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Solar Orbiter wieder an der Erde
Solar Orbiter bei der Beobachtung der Sonne (Illustration) (ESA) Was zunächst danach klingen mag, als habe sich die Sonnensonde verirrt, ist ein ausgeklügelter Plan. Durch enge Vorbeiflüge an Planeten lässt sich die Bahn der Sonde ändern, ohne dass dafür der kostbare Treibstoff an Bord benutzt werden muss. Nach der Passage an der Erde beginnen die intensiven wissenschaftlichen Beobachtungen. Der Solar Orbiter trägt zehn Instrumente, um die Sonne zu erforschen. Er untersucht die geladenen Teilchen des Sonnenwinds, die unser Stern ins All pustet. Mit Kameras im Röntgen-, Ultraviolett- und sichtbaren Licht macht die Sonde detailreiche Aufnahmen der Oberfläche und der Atmosphäre der Sonne. Beim Vorbeiflug von Solar Orbiter drohen Risiken durch Weltraummüll (ESA) Der Solar Orbiter wird die Sonne buchstäblich aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten. Denn seine Bahnneigung nimmt während der bis zu zehnjährigen Mission immer mehr zu – auf bis zu 33 Grad gegen den Sonnenäquator. Dann lassen sich auch die Pole gut beobachten, die von der Erde aus praktisch unsichtbar sind. Zudem nähert sich die Sonde unserem Stern auf bis zu 42 Millionen Kilometer – sie kommt der Sonne deutlich näher als der Planet Merkur. Dies alles geht aber nur, weil Solar Orbiter immer wieder mit ganz natürlicher Hilfe seine Bahn ändert. Mindestens noch sechsmal dient die Gravitationswirkung der Venus als „Triebwerk“ – und diese Woche auch die der Erde. ESA-Website des Solar OrbiterInformationen zum Vorbeiflug von Solar Orbiter an der Erde
Von Dirk Lorenzen
Im Februar 2020 startete die ESA-Sonde Solar Orbiter. Seitdem hat sie zweimal dicht unseren inneren Nachbarplaneten Venus passiert – zuletzt vor rund drei Monaten – und erreicht am Samstag die Erde.
"2021-11-22T02:05:00+01:00"
"2021-11-22T02:05:00.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sternzeit-solar-orbiter-100.html
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3.000 Flüchtlinge binnen 24 Stunden
Flüchtlinge, die von der italienischen Marine im Mittelmeer aufgegriffen wurden. (Archivbild) (dpa / Italian Navy Press Office ) Italienischen Behörden zufolge hatte das Marineschiff "Libra" 450 Migranten an Bord geholt. Es begleitete zudem dabei einen Schlepper, der etwa 1.300 Flüchtlinge in den Hafen von Ragusa bringen sollte. Ein Fischerboot mit 250 Migranten war bereits dorthin geschleppt worden. Alle Migranten sollten noch am Samstag auf Sizilien ankommen. Auch der sizilianische Hafen Empedocle war Anlegestelle für Flüchtlinge. Kurs dorthin hatte das Patrouillenboot "Peluso" mit mehr als 307 Syrern an Bord genommen, ebenso das Marineschiff "Euro", das 531 Flüchtlinge gerettet hatte. Vor allem aus Syrien kommen wegen des andauernden Bürgerkrieges vermehrt Migranten in Italien an. 39.000 Ankünfte allein in diesem Jahr Jeden Monat versuchen tausende Menschen, von der nordafrikanischen Küste aus in überladenen Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Nach Angaben der italienischen Regierung strandeten im Laufe des Jahres bereits 39.000 Flüchtlinge an den Küsten Italiens oder wurden aufgegriffen. Die 2013 registrierte Gesamtzahl von 43.000 Ankünften dürfte damit in diesem Jahr deutlich übertroffen werden. Bei den Überfahrten kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen. Eines der schlimmsten Unglücke ereignete sich im Oktober 2013, als vor Lampedusa 366 Flüchtlinge ums Leben kamen. Das überfüllte Boot war in der Nähe der Insel gekentert. Rom hatte danach die Operation "Mare Nostrum" initiiert, bei der Kriegsschiffe, Drohnen und Hubschrauber eingesetzt werden, um Flüchtlingsboote ausfindig zu machen. Experten für schnelleres Asylverfahren in der EU Nach Ansicht des Abteilungsleiters für Asyl in der EU-Kommission, Matthias Oel, muss die EU mehr Geld in sichere und schnellere Flüchtlingsverfahren investieren. Beim Katholikentag in Regensburg plädierte Oel am Samstag für mehr Unterstützung der EU-Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisengebieten. Eine bessere Zusammenarbeit mit afrikanischen Herkunftsländern bezeichnete er als dringend notwendige Maßnahme im Kampf gegen Schleuser und die Gefahren der illegalen Flucht. Ähnlich äußerte sich der Vizepräsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Michael Griesbeck. "Die Zahl derer, die ihr Leben auf dem Weg nach Europa riskieren, muss verringert werden." Der Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, Pater Balleis, appellierte unterdessen an die Politik, mehr Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. (tön/ion)
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Die Zahl der Migranten, die von Nordafrika aus Italien anstreben, nimmt stetig zu. Doch so viele wie an diesem Samstag waren es vermutlich noch nie. Innerhalb von 24 Stunden wurden mehr als 3.000 Flüchtlinge aufgegriffen. Viele stammen aus Syrien.
"2014-05-31T16:31:00+02:00"
"2020-01-31T13:44:46.129000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mittelmeer-3-000-fluechtlinge-binnen-24-stunden-100.html
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Hörster: Deutsche Außenpolitik sollte zur Mäßigung raten
Silvia Engels: In Ägypten sind gestern die internationalen Vermittlungsbemühungen gescheitert, die Militär und Übergangsregierung einerseits und die Opposition der Muslimbrüder zu Gesprächen über die Zukunft bringen sollten. Im weiter westlich gelegenen Staat Tunesien ist die Lage nicht ganz so dramatisch, doch auch dort entladen sich seit Wochen Spannungen zwischen der dortigen islamistischen Regierung und der säkularen Opposition. Ein langjähriger Kenner Tunesiens und der gesamten Region ist Joachim Hörster, für die CDU im Auswärtigen Ausschuss und im Präsidium der deutsch-tunesischen Gesellschaft. guten Morgen, Herr Hörster.Joachim Hörster: Guten Morgen, Frau Engels!Engels: In Tunesien soll es ja im Dezember Neuwahlen geben, aber die Verfassungsgebende Versammlung hat ihre Arbeit vorläufig gestoppt. Die Regierung will nicht vorab zurücktreten und es wird demonstriert. Droht Tunesien, mit dem eingeleiteten Wandel nicht fertig zu werden?Hörster: Das kann durchaus passieren. Die Lage ist jedenfalls unübersichtlich. Das, was sich herausarbeiten lässt, ist, dass es im Grunde genommen zwei große Richtungen gibt. Das eine ist die Richtung El Nahda, mehr islamistischer Staat und mehr religiös orientierter Staat, und das andere ist die mehr säkulare Richtung, der die meisten Oppositionsparteien angehören und die einen liberalen Staat haben wollen nach westlichem Vorbild.Engels: Ist denn dieser Graben zwischen islamistischen Kräften einerseits und säkularen Strömungen andererseits tiefer geworden, oder fällt er einfach mehr auf?Hörster: Ich glaube, dass dieser Graben tiefer geworden ist, weil nämlich diejenigen, die bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung die Mehrheit bekommen haben, nämlich die El-Nahda-Partei, die Islamisten, dass die nicht verstanden haben, dass sie trotz ihrer erdrückenden Mehrheit nun auch den Minderheiten Raum lassen müssen, ihre politischen Ziele in der Verfassung festschreiben zu können. Das hat man bisher verhindert und deswegen kommt es zu diesem Bruch.Engels: Da drängen sich ja Vergleiche zur Entwicklung in Ägypten auf. Da hat ja nach dem Sturz der Regierung auch ein Wandel stattgefunden. Gehen die Parallelen so weit, dass auch in Tunesien ein Machtwechsel durch das Militär drohen könnte?Hörster: Nein, das auf keinen Fall, weil das Militär in Tunesien eine völlig andere Rolle spielt als in Ägypten. Das tunesische Militär war nie ein Machtfaktor des früheren Systems gewesen, ist auch kein Machtfaktor in dem jetzigen System, und das tunesische Militär hat sich auch nicht instrumentalisieren lassen gegen die Revolution in Tunesien. Also man kann das nicht vergleichen. Die Armee ist in Ägypten weitaus politischer und weitaus mehr in der Macht vernetzt, als das in Tunesien der Fall ist.Engels: Muss man denn fürchten, dass auch in Tunesien Gewalt ausbrechen könnte?Hörster: Sie sehen ja, dass in Tunesien die beiden politischen Morde, die stattgefunden haben, der an Brahimi jetzt im Juli und der früher im Februar an Belaid, dass diese beiden Morde schon ausgereicht haben, um die Straße zum Kochen zu bringen. Wenn Sie das mit Ägypten vergleichen, wo allein in einer Nacht mehr als 70 Tote zustande kommen, ohne dass die im Einzelnen referiert werden, in Tunesien aber zwei politische Morde schon dazu führen, dass die Bevölkerung sich erhebt und gegen die Regierung Front macht, dann stellt man fest, dass hier doch ganz andere Maßstäbe zur Geltung kommen.Engels: Was kann die deutsche Außenpolitik tun, um Tunesien in dieser schwierigen Phase zu helfen?Hörster: Die deutsche Außenpolitik kann eigentlich nur zur Mäßigung raten. Die deutsche Außenpolitik kann die Tunesier immer wieder darauf hinweisen, dass sie geordnete Verhältnisse in ihrer Neuorganisation des Staates einbringen müssen, damit es auch wirtschaftlich wieder läuft, weil die entscheidende Größe bei all diesen Auseinandersetzungen ist, dass die Leute derzeit keine wirtschaftliche Perspektive sehen, dass sie eine hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere hohe Jugendarbeitslosigkeit jeden Tag verspüren, ohne dass sie einen Ausweg finden, und wir haben uns von der deutschen Seite ja immer darauf konzentriert zu sagen, die Wirtschaft muss ins Laufen kommen, sie muss wieder an Stabilität gewinnen, damit es im Land insgesamt besser wird. Aber wenn die Verhältnisse so andauern, wie das jetzt der Fall ist, dann wird der Tourismus, der ein wesentliches Standbein der tunesischen Wirtschaft ist, sehr leiden und darüber hinaus wird es auch sehr schwierig werden, Neuinvestitionen in diesem Land zu ermöglichen, denn man muss ja immerhin sagen, dass die im Land verbliebenen deutschen Unternehmen nach wie vor dort produktiv sind, keine Investitionen zurückgenommen haben und immer noch darauf hoffen, dass es ein gutes Ende in Tunesien gibt.Engels: Hoffen Sie das auch?Hörster: Ich hoffe das auch, weil die Tunesier sind diejenigen, die auf der einen Seite die arabische Kultur mit der europäischen Kultur verbinden können. Sie sind die am weitesten Europa angenäherte Bevölkerung, auch was den Bildungsgrad anbetrifft, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, jedenfalls nach dem bisherigen System, und deswegen wäre es wirklich schade und eine mittlere Katastrophe, wenn der Weg zur Demokratie dort verschüttet würde.Engels: Beenden wir das Gespräch noch mit einem kurzen Blick auf Ägypten, wo ja die Zeichen schon länger auf Eskalation stehen. Nach dem Scheitern der internationalen Vermittlungsgespräche warnt nun mancher Beobachter, dass nach dem Ende des Ramadan es wieder blutig werden könnte. Was erwarten Sie?Hörster: Ja, ich halte das nicht für ausgeschlossen, denn hier geht es wirklich um einen harten Machtkampf. Die Muslimbrüder haben die Wahlen gewonnen, was manch einen überrascht hat, zu meiner eigenen Verwunderung, denn die Muslimbrüder waren die einzigen sozusagen, die man wählen konnte, wenn man das korrupte System von Mubarak ablehnen wollte. Aber die Muslimbrüder haben ebenso wenig wie die El Nahda in Tunesien verstanden, dass man auch Minderheiten zur Geltung kommen lassen muss, selbst wenn man auf demokratische Weise Mehrheiten gewonnen hat, und die Muslimbrüder haben ihre demokratisch gewonnenen Mehrheiten missbraucht, indem sie einfach ihre Macht in die falsche Richtung angewendet haben und die kleineren, die anderen politischen Gruppierungen nicht haben zur Geltung kommen lassen, und jetzt geht es um die Macht und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Militärs auch nur einen Millimeter nachgeben, bis sie die Macht wieder in der Hand haben.Engels: Joachim Hörster, Mitglied für die CDU im Auswärtigen Ausschuss. Wir sprachen mit ihm über Ägypten, aber zuvor ausführlich über die Lage in Tunesien. Vielen Dank für Ihre Zeit.Hörster: Gerne.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Der ermordete tunesische Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi wird in Tunis zu Grabe getragen. (picture alliance / dpa / Amine Landoulsi)
Moderation: Silvia Engels
Die Lage in Tunesien sei unübersichtlich, sagt der CDU-Außenpolitiker Joachim Hörster. Seit den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung sei der Graben zwischen islamistischen und westlich orientierten Strömungen tiefer geworden.
"2013-08-08T08:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:29:58.527000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoerster-deutsche-aussenpolitik-sollte-zur-maessigung-raten-100.html
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"Fast täglich werden Dörfer überfallen"
Unzählige Menschen sind auf der Flucht vor Boko Haram (dpa / picture alliance / EPA) Christine Heuer: Boko Haram - das sind die nigerianischen Islamisten, das ist eine besonders grausame Terrormiliz -, Boko Haram also hat einen ganzen Ort dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen dort massakriert. Gemeldet wurde das zuerst am Wochenende, doch es blieb lange unklar, was genau da geschehen ist und in welchem Ausmaß im nordnigerianischen Baga. Seit heute wissen wir mehr. Amnesty International hat einen Bericht vorgelegt. Adrian Kriesch, freier Journalist in Lagos - dort erreichen wir ihn -, was steht in diesem Bericht drin? Adrian Kriesch: Das Wichtigste in dem Bericht, das sind eigentlich die Luftaufnahmen, die Amnesty International dort veröffentlicht. Und zwar sind das Luftaufnahmen, die zum einen vor dem Angriff gemacht wurden und zum anderen danach, und dort kann man erkennen, dass in Baga und vielen Dörfern ringsherum extreme Zerstörung vorzufinden ist. In einem Nachbarort sind mehr als 3000 Gebäude niedergebrannt und das zeigt ein bisschen die Dimension dieses Übergriffes. Trotzdem muss man sagen, vieles ist noch unklar. Es gab ja Opferzahlen, bis zu 2.000 Personen wurden angeblich umgebracht. Da gibt es allerdings kaum Bestätigung für. Eine Quelle war ein Augenzeuge, der das geschätzt hat. Das Militär in Nigeria hingegen hat gesagt, nein, es sind maximal 150 Tote. Und da aktuell auch noch gekämpft wird - das Militär versucht, den Ort wieder einzunehmen -, kommt keiner dorthin und kann keiner unabhängige Informationen über die tatsächliche Lage vor Ort rausbekommen. Heuer: Wem glauben Sie denn mehr, dem Augenzeugen oder dem Militär? Kriesch: Das ist schwer zu sagen. Das Militär hat sich in letzter Zeit als nicht sehr glaubhafte Quelle erwiesen. Die haben mehrfach Falschmeldungen rausgegeben und versucht, sie noch mal nach unten zu korrigieren. Auf der anderen Seite wie gesagt: Die Zahl 2.000 wurde nur von einem einzigen Menschen in den Raum geworfen. Die ist möglicherweise auch zu hoch. Aber wie gesagt, das sind alles reine Spekulationen. Vielleicht weiß man es in ein paar Wochen, vielleicht wird man es aber sogar nie rausbekommen, weil die Situation im Nordosten des Landes ist ja schon katastrophal seit mehreren Jahren. Heuer: Die Opferzahlen sind das eine, die Schicksale der Menschen etwas anderes. Was berichten die Augenzeugen über die Opfer in Baga? Kriesch: Die Opfer in Baga berichten gruseliges, die es geschafft haben, in sichere Städte zu kommen. Die berichten von Massakrierungen von Boko Haram-Kämpfern, die in den Ort gezogen sind und ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf alle geschossen haben und versucht haben, alle möglichen Leute umzubringen. Die Leute berichten von Leichenbergen, die sie auf ihrer Flucht gesehen haben. Das sind wirklich sehr, sehr schreckliche Bilder. Aber man muss auch hier noch mal klar machen: Baga ist jetzt nur ein Beispielfall. Das passiert seit Monaten im Nordosten Nigerias, und das fast täglich, dass Dörfer überfallen werden, dass es Anschläge gibt. Ich war selbst häufiger im Nordosten unterwegs und habe dort mit Flüchtlingen gesprochen, die diese Sachen live gesehen haben, und das sind wirklich die gruseligsten Geschichten, die man da hört. Am schockierendsten finde ich eigentlich, dass die Leute nie irgendwelche staatliche Unterstützung bekommen auf ihrer Flucht. Viele Leute erzählen, dass sie komplett auf sich selbstgestellt sind, um in den nächsten größeren sicheren Ort zu kommen, und selbst da gibt es dann noch Probleme bei der Versorgung, dass sie zum Beispiel eine Unterkunft oder auch Verpflegung bekommen. "Diese Attacken gibt es seit 2009" Mitglieder von Boko Haram (Bild: AFP) (AFP) Heuer: Danach wollte ich Sie fragen. Wie geht die Regierung in Lagos mit den Geschehnissen im Norden des Landes um? Kümmern die sich genug? Ist das eine Unfähigkeit? Kommen die nicht heran? Oder interessieren sie sich nicht genug für die Menschen im Norden Nigerias? Kriesch: Mittlerweile muss man ganz klar sagen, dass es eine Unfähigkeit ist, dass die Regierung und auch das Militär das nicht hinbekommen, die Situation unter Kontrolle zu kriegen. Seit 2009 gibt es diese Attacken von Boko Haram und die Regierung überbietet sich seitdem immer mit flotten Sprüchen und Ankündigungen, dass bald alles unter Kontrolle gebracht wird. Es gibt natürlich immer wieder diese Korruptionsvorwürfe, die allerdings sehr, sehr schwer zu belegen sind, aber meines Erachtens zumindest sehr glaubwürdig sind. 20 Prozent des Budgets von Nigeria geht in den Militärhaushalt, trotzdem sehen wir keine klaren Erfolge im Nordosten des Landes, und das ist natürlich ein Indiz dafür, dass das Geld wohl nicht an den richtigen Stellen ankommt. "Für die Regierung ist des Nordosten weit weg" Heuer: Und woran liegt das? Ich frage das noch mal: Ist das Unfähigkeit, oder ist das so eine Kaltblütigkeit auch der Regierung, die sagt, na ja, das betrifft uns nicht, wir kümmern uns lieber um den Süden des Landes? Kriesch: Ich finde, die Unfähigkeit ist schon der stärkste Punkt. Auf der anderen Seite sieht man auch ganz klar, dass die Regierung das Problem nicht ernst genug nimmt. Wir sind hier momentan im Wahlkampf, nächsten Monat sind Wahlen in Nigeria und der Präsident, Goodluck Jonathan, ist eigentlich sehr, sehr stark damit beschäftigt, die Thematik im Nordosten des Landes totzuschweigen. Bei seiner Auftakt-Wahlveranstaltung in Lagos letzte Woche hat er Boko Haram quasi in einem Nebensatz nur erwähnt. Da war es ihm fast schon wichtiger, auf die Geschehnisse in Paris einzugehen. Und das zeigt ein bisschen, wie sehr die Regierung versucht, dieses Thema wegzudrücken und für die Bürger irgendwie nicht existent zu machen. Da kann man im selben Atemzug natürlich auch sagen, dass Nigeria ein riesiges Land ist, 170 Millionen Menschen, und der Nordosten, der betroffen ist, ist nur ein Teil davon. Für Menschen in Lagos beispielsweise ist Boko Haram keine direkte Bedrohung und für sie ist das Problem im Nordosten des Landes auch weit weg. Heuer: Herr Kriesch, Boko Haram und der Islamische Staat, der sogenannte, das sind ja ähnliche Phänomene. Der Westen reagiert auf den Islamischen Staat, er bombardiert IS-Kämpfer in Syrien, es gab auch einen Militäreinsatz in Mali. Wo ist der Westen, wenn es um Nigeria geht? Wird er vermisst? "Nigerianische Regierung versagt" Gemeinsam gegen die Terroristen von Boko Harman, mit Frankreich an vorderster Front. (dpa/picture alliance/©francois Lafite/Wostok Press) Kriesch: Ja offensichtlich nicht seitens der nigerianischen Regierung, denn es gab ja sehr, sehr viele Angebote, als in den Medien die Entführungen sehr stark hochkamen, als diese 200 Mädchen entführt wurden, die jetzt ja schon seit neun Monaten in den Händen von Boko Haram sind, und es gibt immer noch keine Neuigkeiten. Damals gab es viele Länder, die Nigeria Unterstützung angeboten haben und teilweise das auch getan haben, beispielsweise die Amerikaner. Die haben gesagt, okay, wir unterstützen euch dabei, eine Eliteeinheit an Soldaten auszubilden, die dann im Nordosten des Landes agieren kann. Jetzt hat der amerikanische Botschafter mehrfach in der Öffentlichkeit gesagt in den letzten Wochen, das ganze Projekt war ein großer Reinfall, denn die nigerianische Seite hat sich nicht an Absprachen gehalten. Das heißt, die Idee war, dass die Amerikaner Elitesoldaten zur Ausbildung hier herbringen, aber die Nigerianer das Equipment stellen, und das ist bis heute nicht geschehen und das zeigt ein bisschen, dass das ganze Problem letztendlich auf das Versagen der nigerianischen Regierung zurückgeht. Klar kann man sagen, der Westen sollte da proaktiver sein, sollte die Regierung mehr dazu drängen, aber letztendlich muss sich endlich die nigerianische Regierung bewegen. Heuer: Adrian Kriesch in Lagos und die Leitung dorthin hatte viele Aussetzer. Ich bin froh, Herr Kriesch, dass sie bis zum Ende gehalten hat. Danke schön. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Adrian Kriesch im Gespräch mit Christine Heuer
Am Wochenende soll es im Nordosten Nigerias ein Massaker gegeben haben. Von bis zu 2.000 Opfern berichtet ein Augenzeuge. Die Situation sei schon seit Langem verheerend, sagte Adrian Kriesch, freier Journalist in Lagos, im DLF. Umso schrecklicher sei es, dass die zahlreichen Flüchtlinge keinerlei staatliche Unterstützung bekämen.
"2015-01-15T06:50:00+01:00"
"2020-01-30T12:17:06.723000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/boko-haram-in-nigeria-fast-taeglich-werden-doerfer-100.html
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Der Traum von Agropolis
New York im Jahr 2030. Die Jazzbands im Central Park spielen noch immer die Bossa-Nova-Klassiker des vergangenen Jahrhunderts. Doch die Stadt hat sich verändert: Sie ist grüner geworden. Durch die Straßen rollen Elektroautos, die Stadtverwaltung hat neue Parks angelegt, die überalterten, lecken Wasserleitungen sind erneuert worden. So wie sich das Michael Bloomberg in seinem Plan aus dem Jahr 2007 ausgedacht hatte. Und mitten im Häusermeer von Queens arbeitet ein Heer von Konstrukteuren gerade am jüngsten Projekt: an einer riesigen Agrarfabrik auf engstem Raum, an einem Bauernhof mitten in der Megastadt, der wie die Wolkenkratzer in Manhattan in die Höhe wächst."Das Prinzip dahinter ist eigentlich ganz einfach: Man nehme ein Treibhaus mit modernster Technologie und errichte nach diesem Vorbild ein Gebäude, das dreißig Stockwerke hoch ist. Und in jedem Geschoss wachsen Nutzpflanzen in Hydrokulturen. Ein Gebäude mit der Grundfläche eines typischen Straßenblocks in New York. Das ist schon ziemlich, ziemlich groß. Aber mit den Erträgen solch einer Hochhaus-Farm könnte man 50.000 Menschen das ganze Jahr über ernähren."Das Mega-Treibhaus in der Mega-Stadt - noch ist die Idee eine Zukunftsvision. Studien auf Papier, Computergraphiken auf der Festplatte. Der Mann hinter diesem Konzept ist der emeritierte Parasitologie-Professor Dickson Despommier von der Columbia University in New York. Zusammen mit einer Handvoll Mitarbeitern arbeitet er seit 1999 an der Idee einer "Vertikalen Farm”, die gen Himmel strebt, statt sich in der Fläche auszubreiten. "Wir wissen, dass uns bald schon das Ackerland ausgeht. Bereits heute gibt es viele Leute, die nicht genug zu essen haben. Aber in 50 Jahren werden wir drei Milliarden Menschen zusätzlich zu ernähren haben. Zurzeit nutzen wir schon die Hälfte der weltweiten Landfläche für Ackerbau und Viehzucht. Mit drei Milliarden Menschen zusätzlich sind wir an den Grenzen dessen angekommen, was das Land hervorbringen kann. Das können wir meiner Meinung nach aber recht einfach vermeiden. Wir packen die Landwirtschaft in Hochhäuser, stellen die in der Stadt auf und lassen das Land draußen brach liegen."Ein Bauer muss sein Feld pflügen, die Saat ausbringen, die Pflanzen düngen, eventuell bewässern und gegen Schädlinge schützen. All das verbraucht viel Energie und Wasser. Pestizide und Düngemittel gelangen in die Umwelt. Ganz am Ende erntet der Landwirt die Früchte seiner Arbeit und transportiert sie möglicherweise über weite Strecken zu seinem Abnehmer. Farmen in Hochhäusern würden Obst und Gemüse dort wachsen lassen, wo sie auch verbraucht werden: in den urbanen Zentren – das ganze Jahr über, nahezu unbehelligt von äußeren Einflüssen. Schädlinge und Krankheiten, Unwetter und Trockenheit könnten den Pflanzen nichts anhaben. Die Technologie für diese vertikalen Bauernhöfe existiere bereits, sagt der Visionär Dickson Despommier."Ich möchte Sie einladen zu einer imaginären Tour durch meine vertikale Farm – so wie ich sie mir in meinen Träumen vorstelle. Zunächst einmal: Sie besteht nicht nur aus einem einzigen Gebäude. Denn vor dem Ernten kommt das Säen. Und die Samen müssen frei sein von Pflanzenkrankheiten. Das müssen wir untersuchen. Nicht in der Farm selbst, sondern in einem Labor in der Nähe. Da gehen wir jetzt also zuerst hin. Ich zeige Ihnen den Weg. Aber ich fürchte, Sie werden Ihre Kleidung wechseln müssen, um keine Krankheitserreger einzuschleppen. Und vielleicht sollten Sie sicherheitshalber sogar vorher duschen."Das mikrobiologische Labor in der Vorstellung des Professors erinnert an eine hoch technologisierte Küche. Die Analysegeräte für die DNA-Tests könnten genauso gut Brotback-Automaten sein. Und auch die nächsten beiden Räume sehen nicht viel anders aus. In dem einen werden die Inhaltsstoffe der Pflanzen überwacht, in dem zweiten werden die Nährstofflösungen vorbereitet – maßgeschneidert für jede Pflanzenart."Da drüben in den Gefäßen haben wir das alles stehen. Das da ist die Nährstofflösung für Kohl, diese ist für Mais und da hinten die für Weizen. Eine für Karotten und eine für Rüben. Ach, ich könnt’ endlos so weiter machen."Das Gebäude selbst hat die Form eines riesigen Zylinders, weil es so am meisten Licht einfangen kann. Die Fassade ist komplett verglast und mit einem selbstreinigenden Material beschichtet. Innen wachsen Obst, Gemüse und Getreide. Die meisten Pflanzen wurzeln in dem Substrat einer Hydrokultur, aus dem sie auch ihre Nährstofflösung beziehen. In einem großen Kreislauf wird die Flüssigkeit durch die Treibhäuser gepumpt und später wieder aufbereitet. Dickson Despommier:"Ich kenne ja die Vorbehalte, die die Leute gegen Treibhaus-Gemüse haben: Dass es einfach keinen Geschmack hat, besonders die Tomaten nicht. Ich weiß auch nicht, warum immer gerade über die Tomaten gemeckert wird. Aber ich möchte Ihnen jetzt erklären, wie ich in meiner vertikalen Farm den Tomaten zu einem guten Geschmack verhelfe. Zwei Tage vor der Ernte drosseln wir ihre Wasserzufuhr. Haben Sie eine Idee, was dann passiert? Die Tomaten schrumpfen ein wenig. Sie enthalten dann weniger Wasser. Und dadurch steigt die Konzentration des Zuckers in der Pflanze. Und auch andere Inhaltsstoffe, die Flavonoide, schmecken dann einfach besser."Wasser, das über die Blätter der Pflanzen verdunstet, schlägt sich an kalten Rohren nieder und kann in den Kreislauf zurückströmen. Leuchtdioden bestrahlen die Pflanzen, auch wenn das natürliche Licht mal nicht ausreicht. Die Energie für die Lampen, für die Pumpen und die Klimaanlage kommt aus erneuerbaren Quelle: Von Windrädern und Solarzellen auf dem Dach des Gebäudes und aus Biomasse-Öfen im Kellergeschoss. Despommier:"Aber zurück zu unserer Führung. Denn auf eines möchte ich Sie noch aufmerksam machen: Wie gut es hier riecht. Atmen Sie mal tief ein! Wunderbar, nicht wahr? Und warum? Weil die Luft sehr reich an Sauerstoff. Die Pflanzen absorbieren das Kohlendioxid, das wir ausatmen, und geben Sauerstoff als Nebenprodukt ab. Ist das nicht ein schöner Platz zum Arbeiten? Jedes mal wenn man ausatmet, sagt die Pflanze: Dankeschön."Ein schöner Arbeitsplatz, der aber bisher nur in der Fantasie des Hochschullehrers existiert. Ob aus der Vision Realität wird, bezweifeln einige Experten. Unter ihnen der Umwelt- und Klimaexperte Lester Brown vom Earth Policy Institute in Washington."Auf ein begrenztes Stück Land fällt eben nur eine bestimmte Menge Sonnenlicht. Das kann man nutzen, indem man dort Pflanzen anbaut oder eben jene mehrstöckigen Treibhäuser errichtet. Aber diese Gebäude nehmen den umliegenden Arealen das Licht weg. Sie werfen einen Schatten. Mehrere von ihnen am selben Fleck verdunkeln sich gegenseitig. Der Gedanke, man könne die Ernte deutlich erhöhen, indem diese vertikalen Strukturen baut, der hat keine wissenschaftliche Grundlage."Die Befürworter der Mega-Treibhäuser glauben, dass Sonne, Wind und Biomasse genug Energie liefern können, um die Pflanzen mit künstlichem Licht zu bestrahlen. Aber vielleicht brauchen die städtischen Landwirte solche technischen Lösungen überhaupt nicht. Brown:"Zurzeit entstehen viele Initiativen, die sich mit der urbanen Landwirtschaft beschäftigen. Das können Menschen sein, die einen Nachbarschaftsgarten in einem Hinterhof anlegen oder auch einen Dachgarten. Wir erkennen, dass gerade frisches Obst und Gemüse auf einer relativ kleinen Fläche in bedeutenden Mengen erzeugt werden können – und das kann ein bedeutender Beitrag sein zur Versorgung einer Stadt mit Lebensmitteln."Gerade Gebäudedächer stehen oft als ungenutzte Fläche zur Verfügung. Wie man dort in konventionellen Treibhäusern Nutzpflanzen anbauen kann, das will der Verein Groundwork Hudson Valley zeigen – mit einer Demonstration der besonderen Art, der Science Barge, übersetzt etwa: Wissenschaftskahn."Ein gutes Stück nördlich von New York. Vom historischen Bahnhof in Yonkers ist es nur ein Katzensprung zum Hudson River, wo die "Science Barge" ankert. Am Flussufer gegenüber erheben sich die gewaltigen Felsklippen der New Jersey Palisades, im Süden zeichnet sich am dunstigen Horizont die Skyline von Manhattan ab. Die Barge selbst ist ein schlichter Ponton. Die vordere Hälfte beherbergt zwei Solarmodule und einen umfunktionierten Transportcontainer mit einer Reihe von Windrädern darauf. Auf dem hinteren Teil stehen zwei Treibhäuser."Die "Science Barge" wurde von der Firma New York Sunworks konstruiert und gebaut. Sie ist eine kleine, schwimmende Agrarfabrik. Sie arbeitet vollkommen unabhängig vom Stromnetz und der Wasserversorgung. "Groundwork Hudson Valley" benutzt den Kahn, um Schulklassen und anderen Interessierten die Idee der urbanen Landwirtschaft nahe zu bringen, erklärt die Mitarbeiterin Devon Spencer."Wir möchten, dass die Menschen, die hier vor Ort wohnen, an Bord kommen und sich begeistern lassen. Wir möchten ihnen eine Vision von der Zukunft bieten, in der solche Treibhäuser wie diese hier überall auf den Hausdächern stehen. Ich bitte unsere Besucher immer, ihre Augen zu schließen und sich das einmal vorzustellen: Sie gehen einkaufen bei ihrem Lebensmittelhändler, und der hat eine Farm auf seinem Dach stehen. Die Kunden fahren mit dem Aufzug hoch, pflücken die frischen Früchte, die ihnen gefallen, fahren dann wieder runter, bezahlen und gehen nach Hause. Das Obst und Gemüse wäre sehr viel frischer als im Supermarkt, und weil die Waren nicht über weite Strecken transportiert werden müssen, reduziert das auch die Luftverschmutzung."Die junge Frau leitet das Bildungsprogramm auf dem Wissenschaftskahn. Täglich kommen Schulklassen vorbei, um über Pflanzenzucht und Nachhaltigkeit zu lernen. Das ist der Hauptzweck des Projekts. Die geernteten Pflanzen werden unentgeltlich an eine Kirchengemeinde abgegeben, die sie dann an bedürftige Familien weiter verteilt. Eine frische Brise lässt plötzlich die Windräder anspringen. Ein Sportboot gleitet auf dem Hudson vorbei. Devon Spencer geht hinüber zu dem Treibhaus. Davor stehen einige Kunststofftonnen. Einen der Deckel hebt sie ab und steckt ihre Hand in die Masse aus halb verrotteten Pflanzenresten und Holzschnitzeln."Das sind unsere Würmer. Sie sind ein wenig lichtscheu, deshalb sehen wir jetzt keine. Aber wenn ich jetzt ein wenig im Kompost wühle, dann finde ich gleich welche. Die Würmer ernähren sich von Pflanzenresten. Mit Bakterien zusammen können sie uns auf der Science Barge mit Erdboden versorgen. Darin lassen wir unsere Pflanzen wachsen, hier draußen. In den Treibhäusern benutzen wir gar keine Erde."Dann betritt die Gartenexpertin das Treibhaus und tritt an einen Tisch, auf dem in akkuraten Reihen junge Pflänzchen sprießen. Spencer:"Hier das ist der Tisch, wo wir unsere Setzlinge ziehen – in Mineralwolle. Die fühlt sich wie ein Schwamm an und kann eine Menge Wasser speichern. Wenn die Pflänzchen hier groß genug sind, setzen wir sie in eine andere Kultur um. In das Aquaponik-System oder in unseren Pflanzturm oder in die Hydrokulturen in den großen Eimern. Das sind dann meistens Kletterpflanzen. Tomaten oder Melonen. Ansonsten haben wir hier eher Kräuter, Salat und Blattgemüse. Basilikum, Pok Choi, Römersalat, Eichblattsalat und Mangold. Die können wir alle zwei Wochen ernten."Gegenüber dem Setzling-Tisch steht eine Art Regal. Auf den oberen Brettern wachsen in flachen Schalen größere Pflanzen, vor allem Salat und verschiedene Kräuter. Unten im Regal ist eine große, mit Wasser gefüllte Wanne verankert. Fische schwimmen darin herum. Devon Spencer:"Hier im Treibhaus steht unser Aquaponik-System, wo die Fische Nährstoffe für unsere Pflanzen liefern. Das ist ein Kreislaufsystem. Die Fische füttern wir mit den Würmern aus dem Kompost. Die Fische scheiden wertvolle Nährstoffe ins Wasser ab. Das Wasser mit dem natürlichen Dünger pumpen wir zu den Pflanzen hoch, die im Gegenzug das Wasser wieder für die Fische reinigen. Eine eindrückliche Demonstration für eine symbiotische Gemeinschaft aus Tier und Pflanze. Würden wir diese Farm hier kommerziell betreiben, würden wir das Gemüse und auch die Fische verkaufen. Aber uns geht es ja nur ums Prinzip, deshalb halten wir Goldfische. Die essen wir lieber nicht."An der Fensterfront stehen Türme aus würfelförmigen Kunststoff-Töpfen, gefüllt mit einem Granulat. Sie sind versetzt aufeinandergestapelt, so dass aus den Ecken verschiedene Kräuter sprießen können."Das ist unser Pflanzturm, das Verti-gro-System. In den Töpfen wachsen Basilikum, Mangold und Schnittlauch. Damit wollen wir zeigen, dass wir auch in die Höhe gehen können. Auf einer städtischen Farm muss man mit einer kleinen Grundfläche auskommen, besonders wenn man Pflanzen auf Hausdächern anbaut. Mit dieser Methode nutzen wir den Raum besser aus, als wenn wir die Pflanzen in Reihen nebeneinander setzen würden. Stattdessen stapeln wir sie übereinander."In den beiden Ecken des Treibhauses steht je ein großer, blauer Stahltank. Von dort laufen Rohre zu den verschiedenen Pflanzenkulturen."Wir haben unseren Wasserverbrauch drastisch gesenkt, weil wir das Wasser immer wiederverwenden. Das Wasser fließt im Kreis durch unsere Hydrokulturen. Wir versuchen, möglichst sorgsam mit diesem Rohstoff umzugehen. Denn das einzige Wasser, das wir hier haben, ist der Regen. Wir sammeln ihn ein und speichern ihn in diesen Tanks dort. Wenn das nicht reicht, müssen wir das schmutzige Wasser aus dem Hudson reinigen – mit Umkehrosmose. Dazu braucht man Pumpen, die verschlingen viel Energie. Wir müssen dann extra unser Stromaggregat anwerfen, das läuft mit Biodiesel. Also versuchen wir, soviel Wasser zu sparen, wie wir nur können. Damit wir mit dem Regenwasser auskommen."Die Science Barge versammelt die verschiedenen Elemente, mit denen sich auch New Yorks Dächer begrünen ließen: Hydrokulturen, Treibhaustechnik, erneuerbare Energien und ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem. Ob sich das Konzept tatsächlich in ein tragfähiges Geschäftsmodell umsetzen lässt, damit beschäftigen sich die Konstrukteure des schwimmenden Gartens. Manhattan an der 23. Straße. Ein Strom gelber Taxis fließt am Madison Square Park vorbei. Schräg gegenüber, im spitzen Winkel zwischen fünfter Avenue und Broadway, steht das berühmte Flatiron Building – in Form eines Tortenstücks. Sein dreieckiger Grundriss nutzt das schmale Grundstück optimal aus. Nur einen Straßenblock weiter südlich tüfteln die Mitarbeiter von New York Sun Works an einer ähnlichen Herausforderung: Wie lassen sich die Dächer der Stadt begrünen, so dass möglichst viele Menschen davon profitieren und so dass dabei möglichst wenig Kohlendioxid freigesetzt wird. Zusammen mit ihrem Geschäftspartner BrightFarm Systems entwerfen sie Treibhäuser, die auf Dächern von Gebäuden errichtet werden und einen Teil der Abwärme nutzen, die sonst ungenutzt verloren ginge. Zu ihren Kunden gehören die Besitzer von Mietshäusern, Schulen und Supermärkten, erklärt Benjamin Linsley, der Pressesprecher der Firma."Viele Supermärkte in den USA interessieren sich sehr für unsere Arbeit. Sie verfügen über große Gebäude, sie verkaufen Gemüse und sie machen sich Gedanken darüber, wie ihr Geschäft die Umwelt beeinflusst. Also sagen wir den Supermarktketten: Schaut mal, wo eure größeren Gebäude mit Flachdach stehen, und wir sehen uns an, wie diese Gebäude mit ihrer Energie umgehen und ob man ein Teil davon nutzen kann, um ein Treibhaus auf dem Dach zu unterhalten."Die Grundfläche des Gebäudes entscheidet darüber, ob sich das Treibhaus rentiert. Denn Farmen auf Dächern sind deutlich teurer als solche auf dem Erdboden. Der größte Batzen steckt in den Baukosten. Der Quadratmeterpreis ist jedoch umso günstiger, je größer das zu errichtende Treibhaus ist. Zu kleine Anlagen lohnen sich daher nicht. Aber auch der Standort ist entscheidend. Linsley:"Als Landwirt in der Stadt hat man auch Vorteile. Die Wege für den Transport zum Kunden sind sehr viel kürzer, man muss nicht auch noch einen Spediteur bezahlen. Und man kann höhere Preise verlangen. In New York zum Beispiel ist frisches Gemüse sehr teuer, das heißt solch ein Treibhaus produziert sehr wertvolle Handelsgüter."Lukrativ könnte es auch sein, die Pflanzen in bereits bestehende Gebäude zu integrieren. New York Sun Works und BrightFarm Systems haben dafür ein Konzept entworfen: eine vertikale Anordnung von Hydrokulturen, die in doppelt verglasten Fassaden von Hochhäusern Platz findet. Die Pflanzen ankern dabei in langen, wasserdurchströmten Plastikschienen. Die Schienen können wie Lamellen einer Jalousie zwischen den Glasscheiben herunter gelassen werden – und das über die ganze Höhe des Gebäudes. Solch ein hängender Garten in der Glasfassade wäre zwar bei weitem nicht so ertragreich wie die mehrstöckigen Treibhaus-Farmen, die Dickson Despommier sich erträumt, käme aber ohne künstliche Beleuchtung aus. Wenn ein vertikales Konzept eine Zukunft hat, dann das des Fassadenbauernhofs, meint Benjamin Linsley. Despommiers Idee dagegen sieht er eher kritisch. "Das ist zwar sehr inspirierend, ein großartiges Konzept. Es zeigt, was mit der entsprechenden Technologie alles möglich ist und wo im Moment die Probleme unserer Agrarindustrie liegen: Landnutzung, Ökologie und Klimawandel. Aber das Konzept ist noch nicht so weit gediehen, dass es sich im Moment verwirklichen ließe. Das ist das Problem mit der künstlichen Beleuchtung. Dafür geht ziemlich viel Energie drauf. Uns ist es wichtig, dass wir nachhaltige Systeme bauen. Wenn man den Energieverbrauch solch eines Treibhauses stark nach oben treibt, dann sollte man aber auch erklären können, woher diese Energie stammen soll. Und solange wir das nicht wissen, ist es unserer Meinung nach nicht besonders klug, eine Hochhausfarm zu konstruieren, die riesige Mengen an Energie verbraucht."Vertikale Farmen im Wolkenkratzer oder blühende Landschaften über den Dächern von New York – für beide Konzepte wird es wohl noch ein Weilchen dauern, bis sie Wirklichkeit werden. Aber vielleicht müssen Tomaten auch nicht unbedingt mitten in Manhattan wachsen. Leerstehende Fabrikgebäude oder ungenutzte Grundstücke am Rand der Stadt oder im Umland bieten sich genauso an. Landwirtschaftliche Produkte legen in den USA durchschnittliche eine Strecke von 2500 Kilometern zurück, bevor sie bei den Verbrauchern auf dem Teller landen. Das entspricht fast der Strecke von Chicago nach Mexiko-Stadt. Viel wäre also schon gewonnen, wenn sich diese Distanz deutlich verkürzen ließe. Ein Unternehmer, der das versucht, ist Will Allen – ein Pionier der urbanen Landwirtschaft in den USA. Auf den städtischen Bauernhöfen seiner Firma "Growing Power" wachsen die Bäume zwar nicht in den Himmel, aber erfolgreich ist das Konzept trotzdem. Ein eher schlichtes Gewächshaus: Plastikfolie, über gebogene Metallstangen gespannt. Eine große Schar Hühner wärmt die Luft unter der Plane – und die Pflanzen in einem abgetrennten Teil der zeltartigen Konstruktion. Es riecht nach Ammoniak."Wir haben über 200 Hühner hier drinnen. Wir füttern sie mit Salat und Körnern. Das meiste Grünzeug bekommen wir von Großhändlern und von Lebensmittelhändlern. Es ist abgelaufen, aber das heißt ja nicht, dass es verdorben ist. Vor allem nicht für die Hühner."Jordan Stone, ein junger Mann mit rotem Vollbart und einer sportlichen Sonnenbrille auf der Nase, führt ein kleines Besuchergrüppchen über das Gelände von Growing Power. Das Gelände liegt am Rande der Stadt, an einer vielbefahrenen Straße. Eine Gegend mit Wohnhäusern, hier und da eine Tankstelle, ein Fast-Food-Restaurant oder ein Schnapsladen. Auf der Farm steht ein Treibhaus neben dem anderen. Auf dem hinteren Teil des Geländes dösen die Ziegen in der Nachmittagssonne. Eine kleine Herde, hinter einem hölzernen Zaun. Ein kleines Stück weiter stehen fünf Bienenstöcke."Da haben wir sie, unsere Ziegen. Was hier so streng riecht, das ist Oakley, unser netter, stinkender Ziegenbock. Was hier noch so alles rumliegt, das ist zum großen Teil sein Werk. Die Ziegen geben uns vier Dinge. Können Sie sich vorstellen, was das ist? Ja, Dünger, der große Haufen dort hinten. Zweitens Milch und Käse. Drittens Fleisch und viertens? Weiß es jemand? Sie machen einfach Spaß. Sie gehören mit zum Farm-Erlebnis. Es gibt in der Stadt Menschen, die haben noch nie in ihrem Leben eine Ziege gesehen. Und das ist schon ein Wert an sich, dass sie das mal so nah an ihrem Wohnort erleben."Growing Power ist eine Organisation, die zum einen eine nachhaltige Form von Landwirtschaft in einer städtischen Umgebung erproben möchte. Andererseits geht es ihnen darum, die Gemeinschaft der Menschen vor Ort zu stärken. In den Wohngebieten rund um die Farm leben viele Familien mit geringem Einkommen, bei denen oft Fastfood auf dem Tisch steht. Hier müssen die Mitarbeiter oft Überzeugungsarbeit leisten, dass eine gesunde Ernährung zu vernünftigen Preisen möglich ist. Was auf der Farm geerntet wird, verkauft Growing Power in einem kleinen Ladenlokal auf dem Gelände. Mittlerweile haben Jordan Stone und seine Besucher eines der großen gläsernen Treibhäuser betreten. In einer Ecke bündeln zwei Mitarbeiter gerade ein paar Zweige Kräuter."Hier in diesem Bereich arbeitet unser Team, das die Produkte reinigt. Sie ernten die Pflanzen, bringen sie hier rein, waschen sie in diesen Waschbecken dort, verpacken sie und machen sie für den Transport fertig. Aber bevor es soweit ist, müssen wir uns der vielleicht größten Herausforderung stellen, welche die urbane Landwirtschaft kennt, vom Platzproblem mal abgesehen. Wo bekommen wir gute Erde her? Entweder gibt es sie nicht, weil das Grundstück bebaut ist oder vorher ein Parkplatz war. Oder der Boden ist mit Umweltgiften verseucht. Also müssen wir unsere Erde selbst herstellen, das ist eine unserer Hauptaufgaben. Wir kompostieren daher im großen Maßstab."Im Grunde genommen funktioniert das genauso wie auf der Science Barge in Yonkers: Würmer und Bakterien zersetzen Holz- und andere Pflanzenreste. Growing Power lässt sich den Großteil seines Kompostmaterials von den vielen lokalen Brauereien anliefern: Biertreber, die ausgelaugten Malzrückstände. Eine spezielle Aufzuchtstation sorgt für regelmäßigen Nachschub bei den Würmern. Die fruchtbare Erde wird in die niedrigen, zeltartigen Treibhäuser gekarrt. In den hohen, gläsernen Gewächshäusern stehen zusätzlich mehrstöckige Aquaponik-Systeme. Die Fischbecken sind in den Boden eingelassen. Jordan greift nach einem Kescher und zieht ihn durch das Wasser."Wir züchten hier Tilapia. Die sind sehr beliebt in der Aquaponik, denn sie sind sehr widerstandsfähig. Allerdings: Tilapia sind Warmwasser-Fische, das heißt, wir müssen das Becken heizen."Growing Power unterhält noch weitere städtische Farmen und Gemeinschaftsgärten im Großraum Chicago und Milwaukee. Trotzdem gibt Jordan Stone zu bedenken, dass der Wirkungsradius der Organisation begrenzt bleibt."Wir alleine können gar keine nachhaltige Rundum-Versorgung gewährleisten. Wir können nicht alle Menschen hier in diesem Viertel mit allen Lebensmitteln versorgen. Wir züchten hier vor allem Salatvarietäten, Blattgemüse, Tomaten und Fische. Wir haben Eier und Honig, das war’s. Wir sind ein Teil der Lösung, aber wird sind nicht die komplette Lösung."Der Samen ist gelegt für eine nachhaltige städtische Landwirtschaft. Und auch Dickson Despommier ist davon überzeugt, dass seine visionäre Idee von den gigantischen Hochhausfarmen schon bald Früchte tragen wird – wenn auch vielleicht nicht in den USA."Bisher hat mein Projekt nur sehr wenige negative Kommentare erhalten. Und wenn, dann ging es meistens um Fragen der Finanzierung. Und wenn es um den Energieverbrauch geht, diese Fragen lassen sich alle lösen. Woher soll das Licht kommen? Wir können Spiegel benutzen, um das Licht nach innen zu lenken, und Faseroptiken. Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, mit den Fragen von Licht und Energie umzugehen. Es kommt auch auf den Standort an. Der Nahe Osten wäre ein großartiger Platz. Ein Stückchen außerhalb einer Stadt könnte man solch ein Gewächshaus fünf Meilen lang bauen, drei Stockwerke hoch. Und schon hat man eine vertikale Farm. Das gilt noch. Und man kann Lebensmittel für ganz Dubai darin erzeugen. Also, wenn da Geld dort für solch ein Projekt bereit steht und die das haben möchten, dann werden sie mit dem Finger schnipsen. Und tatsächlich, im Moment höre ich genau das – Fingerschnipsen.""Fingers that are going like this: Make me one! No, no, make me one. Make me one, make me one."
