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Astrazeneca - Viele Fragen zum Impfstoff
Impfungen mit Astrazeneca sind vorläufig gestoppt (picture alliance / /dpa-Zentralbild / Ronny Hartmann) Mitwirkende: Volkart Wildermuth, Dlf-Wissenschaftsredaktion Georg Ehring, Dlf-Umweltredaktion
Von Katharina Peetz
Deutschland hat wie inzwischen viele andere europäische Länder die Impfungen gegen Covid-19 mit Astrazeneca ausgesetzt. Was ist bisher über die möglichen Nebenwirkungen bekannt? Und was bedeutet der Stopp für die Impfkampagne? Außerdem: Deutschland hat 2020 das Klimaziel erreicht - nicht nur wegen Corona.
"2021-03-16T17:00:00+01:00"
"2021-03-17T12:47:19.064000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-astrazeneca-viele-fragen-zum-impfstoff-100.html
91,740
Spitzenbeamte sollen von der Regierung bestimmt werden
Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo (dpa / picture alliance / Radek Pietruszka) Etwa 1.600 Führungspositionen sind im polnischen Beamtenapparat zu vergeben. Bisher werden sie durch Auswahlverfahren bestimmt, die Kandidaten sollen sich durch Qualifikation und durch Erfahrung auszeichnen. Eine gute Regelung, so scheint es. Trotzdem will Ministerpräsidentin Beata Szydlo sie ändern. "Wenn Sie in einen beliebigen Ort in Polen fahren und sich erkundigen, wie das läuft, vor allem auf der Gemeinde- oder Landkreisebene - dann sehen sie: Die Stellen dort bekommen Freunde und Genossen der beiden früheren Regierungsparteien. Unser Gesetzesprojekt soll den Beamtenapparat öffnen. Heute haben junge, gut ausgebildete Polen keine Chance, dort eine Anstellung zu finden. Denn der Zugang ist zubetoniert." Experten geben der Ministerpräsidentin Recht - zumindest in der Analyse. Die alte Regierung der rechtsliberalen "Bürgerplattform" und der Bauernpartei PSL installierte in der Ämtern überall im Land ein System der Vetternwirtschaft. Da halfen auch die Auswahlverfahren nicht, erklärt Piotr Arak von der Nicht-Regierungsorganisation "Polityka insight". "Oft gab es nur einen Kandidaten. Und wenn es drei waren, dann waren die Kriterien oft auf den einen Kandidaten zugeschnitten, der die Stelle bekommen sollte. Oder nehmen wir das Kriterium, dass der Bewerber Führungsqualitäten mitbringen musste. Das bezog sich nur auf ein Dienstverhältnis mit einigen Untergebenen. Selbstständige hatten keine Chance, auch wenn sie gute Manager waren, deshalb kamen häufig nur Menschen in Frage, die schon in der Verwaltung arbeiteten." Auch in diesem Bereich versprach die neue Regierung der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS, einen "guten Wandel", wie es in ihren Wahlslogans hieß. Doch das nun von ihr vorgeschlagene Gesetz schaffe die benannten Mängel keineswegs ab, sagen viele Beobachter. Statt Auswahlverfahren zu durchlaufen, sollen die Spitzenbeamten jetzt einfach von der Regierung bestimmt werden. Nichts wird die PiS hindern, ihre Gefolgsleute zu berufen, im Gegenteil: Bisher durften die Bewerber für eine Führungsposition im Staat in den vorhergegangenen fünf Jahren keiner Partei angehört haben. Diese Voraussetzung soll nun wegfallen. Piotr Arak von "Polityka insight" machen weitere Punkte des Gesetzes misstrauisch: "Das Problem ist das Ziel des Gesetzes. Die leitenden Beamten sollen innerhalb von 30 Tagen überprüft werden. Die Absicht des Gesetzgebers ist deshalb ziemlich klar: Es geht ihm darum, einen Teil der Beamten von ihren Posten entfernen zu können." Darauf weisen auch Aussagen aus der Regierung selbst hin. So sagte Beata Kempa, Büroleiterin der Ministerpräsidentin, die Minister sollten sich ihre Mitarbeiter freier auswählen können. In den Augen der Opposition steht das geplante Beamtengesetz exemplarisch für das Vorgehen der neuen Regierung. Sie gebe vor, einen Missstand abzuschaffen - und vertiefe ihn dabei, sagt Jerzy Meysztowicz, Abgeordneter der liberalen Partei "Modernes Polen". "Wie kann man davon sprechen, den Beamtenapparat entpolitisieren zu wollen, wenn die Kandidaten keine Voraussetzungen mehr erfüllen müssen. Mich würde nur eines interessieren: Dürfen die Beamten auf ihren Posten bleiben, wenn sie - wie in der Volksrepublik Polen in den 1980er-Jahren - eine Loyalitätserklärung abgeben, nur diesmal gegenüber der Partei Recht und Gerechtigkeit? Das Beamtengesetz wird allerdings nun doch nicht so rasch verabschiedet wie andere Gesetze der neuen Parlamentsmehrheit. Der Verwaltungsausschuss des Sejm entschied gestern Abend, erst solle die Regierung eine ausführliche Stellungnahme vorlegen.
Von Florian Kellermann
Nach dem Verfassungsgericht will die neue Regierung Polens sich jetzt offenbar auch den Beamtenapparat unterordnen. Das entsprechende Gesetz liegt schon im Sejm: Die PiS will die Auswahlverfahren abschaffen, Spitzenbeamte werden nur noch berufen. Außerdem müssen sie nicht mehr aus dem Beamtenapparat selbst stammen.
"2015-12-30T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:16:31.973000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-spitzenbeamte-sollen-von-der-regierung-bestimmt-werden-100.html
91,741
"Da existieren einige unheilige Allianzen"
Dürfen seit 2011 nicht mehr auf der Wartburg feiern, sind aber zum Teil wieder im Aufwind von rechts außen: Burschenschaftler (picture alliance / Bodo Schackow) Manfred Götzke: Zu rechts, zu rechtsextrem, nicht mehr zeitgemäß: die Burschenschaften, vor allem die unter dem Dachverband Deutsche Burschenschaft organisierten Bünde, die waren bis vor Kurzem Vereine von vorvorgestern, gesellschaftlich nicht vermittelbar. Sie hatten immer weniger Mitglieder und eigentlich auch kaum noch politischen oder gesellschaftlichen Einfluss. Aber das hat sich geändert in einem Deutschland, das nach rechts geschwenkt ist inklusive einer AfD im Bundestag mit 92 Abgeordneten. Welche Rolle also spielen die Burschenschaften im Herbst 2017? Darüber möchte ich mit Alexandra Kurth sprechen. Sie ist Politologin an der Uni Gießen und beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Rechtsextremismus und Burschenschaften. Hallo Frau Kurth! Alexandra Kurth: Guten Tag, hallo! Götzke: Frau Kurth, haben die rechten und auch rechtsextremen Burschenschaften in den letzten Monaten und Jahren wieder an Einfluss gewonnen? Kurth: Es sieht tatsächlich so aus, obwohl die Entwicklung nach 2011 zunächst eine andere war in Bezug auf den Dachverband Deutsche Burschenschaften. Der ist ganz stark geschrumpft, der hat große finanzielle Schwierigkeiten, er ist öffentlich höchst umstritten, es gab eine ganze Reihe von Skandalen, aber das Blatt hat sich quasi gewendet, und nicht zuletzt mit dem Erfolg der AfD sind doch einige Burschenschafter sozusagen wieder neu ins politische Rennen eingestiegen. "Die AfD ist ein großer Arbeitsmarkt für Burschenschafter" Götzke: Wie eng sind denn die Verbindungen zwischen AfD und Burschenschaften? Kurth: Die sind sehr eng. Die Deutsche Burschenschaft als Dachverband ist ja parteipolitisch erst mal neutral, also parteipolitisch nicht gebunden, aber es ist schon so, dass es doch eine ganze Reihe von personellen Überschneidungen zwischen nicht nur DB-Burschenschaften, sondern auch anderen und der AfD gibt auf allen Ebenen. Götzke: Also Abgeordnete, die Mitglieder sind und deren Mitarbeiter zum Beispiel? Kurth: Richtig, also Abgeordnete sowohl auf Bundesebene als auch auf der Landesebene, natürlich auch in den Kommunalparlamenten, dann aber auch vielleicht noch in viel stärkerem Maße Mitarbeiter von Abgeordneten, Mitarbeiter von Fraktionen, Mitarbeiter von Abgeordnetenbüros, Geschäftsführungsassistenten et cetera pp. Also das heißt, die AfD ist auch ein ganz großer Arbeitsmarkt für Burschenschafter geworden. Götzke: Kann man sagen, die Burschenschaften sind so eine Art Kaderschmiede für die AfD? Kurth: Ich selbst würde den Begriff jetzt so nicht verwenden, weil er meines Erachtens die Sache nicht ganz trifft. Man kann aber durchaus sagen, dass es eine ganze Reihe von ideologischen Überschneidungen gibt und dass ganz viel von dem, was innerhalb der AfD diskutiert wird, schon sehr viel früher, eben unter anderem in DB-Burschenschaften diskutiert worden ist. Auf Facebook-Seiten wirkten viele berauscht vom AfD-Erfolg Götzke: Also da geht es ja um völkisches Denken, historischen Revisionismus. Das sind ja Dinge, die bis vor Kurzem nur in rechtsextremen Burschenschaften, vielleicht in der NPD verbreitet waren. Jetzt hört man solche Äußerungen auch von führenden AfD-Politikern. Kann man sagen: Die Burschenschaften sind so eine Art Think-Tank der Partei geworden? Kurth: Ganz vorsichtig könnte man das durchaus formulieren, auch wenn es zu verkürzt wäre zu sagen, dass sich DB-Burschenschaften und Mitglieder von DB-Burschenschaften nur an der AfD orientieren. Also es gibt nach wie vor diejenigen, die eher auf die NPD setzen. Es gibt sicherlich auch noch den einen oder anderen, der auf die CDU oder andere demokratische Parteien setzt. Also das ist durchaus heterogener, aber wenn man sich sozusagen die Facebook-Seiten anguckt, wenn man sich die Debatten anguckt, ist es schon so, dass sehr viele, insbesondere der jüngeren Mitglieder ziemlich berauscht sind von den Wahlerfolgen der AfD. Götzke: Hat Sie das eigentlich überrascht, als diese Äußerungen jetzt auch von führenden AfD-Politikern aufkam – Zweiter Weltkrieg, die Soldaten et cetera – oder haben Sie gedacht, okay, das haben wir alle schon bei den Burschenschaften gehört? Kurth: Das hat mich überhaupt nicht überrascht. Also das hat mich weder überrascht, aus meiner Untersuchungen der AfD selber heraus, also auch den programmatischen Debatten, die es gegeben hat in der Partei. Es war im Grunde genommen fast unausweichlich, dass es in diese Richtung gehen wird, und zum anderen aber auch hat es mich nicht überrascht, wenn ich mir angeguckt habe, welche Personen sich in der Partei engagieren und wie das innerhalb des gesamten Spektrums aufgenommen wird. Da waren ja bestimmte Themen einfach schon gesetzt, weil das ja keine neuen Themen sind, also gerade diese geschichtsrevisionistischen Fragen, Umdeutungen der Geschichte, der Versuch, die Besetzung von insbesondere der Bewertung und Beurteilung der NS-Zeit zu verändern. Das ist ja jetzt nicht neu erfunden von der AfD, sondern das sind ja ganz wichtige Themen innerhalb der verschiedenen Spielarten der extremen Rechten der letzten Jahrzehnte gewesen. "Unheilige Allianzen mit Identitären" Götzke: Mit der identitären Bewegung ist in Europa, auch in Deutschland, eine neue rechte bis rechtsextreme Bewegung entstanden, auf den politischen Markt gekommen. Die teilt ihre Ideologie ja auch mit manchen Burschenschaften. Welche Verbindungen bestehen zwischen diesen beiden Gruppierungen? Kurth: In der Tat existieren doch da einige unheilige Allianzen zwischen Identitären und Burschenschaften. Also es ist tatsächlich so, dass sowohl von Seiten der Identitären die Burschenschaften als wichtige Bezugsgruppe gesehen werden. Also das heißt, in veröffentlichten Handreichungen identitärer Gruppen wird explizit darauf hingewiesen, man solle den Kontakt zu Burschenschaften suchen. Auf der anderen Seite ist es so, dass eine ganze Reihe von Burschenschaften quer verteilt durch die Bundesrepublik den Identitären ihre Türen öffnen, das heißt also Veranstaltungen, also ihre Häuser zur Verfügung stellen, und es dort zum Teil dann auch zu Treffen kommt, wo identitäre Mitglieder der Jungen Alternative, mit der der AfD, Mitglieder von Burschenschaften sich eben auf Burschenschaftshäusern treffen, also das heißt, die Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird, und zum Dritten, dass auch ganz gezielt der ideologische Schulterschluss gesucht wird. Es gab vor Kurzem ein Heft der Deutschen Burschenschaft, der "Burschenschaftlichen Blätter" mit dem Schwerpunkt "Nonkonformes Europa". Da haben eine ganze Reihe von Identitären geschrieben, und da ging man quasi so weit, sich anzugucken, was gibt es denn für Anknüpfungspunkte innerhalb von Europa, um der existierenden Europäischen Union etwas entgegenzusetzen, und da spiele die Identitären eine ganz wichtige Rolle. Da macht man auch letztendlich nach Rechts keinen Stopp, sondern es ging also tatsächlich soweit, dass man auch einen Vertreter der neofaschistischen CasaPound-Bewegung in Italien interviewt hat, und nicht etwa in kritischer Absicht, sondern als Vorbildprojekt. CasaPound betrachtet sich selber als Faschisten des dritten … Also, sie wollen Überlegungen anstellen für einen Faschismus des dritten Jahrtausends. Das heißt, da sind wir ganz weit rechts außen. "Ich halte das für sehr gefährliche Verbindungen" Götzke: Noch mal ganz kurz zum Schluss, Frau Kurth: Wie gefährlich sind diese Verbindungen, Identitäre, AfD, Burschenschaften? Kurth: Ich halte das für sehr gefährliche Verbindungen, insbesondere wenn es in das militante Spektrum hineingeht. Götzke: ... sagt die Politologin und Rechtsextremismusforscherin Alexandra Kurth von der Universität Gießen. Danke schön! Kurth: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexandra Kurth im Gespräch mit Manfred Götzke
Lange schienen Burschenschaften in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Der Blick auf AfD und identitäre Bewegung offenbare allerdings nennenswerte Berührungspunkte, sagte die Politologin Alexandra Kurth im Dlf - und nannte diese Verbindungen "sehr gefährlich".
"2017-10-18T14:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:56:41.863000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/burschenschaften-identitaere-afd-da-existieren-einige-100.html
91,742
Der Exot aus dem Niemandsland
Twins Marlins Baseball (dpa / picture alliance / Lynne Sladky) Er trifft … "Max hammers one, high and deep to center field. It goes, gone." Und trifft … "Kepler joins the home run party." Und trifft … "A home run. Kepler’s eight." So viele Homeruns wie Max Kepler hat in der 116-jährigen Geschichte der Major League Baseball noch kein Europäer in einer Saison geschlagen. 36 Mal drosch der Deutsche in Diensten der Minnesota Twins den Baseball auf die Tribünen oder sogar darüber hinaus. Ein Exot auf der Homerunliste In der Homerunliste rangierte er zwischenzeitlich auf Platz sieben - nach Ende der Vorrunde ist Kepler 18. Allerdings fehlte er wegen einer Schulterverletzung seit zwei Wochen. Vor ihm liegen nur Spieler aus großen Baseball-Nationen wie den USA, Venezuela oder Kuba. Kepler hingegen kommt aus Deutschland, wo Baseball ein Nischensport ist. "Das ist schon außergewöhnlich für einen Deutschen, dazustehen als Power hitter, überhaupt als Baseballspieler auf so einem Level zu spielen. Aber, ich versuch', im jetzt zu bleiben, denk' mir nicht so viel während der Saison und schau' mir nicht die Nummer an. Aber nach der Saison feier' ich das dann auf jeden Fall mit meinen Eltern, mit meiner Familie." Major League Baseball - Max Kepler - das Baseball-Sternchen aus BerlinFußball, Tennis – oder doch lieber Baseball? Weil Max Kepler den Ball schon in der Schule fast aus dem Stadion warf, entschied er sich für Letzteres. Und schaffte es aus Berlin in die amerikanische Baseball-Liga. Experten sehen ihn erst am Anfang einer viel versprechenden Karriere. Sein bisheriger Saison-Bestwert lag bei 20 Homeruns. Auch in allen anderen relevanten Offensiv-Statistiken hat sich der 26-Jährige verbessert - und für seine Leistungssteigerung eine einfache Erklärung. "Ich bin immer am Schuften, immer am Arbeiten, will mich immer verbessern." Über Regensburg in die MLB Kepler war einst auch ein talentierter Fußballer, stand als Jugendlicher im Tor von Hertha BSC und spielte so gut Tennis, dass ihm die Steffi Graf-Stiftung in seiner Heimatstadt Berlin ein Stipendium anbot. Doch letztlich entschied er sich für Baseball, schaffte es über die Regensburg Legionäre in die MLB und konnte sich dort als erster Deutscher richtig durchsetzen. Doch seine Nationalität spielt in seiner nunmehr vierten Saison längst keine Rolle mehr. "Am Anfang schon, aber jetzt habe ich mich ein bisschen eingespielt und ich bin halt der Max." In Minnesotas Offensive, die gerade einen Liga-Rekord für Homeruns aufstellte, ist Kepler ein unverzichtbarer Leistungsträger geworden. Trainer Rocco Baldelli stellt den Deutschen in der Schlagreihenfolge an Position eins, um so sofort Druck auf den Gegner ausüben zu können. "Er ist ein unglaublicher Athlet, kann im Outfield alle Positionen richtig gut spielen. Und seine Qualität am Schlag ist einfach enorm. Max sieht den Ball sehr gut, trifft richtig gute Entscheidungen und ist der Mann, den du in entscheidenden Momenten da stehen haben willst. Und er ist noch jung, entwickelt sich noch. Ich freue mich, zu sehen, was er künftig noch alles zeigt." Gut für Minnesota - Kepler hat seine Schulterverletzung auskuriert und ist fit für die Playoffs. Die Twins werden ihn gut gebrauchen können. Denn erster Gegner sind die New York Yankees - und die haben die vergangenen fünf K.o.-Runden-Duelle alle gewonnen.
Von Heiko Oldörp
Der deutsche Baseball-Profi Max Kepler trifft aktuell in der Major League Baseball MLB wie er will. Sogar einen Europarekord bei den Homeruns hat er schon aufgestellt. Der 26-Jährige ist auf dem Weg, der erste europäische Star der Liga zu werden. Dabei ist er im Baseball-Mutterland eigentlich ein kompletter Exot.
"2019-09-30T22:55:00+02:00"
"2020-01-26T23:12:48.966000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/baseball-der-exot-aus-dem-niemandsland-100.html
91,743
"AfD Armee Fraktion" bedroht Ex-AfD-Politiker
Hans-Olaf Henkel und andere ehemalige AfD-Politiker haben Drohbriefe erhalten. (imago stock & people) Martialisch und unter der Gürtellinie ist die Wortwahl in den Drohbriefen, die nach einem Bericht der Zeitung "Welt am Sonntag" in den Briefkästen von mindestens sechs prominenten Ex-AfD-Mitgliedern gelandet sind. Einer davon ist der Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel. "Tod dir und deinen Alfa-Schwachmaten" steht darin geschrieben. Als "Hampelmann" und "Arschloch" wird er außerdem in dem mit Schreibmaschine verfassten Text beschimpft und aufgefordert, seinen Sitz im Europaparlament aufzugeben. Henkel war für die AfD in das Europaparlament eingezogen, im vergangenen Jahr aber aus der Partei ausgetreten und hatte sich stattdessen der neugegründeten Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) angeschlossen. So wie mehrere andere Politiker. Seinen Posten solle Henkel an "Frauke Petry und ihre Männer" zurückgeben. Schließlich warnt der Verfasser vor "blutiger Rache" und Henkel solle gut auf seine Familie aufpassen. Signiert ist das Schreiben mit "AAF", AFD ARMEE FRAKTION - wohl nicht zufällig angelehnt an die linksextremistische Terrorgruppe RAF. Der frühere AfD-Landessprecher von Baden-Württemberg, Bernd Kölmel, bestätigte der Nachrichtenagentur Reuters, dass er ebenfalls einen Drohbrief erhalten habe. Darin werden auch explizit die Kinder des Europaparlamentariers bedroht. Als Abschlussformel steht "Heil Höcke" unter dem Text - eine Anspielung auf den thüringischen Landeschef Björn Höcke, der zum nationalistischen Flügel der AfD gehört und mehrfach durch umstrittene Aussagen für Aufsehen gesorgt hat. Seinen Angaben zufolge sind die Schreiben während des Wahlkampfes in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachen-Anhalt aufgetaucht. Vor allem Politiker in Baden-Württemberg seien angeschrieben worden. Die betroffenen ALFA-Politiker hätten Anzeige erstattet. Laut "Welt am Sonntag" ermittelt bereits eine Polizeieinheit für politisch motivierte Kriminalität. Doch Kölmel zweifelt daran, dass die Briefe ernst gemeint sind: "Ich glaube nicht, dass hinter den Schreiben eine terroristische Struktur steht." Er gehe auch nicht davon aus, dass die AfD-Spitze damit etwas zu tun habe. Im Internet und vor allem auf Twitter wird ebenfalls über die Ernsthaftigkeit der Schreiben diskutiert. FAZ-Redakteur Justus Bender zweifelt an der Echtheit der "AAF": "Drohbriefe von 'AAF' haben m. E. einen für Rechtsextreme untypischen Tonfall. Allein 'Heil Höcke' wirkt zu gewollt." Andere Nutzer dagegen fordern, dass sich der Verfassungsschutz einschaltet und warnen vor einem Terrorarm der AfD. Vonseiten der AfD gibt es bisher noch keine Reaktion auf die Drohbriefe. (pr/dk)
null
Mehrere ehemalige AfD-Politiker haben nach Medienberichten Drohbriefe bekommen, die von einer Gruppe "AfD Armee Fraktion" stammen sollen. Darin werden die Politiker und ihre Familien bedroht. Doch es gibt Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Schreiben.
"2016-03-20T13:13:00+01:00"
"2020-01-29T18:19:35.550000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-parteiaustritt-afd-armee-fraktion-bedroht-ex-afd-100.html
91,744
Startschuss für Bürger-Klagen gegen Staaten
Über 2000 Beschwerden monatlich gehen aktuell beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein (imago / Winfried Rothermel) Vertreter von 17 europäischen Ländern kamen im Mai 1948 im niederländischen Den Haag zusammen, um nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeiten einer europäischen Einigung auszuloten. Man beschloss zwei konkrete Maßnahmen: die Schaffung des Europarats und die Formulierung einer europäischen Menschenrechtskonvention. Sie sollte sich an der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen orientieren. Mit einem, so der Völkerrechtsexperte Jochen Frowein, entscheidenden Unterschied: "In Europa war eindeutig die Zielsetzung, dass man eben nicht nur eine allgemeine Erklärung haben wollte, sondern einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag, der justiziabel ist." 1953 trat die Menschenrechtskonvention in Kraft, bis heute müssen sie alle Mitglieder des Europarates ratifizieren. Im April 1959 rief der Europarat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ins Leben. Er sollte über die Einhaltung der Konvention wachen. Der Normalfall sollten Beschwerden von Staaten gegen Staaten sein. Für Einzelpersonen war das Gericht nur zuständig, wenn ihre Regierungen sich damit einverstanden erklärt hatten. Doch von wem auch immer eine Beschwerde kam: über ihre Zulässigkeit entschied in jedem Fall erst einmal die Europäische Kommission für Menschenrechte. Nur sie konnte den Gerichtshof direkt anrufen. Jochen Frowein war 20 Jahre lang Mitglied der Kommission. "In Straßburg war in der ersten Phase eine außerordentliche Zurückhaltung", erzählt Frowein. "Als ich Mitglied der Kommission 1973 wurde, gab es wirklich noch wenig Bereiche, wo die Auslegung der Konvention für die Staaten schwierig geworden wäre. Damals war es so, dass eine Sorge bestand, wenn wir die Staaten außerordentlich scharf kontrollieren, dann kommt das System in Schwierigkeiten, und solche Systeme brauchen eine Zeit, bis sich Regierungen, Staaten daran gewöhnt haben und dann auch bereit sind, die Vorteile zu erkennen." Enormer Anstieg der Beschwerden 1998 war es so weit: Am 1. November trat das 11. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention in Kraft und markierte die Geburtsstunde des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie wir ihn heute kennen. Seitdem kann jeder Bürger gegen sein Land vor Gericht ziehen - ganz direkt. Einzige Bedingung: der nationale Rechtsweg muss zuvor ausgeschöpft worden sein. Jedes der 47 Europaratsmitglieder schickt einen Richter oder eine Richterin nach Straßburg. Sie werden für 6 Jahre gewählt und arbeiten vollamtlich, während sie früher nur einige Wochen im Jahr zusammentraten. Der Schweizer Luzius Wildhaber wurde der erste Präsident des neuen ständigen Gerichtshofs: "So werden alle Arten von Fällen kommen. Verfahrensdauer, Zustände in den Gefängnissen, aber auch Fragen der Eigentumsgarantie, der Meinungsfreiheit. Wahrscheinlich wird sich das gleich einspielen, dass aus allen Bereichen Beschwerden kommen." Und so kam es: Die Neukonzeption des Gerichts führte zu einem enormen Anstieg der Beschwerden: über 2000 gehen aktuell jeden Monat in Straßburg ein. Sofern sie tatsächlich eine Verletzung der Menschenrechtskonvention bedeuten könnten, sorgen die anschließenden Verfahren häufig für eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Auf die Mitwirkung der Staaten angewiesen Die Richter urteilten über das Burka-Verbot oder Kreuze in öffentlichen Räumen, über das Recht auf eine anonyme Geburt oder Sterbehilfe, über Haftbedingungen oder nachträgliche Sicherungsverwahrung. Ob die Urteile eine Änderung der nationalen Rechtsprechung nach sich ziehen, ist allerdings nicht sicher. Denn ihre Verbindlichkeit ist von Land zu Land unterschiedlich geregelt. Luzius Wildhaber: "Es ist eben im Großen und Ganzen nach wie vor das Gericht, das es war in dem Sinn, dass es Feststellungs- und Schadensersatzurteile trifft, und nicht mehr als das; und insofern als sie unausweichlich auf die Mitwirkung der Staaten angewiesen sind und dass die Mitwirkung nicht immer bereitwillig erfolgt." Gegen Georgien, Russland oder die Türkei beispielsweise ziehen regelmäßig Bürger vor das Straßburger Gericht. Menschenrechte sind in diesen Ländern oftmals nur leere Versprechungen - obwohl sie als Mitglieder des Europarates die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben.
Von Monika Köpcke
Für über 800 Millionen Bürger ist er die letzte Instanz in Menschenrechtsfragen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Als er 1959 gegründet wurde, sollte er über Beschwerden von Staaten gegen Staaten urteilen - seit 20 Jahren kann nun jeder Bürger gegen sein Land klagen.
"2018-11-01T09:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:08.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neukonzeption-des-egmr-vor-20-jahren-startschuss-fuer-100.html
91,745
Soja vom heimischen Acker
Ein Großteils des importierten Sojas ist gentechnisch verändert. Landwirte in Deutschland und Österreich pflanzen zunehmend gentechnikfreie Ware als Alternative. (picture-alliance / dpa) Matthias Krön denkt, wenn er über Soja spricht, fortwährend in Kategorien wie Eiweiß oder etwa Aminosäuren. Allerdings meint er damit nicht das tierische, sondern das pflanzliche Eiweiß und hier speziell die Sojabohne. "Soja ist die einzige Pflanze, die am Feld wächst, die alle Aminosäuren in guter Qualität aufweist; Aminosäuren sind essentielle Nährstoffe, die der menschliche Körper nicht selbst herstellen kann und die wir zum Leben brauchen. Das heißt, Soja-Produkte haben fast die gleiche Wertigkeit wie Eier oder tierische Produkte wie Fleisch. Deswegen ist Soja eben einmalig für die menschliche Ernährung gut geeignet. Und deswegen essen die Asiaten, die ja besonders lange leben, besonders viele Sojaprodukte wie eben Soja-Milch, Tofu, Sojasauce, Miso und viele andere Produkte. Es wäre sehr wünschenswert für unsere Gesundheit, wenn wir auch mehr Sojaprodukte direkt konsumieren würden." Europäischer Sojaanbau gewinnt an Bedeutung Matthias Krön ist Vorsitzender des in Wien angesiedelten Vereins Donausoja. Soja ist weltweit die wichtigste Nutzpflanze und sie sollte seiner Ansicht nach auch in Mittel- und Südosteuropa verstärkt angebaut werden – und zwar als Alternative zur Ware aus Lateinamerika, die überwiegend gentechnisch verändert ist und in riesigen Monokulturen angebaut wird. "Alle unsere Höfe setzen inzwischen nur diese europäische Soja ein. Gentechnikfrei, nachhaltig angebaut. Das sind wir auch unseren Verbrauchern schuldig, die erwarten von uns, dass wir keine Tropensoja einsetzen. Und auch wir Bauern haben ein Selbstverständnis: Wir stehen auf klassische Saatzucht aus bäuerlicher Hand." Rudolf Bühler ist Agraringenieur und Bauer in der 14. Generation. Zugleich ist er Gründer und Vorsitzender der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall, im Zentrum der Region Hohenlohe. Die Hohenloher Bauern kaufen deshalb ihr Futtermittel bei den Kollegen im benachbarten Kraichgau ein – zum Beispiel bei Rolf Wagner in Eppingen. "Ich kann sagen, es ist genfreies Soja, das ich selbst produziert habe. Und die Kunden, die kommen dann und sagen: Ich will dich unterstützen, ich finde das gut was du machst." Sojaanbau bietet Landwirten mehrere Vorteile Rolf Wagner bewirtschaftet einen 46 Hektar großen Familienbetrieb. Mit einem Hühnerbestand, einer Obstanlage, mit dem Getreideanbau und einer kleinen Pension hat er ein ausbalanciertes Einkommen. Seit einigen Jahren ist der auf Diversifizierung achtende Landwirt auch zum zertifizierten Soja-Bauer geworden und sieht ganz praktische Vorteile dieser Pflanze. "Die kleineren Landwirte bis siebzig Hektar bekommen für jeden Hektar auf dem Betrieb – also für alle 46 Hektar, 70 Euro mehr - pro Hektar an Zuwendung, wenn sie das machen. Der nächste Punkt: Wir sind im Kraichgauer Hügelland. Wenn ich hier Mais bau‘ mit der Gefahr vom Abschwemmen – das kriege ich mit dem Soja in den Griff, weil das einfach das ganze Jahr oder über die ganze Vegetationszeit den kompletten Boden bedeckt und ich damit keine Abschwemmungen hab‘." Die Zuschüsse von 70 Euro pro Hektar sind Resultat von agrarpolitisch veränderten Rahmenbedingungen in der EU. Davon unabhängig hat die Soja-Pflanze eine Eigenschaft, die Rolf Wagner für sich zu nutzen weiß. Die Hülsenfrucht holt sich ihren Stickstoffbedarf aus der Umgebungsluft und versorgt sich selbst. Nachfrage größer als Angebot "Die Soja-Pflanze kann ich im Wasserschutzgebiet anbauen, eine Erbse hinterlässt zu viel Reststickstoff, eine Sojabohne, wenn die abgeerntet ist – den Stickstoff, den sie produziert, den nimmt sie auch auf. Und die Erbse macht das nicht. Und damit sagt der Gesetzgeber wieder: Sojabohne im Wasserschutzgebiet erlaubt, Erbse nicht." Die Soja-Ernte, die Rolf Wagner und seine bäuerlichen Kollegen auf 1100 Hektar erzielen, ist praktisch schon im Voraus verkauft. Die beiden größten Abnehmer der Kraichgauer Soja-Erzeugnisse sind die Hallischen Bauern und die in Offenburg angesiedelte Handelsgesellschaft Edeka Südwest. Sie setzt mit ihrer Marke Hofglück auf gentechnikfreie und tierschutzkonforme Produkte. "Deswegen ist hinschauen und Transparenz ganz wichtig und wir fordern eben auch bessere Kennzeichnung von Produkten, weil wir möchten, dass der Verbraucher wirklich entscheiden kann. Und entscheiden kann ich nur, wenn ich auch weiß, was ich esse."
Von Klaus Betz
Soja ist die wichtigste Nutzpflanze weltweit. Aber in typischen Anbauländern wie Brasilien, Argentinien und China wird die Pflanze oft in Monokultur angebaut und gentechnisch verändert. Daher wächst die Nachfrage nach heimischem, gentechnikfreiem Soja rapide.
"2018-07-27T11:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:36.094000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landwirtschaft-soja-vom-heimischen-acker-100.html
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Neue Theorie zum Ende der Dinosaurier
Dem Einschlag des Asteroiden wird nicht nur die Verantwortung für das Ende der Dinosaurier zugeschrieben, er formte auch den 180 Kilometer weiten Chicxulub-Krater (imago / Leemage) Vor 66 Millionen Jahren war es ungemütlich auf der Erde. Damals schlug im heutigen Mexiko ein Asteroid ein, und im heutigen Indien strömten gewaltige Lavamassen aus der Erde: Die Dekkan-Trapps entstanden - Flutbasalte, die immer noch rund zwei Kilometer mächtig sind und Hunderttausende Quadratkilometer bedecken. Fanden beide Naturkatastrophen nur zufällig zeitgleich aus? Neue Datierungen belegen, dass in Indien zum Zeitpunkt des Einschlags rund 80 Prozent des Flutbasalts in einem einzigen Eruptionsimpuls ausströmten. Kurbelte der Asteroideneinschlag also vielleicht weltweit den Vulkanismus an? "Wir untersuchten deshalb die Struktur des Meeresbodens. Die Idee war Folgende: An den Zehntausenden Kilometer langen mittelozeanischen Rücken entsteht durch Vulkanismus neuer Ozeanboden, wenn die Lava erstarrt, die dort aus dem Erdmantel quillt. Also müsste durch den Chicxulub-Einschlag ungewöhnlich viel neuer Meeresboden entstanden sein", erklärt Joseph Byrnes von der University of Minnesota in Minneapolis. Hundert Mal stärker als das größte Erdbeben Dass starke Erdbeben selbst in großer Entfernung Vulkanausbrüche auslösen können, ist bekannt. Die seismischen Wellen, die der Chicxulub-Einschlag um die Welt schickte, waren wohl um die hundert Mal stärker als die des größten bislang gemessenen Erdbebens. Die Annahme, dass dadurch global Eruptionen ausgelöst worden sein könnten, ist also durchaus plausibel. "Es gibt eine von Geophysikern häufig genutzte Datenbank der marinen Schwereanomalien, die die Stärke der Schwerkraft in einem Gebiet dokumentieren. Die ist direkt abhängig von der Masse, und deshalb lassen sich die marinen Schwereanomalien als Beleg für die Masse am Meeresboden interpretieren." Falls die Mittelozeanischen Rücken durch den Asteroideneinschlag mehr Basalt förderten, sollte sich das als Anomalie in der Datenbank finden lassen. Und tatsächlich: Im Pazifischen und im Indischen Ozean entdeckten die Geologen auffällig schwere Abschnitte in der Meereskrustenplatte, die das Alter des Chicxulub-Kraters hatten, erklärt Leif Karlstrom von der University of Oregon in Eugene: "Dieser Peak an der Grenze zwischen Kreidezeit und Paläogen ist die größte Anomalie an den mittelozeanischen Rücken der vergangenen 100 Millionen Jahre." Zusammentreffen der Ereignisse könnte zufällig sein Einer ersten Abschätzung zufolge sind damals zwischen 20.000 und sechs Millionen Kubikkilometer mehr Magma aus den mittelozeanischen Rücken geflossen. Je nach Masse könnte das durchaus eine Veränderung in der chemischen Zusammensetzung des Meerwassers erklären, die sich für diese Zeit aus geochemischen Daten ablesen lässt. Die wiederum sollte dann als weiterer Faktor zum Massenaussterben beigetragen haben. "Ich bin von dem Ergebnis meiner Kollegen begeistert, weil es unsere Hypothese stützt, dass der Chicxulub-Einschlag den Ausbruch der Dekkan-Trapps massiv verstärkt hat. Die Datierungen der Anomalien in der Meereskruste sind zwar kein wasserdichter Beweis, aber sie deuten darauf hin, dass wir richtig liegen", urteilt Mark Richards von der University of California in Berkeley. Andere seiner Kollegen sind bei ihrer Einschätzung vorsichtiger. So erklärt Berkeley-Geologe Paul Renne, dass auch dieses Zusammentreffen zufällig sein könnte. Solange der physikalische Mechanismus nicht geklärt sei, mit dem ein Asteroiden-Einschlag weit entfernt Vulkanausbrüche auslöst, sei nicht sicher, ob es tatsächlich eine kausale Verbindung gab oder nur eine Koinzidenz katastrophaler Ereignisse.
Von Dagmar Röhrlich
Was genau vor 66 Millionen zum Aussterben der Dinosaurier und vieler weiter Arten auf der Erde führte, darüber diskutieren Forscher noch immer. Die einen vermuten einen Asteroideneinschlag als Ursache, andere eher den Austritt riesiger Lavamassen. Eine neue Theorie könnte beide Ansätze zusammenführen.
"2018-02-08T11:55:00+01:00"
"2020-01-27T17:38:29.614000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/asteroideneinschlag-und-vulkanismus-neue-theorie-zum-ende-100.html
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Entmachtung des Parlaments in Venezuela besiegelt
Venezuelas Präsident Maduro hat die Verfassungsgebende Versammlung durchgedrückt. Mitglieder sind handverlesene Anhänger der sozialistischen Partei, auch Ehefrau und Sohn von Präsident Maduro. (AFP / Federico Parra) Die Arbeit der erst vor knapp drei Wochen eingerichteten Verfassungsversammlung verläuft planmäßig: Sie hat sich zur obersten Institution des Landes erklärt und duldet keine politische Konkurrenz. Deshalb hat das oppositionsdominierte Parlament ab sofort auch ganz offiziell keine Gesetzgebungsbefugnisse mehr. So beschlossen es die Mitglieder der Verfassungsversammlung, Vizepräsident Elvis Amoroso verliest: "Wir übernehmen die Gesetzgebungsvollmachten, die die Garantien zum Schutz des Friedens betreffen, der Sicherheit, der Souveränität, des sozioökonomischen und des Finanzsystems, die Ziele des Staates und die Rechte der Venezolaner." Maduro regiert per Dekret Schon seit die Venezolaner bei der Parlamentswahl Ende 2015 mit überwältigender Mehrheit für das Oppositionsbündnis stimmten, ist das Parlament de facto entmachtet: Der sozialistische Präsident Maduro regierte per Dekret und mit Unterstützung von Oberstem Gericht und Wahlrat am Parlament vorbei. Beide Gremien werden von seinen Anhängern beherrscht. Als die Sozialisten Ende März zum ersten Mal versuchten, Nägel mit Köpfen zu machen, und die Entmachtung des Parlaments schwarz auf weiß festschrieben, begann eine beispiellose Protestwelle – mit mehr als 120 Todesopfern. Für die meisten Toten sind nach Behördenangaben die venezolanischen Sicherheitskräfte verantwortlich. Die Regierung musste andere Wege finden und rief zur Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung auf. Angeblich sollte damit der Frieden im Land wieder hergestellt werden. Aber die ersten Entscheidungen des frisch inthronisierten Gremiums zielten vor allem auf die Beseitigung von politischen Gegnern ab: Die kritische Generalstaatsanwältin wurde auf einstimmigen Beschluss abgesetzt, eine Wahrheitskommission gegründet, die Justizaufgaben übernimmt und als erstes Ermittlungen gegen führende Politiker des Oppositionsbündnisses eingeleitet hat. Oppositionspolitikern drohen lange Haftstrafen So werden Parlamentspräsident Julio Borges und sein Vize Freddy Guevara beschuldigt, zu Gewalt und Terror angestachelt zu haben. Den Oppositionspolitikern drohen lange Haftstrafen. Sie weigern sich, die Verfassungsversammlung anzuerkennen. Freddy Guevara: "Wir Parlamentarier müssen nur der Verfassung und dem Volk gehorchen. Ich als Vize-Präsident und als Person gehorche nur Gott, dem Volk, der Verfassung und meinem Gewissen. Es gibt für mich und für keinen Abgeordneten einen Grund, an dieser betrügerischen Verfassunggebenden Versammlung teilzunehmen. Mit ihren Drohungen werden sie uns nicht in die Knie zwingen." Mit der endgültigen Entmachtung des Parlaments verschärft sich die politische Krise in dem südamerikanischen Land weiter: Die Verfassungsversammlung wird international nur von Verbündeten wie Nicaragua und Kuba anerkannt. Ihre Wahl vor drei Wochen war von massiven Betrugsvorwürfen begleitet. Die Mitglieder sind handverlesene Anhänger der sozialistischen Partei, darunter Ehefrau und Sohn von Präsident Maduro.
Von Anne-Katrin Mellmann
In dem erbitterten Machtkampf zwischen dem linksnationalistischen Präsidenten Nicolás Maduro und der Mitte-rechts-Opposition, leistet die auf Geheiß von Maduro gewählte Verfassunggebende Versammlung ganze Arbeit: Sie allein macht Gesetze, politische Gegner werden ausgeschaltet. Die Krise im Land verschärft sich.
"2017-08-19T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:46:44.132000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verfassungsgebende-versammlung-entmachtung-des-parlaments-100.html
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"Ich bereue es keinen Meter, dass ich hergekommen bin"
Treffpunkt Zentralpforte der Deutschen Flugsicherung in Langen. Der 22 Jahre alte Stephan Güttlich kommt entspannt im blauen T-Shirt mit einer Windsurfing-Aufschrift, schließlich hat er seinen Dienst schon vor anderthalb Stunden beendet. Mit sichtbarem Stolz deutet er auf den Gebäudekomplex hinter der gläsernen Pforte, in dem ein Fluglotsencenter untergebracht ist:"Das ist das Center Langen hier, das ist das Größte in Deutschland. Es gibt insgesamt vier Stück, Langen, München, Bremen und Karlsruhe, wobei in Karlsruhe die Flieger nur ganz, ganz oben sind. Und in eines dieser Center werde ich dann später hinkommen."Die Deutsche Flugsicherung in Langen bei Frankfurt ist eine exklusive Adresse der deutschen Luftfahrt. Eine Adresse, wo auch Stephan Güttlich seinen Platz hat: Hier wird er zum Fluglotsen ausgebildet. Zuvor hatte er nach drei Semestern sein Mechatronik-Studium an der Fachhochschule Darmstadt abgebrochen:"Ne, ich bereue es keinen Meter, das ich hergekommen bin. Die Konditionen sind einfach besser geworden, dass macht auf jeden Fall mehr Spaß. Noch ein Bonus dabei ist, man ist in der Ausbildung und verdient noch sein Geld dazu. Im Studium gibt man Geld dafür aus, muss sich nebenbei noch einen Job suchen, hat dafür kaum Zeit und da fehlt dann auch irgendwie das Geld und hier ist es ganz anders."Bis zum Alter von 24 Jahren kann man sich in Langen für die Fluglotsenausbildung bewerben. Hätte Stephan Güttlich versucht, vorher sein Studium abzuschließen, wäre es zeitlich eng geworden. Dass er den richtigen Zeitpunkt für eine Bewerbung bei der Deutschen Flugsicherung kannte, liegt ein bisschen auch in der Familie: Sein Vater arbeitet am Frankfurter Flughafen, so war es für Güttlich kein Problem, genaueres über die Bedingungen der Fluglotsenausbildung zu erfahren. Fit muss man schon sein für den Job, betont er, regelmäßiger Sport sei aber keine Bedingung.Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsvermögen seien wichtig. Die Fluglotsenausbildung liege ihm einfach viel mehr als das aus seiner Sicht doch sehr theorielastige Mechatronik-Studium im benachbarten Darmstadt, erzählt Stephan Güttlich:"Da ist auf jeden Fall die Praxis vorhanden, auch die Theorie macht Spaß, es ist eher wieder schulmäßiger, man hockt mit 16 Leuten da und hört einem Lehrer zu und der geht auf Fragen ein und das kann man mit einer FH gar nicht vergleichen."Noch anderthalb Jahre lang dauert seine Fluglotsenausbildung – zurzeit verbringe er viel Zeit im Simulator. "Wir haben hier so einen Center-Simulator, wo alles Mögliche simuliert wird. Wenn Flugzeuge in den Sektor rein fliegen, wenn sie herauskommen. Den Flugzeugen Richtungen geben, das alles wird hier simuliert und das ist das, was man später dann auch macht."Nach der Ausbildung wird Stephan Güttlich so viel Geld verdienen, dass er wohl auch gut in Frankfurt am Main oder München leben kann, wo Fluglotsen gebraucht werden. Aber auch mit Karlsruhe kann Stephan Güttlich sich anfreunden. Er ist glücklich mit der Entscheidung, das Studium abgebrochen und den spannenden Beruf des Fluglotsen gewählt zu haben. "Ja klar ist es mit Stress verbunden, aber die Arbeitszeiten sind dann wieder so geregelt, dass man zwei Stunden arbeitet und dann wieder Entlastung hat. Und dann wieder zwei Stunden arbeitet, es ist so das man zwei Stunden wirklich voll konzentriert da sitzen muss und dann aber auch wieder Ruhephasen hat. Von daher, abschreckend finde ich das nicht so. Man muss halt vorher wissen, was man macht."Um das zu wissen, kann also ein Studienabbruch eine gute Voraussetzung sein. Der Weg zur Berufszufriedenheit ist nicht immer gradlinig. Das zeigt das Beispiel des glücklichen Studienabbrechers an der Pforte der Deutschen Flugsicherung in Langen. Campus & Karriere-Serie "Studienabbruch in Deutschland": "Ich fang' jetzt bei null an" - Teil 1: Porträt Sandra WalusPsychotherapeut: "Scheitern gehört dazu" - Teil 2: Ursachen der persönlichen Krise"Bewerben, bewerben, bewerben! Und nicht müde werden!" Serie "Studienabbruch in Deutschland" - Teil 3: Was tun ?"Ich sehe reelle Chancen" Serie "Studienabbruch in Deutschland" - Teil 4: Arbeitsagentur bietet Hilfen für Abbrecher
Stephan Güttlich im Gespräch mit Ludger Fittkau
Zum Abschluss unserer Reihe über Studienabbrecher erzählen wir die Geschichte eines "glücklichen Studienabbrechers". Sie spielt im südhessischen Langen, dem Sitz der Akademie der Deutschen Flugsicherung. Dort werden Fluglotsen ausgebildet.
"2010-07-30T14:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:04:27.775000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ich-bereue-es-keinen-meter-dass-ich-hergekommen-bin-100.html
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"Dieser Mann war ein enormer Stresstest für den Weltfußball"
"Jede andere Lösung als dieser Mann ist besser, inklusive einer völlig fachfremden", meint SZ-Redakteur Thomas Kistner. (Getty Images / UEFA / Lukas Schulze) Nach Angaben der Justizbehörden könne nun auch gegen Michael Lauber ein entsprechendes Verfahren eingeleitet werden. Bei den Vorwürfen geht es um Amtsmissbrauch, um die Verletzung von Amtsgeheimnissen sowie um Begünstigung. Die Treffen zwischen Infantino und Lauber fanden 2016 und 2017 statt. In dieser Zeit ermittelte die Schweizer Bundesanwaltschaft gegen die FIFA wegen Korruption im Zuge der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 an Russland und 2022 an Katar. "Es besteht massive Verdunklungsgefahr" Thomas Kistner von der SZ war maßgeblich daran beteiligt, diese Geheimtreffen aufzudecken. Das Strafverfahren bedeute für Infantino, dass er vor dem Aus stehe, sagt Kistner. Die Strafermittler sollten jetzt Durchsuchungen an allen relevanten Stellen in der FIFA durchführen. "Es besteht ja massive Verdunklungsgefahr". Der private Mailverkehr Infantinos mit seinem Rechtsberater Rinaldo Arnold sei bereits sehr ergiebig gewesen. "Es fehlen nur noch wenige Puzzleteile, um das Gesamtbild zusammenzusetzen." Dreht sich der Wind in der Schweizer Justiz?Der umstrittene Schweizer FIFA-Ermittler Michael Lauber hat nach einem vernichtenden Urteil des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts seinen Rücktritt angeboten. Aber mit der Personalie sei es nicht getan, sagt Journalist Thomas Kistner. Nun müsse auch FIFA-Chef Gianni Infantino zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Zukunft ohne Gianni Infantino an der FIFA-Spitze sei der beste Weg, meint Kistner. "Jede andere Lösung als dieser Mann ist besser, inklusive einer völlig fachfremden. Dieser Mann war ein enormer Stresstest für den Weltfußball." Entscheidung über Suspendierung noch offen Im Falle einer Suspendierung Infantinos sei mit einem substantiellen Wandel in der FIFA zu rechnen, sagt Kistner. "Es würde ganz sicher so sein, dass der Weltfußballverband zum Stillstand käme, zu einer Besinnungspause, die ihm gut täte. Dann wäre damit zu rechnen, dass ungefähr in einem halben Jahr ein neuer Präsident bei einem Sonderparteitag gewählt wird." Dafür muss die FIFA-Ethikkommission Infantino allerdings erst mal suspendieren. Wann die Entscheidung komme, sei noch unklar, sagt Kistner. Das hänge davon ab, ob Ethikchefin Claudia Rojas in der Lage sei, sich aus dem Kontrollgriff der FIFA zu befreien.
Thomas Kistner im Gespräch mit Raphael Späth
Die Schweizer Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren gegen FIFA-Präsident Gianni Infantino eröffnet. Hintergrund sind die geheimen Treffen zwischen Infantino und dem Leiter der Schweizer Bundesanwaltschaft, Michael Lauber. SZ-Redakteur Thomas Kistner glaubt, dass Infantino nun vor dem Aus steht.
"2020-07-30T22:52:00+02:00"
"2020-08-03T21:50:37.436000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/strafverfahren-gegen-infantino-eroeffnet-dieser-mann-war-100.html
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"Aufbruch in der Bildung"
"Was wir jetzt brauchen unter neuen Vorzeichen - der Digitalisierung, einer bunter werdenden Gesellschaft, neuer sozialer Probleme, auch wachsender Schülerzahlen (...), ist insgesamt ein Aufbruch", sagte SPD-Bildungspolitiker Hubertus Heil im Dlf (picture alliance / Kay Nietfeld/dpa) Michael Böddeker: Eine neue Bundesregierung, die ist jetzt knapp vier Monate nach der Wahl immerhin etwas näher gerückt. Vorm Wochenende wurden erste Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD vorgestellt, und in Sachen Bildung und Forschung, da haben sich die Parteien einiges vorgenommen. Philip Banse fasst die wichtigsten Punkte zusammen: Philip Banse: Union und SPD haben vereinbart, als Regierungsparteien knapp sechs Milliarden Euro mehr als bisher geplant für Bildung auszugeben. Zwei Milliarden Euro davon sollen laut Sondierungsvereinbarung über die Länder in den Ausbau der Ganztagsschule fließen. Denn Union und SPD wollen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schaffen. Mit dem zusätzlichen Geld sollen Schulen auch digitalisiert werden. Um die Bundesländer besser mit Geld für den Bildungsbereich versorgen zu können, soll das Grundgesetz geändert werden. Mit 350 Millionen Euro sollen vor allem die Aufstiegschancen im Rahmen des Meister-BAföG verbessert werden, die Berufsschulen sollen modernisiert werden, und Auszubildende sollen eine Mindestvergütung bekommen. Mit rund einer Milliarde Euro sollen die Leistungen des BAföG ausgebaut und verbessert werden. Seit Jahren bekommen von Jahr zu Jahr weniger Schüler und Studierende diese monatliche Ausbildungshilfe. In drei Jahren schon soll die Zahl der BAföG-Geförderten wieder wachsen. Die Förderung des Bundes für den Hochschulpakt für mehr Studienplätze und eine bessere Lehre soll mit einer Grundgesetzänderung dauerhaft verstetigt werden. Für einen Nachfolger des Hochschulpakts sollen 600 Millionen Euro bereitstehen. Insgesamt sollen Bund, Länder und Wirtschaft bis 2025 mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben. Außerdem wollen die möglichen Regierungsparteien einen nationalen Bildungsrat einrichten. Böddeker: Soweit die grobe Übersicht zum Thema Bildung und Forschung aus den Sondierungsrunden für die Zeit bis 2021. Mehr ins Detail gehen wir jetzt mit Hubertus Heil. Er ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Bildungspolitiker. Schönen guten Tag! Hubertus Heil: Schönen guten Tag, grüße Sie! "Umgesetzt, was wir im Wahlprogramm hatten" Böddeker: Sie haben sich ja auch schon zu den Sondierungen geäußert, das Ergebnis für die Bildungspolitik könne sich sehen lassen, haben Sie in einem Interview gesagt. Inwiefern, wo hat sich Ihre Partei, die SPD, da durchgesetzt? Heil: Vor allen Dingen kriegen wir es hin, dass wir die Bildungschancen in Deutschland im Schulterschluss von Bund und Ländern endlich gemeinsam verbessern können. Das ist ein großer Schritt zu einem neuen kooperativen Bildungsföderalismus, indem wir das Kooperationsverbot aufheben, das heißt, der Bund kann jetzt gezielt in die Schulen investieren, in den Ausbau von Ganztagsschulen, in digitale Bildung, in berufliche Schulen, und das schafft Chancengleichheit in Deutschland, das ist ein wesentlicher Schritt. Und wir haben viel für die Hochschulen erreicht und die berufliche Bildung bei den Hochschulen. Es wird auch so sein, dass wir den Hochschulpakt auf Dauer stellen, das heißt, der Bund steigt in die Grundfinanzierung der Hochschulen ein, das schafft Planbarkeit und sorgt für bessere Lehre für die Studierenden in Deutschland. Und im BAföG schaffen wir mehr Chancengleichheit, und last but not least, wir setzen einen starken Schwerpunkt bei der beruflichen Bildung durch eine Novelle des Berufsbildungsgesetzes, durch eine Mindestauszubildendenvergütung, durch die Modernisierung der beruflichen Schulen. Also: Aufbruch in der Bildung. Wir haben als SPD uns nicht in allen Politikfeldern durchgesetzt, aber im Bildungs- und Forschungsbereich kann ich sagen, haben wir das umgesetzt, was wir auch im Wahlprogramm hatten. "Wir können jetzt zwischen Bund und Ländern zusammenarbeiten" Böddeker: Allerdings gibt es da ja durchaus noch ein bisschen Interpretationsspielraum, zum Beispiel auch beim Kooperationsverbot, das Sie angesprochen haben: Die Regelung, nach der der Bund sich aus der Schulpolitik raushalten soll, weil das eben Ländersache ist, die SPD ist schon lange gegen das Kooperationsverbot. Sie haben eben gesagt, es gibt den Schulterschluss mit dem Bund, aber steht in dem Papier auch der Satz, die Kultushoheit bleibt Kompetenz der Länder. Und zum Beispiel Stefan Kaufmann von der CDU interpretiert das so, dass das allenfalls eine leichte Lockerung des Kooperationsverbots ist. Sie sehen das offenbar anders? Heil: Ja, ich sehe das anders, weil für mich ist der Maßstab, ob wir die rechtlichen Möglichkeiten haben, die es vor 2006 gegeben hat. In der Zeit von Edelgard Bulmahn, der SPD-Bildungsministerin, gab es einen Ganztagsschulprogramm des Bundes, das ist seit dem Kooperationsverbot nicht mehr möglich, das ist jetzt wieder möglich. Wir können jetzt zwischen Bund und Ländern zusammenarbeiten, wir können uns auch für gemeinsame Bildungsstandards stark machen - mit dem Aufheben des Kooperationsverbots mit dem neuen Bildungsrat sehe ich da große Chancen, und das ist das, was zählt am Ende, nicht Wortklauberei von Herrn Kaufmann. "Digitale Bildung steht ganz vorne" Böddeker: Auf den Bildungsrat gehen wir gleich noch ein, vorher noch zu einem anderen Thema, auch das kostet Geld: die Digitalisierung der Schulen. Da hatte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka im Herbst 2016 einen Digitalpakt angekündigt, fünf Milliarden Euro sollte der umfassen, dieser Digitalpakt taucht allerdings namentlich im Sondierungspapier gar nicht auf. Wie kommt das? Heil: Nein, wir haben uns klar dazu bekannt, dass es eine Investitionsoffensive für Schulen gibt, das heißt im Schwerpunkt Ganztag und auch Digitalisierung, das ist der Digitalpakt, wir wollen den. Ich will, dass wir die fünf Milliarden Euro in diesem Bereich mobilisieren, weil digitale Bildung ganz vorne steht, weil wir da nicht hinten sein dürfen. Das heißt, das ist gemeint und das ist auch im Text verankert. Bildungsrat als Plattform zwischen Bund und Ländern Böddeker: Den nationalen Bildungsrat haben Sie noch angesprochen, der eingerichtet werden soll - welche Aufgabe soll der erfüllen und wer soll da rein, in den Rat? Heil: Der nationale Bildungsrat schafft erst mal eine Plattform zwischen Bund und Ländern, um über die Zukunft des Bildungssystems insgesamt, nicht nur über den schulischen Bereich zu reden, und auch dann eine Grundlage für gemeinsame Verantwortung. Ich kann mir vorstellen, dass in diesem nationalen Bildungsrat die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern sitzen, aber ich kann mir genauso vorstellen, dass wir Wissenschaft, Gewerkschaften und auch Arbeitgeber einbeziehen, weil wir auch die Beteiligten im Bildungssystem insgesamt brauchen, [um] nach vorne zu gehen. Was ich mir wünsche, ist, dass wir auf diesem Weg zu qualitativ hochwertigen Bildungsstandards in Deutschland kommen, die wir dann gemeinsam umsetzen, damit wir insgesamt endlich den Aufbruch bekommen, den Deutschland in der Bildungspolitik ja seit Langem braucht. Mehr Qualität und bessere Bildungschancen schaffen Böddeker: Sie sagten, Politiker könnten rein in so einen Rat, genauso Bildungsforscher, aber heißt das dann nicht, dass so ein neuer Bildungsrat bestehende Institutionen überflüssig macht? Es gibt ja zum Beispiel das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das IQB, oder einfach auch die Kultusministerkonferenz, die KMK. Heil: Ja, das gibt’s, aber das hat einen anderen Zielhorizont. Die Kultusministerkonferenz wird es weiter geben, aber da sitzt der Bund nicht für Vereinbarungen mit am Tisch, und der Bildungsrat soll das gesamte Bildungssystem in den Blick nehmen. Es gab schon mal einen deutschen Bildungsrat bis 1975, und parallel dazu, Ende der 60er-Jahre und der 70er-Jahre, ist, dass Deutschland damals einen großen Aufbruch in der Bildungspolitik geschaffen hat mit großen Bildungsreformen. Und was wir jetzt brauchen unter neuen Vorzeichen - der Digitalisierung, einer bunter werdenden Gesellschaft, neuer sozialer Probleme, auch wachsender Schülerzahlen, die wir ja haben erfreulicherweise -, ist insgesamt ein Aufbruch. Und wir können es uns nicht mehr leisten, so weiterzumachen wie bisher, und das, finde ich, ist jetzt angelegt. Wir stellen nicht nur mehr Geld zur Verfügung, sondern wir sorgen für die Strukturen, die es braucht, um mehr Qualität zu schaffen und bessere Bildungschancen. Und das ist der Aufbruch, den ich jetzt als möglich erachte mit diesen Vereinbarungen. Böddeker: Hubertus Heil war das, SPD-Fraktionsvize, zu den Ergebnissen der Sondierer in Sachen Bildungspolitik. Vielen Dank für das Gespräch! Heil: Schönen Tag wünsche ich Ihnen, tschüss! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hubertus Heil im Gespräch mit Michael Böddeker
Im Bildungs- und Forschungsbereich habe die SPD bei den Sondierungsgesprächen das umgesetzt, was auch im Wahlprogramm stehe, sagte SPD-Bildungpolitiker Hubertus Heil im Dlf. Der überfällige Aufbruch sei nun angelegt. "Wir sorgen für die Strukturen, die es braucht, um mehr Qualität zu schaffen und bessere Bildungschancen."
"2018-01-15T14:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:35:00.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/groko-sondierungspapiere-aufbruch-in-der-bildung-100.html
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Bewerbungsgespräch via Video
"Test your microphone!- Ok, ich sehe den Pegel- Can you see yourself?- Ja. Ich bin in der Mitte des Bildes. Also: start recording, 3,2,1." Ich stehe in meinem Schlafzimmer vor einer weißen Wand. Hinter mir, etwa hüfthoch, steht eine Kommode. Auf ihr habe ich alle Adidas-Schuhboxen aufeinandergestapelt, die ich habe. Drei Stück, knallig blau, mit je drei Streifen drauf. Vor mir steht ein aufgeklappter Laptop. Die Webcam ist an und eine Personalerin der Firma Adidas erklärt mir, wie das Videointerview gleich abläuft: "Man kann keine Frage wiederholen. Sei einfach Du selbst!" Im Videointerview, das pro Semester circa 1.000 Bewerber für ein duales Studium bei Adidas durchlaufen, geht es vor allem um eins: persönliche Geschichten, sagt Kristina Schulte. Sie wertet die aufgezeichneten Videointerviews aus: "Die Motivation ist für uns einfach ausschlaggebend, und da haben wir schon die schönsten Geschichten gehört: über den ersten Schuh, den man im Kindesalter bekommen hatte, der einen dann zu Erfolgen getragen hat in seinem Sport, den man aktuell macht. Da gibt's sehr viel persönliche Noten, die es für uns dann auch spannend machen, den Leuten zuzuhören." Standardantworten vermeiden Also: Auf Standardfragen bloß keine Standardantworten geben. Am besten in jede Antwort eine kleine persönliche Anekdote einflechten. "Mit welchen drei Eigenschaften würden deine Freunde Dich beschreiben?""Engagiert. Zum Beispiel letztens kam ein Freund und hat mir gesagt, ich arbeite in einer Bäckerei, und was für einen Umsatz die eigentlich machen ...""What's your favourite Adidas-product anf why?" Ups! Da hab ich in meinem Redefluss die Zeit vergessen. Maximal drei Minuten hat man pro Frage. Wie viele Sekunden noch bleiben, sieht der Bewerber in einem Extrakästchen eingeblendet auf dem Bildschirm. Bewerbungstrainer Jürgen Hesse von der bundesweiten Karriereagentur Hesse/Schrader erklärt, wie man mit der Videobewerbung überzeugt: "Wenn Sie wissen wollen, wie Leute das vor allen Dingen gut machen, dann brauchen Sie ja nur die Tagesthemen anzuschauen, wenn da Politiker im Studio zugeschaltet werden, dann sehen Sie, ob so ein Politiker glaubwürdig ist oder ob er anfängt, wirr umherzuschauen, zu stottern." Wichtig also: Immer gezielt in die Kamera schauen. Die Augen nicht suchend hin- und herbewegen - das wirke unsicher, sagt Jürgen Hesse. Bewirbt man sich per Skype, das heißt der Chef oder Personaler ist einem direkt zugeschaltet, gelte außerdem: Small Talk nicht vergessen! "Wenn wir hier ein Gespräch zwischen Berlin und Frankfurt haben, dann kann ich Sie auch mal fragen, schneit es bei Ihnen? Fakt ist: Sie werden ja neben dem, was Sie sagen auch dahingehend beurteilt, welchen Eindruck vermitteln Sie? Das heißt das, was das Foto bei der schriftlichen Bewerbung ist, ist jetzt hier Ihr Auftritt." Kompetenz und Vertrauen ausstrahlen Entscheidend also bei jeder Bewerbung: Kompetenz und Vertrauen ausstrahlen. Ob man diese Fähigkeiten nun per Skype oder im persönlichen Gespräch zeigt, spielt für viele Studierende der Frankfurter Goethe-Universität keine Rolle. Sie sehen im Videointerview mehr Vor- als Nachteile: "Man bewirbt sich ja mittlerweile überall in der Welt, deswegen ist es praktisch. Bei der großen Anzahl an Studenten, und diesem gewaltigen Konkurrenzverhalten, kann eine Firma nicht jeden einzelnen Bewerber persönlich kennenlernen. Also, das ist effizienter. So ein Bewerbungsvideo, wo die dann auch was Kreatives von mir wollen, dann finde ich es eigentlich eine ganz schöne Idee. Wenn es dann auf der Basis ist, dass beide sich sehen können, dann ist das auch für mich eine gute Möglichkeit, wenn ich dann sehe: Den Menschen finde ich komplett unsympathisch, sodass ich dann auch sagen kann: Nee, will ich selbst nicht." Fazit: Wer ein bisschen technikaffin ist und auf übliche Bewerbungsfragen gut vorbereitet ist, der kann mit einem Videointerview punkten. Auch ich wäre bei Adidas eine Runde weiter - und das trotz Patzer, sagt die Personalerin: "Was leider nicht ganz so gut war, war dass Sie die Frage, die in Englisch gestellt worden ist, nicht auf Englisch beantwortet haben, sondern auf deutsch." Abschließender Tipp: Pannen wie schlechte Beleuchtung schiefe Bilder an der Wand vermeiden. Passiert so etwas im Bewerbungsvideo trotzdem - einfach charmant drauf reagieren, raten die Experten.
Von Afanasia Zwick
Bei Bewerbungsgesprächen gibt es Standardfragen, auf die man sich gut vorbereiten kann. Doch worauf sollte man achten, wenn ein Unternehmen zu einem Videointerview einlädt?
"2015-11-23T14:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:37.201000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tipps-bewerbungsgespraech-via-video-100.html
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US-Militär setzt Luftangriffe in Syrien fort
Ein Marschflugkörper des Typs "Tomahawk" fliegt vom einem Schiff der US-Marine im Golf ab. (AFP Photo / US Navy / Eric Garst / Handout ) Die USA haben weitere Luftangriffe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien geflogen. Ziele waren nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mutmaßliche IS-Stellungen nahe der Stadt Kobani an der türkischen Grenze. Einen weiteren Luftangriff gab es nach Angaben des US-Militärs auf ein Lager der Milizen südwestlich von Dair as-Saur. An den Luftangriffen unter Führung der USA beteiligten sich laut Pentagon fünf arabische Verbündete: Bahrain, Jordanien, Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Nach Angaben von Menschenrechtlern waren bei den ersten Angriffen in Syrien in der Nacht zum Dienstag 70 IS-Extremisten getötet worden. Zudem starben bei weiteren US-Attacken 50 Kämpfer der Chorasan-Gruppe. Die Al-Kaida-nahe Gruppe gilt als größere Bedrohung für den Westen als der mit Al-Kaida verfeindete IS und hat nach Angaben der USA Terroranschläge in den Vereinigten Staaten oder Europa geplant. Für Deutschland besteht nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) derzeit jedoch keine konkrete Bedrohung. BKA-Präsident Ziercke sprach im ARD-Fernsehen allerdings von einer "abstrakten Gefahr", da Deutschland den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat unter anderem mit Waffenlieferungen unterstütze. Die erste Maschine mit Waffen sollte heute Mittag in Richtung Irak aufbrechen, ein Flugzeugdefekt verzögert den Abflug jedoch um unbestimmte Zeit. "Das Wort Krieg ist wahrscheinlich angebracht" Die amerikanische Regierung hat bereits angekündigt, dass die Angriffe erst der Anfang einer längerfristigen Kampagne seien, um den IS zu zerstören. Der frühere US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, sagte im Deutschlandfunk, die militärische Intervention sei eine mutige Entscheidung von Präsident Barack Obama. Der IS sei eine Bedrohung für die ganze Region. Obama genieße in den USA zwar "keine hundertprozentige Unterstützung für die Intervention", er sorge sich aber um die Anrainerstaaten. Die Bezeichnung Krieg sei für die Luftangriffe wahrscheinlich angebracht, sagte Kornblum weiter. Der US-Generalmajor William C. Mayville spricht über die Luftangriffe in Syrien. (AFP / Brendan Smialowski) Der Kampf gegen die islamistischen Milizen im Irak und in Syrien dürfte heute auch das wichtigste Thema der Generaldebatte der UNO-Vollversammlung sein. US-Präsident Obama will dabei über die Rolle der USA als Dreh- und Angelpunkt im Kampf gegen die Terrorgruppe sprechen. Geplant ist auch ein Vier-Augen-Gespräch mit dem irakischen Ministerpräsidenten Haider Al-Abadi. (hba/bor)
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Die USA haben die zweite Nacht in Folge Luftangriffe gegen Islamisten in Syrien geflogen. Ziel waren nicht nur Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat, sondern auch eine Al-Kaida-nahe Gruppe. Sie soll Anschläge auf westliche Staaten geplant haben. Laut Bundeskriminalamt gibt es derzeit in Deutschland aber keine konkrete Bedrohung.
"2014-09-24T08:42:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:10.984000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-is-terror-us-militaer-setzt-luftangriffe-in-100.html
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Scanner mit Durchblick
Daniel Düsentrieb hätte seine Freude an der Videokamera, die Forscher des Instituts für Photonische Technologien in Jena gemeinsam mit Partnern entwickelt haben. Der fahrbare Demonstrator ist brusthoch. Man sieht Schläuche, Kabel, Kessel und vorn ein teleskopartiges Objektiv mit einem großen Spiegel. Die rhythmischen Geräusche macht ein ausgebufftes Kühlsystem, das den chipförmigen Bildsensor auf 0,3 Grad über dem absoluten Nullpunkt kühlt, erklärt der Physiker Torsten May."Das Ziel ist, eine Terahertz-Videokamera zu entwickeln. Sprich: Eine Sicherheitskamera, die mit Videofrequenz Bilder, Passivbilder von Menschen aufnimmt und auf die Art und Weise versteckte Objekte visualisieren soll."Passiv ist das entscheidende Stichwort. Heutige Körperscanner beleuchten Menschen aktiv mit elektromagnetischen Millimeterwellen. Weil diese Terahertz-Strahlung zwar die Kleidung, nicht aber die Haut durchdringt, erlaubt sie den Blick unter die Wäsche. Versteckte Messer, Pistolen oder Sprengstoffbeutel reflektieren das Terahertz-Licht anders als nackte Haut und erscheinen auf dem Monitor des Sicherheitsbeamten. Gefährlich ist dieser aktive Scan aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber Langzeitstudien zu den gesundheitlichen Folgen stehen noch aus."Es bleibt immer ein Restrisiko. Diese passive Detektion, die wir jetzt hier verfolgen, die geht dem komplett aus dem Weg. Was wir hier tun, ist physikalisch gesehen eine Wärmebildkamera. Wir zeichnen das auf, was sie als Mensch durch ihre Körperwärme an Terahertz-Strahlung sowieso abstrahlen."Klingt einfacher als es ist. Denn Terahertz-Wellen haben eine hundertmal größere Wellenlänge als normale Wärmestrahlung."Und leider bedeutet das in der Physik, dass die Energie, die wir dann zur Verfügung haben, einen Faktor 100 niedriger ist. Deswegen müssen wir uns bei unserem Sensor viel, viel mehr Mühe geben, im Vergleich zur klassischen IR-Technik."Deshalb die extreme Kühlung des Bildsensors, der in einem Vakuumkessel hängt. Der aktuelle Sensorchip beherbergt 20 supraleitenden Messfühler: Hauchdünne Membranen im Zentrum filigraner Strukturen. Fällt Terahertz-Licht darauf, erwärmen sie sich und ändern dabei ihren Widerstand, was sich mit ein paar Tricks ultrapräzise messen lässt. Das Objektiv mit dem großen Spiegel fokussiert das Sichtfeld des Bildsensors auf einen beheiztes Testobjekt weiter hinten im Gang. Auf dem Monitor erscheint es als rotes Rechteck vor blauem Hintergrund. Um zu zeigen, was die Technik kann, hängt sich Torsten May eine aus Blech gefräste Pistolenkontur um den Hals, versteckt sie unterm Hemd und stellt sich vor die Kamera. Das Monitorbild zeigt seine Silhouette in rot und die verborgene Pistole in blau."Man sieht jetzt hier also, dass das Bild keine anatomischen Details zeigt, sondern ein Wärmebild, wie man es in der IR-Technik auch kennt. Deswegen ist der Abdruck der Pistole an der Stelle viel eindrucksvoller und viel einfacher zu erkennen. Diese Maschine ist aus unserer Sicht wesentlich unverfänglicher als alles, was jetzt diskutiert wird. Sie haben keine Gesundheitsgefährdung. Und die Bilder kann man eigentlich auch mit bösem Willen nicht als Nacktbilder bezeichnen."Ein neuer Sensorchip mit 50 Pixeln soll die Bildfrequenz demnächst von derzeit 5 auf 25 Schnappschüsse pro Sekunde erhöhen. Ein marktreife Kamera wäre aber auch dann sicher noch weitere zwei bis drei Jahre entfernt, schätzt Torsten May. "Der passive Scanner hat unter anderem auch den Vorteil, dass keine Daten gespeichert werden müssen","sagt die Ethik-Professorin Regina Ammicht-Quinn von der Universität Tübingen, die im Auftrag der Bundesforschungsministerin die gesellschaftlichen Implikationen der Terahertz-Scanner untersucht.""Was bleibt an Bedenken, ist die Frage, die das passive Gerät mit allen anderen Geräten, die anonymisierte Bilder haben, teilt. Nämlich, dass Menschen mit verdeckten Behinderungen die Last des Sicherheitshandelns tragen. Weil sie unter Umständen schambesetzte Gegenstände mit sich tragen, bei denen das System eben Verdacht kommuniziert."Ein künstlicher Darmausgang oder eine Brustprothese, bliebe der Terahertz-Kamera aus Jena nämlich auch nicht verborgen.Zur Themenübersicht "Schutz durch Technik" Noch befindet sich die passive Terahertz-Kamera in der Erprobung. (Ralf Krauter) Passive Terahertz-Kameras sind weniger indiskret als bisher bekannte Körperscanner. (Ralf Krauter)
Von Ralf Krauter
Seit dem vereitelten Bombenanschlag auf ein Flugzeug an Weihnachten werden die umstrittenen Körperscanner wieder heiß diskutiert. Die Geräte hätten vermutlich den Plastiksprengstoff in der Unterhose des verhinderten Attentäters erkannt, vermutlich ist es also nur eine Frage der Zeit, bis auch an deutschen Flughäfen Körperscanner stehen.
"2010-03-12T16:35:00+01:00"
"2020-02-03T18:02:32.426000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/scanner-mit-durchblick-100.html
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Ein Leben für die Kunst
Der deutsche Kunsthistoriker und Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlins (1929-1933) Max J. Friedländer (dpa/picture alliance/Bildarchiv) "In Den Haag, bei seinen Nachlass, liegen ungefähr 150 Notizhefte, die sind alle komplett vollgeschrieben mit Beobachtungen zu Bildern." … erzählt Simon Elson, Biograph des heute weitgehend vergessenen Max J. Friedländer. "Da steht dann immer '1-3-6 Dürer?' Und dann bezieht sich das auf einen Gemäldekatalog der National Gallery in London. Oder da steht eine kleine Skizze, oder er zeichnet mal ein Ohr nach oder eine Hand, schreibt dann dahinter: 'Lippi?'" ... und beantwortet damit nichts, nicht für den Biographen, nicht für uns als Leser. Der Mann, Jahrgang 1867, dem eine 500 Seiten starke Monographie gewidmet ist, will ein Rätsel für die Nachwelt sein. Private Äußerungen? Fehlanzeige. Kunsthistoriker aus Überzeugung "Ja, das ist eine niederschmetternde Ausgangslage! Auf der anderen Seite ist es eine reizvolle Aufgabe, sich auf die Suche der Gespenster der Geschichte zu machen. Und diese Detektivarbeit bei Friedländer, dass man wirklich die wenigen Punkte vernetzt, dass man aber auch permanent auf der Suche nach Parallelgeschichten ist, nach Kollegen, Freunden, Bekannten, die zur gleichen Zeit gelebt haben, in Berlin, die jüdisch waren oder nicht jüdisch waren, preußisch, Kunsthistoriker. Diese detektivische Recherche gibt einem halt wirklich dann auch Aufschluss über die Zeit." "Genau genommen, habe ich überhaupt nur einen Entschluss im Leben gefasst, den, Kunsthistoriker zu werden." ... sagt Friedländer in einer seiner wenigen fixierten Selbstaussagen. "Alle anderen Entschlüsse haben andere gefasst, dabei so tatkräftige Männer wie Bode und Hitler." Das hat schon einige Impertinenz, den "Bismarck des Museumswesen" – wie Zeitgenossen den Gründer der Berliner Museumsinsel, Wilhelm von Bode, titulierten – in einem Atemzug mit Hitler zu nennen. Aber das Zitat enthält eine durchaus zutreffende Selbstbeschreibung: Max J. Friedländer ist ein passiver Akteur, ein Mann des zweiten Glieds, der sich immer preußisch, beamtenhaft korrekt in vorgegebene Hierarchien fügte und so zum fast unsichtbaren "Gespenst der Geschichte" wird, wie es sein Biograf Simon Elson nennt. Solche Männer werden gerne übersehen, sind aber wirkungsmächtiger und einflussreicher, als ihnen die Platzhirsche zubilligen. Man könnte sagen: Friedländer machte nichts von sich her – doch als Kunstschriftsteller und Experte für altniederländische Malerei setzte er Maßstäbe, und als zweiter Mann hinter Wilhelm von Bode, als Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts und sehr viel später auch Bodes Nachfolger schuf er Fakten, die den Kulturpolitikern heute viel Freude machen. Die großen Berliner Museen mit ihren prall gefüllten Magazinen sind Bodes und Friedländers Werk. Großpanorama des Kulturlebens im Zeitalter des Kulturimperialismus "Diese ganzen Museumsgründungen sind ja aus einem nationalistischen Geist entstanden. Der große Museumsforscher Gaehtgens hat da ja mal "Museumsimperialismus" genannt, was die da betrieben haben, Friedländer und Bode zu dieser Zeit. Die sind in die britischen Landhäuser reingefahren, in die spanischen Klöster, in die italienischen Villen und haben die Leute bequatscht und bedrängelt und ausgetrickst, dass sie ihnen die Bilder geben. Und dass sie dann in den Museen landen. Das haben nicht nur die Deutschen gemacht, das haben alle gemacht." Und so entfaltet Elsons Friedländer-Biographie ein Großpanorama des Kulturlebens im Zeitalter des Kulturimperialismus, vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Elson beschreibt die Geburt des modernen Kunstbetriebs – mit all seinen verschwiemelten Zügen, die er bis heute aufweist. Der private Kunsthandel, die staatlichen Museen, die unabhängigen Experten sind auf eine Weise miteinander verstrickt, die man als durchaus anrüchig bezeichnen könnte. "Bei Friedländer – und das hat er von seinem Chef Wilhelm von Bode gelernt – war das so, dass die Leute, die Expertisen haben wollten im großen Stil, zum Beispiel die amerikanische Kunsthandlung von Joseph Duveen, dass die verpflichtet waren, dem Museum Bilder zu schenken. Das heißt, Friedländer hat denen eine Dürer-Expertise gemacht und hat dann gesagt: "Ich möchte aber soundso viel Geld oder soundsoviel Bilder oder dieses Bild fürs Museum haben. Und das haben die Händler dann auch gemacht." "System Bode" nannten das die Zeitgenossen – ein System, das dennoch preußisch korrekt erschien, denn zu persönlichen Bereicherungen kam es nie. Der schon von Haus aus begüterte Friedländer war materiell ohnehin nicht verführbar. "Alle Zeitzeugen, die ihn beschreiben, beschreiben ihn als sehr bescheiden. Und er soll immer Bier so getrunken haben wie teuren Weißwein. Der einzige Luxus, den er wirklich hatte, ist, dass er dann, als er zum Beispiel nach Amerika gefahren ist, um dort die Kunstszene zu studieren, ist er dann schon Erste Klasse mit dem Ozeandampfer gefahren. Die kleinste Kabine Erster Klasse!" Kunst statt Sex Was aber macht diesen Menschen wirklich aus, diesen Fanatiker des genauen Blickes? Was treibt ihn sein Leben lang zig Mal um den Globus, nur um Bilder im Original zu betrachten? "Ja, das ist wirklich eine sehr, sehr gute Frage: Warum hat er sich so manisch mit Bildern beschäftigt? Wir sagen immer, wir leben in einer visuellen Kultur. Aber dass jemand sich wirklich so mit Bildern beschäftigt, mit Gemälden, mit Druckgrafik, mit Zeichnungen, das ist was ganz Seltsames. Ich hab es auch noch nicht ganz herausgefunden. Ich hab nur den Verdacht, dass diese Leute alle ein bisschen ähnlich sind. Die sind alle eher nicht sexuell. Oder haben nicht so eine starke sexuelle Ausprägung und verlagern ihr Sozial- und Gefühlsleben offensichtlich – so wie Friedländer das auch gemacht hat – sehr stark in diese Kunstwerke, vielleicht noch in die Beschreibung dieser Kunstwerke." "Es ist gut möglich, dass Friedländer mit 91 ungeküsst stirbt." ... spitzt Simon Elson zu, und zitiert den Hochbetagten, nachdem dieser einen Unfall erlitten hat: "Es kommt mir sonderbar vor: diese erstmalige Beschäftigung mit meinem Körper." Unter der schützenden Hand der Nazis Das Portrait eines nicht nur gegenüber anderen, sondern auch sich selbst Verschlossenen – keine leichte Aufgabe für einen Biographen. Auf küchenpsychologische Spekulationen verzichtet Elson gänzlich, lässt lieber karge Selbst¬mit¬tei¬lungen wirken wie die von der "seelischen Allergie", die Max J. Friedländer sich selbst attestierte. Wo Elson nichts findet, erfindet er auch nicht, sondern zitiert schreibende Zeitgenossen wie Ludwig Marcuse oder Harry Graf Kessler, um zumindest die Stimmung der Zeit einzufangen. Im Ergebnis schafft das ein dichtes und niemals langweiliges Panorama, mit dem Elson auch Leser anzusprechen vermag, die sich für kunsthistorische Problemlagen wenig interessieren. Denn zugleich ist das Buch immer auch eine Art Typologie der grauen Beamteneminenz, die sehr wohl etwas beabsichtigt, dabei jedoch niemals auffallen will. Das umfasst auch Friedländers jüdische Religion. Für ihn ist sie offenkundig bedeutungslos, bis sie die Nazis mit falscher Bedeutung aufladen. Der Ur-Preuße emigriert nach Amsterdam, wo er 1958 stirbt. Die deutsche Besatzung überlebt er, weil angeblich Göring selbst seine schützende Hand über ihn hält: Der größte Nazi-Kunsträuber benutzt die Expertise des größten Kunstkenners seiner Zeit. "Er selber hatte irgendwann einmal gesagt, man darf niemandem vorwerfen, dass er kein Held gewesen ist. Das Einzige, was ich Friedländer vorwerfe, ist, dass er nicht in die USA ausgewandert ist. Dann gäbe es jetzt wahrscheinlich dort ein Museum, das nach ihm benannt wäre oder fünf Lehrstühle oder irgend so was. Er hatte ein Angebot, er hätte dort nach Pennsylvania gehen können, aber er hat es ausgeschlagen, weil er eigentlich wie so viele ja auch dachte, dass mit dem Hitler, das erledigt sich bestimmt bald. Und: "Ach so schlimm sind die doch gar nicht! Und eigentlich möchte ich hier in der Nähe meiner Museen und meiner Bilder bleiben." Das hat er geschafft. Und es ist vielleicht auch die bleibende Botschaft dieses spröden Mannes und damit implizit auch die seines jungen Biographen: Kunst-Hingabe kann ein langes Leben erfüllen, mit Sinn und Sinnlichkeit. Simon Elson: "Der Kunstkenner Max J. Friedländer"Mit einem Nachwort von Florian IlliesVerlag der Buchhandlung Walter König, 528 Seiten, 48 Euro
Von Florian Felix Weyh
Er galt als einflussreiche Größe im wilhelminischen Kulturleben. Als Kunstschriftsteller und Experte für altniederländische Malerei setzte er Maßstäbe. Max J. Friedländer hinterließ nach seinem Tod im Jahre 1958 ein umfassendes Werk mit Beobachtungen zu Bildern. Über sein Leben ist jedoch wenig bekannt. Der junge Kunsthistoriker Simon Elson hat jetzt eine Biografie über ihn verfasst.
"2016-05-11T16:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:28:49.257000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/biografie-ueber-max-j-friedlaender-ein-leben-fuer-die-kunst-100.html
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Nürnberg bekommt eine eigene Universität
Bisher befindet sich der Großteil der Universität Erlangen-Nürnberg in Erlangen, wie der Hauptsitz im Foto. Nürnberg soll nun eine eigene Universität bekommen. (dpa / picture-alliance / Daniel Karmann) Ein Standort hier, ein Standort da – überfüllte Hörsäle und Labors, zwischen denen die Studenten der Technischen Fakultät an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hin- und herpendeln. So ist die Situation seit Jahren und jahrelang wurde auch darüber diskutiert, wie Abhilfe zu schaffen ist. Doch nun hat die bayerische Staatsregierung eine überraschende Lösung präsentiert. In den nächsten zehn bis zwölf Jahren soll in Nürnberg eine neue und eigenständige Universität entstehen, was Finanzminister Markus Söder immer wieder gerne mit großen Worten ankündigt: "Die klare Aussage, dass Nürnberg eine eigene Universität bekommt, ist eine historische Entscheidung." Langwierige politische Taktierereien Diese Entscheidung scheint zumindest einen Schlussstrich unter langwierige politische Taktierereien zu ziehen. Dass der Hochschulstandort im Großraum Nürnberg-Fürth-Erlangen gestärkt werden soll, ist seit Jahren Konsens. Ursprünglich ging es darum, die Technische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität auszubauen. Die Nürnberger Stadtspitze unter SPD-Oberbürgermeister Ulrich Maly hatte deswegen angeregt, Teile der Uni auf dem Quelle-Areal anzusiedeln. Allerdings zu Zeiten des letzten Kommunalwahlkampfs. Und so präsentierte die CSU-Staatsregierung nur kurz darauf ihre eigene Lösung: genau auf der anderen Straßenseite, auf dem ehemaligen AEG-Gelände. Großer Wurf statt kleine Lösung Tatsächlich hat sich die bayerische Staatsregierung nun zum großen Wurf entschlossen: Es gibt keinen Technologiecampus auf AEG, sondern eine neue eigenständige Universität in Nürnberg. Und dafür nimmt die bayerische Staatsregierung viel Geld in die Hand. Eine Milliarde Euro ist zunächst für den Bau der neuen Uni veranschlagt, 100 Professorenstellen sollen neu eingerichtet werden und 5.000 bis 6.000 Studienplätze entstehen. Aber Ministerpräsident Horst Seehofer ist sich sicher, dass dieses Geld gut angelegt ist. Denn Hochschulansiedlungen sind für ihn ein wirksames strukturpolitisches Werkzeug: "Wissenschaftliche Einrichtungen sind für die Entwicklung einer Region wichtig. Wir haben die Erfahrung: Überall dort, wo wir Fachhochschulen haben, also Hochschulen für angewandte Wissenschaft, Universitäten, dass dort dann auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung für die Bevölkerung sich positiv gestaltet." Historische Aufnahme der früheren Nürnberger Universität in Altdorf (imago) Eine Meinung, mit der Seehofer nicht alleine dasteht. Auch Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly ist mit der großen Lösung sehr zufrieden. Denn der Trend zum Hochschulstudium ist ungebrochen und deswegen gibt es eher zu wenige als zu viele Studienplätze. Darüber hinaus sind Elektro- und Fahrzeugtechnik, Maschinenbau und andere technische Branchen wichtige Industriezweige in der Stadt und das soll auch in Zukunft so bleiben: "Wir haben ja immer drunter gelitten, dass die Verteilung der Friedrich-Alexander-Universität auf die beiden Standorte Erlangen und Nürnberg etwas asymmetrisch war: deutlich mehr in Erlangen, in Nürnberg die Lehrerbildung und die Wirtschaftswissenschaften – zahlenmäßig weniger, kaum technologische Ansätze und eigentlich haben wir schon immer gesagt: Wir brauchen eigentlich zu unserer ja immer noch zukunftsfähigen Wirtschaftsstruktur auch die passenden Forschungseinrichtungen. Wenn die jetzt neu entstehen und nicht durch Zellteilung innerhalb der Technischen Fakultät soll's mir nur recht sein – dann ist das 'ne ganz eigene Einrichtung, die ihren Standortvorteil für Nürnberg entwickeln kann." Kreatives Konzept gesucht Mittlerweile hat eine Strukturkommission unter der Leitung von Wolfgang Herrmann, dem Präsidenten der Technischen Universität München, die Arbeit aufgenommen. Sie soll ein Konzept für die neue Uni in Nürnberg erarbeiten und darf dabei auch durchaus kreativ sein. Wenn man so will, darf sie eine Universität völlig neu erfinden. Auch als selbstverständlich geltende Strukturen werden dabei hinterfragt, zum Beispiel, ob eine Gliederung in Fakultäten überhaupt noch zeitgemäß ist. Vor allem aber muss geklärt werden, wie das bereits bestehende Hochschulangebot in der Region sinnvoll ergänzt werden kann. Dabei ist der Zeitplan ambitioniert: im Sommer 2018 soll zumindest eine Grobstruktur erarbeitet sein. Denn in zehn bis zwölf Jahren soll Deutschlands erste echte Campus-Uni in Nürnberg den Betrieb aufnehmen. Ein 90 Hektar großes Areal im Süden der Stadt wird dann zu einen Drittel mit reinen Universitätsgebäuden bebaut sein, ein weiteres Drittel soll Wohnungen für die Studierenden bieten und auf dem Rest des Geländes soll eine Parklandschaft für eine angenehme Atmosphäre sorgen.
