methoden wie die der Genomeditierung wie CRISPR/Cas9 nutzen einen viel präziseren Mechanismus. Das heißt, Genomeditierung über CRISPR/Cas9 ermöglicht es, mittels einer Art molekularen Schere ganz gezielt einzelne Buchstaben der DNA zu verändern. Das heißt, wir haben nicht diese zufälligen Mutationen überall im Genom, sondern wir entscheiden uns für beispielsweise ein Gen, verändern dieses dann gezielt. Und das ermöglicht es viel schneller, zu Veränderungen von gewünschten Eigenschaften zu kommen. "Wir haben noch ein sehr großes Unwissen" Pyritz: Wenn man mit diesen neuen Methoden etwas im Erbgut der Pflanze verändert, woher weiß man oder wie lange dauert es, bis man wirklich weiß, was man damit im Lebenszyklus der Nutzpflanze verändert hat? Wie groß ist da der Erfahrungsschatz? Scheben: Also, natürlich ist eine der Schwierigkeiten bei der Veränderung des Erbguts, dass wir noch ein sehr großes Unwissen haben, was die genetischen Zusammenhänge im gesamten Erbgut von Pflanzen generell haben. Allerdings besteht hier nicht wirklich ein Unterschied zwischen der modernen Gentechnik und der herkömmlichen Züchtung, auch hier wissen wir nicht, was die Veränderung letzten Endes für Konsequenzen haben können. Wir wissen aber aus einem Erfahrungsschatz von 10.000 Jahren der Pflanzenzüchtung und der Veränderung von pflanzlichem Erbgut, dass wir durchaus keine unwägbaren Risiken eingehen, auch wenn wir Gene verändern, wo wir vielleicht nicht hundertprozentig wissen, was genau passiert. "Wir brauchen eine öffentliche Debatte, die faktenbasiert ist" Pyritz: Das ganze Thema hat ja nicht nur eine wissenschaftliche, sondern eben auch eine politische, gesellschaftliche oder sogar ethische Dimension. Für wie realistisch halten Sie es denn, dass solche mit moderner Gentechnik veränderten Pflanzen in Zukunft tatsächlich weiträumig auch in armen Agrarländern Anwendung finden? Scheben: Dazu will ich erst einfach sagen, dass bereits jetzt weiträumig auch in Entwicklungsländern transgene Pflanzen, also Pflanzen, die mit früherer Gentechnik verändert worden sind, angebaut werden. Über 90 Prozent der weltweit angebauten Baumwolle ist gentechnisch verändert, wird vor allem in Amerika und in Indien angebaut, und aus der stellen wir unsere Kleidung her. Bei der Einführung der modernen gentechnischen Methoden und der Nutzung von verbesserten Pflanzen durch zum Beispiel CRISPR/Cas9 in Entwicklungsländern ist vor allem wichtig, dass Kleinbauern in Entwicklungsländern den Zugang zu diesem verbesserten Saatgut haben. Aber dazu braucht erst mal der Kleinbauer einen Kredit. Und hier können die Regierungen von Entwicklungsländern, aber auch die Industriestaaten helfen, dass Kleinbauern diese Möglichkeiten haben. Wir brauchen hier also eine öffentliche Debatte, die faktenbasiert ist, die nüchtern ist und offen mit neuen Möglichkeiten umgeht und sowohl mögliche Risiken nicht runterspielt als auch die Chancen nicht untertreibt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Armin Scheben im Gespräch mit Lennart Pyritz
Wie lässt sich eine wachsende Weltbevölkerung in Zukunft ernähren? Der Biologe Armin Scheben ist davon überzeugt, dass es dafür gentechnische Methoden wie CRISPR/Cas braucht. Im DLF sagte er, dass moderne Gentechnik nicht mehr Risiken berge als die herkömmliche Züchtung von Nutzpflanzen.