Von Arndt Reuning
Die Menschheit lebt seit 2007 überwiegend in Städten. Vor allem in den Ländern der Dritten Welt üben die Metropolen einen unwiderstehlichen Sog aus. Das wachstumsstärkste Segment unter all den Städten sind die Riesenstädte oder Megacities mit Einwohnerzahlen jenseits der fünf Millionen. Solche Bevölkerungsmassen wollen ernährt werden, und das gelingt nur mit neuartigen Konzepten.
"2010-06-13T16:30:00+02:00"
"2020-02-03T17:36:10.159000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-traum-von-agropolis-102.html
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BASF: Spitzenwerte mit gedämpftem Ausblick
2013 war ein Spitzenjahr, aber das laufende Jahr könnte etwas schwieriger werden. Mit starkem Rückenwind sei jedenfalls nicht zu rechnen, sagt BASF-Chef Kurt Bock: "Insgesamt erwarten wir, dass wir uns 2014 in einem weiterhin herausfordernden Umfeld gut behaupten werden. Wir wollen unseren Absatz ohne Berücksichtigung von Akquisitionen und Devestitionen erhöhen. Dennoch wird der Umsatz verglichen mit dem Jahr 2013 voraussichtlich leicht sinken. Grund dafür ist die für Mitte 2014 geplante Devestition des Gashandels- und Gasspeichergeschäfts." Das Gashandels- und Gasspeichergeschäft bringt von der Marge her nicht so viel, deshalb trennt BASF sich davon. Der Ausblick ist nach BASF-Tradition recht verhalten. Aber auch 2013 hatte der Chemiekonzern einen Rückschritt im Sommer wieder mit einem starken vierten Quartal aufgeholt: Wegen Zukäufen und höheren Absatzes war da das operative Ergebnis um 55 Prozent auf gut 1,6 Milliarden Euro gestiegen, im Gesamtjahr blieb mit knapp 7,3 Milliarden Euro ein Plus von knapp acht Prozent. Es hätte noch um gut 250 Millionen Euro höher ausfallen können, wäre da nicht der starke Euro gewesen. Schwierige Rahmenbedingungen für Chemie in Europa Was die Freude des BASF-Chefs auch etwas mindert, sind die schwierigeren Rahmenbedingungen in Europa. Hier gebe es eigentlich eine starke Chemieindustrie, sagt Bock: "Die europäische Chemie hat einen deutlichen Exportüberschuss, ist einer der größten Netto-Exporteure aus der Europäischen Union heraus, wir sind technologisch auf vielen Gebieten führend, und es wäre aus meiner Sicht leichtfertig, wenn wir diese Position aufs Spiel setzen sollten. Ich sag das jetzt mit Bezug auf die BASF: Ja, wir wachsen kräftig im Ausland, wir investieren dort auch kräftig. Aber wir brauchen, um weltweit erfolgreich zu sein, eben auch dieses Standbein Deutschland, das sehr stark und fest sein muss, und alles, was daran rüttelt, beeinträchtigt eben unsere Wettbewerbsfähigkeit auch weltweit." So wird der Konzern in den nächsten fünf Jahren erstmals mehr als die Hälfte seiner Investitionen im Ausland tätigen, und das vor allem in den Wachstumsregionen. Auf Deutschland entfallen dabei noch etwa ein Viertel statt bisher immer ein Drittel der Investitionen. Was den BASF-Chef auch umtreibt, ist die Zurückhaltung der Deutschen gegenüber dem Fracking, der Förderung von Schiefergas. Weil die in den USA erlaubt ist und dort die Energiekosten stark gesenkt hat, hatte das Unternehmen schon einen Teil seiner Investitionen dorthin verlagert. Bock plädiert abermals für mehr Offenheit der Deutschen: "Unsere einzige Forderung an die Politik ist, dass man uns erlaubt, unter kontrollierten Bedingungen, quasi also Laborbedingungen, das doch einfach mal auszuprobieren. Alle können zuschauen, alle können mitmachen, volle Transparenz, was da gemacht wird: Wasserverbrauch, tektonische Risiken, die da ja auch vermutet werden, Chemikalieneinsatz – völlige Transparenz. Und dann kann man, wenn man die Ergebnisse hat, sich auch zusammensetzen und sagen: Lohnt sich das? Wollen wir das? Ist das vertretbar umweltseitig." Wenn man so vorgehe, sehe er das Risiko nicht, meint der BASF-Chef.
Von Brigitte Scholtes
Die Auftragslage bei BASF gilt auch als Konjunkturbarometer. BASF beliefert so gut wie alle Industriebereiche mit Rohstoffen. Steigt die Nachfrage nach diesen Vorprodukten, dann ist das ein Zeichen, dass auch die Auftragslage in anderen Branchen gut ist. 2013 sah gut aus – aber 2014?
"2014-02-25T13:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:27:57.489000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jahresbilanz-2013-basf-spitzenwerte-mit-gedaempftem-ausblick-100.html
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Kritiker halten Werte für geschönt
Am Bahnhof Südkreuz in Berlin fand das zweijährige Pilotprojekt zur Gesichtserkennung statt (dpa-Bildfunk / Jörg Carstensen) Manfred Kloiber: Nach einem Jahr endete am 31. Juli 2018 der zweiphasige Test von Gesichtserkennungssystemen am Bahnhof Berlin-Südkreuz. Und vor wenigen Tagen veröffentlichten Bundespolizei und Bundesinnenministerium ihre Testergebnisse. Beide Stellen zeigen sich zufrieden mit den Tests, so heißt es: Gesichtserkennungssysteme könnten in Zukunft einen wesentlichen Mehrwert für die polizeiliche Arbeit, insbesondere der Bundespolizei, darstellen. Außerhalb von Polizei und Ministerium hingegen werden nicht nur die Ergebnisse infrage gestellt, sondern auch der gesamte Versuchsansatz. Jan Rähm, beschreiben Sie uns doch, um was es in dem Pilotprojekt ging und wie der Versuch aufgebaut war. Jan Rähm: Also, Bundesinnenministerium, Bundespolizei und Bundeskriminalamt wollten in dem Projekt untersuchen, wie gut denn automatische Gesichtserkennung für die Fahndung nach Personen genutzt werden kann. Dafür nahm man die vorhandene Videoüberwachungstechnik am Bahnhof Südkreuz in Berlin, das ist einer der der größeren Bahnhöfe, und nahm Videomaterial auf, das anschließend von drei kommerziellen Systemen analysiert wurde. Das Ganze fand in zwei Phasen statt. Und dort machten 312 beziehungsweise 201 Personen freiwillig mit. Diese Personen trugen einen Transponder bei sich. Das ist sozusagen ein elektronisches Gerät, das den Standort an den Bahnhof funkt, wenn die Versuchspersonen den Bahnhof betraten. Und diese Analysesysteme, die suchten nach diesen Probanden, die dann, mit diesem Transponder, also der elektronischen Anwesenheitsnotiz, anhand dessen konnte dann festgestellt werden, ob eine Person überhaupt und wenn ja, richtig erkannt wurde oder nicht. Kloiber: So also sah der Versuchsaufbau aus. Kommen wir zu den Ergebnissen und der Kritik daran, die wir in einem Beitrag zusammengefasst haben. Beitrag: Egal ob allein oder zu mehreren, ob mit Schal oder Brille, bei Tag oder bei Nacht: Die Systeme erkennen Gesichter zuverlässig. So heißt es sinngemäß in einer Pressemitteilung zum Pilotversuch "Biometrische Gesichtserkennung". Er wurde von der Bundespolizei, dem Bundeskriminalamt und dem Bundesinnenministerium durchgeführt und am 31. Juli beendet. Die durchschnittliche Trefferrate lag demnach beim besten der drei getesteten Systeme bei über 80 Prozent. In der zweiten Versuchsphase wurden die Systeme kombiniert und erreichten über 90 Prozent Treffer. Die Projektbeteiligten sprechen von einem Erfolg. Nicht so Dr. Jürgen Hermes, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Köln und Geschäftsführer des Instituts für Digital Humanities: "Eine Trefferrate von 80 Prozent. Das heißt 20 Prozent von Personen, die sich eigentlich als Testperson zur Verfügung gestellt haben und gesucht wurden, wurden vom System nicht erkannt. Hört sich jetzt erst mal nicht so schlecht an. Die zweite Zahl ist der andere Fehler, den das System machen kann. Und zwar eine nicht gesuchte Person fälschlicherweise als gesucht zu identifizieren. Das heißt, Alarm zu schlagen, obwohl die Person gar nicht in der Datenbank ist, als gesuchte Person verzeichnet ist." Chaos Computer Club rechnet 600 falsche Alarme aus Bei der Kombination der Systeme verbesserte sich die Falscherkennungsrate auf 0,67 Prozent. Das hieße bei einem Bahnhof wie Südkreuz mit circa 90.000 Personen täglich rund 600 falsche Alarme, rechnet der Chaos Computer Club, CCC, in einer Pressemitteilung vor. Da in der zweiten Versuchsphase nur mit 200 Probanden gearbeitet wurde, geht der CCC außerdem davon aus, dass bei mehr Gesuchten sich die Fehlerrate verschlechtern wird und mehr Alarme überprüft werden müssten. Dazu meint BMI-Sprecherin Eleonore Petermann Anfang dieser Woche in der Bundespressekonferenz: "Diese Trefferquote oder Fehlerquote, je nachdem, welche Seite man betrachtet, löst ja nur einen Alarm aus. Das heißt also, wenn jemand erkannt wird, dann wird ein Alarm ausgelöst. Das bedeutet aber nicht, dass damit automatisch irgendjemand unter Verdacht gestellt wird. Sondern löst aus, dass die entsprechenden Polizeivollzugsbeamten dem Alarm nachgehen und nachprüfen." Experte sieht methodische Fehler in der Studie Inwiefern diese Nachüberprüfung die Zahl der Einsätze der Bundespolizei erhöht, hat das BMI auf schriftliche Nachfrage nicht mitgeteilt. Von den Quoten ganz abgesehen, wirft Professor Florian Gallwitz von der Fachhochschule Nürnberg dem Projekt methodische Fehler vor. Er kritisiert den Umgang mit Personen, die ihren Transponder nicht dabei hatten. Im Versuch diente der Transponder dazu, zur Kontrolle die Versuchsteilnehmer zuordnen zu können: "Deswegen trat die Situation auf, dass Leute erkannt wurden, von denen die Versuchsleiter wussten, dass ist aber jetzt einer unserer Versuchsteilnehmer. Es gab aber kein Transpondersignal. Dann wurde das manuell hinterher korrigiert. Und das hat man aber nur dann gemacht, wenn eine Person richtig erkannt wurde. Und man bekommt man unter dem Strich zu positive Erkennungsraten. Man übersieht nämlich den Fall, dass solche Leute, die keinen Transponder dabei hatten, übersehen wurden. Also in Wirklichkeit sind die Erkennungsraten wahrscheinlich gar nicht so gut gewesen, wie sie da erscheinen, sondern um einige Prozentpunkte niedriger. Das ist auf jeden Fall ein methodischer Fehler, wo ich jetzt aus wissenschaftlicher Sicht sagen würde, wenn mir jemand so eine Veröffentlichung im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens auf den Schreibtisch legen würde, dann würde ich die zurückgehen lassen und sagen, dann macht mal eure Hausaufgaben und rechnet das mal richtig aus." Das BMI weist diese Kritik zurück. Schriftlich heißt es gegenüber dem Deutschlandfunk: "Die Gesichtserkennungssysteme haben in der Erprobung ohne Bezug zum Transpondersystem gearbeitet. Demzufolge wurden während der Validierung alle durch die Systeme gemeldeten Treffer unabhängig von Transponderanwesenheit als richtig oder falsch bewertet. Bei der Suche nach den falsch negativen Ereignissen wurden als Hinweise die Protokolldateien des Transpondersystems genutzt, aber auch auf die regulären Aufzeichnungen der Videoüberwachungssysteme zurückgegriffen, um diese Hinweise durch Videosichtung zu verifizieren. Von Verfälschung oder Verzerrung kann daher nicht gesprochen werden." Kloiber: Das lässt uns also das Bundesinnenministerium wissen. Jan, die Kritik am Versuch erstreckt sich ja auch auf die Umsetzung beziehungsweise auf das Quell-, also auf das Fahndungsmaterial. Was genau ist das Problem? Auch die Ergebnisse der zweiten Phase sind umstritten Rähm: In der ersten Phase nutzte man noch gut ausgeleuchtete Bilder der Probanden, was ja schon relativ unrealistisch ist. Dann in der zweiten Phase kamen die Suchvorlagen aus dem Videomaterial, das bereits aufgezeichnet wurde. Damit erhöhte sich auch die Trefferquote deutlich und dieses Videomaterial, das sah schon eher wie Fahndungsmaterial aus. Aber, und hier kritisiert beispielsweise Florian Gallwitz, da sei gemogelt worden. Denn die Systeme mussten quasi identifizieren, was sie selbst aufgenommen hatten. Sie hatten also exakt die gleichen Blickwinkel, Lichtverhältnisse, Bildauflösungen und so weiter. Gallwitz spricht von einem Foulspiel, das die üblichen Schwierigkeiten bei der Gesichtserkennung einfach ausschalte. Das BMI weist das zurück und meint, die in der zweiten Phase genutzten Bilder entsprächen sogar eher klassischen Fahndungsfotos und die Verbesserung liege einfach daran, dass es verschiedene Blickwinkel gab, die die System haben nutzen können. Kloiber: Der Blickwinkel ist ja eher ein grundsätzliches Problem, oder? Rähm: Das kann man so sagen. Normalerweise müssten Überwachungskameras in Kopfhöhe angebracht sein, also dass sie unsere Gesichter frontal filmen könnten, was sie aber in der Praxis meist nicht sind, sondern sie sind meist weit über unseren Köpfen angebracht. Von daher braucht jemand, der der Erkennung entkommen möchte, meist einfach nur zu Boden schauen und dann scheitern die Kameras und nachgeschalteten Systeme. Kloiber: Halten die Experten die Systeme für grundsätzlich ungeeignet für die Suche nach Kriminellen? Rähm: Also, die beiden Experten, die auch im Beitrag zu Wort gekommen sind, haben betont, dass die technischen Systeme heute bereits dem Menschen deutlich überlegen seien. Selbst sogenannte "Super Recognizer", also Menschen, die Menschen besonders gut aus großen Mengen heraus entdecken können, würden von fortgeschrittenen Systemen übertroffen. Aber, die Kritik entzündet sich vor allem daran, dass neben den zahlenmäßig eher wenigen Gesuchten eben alle anderen Menschen, also alle anderen Menschen auch erfasst würden. Der Chaos Computer Club spricht in einer Pressemitteilung von "einer anlasslosen biometrischen Personenüberwachung im öffentlichen Raum". Kloiber: Wie geht es nun weiter? Kritiker lehnen diese Art der Überwachung grundsätzlich ab Rähm: Das ist noch unklar. Davon ganz abgesehen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für solcher Art Videoüberwachung mit Gesichtserkennung überhaupt erst einmal geschaffen werden müssen, wird jetzt geprüft, so heißt es in einer Pressemitteilung, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die Technik künftig zum Einsatz kommen soll. Die Kritiker lehnen dieserart Überwachung grundsätzlich ab. Auch deshalb, weil davon ausgegangen wird, dass die Erfassung sich nicht nur auf schwerste Kriminalität beschränken wird, wie es für diesen Versuch hieß, sondern auch auf kleinere Delikte ausgeweitet werden wird. Beobachten kann man das derzeit unter anderem in Großbritannien, wo mit mobilen Kamerawagen und Gesichtserkennung nach bekannten Taschendieben und anderen Kleinkriminellen gefahndet wird. Kloiber: Jan Rähm berichtete über erste Ergebnisse des Gesichtserkennungsversuches am Bahnhof Berlin-Südkreuz und die Kritik daran.
Von Jan Rähm
Zwei Jahre lang wurden am Bahnhof Berlin-Südkreuz Gesichtserkennungssysteme getestet. Nun liegen die Ergebnisse vor. Das Bundesinnenministerium ist zufrieden und behauptet, Gesichter würden zuverlässig erkannt - Kritiker werfen der Studie aber massive methodische Fehler vor.
"2018-10-20T16:30:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:34.152000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gesichtserkennungsversuch-kritiker-halten-werte-fuer-100.html
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Warten auf den Erlöser
Romeros Ermordung markierte den Beginn des Bürgerkriegs in El Salvador - der bis heute nicht aufgearbeitet ist (picture alliance / Salvador Melendez) Kein Tag vergeht, an dem die Nachrichten in El Salvador keine Gewalttaten vermelden: Menschen werden ermordet, überfallen, grausam verstümmelt. Die Mordraten sind die höchsten der Welt. Jeden Tag werden im Durchschnitt zwölf Menschen gewaltsam getötet. Auch 26 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs findet das Land keinen Frieden. Kultur der Gewalt "Für mich ist es ein Blick in einen Abgrund, was mit einer Gesellschaft passieren kann, deren soziale Frage nicht gelöst ist." Sagt Joachim Schlütter. Er leitet die Friedrich-Ebert-Stiftung in El Salvador und lebt seit fast fünf Jahren in dem kleinen zentralamerikanischen Land. Das größte Problem sind die sogenannten "Maras": mafiaähnliche, brutale Jugendgangs, die im Drogen- und Waffenhandel mitmischen, Schutzgelder erpressen und de facto ganze Stadt- und Landesteile unter ihre Kontrolle haben. Folge von Massenauswanderungen in die USA und den ebenso zahlreichen Abschiebungen zurück nach El Salvador. "Die Leute, die hier ausreisen, gehen in die billigen Gegenden im Süden der USA, aber auch in New York, und sind in Gettos. Da gibt es rassistische Kriege. Und diese Mentalität wurde hierin importiert. Gruppen von Jugendlichen, wie bei uns Halbstarke, gab es hier schon immer, aber die haben die Leute nicht erschossen. Bis die ersten zurückkamen und denen gesagt haben: Wir zeigen euch mal, wie ihr Geld verdienen könnt." Banden in El Salvador, wie hier Mitglieder der Mara Salvatrucha, pflegen eine Gewaltkultur (picture alliance / Edgar Romero) Es herrscht eine regelrechte Kultur der Gewalt und der Rechtlosigkeit - besungen in zahlreichen Rap-Songs. Schätzungsweise 60.000 Jugendliche haben sich den Maras bis heute angeschossen: In einem Land, in dem die Korruption hoch ist und der Staat schwach, gilt das Recht des Stärkeren. "Die Regeln unter den Maras sind mittelalterlich. Wer keinen erschossen hat, wird nicht Mitglied, Strafen sind bestialisch. Es wird zum Beispiel eines Morgen die Parole rausgegeben vom "palabrero", also dem Wortführer einer solchen Clique: 'Frauen, die morgen kein rotes T-Shirt anhaben, werden erschossen!' Und das passiert dann auch." Die Rache der Mächtigen El Salvador - zu Deutsch: der Erlöser. Von nichts scheint das kleine zentralamerikanische Land derzeit weiter entfernt zu sein. Wenn an diesem Sonntag der ehemalige Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, vom Papst heiliggesprochen wird, dann ist für die Menschen damit auch die Hoffnung verbunden, dass sich wenigstens mit göttlicher Hilfe etwas im Land ändert. El Salvador versinkt in Gewalt, Armut und Korruption. De facto hat sich seit damals, als der Kirchenmann diese Situation erstmals öffentlich anprangerte, kaum etwas geändert. Es ist der 23. März 1980: Der Erzbischof von San Salvador Oscar Romero hält eine flammende Predigt: Kein Soldat sei verpflichtet, Befehle auszuführen, die gegen das Gesetz Gottes verstoßen, ruft er den Gläubigen zu. "In seinem Namen und im Namen unseres gequälten Volkes bitte ich euch, flehe ich euch an, befehle ich Euch im Namen Gottes: Hört auf mit der Unterdrückung!" Einen Tag später ist Romero tot. Erschossen, während der Messe. Es ist die Rache der Mächtigen, weil er unbequeme Wahrheiten ausgesprochen hatte. In El Salvador herrscht zu diesem Zeitpunkt bittere Armut. Der Grundbesitz und die Macht liegen in der Hand einiger weniger Familien. Die Regierung besteht überwiegend aus Militärs, erklärt Michael Huhn. Er ist Historiker und arbeitet für das Lateinamerikahilfswerk Adveniat. "El Salvador war damals de facto eine Diktatur. Eine Herrschaft, eine Koalition aus Militärs und den wirtschaftlich Mächtigen. Die wirtschaftlich Mächtigen das waren sie sogenannten 14 Familien, die das Land im Griff hatten und die natürlich überhaupt kein Interesse hatten, dass es zu sozialen Veränderungen kommen sollte. Aber es gab eine kräftige oppositionelle Bewegung an den Hochschulen. Das waren die lateinamerikanischen oder salvadorianischen Ausläufer der 68er-Bewegung. Und es gab die große Not, die Armut und Verzweiflung der Tagelöhner, der landlosen Bauern und auch der Bauern, die von ihren Ländereien verdrängt werden sollten, weil da noch mehr Kaffeeplantagen angelegt werden mussten." Von der Barmherzigkeit zur Revolution Auf die Proteste reagierten die Mächtigen mit zunehmender Repression. Romero erlebt mit, wie die Armee Massaker an Demonstranten verübt, wie Kritiker entführt und gefoltert werden. Doch zunächst war er gar nicht der flammende Redner, der das System infrage stellte. Er predigte Barmherzigkeit aber nicht die Revolution, erinnert sich Kardinal Gregorio Rosa Chávez. Er ist Weihbischof von San Salvador und war damals engster Vertrauter von Romero. "Er war ein zaudernder Mensch, fast ängstlich. Oft fragte er um Rat, ihm war die Meinung der Menschen wichtig und zugleich war er ein wenig menschenscheu. Er ging ihnen eher aus dem Weg." Zögerlicher Revolutionär: Romeros Wohnung mit seinem Schreibtisch ist heute ein Museum (Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann) Als Romero 1977 Erzbischof von San Salvador wurde, war er kein Rebell. Er war ein zurückhaltender Mensch, galt als Konservativer. Den Eliten war er willkommen, von ihm erwarteten sie keine Kritik. Doch die Ermordung seines Freundes, des Jesuitenpaters Rutilio Grande im Jahr 1977, ist schließlich der Wendepunkt: Romero wird politisch. In seinen Predigten kritisiert er die Ungleichheit und die Gewalt. Er benannte Missstände und deren Verantwortliche. Justiz und Politik wirft er Käuflichkeit vor. Seine Predigten wurden über einen katholischen Radiosender im ganzen Land ausgestrahlt. Was Romero zu sagen hatte, erreichte die Menschen im letzten Winkel des Landes, erinnert sich der Kardinal. "Es gab ja damals keine objektive Berichterstattung, keine freie Presse. Die arme Landbevölkerung bekam kaum Informationen über das, was im Land passierte. Und ihre Themen kamen in den Nachrichten nicht vor. Die der linken Bewegungen und Gewerkschaften ebenfalls nicht. Es war Romero, der sonntags in der Predigt den Menschen erzählte, was im Land vor sich ging. Er sprach über die Menschenrechte und was er davon hielt. Das war schon sehr konkret." Er wusste, dass er sterben würde Fortan richtete sich der Hass der Mächtigen auch gegen die Kirche und gegen Romero selbst. Sie nannten ihn Kommunistenführer und Terrorist. Flugblätter mit dem Aufruf: "Sei Patriot, bring einen Priester um!", kursierten. Der Historiker Michael Huhn sagt: "Noch wichtiger ist es daran zu erinnern, dass es nicht nur um die Priester ging, sondern dass unendlich mehr Laienarbeiter der Kirche, unendlich mehr Katecheten und Leiter von Basisgemeinden umgebracht worden sind. Es war physischer Mord und es war gleichzeitig der Aufruf, die zählen nicht mehr. Die Rolle von Romero war die, dass er für viele zu einem Ankerpunkt geworden ist. Denn die Sensation war ja, dass es jemand aus der Höhe der Hierarchie war, der quasi die Seiten wechselte und sich zu den "Kleinen" bekannte und dessen Stimme gehört wurde. Diese Stimme wurde am 24. März 1980 für immer zu Schweigen gebracht. Kardinal Gregorio Rosa Chávez erinnert sich an jenen Tag, als sein Freund und Weggefährte getötet wurde. "Ich wusste, dass das geschehen würde. Ich hatte am Vortag seine Predigt gehört und als er sagte: "Hört auf mit der Unterdrückung!", war mir klar, dass das sein Todesurteil sein würde. Er wusste auch, dass er sterben würde. Er hatte keine Angst vor dem Tod, er hatte nur Angst davor, wie sie es machen würden. Am Ende starb er am Altar. Stimme der Armen: Romeros Predigten wurden landesweit durch Radiostationen übertragen (picture alliance / Ken Hawkins / Zuma) Romeros Ermordung bildet den Auftakt zu einem Bürgerkrieg, in dem in den folgenden zwölf Jahren Todesschwadronen, Privatarmeen und Militärs linke Guerillagruppen bekämpften. Die linksgerichteten Bewegungen schlossen sich wenig später zur "Nationalen Befreiungsbewegung" -kurz FMLN- zusammen. Was sie einte, war der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und die Überzeugung, dass diese nur durch den bewaffneten Kampf erreicht werden könne. Am Ende wurde es einer der blutigsten Konflikte auf dem Kontinent. Aufgearbeitet wurde er bis heute nicht. Operation "Säuberung" - ein Massaker Die Gemeinde Chalatenango im Nordosten El Salvadors: Es ist Herbst 2018. Immer noch brennt die Sonne unerbittlich. Suyapa Serrano Cruz geht am Ufer des Río Sumpul entlang. Gemächlich fließt das braune Wasser des Flusses an ihr vorbei, sie deutet auf die andere Seite, ihr Blick wird müde. "Hier an diesem Fluss gibt es nichts, nur die Erinnerungen von uns Überlebenden. Kein Schild, kein Gedenkstein, kein Kreuz. Uns sind nur die Erinnerungen geblieben." Es war im Mai 1982, als Militärs zahlreiche Ortschaften im Nordosten El Salvadors unter Beschuss nahmen. Helikopter flogen über die Häuser, Soldaten feuerten mit Maschinengewehren in die Menge. Ganze Siedlungen wurden niedergebrannt. Wer konnte, versuchte sich über den Fluss ins Nachbarland Honduras zu retten. Hart sei das gewesen, erinnert sich Suyapa und deutet auf die bewachsenen Anhöhen um sie herum. Die Soldaten seien von allen Seiten gekommen. Dort, sagt sie und zeigt auf die andere Seite des Flusses, beginne das Nachbarland Honduras. Auch Suyapa und ihre Familie wollten sich dorthin retten, doch honduranische Soldaten zwangen die Flüchtenden zur Rückkehr. "Sie haben uns zurückgeschickt, es waren so viele Menschen! Einige versuchten, mit dem Boot wieder ans andere Ufer zu gelangen. Aber es war kein Platz für uns und auch andere, und so versuchten wir es schwimmend. Viele schafften es nicht, sie ertranken im Fluss." Auch ihre beiden Schwestern Ernestina und Erlinda, die damals sieben und drei Jahre alt waren, gingen in den Wirren der Flucht verloren. Ob sie ertranken oder von Militärs mitgenommen wurden? Suyapa weiß es nicht. Bis heute sucht sie nach Gewissheit. "Für mich ist es sehr schwer, weil meine Mutter mittlerweile auch gestorben ist. Sie hatte bis zu ihrem Lebensende nach ihren beiden Töchtern gesucht. Viele in unserer Familie wurden getötet. Dieser Krieg hat uns alle zerstört. So viel Leid, das wir erlebt haben. Und unser Kampf ist noch nicht zu Ende. So lange wir leben, werden wir davon erzählen." Der Einsatz am Río Sumpul lief bei den Militärs unter dem Namen "Operación Limpieza", zu Deutsch: "Operation Säuberung". Im Namen der Aufstandsbekämpfung töteten sie hunderte Zivilisten, einfache Menschen vom Land und arme Bauern, die irgendwie zwischen die Fronten geraten waren. Es war eines von mehreren großen Massakern, das Militärs in El Salvador während des Bürgerkrieges anrichteten. Die verschwundenen Kinder von El Salvador Am Ende wurden mehr als 75.000 Menschen getötet, Tausende verschwanden. Unter ihnen auch über 3.000 Kinder. Das war Teil der Kriegsstrategie, sagt Eduaro García. Er ist der Direktor von "Pro-Búsqueda", einer Organisation, die seit vielen Jahren versucht, die vielen Fälle verschwundener Kinder in El Salvador aufzuklären. "In den ersten Jahren des Bürgerkriegs verfolgte die Regierung eine Politik der verbrannten Erde. Die Militärs sind in Dörfer eingedrungen mit dem Auftrag alle zu töten, die im Verdacht standen, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten. Es kam zu großen Massakern. Sie brannten ganze Dörfer nieder und töteten einfach alle, auch die Kinder. Aber das Töten von Kindern hat dann doch viele Soldaten demoralisiert, sie weigerten sich, Befehle auszuführen. Daraufhin fingen sie an, die Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie an Paare im In- und Ausland zu verkaufen. So entwickelte sich ein regelrechter Kinderhandel in El Salvador." Im rund 1.000 Fällen bemüht sich Pro-Búsqueda um Aufklärung. Der systematische Raub von Kindern war auch in anderen Militärdiktaturen Lateinamerikas der 70er und 80er Jahre ein gängiges Mittel. Aber anders als beispielsweise in Chile oder Argentinien gebe es in El Salvador bis heute keinen staatlichen Willen zur Aufklärung, sagt García:. "Es handelt sich um einen "Versöhnungsprozess", der von den Akteuren des Bürgerkriegs diktiert wird. In Wirklichkeit gibt es keine Versöhnung. Die Politiker nennen die Opfer immer noch "Aufständische" und "Kommunisten", genau wie damals. Sie verstehen unter "Versöhnung" einen Schlussstrich unter der Geschichte. Wir hingegen fordern Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparationen und die Garantie, dass so etwas nie wieder passiert." Aufarbeitung wird verschleppt Den Menschenrechtlern läuft die Zeit davon. Überlebende und Hinterbliebene werden älter, viele bringen nicht mehr die Kraft auf weiterzukämpfen gegen ein System, das sich kaum bewegt. Wenig von dem, was vereinbart wurde, als 1992 die Friedensverträge unterzeichnet wurden, wurde umgesetzt: keine Aufklärung, keine Öffnung der Militärarchive. Täter wurden niemals zur Rechenschaft gezogen. Man spiele auf Zeit, davon ist der Menschenrechtler Eduardo García überzeugt. "Sie warten darauf, dass das in Vergessenheit gerät, dass es irgendwann keine Überlebenden gibt, die Ansprüche stellen. Aber dabei vergessen sie eines: dass Gewalterfahrungen über Generationen hinweg weitergegeben werden. Probleme, die wir heute nicht lösen, müssen nachfolgende Generationen lösen. Gründer der ARENA-Partei - und Auftaggeber für den Mord an Romero: Roberto D'Abuisson in den 80er Jahren (picture alliance / Pat Hamilton) Auch Joachim Schlütter von der Friedrich-Ebert-Stiftung in El Salvador ist überzeugt: es fehlt der Wille zur Aufklärung. "Es gab eine Wahrheitskommission. Und das irre ist: Vier Tage bevor der Bericht der Wahrheitskommission mit Namen, mit Orten, mit Zeiten, wo Massaker begangen worden waren, veröffentlicht wurden, gab es eine Generalamnestie." Morde, Massaker, Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Das alles wurde nie geahndet. Die Generalamnestie hatte die damals an der Macht befindliche ARENA-Partei, zu Deutsch: "Nationalistische Republikanische Allianz", ausgesprochen. Eine rechtskonservative Partei, deren Mitglieder während des Bürgerkriegs in Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. Parteigründer Roberto D’Aubuisson Arrieta war es, der den Mord an Erzbischof Romero in Auftrag gegeben hatte. Das gilt heute als bewiesen. Er hatte auch die Todesschwadronen organisiert. Angeklagt wurde er nie. Eine Gesellschaft verliert ihr Vertrauen Welche Lehren haben die Menschen aus der Vergangenheit gezogen? Dass Unrecht nicht bestraft wird und Verbrechen sich lohnen? Auch heute liegt die Straflosigkeit bei über 90 Prozent - Verbrechen werden so gut wie nie aufgeklärt, Täter selten zur Verantwortung gezogen. Joachim Schlütter ist überzeugt: "Diese ganze Gesellschaft hier hat den Schock des Bürgerkriegs noch gar nicht überwunden. Sie hat nie wieder Zutrauen zueinander gefunden. Es gibt keinen gesellschaftlichen Grundkonsens oder Vertrauen. Die sind weg. Und da drauf kam dann noch der Neoliberalismus, nach dem Motto: Wenn jeder an sich selber denkt, ist allen geholfen. Das ist hier auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Leute haben hier untereinander kaum Kontakt. Und das ist ein Punkt, der wird häufig unterschätzt." Und die soziale Frage, an der sich einst die Proteste zu Oscar Romeros Zeiten entzündeten, ist bis heute nicht gelöst. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in El Salvador leben heute unterhalb der Armutsgrenze. An den Verhältnissen haben auch linke Regierungen in El Salvador nichts geändert: Seit 2009 ist die FMLN an der Macht, die sich nach dem Friedensschluss von einer Guerilla-Organisation zu einer politischen Partei wandelte. Auch sie konnte ihre Versprechungen von weniger Gewalt und Armut nicht halten. Nach wie vor suchen viele Salvadorianer ihr Glück in den USA. Schätzungen zufolge lebt bereits heute ein Viertel der Bevölkerung im Ausland. Ihre Geldüberweisungen machen mittlerweile fast ein Fünftel des Bruttosozialprodukts in El Salvador aus. Wer abgeschoben wird und zurück muss, hat in El Salvador keine Perspektiven, sagt Schlütter. "Der soziale Konflikt ist die Mutter aller Aggressionen, aller Gewalt. Das ist übrigens auch ein Ausspruch von Oscar Romero." Podrán matar al profeta - "Sie können den Propheten töten", ist der Titel eines Liedes, das in El Salvador jeder kennt. Gewidmet ist es Oscar Romero, der mit seiner Gesellschaftskritik damals schon Weitblick bewies. Allein: Seine Botschaften wurden offenbar nicht gehört. Aber die Geschichte und seine Rufe nach Gerechtigkeit werden niemals verstummen, heißt es in dem Lied weiter. Auch 26 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist in El Salvador kein Frieden in Sicht. Wenn an diesem Sonntag Romero heiliggesprochen wird, dann haben seine Forderungen, die Überwindung der sozialen Ungleichheit, Aussöhnung und ein Ende der Gewalt im Land auch 38 Jahre nach seiner Ermordung nichts an Aktualität verloren.