Von Oliver Tubenauer
Bayern will in Nürnberg eine neue Universität nach ganz neuen Maßstäben aufbauen. Eine Milliarde Euro ist für den Bau veranschlagt, in zehn Jahren sollen dort 100 Professoren und 5.000 bis 6.000 Studierende forschen - ein kreatives Konzept wird noch gesucht.
"2017-08-14T14:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:54.282000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschule-fuer-franken-nuernberg-bekommt-eine-eigene-100.html
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Die Mauer in den Köpfen
Politisches Graffiti auf der Peace Line, welche katholische und protestantische Viertel in Belfast voneinander trennt. (picture alliance / dpa / Antti Aimo-Koivisto) "Ich kann mich noch an die Wochen im Juni 2001 erinnern, als die Unruhen und Tumulte begannen. Wir durften uns damals in der Schule nämlich nicht zu sehr den Fenstern in den Klassenzimmern nähern. Dann begannen die Schulferien. Als schließlich Anfang September wieder die Schule losging, machte ich mich wie gewöhnlich fertig, stellte aber fest, dass meine Mutter sehr angespannt war. Ich verstand nicht, warum. Dann liefen wir den Weg zur Schule hoch und stellten fest, dass es dort Absperrungen gab und wir nur durch einen schmalen Durchlass gehen konnten – Hunderte Eltern mit ihren Kindern mussten da durch. Ich konnte überhaupt nicht begreifen, weshalb. Es gibt dafür keine Worte: Ich war völlig verwirrt." Belfast im Juni 2001: Über mehrere Wochen hinweg blockieren aufgebrachte Bürger den Schulweg zu der katholischen Holy-Cross-Grundschule, die im protestantischen Stadtviertel Upper Ardoyne liegt. Die Schulkinder aus dem benachbarten Ardoyne können nur mithilfe eines massiven Polizeiaufgebots zum Unterricht kommen. Ein Spießrutenlauf, erinnert sich die damals achtjährige Schülerin Amanda Bowes. Geschützt von Polizisten gehen katholische Familien mit ihren Schulmädchen am 7.9.2001 durch ein protestantisches Viertel zu der katholischen Holy Cross-Schule in Belfast. (picture alliance / dpa / AFP) "Als wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, begann dieses Klatschen und Rufen. Man konnte die Nervosität der Polizisten spüren, die uns begleiteten. Es war das erste Mal, dass ich ganz vorne mitlief, sonst hatten wir immer versucht, in der Mitte zu bleiben. Direkt neben uns ging ein Polizist. Und dann sagte meine Mutter zu mir: Du wirst jetzt nirgendwo hinlaufen, bleib immer bei mir. Und das war ein guter Rat von ihr, denn im nächsten Augenblick flogen auch schon Ziegelsteine und Flaschen auf uns nieder. Wir mussten uns schnell bücken und ausweichen. Der Polizist nahm uns in Schutz und sagte: Nicht stehen bleiben. Versucht einfach, weiterzugehen und an nichts zu denken. Wir konnten hören, wie die Ziegelsteine an seinem Schild abprallten, während wir unter seinem Schutz weiterliefen. Und dann ging irgendwo eine Bombe hoch und wir hörten, wie hinter uns geschrien wurde. Von da an weiß ich nur noch, dass ich gerannt bin – wie Usain Bolt, der Leichtathletikstar. Schließlich erreichten wir die Schule. Und waren alle zutiefst geschockt." Amanda Bowes ist Zeugin und Opfer eines politischen Konfliktes, der die nordirische Provinz Ulster jahrzehntelang in Atem hielt. Ein Konflikt, in dem pro-irische Katholiken unter der Führung der Untergrundorganisation IRA gegen protestantische, pro-britische Loyalisten kämpften. Karfreitagsabkommen als wichtiger Schritt Mit dem Abschluss des Karfreitagsabkommens zwischen Katholiken und Protestanten im Jahr 1998 glaubte man, dem gesellschaftlichen Frieden endlich einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein. Die Troubles – wie der Nordirlandkonflikt auch landläufig bezeichnet wird – schienen Geschichte. Doch nur drei Jahre darauf erfolgte der politische Rückschlag: Die Proteste an der Holy-Cross-Schule zählen mit zu einem der traurigsten Kapitel in der jüngeren Geschichte des Nordirlandkonflikts. Noch heute, 15 Jahre nach den Unruhen an der Holy-Cross-Schule, kommt es vor, dass Amanda Bowes ein Gefühl der Angst beschleicht, wenn sie zu Fuß durch bestimmte protestantische Stadtviertel gehen muss. Dann kommen die Erinnerungen von damals wieder hoch. Auch, wenn sie Belfast heute für eine äußerst lebenswerte Stadt hält, die sich sehr zum Besseren gewandelt habe. "Früher war es so, dass ich instinktiv den Reißverschluss meines Anoraks hochgezogen habe, um meine rote Schuluniform zu verbergen, sobald ich irgendwo den Union Jack sah. Diese Schuluniform verriet ja sofort, dass man auf eine katholische Schule ging. Und das Reißverschlusshochziehen war sozusagen eine Art Schutzreflex. Heute gehe ich damit gelassener, ja zynischer um, würde ich sagen. Ich will auch nicht über alle Protestanten urteilen. Doch unter ihnen gibt es bis heute noch militante. Und diesen Leuten gegenüber habe ich meine Vorbehalte. Aber meine besten Freunde sind Protestanten: Ich bin zusammen mit Protestanten auf dieselbe Universität gegangen, mein bester Freund spielt in einer Band des Oranier-Ordens." Vielen ihrer früheren katholischen Schulfreundinnen geht es nicht anders. Doch auch bei den Protestanten haben die Ausschreitungen im Sommer 2001 ihre Spuren hinterlassen. Bei den Schülern der Wheatfield-Grundschule, keine 50 Meter von der katholischen Holy-Cross-Schule entfernt. Die Erzieher und Lehrer beider Schulen verband einst eine vertrauensvolle Zusammenarbeit: gemeinsame Lernprogramme, Klassenausflüge und andere Freizeitaktivitäten. Vertrauen, das nach den Protesten verloren gegangen war. Erst Jahre nach den Holy-Cross-Protesten fassten Lehrer und Erzieher wieder Mut, aufeinander zuzugehen, den Dialog zu suchen und gemeinsame Bildungsprogramme ins Leben zu rufen – gegen Diskriminierung, Vorurteile und interkonfessionellen Hass. Längst nicht alle Friedensinitiativen in Nordirland verlaufen so erfolgreich. Eine Ursache hierfür ist die räumliche Trennung, die Segregation Nordirlands. Bis heute mischen sich Katholiken und Protestanten kaum. Jede Konfession lebt für sich – die Katholiken in ihren Stadtvierteln, die Protestanten in ihren. Und wie ein Spiegelbild der gespaltenen Gesellschaft wirkt sich das auch auf das Schulsystem aus: Katholiken besuchen überwiegend Schulen, die von der katholischen Kirche verwaltet werden. Und protestantische Eltern schicken ihre Kinder auf staatliche Schulen. Weiterhin viele Peace Lines in Belfast John Reilly ist Taxifahrer in Belfast. Seine Route führt vorbei an den zahlreichen Peace Lines, auch Peace Walls genannt. Es sind meterhohe Trennwände, die katholische von protestantischen Stadtvierteln trennen. Manchmal sind es engmaschige Metallzäune mit Kameras, manchmal auch Betonmauern, die martialische politische Wandbilder und Graffiti zeigen, um die jeweilige konfessionelle Zugehörigkeit eines Viertels zu markieren. In den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Friedenslinien noch weiter gestiegen. Über 100 soll es inzwischen allein in Belfast geben. Um zu zeigen, wie Katholiken und Protestanten nebeneinander wohnen, fährt John in die Shankill Road im östlichsten Stadtteil Belfasts – dort steht eine der berühmtesten und ältesten Peace Lines, eine meterhohe graue hässliche Mauer, die hier Friedenslinie genannt wird. Sie soll Katholiken und Protestanten vor gegenseitigen Übergriffen schützen. "Das hier ist die Mauer, die Protestanten von der katholischen Falls Road trennt. Auf dieser Seite leben die Protestanten, auf der anderen Seite findet man nur katholische Häuser. Die Mauer wurde vor Jahrzehnten gebaut, als es hier besonders viele Unruhen gab. Protestanten und Katholiken haben sich gegenseitig mit Steinen beworfen, weil ihre Häuser so nah beieinanderliegen. Dort drüben ist Niemandsland. Einige Leute sagen, das hier sei die Berliner Mauer. Und fragen sich, wie lange die Mauer noch steht. Ich sage, dass es noch lange dauern wird. Aber es hat ja auch niemand geglaubt, dass die Berliner Mauer einmal fallen würde." Die Peace Line trennt das katholische und protestantische West-Belfast, aufgenommen 1998. (picture-alliance / dpa / Geray Sweeney) Die Mauer, die Shankill und Falls Road voneinander trennt, existiert seit über 45 Jahren. Zwar hat die nordirische Regierung angekündigt, innerhalb der nächsten zehn Jahre einen Großteil der Peace Walls zu beseitigen, allerdings dürfte das Vorhaben auf Widerstand bei vielen Nordiren stoßen. Denn sie sehen die Zäune und Mauern im Vorgarten ihrer Häuser als Schutz vor Übergriffen und sogenannter sektiererischer Gewalt an, insbesondere in den sozial schwächeren Stadtteilen. Laut neuesten Schätzungen leben heute Zweidrittel der Katholiken und Protestanten in Wohngebieten, die mindestens zu 80 Prozent entweder ausschließlich katholisch oder protestantisch sind. Gerade einmal etwa zehn Prozent der Katholiken und sieben Prozent der Protestanten leben in Gegenden, die man als gemischt bezeichnen könnte. "In den letzten Jahren habe ich viel gesehen. Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, in der es sehr viele Unruhen gab. Ich kannte Leute, die ermordet wurden und welche, die zu paramilitärischen Gruppen gegangen sind. Dort fährt gerade ein Wagen der Bombensicherung entlang. Das war noch vor zehn Jahren kein ungewöhnlicher Anblick, als es in der Stadt fast jede Woche Bombendrohungen gab. Wenn man hier aufwächst, ist es schwer, keine politische Meinung zu haben." John wünscht sich, dass seine Kinder und Enkelkinder niemals Steine auf ihre Nachbarn werfen werden. Doch immer wieder heizen protestantische oder katholische Extremisten die Stimmung auf. "Es hat sich viel Hass aufgebaut. Es dauert bestimmt noch eine Generation, bis der Konflikt vorbei ist, vielleicht noch länger. Die Menschen sind inzwischen auf den Geschmack des Friedens und der Freiheit gekommen. Es sind nur einige Radikale, die das nicht wollen." Innenstadt mittlerweile nicht mehr abgeschottet Die Innenstadt der 300.000 Einwohner zählenden Metropole Belfast zeigt sich längst von einer anderen Seite als noch zu früheren Zeiten – als auf dem Höhepunkt der Troubles noch ein Schutzwall, der berüchtigte Ring of Steel, die City vor Bombenanschlägen abschottete. Heute reihen sich in der Innenstadt moderne Bürokomplexe und pittoreske Boutiquen, Bars und Hotels aneinander. Doch wenn John Reilly durch andere Stadtteile, wie das Viertel rund um Shankill und Falls Road oder durch Ardoyne, fährt, ist das wie eine Fahrt in die Vergangenheit – eine blutgetränkte: Seit 1969 sind über 3.600 Menschen in den Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten ermordet worden. Doch nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs haben sich die Konfliktlinien heute verschoben – von einer ausschließlichen Auseinandersetzung um Konfessionszugehörigkeit und Identität hin zu einem Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und sozialen Aufstieg, meint der protestantische Menschenrechtsaktivist Alan McBride. "Ohne Arbeit und Zukunftsperspektiven verliert Identität an Bedeutung. Die meisten Leute wollen sich in ihrem Leben vom Teenager- zum Erwachsenenalter weiterentwickeln, etwas erreichen. Und das gelingt einem in der Regel nur, indem man die Universität besucht oder einen guten Job findet und später dann eine Familie gründet. Und genau diese Lebensplanung scheint in den Arbeitervierteln nicht mehr zu funktionieren." Wandbilder erinnern rund um die Falls Road in Belfast an den Osteraufstand von 1916 in Dublin. (picture alliance / dpa / Teresa Dapp ) Alan McBride ist Mitarbeiter der Northern Ireland Human Rights Commission. 1993 verlor eine seine Frau durch einen Bombenanschlag der IRA. Alan McBride stammt aus dem Osten Belfasts, in dem viele Protestanten leben, jahrzehntelang in wirtschaftlichem Wohlstand. Doch mit dem Werftensterben in Belfast in den 1980er-Jahren setzte der Niedergang des Stadtteils ein, die Arbeits- und Perspektivlosigkeit der jüngeren Generation nahm drastisch zu, berichtet Alan McBride. "Heute ist die soziale Kluft zwischen den verarmten und sehr wohlhabenden Bürgern in Ost-Belfast gewaltig. Und genau in dieses Vakuum stoßen die Paten der protestantischen Paramilitärs, die Anführer radikaler bewaffneter Clans, die mit ihren teuren Wagen durch das Viertel fahren und ein schönes Leben führen – wobei ihr Reichtum auf Drogenhandel und Prostitution zurückzuführen ist. Doch für die jungen perspektivlosen Jugendlicher werden sie zu Vorbildern in ihrem Viertel. Der Konflikt dreht sich heute also weniger um Territorium und Identität, als vielmehr um Eigentum, Reichtum und Verteilung." Konfliktlinien nicht mehr so eindeutig ausmachbar Die Konfliktlinien sind nicht mehr so offensichtlich auszumachen, wie noch vor einem Jahrzehnt. Der Hass bricht sich heute auf vielerlei Art in der nordirischen Gesellschaft Bahn, beobachtet auch der Belfaster Politikexperte und Kommentator Chris Donnelly. "Interessanterweise lässt sich in jüngster Zeit beobachten, dass die unionistische Basis aufbegehrt, was sich zum Beispiel durch den Flaggen-Protest ausdrückt. Ein Aufruhr aufgrund der Tatsache, dass Belfast heute eine mehrheitlich von Katholiken bewohnte Stadt ist und der Union Jack, die englische Nationalfahne, nicht jeden Tag wie selbstverständlich über der Stadt weht. Und das bringt die Loyalisten auf die Barrikaden, weil sie darauf bestehen, dass ihre englischen Fahnen permanent zu sehen sein müssen. Und auch, was das Festhalten an Oranier-Märschen und Paraden durch katholische Wohngebiete angeht: Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um eine Art Sehnsucht nach ihrem mittlerweile abhandengekommenen Überlegenheitssinn. Sie wollen zurück zur Vergangenheit, als alles noch in ihrem Sinne in Ordnung war, als die nordirische Gesellschaft noch ganz klar als britisch und unionistisch erachtet wurde. Doch das ist vorbei. Nordirland reflektiert heute das Republikanische und Unionistische gleichermaßen." Noch immer allgegenwärtig in Nordirland: die IRA. Ein Wandbild erinnert an Bobby Sands, der 1981 beim Hungerstreik der IRA-Häftlinge ums Leben kam. (imago / ecomedia / Robert Fishman) Doch nicht nur das Beharren der politischen Eliten, die gewachsene soziale Kluft, die Faszination der perspektivlosen Jugend für sektiererische Gewalt und die kriminellen Machenschaften der Bosse der Paramilitärs erklären die Schwierigkeiten Nordirlands. Der Belfaster Politikexperte Chris Donnelly sieht vor allem in der fehlenden konfessionellen Durchmischung der Stadtviertel das größte Hindernis auf dem Weg zu einem nachhaltigen, konfliktfreien Umgang miteinander. "Die Menschen in Nordirland sind zwar überaus glücklich, dass wir die Zeit hinter uns gelassen haben, als man die Radios und Fernsehgeräte anstellte und ständig von Toten und Bombenattentaten die Rede war. Wir sind jetzt gut zwei Jahrzehnte weiter, wenn auch die diesem Konflikt zugrunde liegenden Spaltungen weiter in unserer Gesellschaft existieren. Das Problem besteht heute darin, dass die Leute noch immer ein sehr voneinander getrenntes Leben führen – nicht nur, was das Wohnen angeht, sondern auch was den sozialen Austausch und das berufliche Umfeld betrifft. Wir leben immer noch in einer segregierten Gesellschaft." 90 Prozent der Schüler gehen in protestantische oder katholische Schule Etwa 90 Prozent der Schüler und Schülerinnen in Nordirland lernen entweder in einer protestantischen oder katholischen Schule. Bis heute ist der Widerstand groß, Kinder auf gemischte, sogenannte Integrated Schools zu schicken, meint Cliodhna Scott-Wills, Lehrerin und Mitarbeiterin im Nordirlandrat für integrierte Erziehung. "Ich glaube, dass das katholische Bildungssystem vielen Katholiken aus der Arbeiterklasse ermöglicht hat, zur Universität zu gehen. Vor allem in meiner Generation. Das hat es davor noch nicht gegeben. Daher sind sehr viele Menschen dankbar dafür, weshalb sie heute loyal gegenüber dem katholischen Bildungssystem sind. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass die Protestanten diese Möglichkeit in dieser Form nicht hatten. Theoretisch begrüßen zwar alle Seiten eine integrierte Schulerziehung für Nordirland, aber es gibt bis heute diese Loyalität zu dem alten System, von dem sie profitierten." Gerade einmal knapp zehn Prozent der nordirischen Schulen sind integrierte Schulen. Eigentlich sollten es längst mehr sein. Denn Bildungsstudien belegen, dass es Kindern von integrierten Schulen eher gelingt, sich vom Zwang zur Konformität in ihrer jeweiligen politisch-religiösen Herkunftsgemeinschaft zu lösen und interkonfessionelle Freundschaften aufzubauen. Diversität, Toleranz und gegenseitiger Respekt als Bildungsmaxime. Doch die Vorbehalte gegen integrierte Bildungskonzepte und den Ausbau konfessionsübergreifender Schulen in Nordirland sind nach wie vor groß. Alan McBride, Mitarbeiter der Northern Ireland Human Rights Commission: "Seien wir ehrlich: Wenn wir in Nordirland wieder von vorne anfangen könnten, würde es dann wieder ein geteiltes Bildungssystem geben? Nein, mit Gewissheit nicht. Wir hätten dann bestimmt ein einziges Bildungssystem, das vom Staat finanziert würde. Doch Tatsache ist, dass wir Opfer unserer eigenen Geschichte sind. Ich würde mir wünschen, dass wir eines Tages nicht mehr die Wahl zwischen geteilten und integrierten Schulen haben müssten, sondern dass grundsätzlich alle Schulen integriert sind. Aber ich befürchte, dass ich das wohl nicht mehr erleben werde."
Von Arian Fariborz und Petra Tabeling
Der jahrzehntelange Bürgerkrieg zwischen Protestanten und Katholiken ist eigentlich längst Geschichte. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 geht es in Nordirland friedlicher zu. Doch die Gesellschaft ist nach wie vor gespalten, wie sich am Beispiel des nordirischen Bildungssystems zeigt.
"2016-06-18T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:36:04.176000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nordirland-die-mauer-in-den-koepfen-100.html
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"Man kann immer noch vom 'deutschen Spiel' reden"
Der bisher letzte Erfolg der deutschen Männer-Nationalmannschaft: Sieg im EM-Finale gegen Spanien 2016 (AFP / Janek Skarzynski) Am 29. Oktober 1917 wurden die Regeln des Handballs verbindlich aufgeschrieben. Zunächst für Frauen und Mädchen, später durften es auch Männer spielen. Zunächst im Freien, auf Fußballfeldern und mit entsprechenden Toren. Später immer häufiger in der Halle auf kleinerem Feld. Dort geht es schneller und für die Zuschauer bequem überdacht zur Sache. Deutschland verschlief zunächst den Umstieg, ist aber seit den späten Siebzigerjahren erfolgreich. In West, Ost und wiedervereinigt und bei Männern wie Frauen. Starke Jugendnationalmannschaften "Natürlich ist Deutschland noch ein Handballland, weil der Deutsche Handballbund mit etwa 750.000 Mitgliedern immer noch der deutlich mitgliederstärkste Verband der Welt ist.", erklärt Erik Eggers, Journalist und Autor mit dem Themenschwerpunkt Handball, "Die Leistungsdichte ist immer noch so hoch, dass man immer noch vom 'deutschen Spiel' reden kann." Im Nachwuchsbereich sieht Eggers aber Handlungsbedarf: "Es ist einerseits so, dass die Juniorennationalmannschaften sehr erfolgreich spielen, aktuell. Die deutschen Mannschaften spielen eigentlich immer um den Titel mit. Andererseits hat der Handballbund immer noch nicht die Baustellen geschlossen, die es gibt. Ich nenne mal ein Beispiel: Es gibt kaum Migrantenkinder im Handball. Das führt dazu, dass der Deutsche Handballbund aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich Mitglieder verlieren wird, in den nächsten Jahren." Abhängig von Erfolgen der Männer-Nationalmannschaft Dazu sei der Handball massiv von Erfolgen der Männernationalmannschaft bei großen Turnieren und der Liveberichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern abhängig, sagt Eggers, "um Reichweiten zu erzielen, die so ungewöhnlich sind, dass sie dem Handballsport wirklich nützen." Möglichkeiten für prominente Auftritte der beiden Nationalteams gibt es schon bald: Die Frauen-WM beginnt im Dezember in Deutschland, die der Männer in einem guten Jahr in Deutschland und Dänemark. Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Erik Eggers im Gespräch mit Marina Schweizer
Die Grundregeln des heutigen Spiels wurden in Deutschland entwickelt. Zunächst beim Freiluftsport und auch später in der Halle gehört Deutschland schon immer zu den Top-Nationen im Handball. Doch die Dominanz des Fußballs nimmt zu. Ist Deutschland überhaupt noch ein Handball-Land?
"2017-10-29T19:20:00+01:00"
"2020-01-28T10:58:39.905000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/handball-man-kann-immer-noch-vom-deutschen-spiel-reden-100.html
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"Es brennt auch vor der eigenen Haustür"
Die Berichterstattung von Journalisten im Kontext rechter Demonstrationen werde erschwert, sagte Regula Venske, Präsidentin des PEN-Zentrums Deutschland im Dlf (dpa, Bernd Thissen) Maja Ellmenreich: "I regard myself as a soldier – though a soldier of peace" Als Soldat sehe er sich – als ein Soldat des Friedens allerdings. Mahatma Gandhi. Er kämpfte ohne Gewalt, seine Waffe war das Wort. Gandhis Prinzipien der Wahrheit und der Gewaltfreiheit sind zentrale Themen beim 84. Internationalen PEN-Kongress, der gestern im indischen Pune begonnen hat. Mit dem Schriftstellertreffen beginnt nämlich das Gandhi-Gedenkjahr – sein Geburtstag wird sich im Oktober 2019 zum 150. Mal jähren. Für das PEN-Zentrum Deutschland ist dessen Präsidentin Regula Venske in Pune. Mit ihr habe ich am Nachmittag telefoniert. Frau Venske, regelmäßig trifft sich ja die internationale PEN-Gemeinschaft zum Kongress. In diesem Jahr in Indien – mit einem besonderen Fokus auf Mahatma Gandhi. Steht seine Person exemplarisch für das, wofür sich der PEN als Autorenverband seit bald einem Jahrhundert einsetzt? Regula Venske: Das kann man schon sagen. Es ist der Writers-in-Prison-Beauftragte ja auch ein Inder und der beruft sich immer wieder auf Ghandi und die friedliche gewaltfreie Art, Widerstand zu leisten. Wir haben gestern aber auch ein Theaterstück gesehen über Gandhis Frau - das war auch sehr interessant - und haben an ihrer Gedenkstätte eine Schweigeminute eingelegt und ich habe auch ein paar Blumen dort niederlegen dürfen. Ja, die beiden sind sehr wichtig, und dann ist man aber auch stolz darauf, dass mit Ganesha, dem indischen Gott, eigentlich der erste PEN-Autor schon da war, denn er hat das große nationale Epos aufgeschrieben, und das ist ein wunderbarer Mythos. Indien ist voller Literatur, voller Sprachen, und es geht sehr stark auch um die Vielfalt der Sprachen. Erschwerte Berichterstattung deutscher Journalisten Ellmenreich: Es geht um die Vielfalt der Sprachen, sagen Sie. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Brennpunkte, wenn es um die Freiheit des Wortes geht, eigentlich an alleroberster Stelle auf der Tagesordnung stehen. Venske: Das stimmt. Da haben wir eine ganze Reihe von Resolutionen, die erst in den nächsten Tagen natürlich richtig diskutiert und verabschiedet werden. Da sind auch die üblichen Verdächtigen dabei. Aber zum ersten Mal – dies ist jetzt ja das fünfte Jahr, dass ich teilnehme an einem solchen Kongress – habe ich selber eine Resolution über Deutschland mitgebracht und die ist schon auf sehr viel Interesse gestoßen, und da geht es darum, dass Berichterstattung von Journalisten im Kontext rechter Demonstrationen, sei es im Kontext von Pegida oder anderen vergleichbaren Demonstrationen, seither erschwert wird und dass es einige Politiker gibt und andere wichtige Autoritäten, die sich da entsprechend zu äußern. Da habe ich eine Resolution vorbereitet, über die man dann reden kann, wenn sie verabschiedet ist. Ellmenreich: Was genau passiert denn mit der Resolution? Die steht in der Welt, wird verabschiedet und damit äußert sich PEN auch international zu den Vorfällen in Deutschland? Oder was ist das Ziel? Venske: Wir stehen ja nicht alleine da. Es macht ja den anderen Kollegen aus anderen Ländern auch Sorgen und natürlich gibt es eine bestimmte, der Freiheit des Wortes nicht sehr zuträgliche Bewegung in vielen europäischen Ländern, aber auch sonst in anderen Ländern der Welt, und da stehen wir auch dann wiederum nicht alleine da, sondern man diskutiert hier insgesamt über das, was an allen Ecken und Enden brennt, und das ist nicht immer nur in der Ferne, sondern manchmal ja auch vor der eigenen Haustür. Aber ich komme noch mal auf das Obertagungsthema zurück: Freiheit, Wahrheit und Vielfalt. Es geht auch immer wieder um das Positive, um die Freiheit, um die Wahrheit, um den Wert der Vielfältigkeit und der Vielfalt. Das finde ich schon sehr eindrucksvoll jetzt nach diesen zwei Tagen, die ich hier bin, dass unsere Gastgeber da wirklich auch selber mit sehr, sehr gutem Beispiel vorangehen und es wirklich eine Liebe zur Literatur ist, die uns verbindet, und Leidenschaft. Es geht auch sehr freundlich und fröhlich zu. Erfolge der Autorenvereinigung Ellmenreich: Das heißt, es ist nicht nur eine einzige Litanei, ein Wehklagen über die Beschneidungen der Freiheit des Wortes, sondern es gibt auch positive Best-Practice-Beispiele womöglich? Venske: Natürlich. Gerade hat die Internationale PEN-Präsidentin Jennifer Clement einen Brief vorgelesen, den sie bekommen hat von der palästinensischen Autorin Dareen Tatour, die seit fünf Tagen aus dem Gefängnis entlassen ist, und das war ein sehr bewegender Brief. Sehr bewegend auch ein Brief von Liu Xia, den die Präsidentin des unabhängigen chinesischen PEN-Zentrums vorgelesen hat, dann in englischer Übersetzung, in dem sich Liu Xia bei dem Internationalen PEN und bei einigen Zentren insbesondere - da wurden auch wir vom deutschen PEN genannt - bedankt hat über alles, was wir über die Jahre hinweg für sie und auch Liu Xiaobo getan haben. Diese Briefe und Worte, die sind schon sehr berührend und das sind sehr bewegende Momente dann auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Regula Venske im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Beim PEN-Weltkongress in Indien zeigt sich wieder: Die Freiheit des Wortes ist vielerorts in Gefahr. Regula Venske vom Deutschen PEN weist mit einer Resolution auch auf Deutschland hin. Die erschwerten Arbeitsbedingungen von deutschen Journalisten stießen auf großes Interesse, sagte sie im Dlf.
"2018-09-26T17:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:12:46.003000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/internationaler-pen-kongress-es-brennt-auch-vor-der-eigenen-100.html
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Teil 1: Täterprofile
Kann die moderne Psychologie Amokläufe verhindern? (picture-alliance/ dpa - Daniel Karmann) Am 22. Juli 2011 zündet Anders Breivik eine selbst gebaute Bombe im Osloer Regierungsviertel. Anschließend tötet er, als Polizist verkleidet, auf der Insel Utøya 69 Menschen. Heute sitzt er in einer Einzelzelle im Hochsicherheitsgefängnis. Er bereut nichts. Nach einem Amoklauf steht die Gesellschaft unter Schock. Oft bleiben nur hilflose Erklärungsversuche, was den Täter zu dem Blutbad getrieben haben könnte. Eine wissenschaftliche Analyse des Phänomens ist schwierig – Amokläufe passieren nur selten, und zwei Drittel der Täter sind danach tot. Dennoch ist es Forschern in den letzten Jahren gelungen, Parallelen zwischen Amokläufern herauszuarbeiten und daraus Risikofaktoren abzuleiten. Die Täter waren häufig nicht in der Lage, Bindungen einzugehen. Sie fühlten sich gekränkt und ausgegrenzt, waren Gefangene ihres eigenen, teils extremistischen Weltbildes. Auch psychische Erkrankungen könnten eine größere Rolle zu spielen als bislang angenommen. Doch lassen sich mit diesem Wissen tatsächlich potenzielle Täter identifizieren? Können wir einen Amoklauf verhindern? Manuskript zur Sendung: Teil 1: TäterprofileDen 2. Teil der Reihe "Amok" finden Sie hier: Überleben
Von Marieke Degen
Immer wieder wird nach einem Amoklauf versucht, verdächtige Eigenheiten in der Psyche des Täters auszumachen - auch dann, wenn er selbst bei der Tat ums Leben gekommen ist. Ob durch solche Analysen tatsächlich Geschehnisse wie das auf der Insel Utøya verhindert werden können, ist aber umstritten.
"2014-04-20T16:30:00+02:00"
"2020-01-31T13:36:38.251000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sendereihe-amok-teil-1-taeterprofile-100.html
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"Mischen ist immer gut"
Esra und Enes vom türkisch-österreichischen Rap-Duo EsRAP (hearthemusic) Das rappende Geschwisterpaar aus Wien hat das erste Album fertig. Von einzelnen Songs und Clips im Internet kennen wir sie ja schon: EsRAP, zwei türkische Österreicher – so beschreiben sie selbst ihre Identität. Und um Identität, um Fremdsein im eigenen Land als Kinder der dritten Generation geht es auch in ihren Songs. Rap und Hip Hop sind Ihr Medium, aber auch die türkisch-orientalische Arabeske. Aus beiden wird ihr besonderer Sound. "Wir sind stolze Tschuschen" Esra und Enes Özem sind im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring aufgewachsen. Als "Tschuschen" sind sie von Österreichern schon oft bezeichnet worden, die sich damit abwertend über Zugewanderte äußern. In ihren Songs setzen sie das Wort selbst ein, als Ausdruck von Stolz. Migrant zu sein sei ein komisches Gefühl, sagt Esra, aber es sei auch ihre Identität. In der Türkei denke sie oft: "Wo ist meine Migration hin?". Sie wisse, was "tschusch" sein heißt, sie kenne die Probleme, die damit verbunden sind. Sie seien oft mit dem Wort konfrontiert worden, bei kleinen Streits habe man ihnen oft gesagt: " Schleich Dich, Du Tschusch, zurück in Deine Heimat!" Irgendwann reiche es mal, dann sage man: "Halt, stopp, wir sind schon länger in Österreich als Du, wir sind die Tschuschen, wir bleiben, wir sind stolze Tschuschen". Sie habe immer das Gefühl gehabt, dass Migrant sein etwas Schwaches sei, dabei sei es eine Stärke, sagt Esra. "Als Migrant kann man zwei Sprachen, man ist doppelt, man kennt zwei Kulturen, das ist positiv." Und das solle man auch den Jugendlichen mitgeben, dass sie nicht weniger sind, sondern mehr, findet Esra. "Rap ist migrantisch" EsRAP gehen bei den Donnerstagsdemos gegen Sozialabbau, Rechtspopulismus und Rassismus mit auf die Straße. Das Ibizavideo habe zwar die österreichische Regierung zu Fall gebracht, die Österreicher würden aber immer noch gleich denken. Ihr Musikmix aus HipHop und türkisch-orientalischer Arabeske hat mit ihrer Kindheit zu tun. "Wir sind mit Arabesken aufgewachsen", sagt Enes - "wer Arabeske hört, muss einen Hintergrund dafür haben." Ihr Vater habe diese Musik als Gastarbeiterkind gehört, im Auto liefen immer entsprechende Cassetten. Und instinktiv rutsche er immer in diesen Stil, sagt Enes, und das beeinflusse auch ihren HipHop. Wir haben noch länger mit EsRAP gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs. "Mein Schicksal ist es, Rap zu machen" singen EsRAP in seinem Song. Esra erklärt den Satz mit der Chancenlosigkeit von Migrantenkindern. Niemand sage:"Geh mal auf's Gymnasium". Arbeiterklasse bleibe eben Arbeiterklasse. Rap und Fußball seien die einzigen Wege, um sich zu beweisen. "Deshalb ist Rap auch migrantisch", sagt Esra, die ein Diplom an der Kunstuniversität gemacht hat. Auch in Deutschland sei Rap zu 90% migrantisch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
EsRAP im Corsogespräch mit Sigrid Fischer
Die Geschwister Esra und Enes Özem sind das "HipHop-Duo" EsRAP aus Österreich. Als Enkel der Gastarbeiter mischen sie HipHop mit türkisch-orientalischen Sounds. Ihr Debutalbum heißt "Tschuschistan". "Das ist eine Utopiewelt, in der Migranten von überall willkommen sind", sagten EsRAP im Dlf.
"2019-06-27T15:13:00+02:00"
"2020-01-26T22:59:29.729000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debutalbum-von-esrap-tschuschistan-mischen-ist-immer-gut-100.html
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Keine Körbe, keine Tore im US-Sport
Späte Einsicht: Auch die NHL schloss sich dem Boykott an und trug ihre beiden Abendpartien am Donnerstag nicht aus (AFP / Getty Images ) Die Einsicht kommt einen Tag verspätet, aber sie kommt nicht zu spät. Die Eishockey-Liga NHL wird ihre für Donnerstag (27.08.2020) geplanten zwei Playoff-Spiele nicht austragen. Dies geschehe aus Solidarität mit den anderen Ligen, heißt es. Gestern hatte sich die NHL noch geweigert, diesen Schritt zu gehen. NHL zögerte zunächst Während in den Basketball-Ligen NBA und WBNA, sowie der Major League Soccer und der Major League Baseball 14 Spiele boykottiert wurden, trug die NHL ihre beiden Abendpartien aus. Daraufhin gab es reichlich Kritik - unter anderem vom ehemaligen NHL-Torwart Kelly Hrudey. "Ich finde, wir sollten Black Lives Matter mehr unterstützen, sollten über dieses Thema in unseren Familien diskutieren. Die NHL verpasst da was. Ich bin sehr enttäuscht, dass wir über Eishockey reden." US-Basketball: Die Bälle bleiben im Schrank Wie lange der Boykott anhält, ist unklar. In den Basketball-Ligen NBA und WNBA bleiben die Bälle heute im Schrank. Die geplanten sechs Partien sind verschoben worden. Allerdings vermeldete ESPN am frühen Nachmittag, dass die NBA-Spieler in dieser historischen Zeit des Sports, in der alle Augen auf die Athleten gerichtet seien, die Ko-Runde fortsetzen würden. "NBA players will resume resume the playoffs. So, it’s a historic time in sports. All eyes are on the athletes." NBA-Spieler beraten über Fortsetzung der Ko-Runde Eventuell wird morgen bereits wieder gespielt, vielleicht auch erst am Samstag. Die Beratungen der Spieler dauern derzeit noch an. Die mutigen Spieler der Milwaukee BucksDie Milwaukee Bucks haben aus Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA ein Spiel der NBA-Profiliga bestreikt. Damit hätten sie gezeigt, wie machtvoll der Sport sein kann, um das Land aufzurütteln, kommentiert Marina Schweizer. Endlich würden Profisportler dies nutzen. Boykott der NFL-Spieler wäre unmissverständliches Signal Doch der Blick geht in den USA bereits nach vorne. In genau drei Wochen soll die neue Saison der National Football League beginnen. Die NFL ist die populärste Sportliga Amerikas. Ein Boykott der Spieler wäre ein lautes, unmissverständliches Signal. NFL-Spieler Jacob Johnson: Boykott löst diese Probleme nicht Der deutsche NFL-Profi Jakob Johnson von den New England Patriots ist sich jedoch nicht sicher, ob das auch der richtige Schritt wäre. "Boykott an sich löst ja auch diese Probleme, die jetzt hier über Generationen sich aufgebaut haben, nicht mit einem Schlag. Also ich denke mal, dass sind halt Gespräche, die geführt werden müssen hier in den Teams. Aber insgesamt denke ich mal, dass eben der Schritt von den Zeichen zu konkreten Verbesserungen, wäre, glaube ich, sehr gut." Demnächst, betonte Johnson, werde es eine Mannschaftssitzung geben, so Johnson. Und dann solle über mögliche Schritte abgestimmt werden.
Von Heiko Oldörp
Nach den Schüssen weißer Polizisten auf den unbewaffneten Schwarzen Jacob Blake ist es im US-Sport zu einer Welle des Protests gekommen. Auch die Eishockeyliga NHL sagte ihre Donnerstags-Spiele ab - und folgte damit den anderen US-Ligen.
"2020-08-27T22:54:00+02:00"
"2020-09-04T17:06:32.332000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/protest-gegen-polizeigewalt-keine-koerbe-keine-tore-im-us-100.html
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"Auch als ausländischer Journalist muss man vorsichtiger sein"
Öffentlicher Auftritt des türkischen Präsidenten Erdogan (AFP) Der ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten verwies im DLF auf den geltenden Ausnahmezustand. Journalisten, die jahrelang kritisch über die Gülen-Bewegung berichtet hätten, bekämen seit dem Putschversuch vermehrt Druck von Regierungsseite. Vieles in der Berichterstattung werde über die Sachinformationen hinaus gedeutet – und das unter Umständen eben auch zu Ungunsten der Reporter. Das betreffe türkische Journalisten genauso wie ausländische Medienvertreter. Nach Baumgartens Worten ist es derzeit zum Beispiel nicht ratsam, über die Korruptionsfälle aus dem Winter 2013 und die Querverbindungen zwischen AKP und Gülen-Bewegung zu berichten - auch wenn sich ein genauerer Blick lohnen würde. Das Gleiche gelte für die Kurdenpolitik der türkischen Regierung. Das Interview in voller Länge: Müller: Pressefreiheit in der Türkei, das ist unser nächstes Thema. Die Beschlagnahme eines Interviewbandes der Deutschen Welle – mit einem türkischen Minister. Hinterher wurde es einkassiert. Die deutsche Welle protestiert, will die Herausgabe der Aufnahme, unterstützt inzwischen von der Bundesregierung. Wir haben darüber auch hier im Deutschlandfunk ausführlich berichtet. Die Türkei, das ist nichts Neues, Repressionen gegen Journalisten, Repressionen gegen kritische Medien. Unser Korrespondent Reinhard Baumgarten ist seit vielen Jahren als Korrespondent in der Türkei tätig, wir erreichen ihn an diesem Morgen in Istanbul. Guten Morgen! Baumgarten: Hallo, Guten Morgen. "Als Journalist ein kleines bisschen vorsichtiger sein" Müller: Herr Baumgarten, können wir beide frei reden? Baumgarten: Wenn Sie mir keine inkriminierenden Fragen stellen und ich nicht übertreiben muss, ich nicht lügen muss und ich den Mund nicht zu weit aufreiße, ja. Ich sage das deswegen so vorsichtig: Wir haben ja Ausnahmezustand. Und vieles, was wir sagen, wird natürlich wahrgenommen, das ist ja auch richtig so, wir machen das ja auch öffentlich. Es kann aber auch gedeutet werden und das ist in Situationen, wie denen, in denen wir uns gerade befinden, in der Türkei, durchaus nicht immer einfach. Es gibt Leute, die treten für einen Friedensprozess ein und werden dann als Journalisten aus ihren Uniämtern getrieben, beispielsweise. Es gibt Journalisten, die haben jahrelang versucht aufzudecken, was die Gülen-Bewegung alles macht, sie wurden deshalb verurteilt und kriegen jetzt von anderer Seite Druck, obwohl sie ja eigentlich immer schon gegen Gülen geschrieben haben. Also vieles ist einfach Interpretationssache, insofern muss man als Journalist in der Türkei, auch als ausländischer Journalist in der Türkei, im Moment einfach ein kleines bisschen vorsichtiger sein. Müller: Ich möchte das noch einmal in die Praxis übertragen, ohne jetzt kokett zu sein, das heißt, unser Gespräch im Deutschlandfunk wird irgendwo in der Türkei jetzt auch gehört? Baumgarten: Naja, ich meine, es gibt Apps, es gibt Internet-Livestreams, ich mache das ja auch, ich höre auch Deutschlandfunk, wenn ich Zeit habe und keine anderen Sender höre, das ist ja völlig normal und ist ja auch erwünscht. Es gibt sicherlich auch Leute in Deutschland, von türkischer Seite, die, sagen wir es mal so, der AKP sehr gewogen sind, die natürlich auch Deutschlandfunk hören. Nicht in der Absicht jetzt irgendwelche Fehler zu finden, sondern aus Interesse, aber es gibt auch Leute, die sagen – oh, das war aber jetzt ziemlich blöd und sich dann möglicherweise auch darüber aufregen und aufwerfen. "Es gibt schon Leute, die sehr, sehr genau hinschauen" Müller: Also, es war ja darauf bezogen, die Frage, ob es eben Beobachter, Hörer gibt, die systematisch eben genau auf diese vermeintlichen Fehler aus deren Sicht warten. Baumgarten: Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Müller, manchmal habe ich den Eindruck. Auch was Zuschriften angeht, weil ein Text bei Ihnen im Deutschlandfunk erscheint, von mir, oder auf tagesschau.de, dass es schon Leute gibt, die sehr, sehr genau hinschauen und bewusst auch darauf achten, ob in Anführungszeichen, die sogenannte "Lügenpresse" die Türkei madig macht. Müller: Was sollte ich Sie, Herr Baumgarten, besser nicht fragen? Baumgarten: Ja, ich glaube, es wäre jetzt im Moment nicht so günstig, über die Korruptionsfälle des Winters 2013 zu reden, die Querverbindungen, die es gegeben hat zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Da hat sich Herr Erdogan ja kürzlich öffentlich entschuldigt, hat gesagt 'Ich habe das auch zu spät erkannt.'. Da könnte man natürlich schon auch noch ein bisschen genauer nachgucken, inwieweit die sich auch gegenseitig begünstigt oder geholfen haben. Oder inwieweit es tatsächlich auch nur eine gewisse, nennen wir es mal so, Betriebsblindheit gewesen ist, dass man bestimmte Vorgänge im Staate selber nicht erkannt hat. Um dann am 15. Juli – hoppla – überrascht zu werden. "Die gesamte Kurdenproblematik ist ein heikles Thema" Müller. Ein Beispiel. Kurdenpolitik? Auch eher gefährlich? Baumgarten: Das ist im Moment sehr heikel. Gestern fand eine beeindruckende, bewegende Veranstaltung an der Kocaeli Universität statt. Da sind viele Leute rausgeschmissen worden, hochrangige Akademiker, weil sie eben diese Petition unterzeichnet haben, die ja über tausend Akademiker unterzeichnet haben, dass der türkische Staat sich doch bitte wieder um ein Friedensgespräch kümmern sollte. Die wurden rausgeschmissen. Gestern gab es also tränenreichen Abschied in der Kocaeli Universität, wir haben das auch aufgenommen. Wir haben auch das Schluchzen der Menschen, die betroffen sind. Die gesamte Kurdenproblematik ist ein heikles Thema, denn es war ja Präsident Erdogan, der den Prozess sehr, sehr weit, weiter als jeder Präsident vor ihm, vorangetrieben hat und dann eben, aufgrund dieser Wahlschlappe im Juni 2015 den Kurs plötzlich wechselte. Das ist schon ein heikles Feld. Zumal wir jetzt auch die türkische Armee in Syrien haben und es dort mit den Kurden zu ernsthaften Konflikten kommt. Also es ist schon schwierig. "Identitätsfindung über das, was trennt" Müller: Unser letztes Gespräch zwischen uns beiden liegt ein paar Wochen zurück. Da ging es auch um Außenpolitik, Sicherheitspolitik, IS-Bekämpfung und so weiter. Da haben Sie in einem Nebensatz fallen lassen, naja, das erinnert mich so ein bisschen auch an die Situation im Iran, Teheran. Da sind Sie auch häufig hingereist, Sie sind ja auch für dieses Berichtsgebiet zuständig. Iranische Verhältnisse, rückt das alles ein bisschen näher für Sie? In der Praxis? Baumgarten: Ich glaube, ich meinte damals den Kontext, dass es – im Iran nehme ich das sehr stark wahr – Staaten gibt, die sich in erster Linie über Feindseligkeiten und über Animositäten mehr oder weniger aufstellen und interpretieren. Und hier, vor allem nach dem Putsch, hat das auch sehr stark stattgefunden. Eine Interpretation und eine Identitätsfindung nicht über das Gemeinsame, jetzt mit Europa, sondern auch über das, was trennt, über die Wahrnehmung, über die Verletzung, die hier auch vorhanden ist. Europa vernachlässigt die Türkei, kritisiert sie immer nur, kriegt nicht mir, wie stark wir betroffen sind. Und ich glaube, das habe ich gemeint, dass ich das hier feststelle, eine sehr starke Polarisierung der Gesellschaft eben hin, dass man mehr abgrenzt. Wir sind wir und die anderen sind anders und deswegen sind die falsch, liegen einfach daneben mit ihren Einschätzungen. Müller: Danke nach Istanbul, Reinhard Baumgarten. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
ARD-Korrespondenten Reinhard Baumgarten im Gespräch mit Dirk Müller
Seit dem Putschversuch ist es auch für ausländische Journalisten schwieriger geworden, aus der Türkei zu berichten. Es gebe derzeit Themen, die man besser meide, sagte der ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten im DLF. Manchmal habe er den Eindruck, dass Berichte bewusst falsch gedeutet würden.
"2016-09-08T05:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:52:13.085000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-putschversuch-in-der-tuerkei-auch-als-100.html
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"Welthandel kann nur offen sein, wenn er auch fair ist"
Mehr Kooperation gegen alle, die die Regeln des fairen Welthandels verletzen, das forderte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Dlf (imago / Xinhua) Christoph Heinemann: Für die europäische Stahl- und Aluminiumindustrie hätte dieser 23. März zu einem schwarzen Freitag sich entwickeln können. Schutz- oder Strafzölle drohten, drohen unmittelbar aber nicht. Die Drohung ist aber nicht vom Tisch. Gestern teilte die US-Regierung mit, die EU soll zunächst ausgenommen bleiben. Es trifft vor allem China. Peking hat bereits Gegenmaßnahmen angekündigt. Sorgen bereiten diesseits des Atlantiks weniger Zölle für zwei Produkte. Die genannten Bereiche machen gerade mal 0,05 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Sorgen bereitet die Botschaft an sich und das, was noch folgen könnte. Die Europäische Union hat viele Hebel in Bewegung gesetzt und kaum im neuen Amt saß der CDU-Politiker Peter Altmaier zu Beginn dieser Woche auch schon im Flugzeug Richtung Washington und führte Gespräche mit US-Handelsminister Wilbur Ross und dem Handelsbeauftragten Robert Lighthizer. Ergebnis: Vorläufige Verschonung. Der Bundeswirtschaftsminister ist jetzt am Telefon. Guten Morgen! Peter Altmaier: Guten Morgen, Herr Heinemann. Heinemann: Herr Altmaier, wie vorläufig ist vorläufig? Altmaier: Nun, da es sich um einseitige Maßnahmen der Vereinigten Staaten von Anfang an gehandelt hat, können sie selbstverständlich jederzeit ergriffen werden. Wir sind nicht überzeugt davon, dass dies den geltenden WTO-Regeln entspricht, aber wir haben jetzt jedenfalls aufgrund der Gespräche, die Cecilia Malmström und auch ich in Washington geführt haben, die Möglichkeit, in den nächsten sechs Wochen sehr intensiv und sehr konzentriert mit der amerikanischen Seite darüber zu verhandeln, was solche Maßnahmen bedeuten. Ich bin sehr froh, dass wir für die deutsche Stahl- und Aluminiumindustrie und die Beschäftigten dort jetzt eine Situation vermieden haben, die zu großer Unsicherheit geführt hätte, auch wenn der Gesamtbetrag am Bruttoinlandsprodukt überschaubar bleibt. Und zweitens: Ich bin und bleibe überzeugt, dass ein freier und fairer Welthandel im Interesse aller Beteiligten ist. Darüber werden wir mit den US-Amerikanern sprechen. Und wenn aus Sicht der USA Punkte auf den Tisch gelegt werden, wo sie sich unfair behandelt fühlen, werden wir das diskutieren, und umgekehrt werden auch die Europäer Punkte anbringen, wo sie sich ungerecht und unfair behandelt fühlen. "Es braucht klare Prinzipien" Heinemann: Was haben die Europäer zu bieten? Altmaier: Wir sind einer der größten Handelspartner der USA. Wir haben international sehr viel mehr gemeinsam als das, was uns trennt. Wir sehen uns großen Veränderungen gegenüber und dazu braucht es klare Prinzipien. Und die Prinzipien, die USA und Deutschland bisher immer verteidigt haben, waren, dass es offene Märkte geben muss, dass der Beste mit seinen Produkten die größten Chancen hat. Diese offenen Märkte funktionieren aber nur, wenn sie fair organisiert sind. Es ist ganz interessant und spannend zu sehen, dass es jetzt eine Diskussion über geistiges Eigentum gibt, das heißt darüber, ob man beispielsweise Produkte eines Landes, die patentiert sind, nachbauen kann, ohne Lizenzgebühren zu bezahlen. Das ist eine Debatte, die es auch in Europa schon gegeben hat, und deshalb werden wir uns an einen Tisch setzen. Mein Ziel bleibt es, die Interessen des Industriestandortes Europa zu verteidigen, weil ich überzeugt bin, dass es, was Stahl und Aluminium und auch was Autos angeht, keine unfairen Praktiken gibt. Aber das werden wir in Ruhe besprechen. "Intensiven Austausch organisieren" Heinemann: Trump sagt, Europa ist unfair. Welche Argumente der Gegenseite lassen Sie gelten? Altmaier: Ich glaube, dass er sich bezieht auf unterschiedliche Zollsätze, die es in einzelnen Bereichen gibt. Es gibt Bereiche, da sind die US-Zölle höher; es gibt aber auch Bereiche, da sind die europäischen Zölle höher. Das war ja seinerzeit der Grund, warum wir über ein großes Freihandelsabkommen TTIP verhandelt haben zwischen den USA und Europa noch zur Amtszeit von Barack Obama. Diese Verhandlungen sind nicht zum Erfolg gekommen. Und nun müssen wir die Frage stellen, ob es möglich ist, bestimmte Punkte zu identifizieren, die sehr schnell und sehr konzentriert diskutiert werden können, um dann die Basis dafür zu schaffen, dass wir unter Achtung beiderseitiger Interessen uns den wirklichen Problemen zuwenden. Heinemann: Kommt der ganze TTIP-Kram jetzt wieder auf den Tisch? Altmaier: Ich halte wenig davon, an Namen festzuhalten, die mit ganz anderen Zusammenhängen verbunden sind. Aber richtig ist, wir brauchen mehr Gespräche, und ich habe meinen Gesprächspartnern angeboten, dass wir einen intensiven Austausch organisieren - zum einen zwischen der deutschen Bundesregierung und unseren amerikanischen Partnern, zum anderen aber vor allen Dingen auch zwischen der Europäischen Union und den amerikanischen Partnern. Die Zollpolitik ist ja eine Zuständigkeit der Europäischen Union und deshalb habe ich mich auch sehr eng mit der Kommissarin Cecilia Malmström abgestimmt. "Es gibt unfaire Handelspraktiken zum Beispiel beim Stahl" Heinemann: Wird sich diese Zollpolitik ändern? Altmaier: Wir werden alles tun, damit wir das, was wir in den letzten 30, 40 Jahren erreicht haben, nicht wieder aufs Spiel setzen. Die Zölle waren in den letzten Jahren nach unten gerichtet in ihrer Tendenz. Das hat dazu geführt, dass viel mehr Wohlstand geschaffen worden ist weltweit, als anders herum möglich gewesen wäre, und das bedeutet wiederum, wir haben eine Verpflichtung, uns für diesen freien Welthandel einzusetzen. Das hat auch die Bundeskanzlerin gesagt in ihrer Regierungserklärung. Darüber rede ich mit unseren amerikanischen Partnern. Aber es ist wichtig, dass wir den Gesprächsfaden aufgenommen haben. Es ist wichtig, dass es ein Grundverständnis gibt mit denjenigen, die als Wirtschaftsminister, als Handelsbeauftragter Verantwortung tragen. Alle anderen Einzelfragen, die müssen nun geklärt werden, und zwar nicht irgendwann, sondern sehr schnell in den nächsten Wochen. Heinemann: Herr Altmaier, die US-Strafzölle richten sich jetzt vor allem gegen unfaire chinesische Handelspraktiken, die ja auch in der EU beklagt werden. Erledigen die USA, ähnlich wie in der Verteidigungspolitik, für die EU und für Deutschland wieder einmal die Drecksarbeit? Altmaier: So würde ich das nicht sagen, sondern wir werden am Ende nur dann erfolgreich sein - und das bezieht sich im Übrigen nicht nur und in erster Linie auf China -, wenn wir gemeinsam handeln. Es gibt unfaire Handelspraktiken zum Beispiel beim Stahl weltweit. Das sind mehrere Länder. Wir haben Überkapazitäten. Und es gibt einige Länder, die verkaufen ihren Stahl unter Gestehungskosten. Das heißt, die nehmen ein Defizit in Kauf, um ihren Stahl auf den Weltmarkt zu werfen und andere Konkurrenten ins Abseits zu drängen. Das ist nicht akzeptabel. Es gibt sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse. Das sind Handelshemmnisse, die nicht in Zöllen bestehen, die aber den Zugang zu einem Markt erschweren oder unmöglich machen. "Brauchen international mehr Kooperation - nicht nur gegen China" Heinemann: Sagen Sie gerade danke, Donald? Altmaier: Nein, das sage ich nicht. Ich sage, dass ich mir für alle diese Fragen eigentlich einen internationalen Diskussionsprozess mit allen Beteiligten wünsche. Das ist anders gekommen. Aber als ich vor wenigen Tagen ins Amt kam, war es meine Aufgabe als Bundeswirtschaftsminister, zunächst einmal für die deutschen und auch für die europäischen berechtigten Interessen einzutreten. Das habe ich getan. Heinemann: Herr Altmaier, die Verpflichtung zum Joint Venture - immer noch Handelsbeziehungen zu China - mit eingebautem Technologieklau, muss man im Verhältnis zu China nicht endlich sagen, wer trickst und wer pfuscht, dem ziehen wir die Ohren lang? Altmaier: Wir haben als Europäer in den letzten Jahren mehrfach gegenüber China Anti-Dumping-Verfahren eingeleitet. Wir haben auch diese Problematik in einigen Bereichen, dass geistiges Eigentum ganz offenbar zumindest von Unternehmen und einzelnen Beteiligten in China nicht ausreichend respektiert wird. Heinemann: Hat nichts gebracht bisher. Altmaier: Wir haben bei dem Anti-Dumping-Verfahren beispielsweise erreicht, dass in vielen Fällen der ungerechtfertigte Preisvorteil weggenommen werden konnte, und das ist ein Punkt, wo wir auch international mehr Kooperation brauchen - nicht in erster Linie und nur gegen China, sondern gegen alle, die die Regeln des fairen Welthandels verletzen. Der Welthandel kann nur offen sein, wenn er auch fair ist. "Wir haben für diese Gespräche nicht endlos Zeit" Heinemann: Wird Europa jetzt mit chinesischem Billigstahl überschwemmt? Altmaier: Das glaube ich nicht, denn in dem Fall hätten auch wir die Möglichkeit, uns zur Wehr zu setzen. Ich setze trotzdem auf Gespräche mit allen Beteiligten, auch mit China. Wir haben das sogenannte Global Forum on Steal, das weltweite Stahlforum. Dort haben wir im Rahmen von G20 erste Gespräche geführt. Die Entscheidung der US-Administration macht deutlich, wir haben für diese Gespräche nicht endlos Zeit. Wir wollen nicht, dass es weiterhin zu einseitigen Maßnahmen kommt, sondern wir wollen, dass es zu vernünftigen Vereinbarungen kommt, und deshalb werde ich gemeinsam mit Cecilia Malmström alles tun, damit die Europäische Union auch in dieser Frage eine führende Rolle spielt. "Am Ende muss es mehr Kooperation geben" Heinemann: Herr Altmaier, wenn wir uns das Geschäftsmodell Deutschland anschauen, wie zerbrechlich ist ein Wirtschafts- und Sozialsystem, das von riesigen Exportgewinnen abhängig ist? Altmaier: Wir haben in Deutschland im Augenblick Exportüberschüsse. Das ist richtig. Das hängt damit zusammen, dass deutsche Waren überall in der Welt begehrt sind. Und wir können doch nicht unseren Unternehmen verbieten, ihre Waren dort zu verkaufen, wo sie Interessenten und Anhänger finden. Im Übrigen muss man das Exportdefizit der Europäischen Union insgesamt vergleichen, denn die EU ist ein Wirtschaftsraum, Deutschland ist Teil davon. Und dann ist dieses Exportdefizit weniger hoch, als es allgemein den Anschein hat. Trotzdem gehört es zu einem fairen Welthandel, dass jedes Land die Möglichkeit haben muss, mit seinen Stärken zu werben und seine Produkte dann auch weltweit zu vermarkten. Wir haben Abhängigkeiten, international im Prozess der Globalisierung. Das bezieht sich auf Rohstoffe, die es nur in einigen Ländern gibt. Das bezieht sich auf bestimmte Fähigkeiten, die es nur in einzelnen Ländern gibt. Diese Abhängigkeiten haben aber in der Vergangenheit nicht dazu geführt, dass es zu Zerbrechlichkeiten gekommen ist, sondern sie haben die internationale Kooperation gestärkt, und das ist unser Ziel. Am Ende dieser Gespräche muss die internationale Handelsarchitektur stabiler sein. Am Ende muss es mehr Kooperation geben, nicht weniger. Und am Ende müssen alle einsehen, dass sie mit freien und offenen Märkten am besten fahren. Heinemann: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören. Altmaier: Auf Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Altmaier im Gespräch mit Christoph Heinemann
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier fordert angesichts der Debatte über US-Strafzölle mehr internationale Kooperation und Gespräche. Es gebe weltweit unfaire Handelspraktiken, zum Beispiel beim Stahl. Man werde nur dann erfolgreich sein, wenn gemeinsam gehandelt werde, sagte Altmaier im Dlf.
"2018-03-23T06:50:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:43.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-strafzoelle-welthandel-kann-nur-offen-sein-wenn-er-auch-100.html
91,764
Warum Jugendgewalt eskaliert
Die High-Deck-Siedlung in Berlin Neukölln war in der Silvesternacht das Epizentrum der gewalttätigen Ausschreitungen und sorgte bundesweit für Schlagzeilen. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
Götzke, Manfred
Die gewalttätigen Krawalle in der Silvesternacht haben nicht nur in Berlin-Neukölln viele Fragen aufgeworfen. Denn Jugendgewalt nimmt seit Jahren zu und es fehlt überall an unterstützender Jugendsozialarbeit. Eine Spurensuche im Kiez.
"2023-03-25T09:10:00+01:00"
"2023-03-25T09:10:00.007000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-der-erziehung-jugendgewalt-auf-der-strasse-dlf-7674c920-100.html
91,765
SQL – nein danke
"Na man kann fast sagen, dass die NoSQL-Datenbanken im Kontext von Big Data entwickelt wurden in den letzten Jahren. Große Volumen an sehr klar und einfach strukturierten Daten verarbeiten zu können - das war die Zielsetzung bei der Entwicklung dieser Systeme. Und das kann man sehr gut nachvollziehen, wenn man schaut, wer diese Sachen entwickelt hat: originär Internet-Unternehmen wie Yahoo oder auch Google, die dann ihre Technologien der Internetgemeinde zu Verfügung stellen, die jetzt auf dieser Basis entsprechend weiterarbeiten", so Carlo Velten vom Analystenhaus Experton Group. Big Data, also sehr großen Datenmengen, in relationalen Datenbanken zu verarbeiten, geht nicht. Das wäre zu aufwendig. In solchen Systemen, wie etwa Unternehmen und Banken sie verwenden, dürfen keine Widersprüche existieren. Eine Methode, um dies sicherzustellen, besteht darin, jede Information möglichst nur zu einmal abzuspeichern. Also eine Warenlieferung an einen Kunden etwa wird nicht mit dessen Adresse abgespeichert, sondern mit einem Verweis auf dessen Adresse in der Kundendatenbank. Doppler und damit mögliche Fehlerquellen lässt ein relationales Datenbankmanagementsystem nicht zu. Man kann es sich vorstellen als aus einer Vielzahl von einzelnen Tabellen bestehend. Das Problem: Wenn man etwas sucht, dann müssen die einzelnen Bestandteile der gewünschten Information ebenfalls aus einer Vielzahl von Tabellen zusammengetragen werden. Das kostet Rechenleistung und Zeit. NoSQL-Datenbanken nun speichern Daten nicht in Tabellenform, sondern in Form von einfach strukturierten Dokumenten, Programmobjekten oder Graphen, dem halt, was man im Internet gemeinhin so vorfindet:"Wenn man sich jetzt diese graphbasierten Datenbanken anschaut: die zeichnen auf technischer Ebene das nach, was wir in den social Networks haben. Und dadurch, dass man diese Netzwerkarchitektur nachahmt auf der Technologieseite, kann man dann optimiert entsprechende Analysen fahren - zum Beispiel danach, wie eng zwei Punkte in einem Netzwerk verbunden sind."Unternehmen, die große relationale Datenbanken im Einsatz haben, sind die Lieblingskunden der Hersteller von Hochleistungsservern. Die Daten müssen widerspruchsfrei gehalten werden. Der Fachausdruck dafür heißt: konsistent – übersetzt: im Zusammenhang stehend. Und dementsprechend sind dafür teure SMP-Systeme besonders geeignet, Symmetrische Muliprozessor-Server, deren CPUs sich den Arbeitsspeicher teilen, also sehr eng zusammenarbeiten. Solche Rechner stehen im Mittelpunkt des Rechenzentrums jeder Bank. Im Internet hingegen sind sie unterrepräsentiert. Dort herrschen Billig-Computer aus der Massenproduktion vor. Und No-SQL-Datenbanken dienen dazu, auch mit solchen Rechnern große Datenmengen halten und durchsuchen zu können."Ein Paradigma bei einer NoSQL-Datenbank ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Servern, die zusammengeschaltet werden, die keinen gemeinsamen Storage benutzen. Das ist so ein typisches Paradigma. Damit man mit relativ kostengünstigen Maschinen, kostengünstigem Storage Systeme aufbauen kann, die skalieren. Das ist so eine Grundidee, die sich dahinter verbirgt", sagt Günther Stürner von Oracle. Eine NoSQL-Datenbank muss damit umgehen können, dass von diesen Billig-Rechnern öfter welche ausfallen. Und Datendoubletten sind im Internet nicht nur unvermeidlich, sondern im Gegenteil sogar notwendig, eben wegen der störanfälligen Hardware.Jahrzehntelang war der Datenbank-Markt fast ausschließlich einer für relationale Systeme. Die werden weiterhin vorherrschend sein, erwartet Carlo Velten. Aber die Gewichte werden sich hin zu NoSQL verschieben."Also dieses Thema wird in den nächsten drei bis fünf Jahren deutlich an Relevanz gewinnen, einfach dadurch, dass der Anteil an sogenannten un- oder weniger gut strukturierten Daten beispielsweise aus Sensoren, beispielsweise von Mobiltelefonen, die verschiedene Dateninputs liefern, steigt im Anteil zu dem, was wir gerne strukturierte Daten nennen, jetzt aus Unternehmenstransaktionen. Insofern werden diese Datenbanken sicherlich auf mittlere Sicht einen Marktanteil von knapp einem Fünftel, vielleicht irgendwann auch ein Viertel ausmachen."
Von Achim Killer
Wer in großen Mengen Daten aus dem Internet auswerten möchte, sieht in den bislang vorherrschenden relationalen Datenbanken ein Ärgernis. Diese können nicht so vielfältig durchsucht werden, wie es sich viele wünschen. Die Big-Data-Branche braucht also Datenbanken, die mehr beherrschen als die alte SQL-Technologie.
"2013-06-29T16:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:24:19.588000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sql-nein-danke-100.html
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Wohnen an der Ausfallstraße
Die B431 verläuft von Wedel bis zur A7 - an der Ausfallstraße soll Wohnraum entstehen (imago/Lars Berg ) In einem Büro im Rathaus von Hamburg-Altona: Hinter Marco Tschubel hängt eine große Karte vom westlichen Teil der Hansestadt an der Wand. "Wir haben zwei Fokusräume. Das ist einmal die B431, die erstreckt sich, wenn man es mal ganz salopp sagt, von der Stadtgrenze in Wedel bis zur A7, würde ich mal sagen. Und die Luruper Chaussee und die Luruper Hauptstraße bis nach Schenefeld hoch. Das ist hier oben eine Achse." Lieber an Straßen als auf der grünen Wiese Es sind zwei kilometerlange Hauptverkehrsstraßen, Magistralen. Tschubel untersucht in einem Forschungsprojekt des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, wie dort vor allem mehrgeschossiger Wohnungsbau verwirklicht werden kann. Bisher gibt es an den Straßen noch zahlreiche Baulücken, Einfamilienhäuser und Gewerbeflächen. Es ist vor allem die zersplitterte Eigentümerstruktur, die größeren Projekten entlang der Ausfallstraßen im Wege steht. Tschubels Vorgesetzter Frank Conrad ist trotz dieser Schwierigkeiten vom Potenzial des sogenannten "Magistralen-Konzepts" überzeugt. "Wenn mehr Menschen an den Hauptverkehrsstraßen wohnen, dann wird sich mit Sicherheit auch die Versorgung verbessern. Ärzte werden sich ansiedeln, Einkaufsläden werden sich ansiedeln. Es gibt die Möglichkeit, dass sich kleine, inhabergeführte Geschäfte ansiedeln können, die das jetzt im Moment nicht können, weil schlicht die Dichte der Menschen das nicht hergibt. Alles das, was man an den Innenstadtlagen so schätzt, wollen wir auch in den Bereich der Ausfallstraßen bringen. Ich glaube, es hat eine Reihe von Vorteilen. Und bevor wir auf der grünen Wiese bauen, wollen wir lieber so bauen!" Tausende Wohnungen schaffen Der Straßenlärm sei angesichts moderner Lärmschutz-Techniken kein Problem, sagt Frank Conrad. Und all jene, die in den neu entstehenden Hinterhöfen, der Straße abgewandt wohnen würden, seien davon ohnehin nicht betroffen. Wie viele Wohnungen an den Magistralen entstehen könnten, will Frank Conrad nicht genau beziffern. Aber es gebe vielversprechende Schätzungen. "Wir haben nur mal einen kleinen Abgleich gemacht. Den Bestand abgeglichen im Vergleich dazu, wenn man dort jetzt mal vier- oder fünfgeschossig bauen würde. Und sind auf eine deutlich fünfstellige Zahl gekommen. Für zwei Hauptverkehrsstraßen in Hamburg. Hamburg hat, ich weiß gar nicht, wie viele Hauptverkehrsstraßen, aber ich sag mal: zehn. Wenn man das mal zusammenrechnet, dann kommt man auf einen ganz großen Anteil, den man bauen könnte." Eigentümer und Anwohner mit einbeziehen Deshalb soll sein Mitarbeiter Marco Tschubel nun herausfinden, wie die unterschiedlichen Eigentümer am besten für das Projekt gewonnen, wie auch die derzeit an den Magistralen lebenden Menschen mit einbezogen werden können. Fest steht schon, dass die Fäden für die Neuplanung bei einem sogenannten "Kümmerer" zusammenlaufen könnten, der Fragen beantworten, auf Sorgen eingehen und Lösungen anbieten kann. "Wir haben es mit einer Vielzahl von Einzeleigentümern zu tun. Und eine Aufgabe dieses Magistralen-Projektes ist es, eben auch dafür zu werben, dass es eine gute Lösung für den Städtebau hier gibt, dass das eigentlich für alle Vorteile hat. Und da müssen wir halt die Bewohner auch mitnehmen. Diese Überzeugungsarbeit, das ist auch ein Ziel, was wir mit bewegen und was wir auch transportieren wollen." Denkbar sei, dass zwei oder drei Eigentümer benachbarter Häuser sich zusammentun und entweder gemeinsam ein Wohnblock errichten oder aber an die Stadt oder die städtische Wohnungsbaugesellschaft verkaufen. Marco Tschubel vom Bezirksamt Altona wird noch bis Mitte kommenden Jahres die Instrumente und Ideen für die Erschließung der Magistralen zusammentragen. Die Hoffnung ist, dass dann auch andere Kommunen die Hamburger Erkenntnisse auf ihre Ausfallstraßen übertragen können und so die hohe Nachfrage nach Wohnraum schnell befriedigen können.
Von Axel Schröder
Hamburg wagt sich an ein neuartiges, städtebauliches Projekt: Entlang zweier Hauptverkehrsachsen soll Wohnraum entstehen. Wo sich jetzt Baulücken und Gewerbeflächen ausbreiten, könnten Tausende Wohnungen entstehen, die dringend gebraucht werden - doch noch gibt es einige Probleme zu bewältigen.
"2019-01-08T17:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:32:36.132000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stadtentwicklung-in-hamburg-wohnen-an-der-ausfallstrasse-100.html
91,767
Belgien will sich von der Atomenergie verabschieden
Die künftige belgische Regierung hält am Beschluss über den Atomausstieg von 2003 im Prinzip fest. Dieser sieht vor, dass Belgiens älteste Kernkraftwerke im Jahr 2015 vom Netz genommen werden. Betroffen sind die Anlagen Doel I und II bei Antwerpen, die seit 1975 Strom produzieren sowie Tihange I in der Nähe von Lüttich. Dieser Reaktor ist seit 1974 am Netz und steht auf erdbebengefährdetem Grund. Die übrigen vier, jüngeren belgischen Kernkraftwerke sollten bis 2025 am Netz bleiben.Allerdings vereinbarten die Unterhändler in den belgischen Koalitionsgesprächen eine entscheidende Einschränkung: Die Kernkraftwerke werden nur dann 2015 abgeschaltet, wenn bis dahin die Stromversorgung aus anderen Energiequellen sichergestellt ist. Bruno Tobback, der Vorsitzende der flämischen Sozialisten:"Momentan ist klar, dass es mit der Abschaltung der alten Reaktoren bis 2015 im Prinzip kein Problem gibt. Das Weitere ist schon längst im Gesetz vorgesehen: Die Produktion aus AKWs muss ersetzt werden. Wir streben hier nicht an, in Belgien die Lichter auszuschalten."Erst am Samstag hatte die belgische Energiekontrollbehörde CREG gemahnt, Belgien müsse seine eigene Stromproduktion durch alternative Energien dringend erhöhen, andernfalls drohten bei Abschaltung der Kernkraftwerke Stromausfälle. Deshalb wird die neue Regierung in den ersten sechs Monaten nach ihrem Amtsantritt einen Plan zur Energieversorgung aufstellen: Er soll die kurz-, mittel-, und langfristige Versorgung des Landes mit Strom sichern. Investoren in alternative Energien sollen die Garantie erhalten, dass die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, so beschloss es gestern die Koalitionsunterhändler von Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten aus ganz Belgien. Der belgische Marktführer und frühere Strommonopolist Electrabel forderte klare Entscheidungen über die Zukunft der Kernenergie in Belgien und. Electrabel-Sprecherin Lut Vande Velde kritisierte die prinzipielle Bestätigung des Atomausstiegs:"Das Ergebnis wird sein, dass Belgien viel mehr Strom aus Nachbarländern importieren muss. Die CO2-Bilanz wird sich verschlechtern, und die Produktionskosten werden steigen. Wir haben ja gesehen, was in Deutschland passiert ist, eine Preissteigerung nämlich, und die werden wir bei uns auch bekommen."Die belgischen Koalitionsunterhändler beschlossen darüber hinaus, dass die Energieproduzenten eine deutlich höhere Abgabe bezahlen müssen auf ihre Gewinne aus den bereits abgeschriebenen Kernkraftwerken. Die Summe muss noch festgelegt werden, derzeit sind 600 bis 900 Millionen Euro im Gespräch. Bisher liegt die Atomabgabe bei 250 Millionen Euro im Jahr. Die künftige belgische Regierung will die Einnahmen aus der Atomabgabe in erneuerbare Energien aus der Nordsee investieren und in die Verbesserung der Energieeffizienz der öffentlichen Gebäude des belgischen Staates.
Von Doris Simon
Belgien plant aus der Atomkraft auszusteigen. Allerdings sieht die Vereinbarung nur einen Ausstieg vor, wenn die Stromversorgung durch andere Quellen gesichert ist. Bisher decken alternative Energiequellen noch nicht den Strombedarf des Landes.
"2011-10-31T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:23:18.783000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/belgien-will-sich-von-der-atomenergie-verabschieden-100.html
91,768
Heftige Spannungen zwischen Moskau und Konstantinopel
Auf ein gemeinsames Zeichen der orthodoxen Einheit hofft man beim panorthodoxen Konzil auf Kreta. (Deutschlandradio / Andreas Main) Mit rund 300 Millionen Gläubigen bilden die orthodoxen Kirchen die drittgrößte christliche Gemeinschaft weltweit. Insgesamt gehören ihr 14 autokephale - das heißt: unabhängige und mit einem eigenen Oberhaupt versehene - Einzelkirchen an. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich vor allem über Ost- und Südosteuropa sowie kleinere Gebiete des Orients. Die Orthodoxie fühlt sich stärker als andere Kirchen der früh-christlichen Tradition verpflichtet. Zudem zeichnet sie eine starke Ikonenverehrung und individuelle Frömmigkeit aus. Wenngleich die orthodoxen Kirchen untereinander durch dieselbe Theologie, Spiritualität und Glaubenspraxis verbunden sind, gibt es dennoch kulturelle Unterschiede und gegenseitige Abgrenzungen. Diese zeigen sich nach Ansicht von Johannes Oeldemann, dem Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn, vielfach durch die Bildung von Lagern: "Man kann ganz grob unterscheiden die griechisch-sprachige und die slawisch-sprachige Orthodoxie: Die griechisch-sprachige Orthodoxie mit dem Patriarchen von Konstantinopel an der Spitze, aber dazu gehören dann auch die Kirche von Griechenland, die Kirche von Zypern, das Patriarchat von Alexandrien, das Patriarchat von Jerusalem beispielsweise. Ursprünglich sollte das Konzil in Istanbul stattfinden, doch Moskau drängte darauf, den Tagungsort zu verlegen. (Deutschlandradio / Andreas Main) Dann die slawisch-sprachige Orthodoxie, wo ganz eindeutig das Patriarchat von Moskau sozusagen der Sprecher ist dieser Gruppierung, wozu eben auch noch andere slawisch-sprachige Kirchen wie die bulgarische oder die serbische Kirche zählen." Doch bei der serbischen Kirche, sagt Oeldemann, werde bereits deutlich, dass die Lagerbildung eben nicht so eindeutig sei. Denn viele Bischöfe der serbisch-orthodoxen Kirche hätten in Griechenland studiert und von daher - obgleich slawisch-stämmig - enge Verbindungen zum griechisch-sprachigen Bereich der Orthodoxie. Zudem gebe es Kirchen, die sich dezidiert keinem Lager zuordnen lassen und eine gewisse Neutralität vertreten: "Beispielsweise die rumänische-orthodoxe Kirche, die zahlenmäßig nach dem Moskauer Patriarchat die zweitgrößte orthodoxe Kirche weltweit ist. Oder auch das sogenannte rum-orthodoxe Patriarchat von Antiochien, das sich die arabisch-sprachigen Orthodoxen, die auch nicht in eines dieser Lager hineingehören." Die orthodoxen Kirchen haben keinen "Papst" Anders als die römisch-katholische Kirche mit dem Papst kennt die Orthodoxie keine Vorrangstellung eines Bischofs oder Patriarchen. Formell stehen alle orthodoxen Kirchen gleichrangig nebeneinander. Sie können ihre Probleme selbständig und ohne Rechtfertigung gegenüber anderen regeln. Allerdings hat der im heutigen Istanbul ansässige Patriarch von Konstantinopel einen Ehrenvorsitz. Er ist sozusagen "Erster unter Gleichen". Hintergrund ist die besondere historische Stellung seiner Kirche, denn durch sie wurden alle anderen orthodoxen Kirchen missioniert. Die herausgehobene Position Konstantinopels wird allerdings regelmäßig in Frage gestellt und zwar vor allem durch die russisch-orthodoxe Kirche - sagt Stefan Kube, der Chefredakteur der in Zürich erscheinenden Zeitschrift "Religion und Gesellschaft in Ost und West". "Zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Patriarchat in Konstantinopel gibt es immer wieder Konflikte, wem eigentlich die Führungsrolle in der Orthodoxie zukommt. Das ist ein Konflikt, der die orthodoxe Welt beherrscht und der wahrscheinlich der in der Öffentlichkeit brisanteste ist." Bei der Einberufung des jetzigen panorthodoxen Konzils zeigte sich der Konflikt ebenfalls. Ursprünglich nämlich sollte das Treffen nach dem Willen des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel in Istanbul stattfinden - in der Kirche der Heiligen Irene. Denn dort, so erklärte er, habe bereits das zweite Ökumenische Konzil im Jahr 381 stattgefunden. Druck von Moskau Auf Druck von Moskau aber wurde der Tagungsort verlegt. Das panorthodoxe Treffen findet jetzt auf Kreta statt - und zwar in der orthodoxen Akademie in Kolymvari. Zwar gehört die griechische Mittelmeer-Insel ebenfalls zum Einflussgebiet des Ökumenischen Patriarchen, die Verlegung aber gilt nach Ansicht von Assaad Elias Kattan, Professor für orthodoxe Theologie an der Universität Münster, als Politikum: "Ich gehe davon aus, dass die Gründe vor allem politische Gründe sind. Dass es heute politische Spannungen gibt zwischen der Türkei und Russland. Und dass dem russischen Oberhaupt, dem Patriarchen Kyrill, und den Bischöfen in der russisch-orthodoxen Kirche ganz klar seitens der Politik in Russland signalisiert wurde: Ja, wir würden davon abraten, dass man in die Türkei fliegt." Die Größe der russisch-orthodoxen Kirche ist ihr Druckmittel gegen den Patriarchen vom Bosporus. (Deutschlandradio / Andreas Main) Dass es der russisch-orthodoxen Kirche gelang, gegen den Willen des Ökumenischen Patriarchen das Konzil von Istanbul nach Kreta zu verlegen, liegt vor allem an ihrer Größe, die sie auch als Druckmittel benutzt. Das Patriarchat von Moskau vertritt nämlich mit über 100 Millionen Mitgliedern mehr als ein Drittel aller orthodoxen Gläubigen weltweit. Im Einflussgebiet Konstantinopels leben hingegen gerade einmal vier Millionen. Assaad Elias Kattan: "Es kommt ja auch aus diesem Grund zu Spannungen, weil die Positionierung, die sich auch beobachten lässt in den letzten 20 Jahren, vor allem seitdem Patriarch Kyrill gewählt wurde, ist: Ja, wir lassen uns wenig diktieren von den Orthodoxen, die am Bosporus sitzen. Also, wir sind zahlenmäßig wichtiger - und darüber müssen wir jetzt reden." Zu wenig Austausch zwischen orthodoxen Kirchen Im Gegensatz zur zentral geleiteten römisch-katholischen Kirche gibt es in der Orthodoxie keine Institution, die gemeinsame Angelegenheiten und Probleme regeln könnte. Dazu der orthodoxe Theologe und ehemalige Referent bei der serbisch-orthodoxen Kirche in Deutschland, Carol Lupu: "Die orthodoxe Kirche hat keine Kommunikation untereinander. Es gibt kein einziges Gremium, das die Patriarchate untereinander in einem ständigen Austausch und Dialog vereint. Das heißt: Wenn jetzt ein Konzil stattfindet, findet das über gewisse Büros statt. Es hat aber nie einen großen Austausch gegeben oder ein Diskussionsforum."
Von Ulrich Pick
Eigentlich sollten sich in den kommenden Wochen auf Kreta erstmals in der Geschichte Vertreter aller orthodoxen Kirchen zu einem Konzil treffen. Nun steht es auf der Kippe, weil immer mehr Kirchen absagen. Das ist ein Politikum. Wer sind die Orthodoxen? Was unterscheidet sie von anderen Christen? Und warum knirscht es im Gebälk?
"2016-06-14T09:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:28.944000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/panorthodoxes-konzil-auf-der-kippe-teil-1-heftige-100.html
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NATO-Expertin: "Wenn unser Wille nachlässt, können wir einpacken"
Russland sieht die Nato weiterhin als Bedrohung an (picture alliance/dpa/Daniel Naupold)
May, Philipp
Viele NATO-Länder - darunter auch Deutschland - seien bei Waffenlieferungen an die Ukraine zu zögerlich, kritisiert die ehemalige stellvertretende beigeordnete NATO-Generalsekretärin Stefanie Babst. Man müsse Russland mit aller Konsequenz zurückdrängen und isolieren. Der politische Wille der NATO müsse genauso stark sein wie der von Wladimir Putin.
"2022-06-16T06:50:00+02:00"
"2022-06-16T07:09:02.560000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-waffen-fuer-die-ukraine-int-stefanie-babst-ehem-nato-generalsekretaerin-dlf-f8e5113e-100.html
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"Man muss bei jedem Einsatz dieser Art genau analysieren"
Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr ( picture alliance / ZB) Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen habe guten Grund, die Militärbeobachtermission der OSZE zu untersuchen, sagte Kujat. Der gastgebende Staat müsse für die Sicherheit der Mitarbeiter sorgen. Unklar sei, ob die Ukraine überhaupt die Sicherheit und Unversehrtheit der Inspektoren garantieren konnte. Wenn dies nicht der Fall gewesen sei laute die Frage: "Haben wir uns davon überzeugt und haben wir die Entscheidung auf einer sicheren Grundlage getroffen? Wenn wir nicht hundertprozentig überzeugt waren, muss die Frage gestellt werden: War der Erkenntnisgewinn verhältnismäßig zum Einsatz, den die Bundesregierung bereit war, einzugehen?" OSZE kann "Beitrag leisten" Auf der Suche nach Wegen aus der Gewalt könne die OSZE einen guten Beitrag leisten. "Von den 57 Mitgliedsstaaten geht ein erheblicher Druck auf die Beteiligten aus. Und Russland ist selbst Mitglied dieser Organisation und so von Anfang an mit einbezogen." Harald Kujat, geboren am 1. März 1942 im polnischen Mielke und aufgewachsen in Kiel, ist ein General a.D. Von 2002 bis 2005 war er Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, zuvor arbeitete er zwei Jahre lang als Generalinspekteur der Bundeswehr. ______________________________________________________________________________________ Jasper Barenberg: Nach einer Woche Geiselhaft im Osten der Ukraine sind die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa seit dem Wochenende wieder frei. Die Diskussion allerdings über diese Mission für die OSZE hat seitdem erst so richtig Fahrt aufgenommen. Eine Menge Fragen zu Art und zu Ablauf des militärischen Teils dieser Beobachtermission werden gestellt, aber von der Bundesregierung vorerst nur zögernd oder kaum beantwortet. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen rechtfertigt den Einsatz auch der unbewaffneten deutschen Beobachter und kündigt gleichzeitig weitere Aufklärung und eine nochmalige Analyse an. Mitgehört hat Harald Kujat, der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und der ehemalige Vorsitzende im NATO-Militärausschuss. Schönen guten Morgen, Herr Kujat. Harald Kujat: Guten Morgen! Ich grüße Sie. Barenberg: Lassen Sie uns zunächst auch noch mal gemeinsam zurückblicken auf die militärische Mission der OSZE. Verteidigungsministerin von der Leyen will diesen Einsatz ja noch einmal gründlich aufarbeiten. Hat sie allen Grund, ihn im Nachhinein kritisch zu hinterfragen? Kujat: Sicherlich. Ich denke, man muss bei jedem Einsatz dieser Art, vor allen Dingen bei einem Einsatz, der in eine so schwierige Situation geführt hat und aus der wir ja, wie der Außenminister sagt, nur mit großem Glück heil herausgekommen sind, gerade bei einem solchen Einsatz muss man genau analysieren, was die Voraussetzungen dafür waren, warum es zu dieser Situation gekommen ist und ob das alles Sinn gemacht hat. Der gastgebende Staat muss für die Sicherheit der Teilnehmer sorgen Barenberg: Nun sind ja, Herr Kujat, solche Missionen gerade gedacht für Regionen, für Situationen, die sehr konfliktreich sind, die möglicherweise auch gefährlich sind. Liegt das nicht in der Natur der Sache, dass es eine solche Gefährdung gibt, wenn eine solche Mission sich auf den Weg macht? Kujat: Nun, es ist richtig, dass diese Missionen vor allen Dingen dazu dienen, Vertrauen und Sicherheit zwischen den Teilnehmerstaaten zu festigen, und wenn es Besorgnisse über militärische Aktivitäten gibt, wie das ja hier der Fall ist, dann kann einer der Teilnehmerstaaten, in diesem Fall die Ukraine, Besucher einladen, Inspektoren einladen, um sich davon zu überzeugen, was nun die Ursache für diese Besorgnisse sind. Aber es bedeutet auch, dass der gastgebende Staat für die Sicherheit der Teilnehmer an einem solchen Besuch sorgen muss. Er ist dafür verantwortlich. Sicherheit und Unversehrtheit sagt sogar das Wiener Dokument. Und die entscheidende Frage ist dann hier natürlich in diesem Fall: Konnte die Ukraine überhaupt die Sicherheit und Unversehrtheit der Inspektoren garantieren? Und wenn das nicht der Fall war, haben wir uns davon überzeugt, ob das möglich ist oder nicht vor dieser Mission, und haben wir die Entscheidung dann auf einer sicheren Grundlage getroffen? Darum geht es. Barenberg: Sehen Sie da Versäumnisse aufseiten der Bundesregierung? Kujat: Nun, das muss man sehen. Die Verteidigungsministerin hat ja eine Analyse des gesamten Vorgangs angekündigt und da steht natürlich im Zentrum dieser Analyse, wie sah die Lagebeurteilung vor dem Einsatz aus, waren wir überzeugt davon, dass die Ukraine in der Lage ist, die Sicherheit und Unversehrtheit zu garantieren oder nicht. Und wenn wir nicht hundertprozentig überzeugt waren, dann muss natürlich die Frage gestellt werden, war der Einsatz wirklich dann verhältnismäßig, war der Erkenntnisgewinn verhältnismäßig zu den Risiken, die wir, die die Bundesregierung bereit war, einzugehen. Das muss geklärt werden. Barenberg: Ich höre da bei Ihnen Zweifel heraus. Die OSZE ist eine Organisation, die einen guten Beitrag leisten kann Kujat: Das würde ich so nicht unterschreiben. Ich zweifele nicht daran, aber jeder von uns weiß, der die Nachrichten gesehen hat in dieser Zeit, dass es dort zu erheblichen Sicherheitsrisiken ja gekommen ist. Ob diese Sicherheitsrisiken nun auch für die Inspektoren vorhersehbar waren, oder zumindest mit einkalkuliert werden hätten müssen, das ist eine ganz andere Geschichte. Aber dass dies eine Unruhegegend war, in der es erhebliche Gewaltanwendung gab, das war ja ganz offenkundig. Barenberg: Der Außenminister, die Kanzlerin, alle setzen ja weiterhin darauf, dass die OSZE eine wichtige Rolle dabei spielen kann, wenn es darum geht, Wege aus der Gewalt zu finden. Sieht das jetzt nach diesem Zwischenfall anders aus? Kujat: Nein. Ich denke, die OSZE ist sicherlich eine Organisation, die in einer solchen Situation einen guten Beitrag leisten kann. Das steht völlig außer Frage. Das liegt zum einen daran, dass wir ja 57 Mitgliedsstaaten haben, und von diesen 57 Mitgliedsstaaten geht natürlich ein erheblicher Druck aus auf die Beteiligten, also auf die Ukraine und auch auf Russland, und Russland ist selbst ja Mitglied dieser Organisation. Das heißt, Russland ist von Anfang an in welchem auch immer gearteten Prozess der Verhandlung oder auch der Klärung dieser Angelegenheit mit einbezogen. Das ist wichtig. Und es kommt hinzu: Wir haben ja bisher gesehen, dass es äußerst schwierig ist, einen Ansprechpartner für Russland zu finden, der auf Augenhöhe mit Russland über diese Situation verhandeln kann. Da war die NATO, da war die Europäische Union, auch Deutschland hat sich darum bemüht, aber so richtig ist es dem Westen eigentlich nicht gelungen, Russland an einen Verhandlungstisch zu bringen, an dem dann ganz konkret ein Ergebnis erzielt werden kann, das auch Bestand hat. Das ist bisher nicht gelungen. Vielleicht kann es die OSZE, ich bin mir da allerdings nicht sicher. Barenberg: Wir werden es verfolgen müssen und abwarten, ob der OSZE-Vorsitzende morgen in Moskau mehr erreichen kann. Für den Moment vielen Dank, Harald Kujat, für Ihre Einschätzungen. Danke schön. Kujat: Ich danke Ihnen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Harald Kujat im Gespräch mit Jasper Barenberg
Die Ukraine hätte die Sicherheit der Militärbeobachter der OSZE gewährleisten müssen, sagte Harald Kujat, früherer Vorsitzender des NATO-Militärausschusses und ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, im Deutschlandfunk. Ob sie das überhaupt konnte, müsse nun in der Analyse des Einsatzes geklärt werden.