"2017-03-17T16:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:23.638000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/genomchirurgie-an-nutzpflanzen-wir-wissen-dass-wir-keine-100.html
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James Webb und die Mikrometeoriten
Der goldbeschichtete Spiegel des James-Webb-Teleskops ist ungeschützt dem Weltraum ausgesetzt (Northrop Grumman) Etwa einmal im Monat registriert das Team einen Treffer durch kaum mikrometergroße Partikel, die durch das All sausen. Dieser Beschuss ist von der ISS oder dem Hubble-Teleskop bekannt. Ende Mai aber traf offenbar ein größeres Teilchen eines der achtzehn Spiegel-Segmente und verschob es deutlich. Mit so einem Schaden rechnet man nur alle paar Jahre. Womöglich gibt es mehr größere Mikrometeoriten als angenommen – oder das Teleskop-Team hatte einfach Pech. Begeisterung über erste Bilder James Webbs Superblick ins All Begeisterung über erste Bilder James Webbs Superblick ins All Kürzlich veröffentlichte das Team des James-Webb-Weltraumteleskops die ersten Bilder, die das Instrument während der sechsmonatigen Inbetriebnahme aufgenommen hatte. Fazit: Das Teleskop arbeitet noch besser als erwartet. Bilder des neuen Weltraumteleskops James Webb liefert Einblicke in die Frühphase unseres Kosmos Die Nasa hat erste Bilder des neuen James-Webb-Weltraumteleskops präsentiert. Die Aufnahmen zeigen, dass sich die enormen Kosten und das lange Warten gelohnt haben. James Webb kann so weit hinaus ins All blicken wie kein Teleskop zuvor. Schaden kleiner als gedacht Der Treffer aus dem Mai ließ sich dank der einstellbaren Spiegelsegmente fast vollständig korrigieren. Das Instrument ist noch immer viel besser als erwartet. Aber weitere Einschläge könnten das ändern. Schon fürchten manche, das Weltraumteleskop werde gar nicht die zwanzig Jahre durchhalten, die rein technisch möglich sind. Nature-Bericht zum „Staub-Problem“ des James Webb-Teleskops Die Beschädigungen am Teleskop-Spiegel durch das Staubteilchen Anders als beim Hubble-Teleskop, dessen viel kleinerer Spiegel durch einen langen Tubus geschützt wird, ist der große Spiegel bei James Webb komplett ungeschützt dem Weltraum ausgesetzt. Neue Gefahren in Sicht Eine Möglichkeit wäre, das Teleskop möglichst wenig genau in seine Bewegungsrichtung blicken zu lassen. Das würde das Einschlagrisiko verringern. In den beiden kommenden Jahren wird James Webb jeweils im Mai durch Staubwolken hindurch fliegen, die einst Komet Halley hinterlassen hat. Dann ist in jedem Fall größte Vorsicht geboten – damit nicht winzige Partikel dem 9-Milliarden-Koloss ein Ende setzen.
Von Dirk Lorenzen
Die ersten Daten des neuen James-Webb-Weltraumteleskops zeigten, dass das Instrument exzellent arbeitet – aber auch, dass es verwundbar ist: durch Mikrometeoriten.
"2022-09-15T02:57:00+02:00"
"2022-09-15T02:57:00.055000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/james-webb-und-die-mikrometeoriten-100.html
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Wie viel Journalismus kann Satire?
In Rubriken wie "Real Satire" oder "Irrsinn der Woche" stellt "extra 3" regelmäßig Fälle von "Polit-Pannen und Provinz-Possen", wie sie das NDR-Magazin nennt (Screenshot NDR/extra 3)
Schneider, Annika; Matis, Sven; Sieh, Christian; Herbers, Martin
In der NDR-Sendung „extra 3“ hatte vor kurzem Dlf-Hörer Sven Matis einen Auftritt – aber unfreiwillig. Als Sprecher der Stadt Stuttgart landete er in der Satire-Show. Hat die Redaktion unsauber gearbeitet? Oder müssen öffentliche Personen damit rechnen, hochgenommen zu werden?
"2023-03-17T15:35:00+01:00"
"2023-03-17T11:00:00.188000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schluss-mit-lustig-wie-viel-jornalismus-kann-satire-dlf-2d3d34fc-100.html
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