Von Ina Rottscheidt
38 Jahre nach seiner Ermordung wird Oscar Romero vom Papst heiliggesprochen. An den Verhältnissen, die der ehemalige Erzbischof von San Salvador in seiner Heimat anprangerte, hat sich jedoch bis heute nichts geändert: das Land versinkt in Armut, Korruption und Gewalt.
"2018-10-13T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:15:22.707000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heiligsprechung-von-oscar-romero-warten-auf-den-erloeser-100.html
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Eine saudische Fernsehserie karikiert den IS
Star der Serie "Selfie" ist Nasser Al Qasabi, ein populärer saudischer Fernsehschauspieler. (AFP) Der populäre arabische Unterhaltungssender Middle East Broadcasting, kurz MBC, überraschte zum Auftakt des Ramadans im Juni mit einer neuen Sitcom. "Selfie" heißt die Serie - ein Selbstporträt der saudischen Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und ihren Fehlern. Thema ist nahezu alles, was die Gesellschaft prägt, von Gewalt in der Familie über Doppelmoral bis zu Diabetes und Übergewicht. Bevorzugtes Ziel des Spottes "Made in Saudi-Arabia" sind jedoch religiöse Fanatiker jeder Art, ob Hassprediger, IS-Terroristen oder allzu fromme Künstler. Die Vorbilder sind real: In einer Folge wird der populäre saudische Gesangsstar Mohammed Abdu karikiert, der einst unter großem Mediengetöse aus dem Musikbusiness ausstieg, weil die Musik angeblich nicht zu seinem neu entdeckten radikalislamischen Bewusstsein passte. In einer anderen Folge geht es um den Islamischen Staat. Ein saudischer Familienvater reist verzweifelt nach Syrien, um seinen Sohn aus den Fängen der Terroristen zu befreien. Er müht sich unter anderem in einem Trainingslager für künftige IS-Kämpfer ab, was teilweise durchaus komische Züge annimmt. Doch dann wird der alte Herr festgenommen, die Situationskomik schlägt um in bitteren Ernst. Hauptdarsteller mit dem Tod gedroht Statt mit seinem Vater nach Hause zurückzukehren, besteht der mittlerweile beim Islamischen Staat kämpfende Sohn darauf, seinem Erzeuger eigenhändig die Kehle durchzuschneiden. Rettung ist am Ende der Folge nicht in Sicht. Es ist die Umwertung aller arabischen Werte. Star der Serie "Selfie" ist Nasser Al Qasabi, ein populärer saudischer Fernsehschauspieler. Viele Zuschauer drücken in sozialen Medien ihre Zustimmung aus, doch einige finden seinen Auftritt in "Selfie" offenbar nicht amüsant: Aktuell quillt der Twitteraccount des Schauspielers über vor bösartigen Beschimpfungen und Morddrohungen. Er sei vom Glauben abgefallen, ein Apostat, heißt es da, und "Kann er sich nicht über schiitische Rechtsgelehrte lustig machen?" Andere fordern unverblümt, ihm die Kehle durchzuschneiden wie dem Vater in der Serie. Loay Mudhoon ist Nahostexperte der Deutschen Welle und beobachtet als solcher die Medien in der arabischen Welt. "Der Hauptdarsteller ist ein berühmter Comedian in Saudi-Arabien, der dafür bekannt ist, dass er immer in der Lage war, gesellschaftliche Debatten mit dem Mittel der TV-Satire anzustoßen. Und der Erfolg seiner aktuellen Serie gibt ihm zweifelsohne Recht. Aber sicher gehört auch Mut dazu, weil die IS ihm und seiner Familie inzwischen mehrfach mit dem Tode gedroht haben." Der Künstler nimmt es anscheinend gelassen. "Liebe Leute, regt euch nicht auf, wir haben Ramadan", ist auf seinem Twitteraccount zu lesen. Er werde weitermachen. Saudi-Arabien brauche Intellektuelle, die sich trauten, gegen den Strom zu schwimmen, sagte er zum Start der Serie in einem Fernsehinterview mit dem arabischen TV-Sender Al Arabiya. Das Wort Dschihad sei im Arabischen ein friedlicher Begriff, so der Schauspieler. Es heiße: Sich bemühen, eine Sache möglichst gut zu machen. Diese Bedeutung sei von den Terroristen gestohlen worden. Al Qasbi zählt zur liberalen Elite Saudi-Arabiens. Humor sei die beste Waffe gegen Ignoranz und Rückständigkeit, findet er. Doch manchen geht der Spaß zu weit, auch in westlichen Medien. Satirische Spitzen gegen den Terror des Islamischen Staates – darf man das?", fragten renommierte Medien wie der Fernsehsender CNN. Für Loay Mudhoon von der Deutschen Welle ist die Antwort klar: Man darf nicht nur, man muss sogar. "Diese Debatte und vor allem die große Solidarität mit dem Hauptdarsteller sind irgendwie symptomatisch für die Veränderungen in der saudischen Gesellschaft, wo zunehmend Künstler, Kulturschaffende und Filmemacher sich gegen Fanatismus und Brutalität im Namen der Religion wehren." Es sei höchste Zeit für die saudische Gesellschaft, sich mit diesen Themen aktiv auseinanderzusetzen, sagt Loay Mudhoon. Denn die Ideologie des islamischen Staates sei nicht weit weg vom in Saudi-Arabien herrschenden Wahhabismus und der Islamische Staat drohe mittlerweile offen damit, Saudi-Arabien ins Chaos zu stürzen.
Von Martina Sabra
In der arabischen Welt macht zurzeit eine Ramadan-Fernsehserie Schlagzeilen, weil sie sich kritisch mit dem Terror und der religiös verbrämten Ideologie des IS auseinandersetzt. "Selfie" heißt die Sitcom, die ausgerechnet in Saudi-Arabien spielt, dem Land, das als Mutterland des IS angesehen wird.
"2015-07-10T15:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:47:05.978000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/satire-gegen-terror-eine-saudische-fernsehserie-karikiert-100.html
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Fest und Markt der Kunst
"Wir haben in diesem Jahr Galerien aus den Ländern eingeladen, die wie Argentinien das Bicentenario begehen, ihre Zweihundertjahrfeier","… sagt Facundo Gomez Minujín, Direktor der Kunstmesse arteBA in Buenos Aires. Mexiko, Kolumbien, Chile und Peru werden also besonders stark vertreten sein, neben Galerien aus Brasilien, Uruguay und natürlich Argentinien. In Lateinamerika hat sich arteBA zum wichtigsten Schaufenster für aktuelle Malerei, Installationen und Fotokunst gemausert. Jedes Jahr wird die Messe von mehr Sammlern, Museums-Direktoren und Kuratoren aus dem Ausland besucht. Und zunehmend kommen die Gäste aus Europa und den USA. Lateinamerika stresst in der internationalen Kunstwelt auf wachsendes Interesse, beobachtet Facundo Gómez Minujín, Vorsitzender der arteBA-Stiftung: ""Das Metropolitan Museum und das Museum of Modern Art in New York, die Tate Gallery in London, sie alle haben heute eigene Abteilungen für lateinamerikanische Kunst. Und stellen immer öfter Werke von hiesigen Künstlern aus. Peu à peu gewinnt Kunst von diesem Kontinent international Terrain."Das ist auch die Erfahrung von Fernando Entín, der in Buenos Aires die Galerie Elsi del Río leitet. Bei arteBA wird er unter anderem die Serie Urban Birdwatching des jungen Argentiniers José Luís Anzizar zeigen: urbane Landschaften mit Vögeln als bunte Papiercollagen. Galerist Entín lobt die Messe für ihre Bemühungen, den Verkauf von lateinamerikanischer Kunst zu fördern – auch in Argentinien selbst. Wer dort Kunst erwirbt, tut es vor allem bei arteBA. Fast die Hälfte ihrer Jahresumsätze machen die Galeristen an den fünf Messetagen. Insgesamt haben es die Galerien in Argentinien eher schwer: Der Markt ist klein, die Kultur des Kunstsammelns nicht sehr ausgeprägt. "In Argentinien ist die Leidenschaft, Originalkunstwerke zu kaufen, weniger verbreitet als in vielen anderen Ländern. Die Kunstmesse arteBA verfolgt daher auch ein pädagogisches Ziel."Die Preise für Kunst sind in Argentinien niedriger als in Brasilien oder Mexiko, wo es mehr Sammler gibt. Kunst aus Lateinamerika kostet insgesamt weniger als Werke aus Europa, Indien oder China. "Für das, was man anderswo für Werke eines Anfängers bezahlt, kann man hier schon fast die Arbeiten eines anerkannten Künstlers erwerben."Meint Facundo Gomez Minujín, Vorsitzender der arteBA-Stiftung. Zwar tragen günstige Preise zur Attraktivität bei, aber Kunst aus Argentinien überzeugt vor allem durch ihre Qualität, Vielfalt und ihren kosmopolitischen Charakter. Ob Leon Ferrari, der 2007 bei der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen geehrt wurde, oder Guillermo Kuitca – immer mehr zeitgenössische Künstler setzen sich international durch. Highlights von arteBA 2010 sind etwa die Arbeiten von Luís Felipe Noé, die die Galerie Rubbers präsentiert. Darunter ist das kreisförmige und drehbare Gemälde "Las Vueltas que da la Vida", frei übersetzt "Die Runden, die das Leben dreht". Argentiniens Popart-Pionierin Marta Minujín ist unter anderem mit der Mega-Installation "Vergoldeter Multidirektionaler Obelisk" vertreten, einer Parodie auf den Obelisco, das Wahrzeichen von Buenos Aires.
Von Victoria Eglau
In Lateinamerika hat sich arteBA zum wichtigsten Schaufenster für aktuelle Malerei, Installationen und Fotokunst gemausert. Jedes Jahr wird die Messe von mehr Sammlern, Museums-Direktoren und Kuratoren aus dem Ausland besucht. Und zunehmend kommen die Gäste aus Europa und den USA.
"2010-06-25T17:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:07:14.198000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fest-und-markt-der-kunst-100.html
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"Jeder Verdachtsfall muss öffentlich gemacht werden“
Die Theologin Margot Käßmann fordert eine bessere Aufarbeitung sexueller Gewalt innerhalb der Evangelischen Kirche. (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte) Bei der Jahrestagung der Evangelischen Kirche, die vom 7. bis zum 10. November digital stattfindet, wird auch über die Opfer von sexualisierter Gewalt gesprochen. Margot Käßmann, ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, sagte im Dlf, dass die Vergangenheit aufgearbeitet und in Zukunft anders gehandelt werden müsse. "Warum wurden Täter geschützt? Warum wurden Verbrechen vertuscht, weil man offensichtlich meinte, Kirche zu schützen? Und das widerspricht unserer Grundeinstellung, dass die Kirche zuerst die Opfer zu schützen hat", so Käßmann. "Die Idee vom Pastor, der unantastbar ist, den man nicht hinterfragt, das ist ein absolut falsches Amtsverständnis." Die Täter sexuellen Missbrauchs haben das Vertrauen des Amtes verspielt. Es sei schwer, das wieder aufzubauen, sagte Käßmann. "In Zukunft muss jeder Verdachtsfall öffentlich gemacht werden. Ich denke, da kann es keine innerkirchliche Aufklärung geben, sondern es muss an die Staatsanwaltschaft gegeben werden." Täter sollten aus dem Dienst genommen und nicht versetzt werden, so Käßmann weiter. Die EKD ist die Dachorganisation für die 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland, die 20,2 Millionen Mitglieder zählen. Ursprünglich war die Tagung der EKD in Präsenz in Bremen geplant. Nach einem Impfdurchbruch und der angespannten Corona-Lage findet sie digital statt. In diesem Jahr steht unter anderem die Wahl eines neuen Rates der EKD auf der Tagesordnung. Missbrauchsskandal in der EKD - Versuch einer ZwischenbilanzSeit elf Jahren ist der Missbrauchsskandal auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland Thema. Experten, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Institutionen beschäftigen, äußern ihre ganz persönliche Sicht auf Erfahrungen mit der Institution Kirche. Das Interview im Wortlaut: Münchenberg: Frau Käßmann, heute wird drei Stunden über das Thema sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche gesprochen. Ist der Zeitrahmen angemessen? Käßmann: Den Zeitrahmen können wir jetzt nicht in Stunden bemessen und sicher ist das Thema nach den drei Stunden auf gar keinen Fall irgendwie zu Ende bearbeitet. Es ist ja bitter, wenn wir jetzt wie eben im Beitrag hören müssen, dass die Betroffenen, die Opfer von sexualisierter Gewalt erklären, dass unsere Kirche das nicht energisch genug aufklärt. Und ich denke, wir müssen hören, was die Forderungen sind, und uns auch noch mal deutlichmachen: Wer sind eigentlich die Täter und warum wurden hier Täter geschützt, warum wurden Verbrechen – das sind Straftaten – vertuscht, weil man offensichtlich meinte, Kirche schützen zu müssen. Und das widerspricht ja unserer Grundüberzeugung, dass die Kirche zu allererst die Opfer in unserer Gesellschaft zu schützen hat. "Dieses Vertrauen zurückzugewinnen, das ist eine schwierige Aufgabe" Münchenberg: Sie sind trotzdem eine Insiderin. Wie ist denn Ihr Eindruck? Die Kritiker, die Betroffenen werfen der EKD vor, dass sie sich vor diesem schwierigen Thema weggeduckt habe und vielleicht auch ein bisschen darauf gehofft hat, dass man sich hinter den Katholiken verstecken kann, weil die ganze Debatte hat sich ja zuletzt in diese Richtung hin fokussiert. Wie ist da Ihr Eindruck? Wie geht die EKD mit dem Problem um? Käßmann: Mein Eindruck ist, dass versucht wird, mit dem Problem - es ist ja nicht ein Problem, sondern mit diesen Straftaten offensiv umzugehen, aber da natürlich auch ein Schock darüber ist, was passieren konnte und dass es Verdachtsfälle offensichtlich gab. Ich meine, Frau Kracht hat auch gesagt, man brauchte mal eine Aussage wie "Du bist nicht allein." Sie ist ja auch Mitglied unserer Kirche. Ich weiß gar nicht, ob sie es noch ist. Aber jedenfalls: Wer ist da die Kirche? – Diese Idee vom Pastor, der irgendwie unantastbar ist, oder dem Diakon, den man nicht hinterfragt in seinem Handeln, ich denke, das ist auch ein absolut falsches Amtsverständnis. Ich muss sagen, für mich ist auch bitter, dass es da offensichtlich Kollegen gab, die das Vertrauen, welches das Amt eines Pfarrers, eines Diakons, eines Priesters mit sich bringt, derartig verspielt haben, weil dieses Vertrauen zurückzugewinnen, ich denke, das ist eine enorm schwierige Aufgabe. Sexueller Missbrauch - Schleppende Aufarbeitung der KirchenSexuelle Gewalt an einer Vielzahl von Schülern am Canisius-Kolleg: Nach diesem erschütternden Befund 2010 wurden immer mehr Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen bekannt. Seitdem ist von außen betrachtet viel passiert – doch Betroffene und Experten sehen die Aufarbeitung erst am Anfang. "In Zukunft muss jeder Verdachtsfall sofort öffentlich gemacht werden" Münchenberg: Nun hat auch der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm gesagt, er sei mit dem Umgang des Themas nicht zufrieden. Die Frage stellt sich aber schon: Er war sieben Jahre im Amt und hätte vielleicht auch mehr tun können. Käßmann: Heinrich Bedford-Strohm hat gesagt, wir wollen es nicht an Personen festmachen. Das möchte ich auch nicht tun. Aber ganz klar muss sein, es muss um Transparenz gehen. In Zukunft muss jeder Verdachtsfall sofort öffentlich gemacht werden. Ich denke auch, da kann es keine innerkirchliche Aufklärung geben, sondern das muss an Staatsanwaltschaft übergeben werden, wenn es sich um Straftaten handelt. Täter müssen konsequent aus dem Dienst genommen werden. Das kann nicht sein, dass ein Täter versetzt wird, wie es in der Vergangenheit war. Das ist das für die Zukunft und was die Vergangenheit betrifft, denke ich, hilft nur, glasklar zu hören, was die Opfer zu sagen haben, und zu fragen, wie können wir jetzt als Kirche diesen Opfern zur Seite stehen. Münchenberg: Es gibt auch Forderungen nach der Einsetzung einer Wahrheitskommission, mehr Unabhängigkeit bei der Überprüfung von den Institutionen der Kirche. Wäre das aus Ihrer Sicht auch ein sinnvoller Schritt? Käßmann: Ich denke, das wäre ein sinnvoller Schritt, weil es ja auch entlastet, wenn wir sagen, wir übergeben das nach außen. Bischof Tutu, der anglikanische Erzbischof von Südafrika, hat damals ja auch einer Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgesessen, und er hat gesagt: Versöhnung ist nur möglich, wenn die Opfer gehört werden und Täter ihre Taten bekennen. Das war auch ein sehr schmerzhafter Prozess und ich denke, unsere Kirche muss diesen schmerzhaften Weg gehen, weil es ist bitter auch zu hören, was sich da vollziehen konnte in Gemeinden, und dass dann Opfern, die das angezeigt haben, nicht geglaubt wurde, dass dann auch Verfahren verschleppt wurden und dass Gemeinden dann auch gemeint haben, sie müssen ihren Pfarrer oder ihren Diakon schützen und nicht das Kind oder die Jugendliche, die missbraucht wurde. Ich denke, es ist schmerzhaft, das anzusehen. Wir brauchen dafür auch eine Sprache. Wir haben allzu lange offensichtlich darüber nicht gesprochen und ich denke, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in Zukunft anders zu handeln, das gehört zusammen. "Viele Menschen in unserem Land suchen nach Halt und Orientierung" Münchenberg: Frau Käßmann, es geht ein Stück weit auch ums Geld. Der Vorwurf steht im Raum von Seiten der Betroffenen, die Landeskirchen versuchten, die Summen durch "Trickserei" bewusst niedrig zu halten. Ist das nicht ein ungeheurer Vorwurf? Käßmann: Das ist ein ungeheurer Vorwurf. Ich kann mir das, muss ich jetzt auch sagen, eigentlich nicht vorstellen. Ich war elf Jahre Bischöfin und ich kann mir nicht vorstellen, dass da versucht wird, um Geld zu tricksen. So kenne ich meine Kirche eigentlich nicht. Münchenberg: Nun ist die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt das eine; das andere ist schon auch eine grundsätzliche Frage, wie sich die Evangelische Kirche angesichts schwindender Mittel, Geldmittel, und auch weiterhin einer großen Anzahl von Mitgliedern, die austreten, aufstellen soll. Haben Sie da einen Rat? Käßmann: Ich sehe zweierlei. Das eine ist die Frage, wie können wir unseren Glauben, in dem wir ja stehen, die Tradition, die Rituale, die biblischen Geschichten Menschen heute so vermitteln, dass wir ihnen sagen, da kannst Du Halt finden, wie Generationen vor uns in diesem christlichen Glauben Halt gefunden haben. Ich denke, viele Menschen in unserem Land suchen nach Halt und Orientierung, finden es aber offensichtlich nicht in unseren Kirchen. Also ist die Frage, wie können wir diese wunderbare christliche Botschaft, in deren Tradition ich mich aufgehoben fühle, besser vermitteln. Das andere sind für uns die Gemeinden. Ich bin ja jeden zweiten Sonntag mindestens irgendwo in einer Gemeinde und frage mich: Wir haben so viele großartige diakonische Arbeit, Wohnungslosenhilfe, die Tafeln, Beratungsstelle für Hilfe- und Ratsuchende. Warum spiegelt sich das eigentlich nicht in unseren Gottesdiensten? Wir beraten draußen professionell Menschen in schwierigen Lebenslagen, aber die haben nicht den Eindruck, dass sie am Sonntag im Gottesdienst zuhause sind, sich da beheimaten. Ich meine, dass unser gottesdienstliches Leben und unser soziales Handeln stärker zusammenkommen müssen. Menschen sollen gestärkt aus Gottesdienst herausgehen Münchenberg: Sie sagen, die Gläubigen finden vielleicht keine Heimat bei den Gottesdiensten. Was muss oder sollte da anders sein? Käßmann: Gestern habe ich gepredigt und dann sehe ich da oben drei Konfirmandinnen und zwei Konfirmanden sitzen, und dann frage ich mich, müssen die das jetzt absitzen, oder sagen die, da nehme ich was mit. Die Frage ist ja immer, fühlen Menschen sich da angesprochen, oder haben sie den Eindruck, ich sitze da eine dreiviertel Stunde und gehe dann wieder raus. Ich möchte, dass Menschen gestärkt für das Leben im Alltag der Welt, das oft schwer genug ist, aus diesem Gottesdienst wieder herausgehen, und ich sehe da eigentlich einen Schlüssel, dass es lebendige Orte sind, auf die ich mich freue. Meine Mutter hat früher immer gesagt,, wenn ich diese Stunde am Sonntagmorgen nicht habe, halte ich die ganze Woche nicht durch, und wie werden Gottesdienste zu solchen Orten. Das ist für mich eine ganz zentrale Frage. Münchenberg: Der bisherige Vorsitzende Bedford-Strohm stand für eine öffentliche Theologie. Das heißt, er hat in der Evangelischen Kirche zu aktuellen politischen Themen Stellung und Position bezogen. Ich nenne mal Migrationspolitik als ein Beispiel. Man hat selber ein Rettungsschiff gechartert. Das gefällt nicht allen, muss man sagen, in der Kirche. Ist die Evangelische Kirche zu politisch geworden? Käßmann: Das sehe ich nicht so. Da werden Sie sich nicht wundern. Für mich gehört Verkündigung des Glaubens und Leben in der Welt unmittelbar zusammen. Du kannst natürlich nicht über einen Text predigen wie "Der Fremdling, der unter euch wohnt, den sollt ihr schützen" und sagen, das hat aber mit Fremden, die heute zu uns kommen, nichts zu tun. Oder "Selig sind, die Frieden stiften" und dann sagen, mit dem Frieden in dieser Welt hat das nichts zu tun, es geht nur um den inneren Frieden. Zu allererst geht es mir darum, von der Bibel zu erzählen, die Bibel zu übersetzen in unsere Zeit. Das tut die Kirche der Reformation. Aber damit nimmt sie immer auch Stellung zum öffentlichen Leben in einem Land, und das tut sie übrigens auch, wenn sie schweigt, und unsere Kirche hat manches Mal zu oft auch geschwiegen. "Ich wünsche mir schon, dass die Gemeinden versuchen, lebendige Orte zu bleiben" Münchenberg: Nun müssen die evangelischen Kirchen auch drastisch sparen. Was wird das für die tägliche Arbeit heißen, aber vielleicht auch für die Präsenz der Kirche in der Öffentlichkeit? Käßmann: Ich denke, das wird für viele Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt und ihre Gemeinden schwierig. Ich erlebe, dass Gemeinden sich fragen, wie wird das mit der Präsenz des Pfarrers, der Pfarrerin vor Ort, die doch oft auch eine ganz wichtige Figur sind der Seelsorge, der Identifikation der Gemeinde, um die sich die Gemeinde sammelt. Wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin dann 16 Dörfer zu versorgen hat, ändert sich das, und wie schaffen wir es, die Ortsgemeinden trotzdem lebendig zu halten. Das muss nicht am Geld hängen, aber ich wünsche mir schon, dass die Gemeinden versuchen, lebendige Orte zu bleiben, und dass wir da kreativ werden. Wir hatten hier in Niedersachsen mal die Idee, die Kirchen können sich ja öffnen. In der Evangelischen Kirche kann auch ein voll gültiger Gottesdienst von Menschen gehalten werden, die getauft sind, ohne ein ordiniertes Amt zu haben. Ich wünsche mir, dass die Gemeinden sich da nicht deprimieren lassen, wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin so viele Orte zu versorgen haben, sondern fragen, was können wir vor Ort tun, damit wir trotzdem lebendig Kirche bleiben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Margot Käßmann im Gespräch mit Jörg Münchenberg
Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann fordert von der evangelischen Kirche, die Vergangenheit aufzuarbeiten, Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft zu übergeben und Täter aus dem Dienst zu nehmen. Diese hätten das Vertrauen des Amtes verspielt - und das sei nun schwer wieder aufzubauen.
"2021-11-08T08:10:00+01:00"
"2021-11-09T11:21:05.667000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexualisierte-gewalt-in-der-ekd-jeder-verdachtsfall-muss-100.html
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Es ist an der Zeit, “intensiv diplomatisch und politisch zu agieren“
Bettina Klein: Schon vor zweieinhalb Monaten hatte Präsident Obama die Überprüfung der Geheimdienstaktivitäten angekündigt. Eine spezielle Kommission wurde dazu eingerichtet, die auch damals schon, Mitte August, den Schaden für die internationalen Beziehungen unter die Lupe nehmen sollte. Tenor: Wir wollen nicht alles sammeln, nur weil wir es können! Ergebnisse gibt es aus US-Sicht nicht. Man steht im Augenblick allerdings eher auf dem Standpunkt: Alle tun es, überall, alle wissen das, was also soll die überdimensionierte Empörung in Deutschland?Ein Vertrauensbruch, Enttäuschung, Wut, Empörung. Man spürt, wie angefasst deutsche Regierungspolitiker sein müssen, oder dass sie sich zumindest so geben. Von Demütigung ist in Kommentaren die Rede, von Missachtung, von Anstandslosigkeit der USA. Deutschland fühlt sich offenbar kleingemacht von den Amerikanern, das ist die vorherrschende Grundstimmung und Tonlage in der Öffentlichkeit. Wie schlimm also steht es um die transatlantischen Beziehungen, wie sieht er die deutschen Reaktionen im Augenblick, das habe ich eben einen Politiker mit viel Erfahrung in diesem Bereich gefragt: Hans-Ulrich Klose, SPD, bis zuletzt im Bundestag Vorsitzender der Parlamentariergruppe USA.Hans-Ulrich Klose: Na ja, das Ausspähen einer Regierungschefin eines befreundeten Landes ist schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Wobei ich zugeben muss, ich weiß bis heute nicht ganz genau, ob das eher ein Zufallsergebnis gewesen ist oder das Ergebnis einer gezielten Attacke!Klein: Das heißt, auch das geht Ihrer Meinung nach nicht aus diesen Snowden-Dokumenten, auf denen ja die Information fußt, das geht daraus gar nicht hervor, meinen Sie?Klose: Ich weiß es jedenfalls nicht genau. Man hört ja immer wieder, dass die Kanzlerin zwei unterschiedliche Handys benutzt, eines, das sozusagen geschützt ist, und ein weiteres privates, mit dem man sie ja auch gelegentlich auf der Regierungsbank sitzen sah, und da hat sie mit dem Handy gearbeitet. Wenn es so gewesen ist, dass die NSA Handy-Verbindungen abgeschöpft hat, dann kann es ein Zufallsergebnis gewesen sein, darüber wird ja auch spekuliert. Also, ich nehme mal ein Beispiel: Die Kanzlerin unterhält sich mit irgendeinem Fraktionskollegen auf dem Handy über Afghanistan, und dann fallen bestimmte Begriffe. Und dann sucht halt der Computer bei der NSA - so stelle ich mir das vor - bestimmte Verbindungen heraus und landet dann möglicherweise zufällig auf dem Handy der Kanzlerin. Ich weiß es aber nicht.Klein: Und das wäre dann aus Ihrer Sicht weniger schlimm, als wenn man jetzt von einer gezielten Überwachung ausgehen würde?Klose: Nein, das ist auch schlimm. Aber es macht dann doch einen Unterschied, finde ich. Denn dann könnte man sagen, es ist zufällig passiert bei dem Bemühen der NSA, Verbindungen herauszufinden, die auf eine terroristische Aktivität schließen lassen. Das ist es ja, was einem auf dem ersten Blick so stark missfällt, es wird gesagt, das alles geschieht der Sicherheit wegen. Aber dass die Kanzlerin in die Nähe von Terroristen gerückt wäre, das kann man ja nun wirklich nicht unterstellen.Klein: Herr Klose, Sie beschäftigen sich seit Langem mit den transatlantischen Beziehungen, sind seit Langem dabei engagiert. Wir hören im Augenblick sehr emotionale Worte hier in der deutschen Öffentlichkeit, die eher an eine schwere Enttäuschung in einer Liebesbeziehung erinnern, denn an ein interessengeleitetes Bündnis zwischen Staaten. Halten Sie das für angemessen?Klose: Ich bin ein bisschen irritiert über das, was im Augenblick sich vollzieht. Man kann sagen, ja, das hat etwas mit einer enttäuschten Liebesbeziehung zu tun, auch einer persönlichen, Obama war ja hier und ist immer noch ein vergleichsweise populärer Präsident. Das kann sich allerdings in letzter Zeit geändert haben. Es kann aber auch sein, dass so etwas wie latenter Antiamerikanismus sich jetzt in dieser Situation Bahn bricht.Klein: Wo würden Sie den erkennen wollen?Klose: Na ja, es hat das immer gegeben und im Augenblick gibt es so eine Tendenz, jedenfalls meine ich, die herauszuhören, den Ugly American wiederzuentdecken, den hässlichen Amerikaner. Klein: Mahnen Sie denn dennoch, Herr Klose, eine stärkere Kontrolle der US-amerikanischen Geheimdienstaktivitäten an?Klose: Ich habe dafür Verständnis, aber der Politik würde ich raten, in hohem Maße rational zu verfahren und doch davon auszugehen, dass die Beziehungen zwischen Europa und Amerika, und Deutschland und Amerika, wenn man sich die letzten Jahrzehnte ansieht, jedenfalls insgesamt eher sehr positiv sich ausgewirkt haben. Und so was würde ich ungern in öffentlicher Debatte zerreden.Klein: Das heißt, Sie würden auch dringend anmahnen, dass in puncto Kontrolle, was die Geheimdienste in den USA angeht, Reformen nötig sind und dass das dringend auch eingefordert werden muss?Klose: Darüber muss man reden. Darüber muss man mit den eigenen Diensten reden, wie deren Einschätzung ist - ich gehe davon aus, das geschieht auch -, und man muss darüber mit den Amerikanern reden. Und da gibt es vielfältige Möglichkeiten, unter anderem, wir haben Botschaften in Washington, und die Amerikaner haben Botschaften hier, und da muss man halt miteinander reden, und wenn es wichtig ist, muss man Menschen, die was davon verstehen, in die jeweils andere Stadt schicken und versuchen, herauszufinden, was liegt eigentlich an und was wollen wir gemeinsam, oder gibt es da grundlegende Störungen, an denen gearbeitet werden muss? Ich finde, im Augenblick bewegen wir uns sehr im Bereich der Spekulation, und die Spekulation ist, wie ich finde, kein guter politischer Ratgeber. Klein: Es wird ja auch beklagt im Augenblick, dass wir Deutschen offenbar nicht mehr so furchtbar wichtig sind für die USA, dass man mögliche Schäden durch diese Aktion als gering einstuft. Gehört zu dem Bild eventuell auch dazu, dass aufseiten der Amerikaner, was den Bündnispartner Deutschland angeht, in der Tat zumindest hinter vorgehaltener Hand beklagt wird, dass Deutschland nicht der eigenen Wirtschaftskraft entsprechend genügend Verantwortung übernehme und auch deswegen aus Sicht der USA offensichtlich da eine Art Bedeutungsverlust eingetreten ist?Klose: Das ist eine Kritik, die wir vielfach hören. Es wird von Deutschland Führung erwartet und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen entsprechend seinen Möglichkeiten. Das ist eine Debatte, der wir uns stellen müssen. Ich habe immer dazu gesagt, ich akzeptiere das Argument, bitte aber auf der anderen Seite zu akzeptieren, dass die erste Verantwortlichkeit der Deutschen darin liegt, die richtigen Konsequenzen aus unserer Geschichte zu ziehen. Und diese Geschichte belastet uns noch immer und sie wird uns auch in Zukunft belasten.Klein: Was meinen Sie mit "richtige Konsequenzen aus der Geschichte"?Klose: Na ja, wir waren früher ein Land, das großmächtig aufgetreten ist, wir waren sozusagen eine Supermacht auf dem Sprung und haben sehr stark gesetzt auf Macht, und auch militärische Macht. Und das ist uns, wie wir alle wissen, nicht besonders gut bekommen.Klein: Deutschland und Brasilien wollen jetzt gemeinsam bei der UNO eine Resolution erwirken zum Thema US-Spionage. Halten Sie das für einen angemessenen Weg?Klose: Nein, das halte ich nicht für einen angemessenen Weg. Das ist Imponiergehabe und das hat mit kluger Außenpolitik wenig zu tun.Klein: Sagen Sie das, weil Sie glauben, dass das nicht sehr viel Erfolg haben wird, oder kritisieren Sie das als Strategie?Klose: Ich kritisiere das als Strategie. Ich gehe immer noch davon aus, dass wir transatlantische Bündnispartner sind, da gibt es im Augenblick Schwierigkeiten, also muss man darüber reden und versuchen, sie zu beseitigen, zu bereinigen. Eine demonstrative Geste, die hier möglicherweise scheitert, aber jedenfalls im Ergebnis nichts bringt, halte ich für, ich sage es mal vorsichtig, unklug.Klein: Herr Klose, wie kritisch sehen Sie denn das Verhalten der bisherigen Bundesregierung den Sommer über, als wir die NSA-Affäre mit anderen Aspekten auf der Tagesordnung hatten, der ja Ihre Partei, aber auch andere vorwerfen oder vorgeworfen haben, die Sache zu schnell als beendet erklärt zu haben, und zu wenig entschieden in Washington aufgetreten sind?Klose: Das waren Wahlkampfzeiten und das erklärt manches. Ich war bei den Gesprächen, die in Washington geführt worden sind, nicht dabei. Dass es aufseiten der Bundesregierung ein Bestreben gab, die Sache herunterzumänteln, ist unübersehbar. Aber das erklärt sich eben aus der Situation. Und jetzt spätestens ist es an der Zeit, intensiv diplomatisch und politisch zu agieren, aber nicht in öffentlichen Demonstrationen.Klein: Der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr zum Thema bei dradio.de:"Kontrolle ist ja kein Misstrauen" - Der frühere BND-Präsident Hansjörg Geiger plädiert für klare Grenzen bei der GeheimdienstarbeitBosbach: Merkel ist "wirklich im Mark erschüttert" - CDU-Innenpolitiker empört über offensichtliches Abhören des Kanzlerinnen-Handys *Merkel und Hollande sollen NSA-Affäre aufklären - EU-Gipfel ringt um Antwort auf US-SpähangriffeGöring-Eckardt: Brauchen eine öffentliche Debatte über NSA-Skandal - Spähaffäre: Grünen-Fraktionschefin fordert Sitzung des Bundestages *
Hans-Ulrich Klose im Gespräch mit Bettina Klein
Das Ausspähen der Regierungschefin eines befreundeten Landes sei schon ein ungewöhnlicher Vorgang, sagt Hans-Ulrich Klose (SPD). Er befürchtet jedoch, dass sich in der Kritik am Vorgehen der USA so etwas wie "latenter Antiamerikanismus" Bahn brechen könnte.