"2014-05-06T06:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:39:20.203000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/militaerbeobachter-in-der-ukraine-man-muss-bei-jedem-100.html
91,771
Und was nun?
Was kommt bei Demenz auf die Betroffenen und deren Angehörige zu? (picture alliance / dpa / Daniel Karmann) Tatsächlich ist der Verlauf der Erkrankung individuell sehr unterschiedlich. Einige Medikamente können helfen, den Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit hinauszuzögern. Aber klar ist auch: Eine Heilung ist derzeit nicht möglich. Wichtig ist daher, sich gut und offen über die Erkrankung zu informieren. Denn die Demenz verändert den Alltag. Sie bedeutet aber keineswegs, dass ab jetzt nichts mehr möglich ist. Gerne können Sie sich beteiligen: Hörertelefon: 00800 - 4464 4464 und E-Mail: sprechstunde@deutschlandfunk Studiogast: Prof. Frank Jessen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Köln
Am Mikrofon: Carsten Schroeder
Die Diagnose Alzheimer ist sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Angehörigen ein Schock. Und die meisten fragen sich: Was kommt nun auf uns zu?
"2016-11-01T10:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:58:56.736000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/diagnose-alzheimer-und-was-nun-100.html
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Weiße Flecken auf wissenschaftlicher Landkarte
Wissenschaft und Bildung sind auch heute noch von kolonialer Vergangenheit geprägt (picture alliance / dpa / Dr. Mummendey) Usambara-Veilchen, Wissenschaftlicher Name: Saintpaulia ionantha. Entdecker: Walter von Saint Paul-Illaire. Geboren in Berlin, von 1891 bis 1910 Vorsteher des Bezirksamts Tanga, Deutsch-Ostafrika. Ein Deutscher "entdeckt" eine Blume in Tansania - bis heute trägt sie in der international gültigen botanischen Nomenklatur seinen Namen. War die Pflanze vor 1891 unbekannt? Sicher hatten auch die Bewohner Tansanias einen Namen für sie. Aber wir finden ihn nicht in den Botanik-Lehrbüchern. Wir wissen vieles nicht über die Herkunft unseres Wissens. Oder wollen es nicht wissen. Dass große Teile davon auf Gewalt beruhen etwa. Darauf, dass Menschen ausgebeutet - und deren Wissen angeeignet wurde. Weil sie als nicht viel mehr galten als eine Ressource. Eine unterlegene "Rasse". Evolutionsforscher über Rassebegriff - "Nichts anderes als ein gedankliches Konstrukt" Für einen Rassebegriff gebe es heute keine biologische Grundlage mehr, sagte Martin S. Fischer von der Universität Jena, im Dlf. In einer Erklärung fordern Wissenschaftler, diesen nicht mehr im Zusammenhang mit Wissenschaft zu nutzen. Heute vermeiden viele in Deutschland das Wort "Rasse." Aber die meisten sagen immer noch "Wir". Wie unterscheidet sich dieses "Wir" von dem Konzept "Rasse"? Wer wird Teil von "Wir" und wer nicht? Und: Was haben Wissen und Wissenschaft - noch immer - damit zu tun? Menschenrassen sind eine Erfindung. Dass es sie gibt, biologisch, ist widerlegt. Das gilt heute als Allgemeinwissen. Und trotzdem: Der aus dem biologischen Rassismus stammende Gedanke lebt noch immer, wonach eine Gruppe von Menschen einer anderen Gruppe über- oder unterlegen ist, aufgrund von Eigenschaften, die alle Mitglieder dieser jeweiligen Gruppen gemein haben sollen. "Rassismus wird manchmal datiert auf die Zeit der Aufklärung, auf den wissenschaftlichen Rassismus", erklärt Iman Attia, Professorin für Critical Diversity Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. "Und damit wird meistens gemeint, ein naturwissenschaftlicher, aufgeklärter Rassismus, der Menschen vermisst, und die Gene und die Nasenlängen versucht zum einen zu identifizieren - als einer bestimmten Gruppe eigen und im Unterschied zu einer anderen - und gleichzeitig in Zusammenhang zu bringen mit bestimmten Wesensmerkmalen, Eigenschaften, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und so weiter Dimensionen." Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel) Um diesen Zusammenhang herzustellen braucht man "Rasse" als biologische Kategorie heute nicht mehr. "Mentalität", "Lebensart", "Identität" sind an ihre Stelle getreten - und vor allem: "Kultur". "Schon bei diesem wissenschaftlichen Rassismus spielt Kultur eine zentrale Rolle", betont Attia. "Man vermisst nicht nur einfach, um festzustellen: Hier gibt es biologische Unterschiede. Sondern die biologische Orientierung oder die genetische oder die naturwissenschaftliche ist eine, die in den Dienst gestellt wird, um Differenzen zu erklären. Differenzen, die zum Teil tatsächlich existent sind, die aber nichts mit Biologie zu tun haben, sondern mit gesellschaftlichen Entscheidungen, bestimmte Menschen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Es sind verschiedene Arten jemanden zu einem anderen zugehörig, minderwertig zu machen. Kultur ist nur ein Element. Sarrazin ist das beste Beispiel." "Alle wesentlichen kulturellen und ökonomischen Integrationsprobleme konzentrieren sich auf die Gruppe der fünf bis sechs Millionen Migranten aus muslimischen Ländern", schreibt Thilo Sarrazin, in "Deutschland schafft sich ab". Das Buch, mit dem der ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator 2010 Furore macht. "Für diese Probleme ist nach meiner Überzeugung nicht die ethnische Herkunft, sondern die Herkunft aus der islamischen Kultur verantwortlich. Diese prägt einen großen Teil der muslimischen Einwanderer in einer Weise, die mit der Lebensweise und den kulturellen Werten einer säkularen westlichen Gesellschaft kaum kompatibel ist." Eine alte rassistische Denkfigur: Es gibt "die Einen" und "die Anderen", das Eigene und das Fremde. Und vom Fremden geht eine Gefahr aus. Im 19. Jahrhundert fürchtete man, in Anlehnung an den französischen Diplomaten Arthur Comte de Gobineau, dass durch "Rassen"-Mischung eine "Vermischung des Blutes" stattfinde. Dass deshalb die Vorherrschaft der weißen Rasse gefährdet sei, damit zugleich jede Zivilisation - und dass man deshalb um die "Reinhaltung der Rassen" ringen müsse. Heute heißt es, Menschen seien "aufgrund ihrer Kultur" "nicht integrierbar". Befänden sich nicht auf demselben Niveau wie die Kultur, in die sie sich integrieren sollen. Wer bestimmt die Norm? "Auch in der zweiten und dritten Generation dieser Migranten sind Bildungsbeteiligung und Arbeitsmarktintegration weit vom Niveau der Deutschen und der übrigen Zuwanderer entfernt", schreibt Sarrazin weiter. Aber: Vererben Eltern ihren Kindern ihre Kultur - so wie sie ihnen die Augen- und Haarfarbe vererben? "Wenn man Kultur als Begriff ernst nimmt, dann geht es dabei darum, wie man sich auseinandersetzt mit dem, was an Anforderungen, an Lebensbedingungen, an Zwischenmenschlichem und so weiter entwickelt wird", entgegnet Attia. Kultur kann nichts sein, was sich irgendwie über Generationen völlig ohne Modifikationen, ohne Änderungen, ohne Vermischung entwickelt." Trotzdem steht "Kultur" heute auch für eine Reihe von Eigenschaften, von denen angenommen wird, dass sie für Menschen in bestimmten Gruppen allgemein charakteristisch sind. Und dass diese Gruppen sich durch diese Eigenschaften von anderen Kulturen unterscheiden - und zwar positiv oder negativ. Aber: Wer legt fest, was eine positive Eigenschaft ist? Und was eine negative? Wer ist die Norm? Verabredung mit Felicia Lazaridou. Die Psychologin forscht an der Charité Berlin zur psychischen Gesundheit schwarzer Frauen. Was als normale Verhaltensweise gilt, erzählt sie, und was als abweichendes Verhalten - bis hin zu psychischer Krankheit - das wird maßgeblich durch die Psychologie geprägt. In der bis heute Annahmen nachwirken, die aus der Kolonialzeit stammen: "Allein die Terminologie, die dabei verwendet wird, dient dazu zu behaupten, dass Menschen aus Afrika unterlegen sind. Das ist Bestandteil vieler Theorien in der Psychologie. Sigmund Freud zum Beispiel schreibt viel über den "dunklen Ort", das "dunkle Land" und die Grundannahme, dass Menschen dieses Land besetzen müssen. Er ist sehr metaphorisch in der Art und Weise, wie er spricht. Diesen "dunklen Ort" der Psyche muss man wieder in Ordnung bringen. Oder: Wenn Menschen älter werden, dann bewegen sie sich weg von dieser "primitiven" Seite und wenden sich den "zivilisierten" Aspekten zu." Die "weißen, zivilisierten Europäer" heben sich ab von den "primitiven Kulturen anhängenden, nicht-weißen Naturvölkern": Nach wie vor wird vor diesem Hintergrund Verhalten pathologisiert, das nicht dem weißen, aufgeklärten, bürgerlichen Wertekanon entspricht. "In der nigerianischen Kultur ist es ziemlich normal, sich mit Gott zu unterhalten und vielleicht sogar Gottes antworten zu hören", verdeutlicht Lazaridou Wenn man im Westen betet, dann kann es sein, dass Gott einen hört. Aber er würde definitiv nicht antworten. Und wenn man dann hier eine therapeutische Sitzung aufsucht und sagt: Ich habe mich gestern mit Gott unterhalten, würde der Therapeut sagen: Okay, darüber sollten wir reden!" Deutung sozialer Verhältnisse als Charaktereigenschaft Die Entstehung der Psychologie ist eng mit Kolonialismus und Industrialisierung verwoben. Und dem Versuch, Methoden zu entwickeln, mit denen Intelligenz und geistige Kapazitäten von Menschen gemessen werden können. Der Maßstab - die "Norm" - waren dabei schon in den Anfängen die Kriterien, mit denen sich Personen auf Machtpositionen beschreiben ließen. Francis Galton etwa, Mitbegründer der Persönlichkeitspsychologie, schloss aus der Analyse von Biographien bedeutender Persönlichkeiten, dass viele berühmte Männer Verwandte haben, die ebenfalls berühmt sind: "Ich glaube, dass Talent in einem sehr bemerkenswerten Maße durch Vererbung weitergegeben wird: J. Adams, Präsident der U.S.A.; Sohn Samuel, auch Patriot; Neffe J. Quincey Präsident", Francis Galton in "Vererbung von Talent und Charakter", 1865. Psychologie trägt dazu bei, Auswirkungen sozialer Verhältnisse - Reaktionen auf Lebensumstände - als Charaktereigenschaften zu definieren. Die dann wieder Gruppen von Menschen allgemein zugeschrieben werden: "Drapetomanie" lautete die "Diagnose" amerikanischer Psychologen im 19. Jahrhundert - wenn versklavte Schwarze Fluchtversuche unternahmen. Später "diagnostizierten" sie ihnen einen "Unterwerfungsinstinkt" und während der Bürgerrechtsbewegung hieß es aus der Psychologie, schwarze Männer hätten ihre Aggressionen nicht unter Kontrolle, weil viele von ihnen ohne Vater aufwüchsen. 2007 stellte die Kinder- und Jugend-Gesundheitsstudie des Robert-Koch-Instituts heraus, dass Kinder und Jugendliche "mit Migrationshintergrund" häufiger Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitäts- und emotionale Probleme zeigten als andere Kinder. Wo die Ursachen für Verhalten liegen, das als problematisch gilt, welchen Belastungen Menschen ausgesetzt sind, die vor allem über einen "Migrationshintergrund" definiert werden - das bleibt zumeist ausgeblendet. Besuch in der Ausstellung "Die Erfindung von Menschenrassen" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden. "Was wir hier sehen, finde ich ganz interessant. Weil es nochmal zeigt, wie diese Entwicklungen aus dem 19./20. Jahrhundert nachwirken", erfährt man bei der Museumsführung. "Und wir haben hier eine Installation von Natascha Kelly. Natascha Kelly ist eine schwarze Wissenschaftlerin, die vor 15 Jahren ihre Dreadlocks abgeschnitten hatte, die aufgehoben hat und gesagt hat: vielleicht nutze ich die nochmal." Sie hängen jetzt in einem Regalfach im ersten Ausstellungsraum. "Und wenn Besucher denken, sie müssten da mal anfassen, dann geht das Licht an. Mit der Idee, dass das so irritiert, dass der Besucher, die Besucherin doch noch mal darüber nachdenkt, warum es überhaupt das Bedürfnis gibt diese Haare anzufassen. Weil, man hat in der Führung eigentlich immer Besucher, die sagen: Aber das ist doch nicht rassistisch, wenn ich da mal die Haare anfassen will. Und genau zu dieser Frage zu kommen: Wer definiert das eigentlich? Und wie kann ein weißer Mensch nachempfinden, wie sich das anfühlt?" Subtile Aggressionen im Alltag "Das sind sehr subtile, unauffällige, verdeckte und latent aggressive Ausdrucksformen von Rassismus, die bewusst oder meistens auch unbewusst auftreten", erklärt Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie untersucht die Auswirkungen von Rassismus auf die Gesundheit. Welchen Belastungen jemand ausgesetzt ist, der oder die anhaltend über einen "Migrationshintergrund" definiert wird, sagt sie - und welche Folgen das hat - das ist in Deutschland kaum erforscht. Empirische Studien gibt es nicht. Die US-amerikanische Forschung beschreibt diese Zusammenhänge allerdings schon länger mit dem Konzept "Mikroaggressionen". Nach dem drei Formen subtiler Aggressionen unterschieden werden: "Micro-Assault nennt sich das. Das heißt: ein Angriff, der schon expliziter ist und das kann zum Beispiel eine Bezeichnung sein, mit dem N-Wort. Es kann aber auch ein diskriminierendes Verhalten sein, das heißt, ganz explizit Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer vermuteten Herkunft anders und zwar nachteilig zu behandeln. Und dann gibt es die Kategorie zwei, die Micro-Insult, die Beleidigungen, die auf die Herkunft oder die Identität zielen." Anfang Dezember 2018 veröffentlichte der britische "Guardian" die Ergebnisse einer Umfrage zu Rassismus-Erfahrungen, die Angehörige ethnischer Minderheiten im Alltag machen. Es ist die erste Untersuchung dieser Art in Großbritannien. Mehr als ein Drittel der Befragten, vor allem Schwarze, berichten darin, dass sie schon einmal fälschlich des Ladendiebstahls verdächtigt worden seien - mehr als doppelt so häufig wie weiße Befragte. Ebenfalls zweimal so oft wie Weiße werden sie in Restaurants, Bars und Geschäften für die Bedienung gehalten. Und ein Fünftel sagt, sie hätten Stimme, Frisur, Kleidung und generelles Auftreten verändern müssen, um in Studium oder Beruf ernstgenommen zu werden. "Und dann hätten wir die dritte Kategorie", erläutert Yeboah. "Micro-Invalidation, die Ungültigkeitserklärung. Einfach die Erlebnisrealitäten negieren, zum Beispiel zu sagen, ja du hast diese Erfahrung gemacht, das kann gar nicht sein. Wir sind doch alle Menschen. Oder diese Behauptung zu sagen, ich sehe gar keine Farben, ich behandle alle Menschen gleich." Für Betroffene bedeutet das: Sie werden immer wieder von außen in Frage gestellt und dazu gezwungen, sich zu erklären, die Vorannahmen und Vorurteile des Gegenübers richtigzustellen; letztlich: die Gültigkeit der eigenen Existenz immer wieder zu beweisen. "Du existierst nicht. Und diese Botschaft ruft natürlich Stress im Gehirn aus. Das heißt, es werden Stresshormone oder Neurotransmitter, im Volksmund sagen wir Hormone, Nervenbotenstoffe, die Stress darstellen, die werden ausgeschüttet und das Gehirn sendet Signale aus und sagt: Du kannst vernichtet werden. Und aufgrund dieser Antwort vom Gehirn können wir auch von einer biologischen Tötung sprechen, wenn es um racial microaggressions geht." Rassismus wird auch in Bildungseinrichtungen reproduziert 2008 schreibt die Psychologin und Autorin Grada Kilomba in ihrem Buch "Plantation Memories", dass Alltagsrassismus gerade von schwarzen Menschen als Wiederkehr kolonialer Gewalt erlebt wird. Ähnlich wie Kolonialherren "ihren" Sklaven Masken anlegten, um sie zu demütigen und am Sprechen zu hindern - so werden auch heute noch Menschen, die nicht den herrschenden, weißen Normen entsprechen, daran gehindert sich als eigenständige Subjekte zu artikulieren. Das geschehe vor allem an Schulen und Universitäten - an Orten, an denen Wissen hergestellt und vermittelt wird. Und zwar, indem diese Orte von Weißen und weißem Wissen beherrscht werden - das Wissen von Schwarzen und People of Color dagegen werde abgewertet. Verabredung mit Aretha Schwarzbach-Apithy. Die Erziehungswissenschaftlerin erforscht die Strukturen, in denen weißes Wissen noch immer als überlegenes Wissen konstruiert wird. DLF: "Vielleicht können Sie kurz beschreiben, wo wir sind?"Schwarzbach-Apithy: "An der Humboldt-Universität zu Berlin im Hauptgebäude. Und jetzt gehen wir die Treppen hoch. Um uns die Galerie der weißen Menschen anzugucken, die als Rollenmodell dienen für Wissenschaft. Hier brauch ich gar nichts mehr zu sagen, sind natürlich alles nur Männer."DLF: "Das sind alles Nobelpreisträger für Chemie, ne?"Schwarzbach-Apithy: "Das finde ich interessant, zum Beispiel, wenn hier ein Mädchen langgeht und die ist gut in Chemie, okay, die sagt sich vielleicht: Wow, schaffe ich das jemals? Unausgesprochen klar, dass das alles das männliche Geschlecht war. (...) Und die Geschichten dahinter, die werden gar nicht erzählt, in den Abbildungen. Wenn Frauen nicht studieren dürften, hätten sie gar nicht die Möglichkeit gehabt den Nobelpreis zu kriegen. Es kommt nur an: es waren nur Männer. Also können das praktisch auch nur Männer." Zwar wurde die Galerie inzwischen um Porträts von Frauen erweitert - schwarze Menschen allerdings sind nach wie vor nicht vertreten. Sie sind als Akteure in der Produktion von Wissen in Deutschland deutlich unterrepräsentiert. Es gibt zwar Professoren mit Einwandererbiographie. Aber sie stammen fast alle aus Europa oder Nordamerika. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 stammten nur zwei Prozent der Professoren aus Lateinamerika und nur ein Prozent aus Afrika. Der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zufolge hat nur etwa jeder fünfte Studierende in Deutschland einen "Migrationshintergrund". "Privileg der Unkenntnis" für weiße Studierende Dazu zählen allerdings auch weiße Studierende aus anderen Ländern Europa, die nicht von Rassismus betroffen sind. Die Zahl nicht-weißer Studierender ist daher noch weitaus geringer. Und wenn sie es dennoch auf die Universität geschafft haben, erleben sie häufig, dass sein oder ihr Erfahrungshintergrund keine Rolle spielt. Dass Hinweise auf Forschungen nicht-weißer Autoren zu Seminarthemen übergangen werden. "Dann kommen Reaktionen wie - der Klassiker, der auch schon in der Schule oft gesagt wird: Wir sind gerade nicht beim Thema", erzählt Schwarzbach-Apithy. "Oder: Ach, das ist ja interessant, na dann gehen Sie mal nach Hause, recherchieren und machen das nächste Mal ein Referat dazu. Was bundesweit sich schwarze Studierende immer wieder erzählen, oder auch students of color, ist, dieses 'Nachweis erbringen' der Wahrheit dessen, was jetzt gerade gesagt wird. Während es andere ja nicht machen müssen im Seminar, weil da gibt es einen Common Sense, wo die Dozentin nicht bei jedem Satz sagt: Beweis mir das, zeig mir das Zitat. Das machen sie aber bei uns: Wo steht denn das? Und wenn sie es nicht sagt, sagen zwei, drei Studierende im Hintergrund: Das möchte ich jetzt mal wissen, wo das steht. Kann ja jeder erzählen, und sofort." Während die Leistungen auch nicht-weißer Studierender daran gemessen werden, wie souverän sie sich innerhalb des "weißen Wissens" bewegen - herrscht für ihre weißen Kommilitonen das "Privileg der Unkenntnis". "Professorinnen wie auch Studierende können unwissend sein, was schwarze Leute angeht, was deren Geschichte angeht, was deren Kampf angeht, was deren Realität hier angeht", erzählt Schwarzbach-Apithy. "Die können unwissend durchs Leben gehen, da passiert nichts: Die bekommen dafür keine schlechtere Note. Das ist nicht, dass sie dadurch keinen Job bekommen, die werden auch nicht befragt. Während schwarze Leute sehr wohl abgefragt werden, nach dem ganzen weißen Wissen. Die weiße Positionierung und die wissende Positionierung heißt immer auch: Ich habe die Definitionsmacht. Ich definiere auch, was ist richtiges Wissen. Ich kann das validieren. Und ich habe auch die Kontrollmacht, Wissen zu strukturieren, einzuordnen, zu kategorisieren. Und die Kontrolle ist dann nicht mehr gegeben, wenn immer mehr Leute über ihre eigene Universität bestimmen, wenn schwarze Leute in afrikawissenschaftliche Institute gehen, afrikanische Leute. Wenn die plötzlich erzählen, ihre Story! Es gibt ein Sprichwort im Afrikanischen: Der Hunter erzählt eine andere Story als der Lion. So die Leute werden eine völlig andere Geschichte erzählen." "Was außerhalb der Universität an Wissen vorhanden ist, in die Universitäten bringen" "Epistemizid" - so nennt der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos das systematische Auslöschen von Wissen. Von Wissen, das als "nicht gültig" angesehen wird, weil es nicht nach den Kriterien funktioniert, die in der weißen, bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung als wissenschaftlich gelten. Der Epistemizid begann mit der Kolonisierung - und dauert bis heute an. "Nicht-akademisches Wissen wurde marginalisiert, zum Schweigen gebracht und wird als irrelevant bezeichnet", kritisiert de Sousa Santos. "Seit dem 16. Jahrhundert ist für Europäer nur das Christentum die einzig ernsthafte und korrekte Religion. Ähnlich war es mit der Wissenschaft: Nur die moderne Wissenschaft, vor allem nach dem 18. Jahrhundert, wurde als einzige schlüssige Wissenschaft angesehen, dementsprechend wurden alle anderen Wissensbestände und Weisheiten, mit denen die Kolonisatoren in Berührung gekommen sind, für irrelevant erklärt." Lässt sich dieses Wissen zurückholen? Wenn ja, wie? Und: inwiefern kann das dazu beitragen, dass Rassismus aus der Gesellschaft verschwindet? Treffen mit Boaventura de Sousa Santos in einem Hotel in Lissabon. Er lehrt an den Universitäten von Coimbra und Wisconsin - und gehört zu den wichtigsten Denkern der dekolonialen Theorie. Deren zentrales Anliegen: die Kritik am Eurozentrismus: "Nehmen wir das Beispiel Entwicklung oder Fortschritt. Wir glauben, dass Entwicklung eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit ist. Aber das eurozentrische Konzept von Fortschritt oder Entwicklung hat gar nichts zu tun mit Vorstellungen von einem guten Leben, wie es sie in anderen Teilen der Welt gibt. Trotzdem denken wir immer, dass Entwicklung für ein Land bedeutet, so zu werden wie Europa oder Nordamerika. Obwohl wir sogar wissen, dass die Erde kollabieren würde, wenn alle leben würden wie die Menschen dort." 2014 kritisiert Boaventura de Sousa Santos in seinem Buch "Epistemologien des Südens" den universalen Gültigkeitsanspruch des westlichen Denkens. Und fordert "kognitive Gerechtigkeit": Die Anerkennung nicht-westlichen Wissens als gleichwertig. Ohne diese könne es auch keine soziale Gerechtigkeit auf der Welt geben - und Menschen, die bisher ausgegrenzt und marginalisiert wurden, blieben das auch. "Ich denke, wir sind an dem Punkt, wo wir Wissen demokratisieren müssen" meint de Sousa Santos. "Die 'Epistemologie des Südens' ist ein Appell für eine radikale Demokratisierung des Wissens, für interkulturelle Übersetzung zwischen den verschiedenen Wissensbeständen. Wir müssen das, was außerhalb der Universität an Wissen vorhanden ist, in die Universitäten bringen: Alltagswissenschaft, das Wissen von Frauen, indigenes Wissen, das Wissen der Bauern. In diesem Bereich gibt es sehr interessante Erfahrungen, nicht so sehr in Europa, aber Europa ist sehr klein." Traditionelle Heilmethoden und alternative Karten An einigen medizinischen Fakultäten in Brasilien und Indien ist es inzwischen üblich, dass neben westlicher Schulmedizin auch traditionelle Heilmethoden der lokalen Bevölkerung gelehrt werden. Juristische Fakultäten laden regelmäßig Richter ein, die aus indigenen Kollektiven stammen, in denen es keine Gefängnisse gibt - und die Studenten erläutern, wie sie Konflikte über Mediation und Versöhnung lösen. Kritische Geografen klopfen Methoden ihres Fachgebiets auf Diskriminierungsstrukturen hin ab, die aus der Kolonialzeit herrühren. Berlin-Moabit, Center for Art and Urbanistics. Das Kollektiv Orangotango präsentiert sein Buch "this is not an atlas" - eine Sammlung widerständiger Karten. Auf dem Podium die kritische Geografin Nermin El Sherif von der Universität Amsterdam: "Zum Beispiel die Karten, die alle in der napoleonischen Ära in Äypten, Syrien oder der Levante gezeichnet wurden. Das ganze Gebiet wurde kartiert, um es zu kolonisieren. Dementsprechend war die Einführung dieses Werkzeugs ein Werkzeug, um zu kolonialisieren." Nermin El Sherif sucht in Archiven nach "alternative Karten", die nicht von staatlicher Seite angefertigt wurden, sondern von den Bewohnern zum Beispiel. Und findet: "Die anderen Karten Ägyptens", die mehr enthalten, als nur gezeichnete Abbildungen: "Es wird detailliert beschrieben, in welcher Straße welches Haus steht, wie viele Menschen in jedem Haus leben und wie diese Nachbarschaft entstanden ist. Wer sie gründete, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelte und so weiter." Wissenschaft - oder wissenschaftlich arbeiten -, das heißt im europäischen und angelsächsischen Verständnis zumeist: Es gibt eine These, die Wissenschaftler mit Ergebnissen von Beobachtungen, Experimenten, Messungen und Berechnungen begründen oder aus diesen ableiten. Sie machen dieses Vorgehen transparent und damit nachprüfbar. Und dann gilt die These als "Fakt", solange sie nicht widerlegt wird. Und nicht zuletzt, weil jeder nachmessen und nachprüfen kann, gilt dieses Vorgehen als objektiv - und dessen Resultate als universell gültig. "Wissenschaft ist ein Kampfplatz" Das allerdings ist nicht die ganze Geschichte. Ausgeblendet wird, dass auch Wissenschaftler innerhalb konkreter Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse leben und arbeiten, dass sie - oft unbewusste - Vorannahmen treffen, Meinungen haben, Interessen verfolgen. Dass das Wissen, das sie so produzieren, nur partikulare, temporäre Gültigkeit beanspruchen kann. Dass der Anspruch auf universelle Geltung mit dazu beiträgt, dass Menschen die Deutungshoheit über sich und die Welt abgesprochen wird. Und: Dass darauf vor allem Wissenschaftler aufmerksam gemacht haben, die aufgrund ihrer Herkunft selbst Unterdrückung erfahren haben. "Wissenschaft ist kompetitiv. Es ist auch ein Kampfplatz. Es ist ein Teil der Zivilgesellschaft und in der Zivilgesellschaft wird gekämpft um Bedeutung. Da wird gekämpft um Bedeutung und um die Möglichkeiten, die sich dann entfalten können oder nicht entfalten können", meint María do Mar Castro Varela, Politikwissenschaftlerin und Mitautorin der ersten deutschsprachigen Einführung in postkoloniale Theorie. In der Machtstrukturen in der Gesellschaft untersucht werden, die in der Zeit der Kolonialisierung ihre Wurzeln haben. Und die dafür unter anderem fordert, dass sich die herrschende, westlich-weiße Wissenschaft mit ihren Widersprüchen auseinandersetzt - und mit ihrem Erbe, das auf Gewalt und Ausbeutung beruht. "Das heißt, dass die Art und Weise, wie Wissenschaft gemacht wird, wer Wissenschaft macht, wer in der Wissenschaft welche Position hat, sich radikal verändern muss und das wissen diejenigen, die versuchen, das zu verhindern, und wenn die Vorstellung davon, dass wir Menschen einteilen können nach bestimmten Kategorien, dazu führt, dass bestimmte Gruppen von Menschen diskriminiert werden, dass ihnen Gewalt angetan wird, dass sie marginalisiert und stigmatisiert werden, dass ihnen Gewalt angetan wird, dann ist es etwas, was wir unbedingt angreifen müssen. Und wo wir dafür Sorge tragen müssen, dass sich im Alltag ein anderes Verständnis von 'Wie wir Menschsein denken können' auch durchsetzt. Beherrschen funktioniert nur dann, wenn wir die, die wir beherrschen, auch verstehen. Deswegen ist es immer so ein bisschen ein Problem, wenn man antirassistische Workshops macht und sagt: ‚Wir wollen, dass die anderen verstanden werden'. Nee! Wir wollen nicht, dass die anderen verstanden werden. Wir wollen nicht mehr, dass die Anderen Andere sind." Die Autorinnen danken Noa K. Ha, Peggy Piesche und Cengiz Barskanmaz für wertvolle inhaltliche Anregungen und Unterstützung bei der Recherche. Es sprachen: Tonio Arango, Wolfgang Condrus, Michael Evers, Maximilian Held, Lisa HrdinaTon und Technik: Jan FrauneRegie: Friederike WiggerRedaktion: Christiane Knoll Rassendenken Teil 1 - Über die rassistischen Wurzeln von Wissenschaft(Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 25.12.2018)
Von Azadê Peşmen und Lydia Heller
"Menschenrassen" sind wissenschaftlich nicht belegbar. Doch in Schulbüchern, an Universitäten, in der Art und Weise, wie Wissen produziert wird, pflanzen sich überholte Sichtweisen fort. Dabei müsste gerade die Wissenschaft Ansätze liefern, die Reproduktion rassistischen Denkens aktiv zu durchbrechen.
"2018-12-26T16:30:00+01:00"
"2020-01-27T18:26:46.005000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rassendenken-teil-2-weisse-flecken-auf-wissenschaftlicher-100.html
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Wie ukrainische Ruderer in Hannover trainieren
Pavlo Bolotov (Schlagposition) trainiert mit seinem ukrainische Junioren-Achter in Hannover. (Hannoverscher Ruder-Club von 1880 e.V./Marcel Kipke) Acht Ruderer stoßen ihr Boot vom Steg des Deutschen Ruderclubs von 1884 in Hannover-Linden. Die Mannschaft schlüpft in die im Boot fixierten Schuhe, der Steuermann stöpselt sein Headset in die Lautsprecheranlage. Flussabwärts geht es zur nächsten Schleuse. Angeleitet von einem Trainerteam im Motorboot, bei dessen Bekleidung ebenso wie bei den Ruderern die Farben blau und gelb dominieren. Auch vier der acht Ruderblätter sind in den ukrainischen Nationalfarben lackiert, die vier weiteren in den Farben des gastgebenden Vereins Blau-weiß-rot.    Eine Juniorenmannschaft, die zur Saisonvorbereitung an einem anderen Ort trainiert – an sich nichts Ungewöhnliches. Doch die ukrainischen U-19-Nationalruderer, die an diesem Morgen unter den Kommandos ihres Steuermanns Pavlo Subit trainieren, sind Mitte März nach Hannover geflohen – nach dem russischen Überfall auf ihre Heimat. Das meiste Material ist in Charkiw geblieben „Das Wasser ist das Gleiche, die Fahrregeln sind die Gleichen. Der wesentliche Unterschied ist, dass das Boot, in dem wir jetzt trainieren dürfen, wesentlich besser ist.“ Sportliche Routine: Die Ruderer kennen sich inzwischen aus an den Bootshäusern in Hannover (Hannoverscher Ruder-Club von 1880 e.V./Marcel Kipke) Der gelbe Achter: zur Verfügung gestellt von einer bekannten deutschen Bootswerft. Als das Betreuerteam und rund zwei Dutzend Sportlerinnen und Sportler aus der Ukraine fliehen, können sie praktisch kein Material mitnehmen aus dem Ruder-Trainingszentrum im umkämpften Charkiw: Nur die vier blau-gelb lackierten Riemen, die auch an diesem Vormittag im Einsatz sind, transportieren sie auf dem Dach eines Kleinbusses. Auch die Direktorin des ukrainischen Ruderverbandes, Iryna Dotsenko ist mit nach Hannover geflohen. „Als der Krieg ausbrach, haben wir die Anfrage gestellt an den Deutschen Ruderverband. Und so wurden wir hier aufgenommen. Wir sind Mario Woldt sehr dankbar, dass er uns sehr eng begleitet.“ Praktische Hilfe vor Ort - von der Jugendherberge bis zum Bootsmaterial Mario Woldt ist beim Deutschen Ruderverband für den Leistungssport zuständig. Jetzt druckt er beim gemeinsamen Interview in der Geschäftsstelle auch mal Anträge für den Gang zur Ausländerbehörde aus. „Hier arbeiten wirklich alle sehr gut Hand in Hand. Wir haben die Vereine vor Ort, DRC, HRC, Angaria, die hier sehr, sehr gut unterstützen. Die ihre Bootshäuser aufmachen, Bootsmaterial zur Verfügung stellen.“ Integration Wie der Sport ukrainischen Flüchtlingen helfen kann Integration Wie der Sport ukrainischen Flüchtlingen helfen kann Hunderttausende ukrainische Geflüchtete haben sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. "Die Sportvereine sind ziemlich gut vorbereitet", sagte Thomas Geiß, Integrationsbeauftragter des hessischen Fußballverbands im Dlf. Man könne auf viele Erfahrungen der letzten Flüchtlingsbewegung zurückgreifen. Verein Athletes for Ukraine „Wenn jetzt die Leute nicht aufwachen, wüsste ich nicht, wann sonst“ In Deutschland gibt es in diesen Tagen viel Unterstützung für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Tausende Freiwillige helfen im ganzen Land, spenden oder fahren sogar selbst an die ukrainische Grenze. Auch im Sport hat sich jetzt ein Verein gegründet, der Menschen aus der Ukraine unterstützen will. Geflüchtete aus der Ukraine DOSB: Sporthallen nicht primär als Unterkünfte nutzen Die Solidarität des deutschen Sports mit der Ukraine ist groß. Doch es ist auch ein Balanceakt. Denn die ersten Turn- und Sporthallen dienen bereits als Notunterkünfte für Geflüchtete. Der DOSB appelliert an die Politik andere Lösungen zu finden. Nachdem der Kontakt zum Ukrainischen Verband zustande gekommen war, habe man überlegt, sagt Woldt, wo man die U-19-Nationalmannschaft am besten unterbringen könne – und sich für den Verbandssitz Hannover entschieden. „Die Stadt hat mit der Jugendherberge sehr eng zusammengearbeitet, dass die Mannschaft dort auch komplett unterkommen kann. Landessportbund und OSP unterstützen sportlich auch mit.“ Flucht ohne Eltern Nach und nach ist die ukrainische Gruppe in Hannover auf 35 Personen angewachsen. Von der Jugendherberge können sie zu Fuß zu den Rudervereinen gehen, wo sie zweimal am Tag auf dem Wasser trainieren. Dazu Gymnastik und Krafttraining am nahen Olympiastützpunkt. Zwischendurch verfolgen sie den Schulunterricht in der Ukraine online, erzählt Schlagmann Pavlo Bolotov. „Und wir versuchen jeden Tag Kontakt zu halten zu Freunden und Verwandten. Und wir machen uns jeden Tag Sorgen um sie.“ Die minderjährigen Sportlerinnen und Sportler sind ohne Eltern geflohen. Man versuche, in Hannover für sie ein Stück Normalität zu organisieren, sagt Mario Woldt vom Deutschen Ruderverband. „Die Normalität bietet sicherlich der Sport erst mal selber, weil das ist das, was man kennt, was man macht. Es gibt die tägliche Struktur. Man hat seinen normalen Trainingsaufbau auch über die Zeit.“ Training auf dem Maschsee - die ukrainischen Juniorenruderer arbeiten in Hannover auf die EM in Italien hin. (Hannoverscher Ruder-Club von 1880 e.V./Marcel Kipke) Und bei allem Weiteren versuchen auch die örtlichen Vereine zu helfen. „Dass die Sportler, dass die Gruppe Anschluss haben und dass man  versucht, so ein bisschen Rahmenprogramm auch dann zu organisieren, das lässt sich gut an.“ Nächstes Ziel: EM in Italien Ein Helferkreis hat sich gebildet, um viele praktische Probleme zu lösen. Spenden wurden gesammelt. Vereinsmitglied Anton Voronchuk übersetzt, auch bei diesen Interviews. Und im Gegenzug helfen die ukrainischen Ruderer an diesem Morgen zum Beispiel, das Motorboot der Vereins-Trainingsgruppe vom Steg zu schieben. Die Einladung zum Anrudern am Ende des Monats hat der Deutsche Ruderclub auf Ukrainisch auf seiner Website veröffentlicht. Schlagmann Pavlo Bolotov: „Ich bin sehr berührt, wie wir hier empfangen wurden, welche Bedingungen uns hier zur Verfügung stehen, welches Equipment wir hier bekommen. Essen, Trinken, die Verpflegung rund ums Training ist teilweise besser als in unserer Heimat. Ich bin sehr dankbar und wir wollen unser Bestes geben, um Deutschland nicht zu enttäuschen.“    Sportliches Ziel ist der Start bei den Junioren-Europameisterschaften im italienischen Varese im Mai „In der aktuellen Situation kann man nicht längerfristig planen. Man lebt in den Tag hinein, plant Schritt für Schritt. Und der nächste planbare Schritt sind die Europameisterschaften. Und was darüber hinaus geht, ist momentan nicht planbar.“
Von Bastian Brandau
Zahlreiche ukrainische Nationalteams versuchen trotz des Krieges weiterhin an Wettbewerben teilzunehmen. Auch das U19-Nachwuchsteam im Rudern will bei der Europameisterschaft im Mai antreten. Auf Einladung des Deutschen Ruderverbandes ist fast das komplette Team nach Hannover gekommen.
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"2022-04-18T15:08:55.483000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-u19-rudern-nationalmannschaft-hannover-flucht-100.html
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US-Branche trotz Trump optimistisch
Sonne über einem Parabolrinnenspiegel in Las Vegas: Unternehmer wie Bill Gates haben viel Geld in die Forschung und Entwicklung solcher alternativer Energiequellen investiert. (picture alliance/dpa/Schott) Präsident Donald Trump glaubt nicht an den Klimawandel. Deswegen glaubt er auch nicht an erneuerbare Energien. Daran lässt er keinerlei Zweifel, zum Beispiel im zweiten TV Duell gegen Demokratin Hillary Clinton vergangenen Oktober. Donald Trump: "Wir zerstören unsere Energiewirtschaft. Ich finde Solar- und Windenergie toll, aber wir brauchen mehr. Ich werde die Energiekonzerne wieder wettbewerbsfähig machen, sie werden Geld verdienen, aber momentan sind sie nicht handlungsfähig.” Natürlich sorgt sich Trump nicht um die gesamte Energiewirtschaft, sondern um Kohle- und Ölkonzerne. Trump will den amerikanischen Clean Power Plan kippen, den Barack Obama und die amerikanische Umweltbehörde EPA in 2014 angestoßen haben. Der zielt vor allem auf die Reduktion von Treibhausgasen ab. Trump will sich ebenfalls vom Pariser Abkommen zum Klimaschutz zurückziehen, das die USA erst in 2016 ratifiziert hatten. Das alles freut die Kohle- und Ölindustrie und bringt Aufruhr in die Branche, die ihr Geld mit erneuerbaren Energien verdient. Daniel Kammen ist Professor für Energie an der Berkeley Universität in Kalifornien. "Es bremst die amerikanischen Firmen und damit verlieren sie an Marktanteil. Wir müssen darüber streiten, ob die neue amerikanische Regierung die Unternehmen zu Gewinnern der Energiewende macht oder zu Zuschauern und somit Verlierern, denn die Energiewende wird so oder so stattfinden.” 150 Milliarden Dollar Investments bis 2025 Seit Jahren sind immense Summen für Forschung und Entwicklung in alternative Energiequellen geflossen. Das Geld kommt aus einer mächtigen, Milliarden schweren Lobby. Investoren wie die Investmentbank Goldman Sachs werden dafür sorgen, dass ihre Interessen nicht zu kurz kommen. Die Bank hat keinesfalls vor, den Geldhahn zuzudrehen. Bis 2025 will sie insgesamt 150 Milliarden Dollar investiert haben. Auch Tech-Milliardär Bill Gates glaubt nach wie vor an die Renditen in erneuerbare Energien. Der Microsoft Chef hat einen eine Milliarde Dollar schweren Fund gegründet, mit 20 hochkarätigen Investoren aus der ganzen Welt, darunter Amazon-Gründer Jeff Bezos und der englische Magnat Richard Branson. Bob Perciasepe ist Vorsitzender des Centers for Climate and Energy Solutions und hat unter Obama für die Umweltbehörde EPA gearbeitet. Auch bei den Unternehmen selbst beobachtet er einen gewissen Optimismus. Bob Perciasepe: "Es ist aufschlussreich sich die Energieversorger mal anzusehen. Die meisten verhalten sich so, als ob sie auch in Zukunft noch Emissionen sparen müssten. Die neueste Schätzung von Bloomberg zeigt nun, dass alleine im vergangenen Jahr 5 Prozent an Treibhausgasen weniger ausgestoßen wurden. Damit sind wir 75 Prozent des Weges zu unserem Ziel in 2030 bereits gegangen. Dieser Trend wird nicht einfach aufhören.” Moderate Position in Sachen Klimawandel Der Optimismus mag auch daher rühren, dass Trumps neuer Außenminister Rex Tillerson sich positiver als sein Chef über die Rolle Amerikas beim Klimaschutz geeinigt hat. Der ehemalige Vorsitzende des Mineralölkonzerns ist sicher kein Umweltschützer, aber seine Position in Sachen Klimawandel ist moderater als die seiner Kabinettskollegen - und könnte Trump vielleicht besänftigen, hofft Perciasepe. "Wenn es um das Pariser Abkommen geht, dann haben wir einmal die Aussage des Präsidenten, der sagt, er will offen bleiben. Und wir haben Rex Tillerson, der meint, Amerika sollte einen Sitz am Tisch behalten. Ich denke, das klingt beides schon einmal gut.” Doch selbst wenn Trump den Clean Power Plan kippt; 28 der 50 amerikanischen Bundesstaaten haben neben dem Clean Power Plan eigene Bestimmungen zum Klimaschutz erarbeitet, die also auch beim Wegfall desselbens bestehen blieben. Auch der Rest der Welt wird auch weiterhin in Klimaschutz investieren - mit oder ohne Trump. Daniel Kammen: "Ich denke es ist klar, dass sich die saubere Energie weiterentwickelt. Es wird weltweit so viel investiert. Alleine China steckt so viel Geld dort hinein, ebenso Europa, und auch die amerikanischen Unternehmen. Die Frage ist nun, ob Trump den Fortschritt auf nationaler Ebene ausbremsen wird und damit die Rolle der USA in Klimaverhandlungen in Frage stellt.”
Von Sophie Schimansky
Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass er den Klimawandel und damit die Energiewende für Blödsinn hält. Für die Branche könnte das erschwerte Bedingungen bedeuten - oder sogar das Aus. Doch die Lobby hinter Sonne und Wind ist groß, Investoren haben viel Geld in saubere Energie gesteckt.
"2017-02-20T11:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:15:57.830000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erneuerbare-energien-us-branche-trotz-trump-optimistisch-100.html
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Vom Drumcomputer bis zur teuersten Gitarre der Welt
Das diesjährige Motto der Messe: Hands on music. (imago/Westend61) Es piept, es zischt, es pocht. In Halle 5.1, dem Remix-Bereich der Musikmesse haben die Hersteller ihre Synthesizer aufgebaut, die wild verkabelt, die unglaublichsten Töne von sich geben. In diesem Bereich der Messe sind auch die Hersteller von Musiksoftware zu finden, die von Jahr zu Jahr mit immer interessanteren Produkten die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich ziehen. Beispielsweise die Firma Zynaptiq aus Hannover. Dahinter steckt ein Entwicklerteam, das sich auf Software spezialisiert hat, die vor allem für das Sounddesign gefragt ist. Schon mal gehört, wie sich eine gesprochene Stimme und ein gestrichenes Becken ineinander gemorpht anhören? Denis Goekdag vom Zynaptiq-Team führt gerade die neue Version der Software Morph vor. Gerade was elektronische Musik angeht, so ist die Frankfurter Musikmesse ein wichtiger Anlaufpunkt für Produzenten aller Art, die hier den vielfältigen Kosmos bereichern und mitgestalten. Entwicklung der elektronischen Musik erfahrbar machen Da hat es sehr gut gepasst, dass sich das Team um das Momem die Messe für eine Pressekonferenz ausgesucht hat. Momem steht für "Museum of modern electronic music" und das soll mitten in der Bankenmetropole Frankfurt entstehen. Generationsübergreifend soll hier die Entwicklung der elektronischen Musik, so wie die Bereiche Grafik, Design, Mode, Fotografie, Video und Technik nicht nur ausgestellt, sondern auch haptisch erfahrbar gemacht werden. Spannende Sache, denn Frankfurt galt besonders in den 90er-Jahren als die wichtigste deutsche Technometropole. Alex Azary vom Momem-Team: "Es gibt auf der ganzen Welt noch kein Museum für elektronische Musik und Klubkultur, deswegen haben wir das unter strengster Geheimhaltung vorangetrieben. Es war für uns auch wichtig und der Grund einen Startschuss zu setzen, denn das Projekt wird erst im Jahre 2017 realisiert werden. Wir wollen ein Netzwerk, wir wollen von den Inhalten, die wir da redaktionell zeigen wollen, zu Magazinen, zu Plattformen, zu Bloggern, zu Online-Portalen und zu Leuten aufstoßen, die schon eine gewisse Vorarbeit geleistet haben. Mit denen wollen wir Kooperationen und Netzwerke aufbauen und das wird jetzt so die Arbeit der nächsten zwölf Monate sein und dann schauen wir mal." Im Außenbereich der Musikmesse gibt es am Stand eines bekannten japanischen Instrumentenherstellers ein Konzert des schwedischen Gitarristen Paul Mendonca, der wie viele andere Berufsmusiker hier Instrumente vorführt. Doch manchmal greifen die Hersteller auch zu drastischen Methoden, um die Aufmerksamkeit der Messebesucher auf sich zu ziehen. Aufwendige Instrumentenpräsentation Die amerikanische Firma Gibson lässt Stuntmen beim Airdrome mit über 180 Stundenkilometer durch die Luft pusten oder präsentiert die teuerste Gitarre der Welt, die mit 1,6 Kilo Gold und 400 Karat Diamanten, die im Korpus eingelegt sind, mal eben zwei Millionen Dollar kostet. Warum muss ein so etablierter Hersteller mit solch plakativen Aktionen auf sich aufmerksam machen? Das es auch viel einfacher geht zeigt die Firma Singular Sound aus dem sonnigen Florida mit einer simplen Idee: Sie präsentiert in Halle 4 mit Beat Buddy einen Drumcomputer für Straßenmusiker und Entertainer, den man ganz einfach mit dem Fuß bedienen kann. Perfekt für den schnellen Auftritt. Hands on Music, das Motto der diesjährigen Musikmesse und wo könnte das mehr zutreffen als in Halle 3.1, Klangschalen, Didgeridoos, Perkussionsinstrumente aller Art, Gongs, Flöten und Maultrommeln laden ein zum spontanen Testen und Ausprobieren. Am Stand eines spanischen Herstellers begeisterte Trommler und Percussionisten, die sich zu einer Session getroffen haben. Die Cajon, auch Kistentrommel genannt, erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Einer, der es wissen muss ist Gerhard Priel, Inhaber der deutschen Firma Schlagwerk, die sich auf Perkussionsinstrumente spezialisiert hat, und die auf ein recht erfolgreiches Jahr zurückschauen kann. Die Erfolgsformel der Firma ist dabei recht einfach: "Ich denke, es ist ein Grundbedürfnis vom musizierenden Menschen die Klänge zu spüren, die er produziert. In der Elektronik drückt man auf einen Knopf und eine Taste, dann kommt irgendwas raus, aber hier muss man Hand anlegen. Und ich denke, das ist ein wesentlicher Aspekt, weswegen die akustische Musik nach wie vor brummt."
Von Thomas Elbern
Besonders im Bereich der elektronischen Musik ist die Frankfurter Musikmesse ein wichtiger Anlaufpunkt für Produzenten aller Art. Auf der Messe wird zum Beispiel neueste Musiksoftware vorgestellt. Aber auch Hersteller für akustische Instrumente wie Cajon, Flöte und Gitarre präsentierten sich den Besuchern.
"2015-04-18T15:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:32:26.047000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankfurter-musikmesse-vom-drumcomputer-bis-zur-teuersten-100.html
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Westeuropäische Länder verlieren an Einfluss
Applaus: Thomas Bach und Wladimir Putin auf der Eröffnungsfeier in Sotschi (picture-alliance / dpa / Aleksey Nikolskyi) Die USA bleiben weiterhin die mächtigste Sportnation der Welt – auch wenn das Land in den vergangenen zwei Jahren mehrere Verbandsposten verloren hat. Trotzdem sitzen mehr als 60 US-amerikanische Funktionärinnen und Funktionäre in den Exekutivkomitees von internationalen Sportverbänden. Zum Vergleich: Deutschland kommt auf die Hälfte und belegt damit Rang acht im weltweiten Ranking. Damit verliert Deutschland im Vergleich zur letzten Erhebung vier Plätze. „Ich denke, dass es in Deutschland kein Interesse gegeben hat, international Einfluss zu gewinnen, weil der IOC-Präsident aus Deutschland kommt und man geglaubt hat, man sei im Sport ganz oben angekommen. Aber ich glaube, Deutschland hat vergessen, die nächste Generation von Sportfunktionären zu finden", sagt Poul Broberg vom dänischen olympischen Komitee. 80 Sportverbände untersucht Broberg und seine Kollegen haben mehr als 80 Sportverbände untersucht – vom IOC bis hin zu nicht-olympischen Verbänden wie Darts. Entsprechend haben sie auch die Positionen gewichtet: Für Thomas Bach als IOC-Präsident erhält Deutschland bei der Index-Erstellung 10 Punkte. Für Thomas Konietzko und Klaus Schormann gibt es jeweils acht Punkte – sie führen die Weltverbände der olympischen Sportarten Kanu und Moderner Fünfkampf. Vier Punkte gibt es jeweils dafür, dass zwei Deutsche die nicht-olympischen Verbände für Kegeln und Minigolf leiten. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Deutschland ist aber nicht das einzige westeuropäische Land, das an Einfluss verloren hat. Die Schweiz, Heimat vieler großer Sportverbände, hat seit 2013 viele Posten eingebüßt, genauso wie Spanien. Das könnte nachhaltig beeinflussen, wie sich der Sport in Zukunft entwickelt, meint Broberg: „Einige der ganz wichtigen Debatten über Menschenrechte, Sportswashing, Greenwashing werden oft in diesen Komitees entschieden. Und deswegen ist das für mich der entscheidende Schritt, wenn man tatsächlich Einfluss haben möchte auf diese wichtigen Debatten im Sport.“ Machtverschiebung in Richtung Osten Andere Länder hatten dafür in den vergangenen Jahren mehr investiert, analysiert Broberg. Er sieht in Europa eine Machtverschiebung Richtung Osten: Polen, Rumänien und Ungarn haben ihren Einfluss ausgeweitet. Weitere Gewinner sind Gastgeber von Olympischen Spielen: Japan, China, Australien und Frankreich, der mächtigsten europäischen Sportnation. Sanktionen wegen des Ukrainekriegs "Echte Zwickmühle für Sportverbände" Sanktionen wegen des Ukrainekriegs "Echte Zwickmühle für Sportverbände" IOC-Mitglied Richard Pound stellt im Dlf-Interview die Frage, ob die Regeln der Sportverbände im Falle des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine noch gelten könnten. Zu konkreten Maßnahmen wie dem Ausschluss des russischen IOC-Mitglieds Yelena Issinbajewa will er sich jedoch nicht äußern. Sportverbände und Menschenrechte IOC-Beraterin Davis: "Einfluss früh und andauernd ausüben" Die zwei größten Sportereignisse 2022 finden in Ländern statt, die Menschenrechte missachten. Die Menschenrechts-Expertin Rachel Davis hat für das IOC und die FIFA analysiert, was sie in puncto Menschenrechte tun sollten. Man sehe erste wichtige Schritte, sagte Davis im Dlf. Aber es bleibe noch viel Arbeit. Ein großer Verlierer ist allerdings Russland. Seit 2013 ist das Land von Platz 5 auf Platz 9 abgerutscht – und weil die Daten Ende 2021 erhoben wurden, sind die Folgen der aktuellen Sanktionen noch gar nicht einberechnet. Dass Russland dadurch viele Funktionärsposten verliert, könnte langfristige Folgen haben: „Ich weiß, Russland hat Geld und Firmen, die viel in den Sport investiert haben. Aber sie haben auch die Posten in den Exekutivkomitees sehr offensiv dafür benutzt, um Sport-Events ins Land zu holen. Und es wird interessant sein, zu sehen: Wird Russland da wieder an Boden gewinnen – ohne die Positionen, um Werbung für sich zu machen?“ Katar übt Einfluss über Geld aus Allerdings sagt auch der dänische Sportfunktionär, dass Funktionärsposten nicht alles sind und das Ranking nur einen Teil der Macht im Weltsport widerspiegelt. Katar befindet sich zum Beispiel nicht unter den Top 30 Ländern. Der Wüstenstaat übt seinen Einfluss eher über Geld aus.
Von Maximilian Rieger
Welches Land hat die größte Macht im Weltsport? Diese Frage ist nicht erst durch den Ukraine-Krieg relevant geworden, nachdem Russland über viele Jahre seinen Einfluss in der Welt auch durch Sport ausgeweitet hat. Deutschland verliert in einem aktuellen Ranking des Dänischen Olympischen Komitees einige Plätze.
"2022-06-29T22:50:00+02:00"
"2022-06-29T11:03:17.933000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ranking-maechtigste-sportverbaende-102.html
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Frankreichs Regierung unter Druck
Jeden Tag verlieren im Moment 1000 Franzosen ihre Arbeit, die Arbeitslosigkeit in Frankreich wächst bedrohlich und nähert sich historischen Negativ-Rekorden. Und die Regierung versucht immer noch, sich durchzuwursteln. Will mit ihrem Reformen niemanden so richtig weh tun – und bringt damit trotzdem alle gegen sich auf. Zum Beispiel die Arbeitsmarktreformen, die heute im Kabinett beschlossen werden sollen. "Flexisecurité", also flexible Sicherheit ist da der neue Kernbegriff. Die Möglichkeit von Kurzarbeit oder auch schnellere Entlassungen in Krisenzeiten stehen dahinter. Eine durchgreifende Arbeitsmarktreform ist das nicht, aber trotzdem haben einige Gewerkschaften gestern mobil gemacht. Tausende sind bei 170 Demonstrationen in ganz Frankreich hier auf die Straße gegangen. Dieser Mann hier beklagt eine Wegwerf-Mentalität gegenüber den Arbeitern, die durch das geplante Gesetz zum Ausdruck komme:"In diesen Zeiten den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten, das ist doch nicht gut. Noch mehr Kleenex-Abeiter als heute, nein, da bin ich dagegen!"Der französische Arbeitsmarkt gilt als extrem rigide. Geplante Stellenstreichungen können sich über Jahre hinziehen, Kurzarbeit gibt es nur in Ausnahmefällen. Arbeitsrecht ist in Frankreich vor allem Arbeitnehmerrecht. Gerade Mittelständler sind deshalb froh über die geplanten Änderungen:"Unternehmer entlassen doch nicht gerne. Aber wenn sie entlassen müssen, dann muss es schnell gehen, um schnell wieder auf die Beine zu kommen. Wenn Sie heutzutage Entlassungen auf den Weg bringen, dann wissen Sie nicht wie lange es dauert. Wenn Sie ein Jahr weiter Geld zahlen müssen, das Sie nicht haben, können Sie im Extremfall ein Unternehmen an die Wand fahren."Doch etwas mehr Kurzarbeit und schnellere Möglichkeiten, in Krisenzeiten zu entlassen – das sind angesichts der Probleme der französischen Wirtschaft nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes ist es schlecht bestellt. Die Industrie des Landes ist wenig spezialisiert, die Produktionskosten dagegen sind überdurchschnittlich hoch. Die 35 Stunden-Woche, der frühe Renteneintritt, die hohen Sozialabgaben, die erdrückende Staatsverschuldung, der überbordende Staatsapparat. Präsident Hollande lässt auch fast neun Monate nach seiner Wahl noch immer keinen klaren Kurs erkennen, wo er nun ansetzen will. Eine Art Investitionsprogramm von 20 Milliarden Euro wurde mit großem Tamtam lanciert. Doch dieser Versuch, die Beschäftigungskosten der Betriebe über Steuergutschriften zu reduzieren ist so kompliziert, dass die Regierung nun mit einer Anzeigenkampagne für ihre Maßnahme werben muss. Eigentlich hatte Präsident Hollande hoch und heilig versprochen, dass die Arbeitslosigkeit bis Ende des Jahres wieder sinken soll. Langsam dämmert offenbar auch ihm, dass das fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Diplomatisch beginnt er zurückzurudern:"Ich gebe noch nicht auf. Wenn es uns gelingt, wirtschaftlich wieder an Fahrt aufzunehmen, dann können wir das Ziel noch erreichen."Wirkliche Überzeugung klingt anders. Doch warum ringt Frankreichs Regierung sich nicht zu durchgreifenden Reformen durch' Es hat den Anschein, als bewege sie sich nur in Trippelschritten mal nach links, mal in Richtung Mitte. Und trotzdem fragen sich immer mehr Wähler vom Sozialisten Francois Hollande, wie dieser Demonstrant gestern in Toulouse:"Wo ist denn das linke in dieser Regierung? Wo ist denn der Mensch in all dem? Es geht nur noch ums Geld und für den Menschen ist kein Platz mehr."Immerhin wird Frankreichs Präsident erleichtert sein, dass gestern weniger Menschen als befürchtet gegen die geplanten Arbeitsmarktreformen, über die das Parlament dann im April beraten soll, auf die Straße gegangen sind. Es waren nur einige tausend und nicht hunderttausend, wie die Gewerkschaften angekündigt hatten. Das kann aber auch daran liegen, dass die bisher verkündeten Reformen eher Reförmchen sind. Von einer radikalen Reformkur wie Deutschland sie vor zehn Jahren mit den Hartz-Reformen erlebt hat, ist Frankreich noch meilenweit entfernt.
Von Daniela Kahls
Jeden Tag verlieren im Moment 1000 Franzosen ihre Arbeit. Mit einer Arbeitsmarktreform will die Regierung Hollande das Ruder rumreißen. Doch obwohl die geplanten Änderungen eher halbherzig sind, gehen die Gewerkschaften und große Teile der französischen Bevölkerung auf die Barrikaden.
"2013-03-06T09:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:10:04.681000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-regierung-unter-druck-100.html
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Dienen für den Dschihad
Nach der Scharia sollen die Frauen sich verhüllen. (picture alliance / dpa) Es ist eine Art Dschihadisten-Knigge; eine Anleitung zum richtigen - also moralisch-sittlich-einwandfreien - Leben; mit dem Titel: "Frauen des Islamischen Staates. Ein Manifest über die Frau". Herausgegeben wurde die Schrift im Januar vom Propagandaflügel der Khanssaa-Brigade, einer rein weiblichen Einheit in der Terrororganisation, die sich Islamischer Staat nennt. Sie richtet sich - selbstverständlich! - an Mädchen und Frauen im Herrschaftsgebiet des IS, aber auch außerhalb. "Verstädterung, Modernität und Mode wurden vom Bösen geschaffen - in Modeläden und Schönheitssalons." Das Traktat versucht im ersten von insgesamt drei Teilen westliche Zivilisation und westliches Denken zu widerlegen - westliche Wissenschaften, westliche Erziehungsmodelle, westlichen Feminismus und westliche Emanzipation: "Das von Ungläubigen im Westen bevorzugte Modell versagte, in dem Moment, in dem Frauen aus ihrer Zelle im Haus ‚befreit' wurden. Ein Problem nach dem anderen tauchte auf, nachdem sie korrupte und schäbige Ideen anstelle von Religion annahmen." Eine irgendwie alt-bekannte Kulturkritik, die auch auf aktuelle Errungenschaften abzielt. Dieses Zitat könnte jedenfalls als Verdammung des deutschen Erziehungsgeldes zu verstehen sein: "Der Irrtum wurde offensichtlich, als Regierungen anfingen, jenen Frauen Geld zu zahlen, die nachhause zurückkehren und Kinder erziehen, letztlich offen akzeptierend, dass sie Hausfrauen sind." Wann ist eine Frau eine Frau? Grotesk, absurd und - ja - erwartbar ist die West-Kritik, genau wie der zweite Teil des IS-Frauen-Manifestes. Er widmet sich dem, was das weibliche Geschlecht angeblich leisten darf - und soll. Und was nicht - und wann überhaupt eine Frau Frau ist: "Es gilt, als legitim für ein Mädchen im Alter von neun Jahren zu heiraten. Die meisten reinen Mädchen heiraten mit 16 oder 17, wenn sie noch" - klar! "jung und aktiv sind." Prinzipiell gilt für die Frau: "Ihr Schöpfer hat festgelegt, dass sie nicht mehr Verantwortung hat, als dass sie Frau ihres Mannes ist." Sie hat ihm mithin zu Willen zu sein; ihm Kinder zu gebären und diesen Nachwuchs aufzuziehen. Und das hinter den schützenden Mauern ihres Zuhauses: "Es ist immer wünschenswert für eine Frau, unsichtbar und verhüllt zu bleiben, um die Gesellschaft aus dem Verborgenen heraus zu unterstützen." Ausnahmen bestätigen auch im Islamischen Staat die Regeln: "Frauen können ausgehen, um der Gemeinschaft zu dienen." Zum Beispiel, um Religion - den Islam - zu studieren, oder als Ärztinnen oder Lehrerinnen zu arbeiten. "Aber sie müssen sich strikt an die Richtlinien der Scharia halten." Das islamische Recht, das wie gesagt, verhüllende Kleidung fordere. Und noch einer Aufgabe dürfen sich Frauen außerhalb ihres Zuhauses hingeben: "Dschihad (heiliger Krieg) - wenn der Feind ihr Land angreift." Grotesk, absurd und voller Klischees Wie sich dieser Kampf für die Khanssaa-Brigade, der Herausgeberin des "Manifestes über die Frau" gestalten kann, haben IS-Kämpferinnen in einem typischen Propaganda-Video der Terrororganisation erklärt: "Wir, die freien Frauen des Irak, richten diese Botschaft aus Anbar, dem Land des heiligen Dschihad und der Heldentaten, an die Ratten der grünen Zone (des Hochsicherheitsareals für Regierungsstellen und Botschaften) in Bagdad. Und wir sagen ihnen: Die Stunde der Erlösung ist gekommen, Eure Ungerechtigkeit ist beendet und der Beginn der Revolution in Anbar ist nur das erste Anzeichen dafür, dass der Marsch auf Bagdad begonnen hat, um den Irak vor Eurer Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Korruption zu retten. Die guten Revolutionäre sind höchst entschlossen, Euch zu besiegen und unsere Brüder und Schwestern aus Euren Gefängnissen zu befreien und all unsere geraubten Rechte zurückzugewinnen. Wir werden die Mauern der grünen Zone auf Euren Köpfen zerstören und den Irak seinen Bürgern zurückgeben!" Fehlt noch der dritte Teil des IS-"Manifestes über die Frau": Er wird "Fallstudie" genannt - zum Leben der Frauen im sogenannten Kalifat, eben im selbsternannten Islamischen Staat, an den Beispielen der Städte Mossul/Irak, und Raqqa/Syrien. Unnötig darauf hinzuweisen, dass dieses Leben als besser und erfüllter dargestellt ist als das in Europa oder in Saudi-Arabien. Unerwähnt bleiben - logisch! - die Versklavung von Frauen oder bestialische Morde an jenen, die gegen die IS-Gesetze verstoßen haben. In der menschenverachtenden Gesamt-Ideologie des IS ist das "Manifest über die Frau" nur konsequent. Wobei die meisten Passagen wohl für alle Islamisten gelten - und manche Passagen durchaus auch Handbüchern christlicher oder jüdischer Fundamentalisten entstammen könnten und der Ideenwelt der sexistischen Internationalen sowieso. Darum ist die Schrift zwar alles in allem grotesk, absurd und voller Klischees. Aber deshalb ist sie vor allem auch eines: so traurig wie der globalisierte Fundamentalismus insgesamt. Und für jeden halbwegs vernünftigen Menschen abstoßend - ob Jude, Christ oder Muslim. Das Manifest ist übrigens übersetzt: von der Quilliam-Stiftung, einer britischen Denkfabrik, die sich dem weltweiten Anti-Extremismus verschrieben hat.
Von Björn Blaschke
Beim IS haben Frauen eine genau definierte Funktion - nachzulesen in einem 40-seitigen Pamphlet der Frauengruppe der Terrormiliz. Das Dokument dient wohl zu Rekrutierungszwecken und zeigt, dass der IS Gewalt gegen Frauen in seinem Herrschaftsbereich systematisch einsetzt.
"2015-03-07T15:41:00+01:00"
"2020-01-30T12:25:21.898000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauen-im-islamischen-staat-dienen-fuer-den-dschihad-100.html
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Schreckliches Blau
Als 1997 Woolworth aus Amerika verschwand, gab das eine ziemliche Aufregung, denn Woolworth, das war schließlich Amerika, andererseits, was ist amerikanischer als "change"? Um das Ganze zurechtzurücken, erschien damals in der "New York Times" eine fiktive Rückschau aus dem späteren 21. Jahrhundert, in der es die überlegene Supermarktkette Wal-Mart ist, die ihre Pforten schließen muss, Titel: Als Wal-Mart uns zum Weinen brachte. Was 1997 als ungemütlicher, aggressiver Billig-Hypermarkt das plumpe Gegenbild zum patinösen Woolworth-Charme abgab, bringt mit seinem Verschwinden im Jahr 2050 die Fans zum Heulen. Ja die Zeit schafft sentimentale Bindungen, auch der Drogeriemarktkette Schlecker hätte das ja keiner vorausgesagt, als sie Anfang der 70er-Jahre auf den Plan trat, so wie sie aussah.Überhaupt Drogeriemärkte: Auf die Idee, dass es einen Bedarf an Putzmitteln und Sanitärartikeln geben könnte, der über das Angebot einer mittleren Drogerie hinausginge, musste man erst mal kommen, aber als die Ersten sich über das sagenhafte Angebot an verschiedenen Klopapiersorten zu wundern begannen, waren die kleinen Drogerien weg und Schlecker samt Konkurrenten längst etabliert. Wegen der kleinen Drogerien weinten viele, über die stadtbildverheerende Schleckerexpansion verlor kaum einer Worte, vielleicht, weil auf der in Deutschland gültigen Werteskala ein annehmbares Stadtbild zu weit hinter Geiz und Putzmitteln und erst recht hinter der Kombination aus beidem rangiert. Das aggressiv-knallblaue Signal der Billigkeit durfte, Gestaltungssatzungen bringen bei uns ja nicht viel, noch die schönsten Fassaden verhunzen und der lebendigsten Straße eine Ahnung kommender Verwahrlosung verpassen; wer Schlecker deshalb boykottierte, fühlten sich fast bestätigt, als die Öffentlichkeit weit Schlimmeres über die Filialen erfuhr, von schlechter Bezahlung, Unterbesetzung und daraus folgenden Raubüberfällen.Heute, zumal diese kruden Verhältnisse sich offenbar geändert haben – was sich auch im vor einem Jahr erneuerten Design ausdrückt, aber da Schwamm drüber –, heute bringt das mögliche Verschwinden von Schleckerfilialen manche Menschen schon wieder zum Weinen. "Kieztreff in Gefahr" titelt der Tagesspiegel. Denn, gerade in abgehängten Stadtvierteln, dort, wo ein Ladenfenster nach dem anderen erblindet ist, wer blieb am Ort, wer zog hier in den letzten Jahren immer noch gern ein? Genau. Und wo ringsum wenig los ist, kann eine Drogeriemarktfiliale es zum Tante Emma Laden bringen. Wie sagt der vom Tagesspiegel befragte Kunde? "Schlecker hat so 'nen Vorstadtcharme." Und überhaupt ist er ja mit Schlecker aufgewachsen.
Von Beatrix Novy
Die Drogeriekette Schlecker hat beim Amtsgericht Ulm Insolvenz angemeldet. Viele Schlecker Märkte dürften alsbald also nicht mehr "For You. Vor Ort“ sein. Ein kultureller Abgesang aufs Treueblau der Firma.
"2012-01-23T17:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:42:04.729000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schreckliches-blau-100.html
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"Über Innovationen nachhaltigen Klimaschutz voranbringen"
Mehr Innovationen und Anreize statt mehr Beschränkungen und Auflagen fordert Georg Nüßlein (CSU) für den Klimaschutz in Deutschland (dpa/Soeren Stache) Die Coronakrise stellt die internationalen Bemühungen um den Klimaschutz vor neue Herausforderungen. Die diesjährige Weltklimakonferenz COP 26, geplant in Glasgow, musste verschoben werden, der 11. Petersberger Klimadialog findet zwar satt – aber anders als in den vergangenen Jahren. Normalerweise treffen sich auf dem Bonner Petersberg die Umweltminister aus aller Welt persönlich, um die nächste große Klimakonferenz der Vereinten Nationen vorzubereiten. Dieses Mal geschieht das per Videoschalte. Dabei stehen auch die Folgen und Auswirkungen der Coronapandemie mit auf der Agenda. Klimaforscher: Coronahilfen mit grünen Kriterien verbinden Man müsse aus der Finanz- für die Coronakrise lernen, dass Konjunkturpakete auch grüne Elemente beinhalten, sagte der Klimaforscher Oliver Geden. Sollte der Staat bei der Lufthansa einsteigen, könnte man dies an Klimabedingungen knüpfen. Eine Gefahr für die Klimaziele wegen der Coronakrise sehe er nicht, sagte Georg Nüßlein, stellvertretender Vorsitzender der Unions-Fraktion im Bundestag und dort verantwortlich für steuerliche Belange der Klimapolitik der Union, im Dlf-Interview. Allerdings müsse sich eine sinnvolle Klimaschutzpolitik innovationsfreundlich zeigen. Auf Effizienzen und Innovation setzen Christiane Kaess: Der Industrieverband BDI sagt, wegen der Corona-Krise sollten die bisherigen Klimaziele überprüft werden. Kommt der Klimaschutz wegen Corona unter die Räder? Georg Nüßlein: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, diese Bedenken haben nur diejenigen, die einen falschen Ansatz im Klimaschutz hatten. Der Ansatz, der geheißen hat: Dieses reiche Deutschland kann sich alles leisten, alles erlauben. Das war nie unser Thema. Unser Thema war immer, tatsächlich auf Effizienzen zu setzen und auf Innovation. Das heißt: Ein Klimaschutz, so wie ich ihn gerne sehe und vertrete, wird dabei nicht unter die Räder kommen, wohl aber der, der auf Rezession, auf weniger ist mehr, auf Ansätze setzt, die tatsächlich auch wettbewerbsverzerrend sind. Der wäre aber so oder so, auch ohne Corona hoch problematisch gewesen. Bremst die Coronakrise den Klimaschutz aus?Umweltexperten warnen davor, auch in der Coronakrise langfristige Herausforderungen wie den Klimaschutz nicht aus den Augen zu verlieren. Andere fordern, die angeschlagene Wirtschaft nicht noch mehr zu belasten. Kaess: Sie sprechen die finanziellen Seiten an. Das Argument des BDI ist ja genau, vielen Firmen fehlt jetzt das Geld für Klimaschutz. Nüßlein: Ja. Wir werden uns nach den Liquiditätsmaßnahmen, die wir momentan im Vordergrund haben, über Konjunkturpakete unterhalten müssen, über die Frage: Wie kann man die Investitionsmöglichkeiten der Unternehmen stärken? Das braucht man und da braucht man natürlich Innovation in tatsächlich innovative Themen. Da gehört der Klimaschutz mit dazu. Ich mache mir da keine Sorgen, aber wir werden uns überlegen müssen, wie stärken wir die Investitionskraft. Breits strenge Umweltauflagen in Deutschland Kaess: Es gibt ja so was wie eine Spaltung in der Wirtschaft im Moment. Gegenüber dem BDI stehen auf der anderen Seite 70 Unternehmen, die haben sogar in einem Appell gefordert, dass man die Konjunkturprogramme, die Sie gerade schon angesprochen haben, an Umweltauflagen knüpft. Ist das ein Sinneswandel? Nüßlein: Zunächst mal haben dieselben Unternehmen auch formuliert: Es muss in einer globalisierten Welt vermieden werden, dass es zu internationalen Wettbewerbsverzerrungen auf Kosten europäischer Unternehmen kommt. Das heißt, die sehen sehr wohl die Problematik. Zweitens - und das möchte ich mal ganz dick unterstreichen: Jede Investition in Deutschland unterliegt strengen Umweltauflagen, und darum ist der Umweltzustand in Deutschland heute auch bei vielen Indikatoren besser als vor Jahrzehnten. Wenn Sie sich den Luftschadstoff-Index des UBA angucken – das ist etwas, was standardisiert ist aufs Jahr 2005 mit 100 Prozent -, dann sind wir heute, Ziel 2020, bei 79 Prozent und werden wahrscheinlich darunter kommen, was an der konjunkturellen Lage liegt. Das heißt: Eine Institution in Deutschland unterliegt strengen Umweltauflagen. Da müssen wir uns nicht irgendwie was vormachen an der Stelle. Und ich will, dass das so bleibt. Aber ich will auch, dass wir gleichzeitig Innovationskraft stärken. Klimaforscher: "Der Klimawandel macht keine Pause"Fridays for Future streikt wieder – in Zeiten der Corona-Pandemie aber nur digital. Der Protest sei wichtig, denn die Klimakrise sei eine noch größere und lang anhaltendere Krise als Corona, sagte der Klimaforscher Wolfgang Lucht im Dlf. Kaess: Herr Nüßlein, dieser Aufruf, dieser Appell ist dennoch von vielen so wahrgenommen worden, als wäre das jetzt ein Sinneswandel, und da hat man sich doch gefragt, woher kommt der jetzt. Nüßlein: Ich sehe den nicht, den Sinneswandel, sondern das sind die, die schon… Dieser Aufruf ist von der Stiftung Zwei Grad. Da sind 60, 70 große Unternehmen drin, die immer schon gesagt haben, man muss die wirtschaftliche Situation mit dem Klimaschutz sinnvoll verbinden. Ich bin da durchaus auch der Meinung. Aber wir müssen natürlich die Dinge sinnvoll machen. Das heißt: Wir werden jetzt nach dieser Krise uns auch überlegen müssen: Was bringt denn der eine Euro, den man einsetzt, tatsächlich dem Klimaschutz - mehr Effizienzgedanken. Ich bin da zum Beispiel der Meinung, dass es manchmal sinnvoll wäre, den einen Euro lieber in den Regenwaldschutz zu stecken, als noch mal einen Zentimeter mehr Styropor auf unsere Hauswände zu kleben. Kaess: Aber, Herr Nüßlein, wenn die Firmen das selbst jetzt schon fordern, dann hat doch die Politik den Weg frei für noch mehr Klimaschutz. Warum wollen Sie diese Chance nicht ergreifen? Nüßlein: Wer sagt denn, dass ich den nicht ergreifen will! Innovationskraft der Wirtschaft stärken Kaess: Sie haben es gerade so dargestellt. Sie haben gesagt, es gibt schon die Auflagen, da ist eigentlich kein Bedarf, irgendetwas zu verschärfen. So habe ich Sie verstanden. Nüßlein: Nein, nein! - Moment! - Zunächst mal sage ich: Eine Investition in Deutschland unterliegt strengen Umweltauflagen. Das heißt, wir müssen uns da nichts zusätzlich, was die Umweltauflagen angeht, einfallen lassen, sondern die Dinge sind streng. Zweitens: Wir werden aus meiner Sicht im Klimaschutz nicht mit Auflagen und Beschränkungen arbeiten müssen, sondern wir müssen im Klimaschutz unter der neuen Situation noch stärker auf das Thema Innovation und Anreize setzen. Ich habe vorhin gesagt, ganz deutlich: Der Ansatz derjenigen ist falsch, die sagen, wir können uns alles leisten, das spielt alles keine Rolle, dieses Land ist reich und so weiter. Das ist alles überholt an der Stelle. Wir müssen den Ansatz, den ich persönlich und auch meine Fraktion immer vertreten haben, stärker nach vorne bringen: Stärken wir die Innovationskraft dieser Wirtschaft und sorgen wir dafür, dass über Innovationen am Schluss tatsächlich nachhaltig der Klimaschutz vorangebracht wird. Das ist das Entscheidende, nicht das, was die andere Seite will, die sagt, wir haben genügend Geld, wir können das alles irgendwie machen, weniger ist mehr und diese ganzen Dinge. Die sind in der jetzigen Situation nicht mehr das, was ganz vorne auch richtig steht. Deutschlands Wirtschaft und das CoronavirusDie Börsen brechen ein, Geschäfte haben nur teilweise geöffnet. Neben wenigen Corona-Gewinnern gibt es vor allem Verlierer. Die Politik hilft mit umfangreichen Programmen. Ein Überblick. Kaess: Dann können wir schon festhalten, Herr Nüßlein, wenn ich Sie richtig verstehe, dass Sie bei dieser Richtungsverschärfung, die ja Bundesumweltministerin Schulze jetzt andenkt, dass Sie da nicht mitgehen würden? Nüßlein: Nein. Das was die Frau Schulze hier konstruiert und bemüht, den Zusammenhang zwischen Corona und Klimawandel hin zur Thematik, das hätte irgendwie tatsächlich was miteinander zu tun, schon vom Ursprung her, das kann ich nicht nachvollziehen. Kaess: Aber stellt sie diesen Zusammenhang denn tatsächlich her? Denn geht es nicht vielmehr darum, dass man sagt: Jetzt hat Corona dem Klima einen Vorteil verschafft, weil es zum Beispiel wesentlich weniger CO2-Ausstoß gibt, und wie können wir diesen Vorteil jetzt aufrecht erhalten? Nüßlein: Zunächst mal behauptet die Ministerin, dass der Verlust von natürlichen Lebensräumen den Viren es dann umso einfacher macht, vom Tier auf den Menschen überzugehen. Klimaziele stehen nicht in Frage Kaess: Da ist ja nicht nur die Ministerin mit dieser Meinung alleine. Nüßlein: Ja, gut! Aber Sie haben mich nach der Ministerin gefragt. Und ich sage Ihnen, das ist Unfug, denn Pandemien hat es letztendlich früher auch schon gegeben. Ich verstehe nicht, warum man jetzt hier Zusammenhänge konstruieren muss und sich so bemüht gibt, plötzlich mit dem Thema wieder nach vorne zu kommen. Es gibt überhaupt keinen Grund, jetzt so zu tun, als würde irgendjemand das Thema Klimaziele in Frage stellen. Aber wir werden uns unter der neuen Situation mit knapperen Ressourcen intensiver Gedanken machen, wie kommen wir ans Ziel. Ich will ans Ziel kommen und ich will nicht haben, dass am Schluss den wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieses wichtige Thema Klimaschutz zum Opfer fällt, weil wir es falsch machen. Und es ist falsch, in der jetzigen Situation nur zu sagen, wir machen es noch strenger, wir machen es noch schärfer, wir machen mehr Auflagen und und und, und wenn das die Betroffenen, die Bürger und die Unternehmen, dann nicht erfüllen können, ist das deren Problem. Das wird nicht funktionieren. Funktionieren wird am Schluss ein Klimaschutz, bei dem Sie auf Innovation setzen und auch die Frage der Effizienz des Mitteleinsatzes richtig einschätzen. Kaess: Neu ist allerdings an der Situation, dass jetzt über wirtschaftliche Konjunkturprogramme gesprochen wird. Nehmen wir doch mal ein Beispiel raus, das recht prominent ist. Die Autoindustrie verlangt jetzt staatliche Prämien. Ist das richtig für eine Branche, der schon oft vorgeworfen wurde, sie hätte die Umstellung auf mehr Klimaschutz verschlafen? Nüßlein: Jetzt können wir natürlich gerne miteinander darüber diskutieren, wer an was schuld ist. Die Branche hat ihre Dinge verschlafen zum Teil. Die haben auch mit ihrem Dieselbetrug etwas dem Klimaschutz einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur auf Elektromobilität setzen Kaess: Also müsste man direkt eine Absage an diese Abwrackprämie erteilen? Nüßlein: Das können Sie sich überlegen, ob Sie sagen, da machen wir einfach mal eine Absage und gucken, was passiert, oder überlegen wir uns, wie man am Schluss gemeinschaftlich diese Automobilindustrie, auf die ich immer noch stolz bin in dem Land, wie man die wieder nach vorne bringt. Da gehört für mich dazu mehr "Made in Germany". Da gehört für mich dazu mehr Effizienz der Motoren. Autobranche in Coronazeiten - Zum Umbruch kommt die KriseDie Corona-Pandemie hat die deutsche Automobilindustrie schwer getroffen. Die Produktion stand wochenlang still, Lieferketten sind zusammengebrochen. Die Hersteller hoffen nun, dass der Staat ihnen wieder auf die Beine hilft. Kaess: Und eventuell auch, wenn ich da kurz noch reingehen darf, Herr Nüßlein, denn den Punkt möchte ich Sie gerne noch fragen, und eventuelle eine Frage für E-Autos, für den Kauf von E-Autos. Nüßlein: Nein, nicht ausschließlich. Da bin ich kritisch. Ich glaube, der Ansatz, nur Elektroautomobilität, ist falsch. Wir brauchen Hybridmodelle aus meiner Sicht und wir brauchen insbesondere auch effiziente Motoren, die dann beispielsweise Biokraftstoffe verarbeiten. Ich glaube, dass der einsätzige Ansatz, wir machen das alles elektromobil, falsch ist, weil er implizit auch den Gedanken hat, wir machen weniger Individualmobilität. Und das werden sich die Menschen nicht gefallen lassen – gerade auch in Corona-Zeiten, wo man sieht, dass die Ansteckungsgefahr in öffentlichen Verkehrsmitteln auch entsprechend hoch ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georg Nüßlein im Gespräch mit Christiane Kaess
Beim Klimaschutz müsse infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise in Deutschland weniger mit Auflagen und Beschränkungen gearbeitet werden, sagte der CSU-Politiker Georg Nüßlein im Dlf. Stattdessen sollte man stärker auf Innovationen und Anreize setzen.