"2013-10-26T14:18:00+02:00"
"2020-02-01T16:42:02.904000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/es-ist-an-der-zeit-intensiv-diplomatisch-und-politisch-zu-100.html
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Die Symbolfigur der Finanzkrise vor Gericht
Georg Funke wird vorgeworfen, die Lage der Bank HRE falsch dargestellt zu haben. (dpa / picture-alliance / Tobias Hase) "Herr Funke hat damals gesagt, ich kann nichts sagen, weil gegen mich ermittelt wird, er hat nichts gesagt. Das ist sein gutes Recht als Zeuge, aber das hat natürlich einen schwachen Eindruck hinterlassen, klar", erinnert sich Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen, an den Auftritt von Georg Funke im Juni 2009 vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Pleite der Hypo Real Estate, kurz HRE. Nun - fast acht Jahre später - muss der ehemalige HRE-Chef Funke auf der Anklagebank Platz nehmen. Am Montag beginnt am Landgericht München der Strafprozess gegen ihn und den ehemaligen Finanzvorstand Markus Fell. Die Staatsanwaltschaft wirft beiden Angeklagten vor, die Lage der Bank 2007 und Mitte 2008 – während der aufkommenden Finanzkrise - falsch dargestellt und die Bilanz geschönt zu haben. Nur wenige Monate später musste der Staat eingreifen: Er rettete die HRE mit frischem Kapital von fast zehn Milliarden Euro und Garantien von zeitweise 124 Milliarden Euro. Fell soll zudem die Aktionäre getäuscht haben. Beiden Angeklagten drohen mehrjährige Haftstrafen, beide wehren sich gegen die Vorwürfe. Georg Funke will ausführlich aussagen Georg Funke will offensichtlich reden. Sein Mandant werde sich ausführlich äußern, sagte sein Strafverteidiger Wolfgang Kreuzer diese Woche am Telefon. Funke habe eine ausführliche Darstellung verfasst. 192 Seiten stark sei sie. Aber: Funke hat eine sehr eigene Sicht der Dinge. Er will die Richter davon überzeugen, dass die HRE damals kein Geld vom Staat gebraucht hätte und er keine falschen Angaben zur Situation der Bank gemacht habe. Georg Funke hat eine ausführliche Darstellung der Ereignisse verfasst. (dpa / picture-alliance / Tobias Hase) 18 Verhandlungstage hat das Gericht angesetzt, um sich ein Bild von der Sache zu machen. Damit wird das zentrale Kapitel der Bankenkrise in Deutschland vor Gericht aufgerollt, das am 5. Oktober 2008 - einem Sonntag - die deutschen Wohnzimmer erreichte. Bundeskanzlerin Angela Merkel stand damals gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück vor den Kameras. "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass Ihre Einlagen sicher sind, auch dafür steht die Bundesregierung ein. Ja, ich möchte gerne unterstreichen, dass in der Tat in der gemeinsamen Verantwortung, die wir in der Bundesregierung fühlen, wir dafür Sorge tragen wollen, dass die Sparerinnen und Sparer in Deutschland nicht befürchten müssen einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren." Eine Garantie für Sparer – ein Novum in Deutschland. Mit der drastischen Maßnahme wollte die Regierung die Bevölkerung beruhigen und verhindern, dass besorgte Sparer am Wochenanfang angesichts der Krise bei der HRE ihre Konten leer räumen würden. Bei der HRE handelte es sich immerhin um die drittgrößte Bank des Landes und eines der 30 DAX-Schwergewichte. Zwar hatte Otto Normalverbraucher bei dem Spezialinstitut für gewerbliche Immobilienkredite kein Konto, aber, es war klar, dass die HRE mit vielen anderen internationalen Finanzinstituten Geschäfte machte. Dramatische Dominoeffekte Welche dramatischen Dominoeffekte von dem Ausfall eines stark verflochtenen Instituts ausgehen konnten, hatte die Welt gerade erst erlebt. Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers hatte am 15. September 2008 eine Schockwelle an den internationalen Finanzmärkten ausgelöst. Die fatale Folge: Geldhäuser trauten sich nicht mehr über den Weg und liehen sich kein Geld mehr, das sie eigentlich dringend für ihre Geschäfte brauchten. Geschäftssitz der Bank "Lehman Brothers" im Jahr 2008 - die Insolvenz brachte die weltweiten Finanzmärkte an ihre Grenzen. (dpa / picture alliance / Justin Lane) Finanzriesen wankten. Reihenweise griffen Regierungen ein: Zum Beispiel verstaatlichte die US-Regierung den weltgrößten Versicherer AIG, die britische Regierung übernahm die Royal Bank of Scotland - eines der größten Institute Europas. Nach den dramatischen Folgen der Lehman-Pleite wollten die Regierungen in den Industrieländern keine Pleite eines großen Finanzinstituts mehr riskieren, das hätte die Finanzmärkte womöglich endgültig zum Kollabieren gebracht. Die Rede war von systemrelevanten Instituten. War die HRE ebenfalls systemrelevant? "Also nach jetzigem Stand der Kenntnisse war die HRE zwar auf der einen Seite eine Spezialbank, die aber sehr stark im Finanzmarkt mit anderen Instituten vernetzt war, und dadurch hätte ein entsprechender Konkurs dieser Bank natürlich Folgewirkungen gegenüber anderen Instituten mit sich geführt", sagt Alexander Radwan, Finanzpolitiker der CSU im Deutschen Bundestag. Noch deutlichere Worte findet der Grüne Schick: "Die HRE hatte schon aufgrund ihrer internationalen Aufstellung und ihrer Größe schon eine enorme Bilanzsumme, auch mit entsprechendem Derivate-Geschäft, eine Größenordnung, wo es, glaube ich, zu Recht die Befürchtung gab, dass eine Pleite Schockwellen durch den Finanzmarkt auslösen würde." Bundesregierung übernahm die HRE Die Bundesregierung griff 2008 mit Milliarden ein und übernahm die HRE ein Jahr später ganz. Es war die erste Verstaatlichung einer Bank seit 1949 in Deutschland. Der Vorstand um Funke wurde gefeuert. Später wurde die HRE aufgespalten. 2015 wurde ein kleiner Teil davon wieder an die Börse gebracht: die Deutsche Pfandbriefbank. Und was ist mit den Kosten für den Steuerzahler? Bislang hat die Rettung der HRE den Steuerzahler tatsächlich rund zwölf Milliarden Euro gekostet. Wie viele Garantien des Staates für die Altgeschäfte der HRE fällig werden, weiß man heute nicht. Denn die Abwicklung der Vermögenswerte wird noch Jahre dauern. Was wird auf der Endabrechnung stehen? "So richtig werden wir die Lasten aus der Rettung der HRE erst am Ende wissen, wenn abgerechnet ist. Da ist jetzt manches günstiger gelaufen durch die Niedrigzinssituation und die guten Preise für manche Vermögenswerte, die man da abwickelt. Deswegen sehen jetzt die Zahlen besser aus, als man es vielleicht am Anfang vermuten konnte. Die Bundesbank hatte damals eine Schätzung von 20 Milliarden an Kosten einer HRE-Rettung und diese Größenordnung halte ich nach wie vor nicht für völlig unrealistisch." Aktionäre demonstrierten während eines Prozesses gegen Georg Funke im Mai 2010. (dpa / picture-alliance / Andreas Gebert) Bald nach der Rettungsaktion begann deren Aufarbeitung, unter anderem in einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages und vor hiesigen Gerichten. Neun Jahre nach der Pleite sind jetzt Funke und Fell an der Reihe. Überhaupt seien Entscheidungen von Managern heute öfter ein Thema vor Gericht, beobachtet Michael Kubiciel, der an der Universität zu Köln Strafrecht lehrt und eine Forschungsgruppe zum Unternehmensstrafrecht leitet. "Generell ist die Sensibilität der Gesellschaft gestiegen bei der Frage, ob man unternehmerische Fehlentscheidungen einer Person zurechnen kann und mit dieser gesellschaftlichen Sensibilität ist auch die Sensibilität der Staatsanwaltschaften gestiegen. Sie haben in den letzten 20 Jahren deutlich häufiger Verfahren eingeleitet, als das in den Jahrzehnten zuvor der Fall war und auch der Gesetzgeber hat teils auch auf europäischer Initiative das Strafrecht im Bereich der Wirtschaft erheblich ausgeweitet." Finanzkrise wird von Gerichten aufgearbeitet Die Aufarbeitung der Finanzkrise hat schon diverse Gerichte in Deutschland beschäftigt. Da ging es um Vorgänge bei der HSH Nordbank, der BayernLB, der SachsenLB oder der Landesbank Baden-Württemberg. Meist endeten die Verfahren mit Freisprüchen oder Geldstrafen. Gerhard Schick: "Ich kann sehr gut nachempfinden, wenn Leute sagen, da ist eigentlich niemand wirklich zur Verantwortung gezogen worden. Denn im Verhältnis zu dem Schaden, der da ausgelöst worden ist, sind ja die Punkte wo tatsächlich jemand sich mit der Justiz auseinandersetzen musste, eher Peanuts gewesen. Herr Ortseifen von der IKB ist ja nicht wegen der Kernproblematik, da sein Institut völlig andere Geschäfte gemacht hat, als vorgesehen, sondern wegen einem Randproblem angeklagt worden. Bei der SachsenLB hat man die Sache dann mit der Zahlung von 40.000 Euro bereinigt, der Schaden für den Steuerzahler wird weit über zwei Milliarden Euro sein, da stimmen die Verhältnisse nicht." Der ehemalige Chef der Deutschen Industriebank IKB, Stefan Ortseifen, wurde vor dem Düsseldorfer Landgericht wegen vorsätzlicher Marktmanipulation zu zehn Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 100.000 Euro verurteilt. Wie im aktuellen Verfahren gegen die beiden HRE-Banker drehte sich das Verfahren um Fehlinformationen der Bank. Ortseifen hatte – so die Überzeugung der Richter – in einer Pressemitteilung den Eindruck erweckt, der sich anbahnende Sturm auf den weltweiten Finanzmärkten werde an der IKB schadlos vorüberziehen. Tatsächlich habe das Institut zu dem Zeitpunkt aber schon kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. Der Steuerzahler musste für die Rettung der IKB mit Staatsgarantien über rund zehn Milliarden Euro einstehen. Kommen Manager öfter glimpflich davon als andere Angeklagte? Strafrechtler Kubiciel: "Also ich habe keine statistische Erhebung darüber gesehen, die wird es auch nicht geben, ob tatsächlich Wirtschaftsstrafverfahren in einem besonderen Maße mit Freisprüchen oder Einstellungen enden. Aber auch mein persönliches Empfinden ist tatsächlich auch so, dass gerade Wirtschaftsstrafverfahren häufig eingestellt werden bzw. das es zu kleineren Verurteilungen kommt oder zu Freisprüchen. Das liegt würde ich sagen an der Komplexität der Gesamtmaterie. Wir müssen sehen, dass wir es bei wirtschaftlichen Entscheidungen mit sehr komplexen Entscheidungen zu tun haben an denen eine Vielzahl von Institutionen beteiligt sind." Gerichtliche Klärung ist anspruchsvoll Die gerichtliche Klärung wirtschaftlicher Tatbestände wie Bilanzmanipulationen ist anspruchsvoll. Bei der Bilanzerstellung sind schließlich diverse Abteilungen mit einer Heerschar von Mitarbeitern involviert. Hinzu kommen Externe, etwa Anwälte oder Wirtschaftsprüfer. Strafrechtsexperte Kubiciel: "Diejenigen, die die Entscheidungen treffen müssen, müssen sich auf Daten verlassen, die andere ihnen zugespielt haben, zugeliefert haben, die sie selber nicht prüfen können. Wenn dann eine unternehmerische Entscheidung sich als falsch herausstellt, dann ist es sehr schwer, diese Fehlentscheidung auf ein oder zwei oder drei Personen konkret zu individualisieren und denen das auch noch als strafrechtliche Schuld zuzurechnen." Die Zentrale der Hypo Real Estate in Unterschleißheim bei München. (dpa / picture-alliance / Andreas Gebert) Deutlich werden dürfte dies bei der jetzigen Verhandlung mit der Zeugenaussage eines ehemaligen Wirtschaftsprüfers, zeitweise selbst ein Beschuldigter in dem Fall. Er hatte die Bank angeblich frühzeitig auf eine drohende Liquiditätsklemme aufmerksam gemacht. Im Halbjahresbericht 2008 war dann jedoch davon die Rede, die HRE sei auch in einem Worst-Case-Szenario zahlungsfähig. Wie war das möglich? Wer war dafür verantwortlich? Das sind zentrale Fragen, die das Gericht klären muss. Wolfgang Kreuzer – Funkes Anwalt – gibt sich zuversichtlich, genügend Beweise in der Hand zu haben, um den Verdacht der Ankläger entkräften zu können. Aber auch die Staatsanwaltschaft ist zuversichtlich. Über Vorgänge in Unternehmen gibt es eine Menge Unterlagen, was bei lange zurückliegenden Delikten den Gerichten die Aufarbeitung erleichtert. Strafrechtler Kubiciel: "Es sind unzählige E-Mails verteilt und verschickt worden, man hat Akten angelegt. Das ist also leichter zu konstruieren als beispielsweise ein Mord." Dennoch: Besonders schwer ist es beispielsweise Managern Untreue nachzuweisen. "Bei vielen Straftatbeständen muss das Gericht den Vorsatz des Täters nachweisen. Da auch ein Unternehmer selbstverständlich sein eigenes Unternehmen nicht absichtlich selbst schädigen möchte, sondern er eher viel mehr meistens eine Risikoentscheidung trifft, ist es sehr schwer nachzuweisen, dass er ein Risiko in dem Maße eingegangen ist, dass man von einem bedingten Vorsatz sprechen kann. " Vielleicht hat die Staatsanwaltschaft auch deshalb den Vorwurf der Untreue gegen die HRE-Manager im Zusammenhang mit dem Erwerb der irischen Depfa-Bank fallen gelassen. Die Übernahme der Bank gilt als einer der Auslöser für die Schieflage bei der HRE. Im Juli 2007 hatte HRE-Chef Funke den Kauf der Depfa-Bank bekannt gegeben. Ein unglücklicher Zeitpunkt: Eine Woche später geriet das erste deutsche Geldhaus in den Sog der geplatzten Immobilienblase in den USA, Funke behauptete aber noch monatelang, die HRE werde durch den Preisverfall bei US-Immobilien nicht belastet. Anfang 2008 dann der Paukenschlag: Die HRE gab eine Gewinnwarnung ab und musste 390 Millionen Euro wegen der US-Immobilienkrise und ihrer Tochter Depfa abschreiben. Funke oft als raffgieriger Banker dargestellt Aber auch Funke selbst hat seit der HRE-Krise nicht immer ein gutes Bild abgegeben. Von ihm ist oft das Bild eines raffgierigen Bankers gezeichnet worden, spätestens seitdem er gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber HRE prozessiert und darauf pocht, trotz Rausschmisses ein Jahresgehalt in Höhe von 3,5 Millionen Euro und eine monatliche Rente in Höhe von 47.000 Euro ausgezahlt zu bekommen. Hier steht eine Gerichtsentscheidung noch aus. Georg Funke will vor Gericht eine hohe monatliche Rente erstreiten. (dpa / picture-alliance / Frank Mächler) In keinem der diversen Gerichtsverfahren rund um die HRE müssen sich Funke und die anderen ehemaligen HRE-Manager übrigens für ihr Geschäftsmodell rechtfertigen: Vor dem Untergang drehte die Bank mit minimalem Eigenkapital von 0,08 Prozent ein riesiges Rad. "Da muss nicht viel passieren, da muss es nicht mal eine Lehman-Pleite geben, das so eine Bank umkippt. Die entscheidende Frage, die wir damals im Untersuchungsausschuss ja auch klären wollten ist: Wie konnte es eigentlich sein, dass eine Bank mit so wenig eigenem Kapital wirtschaften kann? Und das ist ganz klar das Versagen von Aufsicht und Politik, man hätte das nie zulassen dürfen", meint der grüne Finanzpolitiker Gerhard Schick. Aber die HRE verfügte nach gesetzlichen Maßstäben über ausreichend eigene Mittel für ihr Geschäft, welches sogar als besonders risikoarm galt. Und: Selbst ein Mehrfaches ihres Eigenkapitals hätte die Situation der HRE und der anderen Pleitebanken nicht wirklich verbessert. Denn in den Problem-Szenarien der Banken und ihrer Aufseher waren die Folgen eines Crashs in der Dimension von Lehman-Brothers überhaupt nicht erfasst. Zeugen haben dies vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zur HRE-Pleite deutlich gemacht, wie etwa Sabine Lautenschläger-Peiter, damals Direktorin für Bankenwesen bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. "Für mich hat sich die Refinanzierungswelt insgesamt und dann aber auch die Liquiditätslage der HRE im Besonderen dramatisch verändert durch den Zusammenbruch von Lehman. So etwas haben wir noch nie gehabt; so eine Vertrauenskrise gab es noch niemals." Aber es haperte auch gewaltig zwischen den Aufsehern. CSU-Finanzpolitiker Alexander Radwan - damals Abgeordneter im Europaparlament: "Ich kann mich aus meiner Brüsseler Zeit noch sehr gut daran erinnern, dass damals eines der Hauptprobleme war, dass die HRE zwar eine deutsche Bank mit Sitz in München war, aber die europäisch, international aufgestellt war, die zum Beispiel sehr stark in Irland aktiv war, aber das wir dann feststellen mussten, dass die jeweiligen nationalen Aufseher eigentlich nicht in dem Maße die wichtigen Sachen kommunizieren und austauschen wie es eigentlich notwendig gewesen wäre. Also wir hatten einen europäischen Markt, wir haben europäische Institute gehabt, aber die europäische Aufsichtspraxis gab es noch nicht." "Stillhalten der Aufsicht" "Stillhalten der Aufsicht" nennen Wissenschaftler dieses Verhalten nationaler Aufsichtsbehörden. Frank Heinemann – Ökonom an der TU Berlin – beobachtete das Phänomen auch während der Finanzkrise: "Das grundsätzliche Problem ist, dass die nationalen Aufsichtsbehörden zu klein sind im Verhältnis zu den großen Banken, dass sie sich nicht trauen, gegen die Geschäfte der großen Banken etwas zu tun. Europäische Institutionen neigen viel eher dazu, ein klares Machtwort zu sprechen." Heute beaufsichtigt die Europäische Zentralbank große europäische Bankhäuser. Aber am Kernproblem habe sich trotz Verbesserungen wenig geändert, kritisiert der der Ökonom Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie: "Immer noch sind die Banken mit viel zu wenig Eigenkapital, vor allem in Europa, ausgestattet, um als stabil gelten zu können. Außerdem sind schon wieder Bestrebungen erkennbar, auch auf europäischer Ebene, den Verbriefungsmarkt wieder zu deregulieren." Verbriefungen waren das entscheidende Vehikel, mit dem riskante Kredite unter den Instituten vor der Finanzkrise verteilt und gehandelt wurden. Neues Ungemach droht nun auch in den USA: Nach der Finanzkrise eingeführte Regulierungen will US-Präsident Trump wieder abschaffen. Finanzpolitiker Radwan: "Deregulierung heißt jetzt wieder hier in dem Bereich, dass eben der Weg der Vereinfachung, der Solidität verlassen wird, der Pfad wieder die Komplexität und Rendite wohl wieder mehr in den Vordergrund schieben wird und das ist etwas, was genau diesen Erfahrungen widerspricht." Der Internationale Währungsfonds frürchtet, das Finanzchaos könnte sich wiederholen. (picture alliance / dpa / Jim Lo Scalzo) Grund zur Entwarnung gibt es wahrlich nicht. Der Internationale Währungsfonds hat bereits im vorigen April Alarm geschlagen, das Finanzchaos der Krisenjahre 2008 und 2009 könne sich wiederholen. Während mancher eine neue Finanzkrise befürchtet, beschäftigt die Aufarbeitung des jüngsten Crashs noch die Gerichte. Verfahren gegen HRE-Manager bislang immer eingestellt Die Manager der HRE zum Beispiel kamen bislang weitgehend ungeschoren davon: Die Verfahren gegen sechs der acht Vorstände wurden gegen Zahlung einer Geldstrafe von 30.000 bis 80.000 Euro eingestellt. Möglicherweise werden auch Funke und Fell gegen Zahlung einer Geldstrafe nach Hause geschickt oder sogar freigesprochen. Denn: Die Länge der juristischen Aufarbeitung könnte sich zu Gunsten der Angeklagten auswirken, meint der Kölner Strafrechtsexperte Kubiciel: "Also es gibt Rechtsprechung auch europäischer Gerichte dazu, dass eine übermäßige Verfahrensdauer dazu führt, das die Strafe reduziert werden muss. Das ist allerdings eine Einzelfall abhängige Frage, das kann man nicht generalisierend beantworten." Das Strafverfahren werden auch die Anwälte der Kanzlei Tilp mit Argusaugen verfolgen. Sie vertreten Anleger, die durch die HRE-Pleite Geld verloren haben. Eine Klage vor dem Oberlandesgericht München haben sie schon gewonnen. Jetzt liegt der Fall beim Bundesgerichtshof. Beide Seiten haben Rechtsmittel eingelegt. Eine Entscheidung wird frühestens im Herbst 2017 erwartet. Muss die HRE am Ende des Tages den Anlegern Entschädigungen zahlen, käme dafür übrigens als Rechtsnachfolger der deutsche Staat und damit der Steuerzahler auf.
Von Caspar Dohmen
Das Landgericht München wird ab Montag ein wichtiges Kapitel der Finanzkrise aufarbeiten. Auf der Anklagebank sitzt Georg Funke, früherer Chef der Pleitebank Hypo Real Estate. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Lage der Bank lange falsch dargestellt und die Bilanz geschönt zu haben.
"2017-03-19T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:38.331000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ex-hre-chef-funke-die-symbolfigur-der-finanzkrise-vor-100.html
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Von Gerechtigkeit keine Spur
Dmitri Pawlutschenkow wurde gestern wegen Beihilfe zum Mord zu elf Jahren Haft verurteilt. Der Polizist hatte die Überwachung Anna Politkowskajas vor ihrer Ermordung 2006 organisiert. Und er hatte den Killern, mutmaßlich drei Brüdern, die Waffe besorgt. Daran, dass es überhaupt zu der Verurteilung kam, hatten die Journalisten der "Nowaja Gazeta" wesentlichen Anteil. Über Jahre hat ihrer Rechercheabteilung gemeinsam mit den Ermittlern in dem Mord an der Kollegin recherchiert. Chefredakteur Dmitri Muratow:"Im Ergebnis dieser sehr langen Arbeit konnten wir neue Zeugen finden. Und erst deren Aussagen haben dazu geführt, dass Pawlutschenkow nicht mehr als Zeuge, sondern als Organisator des Verbrechens betrachtet wurde. Wir haben die Zeugen und die Beweise dafür gefunden."Und die Anwältin der Kläger, Anna Stawitzkaja, erläutert:"Die Recherchen der Nowaja Gazeta haben aufgezeigt, was in dem früheren Prozess gar nicht vorkam: dass es einen zweiten Beobachterring um Anna Politkowskaja gab. Und diesen zweiten Ring hat Herr Pawlutschenkow organisiert. Die Nowaja Gazeta hat gezeigt: Bei uns helfen Polizisten für Geld Killern, ein Verbrechen in Ruhe ausüben zu können."Das Gericht blieb mit elf Jahren Haft nur knapp unter der Forderung der Staatsanwaltschaft von zwölf Jahren, dennoch waren die Redakteure der "Nowaja Gazeta" gestern unzufrieden. Der Grund: Noch immer sei der Auftraggeber des Mordes an Anna Politkowskaja unbekannt. Chefredakteur Dmitri Muratow: "Es ist offensichtlich ein politisches Tabu, den Auftraggeber zu ermitteln. Wir sind aber erst dann zufrieden, wenn der Auftraggeber die Strafe bekommt, die er verdient."Pawlutschenkow hatte während des Prozesses zwar Namen genannt, jedoch, wie Muratow vermutet, nicht die richtigen. Er nannte Boris Beresowski, einen Oligarchen mit Wohnsitz in London und einer der Putingegner, und er nannte Achmet Sakajew, Premierminister der tschetschenischen Exilregierung, ebenfalls mit Wohnsitz in London. Auch er einer der Lieblingsfeinde Putins. Die Angehörigen Politkowskajas und die Zeitung haben angekündigt, das Urteil anzufechten. Anna Stawitzkaja, die Anwältin:"Wir gehen davon aus, dass Pawlutschenkow seine Rolle in dem Verbrechen geschmälert hat. Wir denken, er hat eine viel größere Rolle gespielt, als er den Ermittlern gesagt hat. Außerdem hat er sich nicht an die Absprachen gehalten. Die mutmaßlichen Auftraggeber, die er genannt hat, sind politische Feinde des Systems. Wir gehen davon aus, dass Pawlutschenkow den wahren Auftraggeber kennt und den Namen nennen muss, den wirklichen Auftraggeber, und nicht Beresowski und Zakajew. Beresowski ist ja bei uns bekanntermaßen sowieso an allem Schuld, was in Russland passiert."In Russland regiert eine Clique von Geheimdienstlern mit Unterstützung der Kirche und einiger Milliardäre. Kritische Presse kommt da ungelegen. In den vergangenen Jahren sind die Morde an Journalisten weniger geworden als noch in den 90er-Jahren. Doch Anfang Dezember wurde erneut ein Journalist ermordet, im russischen Nordkaukasus.Seine Killer richteten ihn regelrecht hin. Wer hinter den Morden an Journalisten steckt, blieb meist unklar. Und nach Ansicht der "Nowaja Gazeta" deutet alles darauf hin, dass das auch im Fall Politkowskaja so bleibt.Sergej Sokolow hat die Recherchen der Zeitung zum Mord an den Kollegen geleitet. Er befürchtet, dass die Ermittler nach dem gestrigen Urteil gegen Pawlutschenkow einen Schlusspunkt unter die Suche nach dem wahren Auftraggeber setzen."Mir scheint, die Behörden bemühen sich nicht besonders, die Sache vollständig aufzuklären. Und daraus kann man schließen, dass der Auftraggeber vermutlich kein ganz normaler Bürger ist."Doch Sokolow und seine Kollegen sind hartnäckig. Sie werden nicht locker lassen und wollen ihre Recherchen fortsetzen.
Von Thomas Franke
Den russischen Behörden wurde lange vorgeworfen, die Aufklärung des Mordes an Anna Politkowskaja zu verschleppen. Dass nun zumindest ein Beteiligter verurteilt wurde, ist auch den Recherchen und der Hartnäckigkeit der Zeitung "Novaja Gazeta" zu verdanken.
"2012-12-15T17:05:00+01:00"
"2020-02-02T14:37:52.340000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/von-gerechtigkeit-keine-spur-100.html
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Mindestens 33 Tote nach heftigen Regenfällen in Peking - Unwetter auch in Japan und Südkorea
Nach den heftigen Regenfällen in Peking ist die Zahl der Todesopfer gestiegen. (- / Kyodo / dpa / -) Wie die Behörden in der chinesischen Hauptstadt mitteilten, sind unter den Toten fünf Rettungskräfte. 18 Menschen würden noch vermisst. In den westlichen Außenbezirken von Peking sind den Angaben zufolge nach tagelangen Regenfällen und Erdrutschen knapp 60.000 Häuser eingestürzt. Zahlreiche weitere seien beschädigt worden, ebenso wie viele Straßen und Brücken. Auch andere Teile Chinas sind von Überschwemmungen betroffen. In der Provinz Sichuan kamen nach Angaben des Staatsfernsehens bei einer Sturzflut sieben Menschen um Leben. Sturmtief "Khanun" beeinträchtigt öffentliches Leben in Japan und Südkorea Auch Japan meldet Unwetter. In Teilen des Landes beeinträchtigte das Sturmtief "Khanun" das öffentliche Leben stark. In der von heftigen Regenfällen betroffenen Insel Kyushu sind nach örtlichen Berichten 16.000 Haushalte von der Stromversorgung abgeschnitten. Südkorea hat ebenfalls mit intensiven Niederschlägen zu kämpfen. Dort wurden - wie auch in Japan - mehrere hundert Flüge annulliert. Metereologen zufolge haben die Böen des Tropensturms Windgeschwindigkeiten von bis zu 130 Stundenkilometern. Diese Nachricht wurde am 09.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
In China sind durch Überschwemmungen im Großraum Peking bisher mindestens 33 Menschen ums Leben gekommen.
"2023-08-09T22:20:15+02:00"
"2023-08-09T09:33:44.139000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mindestens-33-tote-nach-heftigen-regenfaellen-in-peking-unwetter-auch-in-japan-und-suedkorea-100.html
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Ansprechstelle für Gewalt im Sport gestartet
Die Ansprechstelle richtet sich an Betroffene und Zeugen von Gewalt. (picture alliance / ZB / Thomas Eisenhuth) Die Ansprechstelle Safe Sport richtet sich an alle, die Gewalt etwa in Sportvereinen erlebt oder gesehen haben. Die Einrichtung will kostenlose Erstberatungen und Kriseninterventionen telefonisch, online und auch vor Ort in Berlin anbieten. Bundesinnenministerin Faeser sagte, es brauche eine Kultur des Aufklärens, Hinsehens und Handelns. Wer sich selbst oder seine Kinder einem Trainer oder einem Sportverein anvertraue, müsse auf einen absolut gewaltfreien Umgang vertrauen können. Neben Bund und Ländern gehört auch die Interessengemeinschaft Athleten Deutschland zu den Mitgründern des Trägervereins für die Ansprechstelle. Der Deutsche Olympische Sportbund als Dachverband des organisierten Sports beteiligte sich dagegen nicht. Der DOSB ist der Ansicht, dass die finanzielle Ausstattung Sache des Bundes ist.  Die unabhängige Ansprechstelle bildet den ersten Baustein eines geplanten "Zentrums für Safe Sport", das als Vorhaben im Koalitionsvertrag verankert ist. Das Zentrum soll perspektivisch noch weitere Aufgaben im Bereich der Intervention, Prävention und Aufarbeitung von Gewaltfällen im Sport übernehmen. Die Beratung ist telefonisch unter der Hotline 0800-1122200, online über eine datensichere Plattform unter www.ansprechstelle-safe-sport.de oder vor Ort in der Ansprechstelle Safe Sport, Petersburger Str. 94, 10247 Berlin möglich. Diese Nachricht wurde am 12.07.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
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Betroffene von sexualisierter, psychischer und körperlicher Gewalt im Sport können künftig Hilfe bei einer unabhängigen Ansprechstelle suchen. Die in Berlin eröffnete bundesweite Beratungsstelle wird von Bund und Ländern finanziert und ist unabhängig vom organisierten Sport.
"2023-07-12T19:51:11+02:00"
"2023-07-11T21:17:26.396000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ansprechstelle-fuer-gewalt-im-sport-gestartet-106.html
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Wie Liechtenstein seinen Wohnungsmarkt schützt
Wer nach Vaduz im Fürstentum Liechtenstein will, nimmt das Auto oder den Bus (picture alliance/ dpa/ Uwe Gerig) Es hält kein Zug in Liechtensteins Hauptstadt Vaduz, und ein Flugzeug landet hier schon gar nicht. Wer in das Fürstentum will, der nimmt das Auto oder den Bus - und wird dort vom Fahrer persönlich begrüßt: "Grüezi miteinand' im Liechtenstein-Express, der Linie 12E nach Vaduz." Der Weg nach Vaduz führt über den Rhein, vorbei an Dörfern und den Hängen der Ostalpen. Das Fürstentum Liechtenstein ist einer der kleinsten Staaten der Welt: Gerade einmal 25 Kilometer lang und 12 Kilometer breit, umgeben von der Schweiz und Österreich. Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Europas Immobilienmärkte - Kaufen, bauen, ausgrenzen. Hier arbeitet Harald Beck, in Liechtenstein geboren und aufgewachsen. Dass er nach dem Studium von Architektur und Immobilienökonomie geblieben ist, hat viele Gründe, sagt er: "Natürlich ist es sehr schön, hier in Liechtenstein leben zu dürfen. Die Natur und auch ein bisschen das Städtische ist nicht weit weg, alles gemeinsam zu haben in Liechtenstein." Pro Jahr nur 100 Neubürger Dieses Privileg erfährt im Fürstentum nicht jeder. Die Regierung in Vaduz hat beim Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR vor 25 Jahren eine Quote erkämpft: Liechtenstein muss demnach pro Jahr nur etwa 100 Neubürger aufnehmen. Alle anderen müssen im Ausland leben. Eine in dieser Dimension europaweit einmalige Situation, wie Beck beschreibt: "Wir haben mehr Arbeitsplätze als Einwohner! Die erwerbstätige Bevölkerung der in Liechtenstein Wohnhaften liegt irgendwo bei 19.000 bis 20.000, die Hälfte aller Arbeitnehmer pendelt tagtäglich zu, vorwiegend aus der Schweiz und aus Vorarlberg, zum Teil auch aus Süddeutschland." Angst vor explodierenden Preisen bei mehr Zuzug Die Pendler verstopfen mit ihren Autos zu den Stoßzeiten die wenigen Straßen, die durch Liechtenstein führen. Das sorgt für Ärger im Fürstentum. Dafür aber ist der Wohnungsmarkt entspannt. Als Geschäftsführer eines großen Immobilienunternehmens kennt Harald Beck sich aus. Die Leerstandsquote liegt zwischen vier und fünf Prozent. Das würde sich schnell ändern, wenn die Zuzugsregeln einfach so gelockert würden, glaubt Beck: "Angenommen - 20.000 Pendler täglich - wir würden jährlich 1.000 Personen hier in Liechtenstein ansiedeln: Dann haben wir Verhältnisse wie in Zürich, Leerstandsquote 0,0. Was passiert: Die Preise würden explodieren." Argumente für die Einwanderungsquote Das Liechtenstein-Institut, wo der Politologe Wilfried Marxer arbeitet, liegt auf dem Kirchhügel von Bendern, eine Viertelstunde mit dem Bus von Vaduz entfernt. Die private Forschungseinrichtung berät unter anderem die Liechtensteinische Regierung. Der Konflikt zwischen Zuwanderung und Pendlerströmen ist dabei ein Dauerthema, sagt Marxer. Und: Für die derzeitige Einwanderungsquote gebe es viele Argumente. "Das hat den Vorteil, dass nicht eine unlimitierte Zuwanderung stattfindet mit den entsprechenden Konsequenzen, die befürchtet werden: Das wäre natürlich noch stärkere Bautätigkeit für Wohnungen und Häuser, steigende Bodenpreise, das wird sehr stark befürchtet - die Bodenpreise sind ohnehin schon enorm hoch hier in Liechtenstein. Und eine unbeschränkte Zuwanderung würde sie sicher noch zusätzlich explodieren lassen, und das hätte automatisch soziale Konsequenzen." Ohne neue, günstige Gebäude könnte ein Liechtenstein mit mehr Einwohnern schnell ein Land nur für Reiche werden – während ärmere Liechtensteiner sich das Bauen oder Wohnen nicht mehr leisten könnten. Genossenschaft auf Liechtensteiner Art Genau das will Harald Beck verhindern. Schon heute müssen Familien gut die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufbringen, und Bauen ist noch teurer. Was also tun? Für Beck lag die Lösung auf der Hand: 2014 gründete er mit Freunden die erste Wohnbaugenossenschaft Liechtensteins. Mittlerweile hat sie zwei Häuser mit 23 Wohnungen in Vaduz gebaut, ein weiteres Haus entsteht gerade im Ort Eschen. Wer dort wohnen möchte, muss Genosse werden und zahlt dann eine Miete, die auf den tatsächlichen Kosten beruht. "Wir sprechen da vom Genossenschaftsfranken, es ist kein billiges Wohnen, sondern man bildet auch Rückstellungen, dass man Hypotheken reduzieren kann." Die Genossenschaftshäuser in Vaduz sind keine Sozialwohnungen. Schon die Fassaden sind edel, in hellem Klinker, und auch die Wohnungen entsprechen Eigenheimstandard. Beide Häuser sind Nullenergiebauten, und die Bewohner teilen sich einen Gemeinschaftsraum und einen Platz mit Sonnenschirmen, wo man sich öfter mal zum Grillen oder Schwatzen trifft. Noch profitieren die Anrainergemeinden Für Liechtenstein war dieser erste Genossenschaftsbau eine kleine Revolution. Es gab Gegenwind, gerade von profitorientierten Vermietern. Doch Beck ist überzeugt, dass der genossenschaftliche Wohnungsbau Antworten auf drängende Fragen bietet. Auch auf die, die sich stellen würden, wenn heutige Pendler eines Tages vielleicht doch zuziehen dürfen. "Die Belegungsvorschriften, dass man den Wohnflächenbedarf aus raumplanerischer Sicht einschränkt – Anzahl Bewohner plus eins ist die Größe der Zimmerwohnung. Das ist ein Instrument aus der Raumplanung, dass man einfach den zur Verfügung gestellten Baugrund, die kleine begrenzte Fläche, die wir in Liechtenstein haben, dicht bebaut." Weil die Genossen außer dem Wohnzimmer nicht mehr als einen Raum pro Kopf haben dürfen, verbraucht jeder von ihnen gut zehn Quadratmeter weniger als die Nachbarn. Zögen mehr Pendler nach Liechtenstein, könnte durch genossenschaftlichen Wohnraum der Bodenverbrauch und damit eine Preisexplosion vermieden werden. Verlierer wären wohl die Gemeinden jenseits der Grenze. In Österreich und der Schweiz leben ganze Ortschaften von den Steuern der Pendler. Dort werden Häuser auf billigem Grund gebaut und teuer vermietet. Ob sich das ändert, ist eine politische Entscheidung, die in Liechtenstein getroffen werden muss. Die Häuser der Wohnbaugenossenschaft Liechtenstein sind dabei nur ein Faktor.
Von Marc Engelhardt  
Liechtenstein ist ein kleines Land mit einer boomenden Wirtschaft. Dafür braucht es Arbeitskräfte aus dem Ausland. Doch wohnen dürfen diese im Fürstentum nicht. Die Konsequenz: Täglich pendeln Tausende über die Grenze und verstopfen die wenigen Straßen. Dafür ist der Wohnungsmarkt entspannt.
"2020-01-28T09:10:00+01:00"
"2020-02-12T14:49:05.550000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/quote-fuer-zuzug-aus-dem-ausland-wie-liechtenstein-seinen-100.html
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Hausverbot in Burladingen
Der Bürgermeister Harry Ebert hat einer Reporterin Hausverbot erteilt. (dpa / Sina Schuldt) Vor ein paar Monaten kam der Brief - an die Lokal-Redaktion des Schwarzwälder Boten. Vom Bürgermeister aus Burladingen - einer 12.000 Einwohnergemeinde auf der Schwäbischen Alb: Hausverbot für Mitarbeiter des Schwarzwälder Boten. Sie sollten auch nicht mehr über städtische Einrichtungen berichten. Wenn doch, schrieb Harry Ebert, dann würde er das strafrechtlich verfolgen lassen. Kopfschütteln beim Chefredakteur der Zeitung, Hans-Peter Schreijäg: "Es war auch uns auf den ersten Blick deutlich, dass es hier um evident rechtswidrige Androhungen ging. Und wir haben dann gesagt: So jetzt ist ein Punkt erreicht, wo wir klar machen müssen, dass auch ein Bürgermeister sich an die Regeln zu halten hat." Verstoß gegen die Pressefreiheit Für die Landeschefin des Deutschen Journalistenverbands (DJV) in Baden-Württemberg eine ganz klare Drohung gegen die Pressefreiheit. "Wenn ein Behördenleiter oder in diesem Fall ein Bürgermeister sich zur Zensurinstanz aufschwingt, dann verstößt das gegen das Grundgesetz," sagt Dagmar Lange. Die Zeitung schaltet einen Rechtsanwalt ein. Der Burladinger Bürgermeister muss seine Drohung zurückziehen. Widerwillig. Das gibt er dem Deutschlandfunk zu verstehen – schriftlich. Denn zu einem Interview ist Ebert nicht bereit: "Das Betretungsverbot war sicherlich etwas unglücklich formuliert und wurde deshalb auch zurückgenommen. Offenbar entspricht es nicht dem Landesinformationsgesetz, dies so generell zu halten." Bürgermeister beendet Zusammenarbeit mit Presse Seit fast 20 Jahren ist Harry Ebert Bürgermeister in der Verbandsgemeinde Burladingen. Die meiste Zeit parteilos. Drei Mal wieder gewählt. Er gehört dazu. Wie der große Textilhersteller, die vielen Einfamilienhäuser und das überregional bekannte Theater. Ebert hat Fans – und viele, die ihn inzwischen am liebsten abwählen wollen. Ein Mann, der gern provoziert, sagt der Lokalreporter der Hohenzollerischen Zeitung, Matthias Badura: "Wer ihm widerspricht, nicht seiner Ansicht und selbst wenn es bloß ein gut gemeinter Ratschlag ischt, der hat's beim ihm verschissen. Und das wars dann." Wer klaglos berichtet - über Bauprojekte, die Feuerwehr oder die Haushaltsplanung - mit dem rede er. Auch mit ihr, sagt Erika Rapthel-Kieser. Bis vor anderthalb Jahren. Da hat die Reporterin vom Schwarzwälder Boten den Facebook-Account des Bürgermeisters zum Thema gemacht. Und dann wurde hier beschlossen, wir machen, was auf Harry Eberts Facebook-Account zu lesen ist, in Richtung AfD, auch flüchtlingsfeindliche Äußerungen, wir machen's öffentlich. Und ab da war die Pressearbeit seinerseits beendet. Hausverbot für Reporterin des Schwarzwälder Boten Danach kommt die Stadt nicht mehr aus den regionalen Schlagzeilen. Der Bürgermeister sucht die Nähe zur AfD. Beschimpft seine Gemeinderäte, weil sie Flüchtlingsunterkünfte besuchen – und die protestieren. Öffentlich. Einige treten zurück. Der Landkreis leitet deswegen ein Disziplinarverfahren gegen Ebert ein. Ein Investor will abspringen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Amtsanmaßung gegen Ebert. Ständig: Probleme in der Zeitung. Und Ebert beschwert sich beim Schwarzwälder Boten, fordert die Absetzung der Reporterin. Das Hausverbot folgt. Und öffentliche Beschimpfungen. "Seit dieser Berichterstattung gehören so mehr oder weniger persönliche Attacken in der Öffentlichkeit auch dazu. In mehreren Gemeinderatssitzungen bin ich da beim Namen genannt worden..." Auch die Reporter der Konkurrenzzeitung kennen das. Mit der Hohenzollerischen Zeitung spricht Ebert da aber schon seit Jahren nicht mehr. "Man komm nicht an ihn heran. Ich kann im Rathaus anrufen, ich kann um ein Gespräch bitten. Dann ist er nicht da. Oder ich werd' vertröstet. Inzwischen ist es auch so: Wir rufen da nicht mehr an." Bürgermeister Ebert will keine kritischen Nachfragen Auch zuletzt nicht, als Harry Ebert unaufgefordert ein Interview an die Zeitungen schickt. Er hat sich kurzerhand selbst interviewt, um einiges klar zu stellen, bestätigt er dem Deutschlandfunk: "Ich hätte dies auch als schlichte Pressemitteilung gestalten können. Jedoch hätte dann die Möglichkeit bestanden, Inhalte umzugestalten oder zu verfälschen. Bei Antworten auf Fragen ist dies nicht ohne weiteres möglich." Bloß keine Nachfragen. Eberts Verständnis von Presse. Da ist sein letzter öffentlicher Schritt konsequent. Ebert wird AfD-Mitglied. Die Partei feiert ihn dafür öffentlich. Weil er ihr erster AfD-Bürgermeister in Süddeutschland ist. Ebert schweigt dazu zunächst. Die Hohenzollerische Zeitung jedenfalls – druckt das Selbst-Interview des Bürgermeisters. Mit minimalen Kürzungen. Und deutlichen Hinweisen, der Text komme von Ebert: "Man wollte was bringen. Man wollte sich auch nicht vorwerfen lassen, dass man was verschleppt. Also haben wir in der Redaktion drüber gesprochen und haben gesagt: Wir veröffentlichen das." Badura meint, Ebert habe sich selbst damit geschadet. Pressefreiheit muss gewährleistet werden Die DJV-Chefin meint: "Man hätte da vielleicht nur ein paar Passagen zitieren sollen und wäre damit vielleicht - wenn man das in einen erläuternden Kontext stellt – besser gefahren." Lange hat Verständnis für den Druck, unter dem die Lokalreporter stehen. Trotzdem – nicht treiben lassen, fordert sie: "Es darf ja nicht sein, dass ein Mensch mit diesem Verständnis von Pressefreiheit ganz unbelästigt einfach seine Dinge weiter macht." Inzwischen hat Ebert eine Email für Presseanfragen eingerichtet. Ab und zu antwortet er auch. Der Deutschen Presseagentur hat er jetzt ein persönliches Interview gegeben. Weil es so viele Anfragen gab.
Von Katharina Thoms
Bürgermeister Harry Ebert verweigert der lokalen Presse in Burladingen auf der Schwäbischen Alb die Zusammenarbeit. Mehr noch: Reporter, die nicht in seinem Sinne schreiben, bekommen unter anderem Hausverbot. Aus Sicht des DJV ein klarer Verstoß gegen die Pressefreiheit.
"2018-04-03T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:46:08.296000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pressefreiheit-hausverbot-in-burladingen-100.html
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Hostienproduktion als lukratives Geschäft
Die Hostie steht symbolisch für den Leib Christi, den der Gläubige in sich aufnimmt (CTK / Jan Halady) "Eine leichte Arbeit, aber man muss ein bisschen üben, dass man nicht daneben bohrt oder in den Finger bohrt. Ist immer ein bisschen riskant." Schwester Beate sitzt an einem rechteckigen Tisch mit einem hydraulischen Edelstahlbohrer und hat einen Holzkasten in DIN A4- Größe vor sich. In diesem liegen gestapelt 50 hauchdünne, gebackene Platten, durch die sie jetzt mit dem messerscharfen Bohrer die Hostien aussticht. 3,5 Zentimeter im Durchmesser. Es sieht so ähnlich aus, wie das Arbeiten an einer Nähmaschine. "Ist ein bisschen monoton, ist ein Dienst für die Kirche." Die 1902 gegründete Benediktinerinnenabtei Varensell bei Rietberg in Ostwestfalen ist, historisch gesehen, noch ein recht junges klösterliches Unternehmen. Auch das Kloster will wirtschaftlich sein Die weiß gestrichene Abteikirche mit zwei hohen Glockentürmen und den angrenzenden weißen Gebäuden ist in dem kleinen Ort nicht zu übersehen. Der Klosterbetrieb ist angelegt, wirtschaftlich zu arbeiten. Äbtissin Mutter Angela Boddem:"Ich würde sagen, die Wurzel ist eine völlig andere, aus der wir kommen, wenn wir wirtschaften. Also von der Regel Benedikts her ist es ja so: Es gehört dazu, von der Hände Arbeit zu leben." 35 Schwestern leben, beten und arbeiten in Varensell. In der Verantwortung der jeweiligen Äbtissin liegt es, dass das Kloster auch betrieblich mit der Zeit geht. "Heute gibt es eben Schnittstellen und Parallelen zu einem Wirtschaftsunternehmen, damit wir wirklich Geld erwirtschaften können und nicht mehr wie früher Nahrungsmittel tauschen gegen irgendetwas zum Beispiel." Start-up klappt nicht im Kloster Die Benediktinerinnen in Varensell backen seit über 100 Jahren Hostien. Ein zweites Standbein ist die Paramentik, die Herstellung liturgischer Gewänder mit feinsten Stickereien für die Priester. Ein drittes Standbein -ganz im Sinne Benedikts – gilt der Pflege der Gastfreundschaft. Das Kloster Varensell betreibt ein Gästehaus mit 28 Zimmern für Exerzitien, Tagungen und verfügt über Gruppenräume für wechselnde Kursangebote. "Es ist immer leichter, das fortzuführen, was sich bewährt hat und da merken wir jetzt, dass wir mit unseren traditionellen Produkten vielleicht eher an ein Ende kommen, weil sich das ganze kirchliche und religiöse Umfeld massiv verändert hat. Und Start-up, was ganz Neues zu machen, das wäre schön und spannend, aber es hängt von den Schwestern ab, die da sind. Von dem was die können, was die mitbringen, und da haben wir eben nicht mehr so die Möglichkeiten wie früher." Von den 35 Schwestern sind, bis auf zwei, alle im Kloster an den verschiedensten Stellen im Einsatz. Obwohl das Durchschnittsalter bei 71 Jahren liegt. Deshalb arbeiten heute im Kloster Angestellte in allen Bereichen mit. Zum Beispiel Gregor Papenfort. Er ist seit neun Jahren Betriebsleiter der Hostienbäckerei. Diese ist im Untergeschoss des Klosters untergebracht. Der Backraum ist etwa zehn mal zehn Meter groß und fünf hohe Fenster geben viel Tageslicht. Im Raum dominiert die lange automatische Backmaschine. Gregor Papenfort ist morgens der Erste im Betrieb: "Ich fange um halbsieben Uhr an mit dem Backen. Dann kommen die anderen Angestellten. Bis dahin habe ich auch schon einen Kessel leer gebacken." Das sind 40 Liter Teig, der aus reinem Weizenmehl Typ 405 und Wasser besteht. Nach kirchlichen Vorgaben ist das seit Jahrhunderten so. Am Anfang war das Kohlefeuer An jedem Tag werden sechs Kessel Teig verarbeitet, aus denen 40.000 Hostien gebacken werden. Fast jeden Tag schaut Schwester Diethild vorbei. Sie hat die Hostienbäckerei über 20 Jahre geleitet und die technische Revolution in der Backstube miterlebt. "1908 wurden die ersten Hostien gebacken für den Eigenbedarf und für die Gemeinde und 1912 bekamen wir von Paderborn die Genehmigung, die Hostien zu verkaufen. Ab dann war es Gewerbe für uns. 1926 bekamen wir erst Strom. Bis dahin wurden die Eisen mit Kohle von unten geheizt." Knochenarbeit für die Schwestern. Der Durchbruch kam 1963, erinnert sich Schwester Diethild: "Da ist unsere damalige Äbtissin Mutter Juliana Tüte auf einer Ausstellung in Düsseldorf gewesen und hat diesen Automaten da gesehen, als Waffelautomaten." Der neue Backautomat hatte 18 Eisen, und dadurch konnte die Produktion der Hostien enorm gesteigert werden. Der Kundenstamm wurde nicht nur auf ganz Deutschland erweitert, Abnehmer wurden auch in Norwegen, Schweden, Dänemark gefunden, und eine Zeit lang wurden Hostien bis nach Korea versendet. Doch die Zeiten ändern sich. Immer weniger Menschen gehen regelmäßig in die Kirche und zu den Sakramenten, Gemeinden fusionieren wegen Priestermangels. Das Kloster merkt seit Jahren langsam aber stetig, dass der Bedarf geringer wird, sagt Mutter Angela Boddem. Da könnte man ja auf die Idee kommen, neue Märkte für das Hostiengeschäft zu erschließen. "Ich glaube das ist sehr illusorisch, weil es gibt ja auch in anderen Regionen, in anderen Kontinenten auch Hostienbäckereien, und das sind oft kleine Schwesterngemeinschaften z.um Beispiel in Afrika, und wir möchten nicht denen eine Konkurrenz sein."
Von Claudia Ullrich-Schiwon
Die Hostien-Bäckerei unterliegt hohen Anforderungen, denn die Hostie, die beim katholischen Abendmahl an die Gläubigen verteilt wird, ist der Leib Christi, "das Brot des Lebens". Das wissen auch die Mitarbeiter des Benediktinerinnenklosters Varensell. Dort werden täglich 40.000 Hostien gebacken - nicht nur für den Eigenbedarf.
"2018-04-06T13:55:00+02:00"
"2020-01-27T17:46:39.420000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reihe-backstuben-fuer-das-brot-des-lebens-hostienproduktion-100.html
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No-Budget-Filme auf der Zeche Zollern
Der "World Movie Contest UNICA" findet dieses Jahr auf der Zeche Zollern in Dortmund statt (Horst Ossinger/dpa) Das Festival findet jedes Jahr in einem anderen Land statt, dieses Mal in Deutschland. Der Bundesverband deutscher Filmautoren BDFA hatte sich darum beworben. Marcus Siebler ist Präsident des BDFA und Kurator dieses Jahrgangs. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Der World Movie Contest UNICA findet vom 05. bis 12. August 2017 auf der Zeche Zollern statt.
Marcus Siebler im Gespräch mit Sigrid Fischer
30 Länder nehmen am internationalen Filmfestival UNICA teil. Auf der Zeche Zollern in Dortmund zeigen die Amateurfilmer ihre Arbeiten. "Das Entscheidende ist, sie machen es mit viel Leidenschaft", sagte Festival-Kurator Marcus Siebler vom Bundesverband Deutscher Filmautoren im Dlf.
"2017-08-07T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:42.914000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/amateurfilm-festival-no-budget-filme-auf-der-zeche-zollern-100.html
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"Der 1. Mai ist nicht mehr lange hin"
Christoph Heinemann: Ein bundesweiter Mindestlohn für Zeitarbeiter rückt offenbar näher. Nach monatelangem Streit registrierte Arbeitsministerin von der Leyen positive Signale aus der FDP und hofft nun auf eine Einigung noch in diesem Jahr. Hintergrund ist die geplante Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Osteuropa ab Mai 2011 und die Furcht vor Dumping-Löhnen. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Heinrich Kolb hatte laut "Rheinischer Post" gesagt, wenn die Union auf einem Zeitarbeits-Mindestlohn beharre, dann wolle man sich dem nicht in den Weg stellen. Die FDP sei nicht dogmatisch. Es gebe da noch Meinungsunterschiede über die konkreten gesetzlichen Umsetzungen, aber - und das kam dann als Dementi quasi später - er schob nach in einer Mitteilung, eine Zustimmung der FDP zu einem Mindestlohn für die Zeitarbeit gebe es noch nicht. Ziel der Liberalen sei es, für Zeitarbeiter die gleiche Bezahlung wie für Stammkräfte durchzusetzen. - Das klingt ein bisschen nach Hü und Hott. Meine Kollegin Anne Raith hat darüber mit Brigitte Pothmer gesprochen, der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, und sie zunächst einmal gefragt, welchen Reim sie sich auf die Äußerungen aus der FDP macht.Brigitte Pothmer: Ich habe aufgehorcht und musste dann feststellen, dass sie sich dann letztendlich doch eher wieder als Dagegen-Partei profiliert hat. Man muss ja mal feststellen: Alle wollen den Mindestlohn. Die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die Sozialminister der Länder haben sich heute darauf verständigt, nur die FDP blockiert und sozusagen verhindert damit, dass wir reagieren können auf eine osteuropäische Billigkonkurrenz, die mit drei bis vier Euro die Stunde hier auf den Markt drängen wird, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai nächsten Jahres kommt.Anne Raith: Aber die FDP scheint ja zumindest gesprächsbereiter zu sein als vorher. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Kolb sagt, die FDP sei bereit, über eine Lohnuntergrenze für die Branche zu reden. Sind das nicht die ersten Schritte in die richtige Richtung?Pothmer: Wissen Sie, Frau Raith, was haben die Beschäftigten in diesem Niedriglohnsektor davon, wenn die FDP Signale gibt? Also es ist dringend notwendig, dass gehandelt wird. Der 1. Mai ist nicht mehr lange hin. Und es kommt doch darauf an, dass die FDP nicht Signale gibt, sondern dass wirklich was passiert.Raith: Aber die FDP geht ja in Ihrer Forderung eigentlich noch weiter und pocht auf gleiche Bezahlung, also den sogenannten Equal Pay. Das heißt, dass Zeitarbeiter das Gleiche verdienen wie Stammkollegen sozusagen. Das klingt doch gerecht, um nicht zu sagen sogar gerechter.Pothmer: Das ist eine Forderung, die wir seit Langem erheben. Diese Forderung ist absolut richtig. Ich kann nur nicht verstehen, dass diese Forderung quasi sozusagen als Spielball benutzt wird, um dann gegen den Mindestlohn zu agieren. Also ich halte das wirklich nicht für glaubwürdig!Raith: Aber ist der Mindestlohn für die Branche dann nicht ungerechter als Equal Pay, wenn also ein Zeitarbeiter dennoch weniger verdient als sein Branchenkollege?Pothmer: Also wir sagen es mal so: Ich bin ausdrücklich nicht gegen Zeitarbeit. Ich glaube, dass wir eine bestimmte Flexibilitätsreserve für die Unternehmen auch brauchen. Aber Zeitarbeit ist leider in der Vergangenheit in zunehmendem Maße nicht genutzt worden, um Auftragsspitzen abzudecken, sondern um Stammbelegschaften zu ersetzen. Deswegen ist es dringend notwendig, dass wir Equal Pay kriegen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag. Ich bin sogar der Auffassung, dass es einen Flexibilitätszuschlag geben muss, so wie es ihn in Frankreich zum Beispiel gibt, der sozusagen die negativen Anteile, die Zeitarbeit ja hat - also für die Beschäftigten weniger Sicherheit, keine Absicherung, wenn Entlassungen stattfinden, das haben wir jetzt in der Krise gesehen -, also alle diese Nachteile müssten eigentlich mit einem Zuschlag ausgeglichen werden. Deswegen bin ich sehr dafür. Aber das ersetzt doch nicht einen gesetzlichen Mindestlohn. Denn in dem Moment, in dem die Leiharbeiter nicht bei einem Unternehmen beschäftigt sind, sind sie angestellt bei der Leiharbeitsfirma, und da müssen sie doch auch ein Minimum an Lohn kriegen, von dem sie leben können.Raith: Aber der Mindestlohn wäre dann immer noch weniger als der derjenigen, die in der Branche einen Tarifvertrag haben?Pothmer: Das kommt ganz darauf an, wo wir diesen Mindestlohn ansetzen, und es kommt ganz darauf an, in welcher Branche jemand arbeitet. Ich will nur sagen: Es geht einfach nicht, diese beiden jeweils berechtigten Forderungen gegeneinander auszuspielen, weil sie für unterschiedliche Situationen eine Absicherung bilden.Raith: Sie haben jetzt den 1. Mai, Frau Pothmer, schon mehrere Male angesprochen und die Argumentation dieses Mindestlohnes ist ja: Deutschland soll vor Dumping-Angeboten aus dem Ausland geschützt werden. Was glauben Sie denn kommt ab dem 1. Mai auf den deutschen Arbeitsmarkt zu?Pothmer: Zunächst einmal muss man mal sagen, dass es völlig unzureichend ist, wenn wir nur über Mindestlöhne für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter reden. Wir brauchen, wenn wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, insgesamt faire Wettbewerbsbedingungen. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass ungefähr 140.000 Beschäftigte auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen werden, und zwar in erster Linie Beschäftigte mit geringen Qualifikationen, also die, die bei uns im Niedriglohnsektor arbeiten. Und in diesem Niedriglohnsektor sind im Übrigen sogar im Aufschwung die Löhne noch zurückgegangen. Die Lohnspreizung nimmt immer weiter zu. Deswegen brauchen wir nicht nur einen Mindestlohn in der Zeitarbeit; deswegen brauchen wir dringend einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen.Raith: Aber glauben Sie, der Ansturm wird so groß sein, dass das tatsächlich notwendig ist?Pothmer: Wissen Sie, wir haben jetzt bereits in Deutschland den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. 6,5 Millionen Menschen arbeiten in diesem Bereich und über zwei Millionen arbeiten für Löhne unter fünf Euro die Stunde brutto. Das ist der Ausdruck eines Alleinstellungsmerkmals, den Deutschland hat. Alle anderen europäischen Länder haben Lohnuntergrenzen, haben Mindestlöhne oder vergleichbare Regelungen. Und das ist etwas, was wir in Deutschland ohnehin brauchen, aber die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird noch mal einen besonderen Druck insbesondere auf diese niedrigen Löhne auslösen. Wissen Sie, wenn selbst Herr Hundt sagt, wir brauchen einen Mindestlohn für die Leiharbeit, dann, glaube ich, sollte auch die FDP nicht länger zweifeln.Raith: Die FDP wiederum gibt sich ja mit Hinblick auf den 1. Mai gelassen. In England und Dänemark, so werden die Beispiele angeführt, besteht seit Längerem volle Freizügigkeit, ohne dass es zu Verwerfungen und zu chaotischen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt gekommen ist. Warum fürchten Sie das dann für Deutschland?Pothmer: England hat einen Mindestlohn. England hat sozusagen faire Wettbewerbsbedingungen für diese Situation geschaffen, und in Dänemark gibt es etwas Vergleichbares wie den Mindestlohn. Also beide Beispiele sind dafür geeignet zu sagen: Lasst es uns so machen, wie es die Dänen gemacht haben, lasst es uns so machen, wie es die Engländer gemacht haben.Raith: Die Argumentation in Deutschland stützt sich ja auf den 1. Mai, auf die Freizügigkeit und die drohenden Dumping-Angebote dann aus dem Ausland. Stören Sie sich eigentlich an der Argumentation und der Tatsache, dass das alles unter Druck und nicht eben aus freien Stücken geschieht?Pothmer: Mir kommt es auf das Ergebnis an und es kommt darauf an, dass sich da etwas bewegt für die Beschäftigten in diesem Sektor. Dass ich es da nicht nur mit Gutmenschen zu tun habe, daran habe ich mich lange gewöhnt. Entscheidend ist, was am Ende dabei herauskommt für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor.
Brigitte Pothmer im Gespräch mit Anne Raith
Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer, hat an die FDP appelliert, die Einführung eines Mindestlohns für Zeitarbeiter nicht zu blockieren. Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Sozialminister der Länder hätten sich bereits darauf verständigt, um für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 gewappnet zu sein.
"2010-11-26T05:05:00+01:00"
"2020-02-03T18:10:43.257000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-1-mai-ist-nicht-mehr-lange-hin-100.html
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"Mit dem Brexit hat er sich sein Denkmal gesetzt"
Noch bis November wird Paul Dacre Chefredakteur der Daily Mail bleiben - dann hört er auf (AFP / Justin Tallis) Ein rücksichtsloser Bully und Tyrann, so skizzieren ihn die einen. Für andere ist Paul Dacre ein genialer Blattmacher in der Ära einer existenziellen Zeitungskrise. Die Nachricht, dass Dacre nach einem Vierteljahrhundert als Chefredakteur der "Daily Mail" abtritt, ging jedenfalls wie ein Lauffeuer durch alle Medien. Für den Labour-Politiker Andrew Adonis ist es die beste Nachricht seit langem überhaupt. "Es ist ein Moment nationaler Befreiung. Er hat das öffentliche Leben 25 Jahre lang negativ geprägt. Er war gegen Homosexualität, gegen Einwanderung, EU, gegen Labour und gegen die Gewerkschaften." "Fanatisch darauf bedacht, akkurat zu sein" "Er ist einer der größten Chefredakteure aller Zeiten", preist ihn dagegen Peter Obrone an, ein Kolumnist für die Daily Mail. "Er verstand sein Handwerk und er war geradezu fanatisch darauf bedacht, akkurat zu sein. Im Newsroom wird allen Kollegen immer eingetrichtert: checkt, checkt, checkt!" Ehemalige Journalisten der "Daily Mail" berichten in der Tat, wie groß der Druck unter Dacre sein muss. Oft habe er zwei Reporter gleichzeitig auf eine Story angesetzt, um den Druck zu erhöhen, nur einer von beiden Artikeln wurde gedruckt. "Daily Mail" - Anwalt des kleinen Mannes Paul Dacre lehrte nicht nur die eigenen Journalisten, sondern den Mächtigen des Landes das Fürchten. Politiker, Schauspieler, Wirtschaftsbosse wurden gnadenlos angeprangert wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Fehltritte. Die "Daily Mail" versteht sich als Anwalt des kleinen Mannes. In einer seiner wenigen öffentlichen Auftritte gab Dacre 2011 folgende Kampfansage ab. "Stehe ich denn alleine damit, dass ich die Heuchelei und Rachegelüste der politischen Klasse wittere? Sie entrüstet sich über die britische Presse, die es wagt, ihre Gier und Korrumpierbarkeit aufzudecken." Diese Wächterfunktion gestehen auch Kritiker der "Daily Mail" zu, halten das Blatt aber für einen Brunnenvergifter, vor allem bei der Einwanderung. "Daily Mail"-Mann Peter Obrone sieht das anders. "Einwanderung wurde als etwas angesehen, worüber man nicht diskutieren darf. Paul Dacre ist kein Rassist. Es hat einen massiven demographischen Wandel gegeben. Die 'Mail' war eine der wenigen Zeitungen, die den Mut aufbrachte, den Finger darauf zu legen." Mehr als die Hälfte sind Leserinnen Die Leser der "Daily Mail" sind über 58 Jahre alt, leben eher in Klein- und Mittelstädten oder wie es so oft heißt in "Middle England" und weniger in den urbanen Zentren. Mehr als die Hälfte der Leser sind Frauen, die am konservativen Frauenbild der "Daily Mail" keinen Anstoß nehmen, anders als manche Comedians. "Es gibt keinen Artikel über eine Frau, in dem nicht darauf eingegangen wird, wie sie aussieht. Die Frau sei zu fett, zu dünn, sie habe zu viele Kinder, zu wenige Kinder. Die Mail erzählt uns laufend, wir können nicht alles haben. Nein, ihr könnt uns verdammt noch mal nicht ständig erzählen, wir könnten nicht alles haben." Massiver Kurs pro Brexit Unter Paul Dacre fuhr die Zeitung "Daily Mail" auch einen massiven Kurs pro Brexit. Der frühere Premierminister David Cameron soll versucht haben, den Verleger Lord Rothermere dazu zu bewegen, Dacre zu entlassen. Rothermere, der selbst gegen den Brexit ist, habe das abgelehnt. Er wolle keinen Einfluss auf die redaktionelle Linie seines Blatts nehmen. Labour-Politiker Andrew Adonis weiß, welche Macht Paul Dacre im Regierungsviertel hatte. "Zu oft haben die Daily Mail und die persönliche Meinung eines Paul Dacre beeinflusst, was in den Ministerien gedacht wurde. Mit dem Brexit hat er sich sein Denkmal gesetzt." Dacre wird im November 70 Jahre alt und steigt dann in die Verlagsführung auf. Er wird dann aber nicht mehr die inhaltliche Richtung der "Daily Mail" bestimmen. Diese Aufgabe kommt ab November auf seinen Nachfolger Geordie Greig zu. Der künftige Chefredakteur ist ein "Remainer", ein EU-Befürworter. Greig ist Chef der Online-Ausgabe der "Mail" und ein Intimfeind von Paul Dacre. Nicht auszuschließen, dass Verleger Lord Rothermere doch endlich den rabiaten Anti-EU-Kurs der "Daily Mail" geändert sehen will.
Von Friedbert Meurer
Für die einen ist er ein rücksichtsloser Bully, für die anderen "einer der größten Chefredakteure aller Zeiten": Unter Paul Dacre wurde die "Daily Mail" zu einer der wichtigsten und aggressivsten Zeitungen Großbritanniens, die sogar mit zum Brexit geführt haben soll. Nun zieht sich Dacre zurück.
"2018-06-13T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:52.250000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/daily-mail-chefredakteur-hoert-auf-mit-dem-brexit-hat-er-100.html
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Tenor, Counter oder Bariton?
Schnee, kahle Bäume, leere Flächen: Der Blick eines Wanderers im Winter. (dpa / picture alliance / Thomas Warnack) Musik: Xavier Sabata, "Der Lindenbaum" Große Sängerinnen wie Brigitte Fassbaender oder Nathalie Stutzmann widmeten sich Schuberts Winterreise und konnten künstlerisch berühren, auch wenn die weibliche Stimmlage für diese Lieder immer wieder gewöhnungsbedürftig ist. Schubert verlangt zwar nicht explizit eine Männerstimme, hat seinen Zyklus aber vermutlich dafür gedacht. Singt ein Countertenor, sind um ein Vielfaches stärker noch Hörgewohnheiten beiseite zu schieben. Der Katalane Xavier Sabata hat sich zweifellos mit seinem souverän und rund geführten Countertenor im Bereich der Barockmusik einen Namen gemacht. Jetzt nimmt er sich die künstlerische Freiheit und ging geht das Wagnis ein, Schuberts Winterreise singen. Er ist nicht der erste, Jochen Kowalski oder Zvi Emanuel-Marial taten es vor ihm. Musik: Xavier Sabata, "Rückblick" Schöner Klang, aber wenig Wortdeutung Es zeigt die Qualität von Schuberts Musik, dass sie auch stark berührt, ohne, dass man die hintergründigen Gedichte von Wilhelm Müller versteht. Es geht hier nicht nur um einen traurigen, von seiner Geliebten verschmähten Mann. Es geht wohl ganz allgemein um einen Menschen auf der Suche nach sich selbst, seiner Identität. Der Winter steht für den Zustand innerer Vereinsamung und Erstarrung, ist aber auch eine Chiffre für die politische Restauration im damaligen Metternich-Staat. Man kann Schuberts facettenreiche Lieder, seine fantasievolle Umsetzung der Poesie einfach mit schöner Stimme, mit schönen Bögen und Übergängen singen und so dem musikalischen Gestus schlicht folgen. Diesen Ansatz wählen Xavier Sabata und Tenor Pavol Breslik. Leider schwelgen sie dabei ein wenig zu sehr im eigenen schönen Klang. Musik: Xavier Sabata, "Gute Nacht" Sabata stößt an die Grenzen einer typischerweise meist im Falsett geführten Countertenor-Stimme. Sie kann nicht den Facettenreichtum, die Flexibilität und die expressive Ausdrucksqualität leisten, die romantische Liedkunst erfordert, und die eine "Nicht-Countertenor-Stimme" hat. Es fehlt bei Sabatas Winterreise an Volumen und Kraft, an dynamischer und farblicher Bandbreite. Stärker noch fehlt jedoch eine profilierte interpretatorische Gestaltung, eine Auseinandersetzung mit dem Text. Stattdessen herrscht ein weinerlicher Ton vor, der sich schnell abnutzt; musikalisch-interpretatorisch eine Enttäuschung. Auch Francisco Poyato kann am Klavier keine Akzente setzen. Da hat Pavol Breslik mit Amir Katz einen Partner zur Seite, der weitaus differenzierter und sensibler gestaltet. Musik: Pavol Breslik/Amir Katz, "Der stürmische Morgen" Ein Ergründen des Textes vermisst man allerdings leider auch weitgehend bei dem slowakischen Tenor Pavol Breslik. Er geht die subtilen Lieder viel zu opernhaft an. Zwar ist sein Deutsch weit besser als das von Xavier Sabata, doch sein Timbre hat ein leichtes Dauerflackern, das mag aber auch Geschmacksache sein. Dennoch: Man erwartet viel mehr dynamische und farbliche Differenzierung. "Der stürmische Morgen" etwa ist nur laut und hart, Kontraste und Pathos kommen meist sehr vordergründig-plakativ daher. Hintergründige Ebene der Worte Ganz anders der schwedische Bariton Peter Mattei. Mit seinem warmen, sonoren Timbre gestaltet er sehr geschmackvoll und verdeutlicht die Stimmungsschwankungen und Selbstzweifel des einsamen Winter-Wanderers mit plausiblen Farbwechseln. Musik: Peter Mattei/Lars David Nilsson, "Gute Nacht" Der Gefahr, dass sein durchaus gewichtiger Bariton mit zu viel Kraft die zarten Lieder zerstören könnte, begegnet Mattei mit einer feinen Pianokultur. Er beweist, dass ein gestandener Opernsänger durchaus als Liedsänger überzeugen kann. Sein Deutsch lässt nicht die geringsten Wünsche offen. Man wird als Hörerin wirklich mit in die poetische Welt Schuberts und Wilhelm Müllers hineingenommen. Mattei durchdringt Text und Musik. So vermittelt er zum Beispiel subtil eine leicht selbst-ironische Häme etwa in "Die Post": Der "naive Wanderer" hoffte wider besseren Wissens noch auf einen Brief der Geliebten. Musik: Peter Mattei/Lars David Nilsson, "Die Post" Peter Mattei gelingt mit seinem auch sehr virilen Bariton eine natürliche Balance von dramatischem Impetus und nötiger Leichtigkeit und lyrischer Innerlichkeit. Musik: Ian Bostridge/Thomas Adès, "Gute Nacht" Dass der britische Tenor Ian Bostridge sich seit drei Jahrzehnten mit Schuberts Winterreise auseinandersetzt – 2014 ja auch ein lesenswertes Buch darüber veröffentlicht hat -, spürt man in jeder Sekunde seiner neuen, dritten Einspielung. Es fällt positiv auf, dass sein heller Tenor deutlich an Tiefe und Körper gewonnen hat. Bostridge neigte schon immer ein wenig zu Überartikulation und zum ein wenig manierierten Nachdrücken, doch das gerät in den Hintergrund, weil sein interpretatorischer Zugang so überzeugend ist. Musik: Ian Bostridge/Thomas Adès, "Mut!" Neue Erkenntnisse durch Bostridge Wenige haben mehr Farben, mehr artikulatorische und dynamische Differenzierung als Ian Bostridge. Er hat jedes Wort, jedes Lied genau unter die Lupe genommen, und begibt sich – souverän und sehr frei - mit seinen Hörern auf eine wirkliche Reise voller Intensität. Er entdeckt groteske und ironische Facetten und vermittelt Momente tiefster Resignation. "Die Krähe" beispielsweise singt er weit langsamer als viele Kollegen. Man hat das Gefühl, hier schaut ein Clown in den Spiegel und merkt, dass die Maske nicht mehr funktioniert. Das klingt wirklich neu! Musik: Ian Bostridge/Thomas Adès, "Die Krähe" Mit dem Komponisten Thomas Adès hat Ian Bostridge einen Partner, der am Klavier durch sein faszinierend feinsinniges Spiel eigene Akzente setzt. Er durchdringt jedes Detail von Schuberts ja auch psychologisch die Texte kommentierenden Klaviersatzes. Gerade Adès macht gemeinsam mit Ian Bostridge diese Einspielung zu einer der spannendsten überhaupt in der letzten Zeit. Die besprochenen Aufnahmen: Xavier Sabata, CountertenorFrancisco Poyata, KlavierBerlin Classics Pavol Breslik, TenorAmir Katz, KlavierOrfeo Peter Mattei, BaritonLars David NilssonBIS Ian Bostridge, TenorThomas Adès, KlavierPentatone
Von Elisabeth Richter
Gleich mehrere Aufnahme der Winterreise von Franz Schubert sind in den vergangenen Monaten erschienen. Der Tenor Ian Bostridge nimmt den Liederzyklus zum dritten Mal auf, der Countertenor Xavier Sabata wagt sich zum ersten Mal an die Lieder heran. Überzeugt der frische Blick oder die langjährige Erfahrung mehr?
"2020-01-01T22:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:24:50.812000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schuberts-winterreise-tenor-counter-oder-bariton-100.html
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Der Klang des bedingungslosen Grundeinkommens
Musiker leben oft unter der Armutsgrenze. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte hier Abhilfe schaffen. (Imago / Panthermedia / Nomad Soul) Arm und reich. Die Spanne wird immer größer. Russische Oligarchen kauften Luxus-Segelyachten für 400 Millionen Euro. Elon Musk übernahm kürzlich den Nachrichtendienst Twitter. Von Musk zu Musik ist schriftlich nur ein kleiner Schritt. Umso gravierender fallen die finanziellen Unterschiede aus, besonders deutlich in der Freien Szene. Auf Initiative des Landesmusikrats NRW gibt es derzeit die Konzertreihe unter dem Motto "Der Klang des bedingungslosen Grundeinkommens". Altbekanntes Thema "Workers Union", also „Gewerkschaft“, heißt ein Stück von Louis Andriessen. Den niederländischen Komponisten beschäftigte schon 1975 die Frage nach Arbeit und Einkommen. Rhythmisch ist alles exakt notiert, aber die Tonhöhen überlässt Andriessen den Interpreten. Es solle, so steht es in der Partitur, nur möglichst „dissonant“ klingen, „chromatisch“ und „aggressiv“. Vor etwa 50 Jahren war das Thema Arbeit anders aufgeladen als heute. Unter den meist links orientierten Komponisten gehörte Kapitalismus-Kritik zum guten Ton, siehe Luigi Nono, Helmut Lachenmann oder eben Louis Andriessen. Corona als Problemverstärker In der Konzertreihe "Der Klang des bedingungslosen Grundeinkommens" stehen auch die Perspektiven der Freien Szene im Fokus. Musikräte und Kulturförderer sprechen von „grassierender Projektitis“ und „fehlender Nachhaltigkeit“. Musiker und Komponistinnen erfüllen getrieben die Forderungen der Antragslyrik, um überhaupt leben zu können. So hetzen sie von Projekt zu Projekt, und das ohne viel Ertrag. Johannes Marks ist selbst Komponist und organisierte das Dortmunder Konzert. Er hat beim Landesmusikrat Zahlen und Fakten erfragt. "Um die 12 000 Euro ist der Verdienst von Musikern und Musikerinnen im Durchschnitt in Nordrhein Westfalen, und zwar nicht im Monat, sondern pro Jahr. Insofern sind wir schon deutlich unter der Armutsgrenze." Künsterlisches Potential ermöglichen Marks weist damit auf das ernste soziale Problem hin. "Ich kann da nur zustimmen, dass sicherlich kreative Ressourcen bei den Menschen frei gelegt werden, wenn sie an bestimmte existenzielle Sorgen nicht mehr gebunden sind." Auch mal mit Humor So sorgenvoll klingt es zum Glück nicht nur im Konzert zum bedingungslosen Grundeinkommen. Zwischen den Stücken von Louis Andriessen, einem Stück für Münzen vom deutschen Komponisten Dieter Schnebel und einer audiovisuellen Komposition der New Yorker Komponistin Jessie Marino werden Texte verlesen. Es sind auch Auszüge der Philosophin und Gesellschaftskritikerin Hannah Arendt dabei. STATIONEN V: Das Kleingeldzählen wird zur Performance. (Thomas Ahrendt) Ebenso beschäftigte sich die in Köln lebende und in Belarus geborene Komponistin Oxana Omelchuk mit diesem Thema. "Normalerweise schreibe ich für viel buntes Schlagzeug, aber diesmal habe ich gedacht, muss ich sparsam sein. Ich habe ein bisschen gespart an Instrumenten, an Transport. Es war wichtig, mich einmal zu reduzieren.“ Und ganz zum Schluss fliegen kleine Cent-Stücke, die gerade noch ein der kleinen Rundtrommel rumorten, ins Publikum. Und viele helfen mit, jede Münze vom Boden für das nächste Konzert wieder aufzulesen. Die Reihe findet in Dortmund, Köln, Essen, Detmold, Münster, Bielefeld und Aachen bis zum 7. Mai 2022 statt.
Von Torsten Möller
Armut und Reichtum klaffen immer weiter auseinander. Die finanzielle Situation ist gerade in der Freien Szene desaströs. Der Landesmusikrat NRW initiiert derzeit eine Konzertreihe, bei der Werke erklingen, die diese existentielle Thematik aufgreifen.
"2022-05-02T20:10:00+02:00"
"2022-05-03T11:25:56.965000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-klang-des-bdingungslosen-grundeinkommens-100.html
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Eine Stiftung soll es richten
Mit diesem Buch ist Helmut Kohl im Reinen: "Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung". (picture alliance/dpa/Boris Roessler) Altkanzler Helmut Kohl will seinen Nachlass einer Stiftung übergeben. Das kündigte der Anwalt und Vertraute des 84-Jährigen, Stephan Holthoff-Pförtner, an. "Ich habe es mit ihm besprochen, auch mit Frau Richter. Beide haben gesagt, es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Verwaltung über das geistige, politische Erbe Historiker bekommen. Es soll eine Stiftung sein", sagte Holthoff-Pförtner in der ARD-Sendung "Günther Jauch". Maike Kohl-Richter, Kohls zweite Ehefrau, erhebe keine Ansprüche. Streit um 600 Stunden Gespräche Der Streit um den Nachlass entzündete sich an der Frage, was mit den Aufzeichnungen von mehr als 600 Stunden Gesprächen zwischen Kohl und Heribert Schwan aus den Jahren 2001 und 2002 geschehen soll. Sein früherer Biograf veröffentlichte basierend auf den Aufzeichnungen ein Buch, nachdem Kohl die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte. Der geschasste Ghostwriter: Heribert Schwan hat laut Gericht keinen Anspruch auf die Tonbänder, die er mit Kohl aufgenommen hat. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd) Im Deutschlandfunk erklärte Schwan, er wolle nicht mit Kohl abrechnen, müsse aber darauf achten, dass die Deutungshoheit über die Bänder bei ihm bleibe. "Das ist auch ein Stück meines Lebenswerkes", so Schwan. Eine Kopie der Aufzeichnungen will er nur dem Bundesarchiv übereignen. Neuer Antrag vor Gericht Nachdem Kohl zunächst eine Beschwerde beim Oberlandesgericht Köln zurückgezogen hatte, kündigten seine Anwälte nun am Wochenende an, gegen einzelne Zitate in dem Buch vorzugehen. Man habe "Antrag auf Unterlassung von 115 Zitaten aus dem Buch gestellt", hieß es aus der Kanzlei Holthoff-Pförtner im "Focus". Kohls Ex-Biograf Schwan zitiert in dem Buch "Vermächtnis - Die Kohl-Protokolle" den Altkanzler mit drastischen Äußerungen über frühere Weggefährten. Kohl beantragte gegen die Verbreitung des Buchs beim Kölner Landgericht eine einstweilige Anordnung, scheiterte damit jedoch. Eine Beschwerde in der nächsthöheren Instanz zog er zurück, nachdem der zuständige Senat den Streitparteien rechtliche Hinweise erteilt hatte. (bor/swe)
null
Die privaten Akten Helmut Kohls sollen nach Angaben seines Anwalts einer Stiftung übergeben werden. Ein Schlussstrich unter den Streit um den Nachlass des Altbundeskanzlers ist das nicht. Gegen das Buch des Journalisten Heribert Schwan geht Kohl erneut vor.
"2014-10-13T10:34:00+02:00"
"2020-01-31T14:08:06.215000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/helmut-kohl-eine-stiftung-soll-es-richten-100.html
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Programmierte Symbiose von Tradition und Elektronik
Sensibel auch für politisches Wahrnehmen: der Komponist Michael Edwards (Valeria) 117 Werke listet Michael Edwards Homepage aktuell auf. Die vollkommene Symbiose traditioneller Instrumente und elektronischer Klänge ist eines der ästhetischen Hauptziele, die Edwards mit seiner Musik anstrebt. Um das zu erreichen, müsse man zwingend programmieren können – davon ist der streitbare Brite überzeugt. Geboren wurde Michael Edwards 1968 in der Nähe von Manchester. Über ein allgemeines Musikstudium fand er zur Komposition und entdeckte dann seine Begeisterung für die Computermusik. Heute ist Edwards Professor für Elektronische Komposition an der Folkwang Hochschule in Essen; seine Werke werden rund um den Globus aufgeführt. Diese Sendung könenn Sie nach Ausstrahlung sieben Tage lang anhören.
Von Georg Waßmuth
Seine selbst programmierte Musiksoftware trägt Namen wie "slippery chicken", "artimix" oder "input-strip". Damit kann der britische Komponist Michael Edwards unendlich viele Klangvariationen generieren, die seinen kreativen Prozess wie ein Turbo beschleunigen.
"2020-03-07T22:05:00+01:00"
"2020-03-17T08:19:43.922000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/michael-edwards-klangwelten-programmierte-symbiose-von-100.html
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"Ich fände es fahrlässig, aktuell über den Sommer zu spekulieren"
Die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele 2020 laufen im Zeichen des Corona-Virus (Rodrigo Reyes Marin/imago-images) Die Ausbreitung des Coronavirus hat weitreichende Folgen auch für den internationalen Sport. Zahlreiche Veranstaltungen werden verschoben oder abgesagt. Der Spielbetrieb den meisten internationalen Ligen wurde komplett gestoppt - auch in Deutschland. DOSB-Vorstandsvorsitzende Veronika Rücker sagte im Dlf, man müsse einen Beitrag dazu leisten, das soziale Leben herunterzufahren und zu verlangsamen. Der Sport müsse dabei seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. "Insofern ist es konsequent, dass wir sowohl Sportveranstaltungen runterfahren aber eben auch den Sport- und Trainingsbetrieb vor Ort zunehmend einstellen." Keine Kritik am Vorgehen des deutschen Profi-Fußballs Rücker zeigte trotzdem Verständnis dafür, dass viele Sportveranstaltungen trotz schneller Ausbreitung des Corona-Virus relativ spät abgesagt wurden, etwa in der 1. und 2. Fußball-Bundesliga. Die Ereignisse hätten sich überschlagen. Für einige Verbände sei auch der finanzielle Aspekt existenziell. "Aber ich würde das jetzt nicht als einzigen Maßstab sehen", sagt Rücker. "Wir müssen eben auch sehen, dass es keine klaren bundesweiten Vorgaben gegeben hat, sondern es in der Zuständigkeit der regionalen Gesundheitsbehörden lag, hier Entscheidungen zu treffen." Rücker glaubt nicht, dass der Profifußball mit seinem Agieren dem Ruf des Sports geschadet hat. Man müsse die Situationen immer wieder neu bewerten. "Viele Dinge lassen sich aktuell nicht prognostizieren". Die Corona-Krise werde Vereine und Verbände vor existenzielle Herausforderungen stellen, betonte Rücker. "Zahlreiche Verbände haben auf Bundes- wie auf Landesebene Einnahmequellen, die sie im Moment verlieren." Die Einnahmesituation stelle sich zurzeit "komplett anders dar". Die Kosten seien aber trotzdem vorhanden. Vorstandsvorsitzende des DOSB Veronika Rücker (mi.) (Robert Kempe) Olympischen Spiele: Entscheidung über Absage noch zu früh Mit Blick auf die Olympischen Sommerspiele in Tokio ist Rücker sicher, dass das Internationale Olympische Komitee "die aktuelle Situation intensiv bewertet und auch in permanenter Rücksprache mit der WHO ist und eine Neubewertung vornimmt." Es sei fahrlässig, "aktuell über den Sommer zu spekulieren". Die Entwicklung sei hochdynamisch und extrem kurzfristig einzuschätzen. Erst die nächsten Wochen würden zeigen "wohin die Reise gehen wird". Rücker betonte, dass die Gesundheit des gesamten Team Deutschland immer im Vordergrund stehe. Nur wenn es auch von ärztlicher Seite grünes Licht gebe, werde das Team zu den Olympischen Spielen fahren.
Veronika Rücker im Gespräch mit Marina Schweizer
Die Ausbreitung des Coronavirus legt die Welt des Sports lahm. Mit Blick auf die Olympischen Spiele sei der Zeitpunkt für eine definitive Absage aber noch zu früh, sagte DOSB-Vorstandsvorsitzende Veronika Rücker im Dlf. Die Gesundheit der Athleten stehe jedoch immer im Vordergrund.
"2020-03-14T19:11:00+01:00"
"2020-03-25T15:40:38.030000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympische-spiele-ich-faende-es-fahrlaessig-aktuell-ueber-100.html
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Streit um Kita-Plätze in Bremen ist ein Zahlenspiel
Bremen ist mal wieder Schlusslicht. Diesmal nicht bei Pisa und Co., sondern was den Ausbau der Kita-Plätze betrifft. Dabei wurden aber nicht alle Eltern befragt, sondern nur solche, die in einem bestimmten Zeitraum keinen Betreuungsplatz hatten. Das ist auch die Kritik des Bremer Sozialbehörde an der Umfrage: Denn nicht ein Fünftel aller Eltern hat keinen Platz bekommen, wie die Studie nahelegt, sondern ein Fünftel aller Eltern, die noch kein Kind in der Kita haben. Damit ergibt sich ein völlig anderes Bild, sagt Heidemarie Rose, sie ist Abteilungsleiterin im Sozialressort."Dann haben Familien ganz unterschiedliche Gründe angegeben. Zum Beispiel: Mein Kind ist nicht in der Kita, weil die Kosten zu hoch sind, weil mir der Weg zu weit ist, weil ich das gar nicht will, oder: weil ich keinen Platz bekommen habe. Da sind rund 19 Prozent für Bremen angegeben worden, das ist relativ hoch. Und zu dem damaligen Zeitpunkt mag das auch so stimmen, aber inzwischen hat sich das verändert." Die Studie gibt damit den Stand des abgelaufenen Kindergartenjahres im Land Bremen wieder. Seit der Zeit, auf die sich die Studie bezieht, sind laut Behörde in Bremen 1200 neue Plätze entstanden. Insofern widerspricht sie der These der Studie, wonach Bremen es kaum schaffen wird, den für 2013 beschlossenen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz zu erfüllen. "Und jetzt zu sagen, Bremen muss den weiteren Ausbau mit 20 Prozent mehr forcieren, das wäre ja eine Schlussfolgerung, die kann man so nicht machen. Nach unserer jetzigen Berechnung werden wir einen Betreuungsbedarf von 41 Prozent haben, und unsere jetzige Planung sieht vor, dass wir das zum August 2013 auch hinbekommen."Das sehen die großen Anbieter von Krippenplätzen anders. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege kritisiert zum Beispiel, die Behörde wolle nicht genügend Plätze schaffen. Eine Quote von rund 40 Prozent, das reicht nicht, sagt Arnold Knigge. Der Sprecher der Bremer Wohlfahrtsverbände kommt bei seiner Berechnung auf eine viel höhere Zahl: "Wir sagen, es gibt bundesweite Umfragen, im Auftrag der kommunalen Spitzenverbände, die eine höhere Nachfrage voraussagen. Und wir orientieren uns mehr an vergleichbaren Entwicklungen in anderen Großstädten, zum Beispiel in Hannover oder Nürnberg, die orientieren sich an Betreuungsquoten, die auf 50 Prozent und darüber hinaus gehen. Und wir sind der Meinung, das eine solche Quote auch für Bremen die realistischere sein wird."Für Heidemarie Rose vom Sozialressort stimmt die Zahl nicht ganz. Denn die Nachfrage von Eltern für die ersten drei Lebensjahre des Kindes sei sehr unterschiedlich. "Bei den unter 1-Jährigen gibt es einen so genannten "bedingten" Rechtsanspruch, da ist die Nachfragequote zwischen zwei und zehn Prozent. Und mit steigendem Alter steigt die Nachfrage, und bei den 2-3jährigen werden wir leicht auf 60 Prozent kommen." Der Streit um Kita-Plätze ist ein Zahlenspiel. Die Länder wollen sich dabei auch gegen Klagewellen absichern. Nach Schätzungen des Familienministeriums fehlen bundesweit 130.000 Plätze, um dem geschätzten Bedarf gerecht zu werden.