"2020-04-28T12:20:00+02:00"
"2020-04-29T08:56:36.022000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaschutz-nach-der-coronakrise-ueber-innovationen-100.html
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In Moskau erinnern Tausende an Kreml-Kritiker Nemzow
Gedenken an Boris Nemzow - ein Jahr nach seiner Ermordung in Moskau. (AFP / KIRILL KUDRYAVTSEV) Schweigend zogen die Menschen im Gedenken an Boris Nemzow durch das Zentrum von Moskau. Viele hatten Blumen dabei und Fotos des getöteten Oppositionspolitikers. Auf einem Transparent an der Spitze des Trauerzuges stand: "Für die Wahrheit ermordet." "Wenn in einem Land ein solcher Mord möglich ist, ist das eine Schande für die Regierung. Unser Land geht den Bach runter. Vielleicht sind wir bald am Boden, dann geht es wenigstens wieder bergauf." So die Rentnerin Lilija Orlowa. Für viele Russen verkörperte er politischen Anstand Boris Nemzow war vor einem Jahr kurz vor Mitternacht in nur 200 Meter Entfernung vom Kreml hinterrücks erschossen worden. Er war in den 90er Jahren stellvertretender Premierminister Russlands. Als Wladimir Putin vor mehr als 15 Jahren an die Macht kam, begann sein politischer Abstieg. Zuletzt saß Nemzow in einem Regionalparlament. Für viele Russen verkörperte er politischen Anstand, denn er machte immer weiter, organisierte friedliche Proteste, kritisierte Korruption in höchsten Regierungskreisen, prangerte die Aggression Russlands gegen die Ukraine an. Die Managerin Xenia Ivanova nahm gemeinsam mit Freunden an dem Trauermarsch teil. "Er war ein Symbol. Dafür, dass man optimistisch bleiben kann, selbst in so einer Situation wie heute. Sie sind zwar nicht wahrscheinlich, aber ich hoffe immer noch auf Veränderungen in Russland. Wir müssen heute ein Signal setzten und zeigen, dass es durchaus noch sehr viele Menschen gibt, die mit der Regierung nicht einverstanden sind." Die größte Veranstaltung der Opposition seit einem Jahr Unabhängige Beobachter zählten 22.000 Teilnehmer, die Polizei sprach von 7.500. Es war die größte Veranstaltung der Opposition seit dem Trauermarsch für Boris Nemzow vor einem Jahr. Die Bevölkerung ist passiv, viele haben sich ins Private zurückgezogen. In den vergangenen Monaten haben mehrere Oppositionelle und regierungskritische Journalisten Todesdrohungen erhalten, vor allem aus der russischen Nordkaukasusrepublik Tschetschenien. Dorthin führen auch die Spuren im Nemzow-Mord. Wenige Tage nach der Tat wurden fünf Tatverdächtige aus Tschetschenien festgenommen. Sie haben zum Teil gestanden. Die Hintermänner sind hingegen auf freiem Fuß. Ein Mann ist zur Fahndung ausgeschrieben, ein Chauffeur. Er soll den Mord nach Ansicht der Ermittler in Auftrag gegeben haben. Vorwürfe gegen den tschetschenischen Ministerpräsidenten Journalisten und Vertraute Nemzows haben eigene Untersuchungen angestellt. Sie vermuten, dass die wahren Drahtzieher viel höher angesiedelt sind, dass der Chef der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, die Hintermänner deckt, ja dass er sogar selbst an dem Verbrechen beteiligt ist. Ilja Jaschin von der Partei Parnas, deren Co-Vorsitzender Boris Nemzow war: "Die Leute, die Nemzow umgebracht haben, sind mit dem Umfeld Kadyrows verbunden. Ich habe große Zweifel, dass sie handeln konnten, ohne das mit Ramsan Kadyrow abzustimmen." Wenn die Auftraggeber ungestraft blieben, würden die politischen Morde in Russland weitergehen, so Oppositionspolitiker Jaschin. Der Tschetschene Kadyrow meldete sich heute in einem Interview zu Wort. Er sagte, Boris Nemzow habe ihn nicht gestört, er sei unter seinem Niveau gewesen. Im Anschluss an den Gedenkmarsch legten viele Teilnehmer am Tatort in Kremlnähe Blumen nieder. Die Polizei war präsent. Es blieb friedlich.
Von Gesine Dornblüth
Ein Jahr nach der Ermordung von Boris Nemzow haben in Moskau Tausende an einem Trauermarsch für den früheren russischen Oppositionspolitiker teilgenommen. Unabhängige Beobachter zählten 22.000 Menschen, die Polizei sprach von 7.500.
"2016-02-27T18:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:16:03.929000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ermordung-vor-1-jahr-in-moskau-erinnern-tausende-an-kreml-100.html
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Mit Herzblut und gutem Geschmack
Seit der Saison 2018/19 neuer Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie: Semyon Bychkov (Marco Borggreve) Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 1 g-Moll "Ich bin nutzlos, ich bin eine Null". So deprimiert klagte Peter Tschaikowsky im Jahr 1886, von Selbstzweifeln geplagt, als er mit der Arbeit an seiner ersten Sinfonie nicht vorankam. Damals war der Komponist 26 Jahre alt. Später verharmloste er das Werk als "eine Sünde meiner süßen Jugendzeit." Semyon Bychkov sieht das ganz anders. Der amerikanische Dirigent russischer Abstammung hat mit der Tschechischen Philharmonie sämtliche Sinfonien von Tschaikowsky eingespielt und schätzt auch die erste mit dem Titel "Winterträume" sehr, wie er im Beiheft zur CD-Box bekennt:"...seine wunderbare Begabung wird schon früh in den "Winterträumen" deutlich klar, insbesondere in dem faszinierenden langsamen Satz." Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 1 g-Moll Der warme Streicherklang gilt als das vielleicht markanteste Merkmal der Tschechischen Philharmonie. Er prägt auch die Tschaikowsky-Aufnahmen unter Leitung von Semyon Bychkov, die über einen Zeitraum von vier Jahren entstanden und jetzt als Box unter dem Motto "The Tschaikowsky Project" erschienen sind. Die erste Sinfonie ist der Auftakt zu einer spannenden Neubegegnung. Tschaikowskys Musik wird hierzulande ja mitunter als kitschig abgetan, aber diesen Eindruck korrigiert Bychkov in seiner neuen Einspielung mit Nachdruck, Herzblut und gutem Geschmack. Bei ihm wirkt die Ausdruckskraft nicht sentimental, sondern authentisch. Gemeinsam mit der Tschechischen Philharmonie durchlebt er die Kontraste der Werke, wie in der sechsten, der wohl bekanntesten Sinfonie von Tschaikowsky, mit dem Titel "Pathétique". Nach dem düster brütenden Beginn, in dem der Komponist auf Geigen und hohe Bläser verzichtet, stürzt sich der erste Satz der Sinfonie in eine dramatische Steigerung. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 6 h-Moll Das ist ebenso packend wie präzise musiziert. Die Aufnahme der sechsten Sinfonie, "Pathétique", liefert einen von vielen Belegen für das hohe Niveau der Tschaikowsky-Einspielung aus Prag. Semyon Bychkov, mit der Tschechischen Philharmonie schon länger eng verbunden und nach dem Tod von Jiří Bělohlávek im Jahr 2017 zu deren Chefdirigent berufen, formt mit seinen Musikern eindringliche Interpretationen. Dabei wahrt er aber immer einen gerundeten, homogen gemischten Klang, auch wenn Tschaikowsky das Orchester ins forte oder fortissimo führt. Diese Vortragsanweisungen lassen sich natürlich auch anders lesen, als Hinweis auf grelle Farben. So hat es etwa der legendäre russische Dirigent Jewgenij Mrawinsky verstanden. Hier ein kurzer Ausschnitt aus Mrawinskys Aufnahme der vierten Sinfonie von Tschaikowsky mit den Leningrader Philharmonikern, die in den 1950er Jahren entstanden ist. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll Beim russischen Orchester hat der Beginn der Vierten eine klangliche Schärfe, die der neuen Aufnahme aus Tschechien ganz fremd ist. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll Noch weiter klaffen die Vorstellungen im Finale der Sinfonie auseinander. Jewgenij Mrawinsky lässt das Stück förmlich explodieren, seine Leningrader Philharmoniker spielen wie die Teufel. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll An diese fiebrige Hitze reicht die Interpretation von Semyon Bychkov nicht heran und will es wohl auch gar nicht. Im direkten Vergleich wirkt das Finale der Vierten deshalb eher gezügelt und fast ein bisschen brav. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll Große Leidenschaft und Herzenswärme Das Feuer, das Tschaikowsky mit der Vortragsbezeichnung Allegro con fuoco einfordert, zündet Semyon Bychkov hier, im Finale der vierten Sinfonie, vielleicht eine Spur zu kontrolliert. Doch das ist eher die Ausnahme. Insgesamt neigen die Interpretationen keinesfalls zur Kühle, sondern sind von einer großen Leidenschaft und Herzenswärme getragen. Kein Wunder, schließlich ist die Musik von Tschaikowsky für Bychkov eine Kindheitsliebe, wie er im Beiheft der CD-Box betont. Diese enge Verbindung ist auch in den weniger bekannten Orchesterwerken zu spüren. In der Manfred-Sinfonie, mit ihrem Gegensatz aus Schwermut und ekstatischem Rauschen, aber auch in der selten aufgeführten dritten, der so genannten "Polnischen" Sinfonie. Im Andante elegiaco der Dritten schenkt Tschaikowsky den Geigen ein schwärmerisches Thema, das sich im Mittelteil verströmt. Dieses Thema lässt Bychkov mit Emphase und glühendem Ton aussingen. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 3 D-Dur Da ist er wieder zu spüren, der sinnliche Streichersound der Tschechischen Philharmonie. Das Orchester gilt nicht umsonst als Klangkörper der europäischen Spitzenklasse, auch die Bläser sind exzellent besetzt. Sie haben bei Tschaikowsky reichlich Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Semyon Bychkov gibt ihnen Raum, zu atmen und ihre warmen Farben zu entfalten, wie im Andante aus der fünften Sinfonie mit seinem herrlichen Hornsolo. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 5 e-Moll Das ist nicht nur vom Solohornisten sehr schön gespielt, sondern auch vom Rest des Orchesters sensibel begleitet und eingebettet und vom Aufnahmeteam differenziert eingefangen. Selbst in üppiger besetzten Passagen bleibt der Klang der Einspielung gut durchhörbar, wie im weiteren Verlauf des Andante aus der Fünften, wenn Tschaikowsky sich und den Hörern eine romantische Schwelgerei gönnt. Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 5 e-Moll Virtuosität und Wachsamkeit Semyon Bychkov modelliert mit seinem Orchester natürliche Spannungsverläufe, so wie hier, im Andante aus der fünften Sinfonie, das erst aufblüht und dann allmählich zurück sinkt. Die Musik verdichtet sich zu einem klingenden Organismus. Nicht nur in den Sinfonien, die den Großteil des "Tschaikowsky Project" ausmachen, sondern auch in Werken wie der Serenade für Streicher oder in der Fantasieouvertüre nach Shakespeares "Romeo und Julia". Dort verbindet der Komponist das süße Sehnen des Liebespaars und die Konflikte der verfeindeten Familien zu einem mitreißenden Drama, bei dem die Gegensätze am Ende direkt aufeinander prallen. Auch hier demonstriert Bychkov die Virtuosität und die Wachsamkeit der Tschechischen Philharmonie. Musik: Peter Tschaikowsky, "Romeo und Julia". Fantasieouvertüre Neben den reinen Orchesterwerken enthält die sieben CDs umfassende Tschaikowsky-Box auch die drei Klavierkonzerte des Komponisten, alle mit Kirill Gerstein als Solist. Das berühmte erste Klavierkonzert spielt Gerstein in der frühen Fassung von 1879, die Tschaikowsky selbst noch bis kurz vor seinem Tod dirigiert hat und die insgesamt deutlich lyrischer und weniger knallig angelegt ist als die heute meist aufgeführte spätere Version. Doch die noch größere Entdeckung ist das zweite Klavierkonzert, ein Werk voller Überraschungen. Eine davon ist die Idee, im langsamen Satz lange Zeit Violine und Cello den Vortritt zu lassen, bevor das Klavier einsetzt. Damit hat Tschaikowsky sich bei Tastenlöwen, die gern möglichst alleine glänzen wollen, nicht unbedingt beliebt gemacht, aber den Orchestermusikern eine schöne Vorlage gegeben. Die nutzen der Konzertmeister und der Solocellist, um mit Kirill Gerstein in einen intimen Dialog zu treten. Musik: Peter Tschaikowsky, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 G-Dur Das Andante non troppo des zweiten Klavierkonzerts von Peter Tschaikowsky, mit Kirill Gerstein und der Tschechischen Philharmonie unter Leitung von Semyon Bychkov. Ein Ausschnitt aus einer sieben CDs umfassenden Box mit dem Titel "The Tschaikowsky Project", die bei Decca erschienen ist. "The Tchaikovsky Project"Sämtliche Sinfonien und Klavierkonzerte u.a. von Peter TschaikowskyKirill Gerstein, KlavierTschechische PhilharmonieLtg: Semyon BychkovDecca 4834942 (7 CDs)
Am Mikrofon: Marcus Stäbler
Semyon Bychkov und die Tschechische Philharmonie setzen sich seit Jahren intensiv mit den Orchesterwerken von Peter Tschaikowsky auseinander. Das Ergebnis ist jetzt gebündelt auf sieben CDs erschienen und räumt wohltuend auf mit so manchem Klischee, das der Musik des großen russischen Komponisten anhängt.
"2019-10-06T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:10:46.822000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bychkov-dirigiert-tschaikowsky-mit-herzblut-und-gutem-100.html
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Erinnern über Gräbern: Die Geschichte der Anderen
Die Briten nennen den Ersten Weltkrieg "The Great War" - wie versuchen sie, ihre Erinnerung an die Katastrophe wach zu halten? Die Franzosen nennen ihn "La Grande Guerre" - wer besucht heutzutage noch die Weltkriegsmuseen in Frankreich? Weiß man in Belgien noch, wo die Schlachtfelder lagen? Wie gehen Russland oder Österreich mit dem Gedächtnis um? Korrespondenten des Deutschlandfunks berichten über persönliche Begegnungen mit Menschen, die gegen das Vergessen kämpfen, die die Erinnerung an Stellungskrieg, Gaseinsätze und den sinnlosen Tod von Millionen von Menschen am Leben erhalten.
Von Gesine Dornblüth, Karla Engelhard, Anne Raith, Jochen Spengler, Ursula Welter
"Im Westen nichts Neues" - Remarques Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg erschienen 1928. Sie wurden in vielen Ländern zum Bestseller. Von einer gemeinsamen Aufarbeitung dieses grausamen Konflikts sind die europäischen Staaten aber bis heute weit entfernt, von einem "kollektiven Gedächtnis" Europas kann schon gar keine Rede sein.
"2014-04-05T11:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:30:35.746000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/100-jahre-erster-weltkrieg-erinnern-ueber-graebern-die-100.html
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"Erdogan kommt als Freund"
Mustafa Yeneroglu ist Politiker der türkischen Regierungspartei AKP (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka) Dirk Müller: Blicken wir noch einmal auf den März 2017 zurück. Erdogan wirft Angela Merkel Nazi-Methoden vor, und zwar wo – das ist die Frage -, bei wem? Dann antwortet Erdogan, bei meinen türkischen Geschwistern in Deutschland, bei meinen Ministergeschwistern, bei meinen Abgeordnetengeschwistern, die dort hinreisen, also nach Deutschland. Und mit Blick auf Europa ergänzt Erdogan, dort könnten Gaskammern und Sammellager wieder zum Thema gemacht werden, aber das trauen sie sich nur nicht. 18 Monate her, diese Worte des Präsidenten. Nun ist er hier in Deutschland und will einen Neustart. Am Telefon ist nun der türkische Regierungspolitiker Mustafa Yeneroglu, ein enger Berater von Präsident Erdogan. Einen schönen guten Morgen. Mustafa Yeneroglu: Ja, hallo! Einen schönen guten Morgen. Müller: Herr Yeneroglu, ist die Zeit der Nazi-Methoden in Deutschland wieder vorbei? Yeneroglu: Zum einen hat Präsident Erdogan, so wie es in den letzten Tagen wieder in der Presse kursiert war, nicht der deutschen Öffentlichkeit, der deutschen Gesellschaft oder den deutschen Politikern an sich Nazi-Methoden vorgeworfen, sondern er hat bestimmte Kenntnisse über die damaligen Vorfälle genommen und hat gesagt, das sind, von der Art her ähneln sie Nazi-Methoden. "Spirale verbaler Entrüstung hat niemanden glücklich gemacht" Müller: Er hat nicht die Kanzlerin gemeint? So wurde das zitiert in Deutschland, von allen Medien. Yeneroglu: Er wird sich wahrscheinlich auch noch mal, wenn die Presse ihn die Tage danach fragen wird, dazu äußern und wird auch dazu sicherlich noch mal sagen, dass er keine bestimmte Person, sondern an sich eine Methode angewendet hat, die ihn an Nazi-Methoden erinnert. Aber wir wissen alle ganz genau, dass diese Äußerungen absolut unglücklich gewesen sind, dass sie in Deutschland sehr, sehr viele Menschen verletzt haben, dass sie zu einer Entrüstung geführt haben. Genauso ist es in der Türkei gewesen, wenn man den Türken den Völkermord an den Armeniern vorgeworfen hat. Die gleiche Entrüstung hat es auch da gegeben. Es ist jetzt so, dass wir die letzten drei, vier Jahre mit dieser Spirale von verbalen Entrüstungen gelebt haben und dass das niemanden glücklich gemacht hat. Müller: Der Präsident hat das jetzt auch bedauert intern, auch Ihnen gegenüber, das gesagt zu haben? Yeneroglu: Der Präsident hat das konkretisiert und hat gesagt, er hat weder das deutsche Volk, die deutsche Gesellschaft, noch einen bestimmten Politiker in die Nähe von Nazis rücken wollen. Müller: Aber wen hat er denn jetzt gemeint? Yeneroglu: Die Methoden, die Art und Weise. Wenn jemand so und so was macht, dann erinnert das mich an Nazi-Methoden, hat er geäußert. "Erdogan wollte deutsche Gesellschaft nicht verletzen" Müller: Und wer macht was wie? Yeneroglu: Darüber kann man jetzt im Detail streiten. Es gab damals eine Situation, wo Gäste aus der Türkei abgelehnt wurden. Müller: Sind das Nazi-Methoden? Yeneroglu: Ich meine, mit Nazi-Methoden spielen Sie auf den Holocaust oder auf … Müller: Diese Assoziation kommt ja in Deutschland. Das wissen Sie ja genauso gut wie wir. Yeneroglu: Genau das meine ich ja. Es ist im Ausland oft so, dass mit Nazi-Methoden in Deutschland natürlich die Nähe zum Holocaust dann sofort verstanden wird, im Ausland aber es manchmal anders gesehen wird. Und als jemand, der in Deutschland sozialisiert ist, hat mich das auch tief betroffen und ich habe das auch damals öffentlich erklärt und auch den Präsidenten darüber informiert, wie das in Deutschland möglicherweise ankommen wird. Müller: Das war ja meine Frage, weil Sie haben diesen engen Draht, Herr Yeneroglu, zum Präsidenten. Hat er gesagt, okay, dann war das ein Fehler, ich bedauere das? Yeneroglu: Wir haben darüber gesprochen. Ich bin nicht in der Situation, den Präsidenten über Fehler aufzuklären beziehungsweise ihm solche darzustellen. Ich habe ihm erklärt, wie so was in Deutschland aufgenommen wird, wie so was verstanden wird, dass es Millionen Menschen verletzt, und er hat das auch so erkannt und hat erklärt, mir gegenüber, auch später der Öffentlichkeit gegenüber, dass er weder die deutsche Gesellschaft damit angreifen und verletzten wollte, noch irgendwelche Politiker. "Wieder eine positive Atmosphäre darstellen" Müller: Jetzt wollen viele einen Neustart. Der Präsident will das, wenn wir ihn richtig verstanden haben. Er hat das ja auch explizit so ausgedrückt. Sie haben das auch in vergangenen Interviews hier im Deutschlandfunk schon angedeutet und angekündigt. Viele in der deutschen Politik wollen das auch, aber unter bestimmten Bedingungen. Da sind die einen konsequenter, die anderen vielleicht nicht so konsequent in ihren Formulierungen. Welches politische Zugeständnis hat der türkische Präsident im Gepäck für Deutschland? Yeneroglu: Es geht für beide Seiten nicht darum, irgendwelche Zugeständnisse irgendwelcher konkreter Art zu machen. Es geht wieder darum, dass man zueinander findet, dass man sich näher kommt, dass man sich des beiderseitigen strategischen Interesses bewusst ist, dass man wieder eine positive Atmosphäre darstellt, dass die Partnerschaft eine historisch gewachsene ist, dass sie feste Pfeiler hat, dass man sich darüber wieder bewusst wird und dass man gemeinsame Interessen und gemeinsame Herausforderungen in den Vordergrund stellt. Müller: Aber das wussten wir auch vor zwei Jahren und vor drei Jahren, was Sie jetzt sagen. Yeneroglu: Ja, sicherlich! Aber ich meine, es ist jetzt nicht so, dass die Türkei jetzt an der Entrüstungsspirale die Hauptverantwortung trägt. Wir haben eine Entwicklung gehabt, die begonnen hat mit der Armenien-Resolution im Bundestag, die letztendlich dazu geführt hat, dass die türkische Öffentlichkeit nicht verstanden hat, warum Deutschland, warum der Deutsche Bundestag eine solche Entscheidung trifft. Und das hat dann zu weiteren Maßnahmen in der Türkei geführt, zu Äußerungen in der Türkei geführt, die in Deutschland nicht verstanden wurden und wo entsprechend reagiert wurde. "Die Türkei kommt nicht als Bittsteller" Müller: Es ist ja nicht nur in Deutschland so festgestellt worden beziehungsweise beschlossen worden, eine derartige Resolution. Da sind ja viele europäische Länder auch beteiligt. Yeneroglu: Nein, nein! Das stimmt nicht. Die Armenien-Resolution ist damals eine im Bundestag beschlossene Resolution gewesen. Danach ist es auch in Frankreich diskutiert worden. Aber aufgrund der Enge der Partnerschaft zwischen der Türkei und Deutschland hätte das nicht sein dürfen. Das haben später deutsche Politiker auch allseits eigentlich erkannt. Es hat auch nie dazu geführt, dass man damit irgendetwas erreicht hat für die Armenier in der Türkei, für Armenien oder sich dieser Auseinandersetzung angenähert hat. Selbst Deutschland hat auch viele eigene Fehler dabei zumindest in persönlichen Gesprächen erklärt. Jedenfalls das war alles aus meiner Sicht unglücklich. Wir müssen jetzt uns auf die Sachthemen, die auf dem Tisch sind, konzentrieren, und da gibt es eine ganze Menge an gemeinsamen Interessen, auch an Dissens natürlich, über die gesprochen werden soll. Müller: Herr Yeneroglu, reden wir doch, mal ganz kurz nach vorne blickend, was Cem Özdemir hier im Deutschlandfunk gesagt hat. Der Präsident kommt, weil er vor allem Geld braucht, weil er Geld will, weil er wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, weil die Türkei in einen ökonomischen Abwärtsstrudel geraten ist. Was will Erdogan? Yeneroglu: Der Präsident kommt, weil er eingeladen ist, weil er als Staatsgast in Deutschland einen Staatsbesuch nach sieben Jahren macht. Damals war es der letzte für den damaligen Staatspräsidenten der Türkei. Bundespräsident Steinmeier hat noch in den letzten Tagen als Außenminister ihn eingeladen. Dem kommt er jetzt nach. Und die Türkei kommt nicht als Bittsteller nach Deutschland, oder um sich für irgendwelche Vorwürfe, die in Deutschland da sind, zu rechtfertigen. Er kommt als Freund! Erfolgreiche Syrien-Politik Müller: Er kommt als Freund. - Reden wir über die Wirtschaft. Braucht die Türkei deutsche Investitionen, deutsches Geld? Yeneroglu: Jedes Land braucht Investitionen. Auch Deutschland braucht Investitionen im Land. Und jedes Land versucht, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, um Investitionen im Land zu steigern. Es ist in beiderseitigem Interesse, dass sowohl türkische Firmen in Deutschland als natürlich auch vor allem deutsche Firmen in der Türkei investieren, und da gibt es eine sehr breite Palette an Möglichkeiten. Die Infrastruktur, das ist bekannt, die erneuerbaren Energien, Automobilindustrie, die Türken sind ein sehr konsumfreudiges Volk, der Tourismus. Es sind eine ganze Menge an Stichpunkten, die einem einfallen, wenn es darum geht, welche Interessen wir in Handels- und Wirtschaftsbeziehungen haben. Müller: Steht das denn ganz oben auf der Agenda? Ist das der wichtigste Punkt, den der Präsident machen wird, machen will? Yeneroglu: Nein! Es gibt viele andere Punkte. Der Präsident wird auch über die Situation im Nahen Osten sprechen. Der Präsident wird über die Situation der jetzt noch abgewendeten humanitären Katastrophe in Idlib sprechen und sich sicherlich dafür bedanken, dass er auch die Unterstützung von Deutschland für die Politik gehabt hat, die ja letztendlich erfolgreich gewesen ist und wahrscheinlich hunderttausende Menschen vor dem Tod und vor einer weiteren Massenauswanderung geschützt hat. Er wird letztendlich auch deutlich machen, dass das die europäische Sicherheit geschützt hat mit diesen Maßnahmen, und gemeinsam die Situation erörtern und darüber auch sprechen, wie man in Syrien vorankommen kann. Und es sind weitere andere Fragen, die gemeinsam erörtert werden müssen. Das ist die Terrorgefahr, das ist die Flüchtlingsfrage, die natürlich nicht gebannt ist, die nach wie vor eine globale Problematik ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mustafa Yeneroglu im Gespräch mit Dirk Müller
Beim Staatsbesuch des türkischen Präsidenten in Deutschland geht es nach Ansicht des AKP-Politikers Mustafa Yeneroglu nicht um konkrete Zugeständnisse. Es gehe darum, wieder zueinander zu finden, sagte er im Dlf. Die Türkei trage nicht die Hauptverantwortung an der "Entrüstungsspirale" der vergangen Jahre.
"2018-09-28T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:05.810000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/staatsbesuch-in-deutschland-erdogan-kommt-als-freund-100.html
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Migrationsforscher: "Frontex hat ein Transparenz-Problem"
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat ein weiteres Mandat erhalten (IMAGO / ZUMA Wire / Jesus Merida) Die EU-Grenzschutzagentur Frontex steht seit Monaten im Verdacht, an Menschenrechtsverletzungen bei ihrer Arbeit an der EU-Außengrenze beteiligt zu sein. Es geht dabei um illegale und gewaltsame Pushbacks von Flüchtlingsbooten. Zudem hat die EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF ein Ermittlungsverfahren gegen Frontex eingeleitet, um etwa interne Beschwerden zu untersuchen. Diese Vorwürfe seien ernst zu nehmen, findet Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück. Frontex habe ein Transparenz-Problem. Frontex und die Pushback-Vowürfe Der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird vorgeworfen, an illegalen Pushbacks beteiligt zu sein. In mehreren Fällen soll sie davon gewusst haben, dass die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf dem Mittelmeer abdrängte, anstatt sie an Land zu nehmen. Neues Mandat passe zum Entwicklungstrend von Frontex Dass sich Frontex in Zukunft zu einer Rückführungsagentur entwickeln soll, wie es der griechische, für Migration zuständige EU-Kommissar Margaritis Schinas beschreibt, passe zur bisherigen Entwicklung der Agentur. Davon ist Migrationsforscher Jochen Oltmer überzeugt: "Die EU-Kommission möchte eben eine eigene Grenzpolizei im Laufe der Zeit aufbauen." Seit Jahren messe sie in ihrem Programm Frontex zunehmend Gewicht bei. Das zeigt sich Oltmer zufolge aktuell an der geplanten Aufstockung von Budget und Personal für die Agentur. Im Jahr 2020 starben bis zum 18. Juni 339 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer. (Statista / International Organization for Migration) Der Forscher von der Universität Osnabrück ist generell skeptisch, ob überhaupt Bedarf an dem neuen Mandat für Frontex besteht. Bereits jetzt gebe es einige Programme und Konzepte, um Migrantinnen und Migranten ohne Bleiberecht in der EU freiwillig in Herkunftsstaaten zurückzuführen. In Deutschland sind dabei etwa die Bundesländer sowie Kommunen, aber auch Wohlfahrtsverbände beteiligt. Ob Frontex dazu beitragen könnte, diese Ansätze zu vereinheitlichen, sieht der Migrationsexperte kritisch. Generell gilt laut Oltmer: Es sei schwierig, die bisherigen europäischen Programme zur Rückführung zu bewerten. Seit Jahrzehnten gebe es nur wenige Erkenntnisse darüber, wie es den Menschen nach der Rückführung in Herkunftsstaaten gehe. In diesem Punkt sieht er Verbesserungsbedarf. Migrationsexperte zu Pushbacks: "Ich fürchte, der Aufklärungswille ist nicht besonders groß" Frontex soll in illegale Rückführungen von Flüchtlingen verwickelt gewesen sein. Die EU-Kommission hat deswegen ein Treffen mit der EU-Grenzschutzbehörde angesetzt. Der Migrationsexperte Gerald Knaus kritisierte im Dlf, dass in der Frage der Zurückstoßung von Flüchtlingsbooten eine Scheindebatte geführt werde. Das Interview in voller Länge: Christoph Schäfer: Frontex kennen wir als umstrittene EU-Grenzschutzagentur. Herr Oltmer, ist das eine gute Voraussetzung, um künftig glaubwürdig als Rückführungsagentur tätig zu sein? Jochen Oltmer: Schwierig. Sie haben gerade diese Vorwürfe, diese Pushback-Vorwürfe angesprochen. Es gibt Korruptionsvorwürfe. Wir sehen, dass es jetzt, zuletzt im März 2021, einen Abschlussbericht, einen internen Abschlussbericht, über diese Pushback-Vorwürfe gegeben hat. Dort konnten nicht alle Vorwürfe ausgeräumt werden. Auch der Frontex-Verwaltungsrat, also der Aufsichtsrat gewissermaßen, spricht von Unzulänglichkeiten und zeigt sich besorgt. Man kann den Eindruck haben, dass Frontex ein Transparenz-Problem hat, nicht zuletzt auch deshalb ein Transparenz Problem, weil diese Grenzsicherung in den vergangenen Jahren ein immens wachsender Markt geworden ist, wo es große ökonomische Interessen gibt. Es geht um Satelliten, große Datenbanken, viel Lobbyarbeit und das Korruptionsrisiko in diesem Zusammenhang ist gewiss nicht gering. Von daher sind diese Vorwürfe, die da entwickelt worden sind, gewiss ernst zu nehmen. Frontex, noch einmal, hat ein Intransparenz-Problem. Oltmer: Frontex-Etat wird sich verdreifachen Schäfer: Das heißt kurz, Sie sind skeptisch, was das neue Mandat für Frontex anbelangt. Oltmer: Ja, bin ich. Zumal nicht klar ist, zumindest aus den vielen Papieren, die jetzt umgehen, mir nicht klar geworden ist, warum gerade Frontex diese Aufgabe im Kontext dieser Rückführung übernehmen soll. Die EU-Kommission macht deutlich in dem Papier, das da gestern vorgestellt worden ist, dass es innerhalb der EU sehr viele unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie diese unterstützte Rückführung laufen soll. Es gibt sehr viele unterschiedliche Behörden, es gibt diverse unterschiedliche Programme. Und jetzt soll Frontex mit der Aufgabe betraut werden, erst einmal zu schauen, was es an Programmen gibt und wie man damit umgehen soll. Ich hätte gesagt, man sollte erstmal vonseiten der EU-Kommission überprüfen: Was gibt es an Programmen, was gibt es an Konzepten? Dann hätte man überlegen können, welche Agentur, welche Einrichtung man überhaupt mit solchen Aufgaben betrauen möchte oder ob man nicht vielleicht es bei dem System, das bislang besteht, belassen sollte, dass nämlich die einzelnen Mitgliedsstaaten sich um die Frage kümmern, wie Rückführungspolitik betrieben werden soll. Worum es den EU-Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingsfrage geht Die Flucht über das Mittelmeer gilt mittlerweile als gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt. Nach Schließung der Balkanroute wurde sie wieder zur riskanten Alternative. Über den Umgang mit ihnen finden die EU-Staaten seit Jahren keinen Konsens. Schäfer: Sie haben vorhin auch erwähnt, die illegalen Pushback-Vorwürfe gegen Frontex, die EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF hat ein Verfahren gegen die Agentur begonnen. Wieso, Herr Oltmer, hat sich die EU-Kommission dennoch dafür entschieden, Frontex mit mehr Kompetenzen auszustatten? Oltmer: Ja, also das ist dann tatsächlich ein Trend, den wir seit längerem sehen. Wir haben ja die Situation inzwischen schon seit mehreren Jahrzehnten, dass wir eine europäische Außengrenze haben. Und die EU-Kommission möchte eben eine eigene Grenzpolizei im Laufe der Zeit aufbauen, die einen Beitrag dazu leistet, dass gewisse Unzulänglichkeiten, die die EU-Kommission sieht, im Blick auf das jeweilige einzelstaatliche Verhalten in Hinsicht auf den Grenzschutz, dass das abgestellt wird. Und wir sehen seit 2015 insbesondere kommt Frontex im Programm der EU-Kommission ein immer stärkeres Gewicht zu. Der Etat soll sich in den nächsten Jahren verdreifachen. 10.000 Frontex Beamte sollen eingestellt werden, und zwar schneller als ursprünglich geplant. Also Frontex ist sozusagen das Instrument, auf das die EU-Kommission vor allem setzt, um eben einen Grenzschutz zu entwickeln, der bestimmte einzelstaatliche Unzulänglichkeiten ausräumt. Seit 2015 ist Fabrice Leggeri Chef der Europäischen Grenzschutzbehörde Frontex (AFP / WOJTEK RADWANSKI) "Wir wissen sehr wenig über die bestehenden Programme" Schäfer: Sie haben vorhin schon erwähnt, es gibt andere Konzepte und Programme. Welche Akteure sind denn bereits tätig gewesen, wenn es darum geht, Migrantinnen und Migranten ohne Asyl in der EU freiwillig in ihre Heimatländer zurück zu begleiten? Oltmer: Naja, also zunächst einmal ist es tatsächlich die Aufgabe der Einzelstaaten. Die Organisationen in Einzelstaaten ist total unterschiedlich. Es gibt zum Teil Agenturen, die für den gesamten Staat zuständig sind. Es gibt in der Bundesrepublik beispielsweise sehr viele unterschiedliche Akteure. Die Bundesländer sind zuständig, die Kommunen haben Zuständigkeit. Die Beratungen in diesem Zusammenhang, die ja von der EU-Kommission auch sehr stark in den Vordergrund gehoben wurde, läuft zum Teil über freie Träger, über Wohlfahrtsverbände. Wir haben eine ganze Anzahl von verschiedenen Akteuren, das ist ein ziemlich undurchschaubares Gebilde, das sich da in diesem Zusammenhang entwickelt hat. Aber man muss auch sehen, es gibt auch sehr viele unterschiedliche Fälle in diesem Zusammenhang. Es gibt sehr viele unterschiedliche Behörden. Und ob jetzt wirklich die Perspektive einer Vereinheitlichung, die hier angestrebt wird, der Königsweg ist, ist durchaus sehr umstritten. Also aus meiner Sicht käme es darauf an zu schauen, was könnten unterschiedliche Wege sein. Migrationsexpertin: "Zivile Seenotrettung nicht kriminalisieren" Die Migrationsexpertin Petra Bendel plädiert für einen arbeitsteiligen Ansatz bei der Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtlingen in Europa. Die EU könne Programme der Mitgliedsstaaten koordinieren, sagte sie im Dlf. Schäfer: Herr Oltmer, ein unübersichtliches Feld, sagen Sie damit schon. Wir hatten denn bislang bei der freiwilligen Rückkehr die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern funktioniert? Oltmer: Ja, das ist eine Frage, die Einzelnen, die sehr wichtig ist, die einzelnen Herkunftsländer, stellen sich sehr unterschiedlich. Das ist der eine Punkt, der zweite Punkt, der in diesem Zusammenhang sicherlich auch sehr wichtig ist: Wir wissen faktisch über die bestehenden Programme, die zum Teil seit den 1990er Jahren bestehen, relativ wenig. Das heißt also, Menschen werden in diesem Zusammenhang zurückgeführt, kehren zurück mit Unterstützung. Und dann sind sie weg. Das heißt, inwieweit diese Programme erfolgreich sind, können wir gar nicht sagen. Das heißt, wir haben es mit Programmen zu tun, die seit langem betrieben werden, von denen nur behauptet wird, sie würden funktionieren. Auch ein wichtiger Aspekt aus meiner Sicht. Zunächst einmal überprüft werden müsste. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jochen Oltmer im Gespräch mit Christoph Schäfer
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll Mitgliedstaaten stärker dabei unterstützen, Migranten ohne Bleiberecht in Herkunftsstaaten zurückzuführen. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht das neue Mandat für Frontex kritisch. Die EU-Kommission baue langfristig eine eigene Grenzpolizei auf, sagte er im Dlf.
"2021-04-28T09:10:00+02:00"
"2021-04-29T13:17:01.568000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-mandat-fuer-eu-grenzschutzagentur-migrationsforscher-100.html
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Leben auf dem Friedhof
Mehr als 375.000 Kinder mussten im Südsudan ihre Heimat aufgrund des Konflikts verlassen. Etwa 600 Kinder leben auf dem Hai-Malakal-Friedhof in Juba, der Hauptstadt des Südsudan. (dpa picture alliance / Kate Holt/ Unicef Handout) Ungefähr 30 Jahre ist es her, da war dieser Titel wochenlang in den Charts: "This night I can't stay on your side". Jetzt dudelt der alte Hit hinter einer zerrissenen Plastikplane hervor, die als Notunterkunft für eine Familie dient. Das niedrige provisorische Zelt – es ist nicht einmal hüfthoch - steht auf einem Friedhof in Juba, der Hauptstadt des Südsudan. Zwischen den Gräbern wird gekocht und Wäsche getrocknet, Kinder spielen vor baufälligen Hütten, hier und da läuft ein Hund geduckt an den Töpfen vorbei, die auf offenen Feuerstellen stehen. Viele der einfachen Hütten haben noch nicht einmal eine Plastikplane als Dach. Stattdessen liegen Säcke oder Stofffetzen über den hölzernen Gerippen, die aber vor Sonne und Regen kaum schützen. Kinder spielen auf den Gräbern, nutzen die niedrigen Platten als Bank. Auf einem der Gräber sitzt ein kleines Mädchen und weint. Es hat sich mit anderen Kindern gestritten. Neben der Kleinen die Inschrift: Maryla Ashetom, geboren 1910, gestorben am 16. Juni 1999. Gräber, überall Gräber. Jackson Nado Moga beschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen, zeigt über den Friedhof im Stadtviertel Konyo Konyo. Der 36-Jährige ist der Sprecher der Friedhofsbewohner, ein hagerer Mann in abgerissener Kleidung. Die Holzhütte, vor der er sitzt, steht halb auf einer Grabplatte. Natürlich lebe er nicht freiwillig hier, betont Moga. "Ich bin vor der Gewalt während des Krieges geflohen, damals wurden viele Menschen getötet. Sogar kleine Kinder wurden umgebracht. Meine Eltern wurden beide ermordet, danach habe ich mich hier versteckt, weil unsere Feinde uns nicht bis auf den Friedhof verfolgten. Seitdem bin ich hier, weil ich keine andere Wahl habe. Ohne Geld und ohne Bildung, ich kann weder lesen noch schreiben. Deshalb habe ich im Leben keine Chance. Unsere Kinder müssen unbedingt etwas lernen." Etwa 600 Kinder leben auf dem Hai-Malakal-Friedhof, glaubt Moga, aber genau wisse er das nicht. Auch die genaue Zahl der erwachsenen Friedhofsbewohner kennt nicht einmal er, obwohl er offiziell ihr Sprecher ist. Sie ist schwer zu schätzen, die niedrigen Hütten verschwinden förmlich zwischen dem hohen Gras. Hier und da wächst auch Mais, kleine Felder zwischen den Gräbern. Zerrissene Decken und zerlumpte Kleidung liegen zum Trocknen in der Sonne. Moga selbst haust seit fast 30 Jahren hier, seine Fluchtgeschichte datiert noch aus dem Krieg um die Unabhängigkeit vom Sudan. Als der Süden im Juli 2011 ein eigener Staat wurde, feierten das die Menschen in Juba euphorisch. Auch Moga hoffte auf Frieden und ein besseres Leben. Vielleicht, so dachte er, könnte er den Friedhof bald verlassen. Aber: "Über die Zeit seit der Unabhängigkeit kann ich nichts Gutes sagen. Und ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringen wird. Wir wären schon zufrieden, wenn wir genug zu Essen hätten und unsere Kinder etwas lernen würden. Das alles hat man uns für die Zeit nach der Unabhängigkeit versprochen, aber nichts davon ist wahr geworden. Die neue Regierung hat unser Land nur noch mehr zerstört." Der Südsudan wirkt bettelarm, trotz der sechs Milliarden US-Dollar, die das Land jedes Jahr durch den Verkauf von Erdöl verdient. Nur eine neue politische Elite hat von der Unabhängigkeit profitiert. Jenseits der Friedhofsmauern sind neue Hotels und Bürogebäude entstanden, mehrstöckige Häuser mit verspiegelten Fassaden. Aber eine Kanalisation, Wasserleitungen oder Stromversorgung über ein öffentliches Netz gibt es auch jenseits der Friedhofsmauern nur in ein paar bevorzugten Vierteln. In den übrigen Wohngebieten sind sogar in der Hauptstadt viele Straßen mit einer Mischung aus Wasser und Fäkalien überschwemmt, wenn es regnet. Noch schlimmer sieht es im Rest des Landes aus. Jederzeit kann Cholera ausbrechen, und das gilt auch für den Friedhofsbereich. Um eine Epidemie zu verhindern, hat das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen selbst zwischen den Gräbern und Bretterbuden auf dem Friedhof alle paar Meter Plakate aufgehängt: "Wascht Euch immer die Hände! Ihr habt Eure Gesundheit selbst in der Hand." Nur: Auf dem Friedhof gibt es kein sauberes Wasser. Und an Seife ist schon gar nicht zu denken. Neben Moga saß schon die ganze Zeit ein Nachbar. Auch er beklagt sich: "Ich fühle mich hier auf dem Friedhof absolut nicht wohl. Und ich habe alle Hoffnung verloren. Der Südsudan ist unabhängig. Und noch immer vergießen wir Blut. Wohin soll das führen? Menschen hungern, Menschen werden vertrieben. Und wir haben jede Hoffnung in unsere Regierung verloren." Lino Kiir ist seit drei Jahren hier, also seit der Süden unabhängig geworden ist. Damals wurde er aus dem Haus vertrieben, das er bis dahin bewohnt hatte. Seitdem lebt er auf dem Friedhof und ernährt sich von dem, was er im Abfall findet, so wie alle Bewohner hier. Dabei kann Kiir sogar lesen und schreiben, aber einen Beruf hat er während des ersten langen Bürgerkriegs nie gelernt. Die einzige Unterstützung, die er jemals bekommen hat, erhält er von einer Hilfsorganisation, die den Friedhofskindern das Schulgeld bezahlt. Ausländische Helfer und die eigenen Kinder – eine andere Hoffnung haben die Menschen hier nicht.
Von Bettina Rühl
Fast fünf Jahrzehnte lang kämpften die Sudanesen im Süden des Landes gegen die Herrschaft der Araber im Norden des Sudans. Das Ergebnis des brutalen Bürgerkriegs war die Unabhängigkeit des Südsudans im Juli 2011. Gut drei Jahre später ist von der Aufbruchsstimmung nichts geblieben.
"2014-09-27T13:30:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:46.288000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suedsudan-leben-auf-dem-friedhof-100.html
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"Wir brauchen strategische Geduld"
Wolfgang Ischinger soll im Auftrag der OSZE im Ukraine-Konflikt vermitteln. (dpa / Paul Zinken) Moskau und Kiew hätten in jüngster Vergangenheit bilateral weitergesprochen. "Es ist nie eine besonders gute Idee, wenn ein sehr Starker mit einem sehr Schwachen verhandelt." Deswegen forderte Ischinger die Erweiterung der Teilnehmer an diesem Prozess. Dieser könnte unter dem Dach der OSZE "ohne Gesichtsverlust" für Russland begleitet werden. Die Ukraine-Krise sei eine Krise, die die ganze Welt interessieren müsse. Welches Land würde auf Nuklearwaffen verzichten, wenn es mit Waffen besser geschützt sei?, fragte Ischinger. Die Ukraine hatte nach dem Ende der Sowjetunion ihre Atomwaffen an Russland abgegeben und im Gegenzug Sicherheitszusagen aus Russland, den USA und Großbritannien erhalten. Krim-Annexion ist nachrangiges Thema Der Vorschlag von Matthias Platzeck (SPD), Vorsitzender des deutsch-russischen Forums, die Annexion der Krim zu akzeptieren, sei nicht hilfreich, sagte Ischinger. "Das wäre die Bankrott-Erklärung des Westens und der EU, das wäre das Ende des Prozesses. Wir können nicht einen Vertrag zulasten Dritter abschließen." Die Krim-Frage müsste gegenwärtig ausgeklammert werden, so Ischinger. "Zur Krim-Annexion kommen wir zu gegebener Zeit zurück. First things first." Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Der Konflikt in der Ukraine ist spätestens seit dem Wochenende wieder ganz oben auf der politischen Tagesordnung angekommen. Der G20-Gipfel in Brisbane, der hat nämlich gezeigt, dass Russland und der Westen immer weiter auseinanderdriften. Und in der Ukraine selbst, da wird die Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Rebellen nach einigen Wochen der Ruhe wieder zunehmend kriegerisch. Gestern nun war Bundesaußenminister Steinmeier zu Gesprächen in Kiew und in Moskau. Eindeutiges Ziel dieser Reisen: Die Diplomatie am Leben halten. Mitgehört hat Wolfgang Ischinger, ehemaliger Chefdiplomat, und in der Ukraine hat er bereits vermittelt zwischen den Konfliktparteien. Und er ist außerdem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Schönen guten Morgen, Herr Ischinger. Wolfgang Ischinger: Guten Morgen! Armbrüster: Herr Ischinger, wir haben es gehört: Alle klammern sich jetzt an die Waffenruhe, an die Vereinbarung von Minsk. Glauben Sie noch an dieses Abkommen? Ischinger: Es ist das einzige, was wir haben, und deswegen ist es natürlich, um das berühmte Wort zu benutzen, alternativlos richtig, daran auch festzuhalten. Es gibt keine andere Grundlage, um voranzukommen. Ich denke, das Problem bei dem Minsker Abkommen ist, dass auf seiner Basis bilateral zwischen Moskau und Kiew weitergesprochen wurde. Es ist nie eine besonders gute Idee, wenn ein sehr Starker mit einem sehr Schwachen verhandelt. Da kommt dann meistens raus, dass der Schwache den Kürzeren zieht. Deswegen haben viele kluge Beobachter und übrigens auch die Bundesregierung selbst, aber vor allen Dingen die ukrainische Regierung in Gestalt ihres Ministerpräsidenten schon seit langem immer wieder die Frage aufgeworfen, kann man diesen Prozess nicht ein bisschen verbreitern. Der Ministerpräsident Jazenjuk hat immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es besser wäre für eine stabile Minsk-Lösung, wenn dieser Prozess nicht nur ein bilateraler wäre, sondern wenn er von der Europäischen Union und natürlich auch von den USA mit begleitet, mit getragen, mit verifiziert, kontrolliert werden könnte. Ich glaube, das ist eine richtige Idee und man sollte diesen Gedanken immer wieder auch den russischen Gesprächspartnern vortragen. Das ist ja auch geschehen. Bisher gibt es die Fortsetzung des einmal stattgefundenen Genfer Gesprächs vom April dieses Jahres noch nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Armbrüster: Jetzt genießen allerdings auch die Europäische Union und die USA nicht gerade großes Vertrauen in Moskau. Ischinger: In der Diplomatie ist es doch so: Wir sind jetzt in einer Lage, in der natürlich weder Präsident Putin, noch die ukrainische Führung, noch natürlich auch der Westen einen Schritt ergreifen möchte oder einen Schritt ergreifen könnte, auch aus innenpolitischen Gründen, der zum Gesichtsverlust führen kann. Es ist völlig unrealistisch, etwa von Präsident Putin jetzt so eine Art Gang nach Canossa zu erwarten. Auf der anderen Seite dürfen wir und können wir auch nicht einknicken. Deswegen sind Vorschläge wie die des früheren Ministerpräsidenten Platzeck natürlich nicht hilfreich. Das Wichtigste ist, dass der Westen, dass die Europäische Union in dieser Frage geschlossen bleibt, ohne Schaum vor dem Mund, mit ruhiger Hand und mit strategischer Geduld immer wieder die Einhaltung des Minsker Abkommens fordert und nach einem Weg sucht, ohne Gesichtsverlust aus diesem tiefen Loch herauszukommen, das man sich hier selbst gebuddelt hat. Den Weg da herauszufinden, sehe ich persönlich unter anderem in der Nutzung des Dachs, das wir ja schon haben, nämlich die OSZE. Die OSZE, lange in Vergessenheit geraten, ist das Dach, unter dem der Minsk-Prozess stattfindet. Die OSZE wird demnächst, Anfang Dezember, ihr Ministertreffen abhalten. Ein von der OSZE angestoßener Prozess zur Verfestigung des Minsker Prozesses könnte ein Weg sein, um ohne Gesichtsverlust den Minsk-Umsetzungsprozess zu begleiten. Ich sage ausdrücklich ein Weg, sicherlich nicht der einzige. "Anerkennung der Krim wäre eine Bankrotterklärung der EU" Armbrüster: Herr Ischinger, Sie haben jetzt den Namen Matthias Platzeck schon genannt, und möglicherweise könnte dessen Vorschlag ja diesen Weg wirklich drastisch abkürzen. Er hat gestern gefordert, die Krim-Annexion durch Russland zu legalisieren, also anzuerkennen. Wäre das nicht wirklich ein schneller Ausweg aus dieser Krise? So würde man beide Seiten wieder an einen Tisch bringen und die Sache möglicherweise schnell bereinigen. Ischinger: Na ja, das wäre natürlich die Bankrotterklärung der Geschlossenheit der Europäischen Union und des Westens. Das wäre nicht der Beginn, sondern das Ende des Prozesses. Wir können nicht gut einen Vertrag zu Lasten Dritter abschließen. Ich meine, das wäre schon ein ganz erstaunlicher Schritt, wenn wir nach all dem, was gesagt worden ist, jetzt zu Lasten der Ukraine mitteilen würden, dass wir diese Annexion aus dem Frühjahr 2014 einfach anerkennen. Nein! Ich glaube, der richtige Gedanke ist natürlich nicht, dass wir jetzt sozusagen als allererste Forderung die Rückgabe der Krim an die Ukraine fordern. Das wird sicher jeder als eher unrealistisch sehen. Die richtige Vorgehensweise in einem solchen Fall ist, dass man dieses Thema unter Wahrung der Rechtspositionen ausklammert und sagt, wir müssen jetzt die Ostukraine stabilisieren, und zur Krim, deren Annexion wir nicht anerkennen können und auch nicht werden, kommen wir dann zu gegebener Zeit zurück. "First things first!" "Russland hat massiv Vertrauen verloren" Armbrüster: Aber der Vorschlag von Matthias Platzeck kam ja wahrscheinlich auch deshalb, weil immer mehr Menschen inzwischen den Eindruck haben, dass in diesem Konflikt inzwischen gegen Windmühlen gekämpft wird, dass vor allem die Europäische Union einen Zustand wiederherstellen wird, einen Status quo, der sich realistischerweise einfach nicht wiederherstellen lassen wird - Stichwort Krim, Stichwort aber sicher auch Abspaltung der östlichen Provinzen in der Ukraine. Ischinger: Wir dürfen eins nicht vergessen, Herr Armbrüster. Dieser Vorgang, diese schwere Krise europäischer Sicherheit ist nicht nur eine schwere Krise für die Ukraine und natürlich strategisch betrachtet auch eine Niederlage für Russland. Russland gewinnt ja nichts. Russland hat massiv Vertrauen verloren. Der Rubel fällt und so weiter. Sondern es ist eine Krise, die die ganze Welt interessieren muss. Welches Land, das nukleare Ambitionen möglicherweise heute hat, wird auf diese nuklearen Ambitionen verzichten wollen, wenn die Lehre aus der Ukraine-Krise sein sollte - hoffentlich wird sie das nie sein -, dass ein Land dann besser geschützt ist, wenn es auf seine Nuklearwaffen nicht verzichtet. Der Ukraine ist 1994 mitgeteilt worden, gebt eure Nuklearwaffen ab, eure Grenzen werden von uns garantiert und gesichert. Es darf doch nicht sein, dass wir der Welt mitteilen lassen, dass es besser ist, Nuklearwaffen zu haben oder sie zu erwerben, weil sonst die eigenen Grenzen nicht gesichert sind. Das ist nur ein Beispiel, warum diese Krise mehr ist als eine Krise, bei der man durch ein Entgegenkommen, ein Schein-Entgegenkommen eine Lösung finden würde. Deswegen halte ich von dieser Idee, jetzt sich zu bewegen in der Frage Krim, absolut überhaupt nichts. Das ist der schlechteste Rat, den ich seit Wochen gehört habe. Armbrüster: Hat denn die Europäische Union in dieser Krise, hat die EU in dieser Krise beispielhaftes Verhalten in so einer internationalen Krise gezeigt? Ischinger: Ich denke, wenn der Pulverdampf hoffentlich mal verzogen ist, sich verzogen haben wird, wird man feststellen, dass nicht zuletzt danke unermüdlicher deutscher Regierungsaktivitäten mit einer gewissen Eselsgeduld, muss man schon wirklich sagen, hier der Dialogfaden nicht abgebrochen wurde und dass die Europäische Union erstaunlicherweise mehr oder minder große Geschlossenheit gezeigt hat. Das ist großartig! Das war eigentlich gar nicht zu erwarten. Wenn ich zurückdenke an die Art und Weise, wie die EU auseinanderfiel vor zehn, elf Jahren in der Irak-Krise, wo es sozusagen old europe und new europe gab, dann haben wir dieses Mal erstaunlicherweise viel Geschlossenheit gezeigt, und ich glaube, das ist das, was in Moskau beeindruckt, nicht wenn wir jetzt anfangen, uns hier auseinanderdividieren zu lassen. Russlands Präsident Wladimir Putin beim G20-Gipfel in Brisbane. (picture alliance/dpa/Druzhinin Alexei) "Die russische Führung steht vor großen Problemen" Armbrüster: Wenn wir uns jetzt noch mal kurz die Person Wladimir Putin ansehen und wie er in den vergangenen Tagen agiert hat, wie er auch isoliert wurde in Brisbane, was ist Ihre Einschätzung? Sie hatten ja in Ihrem Berufsleben häufiger mit solchen Staatsmännern zu tun. Wie tickt er und was geht in diesen Tagen in seinem Kopf vor? Ischinger: Ich glaube, dass die russische Führung hier vor großen Problemen steht. Sie hat auf der einen Seite für diese Show der Stärke verständlicherweise viel Zustimmung in der russischen Bevölkerung bekommen. Deswegen sage ich ja auch noch einmal: Man kann jetzt nicht erwarten, dass Putin eine Art Fallrückzieher macht, dass er einen Gang nach Canossa macht. Das wird nicht passieren. Deswegen halte ich auch nichts von öffentlichen Schaukämpfen und einem sich gegenseitig öffentlich beschuldigen. Was wir brauchen ist der Prozess hinter verschlossenen Türen. Was wir brauchen sind solche Gespräche, wie sie seit Monaten die Bundeskanzlerin immer wieder versucht mit Putin selbst. Aber was wir natürlich eigentlich bräuchten, wäre ein stetiger, professionell geführter, außerhalb der Fernsehkameras geführter multilateraler Prozess - Stichwort Kontaktgruppe, Stichwort Wiederholung des Genfer Formats vom Frühjahr, unter Einbeziehung der Europäischen Union, unter voller Teilnahme natürlich Russlands -, um vielleicht im Rahmen der OSZE oder auf anderem Wege einen diplomatischen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende dann ohne Gesichtsverlust wir alle sagen können, wir haben die Lage stabilisiert, es wird nicht mehr geschossen. Letzter Punkt ist, Herr Armbrüster: Angesichts dessen, was hier alles passiert ist, ist es natürlich auch ganz vermessen und unrealistisch zu glauben, dass irgendjemand diesen Konflikt in Kürze wird lösen können. Was wir brauchen ist strategische Geduld. Das wird viele Monate dauern, das wird vielleicht Jahre dauern. Deswegen ist Hektik und Hin- und Hergehample natürlich ganz falsch. Strategische Geduld, Gelassenheit, keine Aufregung, nur so werden wir mit Russland im Gespräch bleiben und langfristig das Problem lösen können. Armbrüster: Vielen Dank, Wolfgang Ischinger, für diese Einschätzung und für diese mahnenden Worte zum Schluss. Wolfgang Ischinger war das, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Danke für das Gespräch. Ischinger: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die Europäische Union müsse von Russland und der Ukraine immer wieder die Einhaltung des Minsker Abkommens verlangen, sagte Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, im DLF. Bei den Gesprächen sei deshalb auch eine Kontaktgruppe unter Einbeziehung der EU und der USA erforderlich.
"2014-11-19T07:15:00+01:00"
"2020-01-31T14:14:22.693000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krise-wir-brauchen-strategische-geduld-100.html
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"Piraten sind normale Kriminelle"
Durak: Vorbehaltlich der Zustimmung des Bundestages hat das Kabinett heute Vormittag die Beteiligung der Bundesmarine am EU-Pirateneinsatz beschlossen. Am 19. Dezember wird das Parlament entscheiden. Ohne dessen Zustimmung darf ja kein Bundeswehrsoldat in irgendeinen Auslandseinsatz. In diesem Fall, Bekämpfung krimineller Banden vor der Küste Somalias, dürfte eine breite Zustimmung zu erwarten sein, obwohl es noch einige Fragen zur strafrechtlichen Verfolgung festgenommener Piraten gibt.Nach der jüngsten UNO-Resolution 1816 ist also ein sechsmonatiger Einsatz in somalischen Hoheitsgewässern erlaubt, weil Somalia, die Regierung selbst nicht in der Lage ist. Zudem gibt es eine UN-Seerechtskonvention, um überhaupt bewaffnete Raubüberfälle auf See zu verhindern. Die deutsche Politik tut sich schwer mit dem Problem, ob Marinesoldaten der Bundeswehr Piraten auch festnehmen können und einer strafrechtlichen Verfolgung gegebenenfalls in Deutschland zuführen dürfen. - Über all dies will ich jetzt sprechen mit Professor Rüdiger Wolfrum, Direktor des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht und ehemals auch Präsident des Internationalen Seegerichtshofes in Hamburg. Guten Tag, Herr Professor Wolfrum. Wolfrum: Guten Tag, Frau Durak. Durak: Herr Wolfrum, welche internationalen Rechte gibt es, in Hoheitsgewässern bestimmter Staaten und dazu dann irgendwo in internationalen Gewässern Kriminelle aufzubringen? Wolfrum: Es gibt die Seerechtskonvention, die Sie schon erwähnt haben. Die erlaubt es, Piraten auf hoher See und in den ausschließlichen Wirtschaftszonen der Staaten zu verfolgen. Die ausschließlichen Wirtschaftszonen sind 200 Seemeilen breit. Für Somalia gilt die Sonderregelung, dass hier Piraten auch in Küstengewässern Somalias aufgebracht werden können. Dies hat der Sicherheitsrat so verfügt, um die Sicherheit des internationalen Seeverkehrs in dieser Region zu gewährleisten, weil die Regierung von Somalia die eigenen Küstengewässer gar nicht kontrollieren kann. Also ist hier ein Aufgreifen von Piraten sowohl im Küstenmeerbereich (das heißt ganz dicht an der Küste) in den ausschließlichen Wirtschaftszonen und auf der hohen See ohne weiteres möglich. Dabei darf man gegen Piraten jede Form ergreifen, die die Piraterie effektiv bekämpft: Aufbringen der Schiffe, Durchsuchen der Schiffe, Zerstörung der Schiffe, Festnahme der Piraten und letztlich deren strafrechtliche Aburteilung nach nationalem Recht. Durak: Weshalb ist es dann für die deutsche Politik ein solches Problem, die Piraten strafrechtlich zu verfolgen? Jedenfalls hat man den Eindruck. Wolfrum: Das deutsche Problem ist weniger ein juristisches Problem und vor allem kein völkerrechtliches Problem. Zumindest stellt es sich so für den Völkerrechtler und Staatsrechtler dar. Das Problem der Bundesregierung ist es, dass sie im Grunde genommen wahrscheinlich scheut, zu viele Piraten nach Deutschland zu verbringen, um sie hier vor deutschen Gerichten abzuurteilen, und die deutsche Strafrechtspflege orientiert sich völlig korrekt sehr stark an dem Menschenrechtsschutz, an den internationalen Vorgaben für ein faires Gerichtsverfahren, und das ist natürlich nicht so einfach, wenn die Straftat so weit entfernt von Deutschland erfolgt. Das sind aber eigentlich eher technische Probleme und auf keinen Fall völkerrechtliche und ganz wenig im Grunde genommen juristische Probleme. Durak: Und trotzdem wird ins Gespräch gebracht, einen internationalen Strafgerichtshof einzurichten, um Piraten international zu bekämpfen. Ist das dann nur ein Vorwand? Wolfrum: Man fürchtet hier offenbar eine zersplitternde Rechtsprechung. Ich halte einen internationalen Strafgerichtshof für geradezu abwegig. Man sollte den Piraten - das sind normale Kriminelle - nicht so viel Ehre antun. Das deutsche Strafrecht, das StGB sieht vor, dass Piraterie verfolgt wird. Das Wort kommt zwar im Strafgesetzbuch nicht vor, aber die entsprechenden Vorschriften erfassen alle kriminellen Handlungen gegen den Schiffsverkehr, und darunter fällt die Piraterie, und - das ist völkerrechtlich völlig anerkannt - die Piraterie fällt unter das sogenannte Universalitätsprinzip. Das heißt, Piraten können in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden, auch wenn sich ihre Akte nicht gegen deutsche Schiffe oder deutsche Güter oder gegen deutsche Personen gerichtet haben. Durak: Dann sagt uns aber der Verteidigungsminister etwas anderes beziehungsweise führt uns irgendwie immer auf eine falsche Fährte. - Ich möchte aber noch einmal nachfragen. Sie sagten zuvor, die deutsche Politik fürchte sich davor, zu viele Piraten hier nach Deutschland zu holen und sie vor Gericht zu stellen. Weshalb denn, weil man Angst hat, die stellen sofort einen Asylantrag? Wolfrum: Die politische Situation in Somalia ist alles andere als stabil. Die Wirtschaftslage ist katastrophal. Das ist ja einer der Gründe für die Piraterie. Ich könnte mir vorstellen, dass Piraten, die hier dann vielleicht verurteilt werden und einige Jahre im Gefängnis verbringen - Mindeststrafe übrigens nach deutschem Recht fünf Jahre Freiheitsstrafe -, dann sofort einen Asylantrag stellen würden und wahrscheinlich den auch genehmigt bekämen. Durak: Noch etwas zur Unterscheidung. Wenn internationale Piraten verfolgt werden dürfen, aufgebracht werden dürfen, festgenommen werden dürfen und sogar in unsere Länder sozusagen gebracht werden und vor Gericht gestellt werden dürfen, sind das militärische, oder polizeiliche Aufgaben? Wolfrum: Das sind sicher keine militärischen Aufgaben, denn Piraten sind Zivilpersonen, die nach der Definition auch für private Gewinne arbeiten. Das ist untypisch fürs Militär. Nein, das ist eigentlich eine Art Polizeiaktion, die in dieser Art aber vom Seerechtsübereinkommen vorgesehen ist und seit unerdenklichen Zeiten auch anerkannt ist. Durak: Und die Bundeswehr darf dies ja nur tun, weil sie für dieses halbe Jahr sozusagen unter den EU-Schirm geschlüpft ist. Versteckt sich hinter der ganzen politischen Hin und Her-Debatte unter Umständen auch die über den Bundeswehreinsatz im Innern, den manche Politiker wollen? Was denken Sie, Herr Wolfrum? Wolfrum: Das weiß ich nicht. Somalia ist sicher kein Fall im Innern. Das würde ich glatt bestreiten. Ich bin der Meinung, das hat mit der Bundeswehr im Innern gar nichts zu tun. Die Problematik ist alt bekannt. Hier handelt es sich um einen Polizeieinsatz, der aber völkerrechtlich als solcher vorgesehen ist. Er ist ausdrücklich im Seerechtsübereinkommen als solcher benannt und er ist auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Insofern sieht auch das Grundgesetz über Artikel 25, wenn ich einmal eine Vorschrift nennen darf, diesen "Polizeieinsatz" vor. Durak: Danke schön! - Professor Rüdiger Wolfrum, Direktor des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht, ehemals Präsident des Internationalen Seegerichtshofes in Hamburg.
Rüdiger Wolfrum im Gespräch mit Elke Durak
Professor Rüdiger Wolfrum, Direktor des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht und ehemals Präsident des Internationalen Seegerichtshofes in Hamburg, sieht keine rechtlichen Schwierigkeiten beim Kampf gegen die Piraterie. Die Idee eines internationalen Gerichtshofes zur Aburteilung von Piraten halte er hingegen für absurd. Es handele sich um Kriminelle, die nach deutschem Strafrecht verfolgt werden könnten.
"2008-12-10T00:00:00+01:00"
"2020-02-04T13:41:41.003000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/piraten-sind-normale-kriminelle-100.html
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Ein Maulwurf auf dem Mars
Die neue Mars-Mission "InSight" soll Aufschluss über die Beschaffenheit des Planetenkerns bringen (JPL / NASA) Alles schön der Reihe nach; jeder kommt dran: Beim vorletzten Mal war es ein Rover, den die US-Raumfahrtbehörde NASA zum Mars geschickt hat: "Curiosity". Er fährt heute noch durch den roten Mars-Sand. Beim letzten Mal war es ein Orbiter, eine Sonde also, die nicht landet, sondern den Mars umkreist; MAVEN ihr Name. Der Abwechslung halber ist nun mal wieder ein stationärer Lander dran: "InSight". "Die Hauptaufgabe von 'InSight' ist es, Einsichten über das Innere des Mars zu gewinnen. So soll die Sonde erstmals Mars-Beben nachweisen. Und sie soll uns verraten, wie sich die Temperaturen in tieferen Schichten des Planeten verhalten. Der Mars ist ein Gesteinsplanet, so wie die Erde – also lernen wir so auch etwas über die Geschichte unseres Planeten." Vom Mars etwas über die eigene Geschichte lernen Ramon de Paula ist Ingenieur am Hauptquartier der NASA in Washington, D.C. Um in das Innere des Mars schauen und Einsichten über Mars-Beben und Temperaturverteilung gewinnen zu können, muss man zumindest an seiner Oberfläche kratzen. Deutschland beteiligt sich an der 'InSight'-Mission mit einem Bohrer, der genau das leisten soll: sich Schlag um Schlag ein Stück nach unten vorkämpfen. "Eines unserer Instrumente nennt sich HP3. Es ist ein Sensor zur Messung des Wärmestroms im Mars-Innern also. Er wird sich bis zu fünf Meter tief senkrecht in den Boden eingraben. Dort soll er in unterschiedlichen Tiefen messen, in welchen Abständen sich die Temperaturen wie stark verändern." Doch die Neugier der Wissenschaftler gehe noch tiefer, ergänzt Troy Lee Hudson, Ingenieur für die "InSight"-Mission am Jet Propulsion Laboratory (JPL) im kalifornischen Pasadena. "Wir wollen etwas über den Kern des Mars erfahren. Wie groß ist er? Woraus besteht er? Ist er fest, flüssig oder irgendwas dazwischen?" Ein besonderer Maulwurf So tief kann kein Bohrer bohren. Muss er auch nicht. Denn um etwas über den Mars-Kern herauszufinden, wird 'InSight' nach oben blicken – dorthin, wo in nur 6000 Kilometer Höhe der Mond Phobos seine Bahnen um den Planeten zieht. "Phobos ist ein kartoffelförmiger Brocken von maximal 27 Kilometern Durchmesser. Er ist somit zwar viel kleiner als der Erd-Mond. Aber er umkreist den Mars wesentlich näher. Dabei zieht er an der Oberfläche des Planeten. Sie senkt und hebt sich leicht. Diese Bewegungen verraten uns etwas über das Innere des Mars." Einmal gebraucht - und tschüss Ist der Mars in seinem tiefsten Innern flüssig, müsste sich seine Oberfläche bei jedem Überflug seines Mondes ein paar Zentimeter mehr anheben als bei einem festen Kern. - Um sicherzustellen, dass das alles so funktioniert, schickt die NASA diesmal zwei Begleitsonden mit auf die Reise: zwei sogenannte Cubesats, würfelförmige Sonden von der Größe eines Schuhkartons. MarCO, so der Name der beiden; eine Abkürzung für "Mars Cube One". Sie sollen in Echtzeit Funksignale des "InSight"-Landers zur Erde zu schicken, während er in die Marsatmosphäre eintaucht. Normalerweise würde der Mars Reconnaissance Orbiter als Relaisstation fungieren. Während des Landevorgangs von "InSight" jedoch befinde sich MRO hinter dem Planeten, ohne Funkkontakt zur Erde, erklärt Gregg Vane, der Chef der Abteilung für fortgeschrittene Missionen ins Sonnensystem beim JPL in Pasadena. "Die einzige Aufgabe der beiden MarCO-Sonden besteht darin, genau in dem Augenblick am Mars vorbei zu fliegen, in dem die Antenne von 'InSight' sie anfunkt und ihre Daten überspielt. Danach verschwinden sie irgendwo in den Tiefen des Alls. Einmal gebraucht – und tschüs!" Ob alles klappt, wird sich im November zeigen, wenn 'InSight' am Mars eintrifft.
Von Guido Meyer
"InSight" heißt die neue Mars-Mission der NASA. Da Erde und Mars aktuell besonders günstig stehen, soll es am 5. Mai losgehen. Diesmal sollen außer der Marssonde selbst auch noch zwei Huckepack-Sonden mit auf die Reise gehen. Ziel der Mission ist es, etwas über das Innere des roten Planeten zu erfahren.
"2018-05-04T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:57.935000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-nasa-mission-insight-ein-maulwurf-auf-dem-mars-100.html
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Anmutung wie Kreisliga
Das zweite von vier Toren des BVB gegen Schalke (picture alliance/Martin Meissner/AP-Pool/dpa) Erstaunlich war für den Sportjournalisten Sascha Staat vor allem die Atmosphäre beim Aufwärmen im nahezu leeren Dortmunder Stadion: "Da habe ich gedacht: Das ist so eine Art Kreisligaspiel, was da gleich anfängt, weil so wenige Zuschauer im Stadion waren." Nach dem Anpfiff sei der Unterschied für ihn als Reporter aber nicht so groß gewesen - vor allem, weil er sich auf seine Arbeit konzentrierte. Die Spieler auf dem Platz hätten sich in dem leiseren Umfeld möglicherweise besser auf taktische Vorgaben konzentrieren können. Staat hob bei diesen Überlegungen besonders BvB-Profi Mahmoud Dahoud hervor, dem die ungewohnte Atmosphäre möglicherweise geholfen habe, weil er sonst recht intensiv auf Fanaktionen reagiere. "Heute hatte ich schon den Eindruck, dass er befreit aufspielt." Das Hygienekonzept sei konsequent umgesetzt und eingehalten worden, meint Staat. Als Beispiel nennt er Abstände zwischen allen Anwesenden im Stadion, Mund-Nasen-Schutzmasken und Temperaturmessungen beim Einlass. "Gerade die Journalisten, die ja auch davon leben, wissen natürlich, dass sie auch Abstand halten müssen, dass sie sich an diese Regeln halten müssen. Und ich glaube, dass haben sie auch getan." Sascha Staat im DLF-Studio (DLF)
Sascha Staat im Gespräch mit Astrid Rawohl
Der Journalist Sascha Staat war einer der wenigen Zuschauer im Stadion beim Spiel Borussia Dortmund gegen Schalke 04. Im Gespräch beschreibt er, wie die ungewohnten Bedingungen beim Revierderby aussahen, wie die Atmosphäre wirkte und wem all das möglicherweise auch half.
"2020-05-16T19:15:00+02:00"
"2020-05-17T08:52:57.140000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/revierderby-ohne-zuschauer-anmutung-wie-kreisliga-100.html
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Angetreten für den "cambio"
Seit der Wahl vor fünf Monaten bis zum jetzigen offiziellen Amtsantritt hält Andres López Obrador, kurz Amlo, Mexiko in Atem: Fast täglich kündigen er und sein designiertes Kabinett Reformen an (dpa) Entgegen dem Trend in Lateinamerika ist Mexikos neuer Präsident eher ein Linker. Andres Manuel López Obrador, kurz Amlo, will soziale Probleme bewältigen, um mehr Sicherheit in dem gewaltgeplagten Land zu erreichen. Seit seinem Wahlsieg im Juli hielt Amlo Mexiko in Atem: Er stoppte das Milliardenprojekt des neuen Hauptstadtflughafens, kündigte Sozialprogramme an, wie Stipendien und Renten, verriet jedoch nicht, woher er das Geld dafür nehmen will. Er verspricht den Mexikanern den "cambio", den Wechsel, nach dem sie sich sehnen. Große Hoffnungen auf Reformen Die Erwartungen an den Neuen sind hoch: Mit historisch gutem Ergebnis, mehr als 50 Prozent der Stimmen, gewann Andres Manuel López Obrador die Präsidentenwahl im Juli. Der Kandidat der "Bewegung der Nationalen Erneuerung" hatte den "cambio", den Wechsel versprochen, die Umgestaltung des Landes, und Korruption und Unsicherheit den Kampf angesagt. Seinen jubelnden Anhängern rief er noch in der Nacht nach der Wahl zu, dass er sie nicht enttäuschen werde. Amlo, wie ihn die Mexikaner abkürzen, früherer Bürgermeister der Hauptstadt, gewann die Wahl mit einer Mehrheit, die ihn in den ersten Stunden selbst zu überwältigen schien. Politologe Carlos Bravo meint, der neue Präsident habe das Zeug dazu, das Land umzugestalten: "In der mexikanischen Demokratie ist er der erste Präsident, der die absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hat, der Einzige, dessen Parteienbündnis die Mehrheit im Kongress und im Senat und in den Bundesländern erreicht hat. So eine starke Position haben wir noch nie erlebt. Vielmehr sind wir an schwache Präsidenten und Regierungen gewöhnt. Allein das ist schon ein Wandel: die Stärke, mit der er die Macht übernimmt." López Obrador nutzte seine Stärke in den fünf Monaten nach der Wahl und vor dem Amtsantritt und hielt Mexiko in Atem: Fast täglich kündigten er und sein designiertes Kabinett Reformen an, wie die Legalisierung von Marihuana, Renten und Stipendienprogramme, Ermittlungen gegen korrupte Ex-Präsidenten. Mithilfe einer Volksbefragung stoppte er das Mega-Projekt des neuen Hauptstadtflughafens. Damit habe er klar gemacht, welchen Politikstil er ablehne, so Politologe Carlos Bravo: "Der Flughafen war ein Symbol - so wie die Mauer für Trump. Die Menschen konnten ihre Angst oder Hoffnung darauf übertragen. Für Amlo war der Flughafen das Ergebnis einer autoritären Entscheidung seiner Vorgänger, die zeigte, dass sich die politische Macht der wirtschaftlichen unterwirft. Also stoppt er den Bau, sagt, dass Entscheidungen in Zukunft anders getroffen werden. Gut, aber wie dann?" Widersprüchliche Sicherheitsstrategie Ein grundsätzliches politisches Problem dabei ist die Wirtschaft. Was macht man mit den Investoren? Lopez Obrador trifft sich mit ihnen hinter verschlossenen Türen und hinterher sagen alle: Es gäbe keine Probleme. Die von ihm im Wahlkampf noch verteufelte "Mafia der Macht" hat inzwischen wichtige Funktionen: Einige Unternehmer beraten López Obrador in Wirtschaftsfragen. Widersprüchlich ist auch seine Sicherheitsstrategie für das gewaltgeplagte Land mit fast 30.000 Mordopfern im vergangenen Jahr. Weil die Armee schon seit fast zwölf Jahren ohne das gewünschte Ergebnis gegen die Drogenkartelle kämpft und in diesem Einsatz immer wieder Menschenrechtsverletzungen begeht, wollte López Obrador sie von dieser Aufgabe entbinden. So hatte er es im Wahlkampf mehrfach angekündigt. Mit der Armee ließen sich die Probleme nicht lösen: "Die Armee ist dafür nicht da. Wir werden das Problem der Unsicherheit und der Gewalt lösen, indem wir die Gründe dafür bekämpfen. Das ist die menschlichere und effizientere Form. Wir trennen uns von den Rezepten der Vergangenheit. Man kann Feuer nicht mit Feuer löschen." Aufbau einer Nationalgarde Doch klingt er heute ganz anders: Zwei Wochen vor dem Amtsantritt überraschte López Obrador Mexiko mit seiner Sicherheitsstrategie: Um das Land zu befrieden, soll unter der Führung der Armee eine neu gegründete Nationalgarde zum Einsatz kommen. Armeeangehörigen sagte er: "Ich habe das vorgeschlagen, weil ich euch vertraue. Ich vertraue Armee und Marine. Ein Soldat ist Volk in Uniform." Seinen Schwenk rechtfertigte López Obrador so: Das wahre Ausmaß der Korruption bei den Sicherheitskräften, wie der Polizei, sei ihm nicht klar gewesen. Mexikos Polizisten verdienen Hungerlöhne. Das macht sie bestechlich. Aber anstatt die Armee mit noch mehr Macht auszustatten, müsse dringend der korrupte mexikanische Polizeiapparat reformiert werden, fordert Maria Elena Morera von der Nichtregierungsorganisation "Gemeinsames Anliegen": "Eine gute Polizei kann man nicht in einer sechsjährigen Amtszeit aufbauen. Dafür braucht es mehr Zeit. In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die Politiker kurzfristig denken und nur die nächste Wahl vor Augen haben. Wir Mexikaner haben es nicht geschafft, eine langfristige Sicherheitspolitik zu gestalten. Außerdem mangelt es an Verständnis dafür, dass Sicherheit teuer ist. Die Leute wollen gute Polizisten, die nichts kosten, und die Politiker wollen schnelle Ergebnisse." Trotz aller Kritik ist Morera überzeugt: Lopez Obradors Anliegen sei wirklich der "cambio", die tiefgreifende Veränderung. Wenn Mexiko Unsicherheit und Kriminalität in den Griff bekommen will, muss es die extreme Ungleichheit und die Armut bekämpfen, die etwa die Hälfte der Menschen betrifft. Das will der neue Präsident - allerdings ohne Steuererhöhungen für Reiche. Der 65-Jährige gibt sich volksnah; lässt diverse Volksbefragungen durchführen über die Nationalgarde oder Renten, und er will ein Staatsoberhaupt zum Anfassen sein. Auf die Präsidentengarde verzichtet er, ebenso auf den Amtssitz Los Pinos. Schutz brauche er nicht, so López Obrador, weil das Volk ihn schütze.
Von Anne-Katrin Mellmann
Lopez Manuel Obrador ist der erste mexikanische Staatschef mit linker Ausrichtung seit Jahrzehnten. Angetreten, um das Land sicherer und sozialer zu machen, ist seine Sicherheitspolitik dabei mindestens ebenso widersprüchlich wie sein Umgang mit Wirtschaftseliten.
"2018-12-01T12:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:26.090000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mexikos-neuer-praesident-angetreten-fuer-den-cambio-100.html
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"Es gibt kein Problem zwischen Katalonien und Spanien"
Das Gebäude des katalanisches Parlaments in Barcelona (picture alliance / Robert B. Fishman) Am Wochenende will die katalanische Regionalregierung ein Unabhhängigkeitsreferendum durchführen. Die spanische Regierung hält das für verfassungswidrig. Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy hat seine Teilnahme am EU-Gipfel in Tallin abgesagt, er möchte in der gegenwärtig angespannten Lage in Madrid bleiben. Matías Alonso Ruiz, Abgeordneter der liberalen Bürgerbewegung "Ciudadanos" im katalanischen Regionalparlament, machte im DLF der Regionalregierung in Barcelona schwere Vorwürfe. Regierungschef Puigdemont sei unfähig, sagte Alonso Ruiz. *** Das Interview mit Matías Alonso Ruiz, Abgeordneter des katalanischen Parlaments und Mitglied der Führung der liberalen Bürgerbewegung "Ciudadanos", im Wortlaut: Christoph Heinemann: Warum möchte ein Teil der Katalanen unabhängig werden? Matías Alonso: Gute Frage. Denn wenn wir einige Jahre zurückblicken, sehen wir, dass es dieses Gefühl nicht gab. Alle Umfragen zeigten, dass das Interesse an einer anderen Regierungsform und einer Unabhängigkeit sehr gering war, vor zehn Jahren waren das weniger als fünf Prozent. Seither ist etwas passiert: eine Art Flucht nach vorn, die unter dem ehemaligen katalanischen Regierungschef Arturo Mas auf den Weg gebracht wurde. 2011 und 2012 begann eine Seite mit dem Versuch eines Referendums. Heinemann: Warum sagen die Unabhängigkeits-Befürworter: Madrid bestiehlt uns? Alonso Ruiz: Das ist so ein typischer Slogan. Die Lega in Italien nennt Rom eine Diebin. Das ist ein Instrument, um die Nervosität im Bürgertum anzuheizen und um ein anti-spanisches Gefühl zu erzeugen. "Die katalanischen Steuerzahler finanzieren die übermäßigen Ausgaben der autonomen Regierung" Heinemann: Die Unterstützer eine Unabhängigleit führen auch an, dass die Katalanen die höchsten Steuern innerhalb Spaniens zahlen müssen. Warum ist das so? Alonso Ruiz: Das stimmt. Sie sind die höchsten in Spanien, allerdings hat das mit der Autonomie zu tun. Die autonome katalanische Regierung formt die Tatsachen etwas um: Sie sagen, die Einkommensteuern der katalanischen Bürgerinnen und Bürgern landen vor allem in der spanischen Geldtruhe. Tatsächlich werden damit die übermäßigen Ausgaben der autonomen Regierung und Verwaltung finanziert. Heinemann: Bedeutet die gegenwärtige Lage, dass Katalonien für immer Teil Spaniens bleiben muss? Alonso Ruiz: Nein. Aber es ist nicht hinnehmbar, dass die katalanische Regierung de facto das katalanische Autonomiestatut außer Kraft gesetzt hat. Diese Regierung hat sich selbst dazu für befugt erklärt. Sie möchte auch die Verfassung ändern und Richtung Unabhängigkeit gehen. In Deutschland und in jedem demokratischen Land kann man eine Verfassung mit den entsprechenden Mitteln ändern. Das gilt auch für das Autonomie-Statut. Das kann man allerdings nicht mit Gewalt unternehmen. Das ist unmöglich. Heinemann: Sollte das Autonomie-Statut geändert werden? Alonso Ruiz: In der Realtität kann dieses Statut seine Möglichkeiten nicht richtig entfalten, und zwar wegen der Unfähigkeit der Regierung. Anstatt mit dieser Autonomie zu regieren, ist diese Regierung damit beschäftigt, Katalonien von Spanien zu trennen. Mit ihrer Amtsführung richtet die katalanische Regionalregierung Unheil an. Sie blicken nur auf ihr einziges Thema: den Prozess einer vorgeblichen Unabhängigkeit. Fundamentale Rechte vieler Bürger lassen sie beiseite. "Die katalanischen Politiker müssen endlich einsehen, dass wir einen Rechtsstaat haben" Heinemann: Was schlagen Sie denn vor, wie kann man das Problem zwischen Katalonien und Spanien lösen? Alonso Ruiz: Es gibt kein Problem zwischen Katalonien und Spanien. Es gibt ein Problem in Katalonien, für das ein Teil der katalanischen Politiker verantwortlich ist. Sie müssen endlich einsehen, dass wir einen Rechtsstaat haben, eine demokratische Ordnung, die jeder anderen demokratischen Ordnung in der Europäischen Union entspricht und im globalen Zusammenhang sehr fortschrittlich ist. Unter dieser Voraussetzung kann man Änderungen vornehmen. Das ist aber nicht der Weg der katalanischen Regierung und des Regierungschefs Puigdemont. Seine Unfähigkeit zu regieren ist bekannt. Er will nur die Unabhängigkeit. Ausgangspunkt muss aber immer die Tatsache sein, dass wir ein solider und vollständig demokratischer Rechtsstaat sind. Regierungen können jede Art institutioneller Veränderung nur vornehmen, wenn sie den demokratischen Rechtsstaat vollständig respektieren. Heinemann: Können Sie sich die erste spanische Fußball-Liga ohne Barcelona vorstellen? Alonso Ruiz: Wir sind von dieser Möglichkeit sehr weit entfernt. Ich bin culé, wie man die Barca-Fans hier nennt. Barca wird nicht außerhalb der spanischen Liga spielen, die zusammen mit der Bundesliga eine der besten der Welt ist.
Matías Alonso Ruiz im Gespräch mit Christoph Heinemann
Statt mit dem Autonomie-Statut gut zu regieren, setze die katalanische Regionalregierung auf Spaltung und stelle die Verfassung in Frage, kritisierte der liberale spanische Politiker Matías Alonso Ruiz im Dlf. Die katalanischen Politiker müssten Verantwortung für hausgemachte Probleme übernehmen.
"2017-09-29T06:50:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:27.442000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unabhaengigkeitsreferendum-in-katalonien-es-gibt-kein-100.html
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Scheer (SPD): "Mieter dürfen nicht zu Leidtragenden werden"
Die SPD-Abgeordnete Nina Scheer plädiert für eine gerechte Förderung beim Heizungsgeetz (picture alliance / dpa / Fabian Sommer)
Schulz, Josephine
Nina Scheer, energiepolitische Sprecherin der SPD, will sich im Bundestag für einen besseren sozialen Ausgleich bei der Wärmewende einsetzen. Vielen Menschen drohe eine Überforderung. Zurzeit bekommen auch einkommensstarke Personen eine Förderung.
"2023-05-20T08:15:00+02:00"
"2023-05-20T08:37:04.746000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heizungsdebatte-nina-scheer-energiepolitische-sprecherin-spd-dlf-53d7fb24-100.html
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Ideologie auf dem Lehrplan
Sowjetisches Ehrenmal im Berliner Treptower Park. Der russische Geschichtslehrplan neigt zum Heldengedenken. (imago stock&people) Die Abiturientin Alexandra nimmt die Kopfhörer ab. Sie hat lange gesessen und gehört, vor allem, was deutsche Soldaten in ihren Briefen nach Hause schreiben. Wie sie Leningrad belagern, welche Zerstörung sie sehen, wie sie ihr Handeln rechtfertigen – oder dies nicht können. Von dem Leiden der Zivilisten in der Stadt hat sie im Unterricht gehört, aber wenig über die Seite des Gegners, über die Deutschen. "In unserer Gesellschaft sollte der Schwerpunkt nicht allein auf den eigenen Verlusten liegen, sondern auch auf den Verlusten der anderen. Ich finde Erinnerung nicht nur an die Menschen wichtig, die auf unserer Seite gekämpft und nicht überlebt haben, sondern an jeden Menschen, der umgekommen ist. An sie sollten wir uns erinnern." Der Krieg ist großes Thema in den Stundenplänen Der Zweite Weltkrieg oder der Große Vaterländische Krieg, wie die Zeit vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 bis zum Kriegsende 1945 in Russland genannt wird, ist in russischen Schulen häufig Thema. Boris, auch Abiturient eines Moskauer Gymnasiums, erzählt: "Bei uns gab es Wahlfächer, das heißt, sogar in der unterrichtsfreien Zeit haben wir über das Thema Krieg gesprochen. Wir haben Projektarbeiten gemacht wie etwa 'Die Liebe im Ghetto'. Wir haben das 'Blockadebuch' gelesen und uns näher mit dem Thema Krieg auseinander gesetzt. Es hat eine große Rolle gespielt. Man hat uns erklärt, was Krieg ist, warum er geschehen ist und uns von dem Schrecken erzählt, den das sowjetische Volk durchlebt hat." Wie sieht es an anderen Schulen aus? Piotr Masaew unterrichtet Geschichte an einem Gymnasium im Moskauer Norden. "Im üblichen Lehrplan der elften Klasse wird der Zweite Weltkrieg sehr lange behandelt. Manchmal geht das bis zu anderthalb oder zwei Monaten: der Weg zum Krieg, der Krieg selbst, seine Folgen, das Heldentum des sowjetischen Volkes." Die Schüler werden kritischer Der Lehrplan habe sich in den vergangenen fast zwei Jahrzehnten kaum geändert. Auch in unteren Klassen kämen Schülerinnen und Schüler mit diesem Teil der Geschichte in Berührung. Außerdem gebe es jährlich verschiedene Gedenktage, über die auch gesprochen werde. Seit einigen Jahren aber bemerkt der Geschichtslehrer, wie die Fragen der Schüler kritischer werden: "Eine der schwierigsten Fragen: Wer ist schuld? Wer ist daran schuld, dass die Sowjetunion sich so lange, während der ersten Hälfte des Krieges, zurückgezogen hat? Die Befehlshaber oder wer? Warum ist das passiert, warum gab es derart gewaltige Verluste? Die Schüler verurteilen das nicht. Sie verstehen einfach nicht, wie man so etwas hat zulassen können." Vermittelt werden Heldentaten, keine Schicksale Wenn die Schüler Glück haben, stoßen sie auf Lehrer, oft jüngere, die sich ihrer Fragen annehmen. Viele aber haben dieses Glück nicht. Das zeigt eine Untersuchung der Historikerin Natalja Potapowa von der privaten Europäischen Universität Sankt Petersburg. Dort hat sie Schüler und Lehrer im Unterricht beobachtet und befragt. Sie sagt, darüber, was im Unterricht behandelt wird, entscheidet vor allem, was im "Einheitlichen Examen" drankommt, der russlandweit gleichen Prüfung. "Die Darstellung des Krieges ist eine alte Tradition, das ist das Zeigen einer Karte, abstrakte Kenntnisse. Man kommt im Krieg nicht ums Leben, man ist in Einsätzen, die Armee erkämpft Durchbrüche. Im Krieg werden nicht Menschen, sondern Batterien vernichtet. Wenn Leute im Krieg ums Leben kommen, sind das nicht unsere. Unsere Leute leisten Heldentaten." Persönliche Erinnerungen von Kriegsteilnehmern, Erzählungen über das Leiden und die Verheerungen finden kaum einen Platz. "Der Krieg erscheint wie ein dehumanisierter und abstrakter Prozess. Dieses Narrativ leistet einer militaristischen Ideologie Vorschub: Krieg ist nicht schrecklich, er ist der Gewinn von Territorien." Das Lernziel ist ideologisch geprägt Der Staat, ob nun sowjetisch oder russisch, wird Potapowa zufolge stets als starker Staat dargestellt. Und als einer, der sich unabhängig von Europa entwickelt hat. "Russland ist von den anderen Ländern isoliert. Das heißt: Unsere Geschichte entwickelt sich irgendwie selbstständig, ist nicht in internationale Prozesse eingeschlossen, unter anderem nicht in den internationalen Handel. Dabei ist das Land stets von Feinden umgeben. Diese These taucht wieder und wieder auf: im Einheitlichen Examen und auch in Lehrbüchern." Die Befunde der Historikerin sind eine schlechte Nachricht für all jene, die darauf setzen, dass in den Schulen Russlands eine Generation heranwächst, die aus dem einstigen sowjetischen, ideologisch geprägten Geschichtswissen herauswächst. Der Lehrplan betont nach wie vor Heroismus, Kampf und Stärke.
Von Thielko Grieß
Wenn es im russischen Geschichtsunterricht um den Zweiten Weltkrieg geht, dann stehen oft Ruhm und Heldentaten Russlands im Vordergrund. Die Historikerin Natalja Potapowa warnt vor noch immer ideologisch geprägten Lehrplänen in ihrem Land. Doch zunehmend stellen Schüler auch kritische Fragen.
"2017-05-18T14:52:00+02:00"
"2020-01-28T10:28:22.655000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-zweite-weltkrieg-an-russischen-schulen-ideologie-auf-100.html
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"Ich hatte 9 Cent, als ich losgelaufen bin"
Ein Jahr lang haben die Filmemacher für "Draußen" ihre obdachlosen Protagonisten begleitet - unter ihnen: Elvis aus Köln (Real Fiction Filmverleih / Thekla Ehling) Lärm ist sein ständiger Begleiter: Elvis lebt in Köln unter einer Brücke an einer viel befahrenen Straße. Aber er lässt sich nicht hängen, hat seine Prinzipien. "Hier kommen doch sehr viele Leute mit Autos, oder Fußgänger. Da will ich nicht so ein Gekruschel da rumliegen haben. Das soll schon ordentlich sein, dass die Leute sehen, aha, da lebt einer auf der Straße, hält Ordnung, hält seine Ecke sauber." Elvis ist Ordnungsfanatiker, Kleidung und Schlafsack legt er sorgfältig auf Kante. Der 71-Jährige trägt Cowboy-Stiefel, einen schwarzen Hut und viele Ringe an den Fingern. Er ist einer der Protagonisten aus dem Dokumentar-Film "Draußen", der heute in die Kinos kommt. Haferflocken für einen Euro "Ich hatte 9 Cent, als ich losgelaufen bin. Ansonsten hab ich gelebt von dem, was man so gefunden hat und man findet so einiges, Pfandflaschen hauptsächlich. … und so konnte ich mir meine Haferflocken am Tag leisten für einen Euro. Damit kann man schon mal leben." Auch Matze hat keine Wohnung mehr und lebt unter einer Plane abseits im Wald – ganz zurückgezogen. Sein persönlicher Besitz passt in einen Rucksack: selbstgemalte Vogel-Bilder, Messer, Überraschungseier und eine Sonnenbrille. "Ich fand den unsagbar berührend, weil hier vier Menschen gezeigt werden und porträtiert werden und nicht vier Obdachlose. Sie werden ihrer Uniformität der Obdachlosigkeit entkleidet und heraus kommen vier Menschen mit ihren Nöten und Sorgen und man ist ganz nah bei ihnen", sagt Birgit Müller, Chefredakteurin der Hamburger Straßenzeitung "Hinz&Kunzt". Vieles, was in dem Film gezeigt wird, kennt Müller seit 25 Jahren aus Ihrer Arbeit mit Obdachlosen in Hamburg - dort verkaufen 500 Wohnungslose ihre Straßenzeitung. Der Star tröstet Viele Menschen auf der Platte schämen sich für ihr Leben ohne Wohnung, oft verlieren sie das Vertrauen in andere Menschen. Birgit Müller: "Da ist zum Beispiel der Elvis, der schon ein Heimkind war, was übrigens bei uns auch ganz oft der Fall ist. Dass Obdachlose schon als Kinder keine Chance hatten und dann im Heim aufgewachsen sind. Da war mir der Elvis am nächsten einfach, weil ich das halt kenne." Elvis' Leben hätte ganz anders verlaufen können. Aber sein Vater gab ihn als kleinen Jungen ins Heim. Trotz Startschwierigkeiten fand er als junger Mann eine große Liebe. Er wollte heiraten, doch bei einem Verkehrsunfall starb seine Freundin. Das warf Elvis völlig aus der Bahn. Trost findet er bis heute in der Musik des Rock’n’Roll Sängers. Selbst schuld, reiß dich zusammen – diese Haltung schlägt Obdachlosen oft entgegen. Birgit Müller weiß aus ihrer Arbeit, dass viele Wohnungslose von alleine kaum aus ihrer Situation herauskommen, weil es sich oft um traumatisierte Menschen handelt. Sie sagt: "Bei einem Kriegsflüchtling ist da ja völlig klar, was der durchgemacht hat. Bei einem Obdachlosen ist es nicht unbedingt klar, dass der traumatisiert ist, das ist es noch nicht so anerkannt, weil es sich um Alltagstraumatisierung oft handelt. In dem Sinne von: in der Familie sind schlimme Dinge passiert – sonst würde man ja nicht ins Heim kommen." Versöhnung mit der Familie Müller bedauert, dass es für Obdachlose keine Therapiemöglichkeiten gebe. Viele wollten sich aber auch nicht helfen lassen. Manche verlassen ihre Familie und ihre Kinder, ohne sich zu verabschieden. Auch Peter erzählt im Film davon. Er war einst Punk, lebte früher von Kleinkriminalität, hatte mehrmals geheiratet. Vor kurzem nahm er sogar Kontakt zu einem seiner drei Kinder auf, beließ es aber dabei. Heute ist er alt, schämt sich für sein Leben auf der Straße, für Versäumtes, Misserfolge. Nur selten schafft es ein Obdachloser wieder dauerhaft Kontakt zur Familie aufzunehmen. "Es ist immer ganz toll, wenn Kinder und Eltern es wieder schaffen wieder zueinander zu finden", sagt Birgit Müller. "Das ist wirklich was Wunderbares, das haben wir auch gerade erlebt. Wir haben hier gerade einen Verkäufer gehabt, einen Hinz&Künzler, der zwei Jahre auf der Straße gelebt hat. Der einfach abgehauen war von seiner Familie." Birgit Müller ist Chefredakteurin des Straßenmagazins "Hinz & Kunzt" (dpa / Daniel Reinhardt) Seine Familie und seine Kinder hätten ihn lange nach ihm gesucht, berichtet Müller. "Haben ihn auf der Straße gefunden, hier in Hamburg. Und die Frau – unfassbar toll – hat ihm vorgeschlagen, dass sie sich regelmäßig treffen und wieder Kontakt aufbauen und inzwischen lebt er wieder mit seiner Familie zusammen. Und die vier machen eine Familientherapie und bekommen Hilfe und nehmen diese Hilfe an." Eine zweite Chance zu bekommen, davon träumen viele Menschen, die auf der Straße leben. Doch derzeit ist die Stimmung gereizt, viele stören sich an Obdachlosen, die in den Fußgängerzonen und U-Bahnhöfen liegen, betteln und sich mit Drogen betäuben. In Berlin hat in diesem Sommer die Straßenzeitung "Straßenfeger" Insolvenz angemeldet. Dabei gibt es viel zu berichten. Die Zahl der Obdachlosen steigt, unter ihnen sind viele, die als Arbeitsmigranten aus Osteuropa gekommen sind, aber keine oder nur eine sehr kurzfristige Beschäftigung fanden. In Berlin leben Schätzungen zufolge bis zu 10.000 Menschen auf der Straße. Manchmal ganze Familien. Geben und nicht geben In Hamburg sind es rund 2000 Menschen auf der Straße – auch hier kommen viele aus dem Osten der Europäischen Union, aus Bulgarien und Rumänien. Viele wollten in der Hansestadt arbeiten, sagt Müller, seien aber gescheitert. Solange sich niemand verantwortlich fühle, müsse man die Menschen vor einer Verelendung bewahren. Denn je länger jemand auf der Straße lebe, umso schwerer sei der Weg zurück, sagt Müller. Und was macht man als einzelner im Café oder in der S-Bahn, wenn Menschen permanent um einen Euro bitten? "Ich glaube, da muss man ganz nach Gefühl gehen, ich mach das auch so. …. Ich habe auch einen Menschen, der bettelt, den ich besonders gerne mag. Für den ich mir besonders oft was aufhebe, also Kleingeld oder so. ….Und ich wünsch mir, dass man dann sagt: Okay ich bin nicht für jeden verantwortlich, aber dem einen kann ich doch was geben und bei den anderen sage ich freundlich: nein danke."
Von Mechthild Klein
An diesem Donnerstag kommt eine Dokumentation über vier Männer ohne festen Wohnsitz in die Kinos. Elvis, Matze, Peter und Sergej sind vier von Zigtausenden. "Draußen" erzählt von ihrem Leben auf der Straße und vom Leben davor.
"2018-08-30T09:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:08:14.142000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/obdachlosigkeit-ich-hatte-9-cent-als-ich-losgelaufen-bin-100.html
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Die Regierungen wechseln, die Mafia bleibt
"Wenn die Mafia jemanden umbringen will, dann tut sie es. Hier regiert die Mafia, nicht der Staat. Alle haben Angst vor der Mafia, ich auch ein bisschen."Marco Carmine, Schüler in Neapel."Die Mafia tötet nicht nur mit Blei. Man stirbt nicht nur im Kugelhagel der Killer, man stirbt auch durch die tägliche Gleichgültigkeit."Massimo Russo, Richter in Palermo."Es ist einfach nicht richtig, dass eine Region wie Kalabrien dahinvegetiert als wäre sie Dritte Welt, bloß wegen dieser Kriminellen, die dumm sind, ungebildet und barbarisch."Sofia Radi, Studentin in Reggio Calabria.In Kalabrien die 'Ndrangheta, in Neapel die Camorra, in Sizilien Cosa Nostra und in Apulien die wenig bekannte Sacra Corona Unita: Italien hat viele Mafien. Zusammen erwirtschaften sie einen Gewinn, der bei fast zehn Prozent des italienischen Bruttoinlandsproduktes liegt. Sie haben sich den Markt aufgeteilt. Die 'Ndrangheta kontrolliert den Kokainhandel in Europa, bezieht den Stoff exklusiv von Drogenkartellen in Südamerika. Die Mafia hat beste Kontakte in die USA, die Camorra bedient den Heimatmarkt. Außerdem kooperieren die italienischen Organisationen mit Schlepperbanden aus Afrika und Osteuropa, verdienen so kräftig mit an den weltweiten Flüchtlingsströmen. In Italien selbst erpressen sie Schutzgeld und betrügen den Staat bei öffentlichen Aufträgen und im Gesundheitswesen jährlich um Millionen. Teure Bauprojekte werden schlampig oder gar nicht ausgeführt und trotzdem bezahlt. Private Kliniken, die von Strohmännern der Mafiafamilien geführt werden, stellen völlig überhöhte Rechnungen aus. Und der öffentliche Gesundheitsdienst zahlt. Überall, wo Geld zu holen ist, ist die Mafia dabei. Sie ist unersättlich.Die Mafia denkt an nichts anderes als an sich selbst, wir dagegen denken nur manchmal an die Mafia, sagt Nando Dalla Chiesa, Sohn eines von der Mafia ermordeten Generals. Als Regierungspolitiker setzt er sich heute für schärfere Gesetze gegen die Organisierte Kriminalität ein und plädiert dafür, Mafiabesitz konsequent zu beschlagnahmen. "Ein Mafioso ohne Besitz ist ein Niemand. In dem Moment, in dem wir seinen Besitz beschlagnahmen, wird er zum armen Teufel. Genau das müssen wir anstreben."Solange die Bosse in protzigen Villen wohnen und das Leben der Einwohner konditionieren können als wären es ihre Untergebenen, hat der Staat einen schwachen Stand in den Camorra-Vierteln von Neapel, in Kalabrien und in Sizilien, wo die Machtbereiche der einzelnen Clans genau abgesteckt sind. Corleone im hügeligen Hinterland von Palermo. Hier herrscht der gefürchtete Clan der "Corleonesi", er gilt selbst innerhalb der Mafia als besonders brutal. Die beiden wichtigsten Bosse der vergangenen 30 Jahre - Toto Riina und Bernardo Provenzano - stammen aus diesem Ort in den Bergen. Bis zur Festnahme von Riina im Januar 1993 regierten sie von hier ihr gewaltiges Imperium: "Cosa Nostra”, unsere Sache. Ein weit verzweigtes, internationales Imperium, ein Global Player des Verbrechens. Corleone ist nach wie vor eine Mafiahochburg. Aber nicht nur. Es gibt hier auch "die Anderen". Die, die sich auflehnen gegen den Machtanspruch von Cosa Nostra. Einer von ihnen ist Salvatore, ein kräftiger junger Mann mit sonnenverbrannten Armen und schlurfendem Gang. Er inspiziert heute das Mandelbaumfeld am Ortsrand. Die Erde ist trocken, von Rissen durchzogen. Der Wind, der über das Feld streicht, immer noch sommerwarm. Der sonnenhungrige Mandelbaum wird viel angepflanzt in Sizilien. Aber diese Bäume hier in Corleone sind etwas Besonderes. Salvatores Chef, Calogero Parisi:"Bis vor kurzem gehörten diese Felder den Bossen hier aus der Gegend. Heute sind sie in den Händen von gemeinnützigen Kooperativen. Das bedeutet: sie schaffen Arbeitsplätze."Möglich wurde das durch ein Gesetz, das so alt ist wie der Kampf gegen die Mafia selbst. Angewandt wurde und wird es allerdings nur zögerlich. Es entzieht den Mafiosi ihr Eigentum. Können sie nicht dokumentieren, woher das Geld stammt, mit dem sie Land oder Immobilien kauften, beschlagnahmt der Staat die Güter. Zumindest steht es so im Gesetz. In der Praxis dauert es Jahre bis zweifelsfrei festgestellt ist, dass die Güter nicht legal erworben wurden."Es vergehen leicht zehn Jahre zwischen der Beschlagnahme und der Übergabe an eine gemeinnützige Einrichtung. Wenn es sich dabei um einen Weinkeller handelt wie in einem unserer Fälle zwischen den Ortschaften San Giuseppe und Corleone bleibt in zehn Jahren nichts Gebrauchsfähiges mehr übrig. Und einen verlassenen Weinkeller wieder neu in Betrieb zu nehmen, kostet Geld, viel Geld."Deshalb warten viele beschlagnahmte Felder noch darauf, wieder bewirtschaftet zu werden. Villen von mutmaßlichen Mafiabossen verwahrlosen, Häuser und Wohnungen stehen leer. Manchmal findet sich aber auch schlicht niemand, der bereit ist, die beschlagnahmten Güter im Sinne des Gemeinwohls zu verwalten. Die Angst vor der Rache der Mafia ist groß."Wenn man allein ist, dann geht man ein hohes Risiko ein. Aber hier haben wir zum Glück viele Menschen, die uns unterstützen. Es gibt verschiedene Vereine, die sich um konfiszierte Mafia-Gütern kümmern. Die stehen alle hinter uns. Das heißt, du bist nicht allein."In Sizilien kümmern sich mehr als 1000 lokale Vereine um beschlagnahmte Mafiagüter, in ganz Italien sind es fast 4000. Denn die Mafia existiert nicht nur in Sizilien oder Kalabrien, sondern auch im Norden. Hier kauft sie Häuser, hier investiert sie ihr schmutziges Geld. Und unterwandert ein funktionierendes Wirtschaftssystem. Die Mafia agiert in Norditalien weniger blutrünstig, aber genauso kriminell, sagt Pierluigi Stolfi, Staatsanwalt in Lodi, einer Kleinstadt bei Mailand."Mafia-Interessen gibt es auch hier. Im öffentlichen Bauwesen, Straßenbau und so. Aber sie bleiben verdeckt. Wir haben zum Beispiel gegen einige dubiose Gesellschaften ermittelt, nicht direkt wegen Mafia-Delikten, aber wegen Sachen, die da mit dranhängen: Steuerdelikte, betrügerischer Bankrot, Bilanzfälschung."Im Gemeindesaal von Quarto d`Altino bei Padua im Nordosten Italiens geht es an einem diesigen Septemberabend genau darum. Der Unternehmer Maurizio Donadelli hat zu einer Podiumsdiskussion über die Mafia eingeladen. "Ich habe die Probleme, die das Phänomen Mafia im Süden mit sich bringt, selbst dort erlebt und mir ist aufgefallen, wie weit weg wir hier sind von dieser Welt, weiter jedenfalls als die 16 Stunden Zugfahrt, die uns trennen. Deshalb halte ich es für wichtig, mit Menschen, die dort gegen die Mafia kämpfen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wir wollen begreiflich zu machen, dass sich die Mafia heute nicht mehr auf Sizilien beschränkt, sondern sich überall ausbreitet. Auch hier, wo die Wirtschaft noch sauber ist. Zum Beispiel gibt es hier Versuche, Geld zu waschen durch den Kauf von Unternehmen."Maurizio Donadelli hat einen prominenten Gast.Rita Borsellino, die jüngere Schwester des sizilianischen Richters Paolo Borsellino, der vor 15 Jahren von der Mafia ermordet wurde. Sie blickt freundlich in die Runde, wirkt unscheinbar, geradezu harmlos. Graues kurz geschnittenes Haar, kaum Schmuck, kein Make-up. In Wahrheit zählt diese Frau zu den engagiertesten und zähesten Mafiagegnern, die Italien heute hat. "Ich fühlte mich von Paolo beschützt, er war ein ganz wichtiger Bezugspunkt. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nach seinem Tod selbst aktiv wurde. Ich wollte verhindern, dass er vergessen wird. Nicht nur die Erinnerung an das, was er tat, wollte ich wach halten, sondern auch die Erinnerung an ihn als Menschen."Seit 15 Jahren geht Rita Borsellino in die Schulen, die Universitäten, die Rathäuser, die Polizeipräsidien und sogar in die Gefängnisse, um über die Mafia zu sprechen. Sie trifft Richter, Polizisten, Politiker und immer wieder Bürger wie hier in Quarto d`Altino. "Ich möchte mit einem besonderen Gedanken beginnen, einer Überlegung, sagen wir so. Die Mafia ist heute stärker und besser organisiert als die Mafia von Toto Riina, die Mafia der Mordanschläge in den 90er Jahren. Ich sage das oft und es mag seltsam erscheinen, dass ausgerechnet ich so eine Beobachtung anstelle, weil ich doch die Grausamkeit der Mafia damals persönlich erlebt habe mit dem Verlust der Person, an der ich am meisten hing. Aber es ist so: die Mafia von Toto Riina, die Mafia, die Giovanni Falcone und wenig später Paolo Borsellino ermordet, enthüllt mit diesen Morden ihre eigene Schwäche. Denn sie weiß sich nicht anders zu wehren."Zwei Stunden spricht Rita Borsellino über die Mafia, die Italien mit Gewalt beherrschen wollte und über die Mafia von heute, die sich geschickter anstellt. Statt den Staat offen herauszufordern, unterwandert sie ihn. "In einigen Fällen hat sie ihre eigenen Leute in die Institutionen geschleust anstatt Kontakt zu Politikern zu knüpfen Das geht jetzt, weil die Söhne der Mafiabosse heute Anwälte sind oder sonst einen angesehenen Beruf haben."Sagt der Regierungspolitiker Nando dalla Chiesa."Sie sind vorzeigbar geworden, sprechen im Gegensatz zu den alten Bossen, die sich vor allem mit Bomben und Pistolen auskannten, korrekt Italienisch und können so besser für eine politische Partei kandidieren."Domenico Miceli, Dezernent in Palermo, Pino Fricano bis vor einem Jahr Bürgermeister im sizilianischen Bagheria, Antonio Borzacchelli, Carabiniere, Raffaele Bevilacqua, Rechtsanwalt, Giovanni Ienna, Hotelier - die Liste derjenigen, die in den vergangenen Jahren wegen Mafia-Mitgliedschaft oder Zusammenarbeit verurteilt wurden, ist lang. "Politik und Mafia wollen über ein und dasselbe Land herrschen. Das heißt, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder bekriegen sie sich oder sie einigen sich."Das erkannte Paolo Borsellino schon vor 20 Jahren. Nach seinem Tod 1992 kam es zum bislang größten Krieg zwischen der Mafia und dem Staat. Die Mafiosi verübten Mordanschläge, die Politiker verabschiedeten schärfere Gesetze. Gesetze, die sich Nando Dalla Chiesa heute zurückwünscht."In der Zeitspanne entwickelte der Staat plötzlich die Fähigkeit, hart und konsequent durchzugreifen: das Kronzeugen-Gesetz trat in Kraft, verurteilte Mafiosi kamen in Einzelhaft, untergetauchte Mafiabosse wurden geschnappt. Das war der Moment, in dem der Staat ernst machte mit dem Kampf gegen die Mafia. Angehalten hat das zwei, drei Jahre."Dann war es plötzlich vorbei. Die Mordanschläge hörten auf und viele der erfolgreichen Gesetze wurden ohne großes Aufheben zurückgenommen, aufgeweicht, geändert. "Wir haben das Gefühl, dass die Mafia damals in eine Partei investierte, die neu entstand: Forza Italia. Nicht nur, aber vor allem. Ihre Beziehungen zu den Mitte-Links-Parteien dürfen wir deshalb aber nicht unter den Tisch fallen lassen." "Forza Italia" wurde in nur drei Monaten von einem Herrn aus dem Boden gestampft, der wegen Verstrickung mit der Mafia zu neun Jahren Haft verurteilt wurde: Marcello dell`Utri. Laut Anklage war der Sizilianer Cosa Nostras Botschafter in Mailand und Rom. Er sollte Politiker und Unternehmer für die Zusammenarbeit mit der Mafia gewinnen. Tatsache ist, dass Marcello Dell`Utri engster Vertrauter des Bau- und Medienunternehmers Silvio Berlusconi wurde und ihn dazu drängte, in die Politik einzusteigen. Mafia-Kronzeugen haben ausgesagt, dass die Stimmen der Cosa Nostra bei den Wahlen 1994 an Berlusconis Partei "Forza Italia" gingen. Tatsache ist auch, dass die Regierung Berlusconi der Mafia verschiedene Geschenke machte. Das Kronzeugenschutzprogramm wurde heruntergefahren, die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften im Ausland erschwert und eine Möglichkeit geschaffen, Geld aus dem Ausland anonym und gegen eine geringe Steuer, nach Italien zurückzuführen. Die legale Geldwäsche sozusagen. Für Politiker wie Leoluca Orlando, der als Bürgermeister in Palermo die Mafia bekämpfte, war die Politik der Regierung Berlusconi ein Schlag ins Gesicht. Er erklärte damals:"Manche Leute sagen, die Mafia existiert nicht. Falsch: Die Mafia hat entschieden, nicht mehr zu töten. Die Mafia entscheidet, in Ruhe zu leben. Weil die Mafia hat die Hoffnung, mit diese Regierung Geschäfte zu machen ohne Notwendigkeit die Leute zu töten. Heute haben wir eine neue Atmosphäre, für diese Regierung Legalität ist nicht mehr so wichtig wie in der Vergangenheit."Inzwischen ist die Regierung Berlusconi Vergangenheit. Romano Prodi regiert mit einem weit gefassten Mitte-Rechts-Bündnis und nur einer hauchdünnen Mehrheit in Parlament und Senat das Land. Die umstrittenen Gesetze, zum Beispiel die Kronzeugenregelung, wurden aber nicht revidiert. "Warum ein Kronzeuge nicht erwünscht ist, ist schnell gesagt: Er enthüllt Verbindungen in die Politik und das kann unangenehm werden für das Politische System. Sobald einer über seine Beziehungen zu Politikern spricht, ist er automatisch nicht mehr glaubwürdig."Nando Dalla Chiesas Vater wurde von der Mafia ermordet, weil er als Polizeipräsident von Palermo kompromisslos gegen die Organisierte Kriminalität vorging. Sein Sohn sitzt heute im Parlament neben Politikern, die im Verdacht stehen, im Dienste Cosa Nostras zu agieren. Gegen mehrere Abgeordnete wird ermittelt, zehn Parlamentarier und Senatoren sind rechtsgültig verurteilt. Nicht wegen Mafiamitgliedschaft, aber wegen Korruption, Steuerhinterziehung, Urkundenfälschung oder Falschaussage."Mir bereitet das großes Unbehagen. Mich quält die Frage, wie es möglich sein kann, dass ein Staat so einfach kapituliert vor der Mafia. Ich glaube, ein seriöser Staat muss den Kampf gegen Mafia, N`drangheta und Camorra als oberste Priorität betrachten. Und zwar egal, welche Mehrheit gerade regiert. Aber leider zaudern beide politischen Lager und wenn dann mal wieder ein Mord für Aufsehen sorgt, reden alle von neuen Gesetzen, mehr Kasernen, noch mehr Polizei und besseren Richtern, aber das alles ist ein alter Film, den wir hier schon seit Jahrzehnten sehen."Als am 15. August in Duisburg ein Killerkommando der 'Ndrangheta sechs Männer per Genickschuss exekutierte, war ganz Italien im Urlaub. Als am 30. August die italienische Polizei in Kalabrien mehr als 40 mutmaßliche 'Ndrangheta-Mitglieder festnahm, brachten die Zeitungen die Fotos von dem Einsatz am nächsten Tag auf der ersten Seite. Am Tag darauf regte sich die Öffentlichkeit bereits wieder über anderes auf: über die illegalen Camps von Roma und Sinti, über die Bettler in den U-Bahnen und die, die an den Ampeln ungefragt die Autoscheiben putzen. Italiens Großstädte Rom, Mailand, Turin, Florenz haben mit dem Innenministerium einen "Pakt für mehr Sicherheit" geschlossen. Dabei geht es um die Kleinkriminalität, sie soll effizienter bekämpft werden. "In den vergangenen zwei Monaten wurde mehr über die Autoscheibenputzer gesprochen als über die 'Ndrangheta. Und wenn Duisburg nicht gewesen wäre, wäre die 'Ndrangheta gar nicht erwähnt worden. Das ist kein gutes Zeichen. Es fehlt an einer Vision und an Bewusstheit."Der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität steht auch für das Regierungsbündnis um Romano Prodi nicht an erster Stelle. Zwar gibt es Initiativen, wie die eines Hilfsprogramms des Innenministeriums für Unternehmer, die ihre Schutzgelderpresser anzeigen oder die moralischen Richtlinien zur Auswahl von Kandidaten innerhalb der Parteien, an der die parlamentarische Anti-Mafia-Kommission arbeitet oder der Aufbau einer landesweiten Agentur, die alle beschlagnahmten Mafiagüter verwaltet, aber es fehlen Vorschläge neuer Strafgesetze mit Aussicht auf Erfolg im Parlament. Das im europäischen Vergleich nur mäßige Wirtschaftswachstum, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die Rentenreform – darum geht es in der politischen und öffentlichen Diskussion. Alles Themen, die für die Zukunft des Landes wichtig sind. Der finanzielle Schaden, der Italien durch die Organisierte Kriminalität entsteht, wird dabei ausgeblendet. Er ist enorm. Durch Korruption, Schutzgelderpressung und Betrug im Gesundheitswesen, im Bausektor, in der Müllabfuhr und Müllverwertung erleichtern die italienischen Mafien den Staat um Milliardenbeträge. Laut Oberstaatsanwalt Piero Luigi Vigna machen Cosa Nostra, 'Ndrangheta, Camorra und die Sacra Corona Unita aus Apulien gemeinsam einen Jahresumsatz von 100 Milliarden Euro. Sie sind damit Italiens größtes Wirtschaftsunternehmen.
Von Kirstin Hausen
Das Bild der Mafia hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Während sich die Clans noch in den 90er Jahren blutige Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht lieferten, widmen sich 'Ndrangheta, Camorra, Cosa Nostra und Sacra Corona Unita heute lieber ihren Geschäften. Zusammengenommen sind die Mafien so zum größten Wirtschaftsunternehmen Italiens aufgestiegen.
"2007-10-31T18:40:00+01:00"
"2020-02-04T14:15:23.020000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-regierungen-wechseln-die-mafia-bleibt-100.html
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Schamlose Zeiten?
Blick in die Ausstellung "Sexualmoral im Wandel" im Bonner Haus der Geschichte (imago/stock&people/Sepp Spiegl) Ende der 1960er-Jahre waren es die Nacktbilder und das Paarungsverhalten der Kommune 1-Bewohner, die medienwirksam gegen die Monogamie und die damals gängige Sexualmoral rebellierten. Heute sind es die "Feuchtgebiete" in der Literatur oder die im Internet verkehrenden Vertreter der sogenannten "Generation Porno", die die Schamgrenzen ausloten oder gar überschreiten. Ist die Geschichte also eine Geschichte der fortschreitenden Enthemmung? "Empfindungen der Scham sind in hohem Maß abhängig vom kulturellen Raum, von Prägungen der Religion und des Zeitalters. Ihr Anlass trennt einzelne Menschen, ganze Epochen und Gesellschaften voneinander, (...) und nichts macht den Ablauf der Zeit anschaulicher als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten, welche wir Kultur nennen. Dieser Wandel nährt den stets naheliegenden Verdacht, die jeweils eigene Epoche sei besonders schamlos," schreibt der Journalist, Autor und Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg, Ulrich Greiner in seinem Buch "Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur". Doch die Geschichte, so Greiner, sei keine der fortschreitenden Enthemmung, dagegen sprächen die vielen Kontrollmechanismen, die unsere Zeit in hohem Maß bestimmen. Aber immer sei es das zweifelhafte Privileg der Älteren gewesen, den Verfall der Sitten wahrzunehmen. Die Entstehung neuer Sitten zu erkennen, sei weitaus schwieriger. Genau darum bemüht sich rückblickend die Bonner Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel". Sie greift beispielhaft die langfristigen Entwicklungslinien von 1945 bis heute auf, die Vorgeschichte und Nachwirkungen der 68er-Generation. Dr. Kornelia Lobmeier, Historikerin am Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und Kuratorin der Ausstellung: "Natürlich hatte vor allen Dingen die katholische Kirche großen Einfluss genommen auf Politik, Gesetzgebung und hat versucht einer traditionellen Sexualmoral das Wort zu reden, indem also die voreheliche Keuschheit gepredigt wurde und die eheliche Treue. Tatsächlich aber ist auch hier wieder der Unterschied zwischen dem Propagierten und der gelebten Praxis." "Und da war es auch abgesprochen, wenn ich schwanger werde, dass, ich hatte Geld gespart, wird halt früher geheiratet. Über Liebe und Sexualität schweben immer noch die anerzogenen Hemmungen und als größte Bedrohung: Die Angst vor der ungewollten Schwangerschaft. Abtreibung ist verboten und ein Kind ohne Ehemann eine Schande." "Es war also so, dass man trotz Ächtung von vorehelichem Geschlechtsverkehr natürlich viele Paare bereits vor der Ehe Sex. Kontakte hatten, das wird auch in Umfragen des Allensbach Instituts in den 50er- und 60-er Jahren immer wieder deutlich. Und dafür spricht auch die große Zahl von sogenannten Muss-Ehen und nicht zuletzt auch die hohe Zahl von damals noch illegalen Schwangerschaftsabbrüchen ist hier zu beachten." Strafen für Abtreibungen und Kuppelei Die lag Schätzungen zufolge bei einer halben Million pro Jahr - und rund 10.000 Frauen starben jährlich an den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs. Die Einführung der Antibabypille wurde dann schließlich ein wichtiger Meilenstein für die Selbstbestimmung der Frau und die Geschichte der Frauenbewegung. Der langjährige Streit um den §218, um eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, war - und auch das lehrt die Ausstellung - vor allem ein bundesrepublikanisches Phänomen: "Auch in der DDR wurde Mitte der 60er Jahre die "Wunschkindpille" eingeführt. Erstaunlich ist zum Beispiel auch, dass die DDR bereits 1972 den §218, den sogenannten Abtreibungs-Paragrafen, reformierte und dort die Fristenlösung einführte. Aber anders als in der Bundesrepublik zum Beispiel war es kein Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Diskussion und Forderung von Frauenverbänden und der sogenannten neuen Frauenbewegung wie in der BRD, sondern da kam es relativ unerwartet und als Gesetzvorschlag in die Volkskammer ein. Interessant ist auch, dass es das einzige Gesetz während der SED-Diktatur war, wo es bei der Volkskammerabstimmung auch Gegenstimmen gab." Zu der Zeit war im Westen der Republik nicht nur der Schwangerschaftsabbruch noch strafbar, auch wer nicht verheirateten Paaren Obhut gab, bekam Probleme: "Da war's ja nicht möglich bei ihm oder bei mir, das war damals nicht, dass man beim anderen übernachtet hat. In Gottes freier Natur ist es dann mal passiert." Vibratoren und Dildos in einem Sex-Shop der Beate Uhse AG: Bringt die Freizügigkeit auch Schamlosigkeit? (picture alliance / dpa) Zu der Zeit gibt es noch den Kuppelei-Paragrafen. Und hinter Glas sieht man den Strafbefehl gegen eine Wirtin, die einem unverheirateten Paar die Übernachtung ermöglicht hatte. Bis 1973 war Kuppelei strafbar und wurde mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Es ist nicht das einzige Gesetz, über das man in der Ausstellung staunt, auch die Schubkästen, die einzelne Klischees und Begriffe aufgreifen, bringen Erhellendes zutage - etwa über das sogenannte Kranzgeld: "Das Kranzgeld ist so der landläufige Name für einen Anspruch auf Entschädigung, wenn nach versprochener Heirat, der Geschlechtsverkehr vollzogen wurde, die Heirat aber nicht zustande kam. So eine Art Entschädigung für die verlorene Unschuld, das nannte man Kranzgeld. Das konnte man bis 1998 einklagen in der BRD, in der DDR war er schon in den 50er Jahren aufgehoben worden dieser Paragraf und es hat auch den Namen daher, dass der Myrtenkranz bei der Hochzeit ja auch die Unschuld anzeigen sollte. Und eine Braut, die die Unschuld verloren hatte, die galt ja als minderwertig. Und dafür hatte sie einen Anspruch auf Wertausgleich." Auswüchse eines florierenden Erotikmarktes findet man in der Ausstellungsabteilung "Sex sells". "Nach der Lockerung des Pornografie-Verbotes sah das dann so aus, dass die Zeitungskioske gepflastert waren mit entsprechenden Zeitschriften-Covern. Und es ist eben tatsächlich so, dass in den 70er-Jahren das enorm zunahm, nackte Haut zu zeigen. Und das waren nicht nur die vermeintlichen Schmuddelzeitschriften, die dann bekannt wurden, sondern es sind auch vermeintlich seriöse Zeitschriften wie der "Spiegel", "Stern" oder "Konkret", die mit solchen Titeln aufmachten. Und dieses Titelbild vom Spiegel von 1977 das mussten wir abdecken, weil wir das heute so einfach nicht mehr zeigen können." Unter der Überschrift "Die verkauften Lolitas" posiert eine 11-Jährige mit gespreizten Beinen, bekleidet nur mit halterlosen Strümpfen. Das Titelbild missachtet aus heutiger Sicht das Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Kindes. Größter Wandel im Bereich der Homosexualität Im Zusammenhang mit der sexuellen Freizügigkeit, die die 68er-Generation propagierte, spricht Ulrich Greiner auch von einer "Schamvernichtungskampagne". "Ihr Ziel bestand darin, alle Schambedürfnisse und Intimitätsbedürfnisse als Relikte einer bürgerlichen Kultur zu begreifen, die es zu überwinden galt. Mit ihrer verlogenen Doppelmoral, die Sexualität ganz allgemein tabuisierte, Homosexualität und voreheliche Beziehungen unter Strafe stellte, heimlich aber Seitensprung, Missbrauch und Vergewaltigung praktizierte, hatte diese bürgerliche Kultur, so glaubte man, das Recht verwirkt, die freie, natürliche Entfaltung der Individuen noch länger zu behindern: durch leere Rituale, strafbewehrte Verhaltensregeln, sinnlose Kleidervorschriften." "1970 hatte es die Bundestagsabgeordnete von Bothmer gewagt, in Hosen in den Bundestag zu kommen und erntete eine Empörung, die dazu führte, dass viele Zuschriften kamen, wo sie unter anderem als unanständiges, würdeloses Weib, superrote Adelige beschimpft wurde und damals war das fast der Untergang des Abendlandes, dass Frauen in Hosen auftraten." Einen breiten Raum in der Bonner Ausstellung nimmt der gesellschaftliche Umgang mit der Homosexualität ein. Während Frauen die Frauen liebten nichts zu befürchten hatten, sah das für schwule Männer ganz anders aus: "Im Bereich der Homosexualität. gab es sicherlich den größten Wandel: Von der Strafbarkeit nach § 175 des Strafgesetzbuches, wo in den 50er- und 60er-Jahren noch bis zu 4.000 Verurteilungen pro Jahr erfolgten hin doch zu einer weitgehenden Anerkennung auch gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, das war ein weiter Weg, der auch heftig umkämpft war." Dass das Private immer auch politisch ist, das zeigt die Ausstellung anhand zahlreicher Exponate und auch wie tief greifend sich Geschlechterbeziehungen und Sexualmoral gewandelt haben. Die Kuratorin, Dr. Kornelia Lobmeier kommt zu dem Schluss: "Wir sind inzwischen sehr viel liberaler, pluralistischer geworden und insgesamt glaube ich entspannter, was die Fragen im Umgang mit Sexualität und Sexualmoral betrifft. Es gibt sicherlich inzwischen eine Vielzahl von Lebensentwürfen, die gelebt werden können und auch akzeptiert sind weitestgehend. Das Bewusstsein aber auch, dass jeder Mensch ein Recht hat auf ein selbstbestimmtes Leben und ein Recht auch auf sein eigenes Schamgefühl, das ist sicherlich auch eine wichtige Erkenntnis." Die Ausstellung "Schamlos? Wandel der Sexualmoral" ist noch bis zum 14. Februar 2016 im Bonner "Haus der Geschichte" zu erleben.
Von Dörte Hinrichs
Nie war unsere Gesellschaft freizügiger als heute - ein offener Umgang mit Sexualität ist alltäglich. Findet also eine fortschreitende Enthemmung statt? Oder wächst mit der Freizügigkeit auch die Scham? Damit beschäftigt sich auch die Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel" im Bonner Haus der Geschichte.
"2015-08-27T20:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:56:05.078000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexualmoral-in-deutschland-im-wandel-schamlose-zeiten-100.html
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Bundesumweltministerin Lemke (Grüne) setzt auf Dialog mit Polen
Bundesumweltministerin Steffi Lemke und ihre polnische Amtskollegin Anna Moskwa nehmen an einer Pressekonferenz nach den deutsch-polnischen Gesprächen zur Situation am Fluss Oder teil. (Patrick Pleul / dpa / Patrick Pleul) Nach einem Treffen mit ihrer Kollegin Moskwa in Słubice bekräftige die Grünen-Politikerin ihre Forderung, dass weniger oder gar kein Salz mehr in den Fluss eingeleitet wird. Das sei die einzige Stellschraube gegen eine erneute Umweltkatastrophe, sagte Lemke. Für Polen betonte Moskwa, dass illegale Einleitungen in die Oder identifiziert und gestoppt worden seien. Europaweit sei die Oder vermutlich der Fluss, der derzeit am besten untersucht werde. So gebe es ein ständiges Monitoring von vielen Überwachungspunkten. Im August des vergangenen Jahres war es in der Oder zu einem großen Fischsterben gekommen. Als mögliche Ursache gelten ein hoher Salzgehalt, Niedrigwasser, hohe Temperaturen und das Gift einer Algenart. Im Verdacht stand Medienberichten zufolge ein polnischer Bergbaukonzern. Diese Nachricht wurde am 08.06.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Zum Schutz der Oder setzt Bundesumweltministerin Lemke weiter auf Dialog mit Polen.
"2023-06-08T23:35:20+02:00"
"2023-06-07T21:21:39.047000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesumweltministerin-lemke-gruene-setzt-auf-dialog-mit-polen-106.html
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Kampf um ein knapper werdendes Gut
Futureland, Dubai, 2009 - Fotografie der Ausstellung "DEMO:POLIS – Das Recht auf Öffentlichen Raum" (Nuno Cera, Cortesy: The artist & EDP Foundation, Lisbon) "Our own news outlets are feeding us with images of the Banlieu suburbs. And this is a kind of imagery, a kind of war zone." Léopold Lambert ist Herausgeber einer Zeitschrift, die sich mit der Gestaltung des öffentlichen Raums befasst. Er lebt in Paris, einer Stadt, die sich seit den Terroranschlägen des letzten Jahres im Ausnahmezustand befindet. Die Medien benutzten aber schon lange vorher ein kriegerisches Vokabular - immer dann, wenn es um die Zustände in den Pariser Vororten ging. Sprache formt Denken. Was geschieht, wenn die Polizei zum Stadtplaner wird? Léopold Lambert hat Polizeireviere fotografiert. In der Pariser Banlieue sehen sie wie Festungen aus - mit Wachtürmen, hohen Mauern und vergitterten Fenstern. "Ich glaube, die Gewalt, die von dieser Architektur ausgeht, hat eine starke symbolische Wirkung. Da wird eine optische Gegnerschaft zwischen den Polizeistationen und der Umgebung aufgebaut. Die Leute, die in diesen Vierteln wohnen, spüren das und setzen sich zur Wehr. Das ist wie bei öffentlichen Demonstrationen. Wenn die Polizeipräsenz zu stark ist, kommt es eher zu Konflikten, als wenn sich die Beamten im Hintergrund halten. Die Gewalt kann durch den Staat und die Polizei sehr leicht provoziert werden." Seit den Terroranschlägen gehören schwer bewaffnete Polizisten in Paris zum Stadtbild. Straßen werden gesperrt oder umgeleitet - einige mit Betonbarrieren, wie man sie aus Berichten über Kriegsgebiete kennt. Zur Denkfabrik in der Akademie der Künste waren Architekten, Wissenschaftler und Aktivisten aus der halben Welt nach Berlin gekommen. Sie hielten Vorträge und führten Diskussionen, allerdings ohne am Ende ein gemeinsames Arbeitsergebnis festzuhalten. Es ging um Meinungsaustausch, nicht um die Formulierung von Thesen. Der Sicherheitsarchitektur Ironie entgegensetzen Eine Stadt, in der Sicherheitsarchitektur schon lange zum Alltag gehört, ist Karatschi in Pakistan. Dort sind öffentliche Gebäude in der Regel von Betonmauern und Stacheldraht umgeben. Selbst Schulen haben sich eingeigelt. Die Architektin Marvi Mazhar hat Sperranlagen fotografiert. Viele sind mit politischen Losungen besprüht, einige mit Graffiti-Bildern. "When there is fear in architecture, there is this kind of statements. What is this dialogue?" Was für ein Dialog ist das, den die Graffiti-Künstler beginnen, fragt Marvi Mazhar. Viele setzen der Sicherheitsarchitektur Ironie entgegen. Sie veralbern Propagandaparolen oder fragen, wo im brutalen Alltag die Menschlichkeit bleibt. Ein Graffiti-Bild zeigt zum Beispiel eine schwangere Frau mit einer Bombe im Bauch. Marvi Mazhar arbeitet für ein Kulturzentrum, das bewusst auf die Sicherheitsmaßnahmen verzichtet. Es gibt keine bewaffneten Wachmänner und keine Videoüberwachung. Das Publikum, so Marvi Mazhar, fühle sich trotzdem sicher. "What we hear from people: They feel safer inside rather than being outside. So it's all about resistance and questioning what applies to you and what shouldn't." Widerstand fängt mit Hinterfragen an Widerstand fängt damit an, dass man die Dinge hinterfragt. Natürlich kann ein kleines Kulturzentrum nicht die Atmosphäre einer Stadt verändern, aber jede Bewegung beginnt mit einem ersten Schritt. Der Architekt Wilfried Wang hat in der Akademie der Künste in Berlin die Ausstellung "Demopolis" organisiert. Dort wird an Beispielen gezeigt, wie Künstler oder interessierte Bürger in die Gestaltung des öffentlichen Raums eingreifen können. "Also wie können Bürgerinitiativen entstehen? Wie können wir selbst dafür sorgen, dass in unseren kleineren Bereichen, in unseren Straßen, Höfen, Lebensbereichen, ein Gefühl der Sicherheit, ein Gefühl des Vertrauens gegenüber jedem einzelnen Menschen hergestellt werden kann?" In der Ausstellung sind zum Beispiel kleine Notizzettel zu sehen, auf denen die Architektin Rozana Montiel ihre Ideen für die Gestaltung der Grünfläche eines sozialen Wohnungsbauprojekts skizziert hat. Die Fläche war ursprünglich in kleine Gärten aufgeteilt, von denen viele schon verwahrlost waren. "Es gab dann ein Verfahren, in dem Rozana Montiel mit den Bewohnern dieser Wohngemeinschaft gesprochen hat und gesagt hat: Okay, jeder von euch ist einzigartig. Aber gemeinsam können wir ein Netzwerk bilden. Wie wollen wir Dinge bepflanzen? Wie kann man kleinteilig Sitzgelegenheiten schaffen? Wie sollen unsere Kinder spielen? Da ist eine Fantasie angeregt worden der Bewohner, die sie dann zum Schluss gebracht hat, dass sie ihre Zäune entfernen müssen. Die Leute haben gegenseitiges Vertrauen gefunden. Das ist eines der besten und wichtigsten Beispiele, wie man auch im größeren Bereich mit der Angst vor dem Fremden, mit der Angst vor Terror umgehen kann. Wir müssen alle gemeinsam unsere Augen auf den öffentlichen Raum richten, um gemeinsam Verantwortung für den öffentlichen Raum zu übernehmen." Bürgerliches Engagement braucht langen Atem Das geht natürlich nur dort, wo die Behörden es zulassen. In Paris hat die Initiative "Nuit Debout", die auf der Place de la République Versammlungen abhält, große Schwierigkeiten. Jeden Tag werden kleine Holzpavillons errichtet, in denen Gesprächsrunden stattfinden und die Kinder der Demonstranten spielen können. Doch abends muss alles wieder abgebaut werden. Johannes Odenthal, der zu den Organisatoren der Denkfabrik in der Akademie der Künste gehört, empfindet das als exemplarischen Vorgang: "Dieser öffentliche Platz wird besetzt tagsüber. Es wird gebaut, es werden Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Die Zivilgesellschaft in Frankreich organisiert sich, sucht nach Alternativen zu einem nationalistischen, exklusiven Demokratiebegriff, der Frankreich über die letzten zwei Jahrhunderte geprägt hat. Und wird dann von der Polizei nachts um zwölf abgeräumt. Das heißt der Staat erkennt diese Initiative nicht als bürgerliches Engagement an und baut das, was die Menschen zusammengestellt haben, über Nacht wieder zurück" Bei der Denkfabrik in der Akademie der Künste berichteten zwei Aktivisten von der Place de la République über die Schwierigkeiten, die das ständige Hin und Her mit sich bringt. Bürgerliches Engagement braucht auch in westlichen Demokratien einen langen Atem. Natürlich ist keine Denkfabrik nötig, um derart allgemeine Schlüsse zu ziehen, doch das Treffen in Berlin war trotzdem sinnvoll. Ein Dialog ist in Gang gekommen, der auch jetzt nach dem Ende des 36-stündigen Vortrags- und Diskussionsmarathons, nicht abreißen wird.
Von Oliver Kranz
Der öffentliche Raum in den Städten wird immer knapper. Er wird privatisiert, Wirtschafts- und Finanzinteressen untergeordnet oder durch verschärfte Sicherheitsbestimmungen eingeschränkt. In einer Denkfabrik an der Akademie der Künste in Berlin trafen sich Architekten, Wissenschaftler und Aktivisten, um zu diskutieren, wie Gesellschaften darauf reagieren können.
"2016-05-23T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:30:52.261000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-oeffentliche-raum-kampf-um-ein-knapper-werdendes-gut-100.html
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Versteckter Antijudaismus
Weil "alt" nach "veraltet" klingen kann, plädieren viele Experten dafür, stattdessen vom Ersten Testament zu sprechen (Deutschlandradio / Christian Röther) Ein "alter Hut" ist langweilig und wertlos. Aber eine "alte Tradition" ist wertvoll und soll bewahrt werden. Und das Alte Testament? Meint "alt" hier "wertvoll" oder "wertlos", "veraltet"? Walter Homolka: "Wer von Altem und Neuem Testament spricht, der bringt auch schon die Frage auf: Was ist aktuell und was ist vergangen?" Der Rabbiner Walter Homolka ist in Potsdam Professor für jüdische Religionsphilosophie. Er spricht sich gegen die Verwendung des Begriffs "Altes Testament" aus. Denn das Alte Testament des Christentums ist weitgehend identisch mit der Hebräischen Bibel des Judentums. Wenn man also vom Alten Testament spricht, kann darin mitschwingen, dass das Judentum vom Christentum abgelöst wurde und seine Legitimation verloren hat. Walter Homolka: "Wer von 'Altem Testament' spricht, der glaubt also, es gab dann noch ein Update. Das ist das Neue Testament und das wäre dann sozusagen das Wesentliche." "Überholt, abgelöst, aufgehoben" Die antijüdische Lesart der beiden Testamente bestimmte über Jahrhunderte die christliche Theologie. Testament, das kann man auch mit "Bund" übersetzen. Den Alten Bund habe Gott mit dem Judentum geschlossen. Der gelte aber nicht mehr, sondern sei von Gottes Neuem Bund mit dem Christentum aufgehoben und ersetzt worden. So glaubten es viele Christen, und manche glauben es bis heute. Die Debatte reicht zurück bis ins erste Jahrhundert – bis zu Paulus, dem Macher des Christentums. Laut Walter Homolka verwendet Paulus den Begriff "Altes Testament" in abwertender Weise. "Der Begriff 'Altes Testament' stammt ja aus dem zweiten Korintherbrief, wo Paulus von 'palaia diathēkē' spricht, also von dem 'Alten Testament' – dem 'Alten' im Sinne von überholt, abgelöst, aufgehoben." Der Potsdamer Rabbiner Walter Homolka (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte) "Das Denken der Israeliten wurde verhärtet. Denn bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird; sie wird nicht aufgedeckt, weil sie in Christus beseitigt wird." (2. Korinther 3, 14) Homolkas Lesart dieser Bibelstelle widerspricht der evangelische Theologe Hermann Spieckermann. Er ist in Göttingen Professor für Altes Testament und sagt, Paulus gebrauche "Altes Testament" bzw. "Alter Bund" "überhaupt nicht abwertend. Er sagt lediglich: Wir lesen alle diese jüdischen Schriften, die wir den 'Alten Bund' nennen. Aber wir können sie mit einer unterschiedlichen Erkenntnis lesen. Paulus hat nicht gewollt, dass wir die jüdische Bibel nicht mehr lesen. Der wäre völlig vom Glauben abgefallen. Das geht gar nicht!" "Die Hebräische Bibel und das Neue Testament" Unabhängig davon, was Paulus mit "alt" genau gemeint hat, wurde der Begriff "Altes Testament" in den vergangenen Jahrzehnten von vielen christlichen Theologen in Frage gestellt. Denn im allgemeinen Sprachgebrauch kann "alt" eben sehr leicht nach "veraltet" klingen. Das hat auch der Rabbiner Walter Homolka beobachtet. "Schon zu meiner Studienzeit in den 80er Jahren sprach eigentlich kaum mehr einer von 'Altem Testament', zumindest im theologischen Zusammenhang. Und es wird auch immer häufiger eigentlich gesagt 'die Hebräische Bibel und das Neue Testament'." Oder auch: das Erste und das Zweite Testament. Erstes statt Altes Testament – das soll deutlich machen: Dieser Textkorpus ist zuerst entstanden– vor dem Neuen beziehungsweise Zweiten Testament. Gott habe also zuerst seinen Bund mit dem Judentum geschlossen. "Ich liebe den Begriff 'Erstes Testament' nicht" Viele christliche Theologen verwenden inzwischen "Erstes Testament", um das mögliche antijüdische Verständnis von "Altes Testament" zu umgehen. Der evangelische Theologe Hermann Spieckermann zählt allerdings nicht dazu. Er widerspricht: "Ich liebe den Begriff 'Erstes Testament' nicht. Ich weiß, er ist aus guter Absicht gebraucht worden, um genau diesen Charakter, dass im Alten Testament das Veraltete, das Abständige drinsteckt – um das zu vermeiden. Aber der Begriff stammt aus dem Hebräerbrief. Es ist auf jeden Fall dort so gebraucht, dass ich keinen Gebrauch davon machen möchte. Denn da wird gerade der Begriff 'Erstes Testament' im abwertenden Sinne gebraucht." "Darum ist Christus der Mittler eines neuen Bundes; sein Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten. Wo nämlich ein Testament vorliegt, muss der Tod des Erblassers nachgewiesen werden; denn ein Testament wird erst im Todesfall rechtskräftig und gilt nicht, solange der Erblasser noch lebt." (Hebräer 9,15-17) Man könnte diese Aussagen von Paulus also so verstehen: Das Erste Testament, der Erste Bund ist tot, der Neue Bund hat ihn abgelöst. Hermann Spieckermann: "Da ist im Grunde genau durch 'Erstes Testament' dieser Unterschied zementiert, den man nicht wollen kann." Der Göttinger Theologe Hermann Spieckermann (Deutschlandradio / Christian Röther) Es gibt auch noch andere begriffliche Alternativen zum "Alten Testament". So verwenden auch Nicht-Juden die jüdischen Begriffe "Hebräische Bibel" oder "Tenach" beziehungsweise "Tanach". Hermann Spieckermann widerspricht auch hier: "Es ist natürlich klar, dass in dieser Hinsicht Juden und Christen unterschiedliche Namen bevorzugen werden, weil es auch tatsächlich sich um unterschiedliche Textkorpora handelt." "Ein belasteter Begriff" Die Hebräische Bibel der Juden und das Alte beziehungsweise Erste Testament der Christen sind sich inhaltlich zwar sehr ähnlich, aber eben nicht völlig identisch. Die christlichen Fassungen haben deutlich mehr Bücher als die jüdische Bibel. Hermann Spieckermann plädiert deswegen dafür, im christlichen Kontext weiterhin vom Alten Testament zu sprechen. "Ich sehe, dass Altes Testament auch ein belasteter Begriff ist, dass er auch viel missbraucht worden ist. Aber ich würde versuchen, dabei zu bleiben und zu erklären." Der christliche Theologe Hermann Spieckermann ist hier also anderer Meinung als der jüdische Theologe Walter Homolka. Der wiederum attestiert seinen christlichen Kollegen einen weitgehend reflektierten Umgang mit den Begriffen. "Ich glaube, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass im theologischen Kontext man nicht mehr von 'Altem Testament' spricht." Wortklauberei von Theologen? Für viele Bücher und Artikel vieler christlicher Theologen mag das zutreffen – aber ihre Lehrstühle heißen trotzdem nach wie vor "Altes Testament". Auch der Lehrstuhl von Hermann Spieckermann. "Christenmenschen werden immer den Namen Altes Testament – mit dem Neuen Testament – bevorzugen." Man könnte diese Debatte noch lange weiterführen – oder sagen: Das ist Wortklauberei von Theologen, geht mich nichts an. Das stimmt aber nicht: Wer vom Alten Testament spricht – und das macht außerhalb der Theologie so ziemlich jeder – wer vom Alten Testament spricht, sollte sich der Problematik bewusst sein. Denn in dem Begriff steckt eben potentiell die Aussage: Das Judentum hat seine Legitimität verloren. Und will man das wirklich sagen?
Von Christian Röther
Den Begriff "Altes Testament" verwenden die meisten Menschen ganz selbstverständlich. Dabei wird schon lange über ihn diskutiert: Er enthalte antijüdisches Potential, sagen manche und sprechen lieber vom "Ersten Testament". Doch auch dieser Begriff kann antijüdisch gedeutet werden.
"2018-05-09T09:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:20.575000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/altes-oder-erstes-testament-versteckter-antijudaismus-100.html
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Schnittstellen von Theater und Netz
"Wir können ja nicht so tun, als ob wir noch auf Schreibmaschinen schreiben" - Kay Voges, Intendant des Dortmunder Schauspiels (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch) "In der Mitte des Pfades unseres Lebens fand ich mich in einem dunklen Wald." Den Video-Trailer der Inszenierung "Die Borderline-Prozession" des Schauspiels Dortmund kann man sich im Internet anschauen. Dass Theater im Netz für ihre Aufführungen werben ist lange Standard. Beim Schauspiel Dortmund können Besucher der Website das Video kommentieren oder in einem Blog mit den Theatermachern ins Gespräch kommen. Der Intendant Kay Voges betont: "Wir haben einen Zeitenwechsel. Die Globalisierung und die digitale Revolution verändert unser Leben. Und wenn Theater die Gegenwartskunst schlechthin ist, … dann können wir ja nicht so tun, als ob wir noch auf Schreibmaschinen schreiben." "Das kann man im realen Leben nicht erfassen" Deshalb hat Kay Voges das Kollektiv "CyberRäuber" beauftragt, eine virtuelle Version der "Borderline Prozession" zu erstellen. Entstanden ist ein völlig neues Kunstwerk, sagt Björn Lengers von den CyberRäubern. "Wir nehmen eine Bühne auf als Laserscan und verfremden die total und machen da etwas ganz anderes draus. Also ein Gefühl durch so eine Punktwolke zu gehen in VR, das kann man im realen Leben nicht erfassen." VR meint Virtuelle Realität. In der Produktion "Memories of Borderline" setzen sich die Zuschauer Datenbrillen auf und können sich dann im Bühnenbild der "Borderline-Prozession" bewegen. Man sieht die Requisiten und Schauspieler vor sich, kann aber durch sie hindurchlaufen … "Das zeigen wir VR-Entwicklern und das zeigen wir Technikern. Wir waren auf der CeBIT. Da habe ich gefragt: 'Wann waren Sie zum letzten Mal im Theater?' - 'Vor 25 Jahren.' Die finden aber das, was wir da machen, super." "Und jetzt drehen Sie mal die Kamera um" VR-Entwickler mögen virtuelle Theaterproduktionen, weil sie andere Möglichkeiten bieten, als die kommerziellen Anwendungen, für die sie normalerweise arbeiten. Gleichzeitig kann das Theater von der neuen Technik profitieren, weil neue Erzählweisen möglich und neue Publikumsschichten erschlossen werden können. Darüber wurde bei der Konferenz "Theater und Netz" in der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert. Gleichzeitig wurde gefragt, wie Theateraufführungen den gesellschaftlichen Wandel durch die digitale Revolution reflektieren können. Die Regisseurin Angela Richter berichtete über ihre Produktion "Supernerds", die vor zwei Jahren am Schauspiel Köln herauskam. Dort ließ sie Schauspieler Texte von berühmten Whistleblowern sprechen. Gleichzeitig zapften Hacker die Smartphones der Zuschauer an: "Da habe ich mich tatsächlich von Snowden beraten lassen. Wir haben mit den Daten, die wir von den Zuschauern hatten, die sich ein Ticket über die Kreditkarte kaufen, ganz normal, wie man im Internet einkauft, jeden Tag - also wir konnten Schufa-Informationen einholen über die, wir konnten herausfinden, was die beim Browsen machen. Dann haben wir bei einem Zuschauer sogar die Kamera aktiviert. Also die Schauspielerin stand da und hat gesagt, es sollen alle Zuschauer das Handy heben und rumwedeln. Das haben tatsächlich alle gemacht, so 600 Leute, und dann hat man auf dem Bildschirm gesehen, wie das herum wischt. 'Und jetzt drehen Sie mal die Kamera um.' Dann sah man halt ein Gesicht." "Eine Riesenmöglichkeit für das Theater" Ein Aha-Erlebnis, das das Ausmaß der möglichen Überwachung deutlich werden ließ. Doch Produktionen wie "Supernerds" gibt es eher selten. Auch deshalb hat die Heinrich-Böll-Stiftung 2013 gemeinsam mit der Internet-Zeitung "Nachtkritik.de" die Konferenz "Theater und Netz" ins Leben gerufen. Christian Roemer gehört zu den Organisatoren. "Ich glaube, die Digitalisierung ist eine Riesenmöglichkeit für das Theater, sich tatsächlich zu erweitern. Aber ich glaube, da ist das Theater eher konservativ. Was wir brauchen ist eine Mentalität, die überhaupt zulässt, dass wir uns mit dem Digitalen auseinandersetzen." Am Schauspiel Dortmund gibt es einen festangestellten Programmierer und viele Produktionen, die sich mit dem Internet auseinandersetzen. Andere Bühnen versuchen, die Entwicklung zu ignorieren. Dabei ist klar, dass die digitale Revolution längst im Gang ist. Die Frage ist nicht, ob man sich heraushalten kann, sondern ob es den Theatern gelingt, die Entwicklung mitzugestalten.
Von Oliver Kranz
Die digitale Revolution verändert unser Leben, doch im Theater ist davon bisher wenig zu spüren. Denn Theater ist live und braucht lebendige Schauspieler. Daran ändert sich nichts, wenn auf der Bühne Computerbildschirme auftauchen oder eine Aufführung ins Netz gestreamt wird. Eine Diskussion bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zeigte aber, dass die Technik auch andere Möglichkeiten bietet.
"2017-05-08T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:52.167000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konferenz-in-berlin-schnittstellen-von-theater-und-netz-100.html
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Wieder sterben Zivilisten
Allein in diesem Jahr gab es mehr als 200 Anschläge in Afghanistan. Tausende Zivilisten wurden getötet. (Hedayatullah Amid/dpa/picture alliance) Rohullah Jan kann es immer noch nicht fassen, was ihm da mitten in der Nacht passiert ist: "Meine drei Brüder und ich waren zu Hause, als plötzlich die Scheiben der Fenster barsten. Die Splitter trafen meinen Kopf. Ich bekam noch mit, dass meine Brüder in Ordnung waren – und was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich im Krankenhaus." Aziz Khan, ein Ladenbesitzer im dicht besiedelten Stadtviertel Shah Shahid, steht ebenfalls noch unter Schock: "Alles wackelte. Ich dachte, das sei ein Erdbeben. Es war schrecklich." "Hier sind Kinder und Frauen getötet worden" Tatsächlich war, gegen zwei Uhr in der Früh, ein Lastwagen explodiert, die Attentäter hatten ihn voll mit Sprengstoff beladen. Dort, wo der Lkw stand, ist jetzt ein riesiger Krater mit einem Durchmesser von vielleicht 20 Metern. Die umstehenden Häuser sind zerstört. Ziel des Anschlags war offenbar ein Armeestützpunkt ganz in der Nähe. Die Opfer aber sind allesamt Zivilisten. "Hier sind Kinder und Frauen getötet worden, viele von ihnen liegen noch unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Was ist denn das für eine Regierung, die so etwas zulässt?" Mohammad Naseem, ein Anwohner, ist wütend. Auf die Behörden, die den Anschlag nicht verhindern konnten, und auch auf diejenigen, die ihn ausgeführt haben. Bisher hat noch keine Gruppe die Verantwortung übernommen. In der afghanischen Hauptstadt detonieren häufig Sprengsätze, oft jagen sich Selbstmordattentäter in die Luft. Die Liste der Anschläge auch in diesem Jahr ist sehr lang. Aber dass ein ganzer Lastwagen voller Sprengstoff eingesetzt wird, ist selten. Es gibt mehrere Checkpoints, an denen Sicherheitskräfte eigentlich auch die Ladung der Lkw untersuchen sollen. Entsprechend hilflos reagieren viele Menschen auf diesen Anschlag, so auch dieser Passant: "Die Sicherheitslage wird hier mit jedem Tag schlechter. Wir müssen jeden Tag Angst um unser Leben haben." Der Krieg tobt mit unverminderter Härte Fast 5.000 Zivilisten sind in diesem Jahr bereits in Afghanistan getötet oder verletzt worden, diese Zahl haben die Vereinten Nationen vor zwei Tagen veröffentlicht. Der Krieg tobt mit unverminderter Härte, es gab allein mehr als 200 Anschläge in diesem Jahr. Zwar ist immer wieder die Rede von Friedensgesprächen zwischen Regierung und Taliban. Aber die Extremisten scheinen sich nicht einig zu sein, ob sie diese Gespräche überhaupt wollen. In der vergangenen Woche mussten sie zugeben, dass ihr Gründer und religiöser Führer Mullah Omar schon vor zwei Jahren gestorben ist. Mullah Omar war die einigende Figur für viele Taliban, deshalb haben die Extremisten lange versucht, seinen Tod geheim zu halten. Selbst westliche Geheimdienste hatten offenbar bis zuletzt keine Ahnung, ob und wo Mullah Omar lebte. Unklar ist jetzt, wie viel Rückhalt der neue Taliban-Anführer Mullah Mansur hat. Mansur gilt als vergleichsweise gesprächsbereit. Viele jüngere Kämpfer, darunter der Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar, scheinen ihn aber nicht zu unterstützen. Zudem sind einige Taliban-Gruppen zum Islamischen Staat übergelaufen, der sich auch in Afghanistan etablieren will. Der IS hat bereits die Verantwortung für Anschläge in Afghanistan übernommen. Es gab heftige Kämpfe zwischen Taliban und IS-Anhängern. In anderen Provinzen, auch im Norden Afghanistans, gibt es seit Monaten Auseinandersetzungen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. All das sorgt dafür, dass sich das Land, seine Gesellschaft und die Wirtschaft nicht entwickeln können. Und wie in der vergangenen Nacht in Kabul sind die Leidtragenden vor allem: unschuldige Zivilisten.
Von Jürgen Webermann
Fast 5.000 Zivilisten sind in diesem Jahr bereits in Afghanistan getötet oder verletzt worden. In der Nacht starben erneut mindestens 15 Menschen bei einem Sprengstoffanschlag in Kabul, über Hundert wurden verletzte. Die Sicherheitslage in dem Land wird immer schlechter - und die Opfer sind fast ausschließlich unschuldige Zivilisten.
"2015-08-07T13:24:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:24.574000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlag-in-kabul-wieder-sterben-zivilisten-100.html
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Kluge Stammzellen
Eine Milliarde neuer Zellen. So viele Blutkörperchen muss das Knochenmark Tag für Tag liefern, um den Körper gesund zu erhalten. Das Herzstück dieser sprudelnden Zellquelle sind die wenigen Hämatopoetischen Stammzellen, aus denen letztlich das ganze Blut entsteht. Diese Stammzellen teilen sich recht selten und bilden dann auch keine fertigen Blutkörperchen, sondern zunächst verschiedene Vorläuferzellen. Die wiederum vermehren sich schnell und bilden dabei entweder Blutplättchen sowie rote oder weiße Blutzellen. "Bisher hatte man angenommen, dass einfach rote und weiße Blutkörperchen nach dem Zufallsprinzip produziert werden", so Michael Siewecke, Leiter einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe am INSERM in Marseilles und dem Max-Delbrück-Centrum in Berlin Buch. Dabei, so betont der Professor für Immunologie, kann der Bedarf durchaus schwanken. Nach einer Verletzung werden viele rote Blutkörperchen benötigt, bei einer Infektion stattdessen die weißen Blutkörperchen, die wichtige Abwehrfunktionen übernehmen. Die Frage lautete, bekommt die Blutstammzelle tief im Knochenmark mit, was an anderen Stellen im Körper passiert und reagiert sie dann auch? Beispiel Infektion: Wenn die Blutgefäße in Kontakt mit Bakterien kommen, bilden sie unter anderem einen Botenstoff, der wie ein Weckruf für bestimmte weiße Blutkörperchen wirkt. Michael Siewecke wollte wissen, ob dieses Signal bis hinein ins Knochenmark, bis zu den Stammzellen zu vernehmen ist. Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Erstens ist nur jede zehntausendste Zelle im Knochenmark eine solche Stammzelle und zweitens lassen sich die Stammzellen von ihren verschiedenen Tochterzelltypen kaum unterschieden. "Wir haben einen Trick benutzt, das kann man bei der Maus machen, wir haben einen Leuchtstoff eingefügt in die Mausstammzellen, der dann angeschaltet wird, wen die Stammzellen den Spezialisierungsweg einschlagen, der zur Bildung von weißen Blutkörperchen führt, also den Immunzellen, die gegen die Infektion verteidigen." Wenn eine Stammzelle dagegen ruht oder rote Blutkörperchen produziert, bleibt sie dunkel. Mit diesen veränderten Blutstammzellen simulierten die Forscher eine Infektion in der Petrischale. Bei einer echten Infektion würden die Bakterien selbst erst einmal nicht ins Knochenmark kommen, wohl aber der Weckruf der Blutgefäße, der Botenstoff. Als dieser Botenstoff zu den Blutstammzellen gegeben wurde, konnte Micheal Siewecke unter dem Mikroskop sehen, wie nach und nach immer mehr grüne Punkte aufleuchteten. Die Blutstammzellen reagierten also tatsächlich und begannen zur Abwehr der Infektion gezielt weiße Blutkörperchen herzustellen. "Man könnte das salopp formuliert vielleicht so sagen: dass die Stammzellen schlauer sind, als man gedacht hat und nicht sinnlos einfach produzieren, was das Zeug hält, sondern durchaus darauf reagieren, was tatsächlich gebraucht wird." Die Blutstammzellen reagieren auf die Bedürfnisse, die Signale des Körpers. Diesen Effekt könnten sich theoretisch auch Ärzte zunutze machen und über die richtigen Botenstoffe direkt mit den Stammzellen kommunizieren. Schließlich gibt es in der Klinik immer wieder Situationen, in denen eine vorsorgliche Aktivierung der Abwehrkräfte wünschenswert wäre. "Es ist zum Beispiel so, dass bei Knochenmarkstransplantationen die Patienten direkt nach der Transplantation besonders empfindlich sind für bestimmte Bakterien- oder Pilzinfektionen." Normalerweise sind die kein Problem für das Abwehrsystem. Direkt nach einer Knochenmarkstransplantation gibt es aber viel zu wenige Immunzellen, es entsteht eine Phase der Verwundbarkeit. Hier will Michael Siewecke ansetzen und die Blutstammzellen im Spenderknochenmark mit dem Botenstoff auf mögliche Probleme einstellen. "Man könnte sich vorstellen, dass, wenn man die Bildung von den richtigen Immunzellen frühzeitig stimulieren könnte, dass sie dann schon darauf vorbereitet sind, wenn sie tatsächlich eine solche Infektion bekommen sollten." Ob es tatsächlich möglich ist, die klugen Stammzellen im Knochenmark so gezielt anzusprechen und Infektionen wirksam vorzubeugen, wird gerade im Tierversuch erprobt.
Von Volkart Wildermuth
Blutzellen können ihre Aufgaben im Sauerstofftransport oder beim Wundverschluss nur für einige Tage wahrnehmen. Der Körper ist also auf ständigen Nachschub angewiesen. Wie eine Studie in "Nature" erläutert, produziert dieser aber nicht jeden Tag die gleiche Menge der verschiedenen Blutkörperchen. Vielmehr stellt er sich auf den aktuellen Bedarf ein.
"2013-04-11T16:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:14:04.329000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kluge-stammzellen-100.html
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"In vielen Staaten wird Geld für andere Dinge ausgegeben"
Kinder der Talhado School Childrens Haven in Südafrika (dpa/picture alliance/Reinhard Kaufhold) Michael Böddeker: Zumindest Grundschulbildung für alle Kinder auf der Welt – das war schon Teil der sogenannten Millenniumsziele, die eigentlich möglichst bis 2015 erreicht werden sollten. Das hat nicht geklappt. Dann gab es ab 2016 die "Ziele Nachhaltiger Entwicklung" der Vereinten Nationen. Auch da war wieder die Bildung enthalten, diesmal sogar "inklusive, gerechte und hochwertige Bildung für alle" - bis 2030 sollte das umgesetzt werden. Jetzt heißt es im neuen Weltbildungsbericht: Voraussichtlich erst 2042 wird es zumindest Grundschulbildung für alle Kinder geben. Mehr darüber weiß Walter Hirche. Er war lange Präsident der deutschen UNESCO-Kommission und er ist Vorsitzender des Fachausschusses Bildung der Deutschen Unesco-Kommission. Ihn habe ich gefragt, woran es liegt, dass es so lange dauert. Walter Hirche: Also, man muss sehr nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Voraussetzungen in vielen Staaten nicht geschaffen worden sind. Die Gelder sind in andere Bereiche gesteckt worden und es ist zum Teil auch so, dass man sich in der Vergangenheit darauf verlassen hat, dass bestimmte quantitative Entwicklungen fortgeschrieben würden. Aber wir haben zum Beispiel in afrikanischen Staaten feststellen müssen, dass der Besuch von Schule dann nichts bringt, wenn die Schule nach einem Jahr wieder verlassen wird und nichts fortgeführt wird. Also, inzwischen geht es unter dem Stichwort – deswegen qualitative Bildung – auch darum, nicht nur zu erfassen, ob jemand zur Schule geht, sondern auch, wie lange er dort hingeht oder sie dort hingeht und ob ein bestimmtes Mindestziel erreicht wird. Und da geht es jetzt eben darum: Grundschulbildung heißt in dem Sinne, dass auch vier Jahre durchlaufen werden und nicht jemand mal ein halbes Jahr dort ist. Das wären täuschende Statistiken, das muss man für die Vergangenheit leider sagen. Also, hier ist jetzt mehr Ehrlichkeit gefordert und das bedeutet, dass man auch nüchterner und realistischer an die Dinge herangeht. Ziele sind im Bereich Grundschulbildung nicht zu erreichen Böddeker: Das heißt, in der Vergangenheit ist nicht so genau kontrolliert worden, was jetzt eigentlich Bildung bedeutet? Hirche: Wir haben ein bisschen vielleicht in diesen ganzen Debatten auch mit unserem europäischen Verständnis – nach dem Motto, etwas ist geregelt und dann wird es auch durchgeführt – die Dinge in anderen Teilen der Erde betrachtet. Und dort war man zum Teil froh, wenn man überhaupt äußere, formale Voraussetzungen schaffen konnte, weil das tägliche Überleben immer im Vordergrund stand. Und da werden die Dinge jetzt qualitativ mehr miteinander vernetzt gesehen und die Bildung bekommt endlich vielleicht – auch da muss ich ein gewisses Zögern machen – das Gewicht, das wir uns alle nicht nur erhoffen, sondern das auch laut den Beschlüssen der Vereinten Nationen notwendig ist, um auf der Welt eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Denn ohne Information, die die Menschen sich selber besorgen können, wird das ja nichts mit der Verwirklichung von Zielen. Böddeker: Ist das für Sie überraschend, dass es jetzt doch noch so lange dauern wird? Oder hat sich das eigentlich schon abgezeichnet? Hirche: Hat sich abgezeichnet, aber es ist ernüchternd. Zwischendurch ist man auch manchmal deprimiert, wenn man diese Zahlen sieht und die Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, weil ja in vielen Staaten Geld ausgegeben wird für ganz andere Dinge. Und dass dieses nicht in den Bereich Bildung fließt, das ist schon eine gewisse Enttäuschung. Insofern glaube ich, dass die Aufnahme von Bildung als eigenständigem Ziel in die sogenannten Entwicklungsziele der Welt bis 2030 eine Chance ist, hier voranzukommen. Böddeker: Ist denn das Ziel 2030 überhaupt noch erreichbar? Oder anders gefragt, was müsste passieren, um es noch zu schaffen? Hirche: Na ja, es ist konkret im Bereich Grundschulbildung nicht zu erreichen. Das erkennt man aufgrund der jetzigen Daten, wir haben ja eine Hochrechnung vorliegen, die sagt, wenn das so weiterginge, dann werde das vielleicht gut zehn Jahre später der Fall, dass man die Grundschulbildung für alle erreichen kann. Auch das bedarf großer Anstrengungen. Im Grunde müssen wir, wenn wir die Bildungsbemühungen zu dem erhofften Ergebnis bringen wollen, die Budgets versechsfachen. Das ist natürlich unrealistisch, aber die Chance für eine Verdoppelung oder Verdreifachung würde ich in den nächsten Jahren auf jeden Fall sehen. "Mädchen und junge Frauen sind in den Entwicklungsländern ganz besonders betroffen" Böddeker: Wo auf der Welt und bei wem sieht es besonders schwierig aus, was die Bildung angeht? Sind da zum Beispiel wie so oft besonders Mädchen und junge Frauen betroffen? Hirche: Ja, Mädchen und junge Frauen sind in den Entwicklungsländern ganz besonders betroffen. Wir haben, das kann man sagen, nur ein Prozent der ärmsten Mädchen und Frauen in ländlichen Gebieten, die zum Beispiel, na, wir würden sagen, die mittlere Reife machen. Ein Prozent, das ist verdammt wenig und viel zu wenig. Aber die größten Defizite, um das zu sagen, liegen in den Ländern der Subsahara, liegen in Südostasien und in Indien. Das sind drei Gebiete, die weltweit die größten Sorgen machen in dem Zusammenhang. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass in den nächsten Jahren aufgrund einer großen Kraftanstrengung insbesondere im asiatischen Raum die Dinge vielleicht neuen Schwung bekommen. Wir müssen uns von Europa aus sehr stark auf die Subsahara konzentrieren und die Bildungsanstrengungen dort unterstützen. Böddeker: Was Sie bisher beschrieben haben, klingt alles nicht so gut. Aber gibt es vielleicht auch Fortschritte, die man feststellen kann? Hirche: Also, man kann schon feststellen, dass in vielen Staaten die Bemühungen wachsen, etwa Lehrkräfte zu gewinnen und die auch zu qualifizieren. Denn wir wissen, dass es davon abhängt, dass wir ausreichend qualifizierte Lehrkräfte haben. Und es gibt eine Entwicklung, die auch die digitalen Medien sehr in den Vordergrund stellt, weil wir denken, in den Diskussionen, die im Wesentlichen in der UNESCO, in Paris stattfinden, dass wir so schnell gar nicht überall die Fachkräfte finden. Und da digitale Medien einzusetzen, Lernen über Bilder und Entwicklung, das ist ein wichtiger Punkt. Ich freue mich auch sehr, dass ab morgen in Paris die sogenannte globale Aktion für Alphabetisierung wieder tagt. Dort macht man sich Gedanken darüber, was in den nächsten Jahren zusätzlich gemacht werden kann, um diese Alphabetisierung voranzubringen. Und es ist eine Diskussion, die eben nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch mit der Privatwirtschaft geführt wird und mit sämtlichen Institutionen, ob aus dem Arbeitsbereich, Gesundheitsbereich, damit wir hier weiterkommen und nicht diese Spezialistendiskussionen lediglich stattfinden, die wir in der Vergangenheit auch im Bildungsbereich gehabt haben. Hier muss mehr vernetzt gearbeitet werden und zum Beispiel das Interesse der Menschen an der eigenen Gesundheit, an der eigenen Ernährung, das muss mobilisiert werden für mehr Bildung. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Walter Hirche im Gespräch mit Michael Böddeker
Bis 2042 wird es voraussichtlich dauern, bis Kinder auf der ganzen Welt Zugang zu Grundschulbildung erhalten - so steht es im neuen UNO-Weltbildungsbericht. Das enttäuschende Ergebnis habe sich abgezeichnet, sagte Walter Hirche, Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, im DLF. In vielen Ländern würden Gelder nicht in die Bildung fließen.
"2016-09-06T14:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:51:46.771000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/uno-weltbildungsbericht-in-vielen-staaten-wird-geld-fuer-100.html
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"Wir haben zu wenig technisches Wissen"
Das Bild zeigt einen Radarchip für Notfall-Assistenzprogramme in Autos. (picture alliance / dpa / Matthias Balk) Hauptthema beim Weltwirtschaftsforum in Davos, das am Mittwoch beginnt, ist die vierte industrielle Revolution. Man könne wirklich von einer Revolution sprechen, sagte der Physiker und Technikphilosph Klaus Kornwachs im DLF. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich grundlegend etwas geändert. "Wir sehen, dass 70 Prozent der Wirtschaftsleistung in den Industriestaaten durch immaterielle Güter vermittelt werden", sagte Kornwachs. Es gebe kaum mehr ein Produkt, das keine Rechnerleistung enthalte. Allein in einem Auto befänden sich circa 50 Computer beziehungsweise Chips an Bord, die alle miteinander vernetzt seien. Die Arbeitsordnung werde sich grundlegend verändern. Neben Risiken gebe es auch Chancen. Dazu jedoch müsste über die Interessen bei der Gestaltung der Technologie gesprochen werden. Mehr öffentliche Diskussion sei deshalb wichtig. Sie können das Gespräch sechs Monate in unserem Audio-Archiv nachhören.
Klaus Kornwachs im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich
Auf der Erde gebe es momentan rund sieben Milliarden Menschen und 50 Milliarden miteinander vernetzte Geräte. Der Großteil der Kommunikation finde schon jetzt von Maschine zu Maschine statt, sagte der Technikphilosoph Klaus Kornwachs im DLF. Angebote zur technologischen Aufklärung gebe es, allerdings würden sie von Laien viel zu wenig genutzt, kritisierte Kornwachs.
"2016-01-17T00:00:00+01:00"
"2020-01-29T18:09:00.510000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/philosoph-zu-industrie-4-0-wir-haben-zu-wenig-technisches-100.html
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Entscheidung über Berlusconis politisches Ende
Ausgerechnet Angelino Alfano. Der 42-jährige Sizilianer war Berlusconis politischer Ziehsohn. Sein treu ergebener Parteisekretär. Sein "Hündchen", wie politische Gegner spotteten. Nun ist er Anführer der Abtrünnigen, die eine neue politische Kraft namens Nuovo Centro destra "Neues rechtes Zentrum" gegründet haben. "Verräter" nennt Berlusconi sie, weil sie nicht bereit sind, auf seinen Fingerzeig hin die Regierung von Enrico Letta zu stürzen. Noch im August hatte Alfano erklärt, für seinen Chef zu allem bereit zu sein. "Die Judikative versucht, per Gerichtsurteil den erfolgreichsten Politiker der vergangenen 20 Jahre auszuschalten. Wir werden Silvio Berlusconi, unseren politischen Führer, verteidigen, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen." Das tut Angelino Alfano nun doch nicht. Denn es würde ihn sein Amt als Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident Italiens kosten und wäre möglicherweise das Ende seiner politischen Karriere. Denn wenn Berlusconi unter Hausarrest gestellt wird oder Sozialstunden leistet, was wird dann aus seinen Gefolgsleuten? Das eigene Interesse und der eigene Machterhalt, scheinen Alfano und seinen Anhängern dann doch wichtiger zu sein, als Berlusconis Probleme. Das ist nicht erstaunlich, weil Silvio Berlusconi genau diese Haltung in den vergangenen 20 Jahren vorgelebt hat und sein Ziehsohn Alfano sie besonders gut verinnerlicht zu haben scheint. Wie auch die Vermarktung des Eigeninteresses als Dienst am Land. "Wir tun das für Italien, für die Nation" Für die Interessen Italiens kämpfen angeblich auch die Berlusconi-Leute, die ihrem Chef treu bleiben, ihm in die wieder neu gegründete Forza Italia folgen und aus der Regierungskoalition austreten wollen, falls Berlusconis heute seines Amtes enthoben wird. Denn ohne ihn, was wird dann aus Italien? Rhetorische Fragen und Sentimentalitäten jenseits der Kitschgrenze kommen vor allem von den Frauen, die Berlusconi ihre politische Karriere und gut bezahlte Posten verdanken. Daniela Santanché, die aus ihrer Liebe zum Faschismus kein Hehl macht und von Berlusconi in das Amt einer Unterstaatssekretärin gehievt wurde, organisiert Solidaritätsdemos mit Fähnchen schwenkenden Rentnerinnen, die „Silvio, wir lieben dich“ in die Mikrofone schluchzen. Und Mara Carfagna, erst Showgirl bei Mediaset und dann Ministerin unter Berlusconi, hat Tränen in den Augen als sie in einer Fernsehsendung über Berlusconis Verdienste als Regierungschef spricht. Die Politiker der PD, die heute für Berlusconis Ausschluss aus dem Senat stimmen werden, vergleicht sie mit blutrünstigen Bestien. "Die PD wird von der Lust zerfressen, ihren Wählern endlich Berlusconis Skalp präsentieren zu können. Die Wirtschaftskrise scheint sie nicht mehr zu kümmern, es geht nur noch darum, Berlusconi endlich bluten zu sehen." Carfagna ist auch überzeugt, dass die Mehrheit der Italiener immer noch zu Berlusconi hält. Das Publikum im Fernsehstudio lacht. Und viele Italienerinnen auf der Straße auch. Berlusconis Auftreten sei grotesk, erklärt diese Mailänder Signora mit einem Kopfschütteln. Sein Auftritt vor den "Fedelissimi", also den treusten Anhängern, die sich in der wieder auferstandenen "Forza Italia"-Bewegung sammeln, hatte in der Tat einen Hauch von Selbstparodie. So als wären keine 20 Jahre vergangen seit seinem fulminanten Einstieg in die italienische Politik. So als wäre die Zeit stehen geblieben. Doch die Zeit läuft unbarmherzig weiter und sie läuft dem Cavaliere davon. Und auch Berlusconis angeblich neue Beweise zu seiner Entlastung, die er vor zwei Tagen in einer Pressekonferenz vorstellte, überzeugen vor allem einen: ihn selbst. "Diese Beweise führen zwingend zu einer Revision des Prozesses und verlangen eine Vertagung der Abstimmung über meine Amtsenthebung." Für 19 Uhr heute Abend ist die Abstimmung über Berlusconis Senatssitz festgelegt, vorher muss sich die zweite Parlamentskammer noch mit einer Reihe anderer Fragen beschäftigen. Es bleibt also spannend bis zum Schluss.
Von Kirstin Hausen
Bis zuletzt hat Silvio Berlusconi alle Register gezogen. Doch die Fakten sprechen gegen ihn. Sein Ausschluss aus dem Senat scheint vorprogrammiert und seine Gefolgschaft verweigert ihm nach und nach den Gehorsam.