Von Christina Selzer
Im Streit um Kita-Plätze spielt die Schätzung des Bedarfs eine wesentliche Rolle. Wie fast immer argumentieren die Kontrahenten mit unterschiedlichen Zahlen. Bremen ist Schlusslicht beim Kita-Ausbau, sagt die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Die Bremer Sozialbehörde sieht dies anders.
"2012-10-23T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:30:20.955000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-kita-plaetze-in-bremen-ist-ein-zahlenspiel-100.html
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Der Gottesdienst "fehlt schon sehr"
Gottesdienste zu streamen, sei keine Dauerlösung, findet Sternberg: "Quelle und Höhepunkt unseres Lebens ist eben die Eucharistiefeier, und das ist eine Gemeinschaftsfeier." (Picture Alliance / dpa / Photoshot) Mitte der Woche haben Bund und Länder in Deutschland erste Lockerungen der bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen beschlossen. Darauf folgten Diskussionen und auch Kritik. Warum etwa dürfen Möbelmärkte in einigen Bundesländern eröffnet werden, Kirchen aber noch nicht? Die Frage steht im Raum, was denn systemrelevanter ist. Dazu Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Jürgen Zurheide: Herr Sternberg, fehlt Ihnen der Gottesdienst? Thomas Sternberg: Oh ja, er fehlt schon sehr. Wir haben das ja klaglos auch selbstverständlich mitgemacht, weil wir ja auch die Notwendigkeit gesehen haben, dass keine Gottesdienste stattfinden. Aber wenn es jetzt zu Lockerungen kommt – es fehlt schon sehr, gerade über Ostern hat man das schon sehr gemerkt. "Die Eucharistie ist eine Gemeinschaftsfeier" Zurheide: Was heißt das ganz konkret? Die Liturgie, da sagen ja manche, nun ja, diese Kreativität, auch das im Netz zu machen, das hat Einiges gebracht. Der Papst hat aber auch gestern, glaube ich, noch mal darauf hingewiesen, so ganz richtig ist das nicht. Also was fehlt Ihnen auch ganz persönlich? Sternberg: Ich glaube, wenn eins bei allen katholischen Gläubigen angekommen ist, dann die Auffassung und die Feststellung, die wir seit über 50 Jahren doch noch mal bekräftigt haben, dass die Eucharistiefeier eine Gemeinschaftsfeier ist, aus der wir leben. Wir haben als katholische Gläubige, glaube ich, sehr, sehr viel getan jetzt auch und tun immer noch im Bereich des Sozialen jetzt gerade in dieser Krise, jetzt hier von unseren großen Werken von Caritas bis zur Nachbarschaftshilfe, da passiert vieles. Es passiert viel mit Überzeugung, viele Ideen, aber Quelle und Höhepunkt unseres Lebens ist eben die Eucharistiefeier, und das ist eine Gemeinschaftsfeier, das geht nicht mit solchen Surrogaten über Netz. Das kann man zwar zur Hilfe machen, aber das ersetzt nicht die Eucharistiefeier. Bischof: " Das viele Streamen von Gottesdiensten ist mir nicht geheuer"Er fände es nicht gut, wenn in der Coronakrise jeder Pfarrer oder jeder Priester aus irgendeiner kleinen Kapelle oder aus dem Wohnzimmer streamt, sagt der Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer. Zurheide: Auf der anderen Seite, ich glaube, Sie selbst als Kirche veröffentlicht gelegentlich Zahlen, ich hab sie gar nicht im Kopf, aber es ist nur ein verschwindend geringer Teil der Katholikinnen und Katholiken, die da hingehen. Das würde dem doch widersprechen, oder hab ich da was nicht richtig mitbekommen? Sternberg: Ja, das ist ein großer Irrtum, und ich halte diese Zahl für ausgesprochen verhängnisvoll, die da immer in die Welt gesetzt wird. Da ist immer die Rede von knapp 10 Prozent, 9,7 im Moment genau, die jeden Sonntag unter den Katholiken in die Kirche gehen. Macht man mal eine Selbsteinschätzung und fragt dann mal nach, wer ein- bis dreimal im Monat geht, dann sind wir schon bei 15 Prozent noch mal drauf. Wenn man dann fragt, wer mehrmals im Jahr geht, dann sind noch mal 27,2 Prozent drauf. Wir kommen also auf deutlich über 50 Prozent der katholischen Gläubigen, die doch relativ regelmäßig zur Kirche gehen. Wenn wir diesen langen Zeitraum jetzt sehen, über die Fastenzeit und über Ostern hin, dann reden wir hier nicht über 10 Prozent, sondern reden wir hier doch von deutlich über zwölf Millionen Menschen, die den Gottesdienst vermisst haben. "Trostfunktion spielt eine ganz, ganz große Rolle" Zurheide: Wenn ich das so ganz persönlich sage, ich geh auch nicht allzu häufig in die Kirche, aber hin und wieder doch, aber wenn die Glocken läuten, freue ich mich. Wobei, ich hab von dem Ortspfarrer bei uns gehört, in Düsseldorf, wo ich lebe, dass es auch Menschen gibt, die das stört. Verstehen Sie das? Sternberg: Natürlich verstehe ich das, aber ich hab den Eindruck, über diese Ostertage haben auch Menschen, die zu Religion oder vielleicht auch ihrem Glauben keine Beziehung mehr haben oder nie hatten, gemerkt, dass da etwas fehlt, dass doch die Kirchen schon in einer Weise systemrelevant sind. Wer gibt jetzt eigentlich Antworten, wer hilft eigentlich den Menschen in existenziellen Ängsten? Wo gibt es Orte, in denen man auch diese Ängste, die da aufgebrochen sind in der Corona-Krise, verarbeiten kann? Das ist doch ganz, ganz wesentlich auch eine Frage von Religion. Ich glaube, gerade diese Trostfunktion spielt eine ganz, ganz große Rolle. Und wenn dann Menschen merken, da fällt in einigen Bundesländern sogar die Seelsorge in den Heimen weitgehend weg, da gibt es Beerdigungen nur noch mit drei oder fünf Personen, das tut schon sehr, sehr weh. Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) "Heftiger Eingriff" in die Grundrechte Zurheide: Jetzt gibt es die verfassungsrechtliche Frage – ich hab das gerade schon angesprochen – oder die rechtliche Frage: Möbelmärkte dürfen aufmachen, Kirchen nicht. Da haben Sie auch gestutzt, oder? Sternberg: Oh ja, ich hab mich gefreut über dieses Urteil. Ich meine, die Frage der Kläger in dieser Sache, das sind zum Teil Traditionalisten, das sind nicht die Leute, die sagen wir mal besonders die wesentliche Rolle in der katholischen Kirche spielen, aber das Urteil geht ja weit darüber hinaus. Das Urteil sagt, der Eingriff in die Religionsfreiheit ist ein so heftiger, so starker Grundrechtseingriff, dass man ihn immer wieder genau prüfen muss. Ich bin da auch der Bundesregierung sehr dankbar, dass das jetzt offensichtlich angekommen ist, dass da am Freitag, gestern, gesprochen worden ist im Innenministerium über Lösungswege, dass da ein sehr gutes Gespräch stattgefunden beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Das heißt, ich glaube, die Frage ist dort angekommen. Zurheide: Was heißt das aber konkret, genau genommen, was würden Sie heute Morgen erwarten von der Politik? Sternberg: Ich erwarte selbstverständlich nicht, dass es einfach nur eine Auflösung des Gottesdienstverbotes gibt, denn wir sind uns selbstverständlich im Klaren darüber, dass die Distanzregeln notwendig sind, dass man die Hygienevorschriften einhalten muss, dass wir nicht als katholische Gläubige nachher auch vielleicht sogar noch Schuld daran sein sollten, dass diese Pandemie sich noch heftiger und unkontrollierter ausweitet. Wie teilt coronasicher man eine Kommunion aus? Zurheide: Übrigens, Klammer auf, da muss ich eben zwischengehen, das ist in manchen Ländern ja passiert. Bei bestimmten jüdischen Gottesdiensten und anderen ist so was ja auch passiert. Sternberg: Ja, und genau das wollen wir selbstverständlich nicht, und das muss man auch ganz deutlich davon abgrenzen. Das haben wir immer gesagt, und zwar nicht nur ich vom Zentralkomitee, sondern auch die Bischöfe, auch der Vorsitzende Bischof Bätzing hat das gesagt. Nein, nein, wir sind der Meinung, dass es wichtig ist, solche Regeln beizubehalten. Man hat gesagt, wir wollen Beispiele dafür bringen und Zeichen dafür setzen, dass es möglich ist, auch mit Distanzregeln, auch mit Einhaltung von Hygienevorschriften, dass in den zum Teil ja großen Kirchenräumen zu machen, indem man etwa die Gottesdienste vervielfacht und dass man nur eine ganz kontrollierte Zahl von Menschen hineinlässt. Aber der Wunsch, doch jetzt wieder Eucharistie feiern zu können, der ist schon wirklich sehr, sehr verbreitet und ganz sicher nicht nur bei der Risikogruppe. Zurheide: Wie schnell lässt sich das umsetzen, was Sie da gerade ansprechen, diese neuen Regeln? Sternberg: Es gibt bereits erste Entwürfe, die wir da machen können. Die Bistümer haben jetzt weitestgehend fast alle versprochen, Handhabungen vorzulegen, wie das gehen kann. Auch die Bischofskonferenz hat sich da schon verbindend zu eingeschaltet und schon was vorgelegt. Da sind natürlich sehr wichtige, sehr schwierige Fragen auch: Wie teilt man zum Beispiel eine Kommunion aus, ohne dass da ein Virusproblem entsteht? Wie ist das beim Singen, wird dann Mundschutz getragen, wie wird gesungen, oder wird aufs Singen ganz verzichtet? Wie können die Abstandsregeln gesichert werden in Bankbestuhlungen? Wie kann man da sicherstellen, dass da wirklich nur die zusammensitzen, die auch zu Hause zusammenleben? Zurheide: Aber Sie glauben, das geht. Sternberg: Ich bin ganz sicher, dass das geht, und dass mit viel gutem Willen das möglich ist. Mir ist wichtig, dass hier eingesehen wird, das ist nicht irgendein nebenrangiges Thema, das ist nicht so etwas, was man so wie eine Petitesse behandeln kann: Ach, da gibt es auch noch so ein paar alte Leute, die am Sonntag in die Kirche wollen. Nein, nein, es ist eine sehr große Gruppe von Menschen, und es sind weiß Gott nicht nur die Alten. Das sind wirklich Menschen aller Lebensaltersstufen, die jetzt hier über Wochen hin gemerkt haben, dass da etwas fehlt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Sternberg im Gespräch mit Jürgen Zurheide
"Der Wunsch, wieder Eucharistie feiern zu können, ist schon sehr verbreitet", sagte Thomas Sternberg vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken im Dlf. Er hält Gottesdienste auch bei den geltenden Abstandsregeln für machbar, zumal in geräumigen Kirchen und betont deren Trostfunktion in der Coronakrise.
"2020-04-18T06:50:00+02:00"
"2020-04-19T09:32:04.695000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kirche-und-glaube-in-coronazeiten-der-gottesdienst-fehlt-100.html
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Angst vor der Basis
SPD-Chef Sigmar Gabriel auf der Regionalkonferenz in Hofheim (Fredrik Von Erichsen / dpa) Der Vertrag ist ausgehandelt. Doch ob die Große Koalition tatsächlich zustande kommt, hängt nun von der Zustimmung der SPD-Basis ab. Und die ist keineswegs sicher. Viele Genossen lehnen das Bündnis mit der Union ab. Ein Nein würde die Parteiführung schwer beschädigen. Aber ist die so gespaltene SPD überhaupt regierungsfähig? Wären die Sozialdemokraten ein verlässlicher Koalitionspartner? Studiogäste: Rudolf Dreßler, SPD-Sozialexperte Everhard Holtmann, Parteienforscher an der Universität Halle-Wittenberg Oswald Metzger, Mitglied im CDU-Vorstand, Baden-Württemberg und Publizist Matthias Miersch, SPD-MdB, Stellv. Vorsitzender des Forums Demokratische Linke
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Der Vertrag ist ausgehandelt. Doch ob die Große Koalition tatsächlich zustande kommt, hängt nun von der Zustimmung der SPD-Basis ab. Und die ist keineswegs sicher. Viele Genossen lehnen das Bündnis mit der Union ab.
"2013-12-02T10:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:48:08.554000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-mitgliedervotum-angst-vor-der-basis-100.html
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Die Flucht eines Verschwörers
Die russische Mannschaft beim Einzug in das Olympia-Stadion von Sotschi bei der Eröffnungsfeier. (picture alliance/dpa - Barbara Walton) US-Regisseur Bryan Fogel ist Radsportfan und selbst Amateurfahrer. Er ist geschockt, als Lance Armstrong in einem Interview zugibt, jahrelang gedopt zu haben. Deshalb will Fogel im Selbsttest mit verbotenen leistungssteigernden Substanzen zeigen, dass das Kontroll-System nicht funktioniert. Bryan Fogel wurde zum Macher des Films über Rodchenkovs Flucht. (imago - Future Images) "Wenn ich das könnte und damit davonkäme, könnte das im Prinzip jeder tun und damit davonkommen." Rodchenkov wird Partner und Freund von Fogel Für den Test wird ihm 2014 der Chef des russischen Antidoping-Labors, Grigory Rodchenkov, empfohlen. Fogel weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Rodchenkov der Kopf eines geheimen staatlich gelenkten russischen Doping-Programms ist. Die beiden Männer werden über das private Doping-Projekt Freunde. Doch dann kommt erst die ARD-Doku "Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht" und später der Bericht des Ermittlers Richard McLaren im Auftrag der WADA, der staatlich organisiertes Doping in Russland bestätigt. Rodchenkov sieht sich nun in Gefahr. Grigory Rodchenkov, ehemaliger Leiter des russischen Antidoping-Labors und mitverantwortlich für das staatliche gelenkte Dopingsystem (Aufnahme von 2007). (sportphoto.ru) "Ich muss fliehen", berichtet er Fogel via Skype. Der besorgt einen Flug. "Wie werde ich wissen, dass Du es in den Flieger geschafft hast?", fragt Fogel. "Ich weiß nicht", antwortet Rodchenkov. Plötzlich ist Fogel Teil des größten staatlich-gesteuerten Dopingskandals der Olympia-Geschichte. Und der Zuschauer ist mittendrin, wo normalerweise nur einzelne Teile des Puzzles sichtbar werden. Das ist die Stärke der Dokumentation "Icarus", die seit heute bei Netflix zu sehen ist. Sie ist faszinierend und erschreckend zugleich. Fogel ist plötzlich mittendrin In einer späteren Sequenz sitzt Regisseur Fogel an einem Tisch mit Vertretern der Welt-Antidoping-Agentur WADA und des Internationalen Olympischen Komitees. Es ist der 20. Mai 2016. Wenige Tage zuvor hat Rodchenkov in der "New York Times" bestätigt, dass dutzende russische Sportler bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi Teil des staatlich organisierten Doping-Programms waren. Nun zeigt Fogel den Hütern sauberer Spiele Dokumente und Tabellen, erklärt wie Dopingproben manipuliert und vertauscht wurden. "Es gab nie eine Doping-Bekämpfung in Russland. In keiner Sportart." Sichtlich geschockt scheinen die WADA- und IOC-Vertreter zu erkennen, dass ihre Kontrollen versagt haben, dass der faire olympische Wettkampf an sich in Frage steht. Bitter fragt die Direktorin des Anti-Doping Labors von Montreal Christiane Ayotte über Rodchenkov: "Tut es ihm wenigstens leid?" "Wem?", fragt Fogel verblüfft zurück. Bedauern ist nicht zu spüren Nein, Bedauern erlebt der Zuschauer dieser zweistündigen Krimi-Dokumentation bei Grigory Rodchenkov nicht. Wohl aber spürt man seine Angst vor der Rache von Vize-Premier Witali Mutko und Russlands Präsidenten Vladimir Putin.
Von Carsten Upadek
US-Regisseur Bryan Fogel wollte eigentlich einen Film darüber machen, wie einfach es ist, beim Radsport zu dopen. Doch er rasselte in den größten staatlich-gesteuerten Dopingskandal der Geschichte. Denn sein Projektpartner war der Leiter des russischen Anti-Doping-Labors, Grigory Rodchenkov, der während des Films zum Kronzeugen wird.
"2017-08-04T22:55:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:26.133000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/film-ueber-russisches-staatsdoping-die-flucht-eines-100.html
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Schockierte Reaktionen nach Angriff auf AfD-Politiker
Der brutale Angriff auf den AfD-Politiker Magnitz sorgt für bundesweite Diskussionen (imago / Hartenfelser) Bundespräsident Steinmeier hat den Überfall auf den AfD-Bundestagsabgeordneten Magnitz in Bremen verurteilt. Jede Form der Gewalt gegen Mandatsträger sei ein Angriff auf den Rechtsstaat, schrieb Steinmeier in einem Brief an Magnitz. Dem müssten sich alle geeint und geschlossen entgegenstellen. Der Angriff auf den AfD-Politiker hatte sich laut Polizei gestern gegen 17:20 Uhr ereignet. Demnach wurde Magnitz in der Bremer Innenstadt überfallen. Die Polizei nach eigenen Angaben inzwischen eine Sonderkommission gebildet und steht in engem Austausch mit dem Bundeskriminalamt. In einer früheren Mitteilung der Polizei heißt es, es sei von einer politischen Motivation der Tat auszugehen. "Alltägliche Hetze gegen die AfD" in Medien und Politik Der Politiker war auf dem Heimweg von einer Veranstaltung des Bremer "Weser-Kuriers". Laut AfD lauerten ihm mehrere Personen auf, die vermummt gewesen seien. Sie schlugen Magnitz den Angaben zufolge mit einem Kantholz bewusstlos und traten ihm vor den Kopf, als er schon auf dem Boden lag. Die Bremer AfD, aber auch der Bundesvorsitzende Meuthen veröffentlichten ein Foto des Schwerverletzten. Am Abend teilten die Bremer Behörden mit, sie ermittelten wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft gibt es nach ersten Vernehmungen sowie einer Auswertung des Videomaterials erste Ergebnisse. Demnach zeigen die Aufnahmen, wie sich zwei Menschen dem Politiker näherten, ein dritter lief versetzt dahinter. Einer der Unbekannten schlug Magnitz nieder, woraufhin dieser stürzte. Der Abgeordnete habe eine stark blutende Kopfverletzung erlitten. Anschließend sei das Trio vom Ort des Geschehens geflüchtet. Nach Angaben der Behörden war nicht erkennbar, dass der Täter einen Schlaggegenstand benutzt habe. In einem Tweet der AfD heißt es: "Wir wünschen Frank #Magnitz baldige & vollständige Genesung und hoffen, dass die Verantwortlichen dieses hinterhältigen Anschlags schnellstmöglich gefasst werden." Die AfD-Fraktionsvorsitzende Weidel spricht in einem Tweet von einem "Mordanschlag" auf Magnitz. Aus ihrer Sicht geht das zurück auf eine "alltägliche Hetze gegen die AfD, für die Medien und Politiker der Altparteien verantwortlich zeichnen". Bewaffnung für AfD-Politiker gefordert Der baden-württembergische AfD-Landtagsabgeordnete Räpple reagierte mit einer radikalen Forderung. Zur Notwehr bei künftigen Angriffen müsse eine legale "Bewaffnung" von AfD-Politikern möglich sein, sofern ein individueller Personenschutz durch die Polizei nicht gewährleistet werden könne, teilte er mit. Räpple gilt allerdings als Außenseiter in der AfD. Der baden-württembergische Landesverband plant ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn - wegen Verstöße gegen die Grundsätze der Partei und wiederholtes parteischädigendes Verhalten, wie es hieß. Der Bundestagsabgeordnete Frömming stellte in einem Tweet den Zusammenhang zwischen dem Überfalls auf Magnitz und der Debatte über die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann her. Diese hatte auf ihrem privaten Twitter-Account "Nazis raus" geschrieben. Seitdem erhält sie Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Viele Menschen haben sich mit Diekmann solidarisiert und twitterten ebenfalls #NazisRaus. Damit katapultierten sie den Hashtag zeitweise an die Spitze der deutschen Twitter-Trends. Frömming twitterte unter bezugnahme auf diesen Sachverhalt "Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. #NazisRaus". "Widerlicher Angriff auf die Demokratie" Der Bremer Weser-Kurier spricht in einem Kommentar mit Blick auf den Überfall von einem "widerlichen Angriff auf die Demokratie". Zitat: "Für diese Tat kann es kein Verständnis geben. Man mag die AfD ablehnen und Frank Magnitz' politisches Wirken kritisch sehen, aber diese Gewalt hat keinen Platz in der Demokratie und auch nicht in Bremen." In die gleiche Richtung gehen viele Reaktionen aus den anderen Parteien, aber auch von der Bundesregierung. Deren Sprecher Seibert twitterte am Vormittag: Der Tenor der Reaktionen in der Politik lässt sich in etwa so zusammenfassen: Man kann die Positionen der AfD kritisieren, aber Gewalt als Mittel ist absolut tabu. Ein vergleichbarer Tenor prägt eine Vielzahl der Reaktionen auf Twitter und in anderen Netzwerken wie Facebook. Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Bartsch, etwa schrieb, es gebe keine Rechtfertigung für ein solches Verbrechen. Ähnlich äußerten sich Poltitiker von FDP und Grünen. Auch bei der SPD gab es viele Reaktionen, so etwa von Bundesaußenminister Maas und Justizministerin Barley. Stellvertretend für die Reaktionen der Sozialdemokraten steht vielleicht dieser Tweet: Doch inzwischen geht die Diskussion schon weiter. Zum einen wird problematisiert, ob es richtig war, dass die AfD ein Bild des blutüberströmten Politikers veröffentlicht. Zum anderen stellt etwa die Amadeu-Antonio-Stiftung die Frage, ob das Verbrechen instrumentalisiert wird. Inzwischen hat sich Magnitz selbst auch zu dem Überfall geäußert. Er sagte am Morgen dem Weser-Kurier, er könne sich an den Überfall nicht erinnern. Auf dem Weg zu seinem Auto sei er durch den dunklen Innenhof des Theater in Bremen gegangen - und dort attackiert worden, Zitat: "Mein großes Glück waren zwei Bauarbeiter, die eingeschritten sind". Magnitz hat eine schwere Platzwunde am Kopf und liegt im Krankenhaus.
null
Der brutale Angriff auf den Bremer AfD-Landeschef Frank Magnitz hat parteiübergreifend für Schock und Empörung gesorgt. Bundespräsident Steinmeier spricht von einem Angriff auf den Rechtsstaat. Magnitz war gestern von mehreren Personen attackiert worden. Der Bundestagsabgeordnete liegt schwer verletzt im Krankenhaus.
"2019-01-08T10:42:00+01:00"
"2020-01-26T22:32:28.315000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ueberfall-in-bremen-schockierte-reaktionen-nach-angriff-auf-100.html
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Das transatlantische Verhältnis
Hunderttausende sind gekommen, um ihn zu hören, um ihn zu sehen. Mensch an Mensch drängen sie sich zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Plakate, Jubelrufe und Bratwurstduft auf der Straße des 17. Juni. Berlin feiert einen neuen Hoffnungsträger. Es ist der 24. Juni 2008. Der ungeliebte US-Präsident George W. Bush darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Barack Obama, ein junger schwarzer Senator, schickt sich an, sein Nachfolger zu werden.Sein Weg führt ihn nach Berlin. Ein Auftritt vor historischer Kulisse. Fast.Bundeskanzlerin Merkel will damals den Eindruck vermeiden, sie mische sich in den amerikanischen Wahlkampf ein. Zwar trifft sie sich mit Obama. Doch darf der Kandidat nicht vor dem symbolträchtigen Brandenburger Tor reden, sondern nur an der Siegessäule im Berliner Tiergarten:"Menschen der Welt, schaut auf Berlin. Wo die Geschichte gezeigt hat, dass keine Herausforderung zu groß ist, für eine Welt, die zusammensteht."Wenn Barack Obama am Mittwoch wieder eine Rede in Berlin hält, ist vieles anders als beim ersten Mal. Nicht nur, weil er dieses Mal dort sprechen wird, wo schon viele seiner Vorgänger standen: vor dem Brandenburger Tor. Nicht, weil dieses Mal nur 4000 geladene Gäste in die Sperrzone dürfen. Auch Obama selbst, der morgen Abend zu seinem ersten offiziellen Besuch als Präsident der Vereinigten Staaten in Deutschland eintrifft, ist nicht mehr derselbe, sagt Ruprecht Polenz. Der CDU-Politiker ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. "Als er das erste Mal antrat, hat er Erwartungen geweckt, aber mehr noch sind Erwartungen auf ihn projiziert worden, die kein Mensch erfüllen konnte. Die Welt ist kompliziert, und auch der mächtigste Mann der Welt kann sie nicht so gestalten, alleine, wie er das gerne möchte."Zumindest aber kann der amerikanische Präsident unsere Sicherheit garantieren. So schien es zumindest den Westdeutschen und besonders den West-Berlinern über viele Jahrzehnte. Ein Vertrauen, fast unerschütterlich zu manchen Zeiten – zu anderen Zeiten galt es eher, dieses Vertrauen wieder zu beleben. Mit Worten und Taten.Er werde seinem Nachfolger einen Brief hinterlassen, sagte der amerikanische Präsident John F. Kennedy. Falls dieser einmal mutlos und deprimiert sei, solle er diesen Brief öffnen. Er werde nur einen Satz enthalten: Fahren Sie nach Deutschland. Hunderttausende Berliner hatten dem amerikanischen Präsidenten dort im Juni 1962 einen begeisterten Empfang bereitet. Die Rede Kennedys in West-Berlin vor dem Schöneberger Rathaus wurde von den Menschen, verunsichert durch Mauerbau und ständige Blockadedrohungen der Sowjetunion, als Rückversicherung und Ermutigung empfunden."Two thousand years ago the proudest boast was: 'Civis Romanus sum'. Today, in the world of freedom, the proudest boast is: 'Ich bin ein Berliner'. (…) All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and therefore, as a free man, I take pride in the words: 'Ich bin ein Berliner.'""Vor 2000 Jahren war der stolzeste Satz: 'Ich bin ein Bürger Roms'. In der Freien Welt ist dies heute der Satz: 'Ich bin ein Berliner'. Alle freien Menschen, wo immer sie auch leben, sind Berliner. Und als ein freier Mann bin ich stolz darauf, zu sagen: 'Ich bin ein Berliner'." Eigentlich sei Kennedy kein Freund Deutschlands gewesen, sagt Harald Biermann, Leiter der Kommunikation im Haus der Geschichte. In dem Bonner Museum ist derzeit die Ausstellung "The American Way – Die USA in Deutschland" zu sehen, die die Beziehungen der Deutschen mit dem Partner jenseits des Atlantik nachzeichnet. Der junge Präsident habe es aber wie kein zweiter verstanden, sich zu inszenieren. Und so war auch der Besuch eine Demonstration der amerikanischen Kraft. Lese man heute die ganze Rede, und nicht nur den einen, berühmten Satz ..." ... dann sieht man, dass das eine ganz harte Kalte Kriegs-Rede gewesen ist, die bei den Westberlinern natürlich sehr sehr sehr gut ankam. Das hatte nichts Staatsmännisches, das zielte darauf, die Anerkennung und Rückendeckung der Westberliner Bevölkerung zu produzieren. Und das hat dann eben auch sehr gut geklappt."Kennedy war tief bewegt über den Empfang durch die Berliner. Müde, aber glücklich sagte der Präsident auf dem Rückflug zu seinem Berater und späteren Biografen Theodore Sorensen: "Solange wir leben, werden wir keinen Tag mehr wie diesen erleben." Das höchst emotionale Rendezvous der Berliner mit dem amerikanischen Präsidenten täuschte darüber hinweg, dass es damals merklich knirschte im Gebälk der transatlantischen Beziehungen. Der junge Präsident und der alte deutsche Kanzler Adenauer hatten wenig Verständnis füreinander. Adenauer war enttäuscht, dass die Amerikaner erst nach mehreren Tagen auf den Bau der Berliner Mauer reagiert hatten. Wie viele Deutsche fürchtete er, dass die Vereinigten Staaten Westberlin im Ernstfall nicht verteidigen und fallen lassen würden. Immer wieder verlangte der Kanzler Sicherheitszusagen vom amerikanischen Präsidenten. Der sei sich der Stimmung in Westberlin sehr bewusst gewesen, sagt Harald Biermann:"Er hat dann bewusst in Kauf genommen, die Sowjetunion zu provozieren, um eben die Westberliner Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Und das ist ihm ja auch sehr gut gelungen."Gleichzeitig beäugte der Präsident argwöhnisch die diplomatischen Avancen Adenauers an den französischen Präsidenten de Gaulle und dessen anti-amerikanische Haltung. Spätere Kanzler pflegten enge persönliche Kontakte zu amerikanischen Präsidenten und Spitzenpolitikern, sagt der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, früher Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit: Helmut Schmidt, Willy Brandt ..."Kohl war ein Meister im Umgang mit anderen Staatsoberhäuptern. Hat das, wie ich finde, auch sehr gut eingesetzt, als der Prozess der Wiedervereinigung begann und er die Chance genutzt hat."George Bush Senior, früher Vizepräsident unter Reagan und in Deutschland zunächst recht unbeliebt, setzte sich wie kein anderer Regierungschef der ehemaligen Siegermächte für ein wiedervereinigtes Deutschland ein. An diese Unterstützung erinnerte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, 2009 – zwanzig Jahre nach dem Mauerfall – in Ihrer Rede vor dem amerikanischen Kongress:"Wir Deutschen wissen, wie viel wir Ihnen, unseren amerikanischen Freunden verdanken. Niemals werde wir, niemals werde ich ganz persönlich Ihnen das vergessen."Die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die traditionellen Rollen aber wandelten sich mit dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Deutschland brauchte nicht länger einen starken Beschützer, die USA kein Bollwerk mehr gegen die Kommunisten, sagt der Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose."Das heißt, die Notwendigkeit, im Bündnis ganz eng beieinander zu sein, milderte sich. Und das amerikanische Interesse dehnte sich mindestens aus auf die neuen Länder im Osten, die ihre Souveränität gerade wiedergewonnen hatten. Also wenn man so will, ein bisschen weg von Westeuropa."Einmal aber rückten die beiden Länder noch einmal ganz dicht zusammen. Der 11. September 2001 hatte die Supermacht USA bis ins Mark erschüttert, Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte dem ehemaligen Beschützer uneingeschränkte Solidarität zu. "Ich habe bei dem Adjektiv uneingeschränkt etwas gezuckt, denn er meinte militärische Solidarität. Und wir waren ja auch in Afghanistan seit dieser Zeit. Wir sind dort bis zum heutigen Tage drittgrößter Truppensteller. Am Anfang eher etwas zögerlich über unsere Rolle, aber immer mehr ein normaler Bestandteil der westlichen Truppen, die dort waren. Mit auch das erste Mal gefallenen Soldaten."Doch nicht einmal ein Jahr später kam es zum Zerwürfnis. Die Entkoppelung Deutschlands und der USA schien in der Krise vor dem Ausbruch des Irakkrieges evident und nicht wieder rückgängig zu machen. Der Grüne Außenminister Joschka Fischer war nicht überzeugt vom Argument, der Irak besäße Chemiewaffen und Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte klar:"Unter meiner Führung wird sich Deutschland an einer militärischen Intervention nicht beteiligen, meine Damen und Herren."Ein steter Strom herablassender und beleidigender Rhetorik von beiden Seiten des Atlantiks vergiftete das Klima wie nie zuvor. Dabei taten sich der damalige amerikanische Verteidigungsminister und die ehemalige deutsche Justizministerin besonders hervor. Rumsfeld sprach von Deutschland nur noch als dem "alten Europa", Däubler-Gmelin verglich US-Präsident Bush mit Hitler. Transatlantiker waren deprimiert, Politikwissenschaftler schrieben Bücher darüber, Deutschland, Europa und die USA drohten, auseinanderzudriften. Dann kam Barack Obama. Obwohl erst Kandidat, tat er, was Kennedy empfohlen hatte, fuhr nach Deutschland und hielt eine Rede in Berlin. Mit der er neue Hoffnungen weckte, auf ein neues, ein weltoffeneres Amerika. Und auch, wenn er nicht vor dem Brandenburger Tor reden durfte, sein Verhältnis zu Angela Merkel habe das nicht nachhaltig negativ beeinflusst, meint Stephen Szabo, Politikwissenschaftler des German Marshall Fund in Washington."Das tut nichts zur Sache. Sie haben beide ähnliche Persönlichkeiten. Sie sind beide unemotionale, rationale Politiker, die nicht viel in persönliche Beziehungen investieren. Sie sind beide sehr interessengetrieben und sehr intelligent. Sie respektieren einander, was während der Bush-Administration nicht immer der Fall war."Diese Nüchternheit im Umgang reflektiere auch die strategische Bedeutung, die Deutschland für die USA habe, so Stephen Szabo."Um es zurückhaltend auszudrücken: Wenn Deutschland und Amerika Partner sind, dann ist Europa sehr viel stabiler und die amerikanische Außenpolitik sehr viel stärker. Wir standen Deutschland während des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sehr fern. Und wir sind seit 1949 Partner. Das hat die amerikanische Rolle in Europa gestärkt und es hat Deutschland aus seiner Isolation nach dem Zweiten Weltkrieg gebracht. Dadurch entstand ein sehr viel stabileres internationales System, zumindest eine stabilere Amerikanisch-Europäische Beziehung, als dies ohne Deutschland möglich gewesen wäre."Der deutsche Politikwissenschaftler Gunther Hellmann, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt, sieht dies umgekehrt auch für Deutschland. Ein funktionierendes transatlantisches Verhältnis sei im tiefen Interesse der Deutschen."Diese Weltordnung ist, so stabil, wie sie ist, deswegen auch von Vorteil für Europa und die Deutschen, weil die USA – und teilweise eben auch die Europäer - aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrung bereit sind, Verantwortung auch im globalen Maßstab zu übernehmen. Das kann man in ähnlichem Maße weder von China noch von Brasilien oder Indien behaupten. Und deswegen wäre ein Rückzug der USA ein gravierender Verlust für die weltpolitische Stabilität."Eine Hinwendung der USA unter Obama Richtung pazifischem Raum sei allerdings nachvollziehbar. Wirtschaftlich, vor allem aber auch politisch, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz. Denn dort gebe es noch deutliches Konfliktpotenzial. In Europa sei die Lage längst stabil. Kein Grund zur Sorge, auch nicht für die Deutschen"Ich glaube, dass die Beziehungen fest sind, wir sollten nicht immer nervös werden, wenn die Amerikaner mal in eine andere Richtung schauen, deshalb haben sie uns nicht vergessen."Wirtschaftlich spielen die USA und Europa ohnehin auf Augenhöhe. Beide stehen für jeweils etwa ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung. Die USA sind der wichtigste Handelspartner Deutschlands außerhalb der EU, Deutschland umgekehrt der wichtigste in Europa. Nach Großbritannien, Japan und den Niederlanden ist die Bundesrepublik der viertgrößte ausländische Investor in den USA. Und auch das Image Deutschlands in den USA habe sich deutlich gebessert seit den Zeiten des Zerwürfnisses zwischen Bush und Schröder, meint Politikwissenschaftler Stephen Szabo. Das habe etwas mit dem Erfolg der Reformen der Regierung Schröder zu tun."Ich sehe eine deutliche Verbesserung des deutschen Ansehens in den USA. Der Präsident hat Deutschland in seiner State-of-the-Union-Rede gleich zweimal als Vorbild benannt: Zum einen das deutsche Berufsbildungssystem und das deutsche Wirtschaftsmodell, um beides beneidet man die Deutschen. Zehn Jahre lang war Deutschland der kranke Mann Europas, und jetzt ist es auf einmal ein Vorbild. Es beeindruckt die Amerikaner, wie viele Dinge die Deutschen gemacht haben, um die Katastrophen zu vermeiden, die wir in den USA oder in anderen Ländern Europas gesehen haben."Mittlerweile höre er von amerikanischer Seite auch kaum noch Kritik an der Sparpolitik, für die sich die Kanzlerin in Europa starkgemacht hat, sagt Harald Leibrecht, der Koordinator für die Transatlantische Zusammenarbeit der Bundesregierung. "Im Großen und Ganzen sehen die Amerikaner, dass es gut war, dass wir eine führende Rolle übernommen haben."Zunächst hatten die USA mehrfach versucht, den Europäern ihre Vorstellung von der richtigen Lösung der Eurokrise nahezubringen: eine lockere Geldpolitik und mehr neue Schulden. Die Euroländer haben sich diese Einmischung selbstbewusst verbeten. Etwas anders sehe es mit der Augenhöhe aus, wenn es um das militärische Gewicht gehe, sagt Ruprecht Polenz. Da hätten die EU-Staaten zwar genau so viele Soldaten wie die USA – aber eben verteilt auf 27 Mitglieder. Mit vielen Doppelstrukturen und noch nicht mit derselben technologischen Kapazität."Das wird sich auch in Zukunft nicht grundsätzlich ändern, aber die Europäer werden schon mehr in Zukunft für ihre eigene Sicherheit, für das eigene Umfeld tun müssen. Für die nähere Nachbarschaft, einfach weil sich die Amerikaner nicht alles machen können und sich jetzt stärker Asien zuwenden."Wie aber soll sie in Zukunft aussehen, die Beziehung Europa -USA? Eine Lösung für diese Frage könnte sich hinter der Abkürzung – T-TIP verstecken. Am Freitagabend haben die europäischen Handelsminister in Luxemburg der EU-Kommission grünes Licht gegeben, mit Washington über ein Freihandelsabkommen zu sprechen. Das transatlantische Freihandelsabkommen der Staaten bietet beiderseits des Atlantik die Möglichkeit, durch stärkere wirtschaftliche Integration und gemeinsame Industriestandards ihre Position gegenüber den wachsenden Wirtschaften Asiens zu stärken, sagt Harald Leibrecht, der Koordinator für die Transatlantische Zusammenarbeit: "Es geht natürlich auch letztendlich, wenn wir Europäer mit den Amerikanern verhandeln auch um große Fragen, gerade im Bereich Klimaschutz, um den Bereich Ernährungssicherheit. Alles das ist ja sicherlich auch ganz ganz wichtig und wird, davon bin ich überzeugt, einen großen Schwung in die Doha-Runde bringen. Also, der gesamte Welthandel kann hiervon profitieren."Doch ein Freihandelsabkommen wird auch auf politische Widerstände treffen – beiderseits des Atlantik. Obama müsste ein Abkommen durch beide Häuser des Kongresses bringen. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner die Mehrheit, und ihre Abneigung gegen den Präsidenten blockiert das Gesetzgebungsverfahren in den USA schon seit zweieinhalb Jahren. Doch das ist nicht das einzige Problem, meint Stephen Szabo."Der Kongress ist nicht das einzige Hindernis. Es ist auch ein Problem, dass viele Normen und Vorschriften auf einzelstaatlicher Ebene geregelt sind. Viele Bundesstaaten werden sich gegen die Veränderung ihrer Regeln auflehnen. Im Kongress selbst wird es sicher ein großes Problem mit der französischen Forderung nach Schutz für ihre Film- und Musikindustrie geben. Denn es gibt eine große Hollywood-Lobby im Kongress und in den Medien. Auch die Agrarfragen sind immer ein Problem, ob es Subventionen sind oder genetisch manipulierte Lebensmittel oder wie man Geflügel und Vieh reinigt. Die Agrarlobby ist sehr einflussreich, besonders in der Republikanischen Partei."Über diese Chancen und Probleme wird der amerikanische Präsident am Mittwoch mit der Kanzlerin sprechen. Und auch ein anderes Thema darf nicht ausgespart werden, sagt Bijan Djir-Sarai, für die FDP Mitglied im Auswärtigen Ausschuss:"Gerade beim Thema PRISM müssen wir das offen ansprechen. Da ist eine Grenze überschritten worden, die nicht akzeptabel ist." PRISM, der weltweite Zugriff auf die Daten von Internetnutzern durch den amerikanischen Geheimdienst. Datenüberwachung, Guantanamo, das Gefangenenlager, das noch immer existiert, der Einsatz von Drohnen zu gezielten Tötungen. Wenn es um die Interessen des eigenen Landes geht, ist Obama nicht weniger rabiat als sein Vorgänger – und doch, sagt Harald Biermann vom Haus der Geschichte in Bonn:"Stellen Sie sich einmal vor, die Enthüllungen über die Skandale in den letzten zwei Jahren wären unter George W. Bush herausgekommen. Dann hätte es auf jeden Fall große Demonstrationen gegeben gegen den Besuch in Berlin. Jetzt habe ich noch nicht gehört, dass es große Demonstrationen geben wird."Trotz immer wieder auftretender Unstimmigkeiten ist das grundsätzliche Verhältnis Deutschlands und den USA so stabil wie kaum ein anderes. Das Zerwürfnis über den Irak-Krieg ist überwunden. Über den Libyen-Einsatz ist es erst gar nicht zu einem Zerwürfnis gekommen. In historischer Perspektive sind die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich von Vertrauen und Partnerschaft geprägt. Deutschland braucht die USA bei der Bewältigung vieler globaler Probleme. Die USA brauchen ein verlässliches und berechenbares Deutschland, eingebettet in die Europäische Union, als Stabilitätsanker in Europa.