"2013-11-27T00:00:00+01:00"
"2020-02-01T16:47:38.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italien-entscheidung-ueber-berlusconis-politisches-ende-100.html
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"Wir müssen uns um die seelische Gesundheit kümmern"
Fußballfans von Hannover 96 gedenken ihres früheren Torwarts Robert Enke (Archivbild 2010). (imago sportfotodienst) Über Depression im Sport werde seit Robert Enkes Tod zwar mehr gesprochen, sagte Valentin Markser im Deutschlandfunk. Dennoch gebe es eine "unheilvolle Allianz", die das Thema seelische Erkrankungen im Leistungssport klein hielten: Sportler, die Probleme verdrängten. Trainer, die heilfroh seien, wenn Sportler "Alles klar" sagten. Die Öffentlichkeit, für die das alltägliche Leben der Sportler uninteressant sei - auch weil in den Medien nach Erfolgsgeschichten gesucht werde. Das Umfeld, das Angst um Jobs habe. Und Vereine und Verbände, die Angst um ihr Produkt hätten. Sportler, Eltern und Trainer seien ein Team mit besten Absichten, gerade wenn es die Begleitung junger Sportler betreffe. "Wenn sie verstehen, dass sie eigentlich ein Ziel verfolgen - nämlich langfristig einen guten Sportler zu bekommen - dann geht das nicht gegen den Sportler und gegen seine Gesundheit." Die seelische Gesundheit gehöre dazu. Eltern und Trainer sollten genauso viel Interesse an der persönlichen Entwicklung des Sportlers haben wie an kurzfristigen sportlichen Erfolgen. Nur das garantiere sowohl einen sportlichen Erfolg als auch eine gute Karriere nach der sportlichen Karriere. "Sportpsychiater fehlen" Auf dem Gebiet der Vereine und Verbände sei auch nach dem Tod des Ex-Nationaltorhüters Robert Enke nichts passiert. Alle beschäftigten nun zwar Sportpsychologen. Diese seien aber vor allem für die mentale Vorbereitung auf Wettkämpfe zuständig. Sportpsychiater oder sportpsychiatrische Berater fehlten dagegen. Markser war früher selbst Spitzensportler gewesen. Als Torwart gewann er mit dem VfL Gummersbach Meister-, Pokal- und Europapokaltitel. Bekannt wurde er vor zehn Jahren als Arzt von Robert Enke, nachdem sich der Nationaltorhüter im November 2009 das Leben genommen hatte. Markser hatte Enke wegen dessen Depressionen behandelt. Valentin Markser, Sportpsychiater, der auch Robert Enke betreute (imago/Rust) Markser sagte, dass psychische Krankheiten bei Leistungssportlern in der Bevölkerung immer noch kein Thema sind: "Man geht davon aus, dass alle Leistungssportler seelisch gesund sind, man setzt es praktisch voraus, und beschäftigt sich nicht damit." Der 66-Jährige ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Buchautor und Mitbegründer des Instituts für Sportpsychiatrie in Köln. Auch unter geschulten Menschen habe lange Zeit eine Selektionsthese vorgeherrscht: Wer seelisch anfällig sei, schaffe es gar nicht in die Bundesligen oder zu Olympischen Spielen. "Zehn Jahre später wissen, wir, dass es anders ist. Wir Behandelnde und wir Sportler wussten es schon damals", sagte Markser. Dlf-Sportgespräch: Sport gegen Depression - "Die größte Kunst ist, den Einstieg zu finden"Vielen Menschen hilft der Sport, um die Symptome von Depressionen zu lindern. Im Dlf-Sportgespräch betonte der Psychiater Valentin Markser, wie wichtig dabei eine enge psychotherapeutische Begleitung sei. "Schädigungen im seelischen Bereich bei zu-viel-Sport" Der Sportpsychiater hat zusammen mit seinem Kollegen Karl-Jürgen Bär erst kürzlich das Buch "Seelische Gesundheit im Leistungssport" herausgegeben, das sich an Sportler und ihr Umfeld richtet. "Wir haben viele Nebenwirkungen, schädigende Wirkungen, die durch zu viel Sport entstehen. Und das ist im körperlichen Bereich ganz selbstverständlich, da kümmert sich die Sportmedizin drum. Dass es im seelischen Bereich auch schädigende Wirkungen des zu-viel-Sport oder der Umstände, in denen Leistungssport betrieben wird, gibt - das ist wenig bekannt", sagte der Sportpsychiater. Bundesliga - Psychologische Betreuung - eine SeltenheitEin Großteil aller Vereine von der 1. Bundesliga bis in die 3. Liga bieten keine sportpsychologische Betreuung an. Dabei könnte genau die frühzeitig helfen, psychische Erkrankungen wie Depressionen wahrzunehmen. Die Spielergewerkschaft VDV fordert ein Umdenken. Sportpsychologe Meichelbeck - "Ich gehe aktiv auf Spieler zu, wenn mir Dinge auffallen"Durchfall und Brechreiz vor jedem Spiel: Solche psychomatische Reaktionen auf Druck, wie sie Per Mertesacker im Spiegel beschrieben hat, kennt Martin Meichelbeck. Der Sportdirektor von Greuther Fürth ist auch Psychologe und kritisierte im Dlf die mangelhafte psychologische Betreuung im Profifußball. "Um die Gesamtpersönlichkeit kümmern" Es gebe unter Sportlern ähnlich viele seelische Störungen wie in der Gesamtbevölkerung, in einigen Disziplinen sogar mehr. Als Beispiel nennt Markser Essstörungen in Sportarten, in denen Aussehen oder Gewicht eine große Rolle spielten. Markser empfiehlt, Sportler regelmäßig zu untersuchen. Schließlich sei der Druck oft immens. Mentale Techniken, die Sportler deswegen erlernten, bezögen sich aber auf den Wettkampf. "Nur: Zwischen den Wettkämpfen müssen wir uns um die seelische Gesundheit kümmern und um die Gesamtpersönlichkeit." Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter https://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Beratungsstellen gibt es unter https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Valentin Markser im Gespräch mit Marina Schweizer
Valentin Markser ist der wohl bekannteste Sportpsychiater Deutschlands. Er behandelte Fußballer Robert Enke und setzt sich dafür ein, die seelische Gesundheit im Spitzensport nicht zu vernachlässigen. Im Dlf-Sportgespräch kritisiert er Vereine und Verbände - sie hätten nach Enkes Tod noch nicht genügend getan.
"2019-11-10T23:30:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:57.053000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportpsychiater-markser-wir-muessen-uns-um-die-seelische-100.html
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Gewalt an Schulen geht seit den 90er-Jahren zurück
Der Jugendforscher Thomas Fischer warnt vor einer Hysterisierung in Bezug auf Gewalt an Schulen (picture alliance / dpa / Oliver Berg) Manfred Götzke: Sicherheitsleute, die vor Grundschulen stehen, antisemitische Mobbingattacken, auch bewaffnete Schüler – schaut man sich die Berichte der letzten Tage und Wochen an, auch in unserem Programm, dann könnte man den Eindruck gewinnen, die Situation an den Schulen in Deutschland, die gerate mehr und mehr außer Kontrolle. Gerade die Gewalt eskaliert immer weiter. Der Chef des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, der warnt sogar schon vor amerikanischen Zuständen an deutschen Schulen. Aber stimmt das überhaupt? Das Deutsche Jugendinstitut wertet seit Jahrzehnten verschiedenste Studien aus, die sich mit Schulgewalt auseinandersetzen, und mit Thomas Fischer habe ich darüber gesprochen, ob es wirklich so ist, dass die Gewalt an den Schulen in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen hat oder ob es sich da eher um ganz subjektive Eindrücke handelt. Thomas Fischer: Auf der Grundlage von Statistiken und Dunkelfeldbefragungen, vor allem Schülerbefragungen, lässt sich sagen, dass es eher ein subjektiver Eindruck ist. Also nach diesen Statistiken und Studien zeigt sich keine Steigerung der Gewalt, im Gegenteil, es ist seit den 90ern sogar abgesunken. Götzke: Wie stark abgesunken und woran machen Sie das konkret fest? Fischer: Kurz vorab, welche Daten zur Verfügung stehen: Es gibt die polizeiliche Kriminalstatistik, also alle der Polizei bekannt gewordenen Straftaten werden dort ausgewiesen. Das bedeutet auch, dass Delikte, die nicht angezeigt werden oder ermittelt werden bei der Polizei, verbleiben im Dunkelfeld. Aber ein ganz wesentlicher Punkt sind Dunkelfeldbefragungen, die in Deutschland durchgeführt werden, also gerade in Form von Schülerbefragungen. Und auch hier zeigt sich ein Rückgang von Schulgewalt seit den 90er-Jahren. Götzke: Sie haben jetzt gerade vom Rückgang der Gewalt in Bezug auf die letzten 20, 25 Jahre gesprochen. Wenn man sich jetzt so neuere Zahlen und Entwicklungen anschaut, sagen wir mal der letzten zwei oder drei Jahre, gilt das für diesen Zeitraum auch, oder kann man da tatsächlich feststellen, okay, da hat die Gewalt wieder etwas zugenommen an den deutschen Schulen? Fischer: Es gibt schon Daten, länder-, bundesländerspezifische Daten gerade zu absoluten Zahlen an Schulen. Dort ist, wenn man wirklich nur die absoluten Zahlen als Grundlage nimmt, ein Anstieg zu verzeichnen, hier stellt sich aber die Frage, wie lässt sich der richtig einordnen. Wenn die Verbindung nicht zu der Personengruppe, also wie viele besuchen gerade die Schule - dann lassen sich allgemeine Entwicklungen retrospektiv nicht nachzeichnen. "Tabuisierung von Gewalt führt natürlich auch zu einer Sensibilisierung" Götzke: Okay, da müssen wir dann vielleicht noch ein bisschen abwarten, um das Ganze in Relation setzen zu können. Fischer: Richtig. Götzke: Wenn wir uns jetzt noch mal den Rückgang der Gewalt, den Sie ja gerade schon geschildert haben, anschauen, was sind denn aus Ihrer Sicht die Gründe dafür? Fischer: Ein wesentlicher Punkt, es wurde in den letzten Jahren sehr viel gerade im Bereich Schule gemacht, also da ist eine sehr positive Entwicklung auch zu verzeichnen, also gerade sozialpädagogische Angebote in der Schule haben stark an Bedeutung gewonnen – ob es jetzt um spezifische Schülertage geht, aber auch strukturell in der Schulentwicklung hat sich einiges getan, was sich zum Beispiel zeigt in der Schulsozialarbeit. Schulsozialarbeit findet sich immer mehr an Schulen und an immer mehr Schulen und kann sowohl für die Themen sensibilisieren als auch in Einzelfällen dann auch unterstützend und vermittelnd wirken. Götzke: Welche Rolle spielt das Elternhaus? Vor, sagen wir mal, 20, 25 Jahren war Gewalt im Elternhaus, ja, sagen wir mal, noch nicht so tabu wie heute, oder? Fischer: Richtig, also gerade in der kriminologischen Forschung zeigt sich, dass gerade das ein wesentlicher Faktor ist, also wie ist das Gewaltverständnis und das Gewalthandeln in der Familie und im Rahmen der Erziehung. Da ist es auch wirklich so, dass natürlich früher Gewalt weniger tabuisiert war, als es jetzt ist, und diese Tabuisierung von Gewalt führt natürlich auch zu einer Sensibilisierung zu dem Thema. "Grundsätzlich ist natürlich zu sagen, dass diese Sensibilität gut ist" Götzke: Das heißt, wenn wir jetzt über einzelne Fälle sprechen, die dann bundesweit für Aufsehen sorgen, sagen wir mal Beispiel Baden-Württemberg, wo ein Siebenjähriger seine Lehrerin mit einem Messer verletzt hat, da sind wir einfach viel stärker sensibilisiert, und deswegen kommt es dann zu einer subjektiven Wahrnehmung, okay, die Gewalt hat hier massiv zugenommen und auch die Brutalität? Fischer: Richtig. Grundsätzlich ist natürlich zu sagen, dass diese Sensibilität gut ist, allerdings wird mit dieser Sensibilisierung natürlich auch ein gewisser emotionaler Aspekt verbunden. Gerade Gewalt an Schulen ist ein sehr emotional besetztes Thema. Wir geben unsere Kinder in die Obhut der Schule und haben auch da das Vertrauen, dass sie dort sicher sind. Und entsprechend besorgt natürlich auch jeder Bericht und jeder Fall, der irgendwie zur Kenntnis gelangt und der bekannt wird. Götzke: Das heißt, wir sollten gerade auch beim Thema Schulgewalt aufpassen vor einer Hysterisierung? Fischer: Das Wort würde ich jetzt nicht benutzen. Man muss sich einfach auch bewusst werden, aufgrund welcher Erkenntnisse man dieses Bild hat. Es gilt grundsätzlich, dass Einzelfälle nicht verallgemeinert werden dürfen, auch im Sinne von unseren Kindern und Jugendlichen, einfach, dass hier keine Stigmatisierung, kein Labeln erfolgt und sie quasi unter Generalverdacht gestellt werden, und auch Schulen nicht. Das ist einerseits wichtig, und natürlich ist es auch so, dass jeder Einzelfall immer auch ein Fall zu viel ist und deswegen auch dieser Aufmerksamkeit bedarf zu diesem Thema und der Diskurs dazu auch absolut wichtig ist. Götzke: Sie haben ja schon gesagt, die alltägliche Gewalt an den Schulen hat eigentlich langfristig gesehen abgenommen, die Tatsache, dass manche Lehrer jetzt auch damit überfordert sind, dass es solche Dinge gibt wie Brandbriefe oder eben jetzt Security-Leute an Grundschulen sogar, hat das auch damit zu tun, dass die Lehrer das auch nicht mehr gewohnt sind, mit Einzelfällen von Gewalt umzugehen? Fischer: Es ist natürlich auch da eine Sensibilität da, und letztendlich muss man die auf jeden Fall immer auch ernst nehmen, gerade die Erfahrung aus der Fachpraxis – das ist wesentlich. Wir finden auch viele, die langjährige Berufserfahrung haben, die ja auch sozusagen aus ihrer Sicht Entwicklungen nachzeichnen können. Auch hier muss man natürlich aufpassen, keine Verallgemeinerungen durchzuführen und irgendwie zuzulassen. Aber nichtsdestotrotz sind es gerade auch Erfahrungswerte, auf die man zurückgreifen muss und die man berücksichtigen muss. "Nicht jede Schule hat sozusagen das Glück, einen Schulsozialarbeiter zu haben" Götzke: Was würden Sie den Schulen empfehlen, die beklagen, dass sie ein Problem mit Gewalt haben ganz aktuell? Fischer: Es gibt gerade in der Kriminalitätspräventionslandschaft sehr viele Programme, und da wäre es natürlich schön, wenn es irgendwie auch eine stärkere Vernetzung gibt. Es gibt viele Programme, wo zum Beispiel Schulen dann auch in ihrer konzeptionellen Entwicklung mehr Prävention sozusagen noch in die Schule bringen können. Nicht jede Schule hat sozusagen das Glück, einen Schulsozialarbeiter zu haben, der das quasi übernimmt, und da wäre es zum Beispiel eine Idee, auch auf regionaler Basis zu schauen, was gibt es denn für Angebote, die dann zum Beispiel auch in die Schule gehen und dann auch vor dem Hintergrund zu schauen, einen Raum zu schaffen in der Schule, um dieses dort zu ermöglichen. Götzke: Gewalt an Schulen hat langfristig gesehen nicht zu-, sondern eher abgenommen, sagt Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut in München. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Fischer im Gespräch mit Manfred Götzke
Nimmt die Gewalt an Schulen zu? Nein, meint Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut in München. Insgesamt habe die Schulgewalt seit den 90er-Jahren abgenommen, sagte er im Dlf. Gleichzeitig sei aber die Sensibilisierung für das Thema gestiegen. Fischer warnte vor einer Verallgemeinerung von Einzelfällen.
"2018-03-28T14:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:30.753000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-gewalt-an-schulen-geht-seit-den-90er-jahren-zurueck-100.html
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Der erbitterte Kampf um Kundus
Bundeswehrsoldaten im Helikopter auf dem Weg nach Kundus (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann) Die Sonne scheint nicht an diesem trüben 2. Oktober. Berge, die Wüste und versteckte Dörfer mit hoch ummauerten Lehmhäusern rauschen unter dem Bauch des Bundeswehr-Helikopters vorbei. Die Laderampe ist offen. Der Bordschütze hat ein schweres Maschinengewehr im Anschlag. Der Hubschrauber bringt Soldaten vom deutschen Feldlager in Mazar-i-Sharif nach Kundus. Der Flug durch den Norden Afghanistans dauert eine knappe Stunde. An diesem 2. Oktober leben 72 NATO-Soldaten in einer alten amerikanischen Baracke im Camp Pamir der afghanischen Armee, darunter neun Deutsche. Die afghanische Kaserne liegt am westlichen Stadtrand von Kundus. Von hier aus sind es etwa sieben Kilometer bis ins Zentrum. Die Soldaten sind für die Trainingsmission "Resolute Support" vor Ort. Chef der NATO-Truppen im Norden Afghanistans ist der deutsche General Hartmut Renk in Mazar-i-Sharif. "Wir sagen ja, dass die afghanischen Sicherheitskräfte selbsttragend sein sollen. Und dass nicht nur in einfachen Situationen, sondern auch in Grenzsituationen. Und das sind sie zurzeit noch nicht. Die brauchen, wenn es wirklich kritisch wird, intensive Beratung. Diese strategische Geduld empfehle ich zu halten, bis das wirklich zu einem tragfähigen Konstrukt geworden ist. Auch wenn das vielleicht noch ein bisschen länger dauert als sich manche erhoffen." Korrespondentin Sandra Petersmann im Gespräch mit dem Gouverneur von Kundus, Asadullah Omarkhel. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann) Der Gouverneur von Kundus ist an diesem trüben 2. Oktober bestens gelaunt. Asadullah Omarkhel besucht die kleine NATO-Truppe am Stadtrand regelmäßig. Er will vor allem in Deutschland Gehör finden. Omarkhel fährt im gepanzerten Wagen mit einem Konvoi aus zwei Dutzend Sicherheitskräften vor. "Ich kann mich in dieser Stadt frei bewegen", sagt er mit einem strahlenden Lächeln. Seine Gefolgsleute brechen in heiteres Gelächter aus. Der Gouverneur setzt noch einen drauf: "Ich weiß, dass Ihre Regeln das nicht zulassen, aber wenn Sie wollen, sind Sie bei mir in den besten Händen und wir gehen im Stadtzentrum spazieren." Forderungen nach wirtschaftlichen Investitionen Kundus hat in den letzten 15 Jahren viele Gouverneure erlebt. Asadullah Omarkhel ist seit Februar im Amt. An diesem 2. Oktober strahlt er große Zuversicht aus. "Jeder erinnert sich noch an den Massenangriff vor einem Jahr, als die Feinde der Menschlichkeit hier in Kundus plünderten und mordeten", erzählt Omarkhel. Jetzt sehe es viel besser aus. Es sei höchste Zeit für wirtschaftliche Investitionen. Soldaten der Bundeswehr unterwegs zu einem Kurz-Einsatz als Berater nach Kundus/ Afghanistan. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann) Keine 24 Stunden später greifen die Taliban aus allen vier Himmelsrichtungen an. Kleine Kämpfergruppen spazieren durch das Stadtzentrum von Kundus und rücken auf den Sitz des Gouverneurs vor. Die Extremisten verschicken Videos über den Kurznachrichtendienst twitter. Sie machen sich lustig über den afghanischen Staat und seine ausländischen Partner, die sich zeitgleich zur großen Geberkonferenz in Brüssel versammeln. Häuserkampf in Kundus: Die USA schicken Spezialkräfte zur Verstärkung. Die Soldaten der Bundeswehr, die in einem stark abgesicherten Camp mitten im afghanischen Feldlager Pamir am Stadtrand stationiert sind, greifen nicht ein. Ihren alten Stützpunkt, den sie im Oktober 2013 räumten, können sie von hier aus sehen. Die Deutschen sind nicht zum Kämpfen zurückgekommen. Das erlaubt ihr Mandat nicht. Die Bundeswehr soll die afghanische Armeeführung beraten. Wenn Oberstleutnant Erik Rattat seine afghanischen Kollegen in ihrer Kommandozentrale besucht, wird er auf Schritt und Tritt von zwei anderen NATO-Soldaten bewacht - für den Fall, dass es einen Angriff aus den Reihen der Afghanen gibt. "Das ist ja wie eine Operation am offenen Herzen hier. Hier drüben, das Lagebild, das wird mehrfach am Tag aktualisiert, da sieht man dann die Feindlage. Und wir haben von morgens bis abends immer einen Berater hier, mindestens einen, der darauf drängt, dass Meldungen eingeholt werden, wenn Informationen fehlen, dass die Abläufe sich hier einspielen." Militärische Beratung ist ein mühsamer Prozess Afghanistan leidet seit vier Jahrzehnten unter Krieg und Gewalt. Militärische Beratung in einem derart kriegsgeplagten Land ist ein mühsamer Prozess. Die Kommunikation läuft mithilfe eines Übersetzers. Es gibt Reibungsverluste und kulturelle Missverständnisse. Es kommt erschwerend hinzu, dass sich die afghanischen Sicherheitskräfte auch selber schwächen: durch interne Machtkämpfe und Korruption. Afghanische Sicherheitskräfte stehen in der Stadt Kundus. Zuvor hatten Taliban die Stadt angegriffen. (imago / Xinhua) Viele ihrer Anführer sind Kriegsfürsten oder Milizenchefs. Alte Feindschaften existieren weiter. Die Verluste sind hoch. Das weiß auch Afghanistans bekanntester Soldat. Vier-Sterne-General Murad Ali Murad taucht an allen brennenden Fronten des Landes auf. Davon gibt es viele, weil keine Seite diesen Krieg militärisch gewinnen kann. Der General wirbt dennoch um Vertrauen. "Wir gehen sorgfältig und verantwortungsvoll mit der Unterstützung unserer internationalen Partner um", versichert er. Kundus soll nicht wieder wie vor einem Jahr in die Hände der Taliban fallen. Deshalb ist er vor Ort. Deshalb sind die deutschen Soldaten zurück in Kundus. Auch Murad Ali strahlt an diesem trüben 2. Oktober große Zuversicht aus. "Nordafghanistan ist ein strategisches Schlüsselgebiet für unsere Feinde, aber wir haben ihnen hier ein sehr blutiges Jahr zugefügt", berichtet der afghanische General. Die erneute Demütigung seiner Truppe durch zahlenmäßig unterlegene Taliban nur einen Tag später ist ein neuer Tiefschlag. Vor allem für die Moral der Bevölkerung, glaubt der deutsche NATO-General Hartmut Renk. "Ja, dieser Vertrauensverlust, das ist das Schlimmste. Die taktischen Erfolge, die man mit diesen kleinen Kräftegruppierungen erreichen kann, die sind überschaubar. Das, was wir in der Bevölkerung durch Propaganda an Schaden sehen, das ist viel schlimmer. Dem müssen wir viel stärker begegnen. Die Taliban versuchen aus einem minimalen Ansatz einen maximalen Erfolg zu generieren, und das müssen wir vermeiden." Ein schwacher Staat, dem die Bevölkerung nicht vertraut, ist zum Scheitern verurteilt. Die internationalen Geberländer versuchen im 15. Jahr ihrer Afghanistan-Mission das Land zu stabilisieren. Zum ersten Mal verfolgen sie dabei ein klar formuliertes, gemeinsames politisches Ziel: Sie wollen, dass die Afghanen in Afghanistan bleiben. Und sie wollen bereits geflohene Afghanen möglichst schnell hierhin zurückschicken. Der Kampf um Kundus hält an und sorgt für noch mehr Flüchtlinge.
Von Sandra Petersmann
Genau ein Jahr, nachdem die Provinzhauptstadt Kundus im Norden Afghanistans in die Hände der Taliban fiel, wiederholt sich der Kampf um die Macht. Die Bundeswehr war 2013 von dort abgezogen. Inzwischen ist sie wieder vor Ort. Kämpfen dürfen die deutschen Soldaten nicht. Sie sind als Trainer und Berater im Einsatz.
"2016-10-08T13:30:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:08.333000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-der-erbitterte-kampf-um-kundus-100.html
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Luftfilter können Virenlast in Räumen halbieren
Wo viele Menschen in einem Raum zusammen sind, kann die Infektionsgefahr vor Covid-19 durch Luftreiniger vermindert werden (imago / Action Pictures) In der Universität der Bundeswehr in München läuft ein Raumluftreiniger. Das Gerät, etwa in Größe und Form einer Mülltonne, soll aber nicht für das Wohl des Personals sorgen. Forscher des Instituts für Strömungsmechanik und Aerodynamik haben den Luftreiniger in ihrem Labor aufgestellt. Das Team um Professor Christian Kähler möchte wissen, ob sich damit Aerosolpartikel herausfiltern lassen, die Corona-Viren übertragen können. "Natürlich können Sie auch sagen, Sie lüften mit Fenstern. Fenster-Lüften hat aber den Nachteil, dass es nur dann funktioniert, wenn Sie entweder einen Temperatur-Unterschied haben zwischen Drinnen und Draußen oder wenn Sie ausreichend Wind draußen haben. Im Winter funktioniert es zwar gut, aber dann vergeuden Sie sehr viel Energie, das ist wieder schlecht." Viruszirkulation - Schulunterricht "ist natürlich ein Risikoszenario" Natürlich gebe es ein Ansteckungsrisiko, wenn sich viele Menschen über Stunden in einem Klassenraum aufhielten, sagte die Virologin Isabella Eckerle im Dlf. Sie warnt davor, die Rolle von Kindern und Jugendlichen im Virusgeschehen zu unterschätzen. Zu lange habe man sich auf Daten der ersten Jahreshälfte ausgeruht. Auf das Versuchsgerät kam Christian Kähler durch eine Therapeutin. Sie wollte ein Gutachten haben, ob das Modell geeignet sei, ihre recht geräumige Praxis corona-virenfrei zu bekommen. Besonders der hohe Volumenstrom von 1500 Kubikmetern pro Stunde und die angegebene Filterleistung "Klasse 14" überzeugten Christian Kähler. "Die Angabe lautet, dass der 99,995 Prozent der Partikel ab 0,1 bis 0,3 Mikrometer herausfiltern kann. Und größere Partikel zu 100 Prozent. Und wenn man sich jetzt anschaut, wie groß diese Aerosolpartikel sind, dann braucht man schon so einen Filter, um die Raumluft entsprechend zu reinigen." Um den tatsächlichen Wirkungsgrad messen zu können, haben die Münchner Forscher Aerosolpartikel in ihrem 80 Quadratmeter großen Labor-Raum versprüht. Grünes Laser-Licht durchleuchtet den Nebel dabei. "Mit einer Kamera werden dann die Bilder der Aerosolpartikel aufgenommen und man kann sie dann mit digitalen Methoden zählen lassen vom Computer. Und dann sich in Abhängigkeit von der Zeit sich den Verlauf anschauen, wie die Konzentration abnimmt." In fünf Minuten weniger Virenlast im Klassenraum Die Ergebnisse zeigen: Bei voller Reinigungsleistung lässt sich eine leichte Virenlast in einem Klassen- oder Büroraum in fünf Minuten halbieren. Für die Intensivreinigung sollte eine halbe Stunde eingeplant werden. Ein gutes Ergebnis ist aber auch abhängig vom Aufstellort des Luftreinigers: "Es gibt da eher ungünstige Positionen, beispielsweise in der Ecke eines Raumes. Und es gibt günstige Positionen, in der Mitte an der längsten Seite eines Raumes. Man muss zusätzlich noch beachten, dass man die Decke freihält, damit sich der Luftstrom auch möglichst weit im Raum ausbreiten kann." Dabei sollte der Luftreiniger auch nicht die ganze Zeit auf Volllast laufen – besonders wegen der relativ lauten Lüftergeräusche. Während einer Klassenarbeit oder einer Besprechung kann die Maschine störend wirken. Christian Kählers Kollege Rainer Hain empfiehlt: Lieber in längeren Pausen intensiv reinigen – und auch zwischendurch nach Möglichkeit lüften. "Ein Raumluftreiniger holt natürlich nur die Aerosole raus. Der CO2-Gehalt muss nach wie vor gering gehalten werden, was natürlich eine gewisse Lüftung zusätzlich erfordert." Lüften bleibt trotzdem wichtig Christian Kähler und sein Team möchten in Folgeforschungen herausfinden, ob noch andere Modelle Aerosolpartikel zuverlässig beseitigen können. Denn ihr Referenzobjekt ist nicht nur groß, sondern mit etwa 4.000 Euro auch recht teuer. Wichtig ist neben guten technischen Leistungen, dass die Filter sich auf 100 Grad Celsius aufheizen lassen. "Das vermeidet dann eben, dass die Viren am nächsten Tag wieder ausgepustet werden." Hilfreich wären außerdem Bilanz-Rechnungen. Darin ließen sich beispielsweise Energieverbrauch oder Effizienz bei häufigem Fenster-Lüften und beim Einsatz von Raumluft-Reinigern gegenüberstellen. Interessierte könnten dann noch leichter abwägen, ob sie solche Geräte zur Virenbekämpfung anschaffen wollen oder nicht.
Von Simon Schomäcker
Mobile Raumluftreiniger können die Aerosol-Konzentration in geschlossenen Räumen deutlich verringern. Das haben Forscher der Universität der Bundeswehr in München herausgefunden. Allerdings hängt der Erfolg von der Platzierung im Raum ab und von der Laufdauer der Geräte. Die winzigen Tröpfchen gelten als Hauptgrund für die Ansteckung mit Covid-19.
"2020-08-28T11:35:00+02:00"
"2020-09-04T17:06:51.372000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-und-aerosole-luftfilter-koennen-virenlast-in-100.html
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Warum stockt die Digitalisierung bei der Mobilität?
Alternativen zum Auto: E-Scooter und öffentlicher Nahverkehr (dpa / Annette Riedl)
Heller, Piotr
Damit mehr Menschen den öffentliche Nahverkehr nutzen, müsste man Fahrten einfacher buchen und mit anderen Verkehrsmitteln kombinieren können. Die Realität ist aber: Ein Wildwuchs aus Apps, Tarifzonen und Anbietern. Dabei lässt sich das alles weniger kompliziert lösen – nur eben nicht in Deutschland.
"2022-05-20T16:36:25+02:00"
"2022-05-20T17:00:20.166000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-einfach-muss-mobilitaet-sein-verkehrswende-zwischen-apps-befreiungsschlag-dlf-eff0cb7d-100.html
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Lacher: Tod Gaddafis ist ein wichtiges Symbol
Jasper Barenberg: Zunächst aber nach Libyen. Die Menschen dort feiern den Tod Gaddafis und den Fall der letzten Hochburg Sirte. Jetzt ist der Nationale Übergangsrat in der Pflicht, eine friedliche Zukunft für das Land zu organisieren, keine leichte Aufgabe.Am Telefon begrüße ich Wolfram Lacher, der sich bei der Stiftung Wissenschaft und Politik intensiv mit Libyen beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Lacher.Wolfram Lacher: Guten Tag!Barenberg: Wir haben es gerade gehört: Es ist weiterhin unklar, wie und von wem Gaddafi getötet wurde. Seit Wochen bereits war ja nur noch geringer Widerstand des alten Regimes da. Wie wichtig ist es für die Menschen trotzdem, dass Gaddafi jetzt tot ist? Wie wichtig ist dieses Symbol?Lacher: Ich glaube, symbolisch ist das ganz wichtig. Aber es ist vor allem auch entscheidend dafür, dass der Übergangsprozess jetzt beginnen kann, denn der Plan des Übergangsrates geht ja vom Zeitpunkt der Befreiung aus und die soll heute oder morgen verkündet werden und damit kann der Prozess hin zu Wahlen und der Ausarbeitung einer Verfassung beginnen.Barenberg: Wie zuversichtlich können wir sein, dass diese Planung tatsächlich in die Tat umgesetzt wird? Wir erinnern uns, dass es schon in den vergangenen Wochen immer wieder Berichte gab über Konflikte innerhalb der Übergangsregierung.Lacher: Ja. Dass es da zu Machtkämpfen kommen wird, dass das ein schwieriger Prozess sein wird, dass es da zu Instabilitäten kommen wird, ich glaube, das ist absehbar. Aber dass der Prozess an sich stattfindet, dafür sind die Aussichten eigentlich recht gut, denn der Übergangsrat besitzt bisher zumindest recht breite Unterstützung, trotz der Streitigkeiten um einzelne Personen, sodass wir eben mit dem Übergangsrat eine Institution haben, die diesen Prozess leiten kann, und ich glaube, dass man schon zuversichtlich sein kann, dass der Prozess, so wie ihn der Übergangsrat ausgelegt hat, auch stattfinden wird. Natürlich kann es sein, dass er länger dauert, als das ursprünglich geplant war.Barenberg: Sie rechnen also nicht damit, dass diese Koalition, die sich ja vor allem einig war in dem Ziel, Gaddafi zu stürzen, zu beseitigen, dass diese Koalition zerbrechen wird?Lacher: Doch, das ist schon möglich. Zumindest ist es wahrscheinlich, dass sich da sehr viel ändern wird in der Zusammensetzung dieser Koalition, dass da ganz andere Leute jetzt in den Vordergrund drängen werden, dass einige der bisherigen Führungspersonen die Bühne verlassen werden, denn in der Tat handelt es sich eben um eine sehr lose Koalition, es handelt sich um Kräfte, die vor allem die Interessen einzelner Familien, einzelner Städte, einzelner Stämme vertreten, und es bestehen, es gibt sehr tiefe Bruchlinien beispielsweise zwischen den ehemaligen Entscheidungsträgern des Regimes und ehemaligen Oppositionellen und Exilanten, zwischen Islamisten und säkularen Kräften, oder auch zwischen der politischen Führung im Übergangsrat und den revolutionären Brigaden, Also den bewaffneten Gruppen, die die Revolution angeführt haben auf dem Terrain, und die verlangen zunehmend politischen Einfluss und ich glaube schon, dass das mit starken Machtkämpfen verbunden sein wird, dieser Prozess.Barenberg: Was, glauben Sie denn, sind die größten Konflikte in dem Land? Sind sie eben regionaler Natur, oder sind sie ideologischer, politischer Natur?Lacher: Es handelt sich einerseits, glaube ich, um Rivalitäten vor allem zwischen Interessengruppen, die bestimmte Städte oder Stämme repräsentieren. Andererseits aber ist schon jetzt deutlich, dass es einige Streitfragen gibt, die die Machtkämpfe zwischen diesen Gruppen, die jetzt schon begonnen haben, definieren. Und zu diesen Streitfragen zählt beispielsweise, welche Rolle der politische Islam beziehungsweise ein säkulares Modell spielen soll, es zählt auch dazu, ob Libyen ein föderales oder dezentrales Modell erhalten soll, oder ein zentralistisches, denn diese ganzen fundamentalen Fragen müssen ja jetzt erstmals ausgehandelt werden. Und es zählt auch dazu, welche Rolle die ehemaligen Entscheidungsträger des Regimes beziehungsweise Leute, die sehr lange im Exil waren, im Übergangsprozess spielen sollen. Das sind so einige der wesentlichen Konflikte, glaube ich, die auf Libyen zukommen.Barenberg: Große Herausforderungen auf jeden Fall für die Arbeit im Nationalen Übergangsrat. Vielen Dank, Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik, für das Gespräch heute Mittag.Lacher: Gerne.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Linktipp:Der arabische Aufstand - Sammelportal
Wolfram Lacher im Gespräch mit Jasper Barenberg
Nach dem Tod Gaddafis könne der Nationale Übergangsrat nun den Weg hin zu Wahlen und der Ausarbeitung einer Verfassung einleiten, sagt Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
"2011-10-21T13:14:00+02:00"
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https://www.deutschlandfunk.de/lacher-tod-gaddafis-ist-ein-wichtiges-symbol-100.html
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Russland plant umfassende Einbürgerung für Ukrainer
Russland: Biometrische Pässe (RIA Nowosti / Grigoriy Sisoev) Große Lautsprecher verbreiten den Klang eines Metronoms auf einem Platz im Norden Moskaus. Es ist eine Gedenkminute. Einige hundert Menschen, vor allem Nationalisten, gedenken der Opfer von Odessa. In der ukrainischen Schwarzmeerstadt stand vor fünf Jahren das Gewerkschaftshaus in Flammen, mehr als 40 Menschen kamen ums Leben. Sie wollten eine Hinwendung der Ukraine zu Russland. Dieses Verbrechen und der Tod von Zivilisten ist seither von allen Seiten instrumentalisiert worden – diese Versammlung ist da keine Ausnahme. Fast alle auf diesem Platz träumen vom Wiedererstehen Neurusslands. Gemeint ist ein Gebiet, das sich in der Südukraine noch über Odessa hinaus bis nach Moldau erstreckte. Die Ukraine als souveräner Staat kommt darin gar nicht vor. Vorn auf der Bühne tritt eine Sängerin auf. "Von Kamtschatka bis Odessa hat Moskau seine Interessen", singt sie, um im nächsten Vers den Einflussbereich Russlands noch zu erweitern: "Von den Kurilen bis Transnistrien, von Donezk bis zum Kreml, das ist meine Heimat." An dieser Stelle sind zwei Fußnoten zu nennen: Um die Kurilen gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Streit mit Japan, Transnistrien ist die von Moldau abgespaltene Region, die Moskau großzügig unterstützt, unter anderem mit Militärhilfe. "Was uns trennt, ist selbstverständlich negativ" Während im Vier-Viertel-Takt der nächsten Strophe auch noch Alaska eingemeindet wird, fällt weiter hinten einer der Demonstrierenden ins Auge, der einen grauen Pullover trägt: Michail, 66 Jahre. Auf seinem Oberteil steht in roter Schrift eine Art Bekenntnis geschrieben: "Ich habe Neurussland anerkannt." "Neurussland, das ist schmerzliche Wehmut, weil es mir sehr nahe steht. Ich bin in der Sowjetunion geboren, als wir alle ein Volk waren. Und so ist es in der Tat auch geblieben, ungeachtet all der künstlichen Grenzen, die man zwischen uns eingerichtet hat." Sein Blick auf die umliegenden Regionen – alle sind eins, aber selbstverständlich unter russischer Führung – ist ein Erbe sowjetischer Prägung. Was die umliegenden Regionen selbst zu diesem Moskauer Herrschaftsanspruch meinen und unter welchen Umständen sie einst ins Zarenreich oder in die Sowjetunion hineingezwungen wurden, interessiert unter den hier Versammelten kaum einen. In ihrer Welt ist es nur folgerichtig, Ukrainerinnen und Ukrainern die russische Staatsbürgerschaft anzubieten, so wie es jetzt Präsident Wladimir Putin angekündigt hat. Michail meint: "Alles, was die Einheit zwischen uns [Ukrainern und Russen, Red.] befördert, ist positiv. Und was uns trennt, ist selbstverständlich negativ." Nun hat der Kreml die Einzelheiten veröffentlicht, die es in sich haben: Moskau beginnt wohl die größte Einbürgerungskampagne der jüngeren Geschichte. Nicht allein Menschen in den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk können Russen werden, sondern auch ihre Ehepartner, Kinder und Großeltern, egal, wo sie wohnen. Außerdem können Ukrainer, die in Russland leben, diesen Antrag stellen. Dasselbe gilt für Nachkommen jener, die einst unter Stalin von der Krim deportiert wurden – also Krimtataren, aber auch Deutschstämmige. Anfallende Sozialleistungen lässt sich Moskau etwas kosten: "Diese Summe kann in den nächsten Jahren in der Tat ungefähr 100 Milliarden Rubel erreichen", erklärte Präsident Putin vor kurzem. Umgerechnet etwa anderthalb Milliarden Euro. "Das ist für uns unkritisch und stellt nicht in Frage, dass wir unsere Verpflichtungen gegenüber Rentnerinnen und Rentnern erfüllen." "Die Krim ist natürlich ukrainisch" Nach Schätzungen können bis zu fünf Millionen Menschen den Antrag stellen. Kommen sie - auch nur teilweise - dieser Einladung nach, erreicht die russische Führung gleich mehrere Ziele: Die Wirtschaft gewänne russischsprachige Arbeitskräfte und die Herrschenden könnten auf Dankbarkeit und Wählerstimmen zählen. Und Moskau könnte argumentieren, es unterstütze im Donbass seine Bürger. Ein Szenario, das bei der Abspaltung der georgischen Region Südossetien eine Rolle gespielt hat und das auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen umtreibt. Auf dem Platz, auf dem lautstark nach Neurussland gerufen wird, findet sich auch ein Demonstrant, der von all dem nichts hält. Er sei gebürtiger Pole und meint: "Die Krim ist natürlich ukrainisch." Aber viel mehr Zustimmung bekommt ein Redner, der auf der Bühne davon spricht, früher oder später werde sogar die gesamte Ukraine wieder russisch sein. Der Redner nennt sich Strelkow, zu Deutsch: der Schütze. Er war 2014 Verteidigungsminister in der sogenannten Donezker Volksrepublik. Er brüstete sich damals mit dem Abschuss der malaysischen Boeing MH 17 über der Ostukraine. Mit der Ausgabe russischer Pässe an Ukrainer wird nun eine seiner langjährigen Forderungen erfüllt.
Von Thielko Grieß
Kaum war in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt, bot der russische Präsident Wladimir Putin den Menschen in der Ost-Ukraine die russische Staatsbürgerschaft an. Doch die Pläne des Kreml sind offenbar umfassender als gedacht. Russland ist bereit, einigen Millionen Ukrainern russische Pässe auszustellen.
"2019-05-03T05:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:50:03+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-russland-plant-umfassende-einbuergerung-100.html
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Ökosysteme noch nicht stabil
Die Zerstörungskraft des Tsunamis 2011 in Japan war enorm. (dpa / picture alliance / Kimimasa Mayama) Für die Fischer war das Meer vor der Küste Tohokus fast schon so etwas wie ein Schlaraffenland: Die Fänge waren reich, denn das Gebiet gehörte zu den produktivsten überhaupt - bis zum 11. März 2011. Da zerstörte der Tsunami die Ökosysteme vor der Küste: "Der Tsunami riss beispielsweise die meisten der Seegraswiesen und Seetangfelder samt ihren Bewohnern in die Tiefsee: Fische, Seegurken und Muscheln - alles war schlagartig verschwunden. Nach dem Tsunami war der Meeresboden entlang der Küste wie leergefegt." erzählt Hiroshi Kitazato von der japanischen Meeresforschungsorganisation Jamstec. Im Jahr darauf begann das Leben zurückzukehren: Noch bevor sich die Seegraswiesen erholt hatten, entdeckten die Forscher die ersten Fische. "Als nächstes fanden wir wieder Seegurken und alles, was laufen kann, wie etwa Krabben und anschließend die langsam kriechenden Organismen wie die Abalone-Schnecken. Jetzt, im vierten Jahr nach dem Tsunami, sind Seegras und Seetang nachgewachsen. Allerdings sind diese Ökosysteme noch nicht stabil, denn die Pflanzenfresser üben einen hohen Druck aus und können sie immer noch kahlfressen." Regelrechte Schuttteppiche auf dem Meeresboden Auch in der Tiefsee hinterließ der Tsunami seine Spuren - allerdings andere. So hat sich schwerer Schutt wie versunkene Fischerboote oder die Überreste von Häusern am Meeresboden angesammelt. Die Sonare der Forscher verraten auch, dass sich in tiefen Canyons regelrechte Schuttteppiche gebildet haben: "Diese Trümmer werden zu so etwas wie "Fisch-Apartments", in denen Tiefseefische und Krebse leben und die sie unter anderem als Kinderstube nutzen. Wir sehen, wie sich dort neue Ökosysteme entwickeln. Allerdings haben die Trümmerteppiche auch den Lebensraum derjenigen Tiefseebewohner unter sich begraben, die sich auf die sandigen Böden der Canyons spezialisiert hatten. Diesen Arten schaden sie also." Insgesamt betrachtet profitieren jedoch die Tiefseeökosysteme von dem Tsunami: "Das Meeresgebiet vor Tohoku war überfischt. Weil seit dem Tsunami vor allem die Fischerei mit Grundschleppnetzen jedoch stark zurückgegangen ist, konnten sich die Bestände erholen: Schon im ersten Jahr nach dem Tsunami hatte sich die Fisch-Biomasse verdoppelt." Entwicklung der Ökosysteme beobachten Deshalb raten die Meeresforscher den Fischern, künftig die Canyons als Schutzraum für die Fische und Krebse zu meiden: Das würde sich schon bald durch bessere Fänge auszahlen. Überhaupt dienen die Messungen der Jamstec-Wissenschaftler auch dazu, der Fischerei wieder eine wirtschaftliche Grundlage zu geben: "Wir kartieren mit dem Sonar die Schuttverteilung am Meeresboden und geben die Daten an die Fischer weiter. Sie bergen, was möglich ist, denn dieser Schutt ist schlecht für die Trawler: Er zerstört die Netze." Auf zehn Jahre ist das Programm ausgelegt, mit dem die Forscher die Entwicklung der Ökosysteme beobachten wollen. Dabei wollen sie sich auf einige Canyonsysteme konzentrieren und auf drei Buchten, die stellvertretend für Hunderte andere stehen: "Wir arbeiten nun seit vier Jahren dort und sehen inzwischen, dass sich die Gebiete erholen. Allerdings werden derzeit entlang der Küste große Seewälle errichtet, die die Menschen vor den Tsunami schützen sollen. Diese Bauarbeiten greifen tief in die Ökosysteme ein und überlappen sich mit den Erholungstendenzen." Derzeit lasse sich nicht sagen, wann sich die Natur im Tohoku-Gebiet wieder stabilisiert haben wird, schließt Hiroshi Kitazato.
Von Dagmar Röhrlich
Der Tsunami, der 2011 den Norden Japans traf, tötete mehr als 20.000 Menschen, vernichtete Dörfer und zerstörte das Kernkraftwerk von Fukushima. Seine Kraft war immens - auch im Meer. Deshalb untersuchen japanische Wissenschaftler, was die Riesenwellen im Ozean angerichtet haben.
"2015-04-17T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:32:16.522000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leben-nach-dem-tsunami-oekosysteme-noch-nicht-stabil-100.html
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Emotionale Momente im Homeoffice
Charlottes Ehemann Markus (Barnaby Metschurat) muss alleine auf die gemeinsamen Kinder aufpassen (ZDF/btf GmbH) "Hey Clara. Ich bin's. Ich weiß, ich wollte mich nie wieder melden. Aber heute… Es ist gerade eine echt fucking weirde Zeit …" Damit bringt die Hauptfigur Charlotte ganz gut auf den Punkt, was wohl die meisten gerade denken: Stell dir vor, es ist eine Pandemie und alle stecken im Homeoffice. Im Fall von Charlotte ist das ein Berliner Altbau mit Vintagemöbeln und Kinderhochstuhl. Wobei die Kinder gerade mit Vater Markus auf dem Land sind – wo sie, wenn es nach Charlotte geht, am besten auch bleiben sollen. Denn ein Punkt auf ihrer To-do-Liste: Markus über Scheidung informieren. Schauspielerinnen und Schauspieler arbeiten im Homeoffice "Jetzt stecken meine armen Kinder bei meinem Mann fest. Ich muss mit meiner Scheiß-Chefin diese Scheiß-Firma leiten. Und ich muss das alles von zuhause aus regeln." Das ist im Prinzip auch schon der ganze Plot von "Drinnen". Charlotte sitzt im Homeoffice und wechselt von einer Videokonferenz zur nächsten. Dazwischen skypt sie mit ihrer Familie, schickt Sprachnachrichten an ihre beste Freundin und klickt sich durch die Spotify-Playlist zu "Home Alone". Die ganze Handlung auf einem Computerbildschirm. Philipp Käßbohrer: "Ist natürlich so ein bisschen die Idee, zu sagen: Wir erleben alle auch ohne Corona ganz viele emotionale Momente eigentlich an Bildschirmen." Das ist Philipp Käßbohrer von der Kölner bildundtonfabrik, die zum Beispiel auch das NeoMagazinRoyal produziert hat. "Und mit dieser Welt zu spielen, macht uns sowieso viel Spaß. Und da haben wir das Gefühl gehabt, vielleicht kann man damit auch aktuell umgehen." New Normal in der Krise Die bildundtonfabrik hat "Drinnen" in einer Rekordzeit von drei Wochen produziert. Während die ersten Folgen schon laufen, werden die letzten noch geschrieben. Das Ganze mitten im Corona-Lockdown. Die komplette Serie wurde nach dem Prinzip produziert: Dafür musste kein menschliches Wesen das Haus verlassen. Nicht einmal die Schauspielerinnen und Schauspieler. "Das war erst einmal die große interessante Herausforderung. Mal herauszufinden, vielleicht gibt es ja so was wie ein New Normal in der Krise, und vielleicht lässt sich damit ja auch etwas Kreatives machen, was wir auch so interessant fänden, ohne dass es Corona gibt." Eine Serie also aus dem Homeoffice übers Homeoffice. Und in ihren besten Momenten eine Mischung aus Telenovela, Sitcom und Late Night Show. Das funktioniert vor allem in den ersten Folgen. "Pitch adidas müssen wir neu denken. Ist euch alles klar. Ist ja einiges passiert. Diese Projekte sind sofort zu stoppen. Sonnenbrillenwerbung mit Xavier Naidoo. Ist tot, mausetot." Mischung aus Telenovela, Sitcom und Late-Night-Show "In der Herstellungsweise arbeiten wir tatsächlich mit Autoren zusammen, die beide Welten ein bisschen kennen. Die zum einen natürlich das Fiktionale kennen und ihr Handwerk verstehen, aber auf der anderen Seite auch wissen, wie Show-Fernsehen zum Beispiel entsteht und wie man da kurzfristig auf Aktualität reagiert." Tatsächlich scheinen die Leute aktuell nicht genug von dieser Aktualität zu bekommen. In den ersten Wochen von Corona waren es die Pandemie-Filme. Jetzt ist es einer Studie zufolge die Tagesschau, die wieder die ganze Familie vor dem Fernseher versammelt. Und sei es nur aus reiner Nostalgie heraus. Da kommt eine Serie wie "Drinnen" genau richtig. "Wir haben ja auch Lust, den Leuten ein bisschen was zu geben, was sie vielleicht irgendwie aufrecht erhält und gerade hält in dieser schwierigen Zeit." Die Serie passt noch aus einem anderen Grund zum aktuellen Lebensgefühl: In einer Zeit der allgemeinen Konzentrationsschwäche, macht sie es einem leicht, sich auf sie einzulassen. Die einzelnen Folgen sind selten länger als zehn Minuten. Ihre Erzählweise ist ähnlich fahrig wie viele Corona-Gehirne. Und eben extrem nah dran an diesem neuen Alltag: "Hey. - Charlie, Hi! - Kannst Du mich hören? - Hi. - Charlie? Ist ja geil, funktioniert. -Warum rufst du nicht auf dem Handy an? - Was? - Warum du nicht auf dem Handy anrufst? Was gibt es denn … ?" Frühes Experiment Acht Folgen gibt es bisher von "Drinnen". Die zeigen allerdings auch: Das Konzept nutzt sich ab. Insofern ist es nur konsequent, dass die Serie auf 15 Folgen begrenzt ist. Denn Philipp Käßbohrer ist sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst. Insbesondere der Frage: Wer will das sehen? "Ich bin natürlich auch dementsprechend froh, dass wir jetzt so früh dran sind, weil man will ja gar nicht wissen, welche Welle an vielleicht unter Umständen auch wahnsinnig langweiligen Pandemiestoffen nächstes Jahr auf uns zurollt. Deswegen ist es ganz schön, das jetzt ganz früh mal auszuprobieren. Und vielleicht, wenn man mich jetzt anrufen und fragen würde, ob ich Lust hätte, so etwas zu machen, würde ich auch schon wieder anders denken." Für den Moment jedenfalls fängt "Drinnen" dieses seltsame Gefühl auf, dass sich aktuell bei jeder anderen Serie einstellt. Diese Mischung aus Entrüstung darüber, dass dort niemand Abstand hält, und der unbestimmten Erinnerung daran: Es gibt auch ein Leben ohne Corona. "Drinnen - im Internet sind wir alle gleich" finden Sie in der ZDF-Mediathek, mit einer neuen Folge pro Werktag und als Wochenzusammenfassung dienstags um 22.45 Uhr auf ZDFneo.
Von Simone Schlosser
Viele Dreharbeiten müssen wegen der Corona-Krise unterbrochen werden. Auch, weil es unmöglich ist, eine Szene mit körperlichem Mindestabstand zu drehen. Die Kölner bildundtonfabrik hat "Drinnen - Im Internet sind wir alle gleich" deshalb komplett im Homeoffice hergestellt.
"2020-04-17T15:05:00+02:00"
"2020-04-18T09:33:34.804000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/quarantaene-serie-drinnen-emotionale-momente-im-homeoffice-100.html
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"Italien ist nicht Griechenland"
Italiens Regierung hält trotz Kritik der EU an seinem Haushaltsplan fest (PA/dpa/Rolf Vennenbernd) Sina Fröhndrich: Italien hält am Haushalt fest - trotz aller Kritik. Sie plant mit 2,4 Prozent Neuverschuldung - oder sind es wohl doch eher 2,8 Prozent, davon geht die EU-Kommission aus. Wohin führt die Verschuldung? Droht die nächste Eurokrise? Herr Suedekum von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf: Italien und die neuen Schulden, könnte das Ganze in eine Staatspleite münden? Jens Südekum: In der aktuellen Situation glaube ich nicht daran, denn wenn man es nüchtern betrachtet, die Situation in Italien, dann ist die nicht so problematisch, wie man manchmal jetzt gerade den Eindruck gewinnen könnte. Also wir reden bei Italien auf keinen Fall über eine Fall, wie wir ihn von Griechenland von vor zehn Jahren kennen. Italien hat zwar diese hohe Gesamtverschuldung von 130 Prozent in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt, aber das sind geerbte Probleme. Diese Probleme wurden in den 80er-, 90er-Jahren geschaffen, und die hat die jetzige Regierung so gesehen geerbt. Aber jetzt in den letzten Jahren hat Italien einen Exportüberschuss, einen Primärüberschuss im Staatssektor. Das heißt, abgesehen von den Zinszahlungen hatte man höhere Steuereinnahmen als Staatsausgaben. Auch die Zinszahlungen sind jetzt im internationalen Vergleich nicht so hoch. Also wir reden da jetzt über acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die der italienische Staat jedes Jahr für Zinszahlungen aufwenden muss. Das ist nicht viel höher als der Wert in Großbritannien oder Spanien und überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was man in Griechenland gesehen hat oder in anderen Episoden von akuten Wirtschaftskrisen. Insofern sollte man die Situation nüchtern betrachten und nicht irgendwie eine Krise herbeireden, die aktuell nicht existiert. Patient für krank erklärt, der gar nicht so krank ist Fröhndrich: Aber wir sehen doch schon die Risikoaufschläge bei den Staatsanleihen, die sind ja da. Südekum: Die sind da, und da müssen wir auch aufpassen, dass wir nicht in so eine Wiederholung eines schlechten Films geraten, den wir aus den Zeiten der Finanzkrise kennen. Denn natürlich, wir haben die Kriterien, wir haben die Maastricht-Kriterien, die ja eben sagen, die Verschuldung darf nur 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen, die Gesamtverschuldung. Gerade die Ratingagenturen sind da sehr starr. Das heißt also, wenn da ein höherer Wert gesehen wird, dann wird automatisch geschlussfolgert, dass es also ein Problem mit der Schuldentragfähigkeit geben muss, dann kommt die Abstufung, dann steigen die Zinsen. Dann wird es tatsächlich problematischer mit steigenden Zinsen, und am Ende wird ein Patient für krank erklärt, der, wie ich es gerade gesagt habe, eigentlich, was die Wirtschaftsdaten angeht, gar nicht so krank ist. Also insofern wissen wir, dass die Ratingagenturen, dass die jetzt in ihren Bewertungen nicht der Weisheit letzter Schluss sind, das wissen wir ja aus Zeiten der Finanzkrise. Euro-Austritt wäre Super-GAU Fröhndrich: Kann man denn dann sagen, dass wir die Berichte, die wir jetzt haben oder man kann ja eigentlich fast sagen, es gibt jetzt so eine Art Grundkonsens. Man sagt, die Italiener schmeißen das Geld zum Fenster raus, die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen, die werden immer höher, dass wir da so eine Spirale haben, durch ein Bild sozusagen, was wir da von Italien gerade zeichnen? Südekum: Ja, ich glaube schon, dass wir es ein Stück weit mit Übertreibungen da auch tatsächlich zu tun haben, aber es ist natürlich schon ein wahrer Kern dabei, an dem Italien auch selber schuld ist. Warum sind diese Risikoaufschläge so hoch im Vergleich etwa zu Ländern wie Spanien oder auch Großbritannien, die jetzt von den fundamentalen Wirtschaftsdaten jetzt nicht so viel anders aussehen. Das ist eben natürlich die Möglichkeit eines ungeordneten Euroaustritts. Der steht natürlich nicht akut im Raum, aber die Märkte kalkulieren natürlich die Möglichkeit ein, und da ist ja Salvini nicht ganz unschuldig daran, weil er natürlich manchmal mit diesem Euroaustritt auch liebäugelt. Das wäre die Katastrophe, das wäre wirklich der Super-GAU für Europa, aber vor allem auch für Italien selber. Weil diese Möglichkeit auch nur prinzipiell mit einer geringen Wahrscheinlichkeit im Raum steht, werden eben höhere Risikoaufschläge gefordert, und dann wird auch praktisch jede Äußerung, jede Budgetplanung mit viel, viel größeren Argusaugen betrachtet, als wenn eben die Möglichkeit eines Euroaustritts gar nicht erst zur Debatte stünde. Italien krankt an Strukturproblemen Fröhndrich: Sie haben jetzt gesagt, eine nüchternere Betrachtung wäre sozusagen angebracht, um vielleicht auch dieser Spirale so ein bisschen Einhalt zu gebieten. Sie haben auch gesagt, die Verschuldung ist eigentlich gar nicht das Problem. Ist denn das Geld wiederum richtig angelegt, also das, was die italienische Regierung da plant? Südekum: Nein, da ist tatsächlich Luft nach oben, und da muss auch unbedingt ein Kompromiss gefunden werden. Also einerseits muss man natürlich Verständnis haben. Ich meine, in Italien ist seit zehn Jahren die Wirtschaft nicht mehr gewachsen. Der reale Lebensstandard, seit zehn Jahren stagniert der. Wir haben weiterhin ganz große Probleme gerade mit Jugendarbeitslosigkeit. Das heißt, es ist politisch klar, dass die italienische Regierung mit dem Rücken zur Wand steht und etwas tun muss. Die Frage ist jetzt, was nun konkret da vorgeschlagen ist, das Ausgabenprogramm. Also 34 Milliarden Mehrausgaben, davon 22 Milliarden über Neuverschuldung, das ist prinzipiell jetzt auch gar nicht so problematisch, aber wofür soll das Geld ausgegeben werden. Das Geld soll ausgegeben werden für zum Beispiel Frühverrentung, sieben Milliarden, sieben Milliarden für so ein Grundeinkommensschema, was so ein bisschen vergleichbar ist mit dem Hartz-IV-System in Deutschland. Das heißt, da soll Geld unter die Leute gebracht werden, aber die langfristigen Strukturproblemen, an denen Italien tatsächlich krankt und die auch für das niedrige Wachstum der Vergangenheit einen Großteil verantwortlich sind, also ich sage mal, die schlechte Infrastruktur, das schlechte Bildungssystem, die Probleme im dortigen Banken- und Finanzsektor, nämlich, dass junge Unternehmen kaum an Geld rankommen und von daher Innovationen nicht marktfähig machen können, das sind die tatsächlichen Wachstumsbremsen. Die könnte und sollte man auch lockern, also da sollte man Geld auch reingeben. Was der italienische Staat vorschlägt, ist aber mehr Staatskonsum, und ich glaube, das ist der falsche Weg, und da sollte Brüssel einen Kompromiss suchen. Nicht im Sinne von einer lehrmeisterlichen Aufforderung, hier, du muss sparen, Italien, du darfst auf keinen Fall mehr Geld ausgeben. Das ist falsch. Aber den Kompromiss suchen, sagen, wenn schon mehr Geld, dann das Geld aber versuchen weise auszugeben und an der richtigen Stelle auszugeben. Wege zum Kompromiss vorhanden Fröhndrich: Sehen Sie das denn? Die EU-Kommission will sich ja morgen noch mal äußern zum italienischen Haushalt. Sehen Sie das denn, dass es da so eine Art Kompromiss am Ende geben könnte, oder fahren da zwei Züge aufeinander zu? Südekum: Na ja, ich meine, momentan haben wir natürlich so diese ritualisierten Streitigkeiten und die Empörung, also dass Brüssel den Entwurf aus Rom empört zurückweist und Nachbesserungen verlangt, und Rom wird das natürlich nicht mitmachen. Ich glaube, das ist wahrscheinlich in der politischen Gemengelage jetzt ein Stück weit vielleicht auch unvermeidlich. Aber man muss eben sehen, dass dann über kurz oder lang der Kompromiss und der Dialog gesucht werden muss. Da sehe ich eigentlich schon mögliche Kompromisslinien im Brüsseler Haushalt zum Beispiel. Da reden wir aktuell über einen riesigen Geldberg, da sind ungefähr 270 Milliarden Euro, die an nicht abgerufenen Mitteln dort liegen, das heißt Geld, das eigentlich den Mitgliedsländern schon versprochen wurde, darunter auch Italien. Das Geld wird zum Beispiel nicht abgerufen, zum Beispiel weil es an der Kofinanzierung durch die Mitgliedsstaaten fehlt, weil zu hohe Bedingungen und zu viel Komplexität bei den Antragsverfahren das Problem ist. Und da wäre ja ein konkreter Kompromiss, dass man sagt: Warum kann Rom nicht die Gesamtverschuldung ein bisschen runterfahren, dafür neu ausrichten, weniger konsumtive Zwecke, mehr investive Zwecke, und Brüssel kann dann dabei helfen und unterstützen, zum Beispiel, indem eben diese nicht abgerufenen Mittel mobilisiert werden? Das sind alles so Kompromisse. Und ich glaube, über kurz oder lang kann es in diese Richtung gehen und sollte es auch. Denn niemand kann ja ein Interesse daran haben, weder Brüssel, noch Rom, noch Berlin, dass die Situation in Italien über alle Maßen eskaliert. Problemfall: Nervosität der Finanzmärkte Fröhndrich: Wäre das eben auch ein Weg, dieser Mittelabruf, dass sich die Zinslast sozusagen auch ein bisschen drückt? Weil die Frage stellt sich ja eben schon, Sie sagen Verschuldung, das kann sich Italien schon leisten, aber diese Risikoaufschläge bei den Staatsanleihen, das muss ja auch erst mal irgendwie finanziert werden. Ich habe noch nicht so ganz verstanden, wie soll das gehen? Südekum: Das Problem sind jetzt, dass die Zinsen, diese Spreads, die sogenannten Spreads, dass die steigen. Also wir reden jetzt gerade über 3,5 Prozent Zinsen für eine zehnjährige Staatsanleihe. Das sind drei Prozent mehr als im deutschen Fall. Das ist einfach ein Signal für die Nervosität der Märkte. Und für diese Nervosität der Märkte spielt einerseits diese Möglichkeit eines ungeordneten Euroaustritts eine Rolle, aber zum anderen natürlich auch, dass die Märkte nicht erkennen, dass die Verschuldung und das Ausgabenprogramm, dass die wirklich zielgenau ausgerichtet sind. Also ich glaube, wenn man die Märkte überzeugen kann, dass man sagt, das Geld wird an der richtigen Stelle ausgegeben für mehr Wachstum, dann gehen auch diese Spreads wieder zurück. Ich glaube, ganz wichtig ist, dass die Botschaft ausgesandt wird sowohl von Brüssel als auch von Rom, dass ein Euroaustritt wirklich ausgeschlossen ist, wenn die Märkte sozusagen diese Botschaft auch verarbeiten und erkennen, dann werden auch die Zinsen wieder sinken. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jens Südekum im Gespräch mit Sina Fröhndrich
Der Haushaltsstreit zwischen der EU und Italien scheint festgefahren. Aber Möglichkeiten für Kompromisse seien vorhanden, sagte der Ökonom Jens Südekum im Dlf. Die wirtschaftliche Situation in Italien solle nüchtern betrachtet werden - sie sei nicht ganz so problematisch, wie oft dargestellt.
"2018-10-22T17:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:48.405000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italienischer-haushalt-italien-ist-nicht-griechenland-100.html
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"Nicht den Rattenfängern auf den Leim gehen"
Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl muss sehr stark betont werden, fordert der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki (dpa/Oliver Berg) Andreas Main: Herr Kardinal Woelki, die Weihnachtsfeiertage und die Tage davor sind einfach Großkampftage für einen Bischof. Schön, dass Sie sich dennoch die Zeit genommen haben. Danke dafür und willkommen beim Interview der Woche im Deutschlandfunk. Rainer Maria Woelki: Ja, gerne, ich freue mich. Main: Kardinal Woelki, in den vergangenen Jahren war viel die Rede von einer Protestantisierung der deutschen Politik. Jetzt standen für den CDU-Vorsitz drei katholische Kandidaten beziehungsweise eine Kandidatin zur Wahl. Inwiefern stimmt Sie das hoffnungsfroh? Woelki: Also, ich freue mich einfach darüber, dass Christen unsere Gesellschaft mit prägen wollen und dass sie sich einbringen in das gesellschaftliche Miteinander und den gesellschaftlichen Diskurs. Das ist eigentlich das, was für mich das Entscheidende ist. Für mich ist nicht so ausschlaggebend, ob jetzt einer Protestant oder orthodoxer Christ oder katholischer Christ ist, sondern das Entscheidende ist, dass es uns gelingt, als Christen unsere Gesellschaft in einer Weise zu gestalten, die dazu beiträgt, dass die Mitte und die Einheit der Gesellschaft gewährleistet ist, auch auf Zukunft hin. Und ich glaube, dass wir da als Christen Wesentliches mit beitragen können - aufgrund von unserem Menschenbild, von unserem Gottesbild her und sicherlich auch von dem, wofür etwa eine katholische Soziallehre steht, die in der Vergangenheit ja die Bundesrepublik Deutschland in vielen sozialen Fragen mit geprägt hat. "Das Soziale der Marktwirtschaft muss im Mittelpunkt stehen" Main: Sie sprechen die katholische Soziallehre an. Annegret Kramp-Karrenbauer ist noch nicht Kanzlerin, aber wenn es denn so weit kommen sollte - sie ist stark geprägt von eben dieser katholischen Soziallehre, die eher als links gilt. Wie würde sich Deutschland verändern, wenn die katholische Soziallehre mehr in den Mittelpunkt des Regierungshandelns rückte? Woelki: Also ich finde, dass wir auf jeden Fall sehr stark den Gedanken der Solidarität betonen müssen, der vielleicht in der Vergangenheit etwas aus dem Blick geraten ist. Dass wir also hier weiterhin in Deutschland eine solidarische Gesellschaft sein müssen und dass "der Schwache" und "der Kleine" auch in den Blick genommen werden muss und im Blick bleiben muss. Es darf nicht sein, dass unsere Gesellschaft weiter auseinanderdriftet, dass es zu sozialen Verwerfungen kommt und deshalb muss Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl sehr stark betont werden. Ich finde, dass unser Wirtschaftssystem als soziale Marktwirtschaft hier gute Möglichkeiten bietet; aber das Soziale der Marktwirtschaft - das muss im Mittelpunkt stehen. Das heißt natürlich auch, dass wir den "Schwachen" und "Kleinen", den sogenannten "Kleinen" und "Schwachen", fördern müssen. Dass er auch dazu animiert werden muss, seinen eigenen Beitrag zu bringen. Das gilt mit Blick auf seine Personenwürde, die es da auch in den Mittelpunkt zu stellen gilt. Das sind eigentlich die Prinzipien der katholischen Soziallehre. Und ich glaube, wenn wir uns daran halten, werden wir hier ganz gut fahren. Main: Offenbar sehen Sie da noch ein bisschen Luft nach oben. Wenn Sie sich die stärkste politische Kraft in Deutschland anschauen, die CDU und die CSU, welchen Eindruck haben Sie? Ist das C, das für christlich steht, ausreichend ausgeprägt - oder sehen Sie da eher noch Mankos? Woelki: Also es sind immer Mankos. Es ist auch bei uns in der Kirche ein Manko. Das C ist eine Messlatte, und diese Messlatte ist das Evangelium und danach haben wir uns, wenn wir dieses C betonen, überall dort, wo es betont wird, daran auszurichten und daran messen zu lassen. Das ist eine Herausforderung, die sich eine politische Partei, der sie sich zu stellen hat und der wir uns natürlich auch als Kirche stellen müssen. "Ich finde, dass Volksparteien wichtig sind" Main: Zuletzt gab es starke Wählerwanderungen hin zur AfD und hin zu den Grünen. Das wird beschrieben als Niedergang der Volksparteien. Gewerkschaften und Kirchen erleben ähnliches. Vor diesem Hintergrund des Niedergangs auch von Volkskirchen, wie meinen Sie, könnten Volksparteien revitalisiert werden? Woelki: Ich finde, dass Volksparteien wichtig sind. Ich finde es schade, dass die SPD in dem Zusammenhang so schwach geworden ist. Und ich wünsche mir, dass sie wieder erstarken kann. Dazu ist es notwendig, dass klare Positionen vertreten werden, dass sich eine CDU klar profiliert und nicht ähnlich in diese Mitte und in diese Themenbereiche hineinschwenkt, die vor allen Dingen auch in der Vergangenheit von den Sozialdemokraten besetzt worden sind. Ich glaube, dass das unserer Demokratie insgesamt gut tun würde, weil dann in beiden großen Parteien, die Grünen mit eingeschlossen, würde ich sagen, und die FDP natürlich auch, weil dann in diesen großen Volksparteien Platz ist für unterschiedliche Anschauungen und Auffassungen und dass eine Breite innerhalb der Volksparteien gegeben ist. Das ist ja immer die Stärke unserer Demokratie gewesen, dass es auch innerhalb solcher Parteien zu einem politischen Diskurs gekommen ist, wo man miteinander gerungen hat, wo der Kompromiss gesucht worden ist. Und wo dann im Grunde genommen aber für das Gesamte der Gesellschaft ein guter Kompromiss in der Vergangenheit gelebt werden konnte. Main: Immer mehr Parteien in deutschen Parlamenten, das spiegelt ja auch wider, was sich in der Gesellschaft ereignet. Mal ganz simpel gefragt, wie ergeht es Ihnen, wenn Sie mit Freunden oder Bekannten oder im Kollegenkreis zusammensitzen, reden Sie dann noch über Politik - oder kommt es bei Ihnen dann auch immer häufiger zum Streit? Woelki: Nein, wir reden über Politik. Es kommt natürlich zu unterschiedlichen Auffassungen, aber das ist ja auch gut, das zeichnet eine Demokratie aus. Und ich finde, dass der gegenseitige Respekt, das Ringen um eine politische Meinung, dass das das Entscheidende ist. Und dann muss natürlich auch an einem Wertesystem entsprechende Lösung gefunden werden - und da gibt es unterschiedliche Prägungen. Es gibt Prägungen, die natürlich von den Werten unseres Grundgesetzes her bestimmt sind. Es sind die Werte, die glaubende Menschen mit einbringen - und sicherlich auch Werte, die Menschen einbringen, die sich als Agnostiker oder als Atheisten entschieden haben, zu leben. Das heißt ja nicht, dass diese Menschen keine Werte haben, sondern ebenfalls häufig sehr hohe, am Humanum ausgerichtete Werte haben und dass die in einen Diskurs miteinander gebracht werden. Schlimm ist es dort, wo der Respekt fehlt, wo Ausgrenzung betrieben wird, wo Polarisierung betrieben wird, wo man nicht mehr miteinander spricht. "Es fehlt an Wissen über das, was wir als Christen glauben" Main: Die Brüche, die wir hier gerade beschreiben, die finden ja wohl auch Ausdruck in den aufgeheizten Religionsdebatten unserer Tage, die oft bar jeder Kenntnis geführt werden. Welche verbalen Abrüstungsstrategien für diese hysterischen Religionsdebatten schlagen Sie vor? Woelki: Also, ich glaube, dass grundsätzlich jede Religion zunächst einmal ausgerichtet ist, das Gute im Menschen hervorzurufen, für den Frieden und den Erhalt des Friedens zu arbeiten. Und es ist immer in der Geschichte der Menschheit so gewesen, dass Religionen missbraucht worden sind und instrumentalisiert worden sind für bestimmte politische Interessen. Weite Teile der Bevölkerung würden den christlichen Glauben gar nicht mehr richtig kennen, beklagt der Kölner Erzbischof (picture alliance/dpa/Henning Kaiser) Insofern glaube ich, ist es entscheidend, dass wir uns gegenseitig kennenlernen. Unser Problem besteht ja zum Beispiel darin, dass weite Teile der Bevölkerung unseren christlichen Glauben gar nicht mehr richtig kennen. Dass wir zwar immer noch davon sprechen, wir seien eine christlich-abendländisch geprägte Gesellschaft, aber wenn man einmal genau nachfragt: Bis in den innersten Kern unserer Gemeinden hinein fehlt es manchmal an Wissen über das, was wir als Christen glauben. Wie viel mehr ist das etwa mit Blick auf den Islam. Also, das Kennenlernen der eigenen Religion, das sich damit Identifizieren und das Leben der eigenen Religion hilft, dass Deutschland weiterhin ein christliches Land bleibt. Main: Welche Kritik müssen Juden, Christen, Muslime aushalten - und welche Kritik möchten Sie nicht hören? Woelki: Ich denke, dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben und deshalb müssen wir uns natürlich einem freiheitlich demokratischen Diskurs auch stellen. Wir müssen uns natürlich dort den Spiegel vor Augen halten lassen, wo wir als Kirchen, als Religionsgemeinschaften versagt haben, wo wir hinter unserem eigenen Anspruch, den uns der jeweilige Stifter mit auf den Weg gegeben hat, wo wir diesem Anspruch nicht gerecht werden. Insofern sind wir durchaus in einem Land, in einem freiheitlichen Land zu kritisieren. Ich finde, es muss natürlich irgendwie fair sein und es muss respektvoll sein, so wie wir insgesamt aber immer miteinander umgehen sollten. Main: Kritik an Kirchen und am Islam kommt vor allem einerseits von ganz links, andererseits von der AfD. Die Haltung der Kirchen zur AfD ist umstritten. Wofür plädieren Sie, skandalisieren oder miteinander reden? Woelki: Skandalisieren ist immer schlecht. Miteinander reden ist das Beste. Ich finde, dass es innerhalb des politischen Diskurses darum gehen muss, die AfD und ihre Denkmuster zu entlarven. Sie muss politisch bloßgestellt werden mit Blick auf ihr Menschenbild, mit Blick auf ihr Gesellschaftsbild. Dort, wo das gelingt, denke ich, wird man als guter Demokrat wissen, wo man seine politische Heimat findet und dass die Alternativen bei uns in Deutschland woanders liegen, jedenfalls nicht dort. "Globalisierung hat den Menschen zu dienen" Main: Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Woelki, viele der innenpolitischen großen Themen, die wir gerade besprochen haben, sind verknüpft mit dem großen Ganzen, mit Weltpolitik. Inwiefern gehören Sie zu denen, die die Globalisierung verantwortlich machen für Nationalismus, für Identitätssehnsucht? Woelki: Die Sehnsucht nach Identität, die ist natürlich uns Menschen eingestiftet. Wir müssen wissen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen wollen. Das ist unser Grundbedürfnis. Sonst können wir eigentlich nicht leben. Deshalb gehört natürlich Identität, deshalb gehört Beheimatung zu uns dazu. Auf der anderen Seite gehören wir zu einer großen Menschheitsfamilie. Wir sind auf diesem einen Globus zusammengerückt. Es gibt keine Entfernungen mehr. Es gibt Echtzeitkommunikation durch die Digitalisierung. Keiner von uns möchte darauf verzichten. Keiner ist mehr bereit, sein Smartphone abzugeben. Jeder möchte wissen, was gegenwärtig in Amerika, in Afrika oder in Asien passiert. Nein, ich finde diese Entwicklung gut. Aber auch hier gilt: Es hat der Mensch im Mittelpunkt zu stehen. Die Technik und eine Globalisierung hat den Menschen zu dienen - und nicht umgekehrt der Mensch einer Globalisierung oder der Technik. Dort, wo dieses Prinzip in den Mittelpunkt gestellt wird, glaube ich, können wir mit dem, wofür Globalisierung steht und Digitalisierung steht, gut leben. "Nicht den einfachen Lösungen auf den Leim gehen" Main: Wir sind beide nicht mehr jung, aber es ist in weltweites Phänomen, dass ältere Männer oder auch sehr alte Männer autoritär regieren. Wie erklären Sie sich die Krise der liberalen Demokratien? Sie haben mehrfach betont, wie wichtig Ihnen die Demokratie ist. Wohin könnte diese Entwicklung schlimmstenfalls führen? Woelki: Ja, ich finde es sehr bedenklich und sehr schade, dass die liberale Demokratie scheinbar so in Misskredit geraten ist. Ich fürchte, dass das einfach damit zusammenhängt, dass wir uns so sehr daran gewöhnt haben. Also, wir gehören beide zu der Generation, die damit aufgewachsen ist, die Gott sei Dank nichts anderes kennengelernt hat, die Gott sei Dank eingebunden ist in eine europäische Staatengemeinschaft und die die Vorzüge einer europäischen Staatengemeinschaft und einer Friedensordnung hier genossen haben. Und vielleicht haben wir uns doch so sehr auch daran gewöhnt, dass wir fast nur noch das Negative, das damit verbunden ist, sehen - wo viel Licht ist, gibt es eben auch Schatten - dass das jetzt auf einmal in den Mittelpunkt gestellt wird. Deshalb müssen wir unsere freiheitlichen demokratischen Grundordnungen stärken. Wir müssen das Positive herausstreichen. Wir müssen über das Positive sprechen und betonen. Dass sich solche älteren Herren dann aufschwingen, Politik zu gestalten, hängt vielleicht dann doch auch damit zusammen, dass unsere globalisierte Welt, technisierte Welt natürlich sehr viel komplizierter geworden ist. Und die Menschen natürlich nach einfachen Lösungen verlangen und einfache Lösungen auch für ihr Leben gerne haben wollen. Aber einfach ist es in einer Demokratie eben nicht. Wir dürfen diesen Rattenfängern, die da heute weltweit unterwegs sind, nicht auf den Leim gehen, nicht auf den Leim gehen einfachen Lösungen, sondern wir müssen uns mit Blick auf den Menschen um verantwortliche Lösungen auseinandersetzen, die errungen werden müssen, wo aber im Letzten immer Gerechtigkeit für alle im Mittelpunkt stehen muss. Main: Nun dominieren weltweit nationalistische Töne. Sie, Kardinal Woelki, sind in leitender Funktion tätig in einer Kirche, die als katholische Kirche den Anspruch hat, weltumspannende Kirche zu sein. Katholizismus und Nationalismus vertragen sich nicht. Aber wie könnten Sie dies stärker kommunizieren? Müssten Sie das nicht stärker kommunizieren als katholische Kirche? Woelki: Das versuchen wir. Das versuchen wir, natürlich auch zu leben. Wir sind international aufgestellt. Wir haben im Papst auch ein einheitliches oder ein einigendes Prinzip. Und wir machen, glaube ich, mit der Vielgestaltigkeit, die in unserer Kirche existiert, sehr, sehr gute Erfahrungen. Das macht gerade auch den Reichtum unserer Kirche aus. Main: Die nationale Trennlinien per se transzendiert… Woelki: Genau. Missbrauch: "Eine schwere Schuld, die wir auf uns geladen haben" Main: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln. Herr Woelki, das Thema des vergangenen Jahres, mit dem die katholische Kirche hierzulande am stärksten medial präsent war, ist ein Thema, das Ihnen vermutlich schlechte Laune bereitet oder Sie einfach nur schmerzt: sexueller Missbrauch von Kindern durch kirchliche Mitarbeiter, zumeist Kleriker. Wie groß ist der Vertrauensverlust aus Ihrer Sicht als Folge sexualisierter Gewalt über Jahrzehnte hinweg? Woelki: Immens natürlich! Und das ist wirklich etwas, was mich wieder mit tiefem Schmerz erfüllt, weil das, was da geschehen ist, zutiefst natürlich gegen das Evangelium und gegen die Botschaft steht, die wir von einem liebenden und barmherzigen Gott zu verkünden haben. Wenn Menschen diesen Auftrag, der ihnen gegeben ist, dazu missbrauchen, Verbrechen dieser Art auszuüben, dann ist das absolut verwerflich und durch nichts zu tolerieren. Und wir müssen natürlich auch eingestehen, dass wir viel zu lange Betroffenen nicht geglaubt haben, dass wir so etwas nicht für möglich gehalten haben und dass wir über das, was uns von Betroffenen gesagt worden ist, einfach hinweggegangen sind. Das ist eine schwere Schuld, die wir auf uns geladen haben. Main: Dennoch sind die Anmeldezahlen an kirchlichen Kindergärten oder in Schulen oder in Internaten nicht eingebrochen. Korrigieren Sie mich, wenn ich da falsch liege. Ich frage trotzdem drastisch: Sind Kinder sicher, wenn sie von ihren Eltern etwa als Messdiener in die Obhut eines Priesters gegeben werden und dann eventuell alleine sind mit ihm in der Sakristei? Woelki: Ja, sind sie. Ich stelle mich hinter den Großteil unserer Priester. Es sind Täter, die auch Priester sind. Aber ich muss doch einfach auch sagen, dass der Großteil der Priester und der pastoralen Mitarbeiter und der kirchlichen Angestellten eben nicht mit dem sexuellen Missbrauch zu tun hatten. Wir haben bei uns in unserer Diözese und den anderen deutschen Diözesen, denke ich, auch, in den vergangen Jahren sehr stark an Präventionskonzepten gearbeitet. Wir haben hier in unserer Diözese einen Interventionsbeauftragten und haben in den vergangenen Jahren weit über 100.000 kirchliche Mitarbeiter, hauptberufliche und ehrenamtliche, geschult, um Sensibilität und Aufmerksamkeit für diese Thematik zu wecken. Ich kann nicht ausschließen, dass so etwas passiert. Man muss ja, denke ich, auch wahrnehmen, dass sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Ich will das nicht behaupten oder sagen, um uns selber freizusprechen. Ein einziger Fall in der Kirche ist hier zu viel, und wir haben hier auch aufgrund unseres moralischen Anspruchs eine besondere Verantwortung und auch eine besondere Schuld auf uns geladen. Das ist ganz klar! Aber es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem; und ich bin sehr dafür, dass wir diese Problematik jetzt auch gesamtgesellschaftlich angehen um der Kinder und der Jugendlichen willen. Es darf nirgendwo sexualisierte Gewalt geben, nicht in der Kirche, erst recht dort nicht - aber auch in keinem anderen gesellschaftlichen System. Main: Einer ihrer Kollegen oder, wie Sie sagen würden, Mitbrüder, der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, hat kürzlich in einem Interview gesagt: Machtmissbrauch im Kontext sexualisierter Gewalt stecke in der DNA der Kirche. Geht er zu weit? Woelki: Auf jeden Fall. Ich kann dieses Bild nicht teilen. Denn wenn das so ist, dann müsste ich aus der Kirche austreten. Wenn das Böse also gleich der Struktur der Kirche eingestiftet ist, dann müsste auch der Staat jedenfalls gleich handeln und eigentlich das, was Kirche ist, verbieten. Ich glaube, dass das Bild nicht ganz stimmig ist. Nein, es steckt nicht in der DNA der Kirche. Ökumene: "Es gibt Unterschiede, die essenziell sind" Main: Kardinal Woelki, Sie hatten eine Kontroverse mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, mit Reinhard Marx, was den Kommunionempfang konfessionsverschiedener Ehepartner betrifft. Dieser Streit scheint beigelegt. Wir müssen ihn jetzt hier nicht aufwärmen, aber Sie wirkten da wie jemand, der eher das Trennende der Konfessionen sieht. Was eint Katholiken und Protestanten? Woelki: Also zunächst möchte ich sagen, dass wir keinen Streit miteinander hatten. Wir hatten unterschiedliche Auffassungen; und ich finde, dass das berechtigt ist, innerhalb der Kirche solche unterschiedlichen Auffassungen auszutragen. Insofern sind und bleiben wir Mitbrüder und sind und bleiben wir eins. Das ist das Eine. "Unterschiedliche Auffassungen" zum Kommunionempfang konfessionsverschiedener Ehepartner: Kardinal Reinhard Marx (l.) und Kardinal Rainer Maria Woelki (Rolf Vennenbernd/dpa) Was uns eint, ist natürlich der gemeinsame Glaube an Jesus Christus und das gemeinsame Bekenntnis - Protestanten und Katholiken und Orthodoxe und orientalische Christen. Und diesen Glauben gilt es, in einer säkularen Gesellschaft, hier bei uns in westlicher Prägung, miteinander zu leben, zu bezeugen. Das heißt aber eben nicht, dass es keine Unterschiede gibt, sonst müssten wir die Konfessionen nicht weiter aufrechterhalten. Es gibt Unterschiede, die essenziell für uns sind, etwa mit Blick auf das Priestertum, mit Blick auf das Sakramentenverständnis, mit Blick auf die sakramentale Struktur der Kirche. Und ich bin sehr dafür, dass wir ökumenisch verbunden miteinander unterwegs sind. Aber es muss ein Dialog der Wahrhaftigkeit sein, ein Dialog der Liebe sein - und wir können nicht Dinge vorwegnehmen und eine Einheit simulieren, die so theologisch noch nicht gegeben ist. Main: Kardinal Woelki, Sie sind Vorsitzender der Kommission für Wissenschaft und Kultur in der Deutschen Bischofskonferenz, sozusagen der Wissenschaftsminister der Bischöfe. Ich nenne mal ein paar Namen: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Johann Baptist Metz, Joseph Ratzinger, Hans Küng, Theologen mit Wumms und Strahlkraft. Lang ist es her. Wer und was ist verantwortlich für den Bedeutungsverlust katholischer Theologie? Woelki: Ja, das ist sicherlich auch geschuldet, dass wir als Kirche einer Säkularisierung unterworfen sind, dass wir natürlich nicht mehr über so viele Christen auch verfügen, die selber Theologie und Philosophie studieren und dass uns da natürlich dann die brillanten Köpfe fehlen. Weil damals die Theologen, die Sie gerade benannt haben, auch unter dem Gros der Theologen herausragend waren. Aber sie konnten eben herausragen, weil es sehr viele waren, die Theologie studierten - und das ist heute eben nicht. Aber ich glaube schon, dass wir auch heute noch ganz gute Theologen haben. Main: Kardinal Woelki, lassen sie uns abschließend zurückblicken auf dieses merkwürdige Jahr 2018. Es war ein Jahr der Dürre in Deutschland - oder positiv gewendet ein Jahrhundertsommer. Ihr Lieblingsverein, der 1. FC Köln, ist in die Zweite Liga abgestiegen. Es hat keine schweren Terroranschläge gegeben hierzulande. Was wird bleiben von diesem Jahr aus Sicht des Kölner Kardinals, für Sie persönlich auch? Woelki: Ja, sicherlich der massive Vertrauensverlust, den wir als Kirche erlitten haben, dieser furchtbare Missbrauchsskandal. Das ist etwas, was uns sicherlich sehr belasten wird. Es wird sicherlich auch bleiben, dass wir weltpolitisch und national so disparat geworden sind, dass sich unsere Gesellschaft spaltet, dass der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden ist und rauer wird. Dass wir uns weiter auseinander separieren, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern leider auch in Europa. Das wird, glaube ich, die große Herausforderung sein für 2019: Dass wir uns wieder auf das besinnen, was uns in den vergangenen 70 Jahren doch so stark gemacht hat und geschenkt worden ist, dass es eben das gemeinschaftliche demokratische Element ist, das uns Frieden und Wohlstand hier in Europa beschert hat. Weihnachten: "Das Fest, das für Mitmenschlichkeit steht" Main: Für Christen steht das Weihnachtsfest vor der Tür. Ohne jetzt hier predigen oder verkünden zu wollen: Was wird der Kernsatz oder der Kerngedanke Ihrer diesjährigen Weihnachtspredigt sein? Woelki: Ja, mich hat beeindruckt und auch beunruhigt, dass in Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit installiert worden ist. Das hat mich irgendwie nicht losgelassen. Und die Weihnachtsbotschaft ist eigentlich für mich, dass wir nicht einsam sind. Wir sind hier nicht irgendwie als Menschen auch einsam in dieses Weltall hineingesetzt, sondern: Gott ist mit uns. Er ist der Immanuel - und das wird Weihnachten gefeiert. Er kommt und er hat für uns Menschen ein Angebot, was uns, wenn wir daraus leben, glücklich und zufrieden sein lässt. Main: Und jemandem, der sich nicht für Weihnachtsbotschaften im christlichen Sinne interessiert, weil er agnostisch ist oder einer anderen Konfession zugehörig, was empfehlen Sie denen, damit diese Festtage, die vor uns liegen, gelingen? Woelki: Ich finde, dass Weihnachten auf jeden Fall das Fest ist, das für Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit steht. Religiös würde ich eben, wie gesagt, sagen: Gott wird Mensch, und würde von daher eine Begründung eben ableiten. Aber dass wir uns alle unseres Menschseins besinnen sollen und dass es das ja auch ist, was uns miteinander verbindet, unser Menschsein, das kann, glaube ich, auch für Agnostiker und Atheisten etwas sein. Zu Weihnachten innezuhalten und den Anderen in den Blick zu nehmen und ihn mit einem guten Wort, einem guten Blick, einer helfenden Hand oder vielleicht sogar mit einem schönen Geschenk zu erfreuen. Das lässt ja eigentlich das Herz eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Glauben und unabhängig von seiner Grundeinstellung, erfreuen und froh machen. Einfach im Blick eines anderen zu sein - das lässt leben. Main: Innehalten und Menschlichkeit, Kardinal Woelki, dann hoffen wir mal, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Danke für das Gespräch und Ihnen ein wunderbares Weihnachtsfest. Woelki: Danke, das wünsche ich Ihnen und allen Hörerinnen und Hörern auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rainer Maria Woelki im Gespräch mit Andreas Main
Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki sieht die liberale Demokratie und die europäische Friedensordnung in Gefahr. Wir dürften nicht denjenigen auf den Leim gehen, die in einer komplizierten Welt einfache Lösungen anböten, warnte er. Vielmehr müsse Gerechtigkeit für alle im Mittelpunkt stehen.