Von Stefan Maas und Marcus Pindur
Trotz regelmäßiger Unstimmigkeiten ist das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA so stabil wie kaum ein anderes. Das Zerwürfnis über den Irak-Krieg ist überwunden und Angela Merkel und Barack Obama begegnen sich mit viel Respekt.
"2013-06-17T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:22:39.809000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-transatlantische-verhaeltnis-100.html
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Selbstbekenntnisse eines Linken und Wertkonservativen
Der frühere Bundesminister Erhard Eppler (SPD). (picture alliance / dpa / Daniel Naupold) "Ich selber war nie so ganz sicher: Bin ich ein Linker oder bin ich ein Wertkonservativer. Wahrscheinlich beides." Erhard Eppler auf der Präsentation seiner Erinnerungen im Berliner Willy-Brandt-Haus. Hinter solch kritisch anmutender Selbstprüfung verbirgt sich in Wahrheit der Anspruch, zwei ursprünglich einander fremde Richtungen in personam zusammengeführt zu haben. Die Rückschau des langgedienten Bundes- und Landespolitikers wimmelt von solchen grenzgängerischen Selbstbefragungen: "War ich wirklich ein eitler Intellektueller, der immer Recht haben wollte. Nein, ich war nie ein Intellektueller. Nichts zog mich in ihre Kreise. Der astreine Intellektuelle scheut langfristige Bindungen. Deshalb ist in solchen Kreisen die Mitgliedschaft in einer Partei nicht üblich, ja sogar verpönt." Nicht beim jungen Eppler, dem Sohn eines Gymnasialdirektors aus Schwäbisch Hall, der sich in seiner Empörung über Adenauers eigenwillige Politik der Wiederbewaffnung und Westintegration an die Seite des vormaligen CDU-Abtrünnigen Gustav Heinemann und dessen Gesamtdeutscher Volkspartei gesellte. Allerdings wurde der Bundestagskandidat 1953 mit kläglichem Resultat nach Hause geschickt. Eppler wurde Studienrat in Schwenningen, ehe ihn die SPD-Nachkriegsgröße Fritz Erler nach dem umkämpften NATO-Beitritt der Bundesrepublik vor die Entscheidung stellte: "Wenn Sie auf Ihrem Grabstein die Inschrift haben wollen: Er hat immer Recht gehabt, bleiben Sie, wo Sie sind. Wenn Sie Politik machen wollen, kommen Sie zu uns." 1968 beerbte er Hans Jürgen Wischnewski als Entwicklungshilfeminister in der ersten Großen Koalition. Der Grundsatzstreit wurde unausweichlich: Denn während Eppler als Minister auf Dienstreisen die katastrophale Dürre in der Sahelzone miterlebte, versuchten seine Parteifreunde daheim auf keynesianische Art mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen der ersten Ölpreiskrise beizukommen. Kanzler Schmidt ließ den Haushalt des BMZ gründlich zusammenstreichen, woraufhin Eppler seinen Rücktritt einreichte. Es war der 4. Juli 1974. Das Datum nagt noch heute an ihm. "Nein, in diese Regierung passte ich nicht. Vor Journalisten erklärte ein sichtlich erleichterter Kanzler: Jetzt habe ich ihn rausgeworfen. Das machte aus einer politischen Differenz eine menschliche Verletzung." Mit seinem sozialökologischen Weckruf "Ende oder Wende" trat Eppler sodann einen noch lange währenden Flügelstreit los. Die innerparteilichen Gegner in Bonn und Stuttgart hielten dem zweimal gescheiterten SPD-Spitzenkandidaten vor, mit seinen Themen die Grünen erst salonfähig gemacht zu haben. "Als ich dann Vorsitzender der Grundwertekommission war, da gab es so etwas wie zwei Parteien unter dem Schild SPD: Es gab eine stark ökonomisch-gewerkschaftlich-wachstumspolitisch orientierte Partei, für die sicherlich Helmut Schmidt die bedeutendste Figur war. Und dann gab es eben doch gerade unter den Mitgliedern, die in den frühen 70er-Jahren hinzugekommen waren, die Willy Brandt helfen wollten in der Ostpolitik, gab es eine fast ebenso große Gruppe von eher friedenspolitisch und zum Teil ökologisch motivierten Menschen." Im Streit um den NATO-Nachrüstung Anfang der 1980er-Jahre eskalierte der Konflikt zwischen Kanzler Schmidt, der die Raketenstationierung angemahnt hatte, und seinem schärfsten Widersacher, der als sozialdemokratischer Protagonist der Friedensbewegung in Erscheinung trat: "Ich bin wahrscheinlich als einer bekannt, der polarisiert hat, etwa in der Raketenfrage." Erhard Eppler mag es im Rückblick als sein politisches Verdienst ansehen, der fortschrittsoptimistischen Planierraupe SPD ökologisches Bewusstsein eingebläut zu haben. Der grün-alternativen Bewegung konnte er das Wasser damit aber nicht abgraben. Auch als Spiritus rector des Berliner Parteiprogramms von 1989 war dem Vordenker kein Glück beschieden. Eppler ist tief enttäuscht darüber, dass seine Botschaft nie in der deutschen Öffentlichkeit angekommen sei. Er schimpft aus dem Nähkästchen der Programmkommission. Oskar Lafontaine habe seine Rolle dort nur "egomanisch", "faul" und "destruktiv" wahrgenommen. "Dass Oskar Lafontaine jämmerlich gescheitert war, erfuhren nur Insider. Profilieren konnte man sich allenfalls, wenn man das Programm kritisierte, nicht wenn man es zitierte. Das Berliner Programm wurde von oben abgeblockt, in der Baracke erstickt." Die Aktualität des Buches liegt darin, dass es einen tiefen Einblick in das Innenleben einer bis heute gespaltenen Partei liefert. Dabei hebt sich Erhard Epplers Lebensbericht als Lesestoff wohltuend von der trockenen Referentenprosa üblicher Politikererinnerungen ab. Dennoch kann der Autor, gerade auch mit seinem alarmistischen Vermächtnis am Ende, den Eindruck einer eitlen Rechthaberschrift nie ganz verbergen. "Der 88-Jährige wagt die Behauptung, wenn mein Gedächtnis noch einigermaßen intakt ist: Ich habe nie gelogen, nie etwas behauptet, von dem ich bereits wusste, dass es nicht stimmte." Einspruch! Das folgende Bekenntnis wird man nach der Lektüre seiner Erinnerungen zumindest als nicht ganz der Wahrheit entsprechend werten müssen. "Dieses Buch ist kein Buch der Abrechnung, sondern es ist aus einem Gefühl der Dankbarkeit entstanden. Das ist ja auch was, wenn man so alt ist." Buchinfos:Erhard Eppler: "Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen", Propyläen Verlag
Von Norbert Seitz
In seinem Buch "Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen" bietet der SPD-Politiker Erhard Eppler tiefe Einblicke in eine bis heute gespaltene Partei.
"2016-02-22T19:15:00+01:00"
"2020-01-29T18:15:10.328000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-politiker-erhard-eppler-selbstbekenntnisse-eines-linken-100.html
91,569
Initialzündung für die Novemberrevolution
Der Aufstand der Matrosen in Kiel löste die Novemberrevolution im Deutschen Reich aus und führte zur Ausrufung der Republik (picture alliance/dpa/) Weitere Themen: Wird die Welt kriegerischer? Der Wandel von Krieg und politischer Gewalt Zwischen Nervenkitzel und Panikattacke Wie Angst unsere Gedanken und Entscheidungen beeinflusst Wissenschaftskommunikation Warum es wichtig ist, Rationalität in öffentliche Debatten zu bringen Interview mit Prof. Antje Boetius, Direktorin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven Am Mikrofon: Barbara Weber
Von Matthias Hennies
Vor hundert Jahren mündete eine Meuterei der kaiserlichen Marine in die deutsche Revolution von 1918. So blutig und deprimierend die Ereignisse 1918-19 im Einzelnen abliefen, sie bilden doch einen Grundbaustein für das heutige demokratische Deutschland.
"2018-10-18T20:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:15:43.748000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-aufstand-der-matrosen-1918-initialzuendung-fuer-die-100.html
91,570
Mehr Forschung und Versorgung für ME/CFS-Erkrankte gefordert
Trauerzug und Liegend-Demonstration für ME/CFS-Kranke in Berlin. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen) Die mehrere Dutzend Teilnehmer zogen vom Alexanderplatz vor das Rote Rathaus, wo sie sich hinlegten und Plakate mit Forderungen und Angaben zu Betroffenen hochhielten. Sie forderten Forschung, Versorgung und Anerkennung. ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Zu den Symptomen zählen unter anderem schwere Erschöpfung, Konzentrations- und Schlafstörungen und ein Verlauf über mindestens sechs Monate. Eine Verschlimmerung von Beschwerden nach körperlicher und geistiger Anstrengung gilt als charakteristisch. ME/CFS ist bislang nicht heilbar. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS schreibt auf ihrer Homepage, dass ein "bedeutsamer Teil von Long-COVID-Patienten" von den typischen Symptomen einer ME/CFS Erkrankung berichtet. Zudem wiesen mehrere Studien darauf hin, dass nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer rund die Hälfte der Long-Covid-Betroffenen auch die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllten. Diese Nachricht wurde am 09.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
In Berlin haben Demonstranten auf das Leid von Menschen mit der chronischen Erkrankung ME/CFS aufmerksam gemacht. Da viele Betroffene krankheitsbedingt selbst nicht demonstrieren konnten, waren stellvertretend auch Freunde und Familie zur Teilnahme aufgerufen worden, sagte die Initiatorin der Demo, Buggenhagen. ME/CFS wird häufig mit einer Long-Covid-Erkrankung in Verbindung gebracht.
"2023-08-09T22:20:15+02:00"
"2023-08-08T21:24:34.098000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-forschung-und-versorgung-fuer-me-cfs-erkrankte-gefordert-106.html
91,571
Russisch-polnischer Geschichtsstreit
Ein Aspekt des Streits zwischen Putin und Duda: die Deutung des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 (picture-alliance / dpa) An den Gedenkfeierlichkeiten in Jerusalem werden 47 Staats- und Regierungschefs teilnehmen. Einer, der eigentlich auch eingeladen war, fehlt: Andrzej Duda, der Präsident Polens. Duda hatte mehr als die bloße Teilnahme gefordert, nämlich das Rederecht beim "World Holocaust Forum" am Donnerstag in Jerusalem. Aber die Veranstalter billigten es ihm nicht zu. Polnischer Präsident: "Verzerrung der historischen Wirklichkeit" Reden dürfen die Staatsoberhäupter der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sowie Israels und Deutschlands - nicht aber Andrzej Duda. Der begründete seine Absage Anfang Januar so: "Ich kann an den Erinnerungsfeierlichkeiten in Jerusalem nicht teilnehmen, weil ich die polnische Position nicht vortragen kann. Der polnische Präsident darf nicht sprechen, obwohl es polnische Bürger waren, die während des Holocaust am meisten gelitten haben. Ich habe klargestellt: Das ist eine Verzerrung der historischen Wirklichkeit. Wie kann es sein, dass die Präsidenten Russlands, Deutschlands und Frankreichs, deren Regierungen Menschen, nämlich Juden, in Konzentrationslager deportiert haben, sprechen dürfen, und der Präsident Polens, eines Staates, der nie mit Deutschland kollaboriert hat, darf nicht?" Polens Präsident Andrzej Duda (dpa-Bildfunk / AP / Alik Keplicz) Hintergrund der Absage Dudas ist ein Geschichtsstreit zwischen den Regierungen Russlands und Polens. Der russische Präsident Putin hatte Polen mehrfach rhetorisch angegriffen. Er wehrt sich gegen die Geschichtsdeutung, die Sowjetunion habe durch den Nichtangriffspakt mit Deutschland den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit vorbereitet. Ende Dezember hatte Putin erklärt: "Das Europäische Parlament hat eine Resolution verabschiedet, die Hitler-Deutschland und die Sowjetunion faktisch auf eine Ebene stellt und suggeriert oder direkt sagt, dass die Sowjetunion für den Beginn des Zweiten Weltkriegs verantwortlich ist. Das ist reiner Unsinn." Putins harte Worte Putin wurde noch polemischer. So bezeichnete er den polnischen Botschafter im Berlin der 1930er-Jahre mit diesen Worten: "Er ist Abschaum, ein antisemitisches Schwein. Dafür gibt es keine anderen Worte." Der Botschafter habe Hitlers Plan, die Juden aus Europa zu deportieren, offen gepriesen. In Polen behaupten Kritiker Putins, Staatspräsident Duda habe deshalb kein Rederecht beim "World Holocaust Forum" in Jerusalem erhalten, weil der russische Präsident Drahtzieher der Veranstaltung in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sei. Tatsächlich ist Mosche Kantor Organisator des Forums, ein russischer Unternehmer, der zugleich Kanzler des Beirats von Yad Vashem ist. Es ist kaum zu erwarten, dass sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu den polnisch-russischen Querelen äußern wird. Vor Beginn des Gedenkens am Donnerstag in Jerusalem trifft Steinmeier heute Israels Staatspräsidenten Reuven Rivlin. Zudem will der Bundespräsident das Jerusalemer Zentrum von "Amcha" besuchen. Die Organisation bietet psychosoziale Hilfe für Überlebende der Shoah und ihre Nachkommen an.
Von Sebastian Engelbrecht
Russlands Präsident Wladimir Putin ist einer der Redner auf der Gedenkveranstaltung am 23. Januar in Israel, kurz vor dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen. Im Vorfeld gibt es Streit mit Polen über die Rolle beider Staaten zur Nazi-Zeit.
"2020-01-22T05:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:48:27.289000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/holocaust-gedenken-russisch-polnischer-geschichtsstreit-100.html
91,572
"Erdogan spielt mit der Unkenntnis im kollektiven Gedächtnis"
Der Journalist und Dokumentarfilmer Osman Okkan (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm) Karin Fischer: Jeden Tag gibt es neue Nachrichten aus der Türkei von den Wahlkampfreden des türkischen Präsidenten. Viele davon enthalten das Wort "Faschismus". Der Geist des Faschismus wüte auf den Straßen Europas, gibt Recep Tayyip Erdogan zu Protokoll und hat gestern erst den Niederlanden vorgeworfen, mehr als 8.000 bosnische Muslime massakriert zu haben. Die Rede ging dann noch weiter: "Die Juden wurden in der Vergangenheit genauso behandelt." Wie hanebüchen solche Vergleiche sind, erschließt sich dem gebildeten Europäer sofort, der vermutlich weiß, dass Holland von den Nazis überrollt wurde. Doch auch Deutschland und andere Länder Europas mussten sich den Vorwurf der "Nazi-Methoden" schon anhören. Frage an den Filmemacher und Publizisten Osman Okkan: Haben Sie eine Erklärung für Erdogans militantes und ständig wiederholtes Gerede vom Faschismus in Europa? Osman Okkan: Eigentlich schon, denn Erdogan spielt auch in diesem Falle mit der Unkenntnis im kollektiven Gedächtnis der türkischen Gesellschaft von diesen historischen Begriffen. Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn er in Richtung Europa immer wieder auch in Zukunft den Faschismus-Vorwurf hervorbringt und in Richtung Russland immer noch operieren kann mit dem Kommunismus-Vorwurf, weil das zwei stigmatisierende Begriffe sind, die nicht näher erläutert werden, auch in den Geschichtsbüchern nicht. In der türkischen Geschichte hat es ja nie solche Phasen gegeben, wo das Osmanische Reich oder in der Türkei Ansätze von Faschismus geherrscht haben. Es gab durchaus Sympathien auch mit dem Hitler-Deutschland, auch mit den Faschisten in Italien, aber über diese Kapitel spricht man und schreibt man in der türkischen Geschichtsschreibung nicht, und Erdogan nutzt wie immer geschickt demagogisch diese Begriffe, um die Reihen hinter sich zu schließen. Die Reihen, die bestehen aus Ultranationalisten, aus islamisch gefärbten Bevölkerungsteilen und allen, die gegen Europa eingestellt sind. Deshalb würde mich das nicht wundern, wenn er auch in Zukunft von diesen Begriffen Gebrauch macht, ohne dass er im Geringsten eine Ahnung hat, selber von den historischen Entwicklungen. "Er wird auch in Zukunft diese Fehler immer wieder bewusst machen" Fischer: Unkenntnis im Volk ist das eine; Wahlkampf ist bestimmt das andere. Aber man fragt sich ja schon, was historische Lügen dort zu suchen haben. Okkan: Ich denke, darauf achtet Erdogan zurzeit überhaupt nicht. Ich denke, er wird auch in Zukunft diese Fehler immer wieder bewusst machen, um an möglichst viele Stimmen für seine Verfassungsänderung zu kommen, die für ihn von existenzieller Bedeutung ist. Wenn er diese Volksabstimmung verliert, oder sein Stimmenanteil einen signifikanten Abstieg signalisiert, dann war das alles umsonst, wofür er sich in den letzten Monaten seit dem Putschversuch und seit den letzten Wahlen eingesetzt hat: Der brutale Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung, der Kriegseinsatz in Syrien. Damit das alles nicht umsonst war für ihn und sich in Ja-Stimmen umwandelt, wird er sicherlich weiterhin demagogisch und bewusst populistisch versuchen, die Massen zu beeinflussen. Fischer: Sie haben, Osman Okkan, ja auch historische Filme über die Türkei gedreht und am Anfang schon angedeutet, dass man eigentlich über den Faschismus oder Nationalsozialismus in der Türkei nicht viel liest und nicht viel lernt. Was verbindet man aber damit? Welche Rolle spielen der Zweite Weltkrieg oder der Holocaust in der Türkei vielleicht im kulturellen Gedächtnis? Okkan: Ich denke, bei denjenigen, die sich mit der Materie beschäftigen, mit der Geschichte beschäftigen, sind sie auch richtig angekommen. Nur bei der breiten Masse ist es natürlich eher gleichgesetzt mit jeglicher Autorität. Man unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Varianten und politischen Theorien zum Faschismus, sondern das ist Nazi-Deutschland, das ist Mussolini-Italien, das ist Franco-Spanien. Es ist Faschismus, was in der Zeit passiert ist, und wenn in Europa etwas nicht so läuft, wie es dem Herrschenden in der Türkei passt, ist man schnell mit dem Faschismus-Vorwurf zur Hand. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Osman Okkan im Gespräch mit Karin Fischer
Der deutsch-türkische Filmemacher Osman Okkan erwartet, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder den Faschismus-Vorwurf gegen Europa erheben wird - "ohne dass er im Geringstem eine Ahnung hat von den historischen Entwicklungen". Erdogan nutze solche Begriffe, um die Reihen hinter sich zu schließen, sagte Okkan im DLF.
"2017-03-16T17:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:18.476000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/faschismus-vorwuerfe-erdogan-spielt-mit-der-unkenntnis-im-100.html
91,573
"Wir wollen uns dem Thema Inklusion zuwenden"
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. (picture alliance / dpa - Fredrik Von Erichsen) Mit dem Verlauf der Deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften zeigte sich DLV-Präsident Clemens Prokop in der Sendung "Sport am Sonntag" im Großen und Ganzen zufrieden. Daran, dass die Hallen-Leichtathletik "nicht den Stellenwert hat, den wir uns wünschen würden", habe man sich gewöhnt. Reformen in Aussicht Clemens Prokop will Leichtathletik durch Reformen dennoch attraktiver machen. So habe man unter anderem einen Antrag dahingehend gestellt, dass gemeinsamer Sport von behinderten und nicht-behinderten Sportlern international einheitlich geregelt werden solle. Das vollständige Gespräch können Sie bis zum 22. August nachhören.
Clemens Prokop im Gespräch mit Philipp May
Die Aufmerksamkeit für die Deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften an diesem Wochenende hätte größer sein können, findet DLV-Präsident Clemens Prokop. Mit Reformen wolle er den Sport attraktiver machen - unter anderem mit mehr gemeinsamem Sport von Behinderten und Nicht-Behinderten, sagte Prokop im DLF.
"2015-02-22T19:43:00+01:00"
"2020-01-30T12:23:12.610000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leichtathletik-wir-wollen-uns-dem-thema-inklusion-zuwenden-100.html
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Milliarden für die Zukunft
Die Neubaustrecke Erfurt-Leipzig soll nicht die letzte bleiben. (picture alliance / dpa / Jan Woitas) Das Ziel ist ein leistungsstarker und zukunftssicherer Bahnverkehr. Bis 2019 wollen die Deutsche Bahn und der Bund dafür rund 28 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Es ist das bislang größte Infrastruktur-Modernisierungsprogramm in der Geschichte des Unternehmens. So sollen beispielsweise rund 17.000 Kilometer Schienen, knapp 9.000 Weichen und 875 Brücken modernisiert werden. Von den 28 Milliarden Euro kommen 16 Milliarden vom Bund, sagt Roland Busch vom DB-Vorstand Produktion: "Wir haben im heutigen Bestandsnetz einen Investitionsrückstau von rund 30 Milliarden Euro. Mit dem nun verwendeten Geld von durchschnittlich 3,5 bis 4,5 Milliarden Euro jährlich schaffen wir es, den Anstieg des Rückstaus abzumildern. Unser Anspruch liegt darin, diese Mehrmittel so in das Gleis zu bekommen, dass die Infrastruktur modernisiert wird und die Kunden möglichst wenig beeinträchtigt werden." Die Bahn sagt, dass es in Spitzenzeiten rund 850 Baustellen gleichzeitig geben wird, weshalb viele Maßnahmen gebündelt werden, um Anzahl und Dauer baubedingter Sperrungen zu reduzieren. Im Detail allerdings müssen die Kunden mit erheblichen Einschränkungen rechnen. Zum Beispiel die Neubaustrecke von Erfurt nach Nürnberg, ein Teil des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit: Hier wird bis September bei Saalfeld voll gesperrt werden müssen. Eine unumgängliche Maßnahme, so Thomas Schaffer, im Vorstand zuständig für Vertrieb und Fahrplan. "34 Wochen Totalsperrung - die Alternative allerdings wäre eine Bauzeit von acht Jahren gewesen, eine permanente Belastung. Wir haben mit den Transporteuren, den Verkehrsunternehmen und auch der Politik gesprochen. Am Ende wurde gesagt - 34 Wochen ist da die bessere Maßnahme, als eine Dauerbelastung von acht Jahren" Falsche Sparpolitik in der Vergangenheit Gerade solche Beeinträchtigungen sorgen jedoch für Kritik beim Fahrgastverband Pro Bahn. Aus heutiger Sicht sei die Vollsperrung der Teilstrecke vielleicht noch verständlich, doch macht Karl Peter Naumann darauf aufmerksam, dass die Pläne für die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit aus den 90er-Jahren stammten, man hätte damit längst beginnen können. Für den Experten des Fahrgastverbandes ein Beispiel für leider immer wieder aufgeschobene Infrastrukturprojekte, für eine falsche Sparpolitik in der Vergangenheit, als die Deutsche Bahn noch das Ziel hatte, ein börsennotiertes Unternehmen zu werden. Naumann sieht generell einen deutlich höheren Modernisierungsbedarf bei der Bahn: "Wir könnten gut und gerne noch mal die gleiche Summe gebrauchen, um das Netz wirklich zu modernisieren. Um regionale Strecken schneller zu machen, um auch zusätzliche Verbindungskurven oder Ausweichgleise ergänzend zu schaffen. Das gehört ja auch dazu. Die Strukturen haben sich ja in den vergangenen 150 Jahren verändert - das Schienennetz ist ja im Wesentlichen 150 Jahre alt." Es habe in den vergangenen Jahren einen durch Unterfinanzierung aufgelaufenen Sanierungsbedarf gegeben, räumt DB-Vorstand Roland Busch ein. Und den Bahnkunden verspricht er, dass die Informationen über Beeinträchtigungen Schritt für Schritt besser werden sollen. Noch im Laufe des Frühjahrs soll eine neue Version einer App für Smartphones und Tablets nicht nur Ausfälle, sondern auch mögliche Ersatzstrecken für die Kunden anzeigen.
Von Dieter Nürnberger
Die Deutsche Bahn startet mit starker finanzieller Unterstützung des Bundes ihr größtes Modernisierungsprogramm ihrer Geschichte. Rund 28 Milliarden Euro sollen in den nächsten drei Jahren in neue Schienen, Weichen und Brücken investiert werden. Kritikern reicht das nicht, denn die Schatten der Sparpolitik vergangener Jahre lasten auf der Bahn.
"2016-02-01T13:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:33.624000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bahn-modernisierung-milliarden-fuer-die-zukunft-100.html
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Putins Milliardäre im europäischen Fußball
Roman Abramowitsch (M), der Ex-Besitzer vom FC Chelsea, sitzt auf der Tribüne. (dpa / picture alliance / Arne Dedert) Am 24. Februar hebt eine Boeing Dreamliner aus der französischen Hafenstadt Nizza ab. An Bord: Roman Abramowitsch. Der russische Oligarch befürchtet zu dem Zeitpunkt, dass die Behörden seine Assets, also etwa seinen Privatflieger, beschlagnahmen wollen. Im Zuge des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine werden überall in Europa nach und nach die Reichsten der Reichen aus dem Land des Aggressors unter Druck gesetzt. Abramowitsch taucht in Berichten besonders häufig auf, denn der 55-Jährige ist der Posterboy der Oligarchie. In der frühen postsowjetischen Zeit zu Reichtum gekommen, ist er einer der ersten Milliardäre, der gezielt gen Westen ausschwärmt: Cote d‘Azur, Colorado, London. Abramowitsch kauft nicht nur Jachten, Flugzeuge und Villen, sondern 2003 auch den Fußballklub Chelsea, mit dem er zweimal die Champions League gewinnt. Mittlerweile strebt er notgedrungen einen Verkauf an. Abramowitsch, Usmanow, Demin und Co. Doch Abramowitsch ist nicht der einzige russische Fußballinvestor in Westeuropa. Da wäre etwa Alischer Usmanow, ein Geldgeber des englischen Erstligisten Everton. "Usmanow hat sich öffentlich noch stärker als Abramowitsch mit Putin verbündet. Abramowitsch hat sich immer sehr zurückgehalten, keine Interviews, nur sehr wenige öffentliche Statements. Und er hat über die Jahre hinweg eine Verbindung zu Putin bestritten. Währenddessen geht Usmanow viel offener mit seiner Unterstützung von Putin und dessen Unternehmungen um", sagt Jonathan Northcroft, Journalist der britischen Zeitung "Sunday Times". Der russische Milliardär Alischer Usmanow (picture alliance / Alexander Vilf) Der Milliardär hält offiziell keine Anteile an Everton, hat aber über seine Holdingfirma USM die Namensrechte für das Trainingsgelände gekauft und sollte auch am Bau eines neuen Stadions mitwirken. Mittlerweile hat Everton alle Sponsorenverträge mit USM sowie anderen Usmanow-Unternehmen auf Eis gelegt. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Wenn die Oligarchen-Frau die Pausenansprache macht Der Dritte im Bunde in England ist Maxim Demin, der Eigentümer des Zweitligisten AFC Bournemouth. Seine Verbindungen in die Politik seiner Heimat bleiben nebulös. In Bournemouth, einer Küstenstadt im Süden, die viele reiche Russen anzieht, ist Demin jedoch präsent - ebenso wie seine Frau Irena schon mal während der Halbzeitpause in der Kabine der Mannschaft auftaucht, um eine Ansprache zu halten. Vergleichbar mit Demin ist Dmitri Rybolowlew, der Besitzer der AS Monaco und von Cercle Brügge. Mit dem Beginn seines Engagements im Fürstenstaat, der ein beliebtes Domizil unter Oligarchen ist, werden immer wieder Vergleiche zu Abramowitsch gezogen. Northcroft sagt: "Er wirkte wie so eine Art jüngere, aufregendere, mediterrane Version von Abramovich.“ Aber Rybolowlew wird nicht zum engsten Kreis des Kremls gezählt. Ähnlich verhält es sich auch mit Valery Oyf, dem Besitzer des niederländischen Erstligisten Vitesse Arnheim. Anders ist das bei Iwan Sawwidis, dem der griechische Club PAOK gehört und der seit vielen Jahren eine enge Verbindung zu Putin hält. Chelsea schuldet Abramowitsch zwei Milliarden Pfund Aus Sicht der Klubs und ihrer Anhänger herrscht aktuell große Unsicherheit. Denn die Klubs könnten als Assets der Eigentümer gewertet und damit im Falle von weiteren Sanktionen eingefroren werden. Man dürfte als Besitzer kein Geld mehr mit ihnen verdienen, also auch keinen Weiterverkauf tätigen. Daran glaubt Christoph Breuer, Ökonom der Deutschen Sporthochschule Köln, aber nicht: "In Bezug auf das Sportbusiness sehe ich es nicht so, dass es dort umgesetzt wird. Die Ligen oder die Klubs selbst wollen versuchen, die russischen Investoren rauszuhaben. Ich denke, Abramowitsch selbst hat jetzt die Intention, möglichst ungeschoren davonzukommen im Hinblick auf sein Image in der Londoner Stadtgesellschaft, sodass er sozusagen freiwillig den Verkauf seiner Anteile forciert. Eigentlich dürfte das nicht möglich sein, wenn man da konsequent Asset-Freezing anwenden würde.“ Interesse an Chelsea bekundet unter anderem ein Konsortium um den Schweizer Milliardär Hansjörg Wyss sowie den US-Investor Todd Boehly. Aber sie sind mit Abramowitsch Forderungen nicht einverstanden. Denn Chelsea schulde laut Wyss dem Russen zwei Milliarden Britische Pfund. Der Klub verfüge aber über keine Mittel. Sprich: Ein neuer Eigentümer müsste Abramowitsch eigentlich mit dieser Summe entschädigen. Der Sport wird aus den Oligarchen einen Lerneffekt ziehen Wo auch immer die Klubs landen, es wird Konsequenzen geben im europäischen Fußball, sagt Christoph Breuer: „Es ist in jedem Fall davon auszugehen, dass im Sportbusiness auch Lerneffekte stattfinden. Wir haben immer Lerneffekte im Sportbusiness gehabt. Beispielsweise wurden Sponsoringverträge angepasst, nachdem es zunehmend Dopingfälle gab. Und ähnlich ist für Investorenlösungen im Sportbusiness zu antizipieren, dass zukünftig stärker auf Aspekte wie Menschenrechte oder Einklang mit westlichen Wertevorstellungen geachtet wird." Keine guten Aussichten für die russischen Oligarchen, die sich - wie im Fall von Abramowitsch - schon zwei Jahrzehnte im europäischen Fußball tummeln. Ihre Zeit scheint abzulaufen.
Von Constantin Eckner
Abramowitsch, Usmanow und Rybolowlew: Im Zuge des Kriegs in der Ukraine geraten die russischen Oligarchen ins Visier westeuropäischer Regierungen, darunter auch jene sechs, die in den vergangenen Jahrzehnten in den europäischen Klub-Fußball investiert haben. Wer sind sie?
"2022-03-05T19:10:00+01:00"
"2022-03-05T20:19:33.012000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oligarchen-russland-putin-sport-100.html
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„Die Anreise ist die Krux“
Weniger Zuschauer, mit Abstand und Maske - sieht so auch die Belegung bei der Fußball-EM im Sommer aus? (www.imago-images.de) Scheuch betonte: "Zuschauer im Stadion werden sich nicht in Massen anstecken. Das große Problem bei diesen Veranstaltungen ist die An- und Abreise beziehungsweise der Aufenthalt in Innenräumen im Stadion." Auf die Kontrolle dieser Orte müsste das Augenmerk gelegt werden. Die Platzbelegung in den Stadien selbst hält er "für sehr unkritisch". Im vergangenen Sommer sei kein Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit geöffneten Stadien festgestellt worden. Auch Schreien und Jubel sind dem Physiker zufolge weitgehend unproblematisch, wenn alle Zuschauerinnen und Zuschauer Maske trügen und nur Haushalte zusammensäßen. In der Zeit des Jubels, die beispielsweise eine halbe Minute dauerte, würden nicht so viele Aerosole ausgestoßen, dass eine Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus bestünde. Für die Anreise müssten Konzepte entwickelt werden Die Anreise sei die Krux. Bei der Europameisterschaft seien vermutlich nicht alle Zuschauerinnen und Zuschauer aus München, sondern auch von weiter her. Studien aus Schweden zeigten, dass die Berufsgruppe mit den meisten Covid-19-Infektionen Fahrlehrer seien. Daran sehe man, dass in einem geschlossenen Fahrzeug die Ansteckung signifikant sei. Man müsste "vernünftige Konzepte entwickeln, wie man die Leute an das Stadion heranbringt". Ähnliches gelte für den Fall, dass sich Menschen kurze Zeit in den Armen lägen. Tests hält Scheuch für eine gute Strategie, da so Super-Spreader, oder Super-Emitter, die viele infektiöse Teilchen ausatmen, herausgepickt werden könnten. Der Physiker betonte, dass nur ein sehr geringer Teil der Infektionen draußen stattfinde. Er betonte: "Wir haben ein Innenraumproblem. Wir müssen den Leuten klarmachen, draußen ist es nicht so gefährlich. Wir müssen uns um die Innenräume kümmern. Und wenn man das klar kommuniziert, dann kann man auch mehr als nur ein Fußballstadion öffnen."
Gerhard Scheuch im Gespräch mit Marina Schweizer
Der Aerosolexperte Gerhard Scheuch ist überzeugt, dass mit Blick auf die Fußball-EM Zuschauer mit Masken im Stadion keine große Corona-Infektionsquelle darstellen. Scheuch sagte im Dlf, auch kurzzeitiger Jubel stelle keine Gefahr dar. Das große Problem seien die An- und Abreise sowie der Aufenthalt in den Innenräumen der Stadien.