"2018-12-23T11:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:26:58.539000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/koelner-erzbischof-woelki-nicht-den-rattenfaengern-auf-den-100.html
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Das große Schweigen
Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (picture alliance/ dpa/ Britta Pedersen) Stefan Heinlein: Das Weltfamilientreffen der Katholischen Kirche, alle drei Jahre ein wichtiges Forum für Christen aus aller Welt, diesmal in Irland. Zehntausende Menschen aus mehr als 100 Ländern haben sich diese Woche dort versammelt, um zu diskutieren, zu feiern und zu beten. Jetzt, zum Abschluss und zum Höhepunkt, reist Papst Franziskus auf die Grüne Insel – kein einfacher Besuch für den Pontifex. Das einst erzkatholische Land erlebt eine tiefe Glaubenskrise. Hunderte Kinder und Jugendliche wurden über Jahre von Priestern und Nonnen sexuell missbraucht – Verbrechen, die von der Amtskirche systematisch vertuscht und verheimlicht wurden. Trotz der beginnenden Aufarbeitung und einer neuen Null-Toleranz-Linie des Vatikan wird sich der Papst in Dublin vielen kritischen Fragen stellen müssen. Über den schwierigen Papstbesuch in Irland und das Thema Missbrauch in Institutionen möchte ich jetzt sprechen mit Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Rörig. Johannes-Wilhelm Rörig: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein. Heinlein: Wir haben es gehört: Missbrauch und Vertuschung von Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche in Irland. Welchen Stellenwert hat jetzt der Papstbesuch an diesem Wochenende für die Aufarbeitung dieser Vergangenheit? Rörig: Es könnte sein, dass wir im Moment wirklich einen historischen Moment der Katholischen Kirche erleben. Der Papst hat ja in einem Brief an die Katholische Kirche in dieser Woche die unvorstellbare Dimension der Gräueltaten von katholischen Geistlichen so klar benannt wie noch kein Papst zuvor. Und ich hoffe sehr (und ich bin da bestimmt nicht allein), dass der Papst jetzt mit anderen in der Katholischen Kirche ein neues Kapitel im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen aufschlägt und ein neues Kapitel für die umfassende Aufklärung von Sexualverbrechen im katholischen Kontext. "Der entscheidende Punkt für eine Kehrtwende" Heinlein: Haben Sie den Eindruck, dieser Papst steht tatsächlich an der Seite der Opfer und versucht, nicht mehr wie in der Vergangenheit viele seiner Vorgänger, viele Bischöfe auch, die Täter zu schützen? Rörig: Ich habe da jetzt im Moment eigentlich eine große Hoffnung. Wir müssen sehen, das ist eben im Bericht auch angesprochen worden: Es gibt ja einen sehr, sehr langen Vorlauf, über 20 Jahre, wenn man an Boston denkt, an den Film "Spotlight", wo der Missbrauch in der Katholischen Kirche so gut dargestellt wurde, England, Australien, Deutschland, Chile. Es geht ja um zehntausende von Opfern sexueller Gewalt. Ich glaube, jetzt ist der entscheidende Punkt für eine Kehrtwende, für umfassende Aufarbeitung und Aufklärung der Sexualverbrechen im kirchlichen Kontext. Heinlein: Was macht Sie so zuversichtlich, dass das jetzt tatsächlich eine Zeitenwende ist in der Katholischen Kirche mit Blick auf den Umgang mit Kindesmissbrauch? Rörig: Na ja. Ich habe eben gesagt, vielleicht ein historischer Moment. Es kommt jetzt maßgeblich darauf an und nur dann ist es eine Kehrtwende, wenn die Katholische Kirche einen neuen Umgang im Umgang mit Missbrauchsopfern findet, also mit den Menschen, die in der Kirche vergewaltigt, erniedrigt und beschmutzt worden sind. Die Kirche muss verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und sie darf die Betroffenen nicht mehr als Bittsteller sehen, die Kirche stört und den Ruf der Kirche beschädigt. Die unabhängige Aufarbeitungskommission, die ich 2016 eingesetzt habe hier bei der Bundesregierung, sagt: Die Kirche muss den Betroffenen auf Augenhöhe begegnen und die Kirche muss den Betroffenen auch eine Zukunftsorientierung geben. Das finde ich so wichtig. Das hören wir so in den Anhörungen der Betroffenen immer wieder. Menschen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, haben oft Bildungs- und Erwerbsabbrüche. Das sind schwere Folgen auch des Missbrauchs, neben den psychologischen Folgen, und da wäre es wichtig, wenn da die Kirche sich bereit erklärt, Unterstützung zum Ausgleich der Nachteile zu leisten. "Häufig nur Minimallösungen" Heinlein: Herr Rörig, die Aufklärung, die Aufarbeitung der Vergangenheit, das ist ja das eine. Aber es geht ja auch um die Verhinderung von Missbrauch in Zukunft, und da gibt es ja durchaus auch strukturelle Probleme, nicht nur in der Kirche, sondern auch in anderen Institutionen. Welche Probleme sind das und wie kann man das verhindern? Rörig: Es ist leider heute immer noch so, dass viele sich hinter dem Tabu verstecken. Sie wollen über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht reden. Die Verdrängungsmechanismen setzen da sehr schnell ein. Der Runde Tisch sexueller Kindesmissbrauch hat im Jahr 2011 uns allen empfohlen, dass in allen Einrichtungen, in denen Kinder Erwachsenen anvertraut sind, Schutzkonzepte eingeführt werden. Da sind wir im Moment auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Es ist so, dass häufig nur kleine Minimallösungen eingesetzt werden, um den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu gewinnen. Wir müssen aber mit Maximallösungen arbeiten. Wir brauchen in den Schulen beispielsweise – ich habe da eine Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" auf den Weg gebracht, mit allen 16 Bundesländern übrigens -, wir brauchen in den Schulen funktionierende Beschwerdesysteme. Die Fachkräfte müssen fortgebildet sein zu sexuellem Missbrauch, so dass sie die Signale der Kinder auch erkennen und den betroffenen Kindern Wege zur Hilfe aufzeigen können. Heinlein: Reden wir, Herr Rörig, noch ein wenig über die strukturellen Ursachen von Kindesmissbrauch: Missbrauch in Kirchen, in Vereinen. Welche strukturellen Probleme sind das? Sind das vor allem strukturelle Probleme in Institutionen mit strengen Hierarchien? Rörig: Ja, da sprechen Sie genau den richtigen Punkt an. Vor allen Dingen sind es Macht- und Abhängigkeitsstrukturen. Die sind natürlich in der Kirche besonders stark ausgeprägt durch die herrschende Stellung der Geistlichen, auch durch die körperliche geistige Nähe bei Zeremonien oder in der Seelsorge, bei der Beichte beispielsweise. Es ist auch so, dass oft in Institutionen, in denen Missbrauch stattfindet, keine gute Beschwerdekultur besteht und das Thema Sexualität tabuisiert ist, zum Beispiel Sprachlosigkeit zu sexueller Gewalt besteht. "Mit den Augen der Täter schauen" Heinlein: Was muss sich ganz praktisch, Herr Rörig – helfen Sie uns da weiter -, ändern, damit Kindesmissbrauch in diesen Institutionen verhindert werden kann? Rörig: Na ja. Bezogen auf die Katholische Kirche braucht es jetzt dringend eine innerkirchliche Klärung. Sie müssen selbst in der Katholischen Kirche, aber das gilt auch für alle anderen Institutionen, klären, welche Verhaltensweisen, Regeln und Strukturen ermöglichen bei uns sexuellen Kindesmissbrauch. Man muss in jeder Struktur eine Risikoanalyse vornehmen, muss mit den Augen der Täter schauen, wo gibt es Grauzonen, wo könnten die perfiden Täterstrategien aufgehen. Wenn man diesen Schritt gegangen ist, hat man schon ganz viel erreicht, weil dann kann man darauf die Schutzmaßnahmen und die Hilfemaßnahmen für Mädchen und Jungen aufsetzen. Heinlein: Herr Rörig, der Versuch der Vertuschung – das war ja jahrelang ein Prinzip in der Katholischen Kirche, auch außerhalb der Katholischen Kirche -, ist das typisch für den Umgang vieler Institutionen mit dem Thema Missbrauch? Man versucht, den Namen rein zu halten, auch auf Kosten der Aufklärung und letztendlich dann auf dem Rücken der Opfer. Rörig: Es war tatsächlich so, und das ist ja in Ihrem Bericht eben auch angesprochen worden, dass jahrelang der Ruf einer Institution unberechtigterweise über das Leid und das Unrecht, was Betroffenen angetan wurde, gestellt wurde. Davon müssen sich alle Institutionen, die Katholische Kirche, aber auch der organisierte Sport beispielsweise und auch Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und der schulische Bereich verabschieden. Man muss proaktiv aufarbeiten und wir brauchen proaktive Präventionsmaßnahmen, und ich sage immer, wir brauchen auch unbedingt kinderschutzfreundliche Finanzminister in Deutschland. Schutz und Hilfe ist nicht zum Nulltarif zu erreichen. Da muss zusätzliches Geld und zusätzliches Personal auf allen Ebenen, auf der Bundesebene, auf der Landesebene und der kommunalen Ebene, aber auch im Bereich der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt werden. "Wir haben schon verstärkte Sensibilität in Deutschland" Heinlein: Aber gibt es das noch, Herr Rörig, in unserer Gesellschaft, in den Vereinen, in den Institutionen, dieses Schweigegelübde, dieses Motto "Stell Dich nicht so an, das war nicht so schlimm, vergiss es, lass uns nicht darüber reden"? Gibt es dieses Schweigegelübde auch in Vereinen oder anderen Institutionen? Rörig: Wir haben schon eine verstärkte Sensibilität in Deutschland zu dem Thema sexuelle Gewalt. Aber vor Ort in den einzelnen Strukturen herrscht immer noch das große Schweigen und deswegen wollen wir jetzt auch eine bundesweite Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne starten. Da bin ich mit Bundesministerin Giffey im Gespräch im Moment, um den Menschen zu erklären, wie schlimm es ist, wenn man sich hinter dem Tabu versteckt, dass das Qual und Martyrium für Kinder und Jugendliche bedeutet. Jeder muss wissen, was sexuelle Gewalt ist und was man tun muss, wenn Vermutung und Verdacht im Raum steht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Johannes-Wilhelm Rörig im Gespräch mit Stefan Heinlein
Nach Ansicht des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, ist sexuelle Gewalt gegen Kinder in vielen Institutionen noch immer ein Thema, über das nicht gesprochen wird. "Da setzen schnell Verdrängungsmechanismen ein", sagte Rörig im Dlf. Es brauche mehr Schutzkonzepte.
"2018-08-24T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:07:38.776000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kindesmissbrauch-das-grosse-schweigen-100.html
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Wildes Flüchtlingslager wird geräumt
Migranten im Flüchtlingslager von Calais machen sich nach der begonnenen Räumung mit ihrem Gepäck auf den Weg. (picture alliance/dpa - Baziz Chibane) Die französische Regierung hat sich zufrieden über den Beginn der Räumung des Flüchtlingslagers im nordfranzösischen Calais gezeigt. Innenminister Bernard Cazeneuve sprach von einer "ruhigen und geordneten Operation". Er hoffe, dass so die gesamte Räumung des sogenannten Dschungels verlaufen werde. Die meisten der 6.500 Bewohner der Zelt- und Hüttenstadt stammen aus Afghanistan, dem Sudan und Eritrea. Sie waren auf dem Weg nach Großbritannien in Calais gestrandet. In der Nacht zum Montag war es noch zu Zusammenstößen zwischen Migranten und Sicherheitskräften gekommen. Im Einsatz sind rund 1.250 Polizisten. Die Behörden stellen sich darauf ein, bereits am ersten Tag bis zu 3.000 Menschen in Bussen von Calais aus in andere Orte des Landes zu bringen. ARD-Korrespondentin: Stimmung im Lager zwiegespalten ARD-Korrespondentin Kerstin Gallmeyer sagte im DLF, die Stimmung unter den Lagerbewohnern sei zweigeteilt. Einige seien erleichtert und hätten sich damit abgefunden, dass sie nicht nach England dürften. Sie wollten nun einen Asylantrag in Frankreich stellen. Bei anderen herrsche große Unsicherheit, weil sie nicht wüssten, wie es mit ihnen weitergehe - zudem wollten viele von ihnen noch immer nach England. Spannungen seien nur von einigen wenigen zu erwarten, bei denen man davon ausgehe, dass sie sich tätlich zur Wehr setzen könnten. Es seien Aktivisten von No-Border-Organisationen eingetroffen, die Migranten animieren könnten, sich heftiger zu wehren, so Gallmeyer. Busse in zwei Regionen Frankreichs Ab 8 Uhr am Montagmorgen sollen die Lagerbewohner an einem Hangar einfinden. Von dort aus sollen Busse in zwei Regionen fahren, zwischen denen sich die Menschen entscheiden können. Heute sollen 60 Busse fahren, in den nächsten beiden Tagen noch einmal ähnlich viele, und anschließend sollen Bagger und Bulldozer die Zeltstadt räumen, erklärte Gallmeyer. Chancen, nach England zu kommen, hätten nun nur noch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, von denen rund 1.300 im Lager gewesen seien, sagte Gallmeyer. Sie seien besonders schutzbedürftig und würden nun nicht einfach in die Regionen umverteilt. Der Mediendirektor von Amnesty Europa, Stefan Simanowitz, teilte am frühen Morgen ein Foto, das wartende Migranten im Flüchtlingslager zeigt. Er schreibt: "6.500 bis 10.000 Migranten, mehr als 1.000 unbegleitete Jugendliche, 1.250 Polizisten, 540 "akkreditierte Journalisten", zahlreiche Busse." Riskantes Manöver Die Behörden haben eingeräumt, dass die Auflösung der Hütten- und Zeltstadt vor den Toren der Stadt am Ärmelkanal risikoreich ist. "Es wird am Montag sehr viele Menschen geben. Die Flüchtlinge denken, dass es nicht genug Platz gibt", sagte die Präfektin des Départements Pas-de-Calais, Fabienne Buccio. Der Eindruck sei aber nicht richtig, denn 7.500 Aufnahmeplätze stünden zur Verfügung. Die Bewohner des Flüchtlingslagers seien rechtzeitig über die Räumung informiert worden. Die Behörden hoffen, dass sich die Menschen freiwillig in einer neu eingerichteten Halle bei der Einwanderungsbehörde melden. Sie könnten dann zwischen zwei Regionen in Frankreich wählen. "Wir werden diese Menschen aufnehmen", sagte Buccio. Ohne Asylantrag droht Ausweisung Unter den Flüchtlingen gibt es laut Buccio einen Bewusstseinswandel, denn die Lage am Ärmelkanal habe sich in den vergangenen Jahren grundsätzlich geändert. "Die Grenze zu Großbritannien ist dicht. Es ist sehr gefährlich, Kurs auf das Vereinigte Königreich zu nehmen, einige Migranten haben ihr Leben dabei verloren." (gwi/vic)
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Im nordfranzösischen Calais haben die Behörden mit der Räumung des Flüchtlingslagers begonnen. Tausende Bewohner des sogenannten Dschungels sollen mit Bussen in Aufnahmezentren in ganz Frankreich gebracht werden. Der Innenminister zeigte sich zufrieden.
"2016-10-24T06:32:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:54.883000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dschungel-von-calais-wildes-fluechtlingslager-wird-geraeumt-100.html
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Exil im Portugal der 1940er-Jahre
Das moderne Lissabon, die Hauptstadt Portugal, heute bekannt für den Fado und seine Standseilbahn. Weniger bekannt ist, dass Portugal in den 40er Jahren dem europäischen Hochadel und Agenten Exil gewährte. (picture alliance / dpa / Jan Woitas) So wurde das kleine Land am Rande Europas in den 1940er-Jahren zum Rückzugsort für Spione und Agenten beider Kriegsseiten und zum Exil des europäischen Hochadels. Salazars Außenpolitik führte allerdings zu einer Reihe von widersprüchlichen Entscheidungen: Er erlaubte einerseits berühmten Persönlichkeiten aus Nord- und Mitteleuropa, darunter dem deutschen Schriftsteller Erich Maria Remarque, die Einreise nach Portugal, sofern sie zügig nach Amerika ausschifften. Gleichzeitig untersagte Salazar jüdischen Flüchtlingen den Aufenthalt, sogar die Durchreise und bestrafte einen portugiesischen Konsul, der sich für die Rettung der Juden eingesetzt hatte. Nach Kriegsende lieferte das Salazar-Regime Deutsche, die sich zum Nationalsozialismus bekannt hatten und in Lissabon lebten, an die Alliierten aus. Trotzdem erlaubte Salazar einer aus Argentinien kommenden Gruppe von NS-Diplomaten und ihren Familien den Aufenthalt in Portugal. Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Spuren dieser widersprüchlichen Zeit in Portugal noch immer sichtbar. (DLF 2016)
Von Tilo Wagner
Portugal war eines der wenigen europäischen Länder, das im Zweiten Weltkrieg neutral blieb. Das autoritäre Salazar-Regime sympathisierte aus politischen Gründen mit den Achsenmächten, doch das Land stützte seine Außenpolitik auch auf eine jahrhundertealte Allianz mit Großbritannien.
"2017-08-12T11:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:27.394000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/widersprueche-in-kriegszeiten-exil-im-portugal-der-1940er-100.html
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Der Diplomatenpass reichte nicht
IOC-Präsident Thomas Bach reist und fliegt viel - zum Beispiel zum Ausrichter der nächsten Sommerspiele nach Japan (Imago) Thomas Bach soll, nach der Kür zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees im Herbst 2013, die Freistellung von den obligatorischen Luftsicherheitskontrollen auf deutschen Flughäfen beantragt haben. Dabei handelt es sich um die gängige Überprüfung vor dem Flug: Sicherheitsbeamte scannen Handgepäck und Körper der Reisenden. Eine Ausnahme von dieser Pflicht ist laut Bundespolizei nur für nationale Spitzenpolitiker und hohe ausländische Staatsgäste vorgesehen. Für Nicht-Politiker sei dies nur in begründeten Ausnahmefällen möglich, über die das Bundesinnenministerium befindet. Bachs Antrag, heißt es in Berlin, sei vom BMI abgelehnt worden. Bach dementiert den Sachverhalt nicht, äußerte sich aber auch nicht dazu. Besonderes deutsches Interesse? Eher nicht In der Kritik von Politikern aus CDU, SPD und Grüne steht Bach schon wegen seines Diplomatenpasses. Als Mitglied des privaten Klubs IOC darf er laut Regularien nur olympische Interessen vertreten – und gerade keine nationalen. Wieso Bachs IOC-Tätigkeit bei der Pass-Erteilung 1994 als im besonderen deutschen Interesse liegend betrachtet wurde, kann heute auch das Auswärtige Amt nicht nachvollziehen. Es teilt mit, es könne den Akten nicht entnehmen, "worin damals das besondere deutsche Interesse gesehen wurde". Heute sieht das Innenministerium kein deutsches Interesse darin, den Olympia-Boss von Flugsicherheits-Kontrollen im Lande freizustellen. Und vielleicht wird auch das im Ausland hilfreiche Privileg des Diplomatenpasses beendet, sobald hier die Verlängerung ansteht. In Berlin wird darüber nun diskutiert.
Von Thomas Kistner
Einen deutschen Diplomatenpass hat sich der Sportfunktionär und Wirtschaftsberater Thomas Bach schon vor 22 Jahren besorgt. Nun wird aus Berliner Sicherheitskreisen bekannt, dass der deutsche IOC-Präsident um weitere Reise-Privilegien gebuhlt haben soll.
"2016-11-03T22:55:00+01:00"
"2020-01-29T19:02:36.048000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ioc-praesident-der-diplomatenpass-reichte-nicht-100.html
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"Nicht zu Kurzschlussreaktionen greifen"
Stefan Liebich (Die Linke), Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags (picture alliance / dpa / Jens Wolf) "Wir befinden uns da aus meiner Sicht in einer Sackgasse, weil die Lage für die Menschen in der Ukraine kein Stück besser geworden ist, aber der Weg zu einer Lösung noch komplizierter", sagte Liebich. Die Diplomaten müssten bei der Ausweitung der Sanktionen "vom Ende her denken: Bringt es denn eigentlich irgendetwas?" Liebich sagte, er sei "stark am zweifeln, ob die Forderungen von Herrn Röttgen hier im Ergebnis dazu führen, dass (sich) die Lage in der Ost-Ukraine verbessert." Der Westen dürfe "jetzt nicht zu Kurzschlussreaktionen greifen". Ein Blick in die Geschichtsbücher über den Kalten Krieg könne helfen, sagte der Außenpolitiker der Linken. "Ich fürchte, wir kommen nicht umhin, auf einen Weg zurückzukehren, der in den 80er Jahren schon mal gut funktioniert hat - damals, als die OSZE noch die KSZE war, also die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Als die Sowjetunion in Afghanistan einmaschiert ist, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, da hat man sich trotzdem getroffen, man hat miteinander geredet und um Lösungen gerungen." Liebich: Ohne Moskau geht es nicht Geboten sei eine Zusammenarbeit mit Moskau; dies hätten bereits zwei Konflikte gezeigt, sagte Liebich. "Dass die Chemiewaffen vernichtet werden in Syrien, ist nur zustande gekommen, weil man mit Russland zusammengearbeitet hat. Dass es eine Lösung im Iran-Atom-Konflikt gegeben hat, klappte nur, weil man mit Russland zusammengearbeitet hat. Und ehrlich gesagt: Selbst der Abzug aus Afghanistan läuft übrigens nur, weil man militärisch mit Russland zusammenarbeitet." Das Interview in voller Länge: Peter Kapern: Russlands Präsident Wladimir Putin möchte den Aufstand der Separatisten in der Ostukraine gerne zur Volkserhebung gegen die Zentralregierung in Kiew umdeklarieren. Doch von einer solchen Volkserhebung kann offensichtlich gar keine Rede sein. Gleichwohl: Die prorussischen Kräfte greifen weiter aus. Heute besetzten sie ein weiteres Verwaltungsgebäude, auf dem sie die Flagge ihrer kürzlich ausgerufenen Republik Donezk hissten. Die entführten OSZE-Beobachter befinden sich zudem nach wie vor in ihrer Gewalt. Ursula von der Leyen, die Verteidigungsministerin, hat ihren für heute geplanten Besuch bei Bundeswehrsoldaten im Kosovo abgesagt. Stattdessen bleibt sie in Berlin, um sich um die Situation der vier Deutschen zu kümmern, die seit dem vergangenen Freitag als Geiseln in der Ostukraine festgehalten werden. Sie gehören ja zu der Gruppe der OSZE-Beobachter, die von prorussischen Separatisten in der Stadt Slawiansk festgehalten werden. Die Geiselnahme hat die Diskussion um eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland weiter angefacht. Mitgehört hat Stefan Liebich, Obmann der Linken im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Guten Tag. Stefan Liebich: Guten Tag, Herr Kapern. Kapern: Herr Liebich, überraschen Sie uns doch mal und sagen Sie uns, dass nun auch die Linken zu der Erkenntnis gelangt sind, dass der von Moskau unterstützte Separatismus in der Ukraine nur mit Sanktionen gegen Russland zu stoppen ist. Liebich: Sanktionen helfen nicht Liebich: Diese Überraschung kann ich Ihnen leider nicht liefern. Was ich tun kann ist zu sagen, dass das Handeln von Moskau falsch ist und dass das Agieren dieser sogenannten prorussischen Aktivisten im Osten der Ukraine natürlich unakzeptabel ist. Jede Forderung nach sofortiger und bedingungsloser Freilassung der dort festgehaltenen Soldaten und der sie begleitenden Zivilisten, die kann ich nur unterstützen. Ich glaube nur, dass Sanktionen dazu nicht helfen. Kapern: Was genau ist denn an Moskaus Handeln falsch? Liebich: Ich glaube, dass der Beginn schon falsch war. Da hatten wir, glaube ich, auch schon drüber gesprochen, dass nämlich die Besetzung oder die Übernahme der Krim in russisches Staatsgebiet unter Androhung von militärischer Gewalt ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht war. Kapern: Und warum sollten dagegen Sanktionen nicht helfen? Liebich: Haben sie ja nicht. Ich meine, da müssen wir uns nur anschauen, was in den letzten Wochen passiert ist. Man hat Sanktionen verhängt, man will jetzt Listen verlängern, man will eventuell mit wirtschaftlichen Sanktionen nachfolgen. Wir befinden uns da aus meiner Sicht in einer Sackgasse, weil die Situation der Menschen in der Ukraine kein Stück besser geworden ist, aber der Weg zu einer Lösung komplizierter. Und ich glaube, diesen Weg jetzt noch schneller und noch intensiver voranzugehen, hilft gar keinem. Kapern: Aber ist es nicht so, dass Moskau, dass Wladimir Putin den Separatismus in der Ostukraine immer stärker, immer weiter anfacht? Eskalation der Situation Liebich: Dazu habe ich jetzt keine hinreichenden Kenntnisse. Wir haben beispielsweise jetzt aktuell, nachdem diese Geiselnahme stattgefunden hat, eine Information durch das Auswärtige Amt erhalten, dass Herr Steinmeier mit Herrn Lawrow im Gespräch war, dass Herr Lawrow zugesichert hat, dass er sich mit den prorussischen Aktivisten versuchen wird, darüber auseinanderzusetzen, dass die Freilassung erfolgt. Er hat auf einen begrenzten Einfluss verwiesen. Ich bin da nicht nahe genug dran. Man sieht natürlich, dass Russland Interessen hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Eskalation der Situation überhaupt noch im Interesse Russlands und von Putin sein kann. Kapern: Aber gleichwohl, das waren ja gestern, als die Geiseln der Öffentlichkeit vorgeführt wurden von diesem Bürgermeister von Slawiansk, geradezu gespenstische Bilder eines Mannes, der sich da aufspielte vor aller Öffentlichkeit. Da kann man doch den Eindruck bekommen, dass die Situation der Moskauer Kontrolle möglicherweise schon entglitten ist, dass sich das Ganze mittlerweile verselbstständigt hat und dadurch dann noch viel schlimmer ist, als wir es bisher eingestuft haben. "Die agieren mit Methoden aus dem letzten Jahrtausend" Liebich: Genau. Darauf wollte ich eben auch hindeuten. Ich bin der Auffassung, dass das was dort passiert in der Ostukraine, diese Menschen, die dort die Macht offenbar übernommen haben, die agieren mit Methoden aus dem letzten Jahrtausend. Die sind überhaupt nicht akzeptabel, da von Kriegsgefangenen zu sprechen etc. Das geht alles überhaupt nicht. Die Frage ist, ob man irgendetwas für die Geiseln oder für die Situation in der Ukraine löst, wenn man jetzt die Liste der Sanktionen gegen Politiker in Moskau oder Vertreter der Wirtschaft in Moskau verlängert, und diese Frage muss man ja schon stellen. Man Muss ja vom Ende her denken. Bringt es denn eigentlich etwas? Und da bin ich schon stark am zweifeln, ob die Forderungen von Herrn Röttgen hier im Ergebnis dazu führen, dass sich die Lage in der Ostukraine verbessert. Kapern: Dann lassen Sie mich doch die Sache noch mal von einem anderen Ende her denken. Was würde den Geiseln in der Ostukraine helfen? Weiter auf Gespräche setzen Liebich: Ich fürchte, wir kommen nicht umhin, auf einen Weg zurückzukehren, der in den 80er-Jahren schon mal gut funktioniert hat. Damals, als die OSZE noch die KSZE war, also die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert ist, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, da hat man sich trotzdem getroffen. Man hatte miteinander geredet und um Lösungen gerungen. Kapern: Wer hat da miteinander gesprochen? Liebich: Die KSZE! Da gab es heftige Diskussionen, ob eine Beratung der KSZE in Madrid abgesagt werden soll. Man hat sich gemeinsam entschieden, trotz aller schwierigen Situationen, dass man gerade diese Wege, die man aufgebaut hat, auch weiter nutzt. Kapern; Aber, Herr Liebich, jetzt müssen Sie mir erklären: Was würden denn diese Gespräche mit Moskau, die Sie da fordern, bringen, wenn Moskau, wie Sie sagen, doch eigentlich gar keinen wirklichen Einfluss auf diese Separatisten hat? Liebich: Dass sie gar keinen Einfluss haben, habe ich nicht gesagt, sondern dass sie einen begrenzten Einfluss haben und dass wir ein gemeinsames Interesse haben müssen, dass sowohl von Kiew aus als auch von Moskau aus alles dafür getan wird, dass die Situation, so wie sie jetzt ist, uns nicht noch weiter entgleitet. Und meine Auffassung ist, dass man das weniger über Druck schafft, sondern mehr über Gespräche und vertrauensbildende Maßnahmen. Ich verstehe schon jeden, der da Zweifel hat, ob in Russland da die geeigneten Gesprächspartner sitzen, Muss aber auch darauf verweisen, dass auch die Regierung, die gegenwärtig in Kiew amtiert, die Forderungen, die in den Genfer Verabredungen besprochen wurden, nicht erfüllt hat. Auch diese Seite darf man nicht außer Acht lassen. Und mir ist auch eines wichtig: Das was Sie gerade eingespielt haben von Herrn Lambsdorff, das kann ich nur unterstreichen. Im Moment wird die tatsächliche OSZE-Mission, an der über 100 Beobachter teilnehmen, die mit Russland verabredet war, gefährdet dadurch, dass diese Militärmission, die dort stattgefunden hat mit unbewaffneten und in zivil gekleideten Soldaten, die rechtlich und formal korrekt war, ob das jetzt eine kluge Handlung war, da möchte ich wirklich ein dickes Fragezeichen hinter machen. Kapern: Herr Liebich, der Ukraine-Konflikt, der scheint ja tatsächlich das Verhältnis des Westens zu Russland komplett neu zu definieren. So fordert zum Beispiel jetzt der Verteidigungsausschuss des britischen Unterhauses, Russland wieder gewissermaßen als Gegner in den Blick zu nehmen. Wir können uns mal kurz anhören, welche Informationen uns unser Korrespondent Jochen Spengler aus London überspielt hat. Beitrag-Einspieler Jochen Spengler: Liebich: Keiner will einen neuen Kalten Krieg Kapern: Herr Liebich, soweit die Informationen von Jochen Spengler aus London. Was kommt da auf uns zu, ein neuer Kalter Krieg? Das war ja die Frage, die schon diskutiert wurde, als die Ukraine-Krise gerade begann zu eskalieren. Liebich: Ja ich treffe hin und wieder auf ältere Politikerkollegen oder auch Journalisten, die über den guten alten Kalten Krieg sprechen. Ich glaube, wir können den Eisernen Vorhang in Europa nicht herunterlassen. Und ganz im Ernst: Ich glaube auch nicht, dass das irgendjemand will. Die Staaten sind mittlerweile so politisch und vor allen Dingen auch wirtschaftlich miteinander verflochten, es ist nicht mehr so wie in den 70er- und 80er-Jahren. Nicht umsonst ist es heutzutage der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft und die deutsche Wirtschaft insgesamt, die mit Heulen und Zähneklappern auf jede Sanktionsandrohung reagieren, und auch politisch, muss ich mal sagen, handeln die Kollegen im Vereinigten Königreich nicht klug. Wie wollen wir denn Konflikte wie beispielsweise den in Syrien, ohne mit Russland einen Draht zu haben, behandeln? Dass die Chemiewaffen vernichtet werden in Syrien ist nur zustande gekommen, weil man mit Russland zusammengearbeitet hat. Dass es eine Lösung im Iran-Atomkonflikt gegeben hat, klappte nur, weil man mit Russland zusammengearbeitet hat. Und ehrlich gesagt, selbst der Abzug aus Afghanistan läuft nur, weil man übrigens auch militärisch mit Russland zusammenarbeitet. Das kann man jetzt alles ins Grab drücken und denken, man ist wieder in den 80er-Jahren, aber ich glaube, dass das falsch ist. Kapern: Aber das sind zwei steile Thesen, Herr Liebich, weil weder der Bürgerkrieg in Syrien ist beendet worden, noch der Atomkonflikt mit dem Iran ist beendet worden. Legt man da also zu viel Wert auf gute Beziehungen zu Moskau? Liebich: Nicht zur Kurzschlussreaktionen greifen !Liebich:!! Nein, nein, ganz im Gegenteil. Das ist beides nicht beendet worden, das stimmt. Aber wir haben zum Beispiel im syrischen Bürgerkrieg – und das fand ich eine ganz wichtige und entscheidende Maßnahme – beschlossen, und das passiert ja auch gerade, dass Massenvernichtungswaffen aus diesem Krieg herausgenommen werden. Natürlich ist der Krieg nicht beendet und geht immer noch auf schreckliche Art und Weise weiter, aber dass das gelungen ist, ist doch eine Menge wert. Und auch, dass Fortschritte erzielt wurden bei den Verhandlungen mit dem Iran, das wird ja niemand bestreiten, und alles das würde ohne und gegen Russland nicht laufen. Und auch der alte Spruch, dass es Sicherheit in Europa gegen Russland nicht geben wird, der gilt immer noch. Ich glaube, man kann jetzt nicht zu Kurzschlussreaktionen greifen, zumal man auch bei denen fragen Muss, ob dann am Schluss eine bessere Situation entsteht. Ich möchte das bezweifeln und ich glaube, wir kommen um den Weg der Diplomatie, so schwer es im Moment fällt und ich verstehe da jeden, der Sorgen hat, nicht herum. Kapern: Was sagen Sie denn all jenen Politikern in den Staaten, die sich vor einem Vierteljahrhundert aus dem sowjetischen Joch befreit haben und nun voller Angst wieder Richtung Moskau schauen? Was sagen Sie denen denn, wenn die nun fürchten, dass ihre Souveränität wieder von Russland angegriffen werden könnte? Liebich: Sofern Sie die Mitglieder der NATO meinen, gehören die ja einem Verteidigungsbündnis an, und das weiß Russland auch und ich sehe da auch keinerlei militärische Bedrohung. Es ist etwas anderes bei denjenigen Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind. Da gibt es natürlich schwierige Situationen, auf die man politisch reagieren Muss. Aber beispielsweise ist die Ukraine nicht Mitglied der NATO. Die Ukraine gehört nicht zu diesem Verteidigungsbündnis. Und ich fand es schon ziemlich vermessen, wie der Generalsekretär der NATO, der Herr Rasmussen, als Reaktion auf das zweifellos falsche und völkerrechtswidrige Handeln Russlands als NATO-Generalsekretär Konsequenzen wie zum Beispiel die Beteiligung Russlands an der Vernichtung syrischer Chemiewaffen gezogen hat und gesagt hat, man möchte da nicht mehr mit Russland zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat ist beendet worden. Ich glaube nicht, dass all so etwas klug ist. Wie gesagt, Russland handelt falsch. Die Frage ist, ob die Reaktionen, die gegenwärtig erfolgen, helfen, oder ob sie schaden, und ich glaube, im Moment schaden sie. Kapern: Stefan Liebich war das, der Obmann der Linken im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Liebich, vielen Dank für Ihre Zeit! Danke und einen schönen Tag! Liebich: Gerne geschehen. – Tschüss! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Liebich im Gespräch mit Peter Kapern
Sanktionen gegen Russland wirkten nicht: Dies hätten die Reaktionen des Westens auf die Annexion der Krim durch Moskau gezeigt, sagte der Obmann der Linken im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, Stefan Liebich, im Deutschlandfunk.
"2014-04-28T12:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:38:02.244000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-ukraine-konflikt-nicht-zu-kurzschlussreaktionen-100.html
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"Ein Vorschlag für die Phantasie"
Prunk satt: das 1719 eingerichtete Paradeschlafzimmer von August dem Starken (virtuelle Rekonstruktion) (SKD / mic-vis.de, Studio für Visualisierung Berlin / SIB D1 ) Die Wiedereröffnung der Dresdner Prunkräume sei ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um die Rekonstruktion historischer Gebäude, sagte Marion Ackermann, Generaldirektorin der Dresdner Museen, im DLF: "Es geht hier nicht nur darum, Illusion zu erzeugen. Es geht darum, wirklich die handwerkliche Kunst auf Grundlage auch originaler Materialien wieder umzusetzen. Das erinnert eigentlich an die japanische Ästhetik, wo man Tempel sogar bewusst zerstört, um sie wieder aufzubauen – um das Wissen, um die Techniken nicht zu verlieren." Viele Techniken und Materialien – etwa bei den Spiegeln aus Quecksilber– seien gar nicht mehr verfügbar gewesen. Das Wissen habe aus ganz Europa erst wieder zusammengetragen werden müssen. Die Deckengemälde wurden auf der Grundlage von Farbaufnahmen aus den Jahren 1942-44 rekonstruiert. "Innen ist alles original" Teile der historischen Räume seien erhalten geblieben und konnten wieder verwendet werden. Vor allem seien vor der Bombardierung Dresdens aber Teile des Mobiliars, des Porzellans und anderer Einrichtungsgegenstände ausgelagert worden: "Auch wenn in der Hülle vieles rekonstruiert werden musste, ist im Innern doch alles original, was man sehen kann – anders als zum Beispiel in Versailles." August der Starke habe sich als Repräsentant einer europäischen Kultur gesehen – auch als Herrscher über Polen und Litauen. Und er habe versucht, auch einen Herrschaftsanspruch im Hinblick auf die Länder Italien, Frankreich und Spanien weiter auszubauen: "Aus diesen Ländern versuchte er auch, die Möblierung für die Innenräume zu bekommen." "Offener Diskursraum" In Dresden habe man sich entschieden, die Rekonstruktion bewusst als modernen Museumsbau anzulegen, weil die Frage, was authentisch sei, gar nicht so einfach beantwortet werden könne: "Im Grund entsteht eine Art offener Diskursraum. Ein Dialog zwischen den rekonstruierten Teilen und der originalen Innenausstattung – eher als eine Art Vorschlag für die Phantasie des Betrachters."
Marion Ackermann im Gespräch mit Kathrin Hondl
Im Dresdner Residenzschloss werden am Wochenende die im Krieg zerstörten Königlichen Paraderäume Augusts des Starken wiedereröffnet. 20 Jahre hat die Rekonstruktion gedauert. An ihrem Ende stehe aber keine rückwärtsgewandte Illusion, sagte Museumsdirektorin Marion Ackermann.
"2019-09-26T17:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:12:13.332000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dresdner-paraderaeume-ein-vorschlag-fuer-die-phantasie-100.html
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Debatte um Dickmacher
In Deutschland sind etwa zwei Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig oder gar fettleibig. Beinahe jedes sechste Kind zeigt Symptome einer Essstörung. Was Kinder und Jugendliche essen und trinken ist oft zu fett, zu salzig und vor allem zu süß. Im Fokus der Wissenschaftler stehen immer wieder Softdrinks. Bislang fehlte jedoch der Beweis, dass zuckerhaltige Getränke eine der Hauptursachen für Übergewicht sind. Drei Studien, veröffentlicht im "New England Journal of Medicine", weisen nach, dass ein Verzicht auf süße Getränke vor Übergewicht schützt. Gerhard Schillinger, Geschäftsführer für den Bereich Medizin beim AOK Bundesverband:"Dass die Softdrinks viele Kalorien haben und möglicherweise dick machen, vermutet man ja schon sehr lange. Man hat viel diskutiert ob es das Essverhalten ist oder ob es an den Softdrinks liegt. Erstmalig hat man jetzt hier belastbare Studien, die ein sehr gutes experimentelles Design haben und die tatsächlich zeigen können, dass der Konsum von diesen Softdrinks zu einer Gewichtszunahme führt."So hatten Kinder, die eineinhalb Jahre lang täglich einen viertel Liter mit Zucker gesüßten Softdrink getrunken haben, deutlich mehr Gewicht zugenommen als diejenigen, die auf Softdrinks verzichtet haben. Die Nationale Verzehrstudie untersucht regelmäßig, wie sich die Menschen in Deutschland ernähren. Demnach trinken vor allem Jugendliche und junge Erwachsene täglich bis zu einem halben Liter gesüßte Getränke. Gefährlich seien nicht nur Softdrinks, sondern auch süße Getränke wie Fruchtsäfte, Fruchtnektare und Eistee, meint der Kinderarzt Martin Wabitsch von der Universitätsklinik Ulm. Seit Jahren erforscht er die Ursachen von Übergewicht und rät davon ab, dass Kinder und Jugendliche überhaupt süße Getränke zu sich nehmen. "Die jetzt publizierten Ergebnisse haben die Besonderheit, dass sie nicht von der Zuckerindustrie unterstützt wurden und es gab Kontrollgruppen und die Kinder wussten nicht, ob Zucker in den Getränken war oder Süßstoff. Man konnte damit zeigen, dass der Zucker der Stoff war, der schließlich zur Gewichtszunahme geführt hat."Der Wissenschaftler vermutet außerdem, dass der vermehrte Zuckerkonsum über Getränke, schon bei Jugendlichen das Diabetesrisiko erhöht. Sein Appell, Kinder sollten vor allem Wasser trinken. "Also diese klassische Vorstellung, ich esse viel Zucker und bekomme die Zuckerkrankheit, diese Vorstellung ist nicht weit her geholt. Da gibt es diesen Zusammenhang, auch bei jungen Menschen schon." Trotz vieler Informationskampagnen, wie etwa dem Aktionsplan In Form der Bundesregierung, habe sich das Ernährungsverhalten in den vergangenen Jahren nicht positiv geändert. Dabei beginnt der Teufelskreis einer falschen Ernährung schon in den ersten Lebensjahren. Gerade Kinder gewöhnen sich schnell an den süßen Geschmack, meint Wabitsch. Seiner Ansicht nach reichen freiwillige Maßnahmen nicht aus. "Verbot ist in unserem Land immer schwierig. Aber man könnte Anreize schaffen, dass die gesunden Verhaltensweisen gefördert werden und die nicht so gesunden etwas eingeschränkt werden. Das Verbot wäre aus kinderärztlicher Sicht natürlich das Richtige."Das Verbraucherschutzministerium setzt weiterhin auf bundesweite Informationskampagnen und zahlreiche Projekte vor allem an Schulen. Verbraucherschützer dagegen fordern längst den Verzicht auf Lebensmittelwerbung für Kinder unter zwölf Jahren. Bisher ohne Erfolg.
Von Verena Kemna
Ernährungswissenschaftler machen Limonade mit verantwortlich für das grassierende Übergewicht bei Jugendlichen und Kindern. Sie fordern: Kinder sollten vor allem Wasser trinken.
"2012-10-12T11:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:28:55.733000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-dickmacher-100.html
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Hilfreiche Parasiten gegen Küstenfieber
Der von Zecken übertragene einzellige Parasit Theileria parva wird in Ostafrika von Rinderhaltern gefürchtet. Er verursacht bei den Tieren das gefährliche Küstenfieber. (imago / blickwinkel) Der von Zecken übertragene einzellige Parasit Theileria parva wird in Ostafrika von Rinderhaltern gefürchtet. Er verursacht bei den Tieren das gefährliche Küstenfieber. "It kills them." Es bringt die Rinder um, sagt der britische Biologe Mark Woolhouse von der Universität von Edinburgh. In manchen betroffenen Regionen sterben rund ein Viertel der Kälber schon in den ersten Monaten ihres Lebens am Küstenfieber. Der wirtschaftliche Schaden in Ländern wie Kenia ist groß. Entsprechend wären wirksame Strategien im Kampf gegen das Küstenfieber sehr willkommen. Mark Woolhouse stieß gemeinsam mit Kollegen bei Feldstudien in Kenia auf eine interessante Spur. "Neben dem bekannten Parasit, der das Küstenfieber verursacht, gibt es noch einige verwandte Parasiten. Bisher wurden sie wenig beachtet, weil sie angeblich nicht mit der Krankheit in Verbindung stehen. Wir wollten diese Annahme überprüfen. Wir dachten, dass sie möglicherweise doch zum Küstenfieber beitragen. Herausgefunden haben wir aber genau das Gegenteil. Das war eine große Überraschung." 90 Prozent der Rinder überlebten nach der Ko-Infektion Die anderen Parasiten, so fanden die Forscher heraus, verursachen nur weitgehend harmlose, chronische Infektionen. Diese haben aber einen interessanten Nebeneffekt. Wenn Rinder mit den tödlichen Theileria parva Parasiten infiziert werden, zuvor aber schon die harmloseren Parasitenformen in sich tragen, sterben sie in der Regel nicht. Statistisch gesehen überleben 90 Prozent solcher Tiere das Küstenfieber und sind danach immun. "Das ist ein sehr drastischer Effekt. 90 Prozent Schutz ist wie eine gute Impfung. Dabei geschieht das auf völlig natürlichem Weg." Bisher behalfen sich Rinderzüchter im Kampf gegen das Küstenfieber unter anderem damit, dass sie Pestizide versprühten, um die Zecken als Überträger zu bekämpfen. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Mark Woolhouses Entdeckung liefert dafür eine Erklärung: "Wenn man die Belastung der Tiere mit der tödlichen Form der Parasiten verringert, indem man die Zecken tötet, dann kommen die Rinder auch weniger mit den schützenden Parasitenformen in Kontakt. Man verringert also einerseits die Infektionsgefahr, andererseits aber auch den Schutz. Am Ende gleichen sich beide Effekte aus, und die Sterberate der Rinder ändert sich kaum." Neue Wege zur Bekämpfung des Küstenfiebers Die neuen Erkenntnisse werfen eine spannende Frage auf: Worauf beruht der schützende Effekt der harmlosen Parasiten vor dem Küstenfieber? "Derzeit können wir nur spekulieren. Eine Möglichkeit ist offensichtlich, dass das Immunsystem als Antwort auf die milden Infektionen bestimmte Moleküle, sogenannte Cytokine produziert. Wahrscheinlich beeinflussen sie, wie die Rinder auf die normalerweise tödlichen Parasiten reagieren. Wir planen nun weitere Experimente, um diesen Mechanismus aufzuklären." Sollte das gelingen, würde das möglicherweise nicht nur für die Bekämpfung des Küstenfiebers bei Rindern neue Wege öffnen. Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte milde Parasiteninfektionen beim Menschen dazu führen, dass eine Malaria seltener tödlich verläuft. Vielleicht liegen in beiden Fällen die gleichen Wirkprinzipien zugrunde.
Von Lucian Haas
East Coast Fever, auf Deutsch auch Küstenfieber genannt, ist eine für Rinder gefährliche Parasiteninfektion. Sie wird von Zecken übertragen. In Ostafrika sterben jährlich Millionen von Tieren an den Folgen dieser Krankheit. Britische Forscher haben nun eine Art natürlichen Schutzmechanismus entdeckt.
"2015-03-23T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:57.038000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ko-infektion-fuer-rinder-hilfreiche-parasiten-gegen-100.html
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Brüsseler Signale für Berlin
SPD-Parteivorsitzende Nahles nach der Europawahl: "Wir werden handeln" (Simone Kuhlmey / Pacific Press / picture alliance) Riesenjubel in der Parteizentrale der Grünen in Berlin. Die Grünen sind die großen Gewinner bei diesen Europawahlen, und Parteichefin Annalena Baerbock wertete den Erfolg ihrer Partei als großen Gewinn für Europa. "Diese Wahl war eine Klimaschutzwahl! Diese Wahl war eine Wahl für Demokratie! Für Menschenrechte! Für ein weltoffenes Europa!" Mit über 20 Prozent haben sich die grünen Wahlerstimmen in Deutschland für Europa fast verdoppelt - die Partei hat die Sozialdemokraten als zweitstärkste Partei abgelöst. Lange Gesichter dagegen bei der großen Verliererin des Abends, der SPD, die das schlechteste Ergebnis bei einer Europawahl überhaupt einfuhr. Parteichefin Andrea Nahles wollte dennoch nicht über persönliche Konsequenzen sprechen, obwohl erste Rücktrittsforderungen aus ihrer Partei nicht auf sich warten ließen. "Die Ergebnisse die wir bisher kennen, sind für die SPD extrem enttäuschend. Jeder weiß, dass die Umfragen für die SPD in den letzten Wochen schon nicht gut waren. Die Aufgabe bestand also darin, dass wir versuchen, uns aus diesem Umfragetief herauszuarbeiten. Leider ist es uns trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, das Ruder herumzureißen." Nahles: "Wir werden handeln" Denn auch in Bremen mussten die Sozialdemokraten nach 70 Jahren als stärkste Partei ihre Führung an die Union abtreten. Nahles gibt sich dennoch kampfbereit. Das falscheste wäre es, jetzt mit dem Prozess der Erneuerung der Partei aufzuhören, rief sie ihren Genossen im Willy-Brandt-Haus zu: "Ich sage in Richtung Grüne: Glückwusch! Und ich sage: Kopf hoch! In Richtung SPD. Denn wir nehmen diese Herausforderung an. Klimaschutz ist für viele Wählerinnen und Wähler ein wahlentscheidendes Thema gewesen. Zwischen uns und den Grünen steht nicht die Frage im Raum, ob wir die Pariser Klimaziele ohne wenn und aber erreichen wollen, sondern wie, und diese Frage werden wir auch offensiv diskutieren in den nächsten Wochen. Und wir werden handeln!" CDU sucht nach Antworten Doch auch die Union musste herbe Verluste einstecken und gleichzeitig um den Fortbestand der Koalition in Berlin bangen, sollte die SPD nach diesem Schlag doch noch das Handtuch werfen. Auch wir haben im Wahlkampf Fehler gemacht, räumte die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ein. Mit einem Ergebnis von unter 30 Prozent werde die Partei ihrem eigenen Anspruch als Volkspartei nicht gerecht, erklärte Kramp-Karrenbauer selbstkritisch. Die Union habe es nicht geschafft, mit ihren Themen Sicherheit und Wohlstand für Europa zu punkten. Alle Beiträge zur Europawahl in unserem Dossier (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld) "In diesem Wahlkampf ging es vor allen Dingen auch um das Thema Klima und Klimaschutz. Es ging auch um die Frage wie Regeln aus der analogen Welt in der digitalen Welt wirken, und genau das sind zwei Themen gewesen, wo wir bisher als CDU noch nicht die Antworten gegeben haben, die die Menschen am Ende des Tages auch überzeugt haben." AfD als EU-Skeptiker in Brüssel Zufrieden äußerte sich dagegen AfD-Chef Jörg Meuthen. Die EU-skeptische Partei verbessert ihr Europawahl-Ergebnis deutlich, bleibt aber unter ihrem Ergebnis von der Bundestagswahl 2017. Und Meuthen weiß, wofür die AfD dies nutzen will: Um Europa in die Schranken zu weisen. "Wir wissen, sie haben uns nicht gewählt haben, damit wir Mitglieder in diesem Club da werden. Wir gehen nach Brüssel, um die EU zu reparieren, um sie auf ihre Kernaufgaben zu reduzieren, dafür sind wir gewählt, und das gehen wir in Brüssel an." Personaldebatte in der SPD Wie es weitergeht mit der SPD und ihrer angeschlagenen Vorsitzenden, werden die nächsten Tage zeigen. Zuletzt waren diverse Namen von Parteifreunden aufgetaucht, die sie beerben könnten - von Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz bis zu Arbeitsminister Hubertus Heil. Finanzminister Olaf Scholz stärkte Andrea Nahles jedenfalls erst einmal den Rücken. "Der Ruf nach personellen Konsequenzen führt nicht weiter. Dass er in den letzten Tagen ein wenig ertönt ist, hat sicher nicht geholfen. In der Vergangenheit haben wir damit keine guten Erfahrungen gemacht. Und deshalb habe ich auch in allen Gesprächen, die ich heute mit ganz vielen in der SPD führen konnte, gehört, dass alle das falsch finden."
Von Christiane Habermalz
Während die Grünen ihren Erfolg bei der Europawahl feiern, versuchen die Berliner Koalitionsparteien ihre Verluste zu erklären. Der Druck auf die angeschlagene SPD und ihre Parteivorsitzende Andrea Nahles wächst, auch durch das Wahlergebnis in Bremen.
"2019-05-27T05:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:04.104000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-der-europawahl-bruesseler-signale-fuer-berlin-100.html
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Suche nach dem Glück auf dem Land
"Leben auf dem Land", das ist inzwischen ein moderner Traum. Es ist ein Traum vom einfachen und authentischen Leben, fern vom Stress, von der Hektik und den Aggressionen der Großstadt. Die Sehnsucht nach tieferen menschlichen Kontakten, der Wunsch nach guter Luft und gesundem Essen, nach mehr beruflicher Selbstständigkeit.Die Stadt Limoges und ihre Region, das Limousin, liegen fast im Zentrum von Frankreich. Es ist eine abgelegene Gegend, bis heute. Früher gab es hier Porzellanmanufakturen, doch die haben nach und nach bis auf einige wenige dicht gemacht. Die Einwohnerzahl sank im vergangenen Jahrhundert um rund ein Drittel. Seither bietet die Gegend neben der Landwirtschaft nur wenig Arbeitsmöglichkeiten.Weil es die Verödung jedoch nicht einfach hinnehmen wollte, entwickelte das Limousin als erste Region Frankreichs eine aktive Politik, um neue Bewohner anzuziehen. So hat der Regionalrat eigens ein Amt für den Empfang von Neuankömmlingen geschaffen. Und tatsächlich ist es dem Limousin gelungen, die Tendenz zu wenden. Seit 2004 steigt die Bevölkerungszahl, dank der Zuwanderer wieder an. Viele der Neubewohner stammen aus einer Großstadt. Und nicht wenige haben vor ihrer definitiven Entscheidung die "Messe für die Übersiedlung aufs Land" besucht, die seit 2001 alle zwei Jahre in Limoges abgehalten wird. Der Traum vom Land – im Sonderzug von Paris in die Provinz Paris, Gare d'Austerlitz. Terminus für die Regionalzüge in den Südwesten Frankreichs. Stefano Venchiarutti – 39 Jahre, klein und schlank, blondes Haar - checkt die Abfahrtstafel. Für 8:20 Uhr ist ein Sonderzug angekündigt, Zielort ist Limoges, wo die Messe für die Übersiedlung aufs Land stattfindet.Stefano trägt Jeans und ein zartrosa T-Shirt, dazu einen militärisch angehauchten Designer-Blouson, außerdem Stoffschuhe in Orange und Rosa. Dezente Kleidung mit Schick. Er ist Stylist, zeichnet Sportmode und Accessoires für die japanische Modemarke Kenzo. An diesem Freitag hat er eigens Urlaub genommen, um in die Provinz zu reisen. Stefano beschreibt seine Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land so:"Als ich neulich mit der Metro fuhr, ist mir ein Werbeplakat für diese Reise aufgefallen. Ich erinnere mich genau an das Bild: eine Rolltreppe, die auf einer grünen Wiese ankommt, mitten auf dem Land. Das hat mich wie ins Mark getroffen. Ich überlege nämlich, ob ich mein Leben radikal ändern soll. Und weil es keine Zufälle gibt, habe ich mir gesagt: Das ist ein Zeichen, diese Reise muss ich unternehmen."Stefano ist nicht allein mit diesem Vorhaben. Am Kontrollpunkt auf Gleis 13 hat sich schon eine Schlange gebildet. Alles Städter, die in den Sonderzug steigen wollen, weil sie das Leben in der Großstadt leid sind. Die Wagen sind alle Erster Klasse und die Reise ist gratis - die Region Limousin lädt ein und sie lässt sich nicht lumpen, wenn es darum geht, neue Bewohner anzulocken. 300 Großstädter, die mit dem Gedanken spielen, aufs Land zu ziehen, sollen auf der Messe informiert und abends im Hinterland beherbergt und verpflegt werden. Menschen, die in den Anmeldepapieren als "Porteurs de projet" bezeichnet werden, als Projektträger. Für das Land sind sie Hoffnungsträger. "Erstaunlich, wie sehr mein Vorhaben dem Zeitgeist entspricht. Mein Partner hat denselben Wunsch. Meine Kollegen und Freunde sagen: genial, super, hast du ein Glück! Leben auf dem Land, das facht heute die Fantasie der Städter an"," erzählt Stefano. Er setzt sich in ein Abteil, studiert das Programm der Veranstaltung. Auf der Messe will er erkunden, wie er und sein Freund auf dem Land Geld verdienen können.""Ich werde fragen, welche Arbeitsmöglichkeiten es gibt. Ob ich es wagen kann, eine Firma zu gründen oder zu übernehmen. Die Aktivität ist mir ziemlich egal. Kreative Arbeit ist mir lieber, aber eigentlich bin ich absolut offen."Ein junger Mann setzt sich ins Abteil, brauner Lockenkopf, Bart, Drillichhose und Rucksack. Dann eine graublonde Dame mit roter Handtasche und Pumps und eine quirlige junge Frau mit Bubikopf und Händen voller Silberschmuck. Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben. Aber sich dennoch sofort ihren Traum vom Land erzählen. Lorraine ist 30 Jahre alt, hat immer in Paris gelebt. Ihr Beruf: Sie polstert antike Stühle und Sofas auf. Seit zwei Jahren spielt sie mit dem Gedanken, die Großstadt zu verlassen:"Ich suche mehr Lebensqualität. Mein Gehalt ist nicht hoch, in einer Stadt wie Paris komme ich damit nicht weit. Außerdem sehne ich mich nach engeren menschlichen Kontakten. Selbst wenn ich auf dem Land wenig verdienen würde, so könnte ich dort vielleicht mein eigener Chef sein." Geneviève, Ende 50, arbeitet in einer Kosmetikfirma. Sie möchte ihre Wohnung in Paris verkaufen und in ein Dorf ziehen, berichtet sie: "Aber wer weiß, ob ich mich integrieren kann, ob nicht unerwartete Schwierigkeiten auftauchen. Von der Messe erhoffe ich mir konkrete Antworten. Ich will herausfinden, ob ich auch wirklich die persönlichen Voraussetzungen habe, um diesen einschneidenden Wechsel zu vollziehen." Stefano erzählt von Tokio - seine Arbeit bringt ihn häufig in die japanische Hauptstadt. Dort, verspürt er den Wunsch nach Landleben ganz besonders stark, sagt er:"Und zwar wirkliches Land. Ich suche ein Dorf, oder sogar einen Weiler, keine mittelgroße Stadt. Ich will von einem Extrem zum anderen wechseln."In der Messehalle von Limoges. Die Metallwände sind mit Strohballen dekoriert, aus denen an langen grauen Schnüren Computermäuse heraushängen. Stefano steuert zielstrebig zu einer Konferenz. Thema: Kulturelle Projekte auf dem Land. Dann hört er bei einer Veranstaltung über Telearbeit zu, dabei hält er Spiralblock und Stift in der Hand, notiert eifrig. Schließlich meldet er sich zum individuellen Beratungsgespräch an, skizziert sein Projekt - es hat sich ein bisschen verändert."Ich bin Stylist. Ich möchte auf mehreren Beinen stehen, vielleicht freiberuflich weiter arbeiten in meinem Beruf, die Telearbeit erscheint mir viel versprechend. Außerdem will ich kulturelle Ereignisse organisieren, Ausstellungen, ein Jazzfestival…. Ich weiß, dass ich damit nicht viel Geld verdienen kann, aber dafür würde ich mit mehr Lebensqualität bezahlt…"Die Beraterin schlägt Stefano daraufhin vor:"Wie wäre es mit einem touristischen Angebot? Sie könnten vielleicht Gästezimmer anbieten. Lebensqualität allein macht nicht satt, ein Minimum an Geld braucht man schon."Zwei Tage lang saugt Stefano alle Informationen auf, spricht mit Menschen, die das Abenteuer Land schon vor einigen Jahren gewagt haben, hört Geschichten über Erfolge und Misserfolge, von Glück und Frustrationen. Zurück nach Paris. Stefano blättert nachdenklich in den Broschüren, die er eingesteckt hat, liest seine Notizen, unterstreicht, was er tun muss, um seinen Traum voranzubringen."Ich überlege jetzt anders als auf dem Hinweg, erwäge auch Telearbeit. So könnte ich meinen Beruf als Selbständiger ausüben und zu den Besprechungen nach Paris fahren. Das war ursprünglich nicht meine Absicht. Aber ich stehe wieder mit beiden Beinen auf festem Boden. Jetzt muss ich all die Gespräche und Informationen erst einmal verdauen."Paris, Gare d'Austerlitz. Küsse, Umarmungen. Die Reisenden tauschen Adressen aus, wünschen sich Erfolg bei der Verwirklichung ihrer Projekte. Für Stefano, Geneviève und Lorraine steht immer noch fest: Sie wollen der Großstadt den Rücken kehren, so schnell wie möglich.Einer der sowohl das Land- als auch das Großstadtleben kennt, ist der portugiesische Schriftsteller Josè Maria Eca de Queiroz. In einem kleinen Dorf in Nordportugal aufgewachsen, lebte er später in Paris. Er starb 1900. In einem seiner letzten Romane "Stadt und Gebirg", schlendert seine zentrale Figur Jacinto, Sohn einer angesehenen Bürgerfamilie aus Nordportugal, der jedoch in Paris geboren und aufgewachsen ist, mit seinem Freund Zé Fernandes durch die Großstadt. Jacinto empfindet auf einmal geradezu körperliche Abscheu vor dem Stadtleben. (Literaturauszug)15 Jahre lang arbeitete Norbert Kaysen als Techniker für Kabelnetzwerke, anfangs in Straßburg, später dann in Mantes-la-Jolie, einer Stadt im Einzugsbereich von Paris. Dort schaffte er es sogar bis ins Management, musste dafür jedoch täglich nach Paris fahren. Bis zu anderthalb Stunden brauchte er meist, um mit dem Motorrad an seine Arbeitsstelle zu kommen. Seine Frau Sylvie hatte kürzere Wege; sie arbeitete zuerst in einem Supermarkt und später dann als Buchhalterin. Aber als Norberts Firma einen Entlassungsplan aufstellte, war ihr beider Entschluss gefasst: Norbert und Sylvie wollten aufs Land.Vor zwei Jahren besuchten die beiden dann die "Messe für die Übersiedlung aufs Land" und kontaktierten den Verein "SOS Villages", der sich bemüht, kleine Dörfer am Leben zu erhalten. Dank dessen Vermittlung übernahmen die Kaysens Ende 2005 ein leer stehendes Geschäft in Saint Ybard. Das Dorf liegt in der Correze, so heißt ein Departement im Herzen von Frankreich. Sie hatten es nie zuvor besucht.In kurzer Zeit machten sie dort aus ihrem Tante-Emma-Laden ein Allround-Geschäft: die Kaysens verkaufen nun neben den üblichen Artikeln auch Gasflaschen, Zeitungen, Handy-Karten und Angelscheine. Sie bieten Bügelservice an und haben unzählige weitere Projekte in Planung, insbesondere die Eröffnung eines Bistros. Aber das neue Leben ist kein Zuckerschlecken. Ein Traum geht in Erfüllung - vom Büro in der Großstadt in den Tante-Emma-Laden von Saint Ybard Es ist halb neun. Norbert Kaysen zieht das Rollo hoch, sperrt die Ladentür auf, schaltet die Türglocke ein. Seine Frau Sylvie bettet Fischfilets auf grobes Eis. Dann füllt sie die Regale auf: Milch und Joghurt, Wein und Konserven, Fleisch, Käse. Die weißen Metallstellagen und der helle Kachelboden sind blendend sauber. Die Kaysens haben schon geputzt und gewischt, wie jeden Morgen und berichten von ihren ersten Erfahrungen, die sie in dem Dorf gemacht haben:"Im ersten Jahr haben uns die Leute vom Dorf beobachtet. Sie waren auch ein bisschen verschlossen. Aber als sie sahen, dass ab fünf Uhr früh im Laden Licht brannte, war das Eis gebrochen. Sie wissen jetzt, dass wir nicht ins Grüne gezogen sind, um die Hände in den Schoß zu legen, sondern um zu arbeiten und den Laden wieder in Schuss zu bringen."Sylvie und Norbert Kaysen sind beide Ende 30, schlank und eher von kleiner Statur. Sylvie trägt die rotblond getönten Haare sauber zusammengebunden. Der Pferdeschwanz wippt im Takt ihrer zackigen Bewegungen. Sylvie versprüht Energie. Norbert ist ruhiger. Er hat hellgrüne Augen, schütteres blondes Haar und ein sympathisches Jungengesicht.Vor 18 Monaten kamen die Kaysens nach Saint Ybard. Unter mehreren Kandidaten wählte der Bürgermeister sie als neue Pächter des Lebensmittelgeschäfts aus, das zuvor nicht mehr rentabel war und Pleite ging. 30.000 Euro Ablöse mussten sie dafür bezahlen. "Das Pariser Leben hat uns überhaupt nicht mehr gefallen. Wir sehnten uns nach Ruhe, Gelassenheit und engerem Kontakt zu den Menschen. Den hatten wir in Paris noch nicht einmal mit unseren Nachbarn. Und dann dieses Gefühl von Unfreiheit. Wenn wir abends aus dem Kino kamen, wurden wir regelmäßig angemacht. Wir mussten den Mund halten und alle Beleidigungen auf uns sitzen lassen, sonst wäre es noch brenzlig geworden. Dadurch ist uns die Lust aufs Kino völlig vergangen. Wir wollten nicht mehr ausgehen."Nach solchen Erlebnissen reifte in ihnen der Entschluss, aufs Land zu ziehen. Zuerst wollte das Paar luxuriöse Gästezimmer mit Sauna und Whirlpool anbieten. Aber dann entschloss es sich für ein handfestes Projekt ohne allzu großes Risiko.Die ersten Kunden kommen in den Laden. Sylvie begrüßt sie mit Vornamen und Wangenkuss, fragt nach Neuigkeiten, dann stellt sie sich hinter die Fleischtheke, zieht Gummihandschuhe über, bedient. Norbert geht durch die Hintertür zur Garage. Dort steht der Kleinlaster, mit dem er an fünf Tagen die Woche zu seinen Kunden fährt. Die Wandregale sind voll mit Waren und auf dem Boden stapeln sich Obst- und Getränkekisten. Schmale Landstraßen ziehen sich in Kurven durch die Hügellandschaft. Apfelplantagen sind mit Netzen abgedeckt, die vor Hagel schützen sollen. Auf den Wiesen grasen braune Kühe. Zwischen Eichen und Esskastanien taucht ein Gehöft auf. Norbert hält an. Eine grauhaarige Frau kommt aus dem Bauernhaus. In der einen Hand trägt sie den Einkaufskorb, an der anderen führt sie die kleine Enkeltochter. "Guten Tag, Madame Chaunut. Ich bringe Ihnen die Zeitung und die Schweinekoteletts, die Sie bestellt haben. Wollen Sie wieder Wein? Wie geht es Ihrem Bruder? Wir haben ihn lange nicht gesehen!""Nicht besonders gut, es hat was am Herzen… Ich brauche Mehl, Nudeln, Pantoffeln, Größe 42, und einen Spray gegen Hornissen","antwortet Madame Chaunut.""Haben Sie schon Heu gemacht?""Ja, aber es liegt alles auf dem Boden, schon seit 8 Tagen…" "Das ist kein gutes Jahr…. Alles zusammen macht das 36, 57 Euro!"Die Bäuerin schiebt einen Blankoscheckheft über die Theke. Norbert Kaysen trägt die Summe ein, er schreibt in einer großen, deutlichen Schrift, dann zeigt er ihr den Scheck, sie schaut nur flüchtig hin. Er will die Einkäufe ins Haus tragen. Madame Chaunut wehrt ab: Das kann sie selber. Nächste Woche schaut der Händler wieder vorbei, am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Dann bringt er auch die Pantoffeln mit, die er nicht vorrätig hatte. Sein Job, sagt Norbert Kaysen, bestehe zu 40 Prozent aus Kommerz. 60 Prozent sei Sozialarbeit. Er schaut auch bei Leuten vorbei, die fast nichts kaufen, weil er sich verantwortlich fühlt. Gerade das mag er an seinem neuen Leben, so Kaysen:"Für mich ist es ein wahres Vergnügen. Manchmal bin ich morgens gedrückter Stimmung. Aber sobald ich die Menschen treffe und mit ihnen rede, geht es mir gut. Wir sprechen nicht nur übers Geschäft, sondern auch über all die Kleinigkeiten des täglichen Lebens. Dabei vergesse ich, dass ich arbeite. Ich ziehe einfach los, um Leute zu treffen." 22 Kunden stehen heute auf seiner Liste, alles alte Leute. Einige Berufstätige haben ihm schon signalisiert: Wenn sie in Rente gehen, soll er sie auch beliefern.19 Uhr ist vorbei und Sylvie Kaysen hat das Geschäft geschlossen. Die Fleischtheke ist zugedeckt, die Frischware im Kühlraum verstaut. Jetzt sitzt sie am Tisch, gibt Bestellungen auf und macht Buchhaltung. Früher, in Mantes-la-Jolie, da hatte sie eine 35-Stunden-Woche, erzählt Sylvie Kaysen:"Davon sind wir weit entfernt. Wir arbeiten mehr als doppelt so viel: Im Durchschnitt 80 Stunden pro Woche. Das heißt: wir sind 80 Stunden präsent, aber es gibt natürlich auch Leerlauf und die Gehälter, die wir in Paris hatten, sind hier durch vier geteilt."Sie macht die Rechnung ohne Bedauern. Denn unterm Strich haben sie gewonnen. Davon sind Sylvie und Norbert Kaysen überzeugt:"Wir haben unseren Traum verwirklicht. Wir müssen hier auf nichts verzichten. Wir haben den gleichen Komfort wie in der Stadt, dazu die Natur, und außerdem kann ich sagen: ich bin mein eigener Chef! Das ist was wert. Wir sind oben auf der Leiter angekommen."Der Morvan ist ein Mittelgebirge, eine dünn besiedelte, waldreiche Region in Burgund. Früher arbeiteten die Männer als Holzfäller und als Flößer auf den zahlreichen Flüssen der Region. Heute verlässt die Jugend einen Landstrich, in dem sie keine berufliche Zukunft sieht. Die Folge: die Bevölkerung altert rapide; die Hälfte aller Geschäftsleute steht vor der Rente. Besonders schmerzlich für die Dagebliebenen ist der Mangel an Hausärzten, Krankenschwestern, Krankengymnasten und Zahnärzten. Doch erstaunlicher Weise verzeichnete der Morvan im Jahr 2003 erstmals seit Jahrzehnten ein demografisches Plus. Ein Grund: die Niederländer kommen.Rund 3.000 holländische Familien sind im Morvan bereits heimisch geworden. Dass der Strom nicht abreißt, ist auch Jan Vanderlee zu verdanken. Der Amsterdamer hat einen sehr aktiven niederländischen Club gegründet, der sich um die Eingliederung der Neubürger aus dem Ausland bemüht. Seit kurzem ist Vanderlee auch "Kopfjäger". Im Auftrag von Kommunen wirbt er vor allem Menschen an, die im Gesundheitssektor arbeiten. Grenzenloser Empfang im Morvan – wo Niederländer Franzosen heilen Viermal ist Myriam nun schon mit dem Küchenmesser zum Gemüsebeet gelaufen. Jetzt stellt sie Teller auf den Gartentisch: sie sind üppig gefüllt mit einer Komposition in grün, gelb, blau und lila."Alles aus unserem Garten, außer dem Schinken und dem Omelett natürlich, aber die Eier sind von unseren Hühnern, also auch aus dem Garten. Genau wie die Kartoffeln, der Spargel, Salat, Malvenblüten… Und die kleinen blauen Blüten, das ist Borretsch,"berichtet Myriam Vanderlee. Die 47-Jährige ist groß und schlank, trägt eine ausgewaschene blaue Latzhose, die blonden Haare hat sie locker zusammengebunden. Neben ihr sitzt Jan, Anfang 50, so groß und dünn wie sie. Durch den kahl rasierten Schädel wirkt sein Gesicht besonders hager, Nase und Ohren stehen hervor. Fast sein ganzes Leben lang war Vegetarier. Jan berichtet:"Einmal in Frankreich war es schier unmöglich, Vegetarier zu bleiben. Eines Tages habe ich das Fleisch eines Bauern aus unserm Dorf probiert - so etwas Gutes hatte ich noch nie gegessen. Manchmal klopfen Jäger an unsere Tür und schenken uns ein Stück Wildschwein oder Reh oder eine Forelle - wir essen hier sehr gut."Jan lehnt sich zurück, schaut ins Grüne: Eine alte Steinmauer umgibt den Gemüsegarten, dahinter sind die dicht bewaldeten Berge des Morvan zu sehen. Zurück nach Amsterdam zieht es das Ehepaar nicht mehr, und auch nicht in ihre alten Berufe: Myriam war Redakteurin beim Fernsehen, Jan hatte eine Firma."Im Bereich Marketing. Da hieß es immer: schnell, schnell, schnell! Zuerst war ich allein, zehn Jahre später hatte ich 15 Angestellte. Ich habe nonstop gearbeitet, bis zum 'Burn-Out'. Da ist es besser, man hört auf und verwirklicht seinen Traum,"berichtet Jan. Ihren Traum fanden sie im Internet: Ein altes Bauernhaus am Dorfrand von Corancy. Angeboten von einem holländischen Immobilienmakler, der in Frankreich lebt. Seit sechs Jahren genießen sie nun die Ruhe der 400-Seelen-Gemeinde. Aber Arbeit fliegt Jan auch weiterhin zu: Zuerst bat ihn der Bürgermeister, den Campingplatz auf Trab zu bringen. Jan erzählt, dass er schnell einen Pächter fand - aus Holland:"Hier im Morvan und auch in anderen ländlichen Gegenden fehlt es an Geschäftsleuten. Die Hälfte aller Unternehmer steht vor der Rente, aber die Leute finden keine Käufer. Es mangelt auch an Ärzten. Die Franzosen wollen nicht aufs arme Land, uns Niederländer aber zieht es hierher, wir lieben Ruhe und Einsamkeit. Deshalb arbeite ich jetzt als 'Headhunter'. Ich suche in Holland, aber auch in Belgien und Deutschland, nach Gesundheitspersonal und Kleinunternehmern."Überraschungsbesuch. Eine Nachbarin kommt in den Garten. Sie stellt einen Eimer mit Sauerkirschen auf den Tisch und drückt Jan einen Zettel voller Zahlen in die Hand - die Bilanz ihrer Textil-Reinigung. Seit Monaten sucht die Frau schon einen Käufer. Holländer sind nun ihre letzte Hoffnung. Myriam und Jan sind überzeugt, dass sie bald einen Interessenten finden werden. Noch einen Kaffee im Stehen, dann bricht der Kopfjäger auf.Brinon-sur-Beuvron, 217 Einwohner. Ein großer leerer Platz, rundherum Läden: ein Bäcker, zwei Bistros, ein kleines Informatikgeschäft, Lebensmittel, Apotheke - ein dynamisches Dorf. Aber fast jeder dritte Bewohner ist über 60 Jahre alt und auch der Arzt, der nur ein paar Stunden pro Woche praktiziert, steht vor der Rente. Der Bürgermeister sucht händeringend einen Nachfolger, außerdem wünscht die Bevölkerung einen Krankengymnasten. Den hat Jan jetzt gefunden: Dick Havenaar, 49 Jahre alt, die Ray-Ban im dichten dunkelblonden Haar, grasgrünes Hemd, Ärmel hochkrempelt, erzählt er:"Hier auf dem flachen Land ist Arbeit ohne Ende für Krankengymnasten, das weiß ich. Ich denke, dass es ein herrliches Gefühl sein wird, wenn man mit offenen Armen empfangen wird und seine Arbeit auf richtige Art machen kann."Dick ist aus Deutschland angereist. 15 Jahre hat er dort gearbeitet, jetzt vertreibt ihn die Gesundheitsreform. Im Morvan war er nie zuvor. Heute hat er sein erstes Treffen mit dem Bürgermeister von Brinon und Vertretern des Gemeindeverbands. Jan dolmetscht:"Bitte sehr, ich stelle Ihnen den Kandidaten vor. Leider spricht er noch nicht gut Französisch, aber das wird sich schnell ändern. Sie haben seinen Lebenslauf gesehen…""Wir wünschen uns sehr, dass jemand kommt und den alternden Menschen hier hilft. Wir haben niemand im Umkreis von 20 Kilometern"," wird Jan entgegnet.Die zukünftige Praxis von Dick Havenaar: ein dunkler Raum, dicke Heizungsrohre, altmodische Stromschalter, ein ausgemusterter Röntgenapparat… Der Bürgermeister verspricht gründliche Renovierung. Außerdem sieht er von der Miete ab. Der Krankengymnast schaut sich schweigend um. Jan verabredet ein weiteres Treffen, um die amtlichen Formalitäten zu besprechen. Dann blickt er seinen Landsmann fragend an. Dick nickt. ""Ja klar, absolut, ich werde es probieren. Ob's geht? Abwarten. Ich hab ein gutes Gefühl dabei."(Literaturauszug) Auch wenn es neuerdings immer mehr Franzosen aufs Land zieht - im Zeitraum von fünf Jahren waren es rund eine halbe Million - profitieren nicht alle Dörfer von diesem Trend. Viele verlieren noch immer Einwohner und zahlreiche Häuser verfallen. Dass es vor allem an den Entscheidungsträgern vor Ort liegt, ob die Abwanderung gestoppt und neue Bewohner angelockt werden können, hat Les Voivres bewiesen. Les Voivres liegt im südlichen Teil der Vogesen, rund 30 Autominuten von Epinal entfernt. Das Dorf hat keine Trümpfe – weder Industrie noch außergewöhnlichen Freizeitwert noch Sehenswürdigkeiten wie ein Schloss oder eine alte Kirche. Aber es hat einen überaus dynamischen Bürgermeister, und der hat dafür gesorgt, dass sich die Einwohnerzahl von Les Voivres innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt hat. Inzwischen wird nicht nur renoviert, sondern auch gebaut, und neuerdings siedeln sich in der Gemeinde auch private Firmen an. Les Voivres, ein soziales Experiment - wo Arbeitslose für Aufschwung sorgen Ein Gartenzaun umgrenzt den Schulhof. Bürgermeister Michel Fournier drückt das Tor auf, schiebt sich an den spielenden Kindern vorbei, begrüßt die Lehrer. Den Frauen drückt er einen Kuss auf die Wangen, dem Mann reicht er die Hand. Dann zeigt er auf das Schulhaus und erzählt:"Hier hat alles angefangen: Das ist die Schule, die dicht gemacht werden sollte, weil wir nur noch neun Schüler hatten. Die Schulbehörde hatte uns die endgültige Schließung für 1990 angekündigt. Das war logisch. Aber ein Dorf klammert sich an seiner Schule fest, die Schule ist das Leben."Der Bürgermeister, 57 Jahre alt, ist groß und kräftig. Von Beruf ist er Florist, sein Geschäft hat er im Nachbardorf, denn in Les Voivres gibt es keine Läden. Trotz der hohen Stirn mit den breiten Falten wirkt das gerötete Gesicht rund und gemütlich. Das liegt an dem buschigen Schnäuzer, dessen Enden die Mundwinkel umranden. Michel Fournier scherzt mit den Lehrern, mit allen ist er per Du, und seine Augen zwinkern vergnügt. Die Schule hat er gerettet, zur Grundschule kam sogar eine Vorschule hinzu, und das Dorf lebt auf. Heute hüpfen und rennen 75 Schüler im Alter zwischen zwei und elf Jahren über den Hof. "Wir jammern nicht und demonstrieren nicht. Weißt du, ich bin pragmatisch. Damals habe ich gesagt: Wenn im Dorf Kinder fehlen, müssen auswärts Kinder gefunden werden,"erzählt Michel Fournier. Der Bürgermeister beschloss, Familien ins Dorf zu holen, Großfamilien. Dazu musste er Wohnraum schaffen. "Ich fuhr durch die umliegenden Dörfer und suchte Arbeitslose. Mit Hilfe von staatlich geförderten Arbeitsverträgen konnten wir 20 Leute anstellen. Daraufhin hat der Gemeinderat das erste Haus gekauft, es war eine Ruine. Die neue Mannschaft hat es restauriert."Michel Fournier steigt ins Auto, fährt los. Wuchtige Bauernhäuser säumen die Hauptstraße, die meisten aus Naturstein und mit einem großen Torbogen. Sie sind gepflegt, Fenster und Läden gestrichen, und in den Gärten blühen blaue Hortensien. Aber das war nicht immer so. Bis in die 90er Jahre verfiel das Dorf und die Einwohnerzahl sank unaufhörlich, bis es nur noch 200 waren. Ein paar Ruinen gibt es heute noch. Der Bürgermeister hält vor zwei brüchigen Steinmauern und einem Schutthaufen und sagt:"Sieh dir dieses Haus an! Da ist nicht mehr viel übrig, da wachsen schon Bäume drin. Die Kommune will es kaufen, aber die Besitzer weigern sich. Das ist ein Drama. So etwas müsste verboten sein. Drei Viertel aller Häuser, die wir im Lauf der Zeit gekauft haben, sahen so aus."Als die ersten beiden Häuser renoviert waren, lockte das Dorf per Zeitungsannonce kinderreiche Familien an. Mit dem Versprechen, dass sie die Mietwohnungen später kaufen könnten, wobei ihnen die Kommune alle Mietzahlungen anrechnen würde. Zwei Familien zogen ein, sogenannte Sozialfälle. Michel Fournier streckt die Finger in die Höhe und rechnet vor:"Sechs Kinder plus fünf Kinder macht elf, dazu die neun, die schon da waren, das sind 20. Zwanzig Kinder - die Schule war gerettet."Aber jetzt war der Ruf des Dorfes in Gefahr. In den Zeitungen standen bitterböse Kommentare. Michel Fournier hat sie nicht vergessen: Da hieß es: Das Elend der Welt sammelt sich in Les Voivres. Ja, sogar vom Mülleimer des Departements war die Rede. Der Bürgermeister reagierte schnell: auch die Zugezogenen bekamen Eingliederungsjobs, als Sprungbrett in die Arbeitswelt. Zu tun gibt es genug: Die Angestellten des Dorfes renovieren, pflegen Grünanlagen, säubern den Dorfteich. Damit nichts schief läuft, schaut Michel täglich nach dem Rechten. Über 20 Häuser hat die Gemeinde inzwischen gekauft und renoviert, mehr als 200 Eingliederungsverträge abgeschlossen, und die Einwohnerzahl stieg auf 360. Stolz zeigt der Bürgermeister alle Winkel des Dorfes:"Inzwischen werden auch neue Häuser gebaut. Hier zum Beispiel: diese Leute wären bestimmt weggezogen, wenn das Dorf nicht diesen Aufschwung genommen hätte. Der Mann hat hier Arbeit gefunden, er fährt den Schulbus, vor allem aber: die Familie fühlt sich wohl im Dorf."Am Dorfrand entsteht eine kleine Siedlung. Dahinter haben sich Firmen niedergelassen: ein Sägewerk, eine Baufirma, ein Ingenieursbüro. Es ist Mittag. Autos parken im Dorf, sie gehören Menschen von auswärts. Denn gegenüber der Kirche hat die Bar mit dem Restaurant wieder aufgemacht, und die Köchin hat einen guten Ruf, berichtet Michel Fournier:"Zuerst hieß es: in eure Wohnungen wird doch niemand einziehen. Wer will schon in einem Nest begraben sein. Wir haben nichts Besonderes, kein Schloss, nichts dergleichen. Aber wenn man genau hinschaut, dann gibt es ein großes Potential. Manchmal genügt es, den Dingen neues Leben einzuhauchen. Das ist genau wie mit den Menschen: wenn man ihnen ein neues Leben ermöglicht, sind sie schön."Auf einer Kreidetafel steht das Tagesmenü: Gemüsepastete und Coq au Vin. Michel Fournier begrüßt die Wirte und bestellt.(Literaturauszug) Das Departement Orne liegt im westlichen Teil der Normandie. Es ist dünn besiedelt und die Menschen leben überwiegend von der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie. Andere Jobs sind hier rar. Deshalb wurde die Gegend auch zur "Zone de revitalisation rurale" erklärt, zu einer Zone der ländlichen Wiederbelebung, wodurch Firmen Steuervorteile erhalten können.Selbstständige aber haben nichts von solchen Hilfen, betont Xavier de Mazenod, ein Internet-Consulter, der sich vor vier Jahren in dieser ländlichen Gegend niedergelassen hat. Um das Land zu beleben, sollten die Entscheidungsträger vielmehr ganz auf neue Kommunikationstechnologien setzen. De Mazenod wünscht eine flächendeckende Versorgung mit Glasfaser-Technik. Außerdem eine aktive Empfangspolitik: Bürgermeister, Regionalpolitiker und die örtlichen Behörden müssten daraufhin arbeiten, dass sich Neuankömmlinge auch willkommen fühlten. Weil sie das nicht tun, sorgt er für den Empfang von Projektträgern - und zwar auf seine Weise. "Zevillage" vernetzt Telearbeiter in der Normandie - mit WiMax zwischen Kühen und Traktoren Eine braunweiß gescheckte Kuh glotzt mit großen Augen durch die Zweige. Unter dem Tier ist ein Ortsschild zu sehen: "Zevillage Punkt net", so heißt das Dorf der Telearbeiter. Ein Dorf im Internet. Xavier de Mazenod sitzt vor seinem PC, beugt sich über die Tastatur und bringt Neuigkeiten in Umlauf:"Es ist eine kleine Erinnerung an die Leser von Zevillage: Ich lade sie zu einem Treffen von Bloggern in der Normandie ein, nächsten Freitag. Die Leute kennen sich übers Internet, aber oft möchten sie sich auch in Fleisch und Blut sehen." De Mazenod tippt mit zwei Fingern, verschreibt sich, korrigiert. Der 52-Jährige ist groß und schlank, er hat dichtes braunes Haar, ein offenes Jungengesicht, und trägt einen hellen Wollpullover mit Kragen und Cordhose. Bequemer Landhausstil. Vor drei Jahren hat er Paris den Rücken gekehrt, ist mit Frau und zwei Kindern in die Normandie gezogen. Hier hat er das virtuelle Dorf gegründet. Es ist das erste in Frankreich, erzählt De Mazenod:"Als wir damals erzählten, dass wir die Stadt verlassen wollten, sagten viele Leute: Habt ihr ein Glück, das würden wir auch gerne. Wir haben uns gefragt: Aber warum machen sie es dann nicht? Später wurde uns klar: Viele kennen das Landleben nicht, sie haben keine Ahnung, wie sie einen solchen Wechsel anstellen sollen. Daraufhin habe ich das getan, was ich kann: Ich habe eine Website und einen Blog geschaffen, auf denen ich über alle Aspekte unseres Landlebens hier schreibe. Nach und nach hat sich rund um Zevillage eine Gemeinschaft gebildet."Xavier de Mazenod drückt auf die Page-Down-Taste: Auf einen Artikel über die Datenübertragungstechnik WiMAx folgt ein bunt bebildertes Plädoyer für den örtlichen Camembert aus Rohmilch. Daneben ein Link zu einem Videospot zum Thema "Macht Telearbeit glücklich?". Außerdem eine heiße Auseinandersetzung über das Für und Wider einer ovalen Autorennstrecke mit überhöhten Kurven, wie sie in der Gegend gebaut werden soll. "Die Leute, die regelmäßig durch Zevillage surfen, wollen Verbindungen knüpfen. Es sind Telearbeiter, die nicht vereinsamen wollen. Außerdem sind da die Neuankömmlinge: Einige wollen regelrecht an die Hand genommen werden. Ich selbst oder jemand aus unserem Kreis erklärt sich zum Ansprechpartner. Wir stellen die Neuen bei den örtlichen Behörden vor, helfen ihnen, ein Haus zu finden, informieren über die Schulen."140 Interessenten haben bereits auf dem Blog angefragt, aber nur sechs Familien sind wirklich aufs Land umgesiedelt. Die meisten Anfragen stammen von Menschen, die nach den Sommerferien vom Landleben träumen, aber kein richtiges Projekt haben. Denen rät Xavier ab, denn Arbeit kann Zevillage nicht vermitteln, sagt er:"Viele Leute lesen nicht, was wir schreiben: Hier auf dem Land gibt es keine Arbeit. Jeder muss seinen Job mitbringen. Deshalb besteht Zevillage aus Telearbeitern, die ihren Arbeitsplatz verlegt haben und ihre Kunden nun aus der Entfernung betreuen. Ich bin ein Verfechter der Telearbeit und sehr glücklich, dass ich hier arbeiten kann. Wenn ich anderen helfen kann, ihr Leben zu ändern, um es mir gleich zu tun, bin ich sehr froh."Xavier de Mazenod ist selbständig. Er berät Firmen, die über das Internet kommunizieren wollen, gestaltet ihren Internet-Auftritt und bietet Fortbildungen für Online-Redakteure an.Mittagszeit. De Mazenod steht auf, verlässt sein Büro unter dem Dach des Bauernhauses, geht durchs Wohnzimmer. Die Balkendecke ist niedrig. Bücher und Ölgemälde bedecken die Wände. Ein wuchtiger Kamin erinnert an Zeiten, in denen das 500 Jahre alte Haus noch keine Heizung besaß. Xavier verabschiedet sich von seiner Frau und bricht zum "First Tuesday" auf, so heißt ein bekanntes internationales Netzwerk für junge Unternehmer der Zukunftsbranchen - er hat sich den Namen einfach für das monatliche Mittagessen der Telearbeiter aus der nahen und fernen Umgebung ausgeliehen. Vor der Haustür liegt eine tote Spitzmaus - die Katze hat mal wieder gejagt. Das Auto steht neben der Scheune, in der sich riesige Strohballen stapeln. De Mazenod besitzt 40 Hektar Land, sie werden von einem Bauern bestellt.20 Kilometer entfernt liegt Alencon, 29.000 Einwohner, die größte Stadt der Umgebung. Drei Frauen und sechs Männer, im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, sitzen schon auf der Terrasse in der Sonne. Menschen, die sich im Internet kennengelernt haben. Eine Frau steht auf, begrüßt Xavier, stellt sich vor: Janique Ladouar, rotbraun getöntes Haar, blauer Rollkragenpullover, beige Hose, schreibt hin und wieder für Zevillage, jetzt trifft die etwa 60-Jährige den Gründer des virtuellen Dorfes zum ersten Mal. "Zevillage und die Idee, die Telearbeiter in dieser Gegend zu begleiten - das ist sehr nützlich. Denn seit ich aufs Land gezogen bin, treffe ich auf Landwirte und Bürgermeister, die sagen: Aber warum haben Sie sich ausgerechnet im letzten Winkel angesiedelt, 500 Meter vom Dorf entfernt? - Weil die Landschaft dort herrlich ist. - Das ist uns egal. Und dann kommt der Stromlieferant EDF und will mitten in die herrliche Landschaft einen Strommast pflanzen."Janique Ladouar schleppt eine Reisetasche mit sich und auch ihren Lap-Top. Sie ist eigens aus Paris angereist, denn für ihren jetzigen Job musste sie den Wohnsitz zurück in die Großstadt verlegen. Ihr Landhaus liegt einsam in der Bocage, einer hügeligen Heckenlandschaft, und besitzt immer noch keinen Zugang zum Internet. Darauf kann die Herausgeberin von verschiedenen Websites jedoch nicht verzichten. Dieser Tage hat sie sich auf Zevillage über ihr Verbindungsproblem beklagt - der Text wurde sogleich von anderen Bloggern übernommen und im Netz verbreitet. Janique Ladouar erzählt:"Ich bin sicher, dass mein Artikel Folgen haben wird. Bester Beweis: Der Internet-Anbieter hat mich schon kontaktiert, er will neue Tests machen, um zu prüfen, ob ich nicht doch ans Netz angeschlossen werden kann. Ich bin begeistert, dass es Zevillage gibt. Seither fühle ich mich längst nicht mehr so allein."WiMax, Wifi, WiFiMax oder Glasfaser…die Telearbeiter unterhalten sich über technische Möglichkeiten, vergleichen die Preise, tauschen Ideen aus. Nicht nur Janique Laudour fühlt sich auf dem Land als Außenseiterin. Zevillage verleiht ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die Kellnerin nimmt die Bestellung auf, Xavier de Mazenod bittet um Rosé-Wein für alle.
Von Bettina Kaps; Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber
In Frankreich galt das Leben auf dem Land lange Zeit als rückständig. Wer dynamisch war, zog in die Stadt. Die Folge: Ganze Regionen verödeten. Ein Jahrhundert lang war die Landflucht ein großes Problem in Frankreich. Doch das ist längst vorbei. Heute ziehen mehr Menschen aus Paris und der Region Ile de France weg, als sich neu dort niederlassen. Viele Dörfer hingegen wachsen.
"2007-09-22T11:05:00+02:00"
"2020-02-04T11:30:02.327000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suche-nach-dem-glueck-auf-dem-land-100.html
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"Israel ist tatsächlich bedroht durch das iranische Engagement"
Die Überreste eines israelischen F-16 Kampfflugzeugs an der Absturzstelle bei Harduf (AFP / Jack Guez) Über diese jüngste Eskalation in und um den Krieg in Syrien können wir auch in den kommenden Minuten sprechen: Am Telefon ist Alexander Brakel von der Konrad-Adenauer-Stiftung, er leitet das Auslandsbüro in Israel. Schönen guten Morgen! Alexander Brakel: Guten Morgen, Frau Schulz! Schulz: Israel beruft sich da ja jetzt auf sein Recht auf Selbstverteidigung. Ist klar, was genau Israel da jetzt erreichen kann mit diesen Luftangriffen? Brakel: Was Israel genau erreichen kann, bleibt abzuwarten. Das Recht auf Selbstverteidigung nimmt Israel deshalb in Anspruch, weil wir seit einigen Jahren eine massive Ausrüstung der Hisbollah, der Terrororganisation im Norden Israels, im Libanon und in Syrien durch den Iran erleben, eine Aufrüstung, die so stark ist, dass sie tatsächlich die israelische Sicherheit ganz akut gefährdet. Schulz: Und es geht ja auch darum, den Einfluss des Erzfeindes Iran zu blockieren sozusagen in dieser Nachbarregion da in Syrien. Und das ist natürlich auch immer die militärische Kosten-Nutzen-Abwägung. Wir haben es gerade gehört, das israelische Militär ist historisch sehr selbstbewusst, was bedeutet da jetzt dieser Verlust? Brakel: Wir sehen eine langsame Verschiebung der Schwergewichte durch das vor allem russische Engagement in Syrien, das es aber auch dem Iran erlaubt, dort eine Stellung aufzubauen. Der Iran selbst agiert nicht direkt gegen Israel, rüstet aber die Hisbollah, die Terrororganisation, die ja ihre Existenz dem Kampf gegen Israel verdankt, auf und ist eben in der Lage, die Hisbollah mit Waffen auszurüsten, die jetzt tatsächlich Israel auch mit modernen Waffensystemen gefährlich werden kann. Ich glaube, dieser Abschuss war ein ganz klares Warnsignal an Israel. Das heißt allerdings nicht, dass das das Ende der Konfrontation bedeutet. Selbst wenn wir jetzt in den letzten beiden Nächten Gott sei Dank keine weiteren gegenseitigen Angriffe erlebt haben, die Lage bleibt aber angespannt und es bleibt vor allem abzuwarten, welche Schritte der Iran im Weiteren unternehmen wird. Eine weitere militärische Eskalation ist überhaupt nicht ausgeschlossen und wegen der modernen Waffensysteme, über die die Hisbollah inzwischen verfügt, könnte eine solche Eskalation auch in Israel, wenn es hart auf hart kommt, Tausende von Menschenleben fordern. "Die Hisbollah hat die Vernichtung Israels zum Ziel" Schulz: Also Eskalation, um das zu übersetzen, das hieße Krieg? Brakel: Das hieße Krieg. Wir haben ja schon mehrfach einen Krieg zwischen Hisbollah und Israel erlebt. Bis jetzt waren die israelischen Waffensysteme immer weit überlegen, vor allem war Israel in der Lage, aufgrund des eigenen Raketenabwehrsystems, des sogenannten "Iron Dome", die Raketenanschläge der Hisbollah auf israelisches Gebiet weitgehend zu beschränken und damit auch die eigenen vor allem zivilen Verluste in ganz engen Grenzen zu halten. Sollte es jetzt zu einer militärischen Auseinandersetzung mit der Hisbollah kommen, ist damit zu rechnen, dass die Hisbollah aufgrund des massiven Raketenarsenals, das sie dank der iranischen Unterstützung inzwischen besitzt, in der Lage wäre, Israel ganz erheblichen Schaden zuzufügen. Schulz: Jetzt erklärt der israelische Ministerpräsident Netanjahu ja seine harte Haltung, auch diese Luftangriffe, die es jetzt am Wochenende gegeben hat von Israel, erklärt er damit, dass das dazu dienen soll, Israel sicherzumachen. Wenn ich Sie da richtig verstehe, ist das ein recht zweischneidiges Schwert? Brakel: Es ist ein zweischneidiges Schwert, wir sollten aber hier nicht den Fehler begehen, Israel als Aggressor darzustellen. Israel ist tatsächlich bedroht durch das iranische Engagement und vor allem eben durch die Aufrüstung der Hisbollah. Die Hisbollah hat die Vernichtung Israels zum Ziel und hat auch nie einen Hehl daraus gemacht, dieses Ziel zu verfolgen, und wird nun durch iranische Unterstützung zwar nicht in die Lage versetzt, Israel von der Landkarte auszuradieren, tatsächlich aber Israel massive Verluste zuzufügen. Die israelische Regierung befindet sich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite muss sie eine offene Auseinandersetzung mit dem Iran vermeiden, weil eine solche Auseinandersetzung massiven Schaden auch für die israelische Zivilbevölkerung mit sich brächte, auf der anderen Seite kann sie auch der weiteren Aufrüstung der Hisbollah nicht tatenlos zusehen. "Auf das wohlwollende Stillhalten Russlands angewiesen" Schulz: Ja, ich wollte auch die Bedrohung überhaupt nicht kleinreden, der sich Israel da sicherlich ausgesetzt sieht, einfach aufgrund der Beobachtung, dass die Erzfeinde Israels da ja in Syrien wirklich Hand in Hand arbeiten. Welche Strategie zeichnet sich denn da ab? Also wir müssen sicherlich in unsere Überlegungen, in die Diskussion auch Russland und die USA – ihrerseits auch Erzfeinde – miteinbeziehen. Wie wird Israel diese Beziehungen sortieren? Brakel: Bei den USA muss man sagen, die USA sind dadurch, dass sie schon unter Barack Obama beschlossen haben, nicht wirklich aktiv, also auch nicht mit Bodentruppen in Syrien einzugreifen, nicht mehr der entscheidende Faktor. Dieses Vakuum, was sich dadurch ergeben hat, hat Russland gefüllt und deshalb muss Israel sich mit Russland abstimmen. Das passiert auch ständig. Das heißt, auch die Angriffe, die Israel auf Stellungen der Hisbollah fliegt, kann es nur fliegen im stillen Einvernehmen mit Russland. Russland verhält sich diesbezüglich aber eher passiv. Das heißt, die Russen haben zum einen klar erklärt, sie sehen eine Anwesenheit iranischer Kräfte in Syrien, auch im Nachkriegs-Syrien als legitim an, auf der anderen Seite unterbindet Russland zurzeit die israelischen Angriffe nicht. Israel versucht mit seinen Angriffen, die weitere Aufrüstung seiner Feinde zu beschränken, ist aber wie gesagt auf das Wohlwollen, zumindest auf das wohlwollende Stillhalten Russlands angewiesen. Schulz: Und das ist im Zweifelsfall dann auch die Situation, sich auf Putin verlassen zu müssen? Brakel: Genau so ist es. Schulz: Einschätzungen heute Morgen von Alexander Brakel, dem Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel. Danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Einschätzungen! Brakel: Gern geschehen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Brakel im Gespräch mit Sandra Schulz
Israel reagierte mit Luftangriffen in Syrien auf das Eindringen einer iranischen Drohne in sein Gebiet. Alexander Brakel von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tel Aviv warnte aber davor, Israel als Aggressor darzustellen. Israel versuche mit seinen Angriffen die weitere Aufrüstung seiner Feinde zu beschränken, sagte er im Dlf.
"2018-02-12T06:50:00+01:00"
"2020-01-27T17:38:56.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konflikt-zwischen-israel-und-dem-iran-israel-ist-100.html
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"Sie sind mir so eine Art Wohnzimmer geworden!"
"Zum guten Ton eines nachfolgenden Komponisten gehört ja, dass man die Väter und Großväter und Urgroßväter erschlägt. Aber ich mag Sie nicht erschlagen," schreibt Gordon Kampe in seinem Brief. (Manuel Miethe) Lieber Herr van Beethoven, fast immer, wenn ich ganz doll an Sie denke, dann bin ich wieder in Wanne-Eickel. Dann sitze ich auf dem Sofa meiner Omma, schaue aufs Gelsenkirchener Barock und überrascht sagt etwas in mir »Huch! Beethoven!« Denn da stand sie, als Deko und vermutlich vollkommen ungelesen: eine Beethoven-Biographie von Felix Huch. Als Kind hatte ich keine Ahnung. Wirklich: Gar keine. Auf dem Band stand nur: »Huch! Beethoven!« Bis ich eines Tages – auch in Wanne-Eickel –, in meiner Schule lernte, dass ja Sie, lieber Beethoven gemeint waren und dass Sie Musik geschrieben haben. Beethoven 2020 (Deutschlandradio / imago / Klaus W. Schmidt) Ich möchte Sie ja nun nicht einseifen oder Schleimspuren hinterlassen, brächte ja auch nichts, denn Sie sind ja leider tot. Dennoch, lassen Sie es sich gesagt sein: Sie sind schon ein bisschen Schuld daran, dass ich Musiker geworden bin. Ich sehe es noch vor mir: Ich sitze gelangweilt im Konzert des Schulorchesters, umringt von den Blockflöten des Grauens. Bis zu diesem BÄM… diesem riesigen, fortissimo-F, das da die etwas älteren Mitschüler in die Luft rammten. Dieses F… dann die schönen Melodien von den schwarzen Instrumenten, die so viele silbrige Klappen haben und ungeheuer kompliziert aussehen. Und dann der Jubel, dieser Jubel! Huch, muss ich mir gedacht haben: Genau das, das will ich auch! Also ab in den nächsten Musikladen. Die Recherchen ergaben, dass es wohl eine Oboe oder eine Klarinette gewesen sein muss, die ich da hörte. Ich lernte Klarinette und wurde Musiker. Ohne dieses F… nicht auszudenken, was aus mir geworden wäre. Vermutlich Fremdenlegion. Aber ich hatte ja nun meinen Beethoven. Natürlich brauchte ich auch eine Platte mit diesem F. In Wanne-Eickel gab’s das nicht, ich musste bis nach Bochum. Das war am anderen Ende der Welt. Aber da war sie endlich: Die Egmont-Ouvertüre mit dem fetten F – gemeinerweise auf der B-Seite. Auf der A-Saite die Pastorale. Fand ich doof. Landluft, Tänzchen. Was für Weicheier. "Was haben Sie auch für Zeugs geschrieben." Sie haben mich, es klingt leider wie so eine ganz fade Musikanten-Erweckungs-Binse, aber es ist nun einmal die Wahrheit, seitdem nicht mehr recht losgelassen. Lieber Beethoven, Sie sind mir so eine Art Wohnzimmer geworden. Ich habe den Eindruck, dass ich mich bei Ihnen auskenne. Dass ich sogar die Sofa-Ritzen mit dem Popcorn vom letzten Jahr kenne. Dass ich auch mal mit Ihnen zusammen auf diesem Sofa sitzen kann und Sie nicht die ganze Zeit bewundern muss. Denn – sehen Sie es mir nach – nicht jedes Stück von Ihnen ist ein Meisterwerk. "Du hast Millionen von fernen Geliebten"Seit über 60 Jahren trägt die taiwanisch-deutsche Pianistin Pi-hsien Chen Ludwig van Beethoven in sich. In ihrem Brief an den Komponisten erklärt sie, wie sie versucht ihm so nah wie möglich zu sein - durch das Studium von Beethovens Werken. Meine Güte, was haben Sie auch für Zeugs geschrieben. Ich wünschte, man programmierte ein Festival mit Ihren banalsten Stücken. Klar: die »Elise« ist garstig und nicht zu retten, »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« ist für einen ehemaligen Zivi wie mich auch ziemlich gaga – aber vorne weg im Morast der Gelegenheitsverwirrungen: Opus 136! »Der glorreiche Augenblick!«. Eine Kantate, geschrieben für den Wiener Kongress. Groß besetzt und grob wie Flönz, wursteln Sie da in A-Dur herum. Immerhin, der Text ist gut – oder wenigstens wünschenswert. »Europa steht! Und die Zeiten, die ewig schreiten, der Völker Chor, sie schauen verwundert, verwundert empor.« Schön wär’s. Immerhin eine gute Idee folgt! Den fabelhaften Text: »Wer muss die Hehre sein, die von dem Wunderschein der alten Götterwelt umzogen, herauf aus Osten geht in einer Fürstin Majestät, und auf des Friedens Regenbogen?« vertonen Sie mit einem dermaßen holprigen Fugato, dass man ihn gottlob nicht mehr recht versteht. Nein, wegen des glorreichen Augenblicks sind Sie sicher nicht in die Musikgeschichte eingegangen. Aber ich mag ihn trotzdem, denn er zeigt Ihr ungeheuer menschliches Antlitz. Bach hatte immer den lieben Gott mit an seinem Schreibtisch sitzen, Mozart den lieben Gott links und den Teufel rechts… Und Sie, Sie mussten das alles alleine komponieren! Was haben Sie sich dabei verkämpft, verkrampft, was haben Sie gerungen und verworfen – und manchmal haben Sie dann auch richtig daneben gegriffen. Mit Schwung in die Erdbeeren, toll! Danke dafür – denn das macht ihre Meisterwerke nur noch schöner. "Feiern Sie mal schön da oben auf Ihrer Wolke." Zum guten Ton eines nachfolgenden Komponisten gehört ja, dass man die Väter und Großväter und Urgroßväter erschlägt. Aber ich mag Sie nicht erschlagen. Für mich stehen Sie auch gar nicht auf einem Sockel, ich will auch kein Bild von Ihnen stürmen, ich bete Sie nicht an, denn Sie sind ein Mensch. Ich bin Ihnen dankbar für jenes F, das mich als Dreizehnjährigen umgehauen hat. Und heute – als Vierundvierzigjähriger – bin ich dankbar für den dritten Satz aus op. 109, für das Geigensolo aus dem Benedictus – und ja: ein, zwei Mal im Jahr höre ich sogar das Finale aus Ihrer Neunten und stehe dann völlig neben mir. Bald ist also ihr 250ster Geburtstag. Da der liebe Gott – davon bin ich fest überzeugt – Humor hat, wird er fürs Festkonzert den »Glorreichen Augenblick« programmiert haben. Bach, Mozart, Boulez und Stockhausen singen, peinlich berührt, die Solopartien. Dann feiern Sie mal schön da oben auf Ihrer Wolke. Sie haben es sich verdient. Herzlich Ihr Gordon Kampe
Von Gordon Kampe
Beethoven war mitschuldig, dass Gordon Kampe Musiker wurde. Der Komponist stellt seinen Kollegen aber nicht auf einen Sockel. Er ist dankbar für außergewöhnliche Musikmomente und erkennt gerade in den Stücken, die keine Meisterwerke wurden, das menschliche Antlitz Beethovens.
"2020-11-09T20:10:00+01:00"
"2020-11-10T11:29:00.497000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/briefe-an-beethoven-sie-sind-mir-so-eine-art-wohnzimmer-100.html
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Europa - jetzt erst recht
Der deutsch-französische Grünen-Politiker und frühere Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit, hier auf einer Konferenz in Paris am 15. April 2016. (AFP / Bertrand Guay) Grundlegende Probleme auf dem Kontinent liegen aus Sicht Cohn-Bendits bereits in der Zeit der Osterweiterung begründet: "Sie war richtig, aber die Ungleichheiten wurden nicht durch einen gemeinsamen Haushalt austariert", sagte der frühere Europaabgeordnete dem Deutschlandfunk. Der Etat der EU mache lediglich ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, während der föderale Haushalt der USA 27 Prozent des BIP betrage. Willy Brandt 2.0 In diesem Zusammenhang erinnerte Cohn-Bendit an geflügelte Worte des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt und fordert: "Wagen wir mehr Demokratie, wagen wir mehr Europa!" Ein Zurück zum Nationalstaat, wie es in einigen EU-Ländern derzeit diskutiert wird, sei der falsche Weg. In diesem Zusammenhang schlägt der deutsch-französische Publizist Änderungen auch am Wahlrecht vor. Vorbild Deutschland Bei der Europawahl solle ein Teil der Abgeordneten weiterhin national, ein weiterer jedoch über "transnationale bzw. transeuropäische Listen" bestimmt werden. Zudem sollten die Wähler sich mit verschiedenen Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission auseinandersetzen können. Im Ergebnis gäbe es neben dem Europaparlament eine zweite Kammer, einen Europäischen Bundesrat. Konkret überlegt Cohn-Bendit: "Die gesamteuropäische Zuständigkeit sowie die geteilte Souveränität müsste so definiert werden, wie es etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik der Fall ist." Ursula Welter im Zeitzeugen-Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit (DLF / Oliver Dannert) Gemeinsame Sicherheitsordnung Bei der Sicherheitspolitik wird Cohn-Bendit sehr deutlich: "Das Paar Trump-Putin ist die Geburtsstunde der europäischen Verteidigungsunion". Derzeit gebe es etwa zwei Millionen Soldaten in der EU, die aber wegen vieler Doppelstrukturen und Mehrfachausrüstung mit ähnlichen Waffen nicht sehr effektiv seien. Für eine gemeinsame Sicherheitsordnung mit einer schlagkräftigen EU-Armee sind aus Sicht des Grünen-Politikers lediglich rund 400.000 Soldaten nötig. Zugleich betonte er die Notwendigkeit der demokratischen Kontrolle einer solchen Truppe durch das Europaparlament. Letztendlich müsse der französische Sitz im UNO-Sicherheitsrat ein gemeinsamer für die EU werden. Und selbst einen Übergang von Frankreichs Atomwaffen in eine europäische "defensive Nuklearverteidigung" hält Cohn-Bendit für möglich. Grüne Speerspitze? Seinen deutschen Parteifreunden empfiehlt er, das Thema Terrorbekämpfung "offensiv" anzugehen, damit sie nicht wie die Kollegen in Frankreich an Zuspruch beim Wähler verlieren. "Sie müssen die Frage aufgreifen und erklären, warum die Sicherheit Deutschlands national nicht mehr gelöst werden kann." Konkret empfiehlt Cohn-Bendit auch hier mehr Europa, etwa einen EU-Staatsanwalt und ein europäisches FBI. Die deutschen Grünen müssten sich nun "an die Spitze einer modernen Sicherheitskonzeption" stellen und sich nicht weiter kleinteilig mit Debatten etwa über mehr oder weniger Videoüberwachung aufhalten. Daniel Cohn-Bendit äußerte sich in der DLF-Sendung "Zeitzeugen im Gespräch". Das vollständige Interview mit ihm können Sie am 23.02.2017 ab 19.15 Uhr hören. Anschließend stellen wir Audio und Text auch auf deutschlandfunk.de zur Verfügung.
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Trump, Putin, Wilders, Le Pen und Brexit - in vielen Ländern der EU herrschen Sorge und Verunsicherung. Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit hat im Gespräch mit dem DLF eine klare Antwort darauf: Keine Rückkehr zum Nationalstaat, sondern mehr Europa. Vielleicht mit einem Europäischen Bundesrat?
"2017-02-21T13:42:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:07.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cohn-bendit-europa-jetzt-erst-recht-100.html
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Kirgistans nukleares Erbe
Der Fluss Mailuu-Suu, nachdem auch die Stadt in Kirgistan benannt ist. Hier baute die Sowjetunion zwischen 1948 und 1968 Uran für ihr Nuklearprogramm ab. (EBRD) Im Tienshan-Gebirge duftet es nach Kräutern. Vor allem nach Kirgisischem Salbei. Jürgen Hartsch: "Wir sind jetzt an der Absetzanlage Nummer 7, die aus der sehr frühen Phase der Uranproduktion stammt." Man könnte dieses Absetzbecken für eine Wiese halten. Eine schüttere Wiese, denn auf dem lehmigen, mit Steinen durchsetzten Boden wächst kaum Gras. Ohnehin ist alles verdorrt, denn es hat lange nicht mehr geregnet. Unter uns fließt ein Gebirgsbach. Der Mailuu-Suu. Der Ort, den man durch den Dunst in der Ferne erahnen kann, ist nach ihm benannt. Jürgen Hartsch: "Hinter diesem Damm waren stark wasserhaltige Schlämme aus der Uranerzaufbereitung aufgestaut. Ein großer Teil ergoss sich in den Mailuu-Suu-Fluss, der sie dann weit verfrachtete." Einst war Mailuu-Suu eine geschlossene Stadt: Wer hierhin wollte, brauchte eine Sondererlaubnis. In Mailuu-Suu wurde das Uran für die erste Atombombe der Sowjetunion gewonnen. Doch das ist lange vorbei. Sowjetische Altlasten als enormes Risiko Am Tag zuvor: Eine Pressekonferenz in Osh, der zweitgrößten Stadt Kirgistans. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen haben eine kleine Gruppe Journalisten eingeladen. Azamat Mambetov: "Wir wollen mit dieser Pressekonferenz die internationale Gemeinschaft auf ein Problem aufmerksam machen, das Kirgistan und ganz Zentralasien belastet: Es geht um die Hinterlassenschaften des Uranbergbaus, der hier zu Sowjetzeiten stattgefunden hat." Die Regierung hat einen hochrangigen Vertreter geschickt: Staatssekretär Azamat Mambetov. Was er sagt, übersetzen zwei Simultandolmetscherinnen. Sie sitzen am Rand des Saals in einer provisorischen Kabine. Im Publikum: die Journalisten, dazu Kameraleute, Bürger von Mailuu-Suu, Offizielle von EU und UNDP. Über Transmutation - Die Verharmlosung des AtommüllsWird es den Menschen in einer Million Jahren noch geben? Seinen Atommüll jedenfalls schon. Dabei könnten sich die langlebigen radioaktiven Stoffe zu harmloseren "zermahlen" lassen. Warum nur hat Deutschland kein Interesse daran? Azamat Mambetov: "Allein in Kirgistan gibt es mehr als 90 Absetzanlagen und Abraumhalden. Die meisten sind in einem schlechten Zustand, entsprechen nicht modernen Sicherheitsstandards und können nicht als langzeitsicher eingestuft werden." Ihr Inhalt: mehr als 280 Millionen Tonnen giftiger und radioaktiver Abfälle. Azamat Mambetov: "Wenn durch ein Erdbeben oder einen Erdrutsch der Damm eines Absetzbeckens bricht, geraten die Abfälle in die Nebenflüsse, werden fortgespült und gelangen so in den Syrdarja und damit ins Ferghanatal, wo rund 14 Millionen Menschen leben." Die sowjetischen Altlasten sind ein erhebliches Risiko, doch den Ländern Zentralasiens fehlt das Geld, es zu beseitigen. Deshalb suchen sie Hilfe – unter anderem bei den Vereinten Nationen und der Europäische Kommission, der Weltbank und der EBRD. Mailuu-Suu ist eine kleine Industriestadt mit rund 23.000 Einwohnern, einem Lenin-Denkmal, Grünflächen und einer Fabrik. Arbeit ist rar. (EBRD) Früh am Morgen ist der ganze Tross mit drei Kleinbussen in Osh aufgebrochen. Mehr als drei Stunden wird die Fahrt nach Mailuu-Suu dauern, denn die Straße ist mehr als holprig: Japanische Firmen wollten sie eigentlich sanieren – doch seitdem sie die Teerdecke aufgerissen haben, geht es nicht weiter. "Diese ehemaligen Uranabbaugebiete der Sowjetunion wurden im Grunde genommen sich selbst überlassen. Als die zentralasiatischen Staaten 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, haben sie Hunderte Millionen Tonnen gefährlicher Abfälle aus der Uranaufbereitung geerbt: hochgiftige chemische und radioaktive Rückstände aus dem Bergbau zu Sowjetzeiten." Martin Andersen von der Europäischen Kommission. Er leitet von EU-Seite das Sanierungsprogramm. Martin Andersen: "Wir haben sieben Uran-Altlasten identifiziert, die vorrangig saniert werden müssen und die sich alle im Ferghanatal befinden, durch das wir gerade fahren." Rechts und links der Straße Weiden, auf denen Kühe, Pferde, Schafe und Ziegen versuchen, satt zu werden. Dann Baumwollfelder, die ihre Fruchtbarkeit der künstlichen Bewässerung aus dem Syrdarja verdanken, während flussabwärts der Aralsee austrocknet. Als wir die Ebene verlassen und ins Tienshan-Gebirge fahren, bleiben die Weiden. Martin Andersen: "Es gibt noch mehr Altlasten, aber die sind nicht so kritisch. Die sollen die Länder später unter eigener Regie sanieren, nachdem sie gelernt haben wie es geht. Wir konzentrieren uns auf diese sieben vorrangigen Standorte." Drei dieser kritischen Standorte liegen in Kirgistan, zwei in Usbekistan und zwei in Tadschikistan. Martin Andersen: "Einige der alten Dämme schließen Hunderttausende, manchmal sogar Millionen Tonnen giftiger, radioaktiver Abfälle ein." Ein einst herausgeputzter Ort im Nirgendwo Die Georisiken in der gesamten Region sind hoch: Erdbeben sind in Zentralasien keine Seltenheit, ebenso wenig Erdrutsche, die Berghänge sind steil und nicht stabil. Denn wann immer Starkregen oder die Schneeschmelze im Frühjahr den Boden aufweicht, reichen kleine Erschütterungen, um Zehntausende und mehr Tonnen Erdreich ins Flusstal rutschen zu lassen. Martin Andersen: "Die Altlasten liegen alle im Gebirge. Wenn Sie nach draußen schauen, sehen Sie schon das Hochgebirge mit den schneebedeckten Gipfeln. Die Flüsse aus diesem Gebirge könnten die giftigen, radioaktiven Abfälle bis in die Nachbarstaaten schaffen." Das ganze Problem hat einen grenzüberschreitenden Aspekt. Wenn ein Damm bricht, würde das giftige Material verteilt. Die Umweltprobleme würden sich verschärfen, das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Ländern spitzte sich zu und das verschlechtert die geopolitische Lage. Die Frage ist nicht, ob es passiert, sondern wann." "Mailuu-Suu war eine richtige Traumstadt, wir hatten freien Zugang zu den Kinos, niemand überprüfte die Tickets, wir lebten im Kommunismus", so ein Einwohner über die Glanzzeiten der Stadt. (Dagmar Röhrlich/Deutschlandradio) Es ist fast Mittag, als wir uns Mailuu-Suu nähern. Der Name bedeutet "Öliges Wasser" – denn hier sickert an etlichen Stellen Öl aus dem Boden. Am Fluss, auf den Hügeln, den Weiden – überall laufen die Pumpen chinesischer Firmen, die das schwarze Gold aus dem Untergrund holen. Die Wurzeln der Stadt reichen viele Jahrhunderte weit zurück. Die Karawanen der Seidenstraße zogen durch das Tal. Anfang der 1930er-Jahre entdeckten sowjetische Geologen dann das Uran im Boden. Heute ist Mailu-Suu eine kleine Industriestadt mit rund 23.000 Einwohnern, einem Lenin-Denkmal und Grünflächen, in denen Dutzende Menschen damit beschäftigt sind, Laub zu fegen. Arbeit ist rar. Nur noch ein großer Arbeitgeber ist übriggeblieben: eine Fabrik für Leuchtmittel. Man sieht Mailuu-Suu seine Vergangenheit als privilegierte Stadt an: ein ehemals herausgeputzter Ort mitten im Nirgendwo. Angst vor Erdrutschen und Erdbeben Für mehr als den Blick aus dem Fenster des Kleinbusses bleibt keine Zeit. Es geht talaufwärts, vorbei an den ausgedehnten ehemaligen Aufbereitungsanlagen, dorthin, wo die Uranaltlasten liegen. Unter anderem zu Absetzbecken Nummer 7. Eine riesige, verdorrte Wiese, darum herum ein Zaun, das ist Absetzanlage Nummer 7. Wenn man es nicht weiß, ahnt man von dem Becken darunter nichts, auch nicht von dem Damm, der es umgibt und der die Schlammmassen von einst zusammenhält. Am 16. April 1958 brach der nach schweren Regenfällen aufgeweichte Damm bei einem Erdbeben: Rund 600.000 Kubikmeter radioaktiven, giftigen Schlamms wälzten sich durch das Tal, zerstörte Häuser, tötete Menschen. Mehr als 40 Kilometer weit verteilte der Mailuu-Suu-Fluss seine giftige Fracht – auch über die Grenze in die usbekische Sowjetrepublik hinein. Es soll Jahre gedauert haben, ehe die landwirtschaftlichen Flächen wieder gereinigt waren. Jürgen Hartsch: "Beim Absetzbecken 7 sehen wir uns heute einer besonderen Situation gegenüber. Wir müssen hier den Koitash-Erdrutsch berücksichtigen, der 2017 auf dem anderen Ufer des Mailuu-Suu-Flusses abgegangen ist: Riesige Erdmassen haben sich in Bewegung gesetzt. Sie flossen wie Wasser den Hang hinunter und haben im Tal den Mailuu-Suu-Fluss blockiert." Eine alte Anlage in Mailuu-Suu: Uran, Arsen, Kupfer, Blei - aus einigen der schlecht gesicherten Absetzbecken sickert ein bunter Cocktail an Schadstoffen in die Umwelt. (Dagmar Röhrlich/Deutschlandradio) Jürgen Hartsch vom Firmenverbund G.E.O.S. Ingenieurgesellschaft und WISUTEC leitet die Sanierungsarbeiten hier in Mailuu-Suu. "Dadurch stieg der Wasserspiegel schnell an. Als Notfallmaßnahmen haben die kirgisischen Behörden Bagger geschickt, damit das Wasser wieder abfließen konnte. Stabil ist die Situation hier jedoch immer noch nicht: Erdmassen bewegen sich weiter talwärts und bedrohen die Absetzbecken 7 und 5. Es könnte also wieder passieren." Sicherheit war keine Priorität In Mailuu-Suu lief der Uranerzbergbau zwischen 1948 und 1968. Dann waren die Vorräte erschöpft. In der ersten Phase, so erzählen die Bewohner, haben Kriegsgefangene und Verbannte in den Bergwerken gearbeitet. Das Erz wurde außerhalb der Stadt gebrochen und gemahlen und in zwei Fabriken mit Säuren und Laugen aufbereitet – bis hin zum Yellow Cake, dem Ausgangsmaterial für Brennstäbe und Atombomben. Sicherheit stand nicht weit oben auf der Prioritätenliste. Auch nicht nach dem Ende des Bergbaus. Wie überall in Zentralasien blieben auch hier die meisten Schächte und Stollen einfach offen zurück. Eigentlich sollen Zäune den Zugang zu den Absetzbecken verwehren. Doch die werden oft gestohlen, das Land verbotenerweise als Weide genutzt. Denn auf den kargen Berghängen ist Futter rar – und der Viehbestand hoch. Die Entwässerungssysteme der ehemaligen Absetzanlagen funktionieren nicht mehr, und die Erdschicht, die die Becken abdeckt, ist mit zehn bis 30 Zentimetern zu dünn um zu verhindern, dass Regenwasser eindringt. Die Sanierungsarbeiten werden also umfangreich. Ein paar Hundert Meter weiter, an der nächsten Absetzanlage, der Nummer 6, hat Jürgen Hartsch Zeit für ein Interview. "Das Problem der hier abgelagerten Erzschlämme besteht darin, dass es sich um chemisch veränderte Stoffe handelt, die im Kontakt mit Wasser sehr reaktionsfreudig sind, wo Lösungsprozesse sehr gut vonstatten gehen können und wo dann über dem Wasserweg die enthaltenen Schadstoffe eine weite Verbreitung finden können." Bunter Cocktail an Schadstoffen Natururan ist vor allen Dingen giftig – ebenso giftig wie Quecksilber. Radioaktiv ist es nur schwach, und durch die Aufbereitung des Erzes blieb nur verhältnismäßig wenig Uran im Abraum und in den Aufbereitungsschlämmen zurück. Doch wenn, wie hier in Mailuu-Suu, mehr als 10.000 Tonnen Uran produziert wurden, ist dieses Erbe in seiner Masse alles andere als ungefährlich. Im Körper kann Uran Krebs auslösen. Und dann sind da noch die radioaktiven Zerfallsprodukte. Allen voran: das Radon, das sich in schlecht belüfteten Räumen ansammelt. Wird es eingeatmet, steigt das Lungenkrebsrisiko. Jürgen Hartsch: "Die in diesem Tal gelegenen Absetzanlagen sind in einer Entfernung von ein bis zwei Kilometern von dem Siedlungsgebiet entfernt. Gegenwärtig ist dort unten in der Stadt kein Einfluss nachzuweisen. Und zwar aus dem Grunde, dass sie nach den damals geltenden Regelwerken von 1960 und -70 abgedeckt wurden mit Boden, der nicht kontaminiert war." Doch wo die Erosion diese Abdeckung abträgt, steigen die Radioaktivitätsmesswerte plötzlich auf das 10- oder sogar 30-fache der natürlichen Hintergrundstrahlung an. Dann liegt kontaminierter Schlamm an der Oberfläche, der Wind kann die Partikel packen und sie forttragen – in die Siedlungen hinein. Die Abdeckungen müssen also ständig repariert werden. Dazu kommt ein importiertes Problem. Die Fabriken in Mailuu-Suu verarbeiteten nicht nur das Erz aus den eigenen Bergwerken zu Yellow Cake, sondern auch das aus anderen Ländern, etwa der Tschechoslowakei. Ziegen grasen auf dem Absetzbecken Nr.5 in Mailuu-Suu (Copyright: EBRD) Jürgen Hartsch: "Diese Erze haben eine vollkommen andere Zusammensetzung. Zum Beispiel ist zusätzlich zu dem Uran dort ein hoher Gehalt an Arsen vorhanden und an anderen Schwermetallen." Uran, Arsen, Kupfer, Blei - aus einigen der schlecht gesicherten Absetzbecken sickert ein bunter Cocktail an Schadstoffen in die Umwelt. Glücklicherweise sind Boden und Gestein hier sehr durchlässig, und so verschwindet, was aus den Absetzbecken ausgewaschen wird, tief im Untergrund. Jürgen Hartsch: "Es taucht auch in keinen Quellen oder Brunnen auf, sondern verteilt sich diffus im Untergrund. Die Wege, die sind uns bisher nicht klar geworden." Doch aus der Welt sind die Giftstoffe damit ja keineswegs: "Umso mehr besteht aber die Notwendigkeit, dass auch für die Zukunft gewährleistet bleibt, dass diese kontaminierten Wässer, die permanent in den Abfallkörpern generiert werden, volumenmäßig bestmöglich begrenzt werden." Krebserkrankungen: "Problem mit statistischen Daten" Zu der der Pressekonferenz in Osh ist auch eine Abordnung der Bewohner von Mailuu-Suu gekommen. Eine ehemalige Lehrerin, der Bürgermeister und der Leiter des örtlichen Krankenhauses, Nemat Mambetov: "Besonders wenn sie in Interviews danach gefragt werden, antworten viele Bewohner von Mailuu-Suu, dass sie ständig krank seien. Sie erklären, dass es bei uns mehr Krebsfälle gebe als in anderen Regionen Kirgistans." Er selbst könne wenig dazu sagen, da epidemiologischen Studien fehlten, erklärt Mambetov. Nemat Mambetov:"Vor einiger Zeit hat mich auch ein Vertreter des EU-Parlaments danach gefragt, und ich musste ihm erklären, dass wir ein Problem mit den statistischen Daten haben. Wir werden von Nichtregierungsorganisationen beschuldigt, die Daten nicht transparent zu machen. Aber als Repräsentant des Staates bin ich für die Daten verantwortlich, die ich herausgebe. Wäre ich kein offizieller Vertreter, könnte ich etwas sagen, aber es gibt keine Daten, die offiziell veröffentlicht werden könnten." Blick auf Mailuu-Suu, im Gebiet Dschalalabat im Süden Kirgistans (Copyright: EBRD) Allerdings habe er den Eindruck, als sei die Krebsrate in Mailuu-Suu im Vergleich zum restlichen Regierungsbezirk Dschalalabad erhöht. Aber: "Wir können nicht eindeutig sagen, dass es mit dem Uran zu tun hat. Wenn wir uns einmal die Art der Krebserkrankungen ansehen, dann müsste es, wenn wir einen Effekt der Strahlung daraus ablesen könnten, vermehrt Lungenkrebs geben, denn wir haben Probleme mit Radon, und Radon verursacht Lungenkrebs. Aber wir sehen nur sehr wenige Lungenkrebsfälle. Vergleicht man aber Mailuu Suu mit anderen Regierungsbezirken im Djalalabad-Verwaltungsbezirk, dann sehen wir, dass in Toguz-Torou Krebserkrankungen häufiger sind als bei uns – und dort hat es niemals Uranbergbau gegeben." Fachkräfte und Spezialisten fehlen Später, zurück in Deutschland, wird Nemat Mambetov einige Statistiken per Mail schicken. Unter anderem zur Tumorsterblichkeit im Verwaltungsbezirk von Dschalalabad, dem Bezirk, zu dem auch Mailuu-Suu gehört. Die Zahlen in Mailuu-Suu schwanken, liegen mal unter, jedoch meist leicht über denen der Vergleichsorte. Es fehlen wichtige Angaben, um die Statistiken interpretieren zu können, erklärt auch ein Epidemiologe, der sich die Daten anschaut. Viele Faktoren könnten eine Rolle spielen: hohe Arbeitslosigkeit etwa oder die Abwanderung der Jungen. Denn mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung steigen auch die Krebsraten . Nemat Mambetov: "Uns fehlt es an Spezialisten. Um beispielsweise das Thema Krebsfälle einmal eingehend zu untersuchen, bräuchten wir einen Spezialisten, einen Onkologen, der ständig hier arbeitet. Weil wir diesen Arzt nicht haben, sind unsere Analysen nicht zuverlässig." Doch Spezialisten anzulocken ist schwierig. Einmal, weil die Arbeit in Mailuu-Suu inzwischen schlechter bezahlt wird als anderswo im Land – und die Löhne sinken weiter. Dann ist noch der Ruf der Stadt: 2014 hatte eine US-amerikanische Umweltorganisation Mailuu-Suu den wenig erstrebenswerten Titel verliehen, zu den zehn schmutzigsten Orten der Welt zu gehören. Nemat Mambetov: "Wegen dieser Negativschlagzeilen – und bitte entschuldigen Sie, es sind normalerweise Journalisten, die behaupten, dass es unmöglich sei, in Mailuu-Suu zu leben, und dass Sterblichkeits- und Krebsrate zu hoch seien -, wegen dieser Negativschlagzeilen wollen keine jungen Fachkräfte zu uns kommen. Es ist hier ganz anders. Wir leben in dieser Stadt – aber wir können niemanden überzeugen." Anna Travkina: "Natürlich versuchte die Regierung Kirgistans unsere Stadt zu erhalten und neue Unternehmen anzusiedeln. So wurde entschieden, eine Fabrik für Lampen zu bauen." "Mailuu-Suu war eine richtige Traumstadt" Anna Travinka ist pensionierte Lehrerin. Auch sie hängt an ihrer Stadt, die - wie alle geschlossenen Städte - einst große Vorteile genoss. Allein die alten Fabrikanlagen – einmalige Anlagen seien das gewesen: "Damals hatten wir ganz einzigartige Arbeitsplätze. Die Arbeiter bekamen hohe Löhne. Ich weiß allerdings, dass die Strahlung in den Fabriken hoch war, die Arbeiter riskierten wirklich ihre Gesundheit. Einer meiner Verwandten arbeitete dort, bis er 74 Jahre alt war und starb dann nur zwei Jahre später mit 76 an Krebs." Doch was im Rückblick zählt, ist, dass es ihr damals gut gegangen ist, dass sie mit einem Gehalt von zehn Rubeln jedes Jahr in Urlaub fahren konnten. Und dass die Stadt so schön war. Daran erinnert sich auch Nemat Mambetov: "Ich mochte Mailuu-Suu von Anfang an, denn wir wurden damals aus Moskau beliefert. Die Geschäfte waren voll mit Produkten, alles war so sauber und ordentlich, und wir haben es einfach geliebt und sind geblieben. Wir trugen Jeans." Mahamadali Mamtkulov, der ehemalige Chefarzt des Hospitals, stimmt ihr zu: "Ich habe drei Söhne, die nicht fortziehen wollen, weil sie hier geboren sind. Mailuu-Suu war eine richtige Traumstadt, wir hatten freien Zugang zu den Kinos, niemand überprüfte die Tickets, wir lebten im Kommunismus. Wenn Sie in den Bus stiegen, gab es Sitzplätze für die Senioren und Kinder, niemand hätte diese Plätze belegt. Niemand warf etwas auf den Boden – und für 15 Kopeken konnten Sie zu Mittag essen, mit einer Suppe als Hauptgericht und einem Salat dazu." Eine kirgisische Kollegin meldet sich aus der hinteren Reihe zu Wort: Ihr hier in Mailuu-Suu seid wohl die einzigen, die die Sowjetzeiten vermissen. Der Zwischenruf wird mit Lachen quittiert. Die Bürger von Mailuu-Suu, sie hoffen, dass neue Investoren kommen, wenn die Sanierungsarbeiten erst einmal abgeschlossen sind. Ziegen in der Nähe eines mit einem roten Schild markierten Absetzbeckens (Copyright: EBRD) Jürgen Hartsch: "Das ist der Schacht 8 gewesen ist. Und der ist offen, also nicht so offen, dass man so reingucken kann, aber das, was als Betonplatte mal obendrauf lag, das ist zerbrochen." Wir sind weitergefahren und stehen nun hoch über dem Tal. Auf einem kleinen Plateau sieht man noch die Reste des alten Bergwerks. Ein paar zerfallene Baracken und ein mit einer zersprungenen Betonplatte provisorisch abgedeckter Schacht. Jürgen Hartsch: "Und wenn man dann einen Stein reinwirft oder was, dann hört man, es fällt tief. Das muss unbedingt gemacht werden. Solche Stellen haben wir anderswo auch." Deutschland gibt kein Geld für die Sanierung 85 Millionen Euro werden die Sanierungsarbeiten für die sieben vordringlichsten Projekte in Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan kosten. Geld, das die Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBRD derzeit aufzubringen versucht: "Wir haben diesen Fund 2015 gegründet, der ist 2016 richtig betriebsbereit gewesen. Und wir haben zunächst angefangen mit Beiträgen von der Europäischen Kommission, die auch viele Vorarbeiten geleistet hat. Und im letzten Jahr hat die kirgisische Regierung gemeinsam mit der Kommission eine Geberkonferenz durchgeführt." Balthasar Lindauer ist bei der EBRD für das Projekt zuständig. Bislang, erzählt er, umfasst der Fund erst 30 Millionen. Das reicht, um endlich anzufangen, denn obwohl die Weltbank 2012 die Sanierung eines besonders dringlichen Projekts hier in Mailuu-Suu finanziert hat, ist kaum etwas passiert. Balthasar Lindauer: "Der größte Geber ist nach wie vor die Europäische Kommission. Aber wir haben auch Zusagen von Belgien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, einen Beitrag von Norwegen." Die Bundesrepublik macht nicht mit, obwohl deutsche Firmen hier federführend sind, schließlich sind die Sanierungen im Erzgebirge Vorbild für die Arbeiten in Zentralasien. Reporterin: "Gibt es einen Grund, warum Deutschland noch nicht dabei ist?" Balthasar Lindauer: "Der ist mir zumindest nicht bekannt." "Aber wir tun unser Möglichstes, jeder tut sein Möglichstes" Seit Mitte der 1990er-Jahre sind die zentralasiatischen Uranbergwerke geschlossen, und nach dem Willen der kirgisischen Regierung wird auch kein Abbau im Land mehr stattfinden. Stattdessen müssen Schächte und Stollen verfüllt, Halden und Absetzbecken dauerhaft abgedeckt werden. Es geht darum, die Aufbereitungsschlämme für 200 Jahre von der Außenwelt zu isolieren. Becken, die zu nah am Fluss liegen, werden umgelagert, die Ruinen der Uranaufbereitungsanlagen zur grünen Wiese zurückgebaut. Die Menschen in Mailuu-Suu sind arm. Es gibt kaum Arbeit. Warum halten die Bürger trotzdem so fest an ihrer Stadt, die von Erdbeben und Erdrutschen bedroht ist und vor deren nuklearem Erbe sie sich fürchten müssen? "Es ist schwer, das zu erklären. Wir wurden in Mailuu-Suu geboren und sind hier aufgewachsen." Nuradil Mamatov ist der Bürgermeister von Mailuu-Suu. Er erzählt: Als die Regierung den Bürgern, die wegen drohender Erdrutsche ihre Häuser verlassen mussten, ein Stück Land und Geld für den Bau eines neuen Hauses gaben, kehrten sie zurück. Nuradil Mamatov: "Wir Kirgisen leben noch in Clans. Das Land gehört unserem Clan, unseren Ahnen, unseren Großvätern – und deshalb wollen wir weiterhin dort leben. Die Stadt ist wunderschön, und auch die jungen Leute lieben sie. Gut, einige Gebäude müssen saniert werden – daran arbeiten wir, auch wenn das Geld nicht reicht. Aber wir tun unser Möglichstes, jeder tut sein Möglichstes." Die Recherchereise nach Mailuu Suu wurde unterstützt von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBRD und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP.
Von Dagmar Röhrlich
Mehr als 280 Millionen Tonnen giftiger und radioaktiver Abfälle lagern in Kirgistan. Sie sind Altlasten des sowjetischen Uran-Abbaus. Mit internationaler Hilfe soll die Region saniert werden, denn nicht nur für die Bewohner von Mailuu Suu sind die Überreste eine tickende Zeitbombe.
"2020-03-01T16:30:00+01:00"
"2020-03-17T08:50:56.987000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/uran-abbau-in-mailuu-suu-kirgistans-nukleares-erbe-100.html
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Deutsche Ausbildung ist in Spanien beliebt
In der Halle der staatlichen Berufsschule Raul Vázquez stehen die KFZ-Mechaniker um einen Mittelklassewagen an einer Hebebühne. Sie wollen die Bremsbeläge erneuern. Es ist das Auto von Eloy González, Auszubildender im ersten Lehrjahr. Die neuen Bremsbeläge müsse er zwar selbst mitbringen, ansonsten sei die Reparatur in der Berufsschule aber umsonst, erklärt er 21-Jährige einen der Vorteile der KFZ-Ausbildung. Eloy ist einer der ersten Lehrlinge im dualen System, das die Region Madrid 2011 für einige Berufe als Pilotprojekt eingeführt hat. Vorteile zum bisherigen System:"Ich bekomme jetzt ein Stipendium, 450 Euro im Monat. Die technischen Berufe gefallen mir alle. Jetzt gab es diese Möglichkeit, da habe ich zugegriffen. Im dualen System verbringt man viel mehr Zeit in der Werkhalle, man lernt mehr bei der Arbeit. Es ist viel stärker an der Praxis orientiert." Gibt es in den zwei Jahren der herkömmlichen staatlichen Ausbildung nur drei Monate lang ein unbezahltes Praktikum, bekommen die Azubis im dualen System jetzt wenigstens während der zwölf Monate, die sie in den Betrieben verbringen, ein Gehalt von 450 Euro – bezuschusst zu zwei Dritteln von der Regionalregierung. Die Nachfrage sei enorm, sowohl nach Plätzen im neuen wie im herkömmlichen Modell, erklärt die Direktorin der Berufsschule, Carmen Santamaría:"Es ist ganz klar, wer heute einen Arbeitsplatz haben will, braucht einen Abschluss. Früher sind die Leute mit 16, 17 Jahren auf den Bau und haben schnell viel Geld verdient. Aber wer heute keinen Abschluss hat, wird kaum Arbeit finden. Sehr viele Leute wollen jetzt eine Ausbildung machen. Jedes Jahr steigt die Zahl unserer Auszubildenden um 30, 40 Prozent." Die meisten Plätze bieten die Madrider Nahverkehrsbetriebe an, also ein öffentliches Unternehmen. Private Unternehmen beteiligen sich nur mit wenigen Plätzen. Aber alle Unternehmen zeigten großes Interesse an dem neuen System, versichert die Direktorin: "Was sehr wichtig ist: Wir sind in ständigem Kontakt mit den Betrieben. Man muss ihnen das System erklären, sie beraten. Macht man das, wird das Programm auch zum Erfolg." Ein Ausbilder steht bei mit fünf, sechs Jugendlichen um die Achse eines Kleinwagens. Sie liegt auf einem Stahltisch. Die jungen Leute drehen und wenden die Achse, untersuchen die Bremsen. Ausbilder David Gil erklärt:"Diese Auszubildenden kommen fast alle von den städtischen Verkehrsbetrieben. Da lernen sie in der Praxis alles immer nur über Nahverkehrsbusse. So müssen wir jetzt alles, was mit dem PKW zu tun hat, hier nachholen."Immer wieder betonen die Ausbilder: Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen. So würde ohne den Staat das zweigleisige Ausbildungssystem in Spanien nicht funktionieren. Er subventioniert die Gehälter der jungen Leute, seine Betriebe bieten die meisten Plätze an und über die Aufnahme entscheidet auch die Schule. Immerhin: So bekommen auch Seiteneinsteiger noch eine Chance. Carlos Junquera ist schon 36 Jahre alt. Er hat abgeschlossenes Jurastudium und hat trotzdem immer nur Arbeit als Kellner oder Pizzaausträger gefunden: "Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich studiere. Das Jura-Studium gefiel mir sogar. Aber ich fand einfach keine Arbeit. Bevor ich zu Hause auf dem Sofa liege, mache ich lieber eine Ausbildung. Das hier ist keine Arbeit für mich, mir macht diese Ausbildung Spaß! Und das duale System ist etwas ganz Neues. Bei etwas Neuem mitzumachen, hat mich fasziniert. Das war eine gute Gelegenheit, die wollte ich nutzen."Auch deutsche Unternehmen beteiligen sich mit einigen Ausbildungsplätzen am Pilotprojekt. Doch sie bilden schon seit 30 Jahren in Spanien nach dem deutschen dualen System aus. Dafür gibt es die deutsche kaufmännische Berufsschule Aset. Schulleiterin Susanne Gierth über die Möglichkeiten, dass das deutsche Vorbild langfristig in Spanien Schule macht:"Ich glaube, dass es noch ein paar Jahre dauern wird, bis sich die Philosophie, die hinter der dualen Ausbildung steckt, in den Köpfen durchsetzen wird. Ob das nun bei den Unternehmen ist oder bei den Eltern, die bisher immer im Studium die Zukunft ihrer Kinder sehen. Und auch die Unternehmen müssen natürlich bereit sein, die Ausbildung auch zu finanzieren. Da sehe ich schon noch die eine oder andere Hürde, die noch genommen werden muss."
Von Hans-Günter Kellner
Das duale Ausbildungssystem in Deutschland ist eine Mischung aus Werk- und Schulbank. Was sich hier bewährt hat, ist inzwischen auch für südeuropäische Länder mit hoher Jugendarbeitslosigkeit interessant. In Spanien laufen erste Pilotprojekte.
"2013-05-21T09:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:19:04.261000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-ausbildung-ist-in-spanien-beliebt-102.html
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Dortmund und der Umgang mit "SS-Siggi"
Bürger demonstrieren vor dem Rathaus gegen den Einzug des Rechtsextremisten Siegfried Borchardt in den Stadtrat. (dpa picture alliance/ Caroline Seidel) Gut 200 Dortmunder stehen an diesem Mittwochnachmittag auf dem Friedensplatz, zwischen Publik-Viewing-Zirkus und Rathaus - und singen. Lieder gegen rechts. "Dortmund Bunt statt braun", "kein Fußbreit den Faschisten" steht auf ihren Bannern - sie demonstrieren gegen den neuen Ratsherrn der Stadt Dortmund. Siegfried Borchardt, in Dortmund seit Jahrzehnten bekannt als "SS-Siggi". Es sind heute mehr da als vor gut drei Wochen bei der Kommunalwahl-Party - doch diesmal werden auch 200 Bürger nicht verhindern können, dass der Neonazi in den Rat der Stadt einzieht. Denn er hat ein Mandat. "Es ist zum Fremdschämen, dass so ein Mensch, Siegfried Borchardt, im Rat der Stadt Dortmund sitzt. Das ist ein Imageverlust für die Stadt, das ist furchtbar." Petra Kameinski, ist nicht zum ersten mal auf einer Anti-Nazi Demo. Borchardts Partei will in ihrem Viertel die NRW-Zentrale eröffnen. Sie hält Borchardt für gefährlich. "Er ist mehrfach vorbestraft, war immer in verbotenen Kameradschaften, er ist radikal, das weiß man. Aber er will vor allem provozieren, Politik machen will er nicht." Siegfried Borchardt ist kein brauner Biedermann. Er ist bekennender Neonazi. Anfang der 80er-Jahre hat er die Borussenfront gegründet, eine rechte Hooligantruppe. Seitdem saß er mehrfach im Gefängnis: Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Volksverhetzung. Die Partei, für die er jetzt im Rat sitzt, deckt sich mit dem Nationalen Widerstand Dortmund - eine inzwischen verbotene militante Kameradschaft. Vor drei Wochen haben sie im Rathaus bereits Angst und Schrecken verbreitet – "Die Rechte" wollte die Kommunalwahlparty stürmen. Die Bürger konnten das gerade eben noch verhindern: Demonstrantin Sabine Fleiter hat mit anderen eine Kette gebildet, um die Rechtsextremisten abzuwehren: "Das war sehr bedrohlich, man hörte sie kommen, in Sekunden gab es eine Prügelei, es war ein Durcheinander. Das war rohe Gewalt, sowas habe ich noch nie erlebt." "Fühlen sich die Rechten so stark, dass sie sich so etwas trauen?" "Anscheinend ja - ich glaube sie waren so euphorisiert, von ihrem Sieg, dass sie absolut keine Angst haben zuzuschlagen." Am Ende warfen die Extremisten Flaschen, sprühten Pfefferspray. Zehn Bürger wurden verletzt. Dortmunder Bürger stellen sich am Abend der Kommunalwahl einer Gruppe von Rechtsradikalen entgegen, die versucht, das Rathaus zu stürmen. (dpa/ picture alliance / Bernd Thissen) Das Dortmunder Rathaus gleicht einer Festung Damit sich das nicht wiederholt, ist das Dortmunder Rathaus jetzt gesichert wie eine Festung. Mannschaftswagen der Polizei umringen den 80er-Jahre-Bau. Der Eingang zum eigentlich offenen Foyer ist mit Absperrgittern verstellt, wer an den zehn Sicherheitsleuten vorbei will, braucht eine Einladung: "Dieses Stadt werden wir verteidigen, gegen Rechtsextremismus und gegen jegliche Art von Gewalt." Drinnen feiert die Stadt noch vor der Ratssitzung ein "Demokratiefest". Eingeladen hat Hartmut Anders-Hoepgen, Sonderbeauftragter des Bürgermeisters für Vielfalt - eine Art oberster Kämpfer gegen Rechtsextremismus: "Wir werden nicht zulassen, dass man mit einem eigenen Sicherheitsdienst anrücken will, das hatten wir schon mal, das erinnert an SA-Methoden und das 25-Punkte-Programm der Rechten ist ja auch eine widerliche Reminiszenz an das 25-Punkte-Programm der NSDAP. Ich denke, ich brauche nicht zu sagen, was Anlass für diese Veranstaltung ist." Volkan Baran, Mitte 30, dunkle Brille, schütteres schwarzes Haar, schreitet ins Foyer, begrüßt seine Parteifreunde - er ist stellvertretender Fraktionschef der SPD in Dortmund - und hat mit seinen Ratskollegen schon abgestimmt, wie mit dem Rechtsextremisten Borchardt im Rat künftig umgegangen werden soll: "Ich werde ihn möglichst ignorieren, nicht auf Wortbeiträge reagieren - ich werde ihn nicht wahrnehmen, so lange er nichts Volksverhetzendes sagt." " Kann man die Partei verbieten?" "Ich hoffe - ich hoffe, dass das geprüft wird." "Schwein im Pferdestall" Der Mann, der all das ausgelöst hat, sitzt entspannt auf einer Steinbank vor dem Notausgang des Rathauses - hier wird der 60-jährige Neonazi gleich durch ein Spalier aus Polizisten und privaten Sicherheitskräften in den Rat einziehen. Schwarzes Hemd, Silber-Kettchen, Gehstock mit silbernem Totenkopfknauf. Neben ihm auf den Bänken seine weitaus jüngere Entourage, schmächtige Jungs mit kurz geschorenem Haar und neongelben T-Shirts "Weg mit dem NWDO Verbot" steht auf der Brust - weg mit dem Verbot des Nationalen Widerstands Dortmund. Ein älterer Herr verwickelt Borchardt in ein Gespräch: "Was möchten Sie für die Stadt konkret tun?" "Für sozial schwache Deutsche mich einsetzen." "Nur Deutsche - woran wollen Sie das festmachen? Wenn jemand einen deutschen Pass hat und wie ein Ausländer aussieht?" "Sie zum Beispiel sind in Deutschland geboren. Wenn Sie als Schwein im Pferdestall geboren sind, dann sind Sie auch kein Rennpferd, sondern immer noch ein Schwein - so leicht lässt sich das feststellen." Um Punkt 15 Uhr eröffnet Oberbürgermeister Ullrich Sierau die konstituierende Sitzung des Dortmunder Rates. Der Saal ist komplett voll, ein Drittel der Besuchertribüne ist heute von Journalisten in Beschlag genommen: "Ich beglückwünsche im Grundsatz alle für ihr Amt, über Ausnahmen muss ich hier keine Worte verlieren." Die Ausnahme, Borchardt, hat seinen Platz hinten in der Mitte des Plenums, ein leerer Sitz trennt ihn von einem CDU-Ratsherrn. Bürgermeister Sierau lässt über einen Antrag zur Sitzordnung abstimmen - der NPD-Ratsherr wünscht, neben Borchardt sitzen zu dürfen. Abgelehnt. Dann werden noch die Stellvertretenden Bürgermeister gewählt. Das war's für heute. Anträge oder Wortmeldungen gibt es vom Ratsherrn Siegfried Borchardt nicht - nur einmal klatscht er als einziger lautstark - nach einer Meldung des NPD-Kollegen.
Von Manfred Götzke
Siegfried Borchardt ist kein brauner Biedermann - er ist militanter Rechtsextremist. Nun sitzt er im Rat der Stadt Dortmund. Viele Bürger sind entsetzt über die Karriere von "SS-Siggi". Die erste Sitzung des neu gewählten Dortmunder Stadtrats fand unter Polizeischutz statt.
"2014-06-19T08:20:00+02:00"
"2020-01-31T13:48:05.472000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-dortmund-und-der-umgang-mit-ss-siggi-100.html
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Ampelkoalition streitet über Kindergrundsicherung
Die verschiedenen familienpolitischen Leistungen sollen mit der Kindergrundsicherung gebündelt werden (picture alliance / Robin Utrecht)
Münchenberg, Jörg
Der Streit über die Kindergrundsicherung innerhalb der Ampelkoalition geht weiter. Während die Bundesfamilienministerin mehr Geld für das Vorhaben gefordert hat, blockiert die FDP. Auch beim Thema Heizungsaustausch gibt es Zoff.
"2023-04-03T12:12:00+02:00"
"2023-04-03T12:24:34.431000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-zankaepfel-in-der-ampelkoalition-dlf-e59f9da5-100.html
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„Blick hinter die Maske“ zeigt Täterstrategien
Ursula Enders (Mitte) von Zartbitter e.V. hat das Video "Blick hinter die Maske" entwickelt. (Andrea Schültke - Deutschlandradio) Gerd ist 22 Jahre alt, will Lehrer werden und hat eine Lizenz als Fußballtrainer. Er ist Täter, macht sich strafbar, denn er konsumiert Missbrauchsabbildungen von Kindern im Internet. Irgendwann reicht ihm das nicht mehr: "Wie komme ich mit Jungen in Kontakt? Am liebsten mit so einem sportlichen, cleveren Zwölfjährigen?", fragt sich Gerd in dem Video. Dann geht er planmäßig vor. Als Fußballtrainer findet er schnell einen Job, kommt im Verein bei Eltern und Kindern gut an. Einem Jungen nähert er sich gezielt. Erst sind es zufällige Berührungen, dann in der Umkleide der geplante Griff zwischen die Beine des Jungen: "Ups, sorry, da habe ich dir aus Versehen an den Arsch gepackt." Am Ende filmt der Trainer Missbrauchsdarstellungen mit Jungen aus der Mannschaft. Ursula Enders von der Fachberatungsstelle Zartbitter e.V. hat das Video "Blick hinter die Maske" über Täterstrategien entwickelt. Verführung und Schweigegebote gehören zur Täterstrategie Ihre Botschaft: Täter manipulieren das gesamte Umfeld – auch die Eltern, damit die später den Kindern nicht glauben. "Und dann überwinden sie den Widerstand der Kinder durch Verführung, durch Schweigegebote, durch Vernebelung und steigern immer parallel die Handlungen. Das heißt, wenn die Umwelt die Übergriffe am Anfang ernst nimmt und direkt aktiv einschreitet, können wir massive Formen sexueller Gewalt zumindest erheblich reduzieren." Für Stephan Osnabrügge, den Kinderschutzbeauftragten des DFB, eine wichtige Aufgabe der Vereine: "Die Strategie des DFB ist, dass wir Täterstrategien aufzeigen und dass wir Vereine begeistern, für dieses Thema zu streiten und sich damit zu befassen." Sexualisierte Gewalt - FN-Betroffenenrat konstituiert sichAls erster Sportverband in Deutschland hat die Deutsche Reiterliche Vereinigung FN, Betroffenen sexualisierter Gewalt im Reitsport aufgerufen, sich zu melden. Seit einer Woche gibt es nun den ersten Betroffenenrat eines Sportverbandes in Deutschland. Das Video sollen die Landesverbände bei Präventionsveranstaltungen und Schulungen einsetzen. Und dann an die Basis bringen, zu den etwa 25.000 Fußballvereinen in Deutschland. Datenschutz behindert weiteres Warnsystem Wenn die für das Thema Kinderschutz sensibilisiert sind, senden sie potenziellen Tätern das Signal: Dieser Verein ist ein unbequemer Ort für Täter. Suchen die sich dann einen anderen Club, verhindert - laut Stephan Osnabrügge - der Datenschutz, dass diese anderen Vereine gewarnt werden. Da sei auch die Politik gefordert. "Es ist nicht so, dass der Datenschutz über Kinderschutz geht. Es ist häufig auch eine Frage, wie man das macht und da muss man sich das jetzt sehr genau angucken und das werden wir mit Herrn Dr. Osnabrügge auch noch weiter besprechen." So Nordrhein-Westfalens Familienminister Joachim Stamp. Sein Haus hat das Video "Blick hinter die Maske" finanziell gefördert. Der Film endet damit, dass Trainer Gerd ins Gefängnis muss und der DFB ihm seine Trainerlizenz entzieht. Oft Wunschdenken, denn ein Lizenzentzug im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch ist sehr selten, und dass Täter vor Gericht kommen, eher die Ausnahme.
Von Andrea Schültke
Es kommt immer wieder vor, dass Kinder in Sportvereinen Opfer sexualisierter Gewalt werden. Der Deutsche Fußballbund geht dagegen mit Präventionsveranstaltungen vor, wo zukünftig auch ein Video eingesetzt wird. Es heißt „Blick hinter die Maske" und soll dabei helfen, Täter frühzeitig zu erkennen.
"2021-09-21T22:53:00+02:00"
"2021-09-22T09:29:08.610000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-missbrauch-blick-hinter-die-maske-zeigt-100.html
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"Die USA haben kaum Einfluss, die Europäer ohnehin keinen"
Guido Steinberg, Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. (Imago / Müller-Stauffenberg) Tobias Armbrüster: Drei Männer haben sich da gestern in Teheran getroffen, drei Präsidenten, die alle mitreden möchten beim Krieg in Syrien: Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Hassan Rohani. Die Präsidenten von Russland, der Türkei und dem Iran, alle drei sind mit eigenen Truppen in diesem Krieg aktiv, und sie wollten gestern besprechen, wie es weitergehen soll mit Syrien und auch mit der letzten verbliebenen Rebellenhochburg, der Region Idlib, aber dieses Treffen in Teheran, das ist gestern ohne konkretes Ergebnis zu Ende gegangen. Was das jetzt heißt, das wollen wir etwas genauer besprechen. Bei uns am Telefon ist Guido Steinberg, Nahost-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schönen guten Morgen! Guido Steinberg: Guten Morgen, Herr Armbrüster! Armbrüster: Herr Steinberg, keine Einigung also zwischen der Türkei, dem Iran und Russland. Was bedeutet das für Syrien? Steinberg: Das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach, dass die von den Syrern angekündigte große Offensive in Idlib in den nächsten Tagen oder vielleicht Wochen beginnen wird. Es gibt ja schon seit einiger Zeit Hinweise darauf, dass sie beginnen könnte, und so enttäuscht, wie der türkische Präsident sich gestern gegeben hat, darüber, dass die anderen beiden Staaten seine Forderung nach einem Waffenstillstand nicht angenommen haben, nicht akzeptiert haben, müssen wir davon ausgehen, dass diese Offensive jetzt kommt. Armbrüster: Dann können wir das so sagen, Iran und Russland sind dafür, weiter zu bomben, auch gegen Idlib, und die Türkei, die wollte das eigentlich verhindern. Ist das so korrekt? Steinberg: Ja, das ist richtig. Die Türkei hat immer versucht in den letzten beiden Jahren, im Verlauf dieses sogenannten Astana-Prozesses, der geführt wurde von Russland, von Iran und von den Türken, seine Position in Syrien zu wahren. Die Türkei ist seit langer Zeit der wichtigste Unterstützer der Aufständischen in Syrien. Die sind jetzt in Idlib konzentriert, die Türkei hat versucht, sie zu retten. Russland, Iran stehen auf der Seite des Regimes, und die wollen jetzt diesen Bürgerkrieg beenden, indem sie die Provinz Idlib einnehmen und damit auch die Türkei und ihre Verbündeten aus dem Land vertreiben. "Eine Koalition ist das überhaupt nicht" Armbrüster: Was ist das denn eigentlich für eine Koalition dieser drei Männer oder dieser drei Staaten? Ist das tatsächlich ein Bündnis, oder gibt es da jetzt sozusagen einen tiefen Riss zwischen den beiden, Iran und Russland auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen? Steinberg: Also eine Koalition ist das überhaupt nicht, sondern das ist nur ein Format, das diese drei Staaten gefunden haben, um über Syrien zu reden, und diesen Riss gibt es schon von Anbeginn. Russland und Iran stehen auf der Seite des Assad-Regimes, die Türkei hat lange Zeit einen Sturz des Assad-Regimes gefordert, hat dafür auch viel getan, hat ausländische Kämpfer ins Land gelassen, hat lokale Gruppierungen, die vor allem die salafistischen Ahrar al-Scham, die freien Männer von Syrien, gefördert, wahrscheinlich auch gute Beziehungen zur Nusra-Front unterhalten. Also diesen Riss gibt es ohnehin, die Seiten haben sich angenähert, vor allem deshalb, weil die Türkei ihre Prioritäten in den letzten zwei, drei Jahren etwas geändert hat. Die Türkei hat sich nämlich darauf versteift, die syrischen Kurden, die aus Sicht Ankaras zur PKK gehören, zunächst einmal einzudämmen, vielleicht sogar ihre faktische Autonomie im Norden des Landes zu beenden, und um dieses Ziel zu erreichen, hat die Türkei die Verhandlungen geführt und hat letzten Endes für dieses Ziel seine Verbindungen zu den syrischen Aufständischen geopfert. Wahrscheinlich werden wir jetzt sehen, dass Idlib irgendwann eingenommen wird, die Aufständischen vollkommen geschlagen sind und die Türkei dann gleichzeitig ein Ziel doch erreicht, nämlich die syrischen Kurden besser unter Kontrolle zu bekommen. Armbrüster: Herr Steinberg, die Telefonleitung ist etwas schwach. Wir hören da viele Aussetzer. Vielleicht, wenn das für Sie möglich ist, könnten Sie mit dem Apparat etwas näher an ein Fenster gehen, dann haben wir die Erfahrung gemacht, dann geht das etwas leichter. Steinberg: Ja, mache ich. Armbrüster: Lassen Sie uns noch einmal blicken auf diese drei unterschiedlichen Parteien. Könnte es jetzt sein, wenn das tatsächlich jetzt eine Offensive geben wird gegen die Region Idlib, könnten wir dann auch erleben, dass sozusagen iranische und russische Kräfte gegen die Türkei kämpfen werden? Also werden sozusagen möglicherweise neue Mächte in diesen Krieg hineingezogen, die sich gegenseitig bekämpfen? Steinberg: Das ist theoretisch möglich. In der Provinz Idlib gibt es zwölf sogenannte Beobachtungsposten der türkischen Armee, die sind weit auf syrischem Territorium und besetzt somit etwa tausend Mann. Ich gehe allerdings fest davon aus, dass die syrischen Truppen und ihre iranischen und russischen Verbündeten alles tun werden, damit diese Beobachtungsposten nicht getroffen werden. Vielleicht werden wir sogar sehen, dass die Türken sich in den nächsten Tagen vor Beginn einer Offensive zurückziehen. Es gibt auf beiden Seiten überhaupt kein Interesse an einer militärischen Konfrontation. Beide Seiten wissen, dass das sehr gefährlich wäre, aber die Gefahr besteht ganz einfach deshalb, weil sich türkische Truppen, iranische Milizen und russische und syrische Truppen in Syrien auf syrischem Territorium gegenüberstehen. Armbrüster: Und die übrige Welt, der Westen, schaut dem Ganzen einfach zu. Steinberg: Ja, das haben wir in den letzten Tagen beobachten müssen. Es gibt einige sehr schwache Äußerungen aus Washington, eine humanitäre Katastrophe doch bitte zu verhindern. Es gibt Warnungen, dass die USA reagieren könnten, wenn wiederum vom syrischen Regime Giftgas eingesetzt wird, aber das ist doch angesichts der Fragen, um die es da geht, nämlich die möglicherweise anstehende Eroberung einer Provinz, in der zwischen zwei und dreieinhalb Millionen Menschen leben, sehr, sehr schwach. Die USA haben kaum Einfluss, die Europäer ohnehin keinen. Zwei Möglichkeiten zur Rettung der Zivilisten Armbrüster: Lassen Sie uns auf diese Provinz, auf diese Region blicken. Wer lebt da eigentlich noch in dieser Region Idlib? Wie setzt sich die Bevölkerung dort zusammen? Steinberg: In Idlib lebt zunächst einmal die Bevölkerung, die dort schon seit Jahren lebt. Das sind so etwas anderthalb Millionen Menschen, weit überwiegend arabische Sunniten, die den Aufstand auch überwiegend unterstützt haben. Also diese Region ist seit 2011, 2012 spätestens, eine der großen Hochburgen des Aufstands. Hinzu kommen viele Syrer, die in den letzten Jahren ihre Heimatgebiete nach Evakuierungen verlassen mussten, und diese Heimatgebiete waren auch Hochburgen der Aufständischen, wie zum Beispiel in Ost-Aleppo oder im östlichen Grüngürtel von Damaskus, und ganz, ganz wichtig: In dieser Region haben viele islamistische Gruppierungen, aber auch einige Gruppierungen ohne ideologische Prägung ihre Hochburgen, und die stärkste Gruppe, um die es da geht, die ist die sogenannte Nusra-Front, die sich mittlerweile mehrfach umbenannt hat, der örtliche syrische Ableger der al-Qaida. Das sind zwischen 10- und 20.000 Mann, die diese Organisation kontrolliert, und das ist der wichtigste Gegner der Regimetruppen in dieser Gegend. Armbrüster: Ganz kurz zum Schluss, Herr Steinberg, die Frage, gibt es irgendeine Chance, dass die Zivilisten, die normalen Bürger, die in dieser Region leben, abziehen können, bevor es dort zu einer Offensive kommt? Steinberg: Es gibt zwei Möglichkeiten, eine ist praktisch, eine etwas theoretisch. Sie können nach Norden abziehen in Gebiete, die ohnehin von der Türkei besetzt sind, kurdische Gebiete um die Stadt Afrin, und wir können eigentlich nur hoffen, dass die Türkei darüber hinaus ihre im Moment sehr gut gesicherte Grenze nach Idlib hin öffnet, um Flüchtlinge in die Türkei zu lassen. Anders wird nicht zu verhindern sein, dass sehr, sehr viele Menschen bei dieser anstehenden Offensive sterben werden. Armbrüster: Guido Steinberg, Nahost-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik über die Konferenz gestern in Teheran und die weitere Zukunft in den kommenden Tagen in Syrien. Vielen Dank, Herr Steinberg, für das Gespräch! Steinberg: Ich danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Steinberg im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Eine Militäroffensive auf die syrische Provinz Idlib hält Guido Steinberg für wahrscheinlich. In diesem Fall könne man nur hoffen, dass die Türkei ihre sehr gut gesicherte Grenze nach Idlib hin öffne, um Flüchtlinge in die Türkei zu lassen, sagte der Nahost-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Dlf.
"2018-09-08T06:50:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:59.358000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nahost-experte-zu-syrien-die-usa-haben-kaum-einfluss-die-100.html
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Weniger Pestizide, gleicher Ertrag
Sind Pestizide wirklich notwendig? Das Netzwerk "dephy" in Frankreich meint nein. (picture alliance / dpa/ Andreas Franke) Im Herzen der Brie, 80 Kilometer östlich von Paris, bewirtschaftet Cyrille Milard rund 340 Hektar. Er baut Getreide an, dazu Zuckerrüben, Mais, Raps und Flachs. Und seit Milard 2001 den Hof von den Eltern übernahm, bemüht er sich, soweit wie möglich auf chemische Pflanzenschutzmittel zu verzichten. "Heute schaffe ich es, 25 Prozent weniger Pestizide einzusetzen. Insektizide verwende ich gar keine mehr ein. Dafür muss ich beim Mais nun auf biologische Waffen setzen, auf Insekten, die den Maiswurzelbohrer ausmerzen. Und zur Schädlingsbekämpfung besprühe ich manche Kulturen mit Zucker." Cyrille Milard gehört zum Netzwerk "Dephy", das das Pariser Landwirtschaftsministerium initiierte. 3.000 Höfe im ganzen Land sind bei "Dephy" zusammengeschlossen: Landwirte, die im Alltag testen, wie sich auf chemische Keulen verzichten lässt. Und akribisch Buch führen darüber, wie sie arbeiten, was und wie viel sie wann ausbringen, wie ihre Ernte ausfällt. Diese weltweit einmalige Datenbank haben die Wissenschaftler des Agrarforschungsinstituts INRA ausgewertet. Studienleiter ist Nicolas Munier-Jolain. "In 94 Prozent der Fälle zeigte sich: Betriebe, die weniger Pestizide einsetzen, sind mindestens so produktiv wie Betriebe mit höherem Pestizidverbrauch. Daraufhin haben wir simuliert, um wie viel diejenigen Höfe, die heute massiv chemische Pflanzenschutzmittel verwenden, deren Einsatz ohne Rentabilitätsverlust reduzieren können. Der landesweite Durchschnitt ergibt: um die 30 Prozent." Notwendige Veränderungen für den Umweltschutz Cyrille Milard hat es eine Zeit lang geschafft, seinen Pestizideinsatz gar zu halbieren. Der Landwirt nahm an einem Fünfjahresprogramm zum Wasserschutz teil: Aus seiner Region stammt ein Großteil des Trinkwassers für Paris. Für das Risiko, dass er mit seinem Betrieb dabei einging, erhielt er eine Entschädigung. Allerdings hat Milard dafür einiges umgestellt, unter anderem auf widerstandsfähigere Anbausorten. "Ich habe später als üblich ausgesät und nicht mehr systematisch gespritzt, sondern die Felder intensiver überwacht. Man muss beim Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln stärker das Für und Wider abwägen. Zudem habe ich nach und nach begonnen, Äcker zwischen Ernte und neuer Aussaat öfter zu pflügen, allerdings nur an der Oberfläche. Damit ist es mir zum Beispiel gelungen, fast vollständig auf Glyphosat zu verzichten." Niederschmetternde Bilanz Nach fünf Jahren jedoch zog der Landwirt eine niederschmetternde Bilanz: Seine Felder waren voller Unkraut, dem er nur mit massiven Dosen Chemie Herr werden konnte. Milard wünscht sich deshalb mehr Forschung in Richtung pestizidarmer Anbaumethoden. INRA-Forscher Nicolas Munier-Jolain liegt eine Erkenntnis besonders am Herzen: Der massive Einsatz chemischer Produktionshilfen sei geradezu Bedingung für das derzeit vorherrschende Agraproduktionsmodell. "Seit Jahrzehnten dominiert in der französischen Landwirtschaft der Trend, zu rationalisieren und sich zu spezialisieren, mit dem Ziel, die Effizienz zu erhöhen. Und das erklärt, warum global gesehen die französische Landwirtschaft immer abhängiger wird vom Pestizideinsatz." Um ein Viertel hat Getreidebauer Milard seinen Pestizideinsatz senken können, dank anderer Arbeitsmethoden. Mehr ginge spontan nur, wenn er sich Tiere in den Stall stellen würde, meint der Landwirt. "Dann könnte ich auch Pflanzen in Zwischenkultur anbauen, die mir den Einsatz chemischer Unkrautvernichter ersparen. Pflanzen, die zwar für den Verkauf uninteressant sind, die ich aber als Tierfutter verwerten könnte. Und Gülle und Dung aus dem Stall ersetzen chemischen Dünger." Landwirtschaftskollege, die sich Tiere angeschafft haben, gingen deshalb noch weiter, sagt Milard: Sie seien gerade dabei, auf Bioproduktion umzustellen.
Von Suzanne Krause
Auf Initiative des französischen Landwirtschaftsministeriums haben 3.000 Bauern in den vergangenen fünf Jahren getestet, inwieweit sich ihre Ernte verringert, wenn sie weiniger Pestizide verwenden. Ihre Erfahrungen haben sie in einer Datenbank festgehalten. Die Ergebnisse zeigen: Es geht auch ohne Glyphosat und Co - allerdings mit Einschränkungen.
"2017-05-09T11:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:27:02.072000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-bauern-auf-neuen-wegen-weniger-pestizide-100.html
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Drohnen für drinnen
Auf dem Gelände des Instituts für Informatik in Bonn regnet es in Strömen. Denkbar ungünstiges Wetter für Drohnen. Doch Sven Behnke und sein Team stört das nicht. Denn die Forscher testen ihre Drohne in einer ausrangierten Garage der Bonner Polizei. "Ich persönlich versuche, das D-Wort zu vermeiden, einfach weil mich das zu sehr an militärische Anwendungen erinnert und das ist überhaupt nicht das, was wir hier verfolgen." Langsam hebt das pizzakarton-große Gerät ab und schwebt durch den Raum. Die acht Rotoren machen gewaltigen Lärm. Denn es braucht Power, um eine mit Technik vollgestopfte Maschine zum Fliegen zu bringen. "Es ist so, dass sie wahrscheinlich kaum einen Flugroboter finden, der so viele Sensoren mitführt wie das Gerät, das sie hier gehört haben. Der wichtigste Sensor für uns ist ein 3D-Laserscanner, der dreht sich einmal pro Sekunde und misst Entfernungen in alle Raumrichtungen um das Fluggerät bis zu 30 Metern. Weiterhin gibt es zwei sehr weitwinklige Stereokamerapaare, die auch eine Rundumsicht bieten und insbesondere die Schätzung der Bewegung des Fluggeräts erlauben. Und für die Wahrnehmung von transparenten Hindernissen gibt es einen Ring aus acht Ultraschallsensoren, der auch noch, sozusagen, als letzte Rettung dienen kann." Ausgestattet mit diesen Sensoren kann der Flugroboter eine 3D-Karte der Umgebung erstellen. Um die gesamte Garage zu scannen, reichen ihm gerade einmal 40 Sekunden. Selbst Autos und Fahrradständer sind auf der 3D-Karte zu erkennen. Flugroboter kann Menschen ausweichen Der Flugroboter kann aber noch mehr. Er kann ohne fremde Hilfe manövrieren und Menschen ausweichen. Sven Behnke führt das mit einem seiner Mitarbeiter vor. "Wir demonstrieren hier gerade die Hindernisvermeidung. Der Flugroboter soll eigentlich hier auf der Stelle stehen bleiben und gar nichts tun. Aber wenn sich ein Hindernis nähert wie jetzt der Herr Nieuwenhuisen, dann merkt der Flugroboter das und fliegt so, dass die Kollision vermieden wird" Perfekt funktioniert das autonome Fliegen allerdings noch nicht. Deshalb ist Sven Behnke jedes Mal nervös, sobald der Flugroboter auf Automatik schaltet: "Es ist natürlich so, dass bei diesen Flugrobotern im Zweifel die Schwerkraft siegt. Und von daher ist es schon immer spannend, wenn man die Kontrolle aus der Hand gibt und dem technischen System überlässt." Langfristig glauben die Bonner Informatiker aber, dass der Flugroboter ohne fremde Hilfe fliegen kann. Bei heutigen Aufzügen gebe es schließlich auch keinen Liftboy, der die Kabine steuert. Und eine konkrete Idee für die Anwendung der Indoor-Drohne hat Sven Behnke auch schon: "So was könnte möglicherweise hilfreich sein, wenn Gefahr im Verzug ist, also vielleicht bei einem Brand oder ähnlichen Ereignissen, um zu sehen, ob vielleicht noch Menschen an einer Stelle sind, die man von der Straße aus nicht einsehen kann." Bis aber die Drohne zu ihrem ersten Rettungseinsatz kommt, muss sie noch so manche Stunde in der Garage fliegen.
Von Haluka Maier-Borst
Brände löschen, Regale bestücken, Decken reparieren - auch in geschlossenen Räumen warten Aufgaben für Flugroboter. Doch die Indoor-Navigation stellt die Entwickler vor besondere Herausforderungen. Informatiker in Bonn schreckt das nicht ab.
"2015-01-15T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:17:08.684000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/flugroboter-drohnen-fuer-drinnen-100.html
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