"2021-04-11T19:20:00+02:00"
"2021-04-12T13:08:21.140000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-em-vor-zuschauern-die-anreise-ist-die-krux-100.html
91,577
Warum das Abendland beim Untergehen nicht untergeht
Musiker Christian Muthspiel, Germanist Johannes Ullmaier (v.l.) (imago / Rudolf Gigler) So wie in 100 Jahren wahrscheinlich immer noch. Wäre es nicht langsam an der Zeit, den Untergang des Abendlandes, anstatt ihn ewig weiter zu beschwören oder pauschal zu leugnen, als eine Art Perpetuum mobile zu begreifen? Als Diskursmaschine, die sowohl das Abendland wie auch dessen Untergang am Leben hält und nachhaltig bewirtschaftet. Indem sie das je Aktuelle möglichst schlecht und das Vergangene möglichst gut erscheinen lässt, entwertet sie die Gegenwart. Und trägt - oft gegen den Willen ihrer Betreiber - eben dadurch zur Verbesserung der Zukunft bei. Der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier ist Akademischer Rat am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Das Manuskript in voller länge: "Die Jugend von heute ist so hohl wie nie." "Unsere Politiker sind nur noch korrupt." "Armes Deutschland!" "Richtige Tomaten findest du heute gar nicht mehr." "Was sind das für Studenten, die nicht wissen, wann der Erste Weltkrieg war?" "Wir zerstören unseren Planeten!" "Jemand wie Goethe wäre heute absolut undenkbar." "Die Beatles genauso wenig." "Hurra, wir kapitulieren!" "Hilfe, wir sterben aus!" Kurzum: Früher war alles besser! Wohl in jeder menschlichen Kultur wird diese Diagnose unvermeidlich auftauchen, sobald es dort einmal einen Begriff von "früher" (versus "später") und von "besser" (versus "schlechter") gibt. Und die Popularität, die dieser Ausspruch in den unterschiedlichsten Versionen seit Jahrtausenden genießt, ist so gewaltig und robust, dass man meinen könnte, die Wörter "früher" und "besser" seien überhaupt nur dazu erfunden worden, damit die Menschen endlich kundtun können, um wie viel schöner, wahrer, klarer, mindestens erträglicher einst alles gewesen sei. Und wie verkommen, leer, zerfahren, wo nicht unerträglich es jetzt ist. Im Prinzip markiert diese Option, also ein gutes Gestern gegen ein schlechtes Heute ausspielen (oder es sein lassen) zu können, erst einmal eine Erweiterung des kulturellen Handlungsspielraums. Um nicht zu sagen: einen Fortschritt. Hatte man solche Wahl in vorgeschichtlichen und vormoralischen Gesellschaften doch keineswegs. Auf der anderen Seite wird der "Früher war alles besser"-Topos oft so inflationär, so töricht und so unlauter verwendet, dass man bisweilen ins Grübeln kommt, ob nicht wirklich früher - nämlich als man noch nicht "Früher war alles besser" sagen konnte - eben deshalb alles besser war. Das Paradoxe dieser Konstellation erschöpft sich nicht in der Selbstaufhebung solcher Aussage, wie bei "Ich lüge" oder "Dies hier ist kein Satz". Vielmehr deutet es zugleich auf weitaus handfestere Ambivalenzen bei der gegenwartsbezogenen Beurteilung historischer Verläufe. Ambivalenzen, die in so heiklen wie weithin ungeklärten Fragen aufscheinen wie: Wo genau verläuft die Grenze zwischen geschichtsbewusster Kulturkritik einerseits und dogmatischem Kulturpessimismus andererseits? Wo die zwischen Analyse, Prophetie, Ermahnung und Genörgel? Oder zwischen Dichtung, Wahrheit und Rhetorik? Worüber spricht man eigentlich jeweils konkret, wenn man einen allgemeinen Abstieg konstatiert? Und als wer? Was möchte man damit erreichen? Und wieso erreicht man bloß so selten das, wovon man meint, dass man es will? "Heute wird bloß noch gemailt…" Solchen Fragen nachzugehen, sollte mehrfach lohnen: Zunächst natürlich in der Hoffnung, Anhaltspunkte für eine Kritik der allgemeinen Rede vom Verfall zu finden - eine Kritik, die den grassierenden Missbrauch, wenn schon nicht verhindern, so doch immerhin als solchen kenntlich machen kann. Gerade dabei aber zeigt sich unvermeidlich auch, wie eng gewollte und ungewollte, gute und ungute Effekte hier oftmals verquickt sind. Und zwar in einem Ausmaß, welches den Verdacht nährt, dass der Sprechakt "Früher war alles besser" mittlerweile eine selbsterhaltende Diskursmaschine ausgebildet hat - eine Art Perpetuum mobile, dem das, womit man es als Sprecher füttert, vor allem dazu dient, sich selbst zu regulieren und zu erhalten. Und sollte dieser Verdacht sich erhärten, wäre es natürlich gut, die Konturen dieser Maschine wenigstens so weit zu erkennen, dass man die Chance hat, halbwegs zielgerichtet mit ihr umzugehen, anstatt sie blindlings zu bedienen. "Was waren das für selige Zeiten, als man sich noch ordentliche Briefe schrieb! Heute wird bloß noch telefoniert." Was waren das für selige Zeiten, als man noch ordentliche Telefongespräche führte! Heute wird bloß noch gemailt." "Was waren das für selige Zeiten, als man noch ordentliche Mails bekam! Heute kriegt man bloß noch WhatsApp-Fetzen." Was waren das für selige Zeiten! Um das Problem etwas konkreter zu machen, liegt es nah, im eigenen Kulturkreis und in der eigenen Gegenwart anzusetzen - also im sogenannten Abendland, wo unser sogenanntes "Wir" sich heimisch glaubt. Das abendländische Paradebeispiel, quasi der regionale Evergreen des "Früher war alles besser"-Topos dürfte hier naturgemäß das Wort vom Untergang eben des Abendlandes sein. Seit Oswald Spengler diesen 1918 erstmals verkündete, ist er zum geflügelten Wort geworden, und es vergeht kein Tag, an dem er nicht vielfach konstatiert, beklagt, beschworen, ironisiert oder geleugnet wird. Wie bei den meisten geflügelten Worten ist jedoch auch hier der ursprüngliche Sinn alsbald im Meer des alltäglichen Gebrauchs versunken - sodass von denen, die den Ausdruck heute im Munde führen, vermutlich nur die wenigsten noch Näheres über Spenglers geschichtsmorphologische Spekulationen zum Keimen, Blühen und Vergehen von Kulturen und Weltreichen zu sagen wüssten. Selbst die Kernfrage, nämlich ob sich Spenglers Prophezeiung, das Abendland werde als Führungsmacht vom "Russentum" beerbt, seither erfüllt hat oder nicht, wirkt heute eher müßig. Und zwar nicht nur, weil sich darauf fast jede beliebige Antwort konstruieren ließe, je nachdem, ob man den Aufstieg oder den Zerfall des Sowjetreichs oder das aktuelle Russland in den Fokus rückt und welche Rolle man dabei jeweils den USA zumisst. Sondern mehr noch, weil von dieser Antwort für den heutigen Diskurs so gut wie nichts mehr abhängt. Denn der Untergang des Abendlands kommt mittlerweile sehr gut ohne seinen Stichwortgeber aus - so wie ein Kind, das früh selbstständig laufen gelernt hat und seitdem ganz allein, ganz ohne väterliche Hilfe läuft... und läuft... und läuft... "Der Kommunismus bedroht die freie Welt" "Das Negergejaule zerstört die Musikkultur." "Ein Schwuler als Minister!" "Und als Kanzler? Eine Frau!" "Asien überholt den Westen." "TTIP und die NSA unterjochen die EU." "Die Flüchtlingswelle überschwemmt Europa." "Der islamistische Terror gefährdet die westliche Wertegemeinschaft." "Der Anti-Terror-Krieg noch mehr." "Das Internet macht uns zu digitalen Zombies." Kurz: Das Abendland geht unter. Spätestens seit Spenglers Zeiten, also schon seit 100 Jahren, wenn nicht gar viel länger, ist das Abendland nunmehr im Untergang begriffen. Und dies mit einer fortwährenden Hochkonjunktur, von der andere Diskurse oder Wirtschaftszweige höchstens träumen können. Sicher, auch der Untergang des Abendlands hat seine Boomzeiten und Durststrecken, seine Zyklen, seine Moden. Strukturell jedoch wirkt er auf eine Weise zeitlos, die auf Dauer Argwohn wecken muss, ob es bei solch immergrünem Herbst denn ganz mit rechten Dingen zugeht. Wie ist es möglich, dass etwas fortwährend untergeht und doch, so wie das Abendland, noch immer da ist? So wie bereits vor 100 Jahren. Und in 100 Jahren höchstwahrscheinlich immer noch. Technisch gibt es dafür allenfalls zwei Erklärungen: Entweder das Abendland ist unerschöpflich. Aber dann kann es sowieso nie untergehen, so wie ein Goldesel nie pleitegeht. Oder der Untergang verläuft so zäh, dass man davon, zumal als Individuum mit begrenzter Lebensspanne, gar nichts mitbekommt. Wozu dann aber das Geschrei? Weder die eine noch die andere Erklärung wirkt besonders überzeugend. Auf den ersten Blick plausibler und entsprechend populärer sind zwei andere, obschon völlig konträre "Lösungen" des Daueruntergangs-Problems: Die erste liegt darin, den Untergang des Abendlandes abzustreiten, während die zweite dessen Weiterexistenz verleugnet. Die Vertreter der ersten Lösung sagen: "Kein Wunder, dass das Abendland noch da ist. Denn es geht ja gar nicht unter, ganz im Gegenteil! Wer richtig hinschaut, sieht doch, dass es in Wahrheit immer weiter aufwärts geht! Alles Untergangsgerede ist bloß Täuschung oder Ideologie. Denn das Bessere liegt nicht hinter, sondern vor uns! In der Zukunft!" Die Vertreter der zweiten Lösung hingegen sagen: "Kein Wunder, dass wir den Untergang als Dauerzustand sehen. Denn das Abendland ist schon längst untergegangen! Und zwar so vollständig und tief, dass die Masse seiner Nachfahren es nicht einmal bemerkt. Was sie vom Abendland noch übrig wähnt, ist pure Illusion. Weil sie vom wahren Abendland und dessen Größe nichts mehr weiß. Einzig wir Feineren spüren noch den Phantomschmerz, der uns als Unaufhörliches bedrückt." Zwischen solch radikalem Optimismus und solch radikalem Pessimismus gibt es, wenngleich nicht so laut, noch eine dritte Strategie, den gordischen Dauerabstiegsknoten gewaltsam zu durchtrennen. Man könnte sie den radikalen Gleichmut nennen. Auch sie leugnet den Untergang, doch anders als der Optimismus bloß passiv, ohne Gegenteilsbehauptung. Ihre "Lösung" lautet: "Die Wahrnehmung historischer Veränderungen, welcher Tendenz und Art auch immer, ist bloß ein Fantasma. Denn im Grunde bleibt sich immer alles gleich. Kein Wunder also, wenn sich das Abendland und dessen Untergang, wie alles andere auch, nur an der Oberfläche wandelt, im Kern jedoch nie." Alle diese Strategien haben durchaus ihr eigenes Recht. Nicht zuletzt als Korrektiv in einzelnen Fort- bzw. Rückschritts-Kontroversen: So muss sich, wer prinzipiell gegen das Auto wettert, vom Optimisten fragen lassen, ob er in jedem Fall, auch auf dem Weg zur Not-OP, das Pferdefuhrwerk vorzöge. Wer dagegen die Errungenschaften der jüngsten Kampfdrohnen-Generation bejubelt, muss sich vom Pessimisten fragen lassen, ob nicht schon das Vorgänger-Modell jeglicher Menschlichkeit entbehrte. Und wo sich zwei darüber in den Haaren liegen, ob das allerneueste Trash-TV-Format nun endgültig den Untergang des Abendlands besiegele oder aber dessen pointierte Übertreibung und damit Kritik darstelle, mag der Hinweis helfen, dass es seit jeher grobianische Kulturbereiche gab und gibt - und dass von deren jeweiliger Ausprägung aufs Ganze in der Regel nicht viel abhängt. Doch so triftig solche Einreden im konkreten Fall oft sind, vor allem wo sie sich zum dreischneidigen Diskurs-Rasiermesser ergänzen, so wenig können sie als allgemeine Gegenthesen doch das Paradox des permanenten Untergangs beseitigen. Denn erstens schließen sie einander gegenseitig aus, so dass man sich auf eine zu beschränken hätte. Und zweitens sind sie, je für sich, nicht weniger widersprüchlich: So müssen die doktrinären Optimisten einerseits - wie in der offiziellen DDR, und bis zum eigenen Untergang - stets alle Krisenzeichen leugnen oder uminterpretieren. Und können andererseits doch nie erklären, warum so viele Menschen ihre Fortschritte entweder gar nicht registrieren oder, wo doch, nicht durchgängig goutieren - bis die Menschheit ihnen schließlich selbst als Fortschrittshindernis erscheint. Die doktrinären Post-Apokalyptiker wiederum haben alle Hände voll zu tun, jede offensichtliche Verbesserung oder Erholung als Schimäre auszuweisen, während sie zugleich nicht (oder nur im Modus religiöser Offenbarung) sagen können, warum sie nach dem endgültigen Untergang des wahren Abendlands noch unentwegt mit dessen Maßstab weitermessen und woher sie diesen eigentlich beziehen. Die doktrinären Fatalisten schließlich haben nicht allein das Kunststück zu bewerkstelligen, jede Veränderung zur Einbildung beziehungsweise Nichtigkeit herabzumindern, also gewissermaßen via Twitter zu erklären, warum sich seit der Steinzeit nichts getan habe. Sondern sie können konsequenterweise nicht einmal begründen, warum sie überhaupt zu irgendetwas Stellung nehmen. Bleibt sich doch letztlich alles gleich. Offenkundig ist das Paradox vom permanenten Untergang des Abendlandes also nicht ohne weiteres von außen aufzulösen. So bleibt allein der Weg, dessen innere Struktur zu analysieren. Was aber sind die einzelnen Bestandteile? Hält man sich einfach an den Wortlaut, sind es, grob vereinfacht, folgende: Der "Untergang", das Abendland", der Sprecher und sein Sprechakt sowie die davon ausgehenden Wirkungen. Alle diese Elemente sind - so unsere Hypothese - im alltäglichen Gebrauch auf ebenso grandiose wie fatale Weise unbestimmt. Und diese Unbestimmtheit ist, vor allem in der Kombination, die Basis für das Funktionieren der paradoxen Untergangsmaschinerie mitsamt allen Befriedigungen, aber auch Gefahren, die sie in sich birgt. Was genau ist das Abendland? Doch der Reihe nach: Was zunächst den Untergang betrifft, so bleibt er in der Regel weitgehend unspezifiziert. Obwohl es durchaus allerhand zu klären gäbe. Etwa schon, ob er bloß relativ oder total sei; kosmisch oder bloß lokal; schleichend oder katastrophisch; temporär oder final; unabwendbar oder zu verhindern; Schicksal oder Zufall; unverschuldet oder wohlverdient; von innen oder von außen kommend; usf. - Doch je geringer die Spezifik, desto kleiner auch die Angriffsfläche. Und desto größer der rhetorische Effekt. Am effektivsten ist es, wenn nicht einmal geklärt wird, inwieweit der jeweilige Untergang bereits vollzogen oder aber erst im Kommen sei, ob die beschriebenen Phänomene also eher Anzeichen oder schon die Sache selber sind. Am besten beides gleichzeitig. Fast noch günstiger steht es in punkto Unbestimmtheit um das zweite Element: das Abendland. Schon geografisch metamorphosierte der Okzident im Laufe der Geschichte fließend zwischen Karolinger-Reich, "Westeuropa", "Mitteleuropa", "Gesamteuropa", der "westlichen Hemisphäre" (bis Australien) oder dem Habsburger-Reich, wo die Sonne zwischenzeitlich nicht mehr unterging. Darüber hinaus kann das Abendland jedoch genausogut eine Kulturtradition, eine Idee, eine Staats-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsform, schlimmstenfalls gar eine "Rasse" meinen - wobei damit jeweils noch keineswegs gesagt ist, welche. Am nächsten kommt man dem realen Begriffsgebrauch wahrscheinlich, wenn man sagt: Das "Abendland" ist - ideell wie geografisch - immer jene Eigen-Sphäre, wo die jeweils Anderen nichts zu suchen und zu melden haben sollen. Dementsprechend kann es sich, je nach Bedarf, mal christlich, mal griechisch-antik, mal nordisch-germanisch oder neuerdings auch christlich-jüdisch definieren. Das Abendland - ja, die taktische Finesse reicht so weit, dass man, wie jüngst, gar massenhaft auf die Straße gehen und gegen diese Gefährdung protestieren kann, ohne vom Abendland ein klareres Profil zu liefern als das Absingen von Weihnachtsliedern. Mit der Kombination von unbestimmtem Untergang und unbestimmtem Abendland erweist sich der gesamte Inhalt unseres Sprechakts als geradezu fantastisch unbestimmt. Und damit universell einsatzbereit. Weshalb die Rede vom Untergang des Abendlands, so wie überhaupt jede allgemeine Rede vom Verfall, wohl bald ans Ende käme, wenn man künftig jeden Sprecher darauf verpflichten würde, stets dazuzusagen, welche Form von Untergang und welches Abendland genau er meine, beziehungsweise was genau denn wann genau und in welcher Hinsicht besser gewesen sein soll. Eine Verpflichtung, deren Implementierung gleichwohl nicht zu befürchten steht. Was den oder die Sprecher angeht, so wäre es natürlich interessant zu wissen, wie die Untergangs-Befinder sich statistisch nach Region, Religion, Bildungsabschluss, Einkommen, Alter und Geschlecht verteilen, zumal über die letzten 100 Jahre. Da hier jedoch die Datenbasis fehlt, gilt es, sich dem Phänomen auf andere Art zu nähern. Am besten wohl über die Frage, inwiefern der Sprecher selber Teil des von ihm konstatierten Untergangs ist oder nicht. Realiter scheint das zunächst ganz klar: Wer vom Sinken der Titanic spricht, ist entweder mit an Bord oder am sicheren Ufer. Und für den Sprechakt macht das durchaus einen Unterschied! Genauso wie es nicht egal ist, ob der Untergang des Abendlands von einem Abendländer oder einem Morgenländer konstatiert wird. Hier beginnen freilich schon die Schwierigkeiten. Denn wer genau ist "Abendländer"? Und wer nicht? Vollends unklar wird es, wenn der Sprechakt, wie sehr häufig, solche Selbstzuschreibung gar nicht mitliefert: Ist der anonyme Online-Kommentator, der irgendwo sein "Armes Deutschland!" deponiert, selbst ein armer Deutscher? Oder eine reiche Inderin? Damit eröffnet sich ein weiterer, für die Diskursmaschine wohl entscheidender Unbestimmtheits-Spielraum, nämlich das unklare Verhältnis des Sprechers sowohl zum Inhalt des Befunds als auch zum Sprechakt selbst. Gehören Oswald Spengler und sein Buch vom "Untergang des Abendlandes" zum Abendland beziehungsweise zu dessen Untergang dazu? Oder steckt nicht gerade in dieser Art von Sprechakt vor allem eine Distanzierungsgeste? Nämlich der bewusste oder unbewusste Wunsch, sich neben, oder besser: über das Verfallsgeschehen zu stellen - es zu transzendieren, indem man es benennt. Schwingt am Ende gar die Hoffnung mit, sich selbst vorm Untergang zu retten, indem man dessen Kronzeuge oder Kassandra wird? Möchte man sich eine Metaposition verschaffen? Oder in ein Zwischenreich vergangener Herrlichkeit entfliehen? Macht es einem vielleicht einfach Spaß, den Untergang zu zelebrieren? Oder will man sich bloß etwas wichtig tun? Eine komplette Typologie der Untergangs-Sprechakte und ihrer Urheber wäre Thema eines eigenen Sonderforschungsbereichs: Von biblischer Apokalyptik und dem Höhenkamm skeptischer Geschichtsphilosophie reicht das intellektuelle Spektrum über den gediegenen Klageton des bürgerlichen Feuilletons und den Katastrophen-Alarmismus der Spektakel-Medien bis hinab zum dämlichsten Gemecker und Getrolle. Moralisch verläuft die Skala von ehrlicher, womöglich verzweifelter Sorge um den Weltenlauf über luxurierende Angstlust bis zur Verfalls-Gewinnlerei und heimtückischer Panikmache. Ja, es zeichnet sich gar eine eigene Lebensalterlehre ab, die dem Untergangsdiskurs vom jugendlichen Verbalradikalismus über die Desillusionierungen der Midlife-Crisis bis zur Gegenwartsverdrossenheit des Alters auf der Spur bleibt. Und sogar über die individuelle Lebenszeit hinaus. Treten doch gleich ganz andere Bedingungen in Kraft, sobald man über Zustände befindet, die vor der eigenen Geburt liegen. Zu untersuchen bliebe darüber hinaus - neben der Soziopsychologie, der Ästhetik, der Politik sowie der Ökonomie der Untergangs-Sprechakte - vor allem ihre ebenso faszinierende wie missbrauchsanfällige Rhetorik. Und zwar nicht allein mit Blick auf deren Wirkungen, sondern im prägnanten Sinne sprechakt-technisch. Korrespondieren einige markante Sprechmodi des Untergangs doch überraschend deutlich mit einschlägigen Kategorien des rhetorischen Redeschmucks: Ein Klimaforscher etwa, der die drohende Katastrophe in den grellsten Farben an die Wand malt, agiert im Wesentlichen hyperbolisch, im Ausdruck übertreibend. Vielleicht aus Eitelkeit, wahrscheinlich aber, um so wenigstens ein Mindestmaß an Wirkung zu erzielen. Der unglücklich verliebte Philosoph dagegen, der ein 1000-Seiten-Buch über den Untergang der Liebe schreibt, geht synekdochisch vor, das heißt er projiziert seine persönliche Betroffenheit aufs allgemeine Weltenschicksal, setzt also, mehr oder weniger bewusst, einen, sprich: seinen Teil als Ganzes. Man mag dies seinem Werk bisweilen auch ansehen, ohne dass es deshalb notwendig weniger wahr sein müsste. Womöglich rührt die überindividuelle Hellsicht gerade aus dem individuellen Schmerz. Die Freude an der Rede vom Untergang Der grimmige Apokalyptiker schließlich, der den atomaren Overkill heraufbeschwört, dabei aber im Stillen hofft, ihn gerade dadurch zu verhindern, verfährt nach der Figur der permissio, dem scheinbaren Anheimstellen dessen, was man eigentlich abzuwenden sucht: "Macht bloß so weiter! Rennt ruhig in euren Untergang!" Ob diese Art von Ironie auch immer funktioniert, ist eine andere Frage. Womit man schließlich bei den Wirkungen und damit bei den fundamentalen, das heißt nicht einfach durch Spezifikation und Entpauschalisierung auszuräumenden Ambivalenzen der Untergangs-Diskursmaschine angekommen ist. Denn dass ein Sprecher mit seinem Untergangs-Sprechakt exakt das erreicht, was er will, dürfte ungefähr so selten sein wie ein Hauptgewinn im Lotto. Das wirft eine doppelte Frage auf: Nämlich erstens, warum es so ist. Und zweitens, warum trotzdem so viele mitspielen. Beide Male liegt die Antwort wieder in der hocheffektiven Unbestimmtheit der Diskursmaschine. Ist sie doch - wieder wie beim Lotto - einerseits kaum zielgerichtet zu bedienen. Und wirft doch andererseits für jeden genug ab, um zum Weiterspielen zu animieren. Mag der Hauptgewinn auch ausbleiben, so winkt doch stets die nächste Chance. Hinzu kommen noch kleinere Gewinne hier und dort, und nicht zuletzt die Lust am Spielen selbst! Auf die Untergangsdiskurs-Maschine übertragen entspräche dies - in punkto Hauptgewinn - zunächst der (in der Regel einzigen) Möglichkeit, überhaupt am Großen teilzuhaben, beim Weltenschicksal mitzureden - wenn auch als Verlust-Anzeiger und fast immer als Verlierer. Außerdem ist nicht zu leugnen, dass es auch hier gelegentlich Gewinne gibt, dass ab und zu echte Erkenntnis anfällt, die bisweilen sogar zu wirklichen Verbesserungen führt. Und schließlich bereitet der Untergangs-Sprechakt vielen Menschen einfach Freude: Freude am Kritisieren, Freude am Ermahnen, Freude am Lamentieren, Schadenfreude oder - nicht zuletzt - die Freude an der Wiederholung. So gesehen ist der permanente Untergang des Abendlands vor allem eine gut geölte Ausgleichsökonomie aus Enttäuschung und Trost, Identifikation und Distanzierung, absolutem Durchblick und totaler Ignoranz. Entsprechend hat er nicht nur keine Nachwuchssorgen, sondern kann zudem extrem flexibel auf realgeschichtliche Entwicklungen reagieren: In offensichtlichen Krisen- und Katastrophen-Phasen, etwa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder des Zweiten Weltkrieges, läuft die Untergangs-Diskursmaschine sowieso von selbst. Geht es dagegen äußerlich bergauf, etwa zur Gründer- oder Wirtschaftswunder-Zeit, so hört der Untergangsdiskurs deshalb mitnichten auf, sondern verlagert sich bloß tendenziell vom Elementaren ins Fundamentale: Nietzsches "Letzter Mensch", Herbert Marcuses "Eindimensionaler Mensch" oder Günter Anders' "Antiquierter Mensch" wären mithin eher Boom-, ja Luxus-Varianten der Entfremdung. Was wiederum nicht heißt, dass ihre Diagnosen deshalb falsch sein müssten. So wie die Einsicht in die Existenz und Effizienz der Untergangs-Diskursmaschine im Ganzen nicht zur seminaristischen Illusion verführen darf, Untergänge und Verschlechterungen seien per se "bloß Sprachspiele" und somit nie real. Was die ambivalenten Wirkungen der Untergangsmaschinerie im Einzelnen betrifft, zeigt sich die Unbestimmtheit aller übrigen Aspekte hier noch einmal potenziert: Erklärt zum Beispiel ein älterer Mensch eine bestimmte Gegenwartserscheinung - etwa ein neues Gadget oder einen Popstil - zum Verfallssymptom, so kann das unterschiedlichste, kaum planbare Effekte haben. Zwar werden diese durchaus davon abhängen, wie triftig und griffig seine Diagnose ist. Aber auch davon, welchen Sprechort man ihm zuerkennt: Spricht er aus reifer Einsicht? Weil er von früher Besseres kennt? Oder bloß, weil er die Welt nicht mehr versteht? Oder gar aus Neid auf ein Lebendiges, das ihm (der selbst bald untergeht) entgeht? Aus Hass auf eine coole Zukunft ohne ihn? Wie all diese Faktoren sich dann aber zu konkreten Wirkungen zusammenfügen, ob auf den Sprechakt also eine epochale Umkehr folgt, oder stille Beschämung, emsige oder abtuende Widerlegungen, Achselzucken, Häme oder - wie bei der großen Mehrzahl aller Verfalls-Verdikte - gar nichts, scheint noch weit weniger planbar und vorauszusehen als bei fast allen anderen Sprechakten. Vielen Untergängern dürfte es auch ziemlich egal sein. Ihnen ist nicht der Ertrag wichtig, sondern dass nächste Woche wieder Lotto ist. Dass die Maschine weiterläuft. Und das tut sie. Ganz bestimmt. Freilich sind nicht allen Untergängern ihre Wirkungen egal, im Gegenteil: Je ambitionierter sie sind, umso eher werden sie die Unwägbarkeit der eigenen Sprechakte vermerken - zumal dort, wo der Misserfolg zu eklatant wird: Es geht bergab! Aber auf mich hört ja keiner!" "Seit 40 Jahren verkünde und begründe ich nun schon den Untergang des Kapitalismus. Und was geht derweil unter? Der Kommunismus." "Eigentlich wollten wir bloß eine fette Einschaltquote für unseren Vogelgrippe-Brennpunkt. Aber jetzt drehen meine Kinder durch. Und ich krieg' selber Angst!" "Die Menschheit hat aus ihren letzten Tagen nichts gelernt." Kurzum: "Ich hab' es nicht gewollt!" Doch selbst wer die Ambivalenzen der Untergangs-Diskursmaschine im Vorhinein zu kennen glaubt, ist nicht vor ihnen gefeit. Ein Dozent der Geisteswissenschaft, der merkt, dass seine Studenten komplexe Texte immer weniger erfassen können (oder wollen), sitzt in der Zwickmühle, dies entweder zu bagatellisieren oder für die Diagnose, Beifall von der falschen Seite zu riskieren. Ähnlich muss ein Redakteur, der dem Kulturfatalismus des Quotendenkens trotzt, beständig fürchten, seinen autonomen Spielraum just an diesen zu verlieren. Umgekehrt freilich entgehen selbst die glühendsten Verehrer des Vergangenen (und unversöhnlichsten Zerschmetterer des Jetzt) nicht dem Dilemma, dass sie mit ihren Sprechakten in Wirklichkeit dem Heute und der Zukunft dienen. Nämlich dergestalt, dass sie das "Früher" nicht allein vergolden, sondern - als Alchimisten immanenter Transzendenz - wahrhaftig besser machen, als es jemals war. Vorzuführen, wie das im Einzelnen vor sich geht - dazu fehlt im untergehenden Abendland leider die Sendezeit. Aber es funktioniert. Schalten Sie deshalb auch morgen wieder ein, wenn gestern wieder alles besser war. Es kann nur besser werden.
Von Johannes Ullmaier
Beim Untergang des Abendlandes geht es offenbar nicht ganz mit rechten Dingen zu. Einerseits hat dieser Untergang, seit Oswald Spengler ihn vor etwa 100 Jahren verkündete, permanent Hochkonjunktur. Andererseits ist das Abendland noch immer da. Freilich nur, um mehr denn je vom Untergang bedroht zu sein.
"2016-01-01T09:30:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:24.216000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zukunft-warum-das-abendland-beim-untergehen-nicht-untergeht-100.html
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Saudi-Arabien weist kanadischen Botschafter aus
Die kanadische Außenministerin Chrystina Freeland prangerte die Festnahme von Bürgerrechtlerinnen in Saudi-Arabien an (dpa / Gregor Fischer) Saudi-Arabien hat den kanadischen Botschafter aufgefordert, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen. Außerdem rief das saudische Königreich seinen Botschafter aus Kanada zu Konsultationen zurück. Das Land reagierte damit umgehend auf einen Tweet der kanadischen Außenministerin Freeland. Sie hatte sich zuvor besorgt über die Festnahme einer saudischen Bürgerrechtlerin geäußert und erklärt, Kanada stehe an der Seite der Familie Badawi. Außerdem verlangte Freeland die umgehende Freilassung der Frau. Die Festgenommene ist die Schwester eines seit 2012 in Saudi-Arabien inhaftierten Bloggers, der wegen seiner Opposition zur saudischen Regierung zu einer langjährigen Haftstrafe und zu 1000 Peitschenhieben verurteilt worden war. Die Frau des Bloggers ist mittlerweile kanadische Staatsbürgerin. Investitionen gestoppt Riad verbat sich die so wörtlich "Einmischung Kanadas in die inneren Angelegenheiten des Staates" und nannte die Äußerung der kanadischen Außenministerin einen Verstoß gegen internationale Gepflogenheiten. Saudi-Arabien kündigte zudem an, sämtliche geplanten Investitionen in Kanada zu stoppen und ein gerade geschlossenes Handelsabkommen zu annullieren. Jede weitere Einmischung, so Saudi-Arabien, bedeute, dass das Land seinerseits das Recht habe, sich in die inneren Angelegenheiten Kanadas einzumischen. Saudi-Arabien ist einer der größten Exportmärkte für Kanada in der Region und gilt als enger Verbündeter der amerikanischen Regierung.
Von Georg Schwarte
Die kanadische Außenministerin hat die Festnahme von Menschenrechtsaktivistinnen in Saudi-Arabien kritisiert. Eine Reaktion darauf folgte prompt: Riad stoppt diplomatische und geschäftliche Beziehungen mit Ottawa.
"2018-08-06T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:04:53.576000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-ueber-inhaftierte-buergerrechtlerin-saudi-arabien-100.html
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"Wir wollen die höchstmögliche Sicherheit"
Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Europaparlaments, Cramer, fordert bessere europäische Richtlinien zur Flugsicherheit. (picture alliance / ZB / Nestor Bachmann) Den Absturz des Germanwingsflugs U4 9525 bezeichnete Cramer als "unvorstellbar". Es gehe zunächst darum, den Angehörigen und Opfern zur Seite zu stehen und den Vorfall aufzuklären. Dann könnten die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Mittelfristig ist seiner Meinung nach eine europäische Richtlinie für den Flugverkehr wünschenswert. Dabei gehe es etwa um die Frage, ob Piloten alleine im Cockpit sein dürften oder nicht. Aber auch das biete keinen hundertprozentigen Schutz: "Gegen totale Absicht kann man nichts machen", sagte Cramer. Der Grünen-Politiker betonte, es gehe um die Verlässlichkeit eines Piloten. Kein Sparzwang von Billigfluglinien dürfe dazu führen, dass das Fliegen unsicherer wird. "Wir wollen die höchstmögliche Sicherheit", so Cramer. Hier das Interview in voller Länge: Friedbert Meurer: Nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 sind in der Luftfahrt die Sicherheitsgesetze drastisch verschärft worden. Die Passagiere werden noch mehr unter die Lupe genommen und von oben bis unten gescannt, oder die Cockpit-Türen sind so schwer gepanzert, dass sie von außen nicht mehr geöffnet werden können. Das ist jetzt wahrscheinlich 150 Menschen zum Verhängnis geworden. In den USA hätte die Tat vielleicht verhindert werden können. Dort darf ein Pilot oder ein Co-Pilot nie alleine im Cockpit sein. Heute Morgen sieht es ganz so aus, dass die europäischen Airlines, auch die deutschen Luftfahrtgesellschaften dieses Prinzip jetzt freiwillig einführen wollen. - Michael Cramer ist Vorsitzender des Verkehrsausschusses des Europaparlaments von den Grünen. Ich habe ihn gerade eben zunächst gefragt, wie sehr ihn die Nachricht geschockt hat, dass der Co-Pilot den Absturz absichtlich herbeigeführt hat. Michael Cramer: Das ist natürlich unvorstellbar. Das hätte sich keiner vorstellen können. Das ist natürlich ein sehr tragischer Einzelfall. Aber zunächst mal geht es darum, dass wir auch gestern im Ausschuss eine Schweigeminute eingeleitet haben und der Opfer natürlich und der Freunde, der Familien und der Geschwister gedenken. Unser Mitgefühl ist zunächst bei denen. Und dann wollen wir eine unabhängige Aufklärung und dann muss man die notwendigen Konsequenzen ziehen. Meurer: Wir hatten uns ja schon darauf eingestellt, dass die Auswertung des Flugschreibers oder Stimmenrecorders ziemlich lange dauern wird. So hieß es ja auch die ganze Zeit. Waren Sie davon überrascht, dass so schnell eine so schwerwiegende Schuldzuweisung erfolgt? Cramer: Das hängt ja immer davon ab, wann der gefunden wird. Das ist wohl schnell gewesen. Und dann die Information? Es war natürlich eigenartig, dass keine Notsignale ausgestrahlt wurden. Man dachte am Anfang, die Kabinenluft, die sind besinnungslos geworden, konnten gar nicht reagieren. Aber dass jetzt absichtlich praktisch der Tiefgang eingeschaltet wurde und absichtlich keine Notsignale geschaltet wurden, das konnte sich keiner vorstellen. "Niemand sollte alleine in der Kabine sein dürfen" Meurer: Die Familie des Co-Piloten wird wahrscheinlich im Moment noch nach jedem Strohhalm greifen, dass es doch vielleicht anders gewesen ist, dass der Co-Pilot ohnmächtig wurde. Gibt es da eine Möglichkeit, dass es doch anders war? Cramer: Ich habe heute die neueste Nachricht gelesen, dass der Co-Pilot auch ausgesetzt hatte seine Ausbildung, weil Depressionen festgestellt wurden, und wenn das der Fall ist, ist das natürlich schwerwiegend. Aber eine hundertprozentige Sicherheit, die gibt es auch nicht. Aber man sollte jetzt daraus Konsequenzen ziehen, dass niemand alleine in der Kabine sein darf. Wenn dann der Pilot oder der Co-Pilot zur Toilette muss, dann muss eben eine der Stewardessen in der Kabine sein, dass das nicht sein kann, dass jemand alleine diese Entscheidungsgewalt ausüben kann. Meurer: In den USA wie gehört gibt es das schon eine ganze Zeit lang, dass immer zwei im Cockpit sein müssen. Wissen Sie, warum das in Europa anders ist? Cramer: Nein, das weiß ich nicht. Das war natürlich eine Reaktion auch der terroristischen Attacken, dass niemand praktisch von den Passagieren, dass der in dieses Cockpit eindringen kann und die unter Druck setzen kann, entweder da hinzufliegen oder gar wie bei 9.11 in die Tower fliegen kann. Dass das unterbunden wurde, das ist natürlich richtig. Aber jetzt haben wir es gesehen: Das reicht allein nicht aus. Deshalb müssen immer zwei im Cockpit sein. Denn es hätte ja auch sein können, dass ein Co-Pilot plötzlich einen Herzinfarkt bekommt, oder besinnungslos wird, warum auch immer, und dass dann die Regelung so ist, dass dann auch selbst die Insider nicht von außen durch die Tür in das Cockpit reinkommen, das hätte ich mir auch nicht denken können. Da gibt es heute technische Möglichkeiten, dass die über Entscheidungen verfügen, über einen Code, dass sie auf jeden Fall in die Cockpit-Kabine kommen können. Meurer: Jetzt sagen einige: Nehmen wir mal an, da nimmt eine Stewardess Platz neben dem Piloten oder dem Co-Piloten. Der kann natürlich auch diese Stewardess möglicherweise ziemlich einfach ausschalten. Was hilft diese Maßnahme, zwei Personen im Cockpit, wirklich? Cramer: Er war ja jetzt alleine. Das war ja auch mehr Zufall, dass der Pilot, also der Chef, kurz mal rausgegangen ist. Er hatte ihm vertraut und es ist dann passiert. Gegen totale Absicht kann man nichts machen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber die Frage ist: Wäre ein Steward oder eine Stewardess dabei gewesen, ob er dann so reagiert hätte. Vor allem, als das Klopfen draußen war, ob er dann auch verhindern hätte können, dass die Tür geöffnet wird. "Ich bin für ein europäisches Gesetz" Meurer: Es sieht ja ganz so aus, als würden die Airlines jetzt freiwillig dieses Zwei-Personen- oder Vier-Augen-Prinzip im Cockpit umsetzen. Freitag soll es Gespräche mit dem Luftfahrtbundesamt geben. Ist da ein Gesetz eigentlich notwendig, oder sinnvoll, um das wirklich flächendeckend durchzusetzen? Cramer: Wenn man die Konsequenzen sieht, bin ich für ein europäisches Gesetz, weil es natürlich auch in der Luftfahrt einen enormen Wettbewerb um die billigsten Preise gibt, und oft geht dann das billigste Angebot auch auf mangelnde Sicherheit zurück. Deshalb finde ich es gut, wenn es da eine europäische Regelung gibt, am besten natürlich weltweit. Meurer: An welcher Stelle gibt es mangelnde Sicherheit durch den Wettbewerb? Cramer: Das, was ich gehört habe, beispielsweise die Wartezeiten oder die Bereitschaftsdienste der Piloten, die werden jetzt kürzer angesetzt, als Mediziner vorgeschlagen haben. Das ist zum Beispiel eine Sache. Die Wartung der Flugzeuge, die ist nicht überall gleich. Sie müssen auch gewartet sein. Da habe ich Informationen gehört, dass das nicht überall gleich sei und manchmal leichtfertig. Aber da bin ich vorsichtig, ich bin kein Ingenieur. Wir wollen aber da eine europäische Regelung haben, die alle verpflichtet. Meurer: Diese Dienstzeiten der Piloten, die Sie gerade angesprochen haben, war ja auch Thema, ich glaube, letztes Jahr bei Ihnen im Verkehrsausschuss. Wie stressig ist das für die Piloten geworden? Cramer: Ja. Wir hatten auch die Piloten da und sie akzeptieren das nicht. Es gab eine Untersuchung darüber und Mediziner haben sich geäußert. Auch die Kommission hat da eine Untersuchung beantragt. Und die haben festgelegt: Eine bestimmte Zeit, Dienstzeit darf nicht überschritten werden. Dann wird die Sicherheit infrage gestellt. Darüber hat sich dann die europäische Politik hinweggesetzt. Die neue Regelung ist noch nicht in Kraft wegen der Gibraltar-Frage. Aber wir im Verkehrsausschuss wollten mehr. "Sicherheit muss an erster Stelle stehen" Meurer: Werden Sie sich jetzt durchsetzen können? Werden Sie das jetzt vielleicht ändern können nach diesen Ereignissen jetzt? Cramer: Darüber will ich jetzt nicht spekulieren. Wir haben da eine klare Position. Das muss auch dann der Rat entscheiden. Das ist ja nicht eine alleinige Entscheidung des Parlaments, sondern ein europäisches Gesetz gibt es nur, wenn Rat, Kommission und Parlament sich einig sind. Und die Staats- und Regierungschefs sind jetzt gefragt und die sollten sagen, ja, wir wollen die höchstmögliche Sicherheit. Die hundertprozentige gibt es nicht, aber die Sicherheit muss an erster Stelle stehen. Und wenn man bedenkt, dass die europäischen Airlines, weil sie im Gegensatz zu den Bahnkunden keine Kerosin-Steuer und auf internationalen Relationen keine Mehrwertsteuer bezahlen müssen und deshalb 30 Milliarden Euro vom europäischen Steuerzahler bekommen, sollte Sicherheit die absolute Spitze sein. Meurer: Was viele natürlich interessiert: Wie sicher sind Billigflieger im Vergleich zu etablierten Luftfahrtgesellschaften? Cramer: Im Moment gibt es darüber keine Analyse. Die Lufthansa und dieses Flugzeug galten natürlich über die Jahrzehnte als vorbildlich. Es hatte auch deshalb großen Marktanteil und niemand konnte sich vorstellen, was da passiert ist. Aber jetzt haben wir eine andere Erfahrung. Es ging nicht um die materielle Sicherheit eines Flugzeugs, sondern es geht jetzt um die Verlässlichkeit eines Piloten und hier eines Co-Piloten. Was da möglich ist, das muss jetzt untersucht werden. Wie gesagt, da sollte das Geld keine Rolle spielen, denn ich will sicher fliegen. Ich will nicht von einem Piloten geflogen werden, der schon zehn oder zwölf Stunden Bereitschaftsdienst hat, der übermüdet ist. Mir kommt es nicht auf die 10 oder 15 Euro an, ich möchte sicher ans Ziel kommen, und ich glaube, da spreche ich nicht nur für mich, sondern für alle. Meurer: Michael Cramer, der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Europaparlaments von den Grünen. Herr Cramer, vielen Dank für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Auf Wiederhören! Cramer: Vielen Dank auch Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Cramer im Gespräch mit Friedbert Meurer
Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Europaparlament, Michael Cramer, hat einheitliche und bessere europäische Regelungen im Flugverkehr gefordert. Im DLF sagte der Grünen-Politiker aber auch, dass es gegen die "absolute Absicht" eines Täters keinen Schutz gebe.
"2015-03-27T07:10:00+01:00"
"2020-01-30T12:28:41.260000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-germanwings-absturz-wir-wollen-die-hoechstmoegliche-100.html
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Ganzkörpererlebnis
Im Farbrausch - eine Arbeit von Carsten Nicolai in der Düsseldorfer Ausstellung (Kunstsammlung NRW / Achim Kukulies, Düsseldorf) Es gibt viele Geräusche in dieser Ausstellung: Es piept und knackt und summt und dröhnt im Düsseldorfer K21. Zwei Geigerzähler messen die radioaktive Strahlung im Raum – die elektrischen Impulse wandelt Carsten Nicolai in akustische Signale um. Und ein an den Fernseher gekoppelter CD-Player erzeugt Störgeräusche in Endlosschleife, über zwei Bildschirme flackern die dazu passenden Störbilder: hektische, grelle Streifen. Carsten Nicolai: "Was mich immer sehr interessiert hat, sind Wahrnehmungsprozesse: Wie wir Dinge wahrnehmen, ob das jetzt Farbe ist oder Sound oder ob das Formen sind. Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto klarer tritt hervor, dass das, was wir glauben zu sehen, nur ein verarbeitetes Informationssignal ist, das unser Gehirn uns aufbereitet. Und dass es nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, was in der Realität existiert." Aus Strahlung wird Ton… Genau diese Transformationsprozesse macht Carsten Nicolai mit seiner Kunst erfahrbar. Er selbst nennt seine Werke "Übersetzungsmaschinen". Sie übertragen Strahlung in Ton, Ton in Bilder oder Farben in Vibrationen, die der Besucher, auf einer Bank sitzend, am ganzen Körper spüren kann. Aus der physikalischen Realität, die uns umgibt und die oft so ungreifbar erscheint, wird sichtbare, fühlbare, hörbare Kunst. Ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis. …aus Ton wird Bild Und so setzt diese Ausstellung keineswegs physikalisches Verständnis voraus. Viele Werke faszinieren allein durch ihre Ästhetik. Etwa die Videoserie "future past perfect": Filme von Wolken, Wasser und Architekturen, unterlegt mit Soundtracks von Alva Noto. Diese Bild-Ton-Kompositionen entfalten schnell eine meditative, hypnotische Wirkung. Oder die Installation "tele" von 2018. Zwei große, sechseckige Spiegel stehen sich im Raum gegenüber, im Abstand von mehreren Metern. Verbunden werden beide Spiegel durch zwei gleißende Lichtstrahlen, die je nach Perspektive ihre Intensität ändern. Weit über den Köpfen der Besucher schweben sie im Raum. Staubkörnchen tanzen im Licht und sorgen für eine poetische, fast melancholische Atmosphäre. Angesichts dieser Werke wundert es nicht, dass Carsten Nicolai als Inspirationsquelle nicht nur Physikbücher nennt: "Das klingt jetzt ziemlich absurd, aber Träume sind für mich eine große Inspirationsquelle. Und ich bin immer wieder erstaunt, dass uns Träume so stark beeinflussen, dass wir kaum unterscheiden können, ob das jetzt ein Traum war oder ein reelles Erlebnis. Nicht, dass ich meine Träume deute, aber ich zeichne sie auf, weil das teilweise so wahnsinnige Bilder sind und da so verrückte Sachen passieren. Ich finde das sehr spannend." Rätsel der Natur Und tatsächlich lädt diese sehenswerte Überblicksschau, die zunächst so technisch, so kühl, so rational wirkt, zum Träumen ein: In der hintersten Ecke des Ausstellungsraumes steht ein Aquarium. Darin drei durchsichtige Quallen, die mit rhythmischen Bewegungen, wie in Zeitlupe, immer wieder neue Formationen bilden. Ein Naturschauspiel, ein Ready-Made, ganz ohne Zutun des Künstlers. Spätestens hier ist die romantische Botschaft der Ausstellung angekommen: Carsten Nicolais Werk steht für den unerreichten und wohl auch unerreichbaren Traum, die Rätsel der Natur vollständig zu lösen. Aber darüber braucht niemand zu verzweifeln. Wir sollten uns einfach öfter an der Schönheit dieser Natur erfreuen – und an der Schönheit ihrer ungelösten Rätsel.
Von Änne Seidel
Carsten Nicolai macht Musik und Kunst: für die Ohren, für die Augen, für Hirn und Bauch. Ideen und Inspirationen liefern ihm Naturwissenschaften und Träume. Im Düsseldorfer K21 zeigt eine sehenswerte Überblicksschau jetzt Nicolais Arbeiten unter dem Titel "Parallax Symmetry".
"2019-10-07T17:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:13:39.820000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/carsten-nicolai-in-duesseldorf-ganzkoerpererlebnis-100.html
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Detroit, apokalyptisch
"The Apocalypse has already occured. And now we're here to pick up the pieces." Detroit hat die Apokalypse schon hinter sich, sagt Gary Schwartz. Jetzt gehe es darum, die Scherben einzusammeln. Für den Künstler-Intellektuellen Gary Schwartz ein aufregendes Unterfangen. Die Trümmer: eine Fundgrube. Gäste nimmt er gerne mit, zu seiner: "Postindustrial Apocalyptic Landscape Tour."Nur ein paar Blocks von Garys Zuhause im Stadtteil Woodbridge entfernt geht's los: Ausgebrannte Einfamilienhäuser. Leerstehende Grundstücke. Gras wächst kniehoch. Ein Fasan fliegt auf. "Look how big the boulevards are! It's all built to be a huge city for huge things to happen. But none of that happens anymore."Vor 100 Jahren wurden hier prunkvolle Hochhäuser hoch gezogen, in den Werken von Henry Ford liefen die Fließbänder heiß. Zwei Millionen Einwohner hatte Detroit einmal. Heute sind es noch rund 700.000. Für den Niedergang wurde die Stadt berühmt, ihre Ruinen sind in Coffeetable-Books verewigt. Eine Ästhetisierung, die viele Detroiter mit dem Begriff "Ruin Porn" schmähen. Michigan Central Station ist die Ikone des Verfalls."Mich persönlich beeindruckt dieser Anblick mehr als die Ruinen, die ich letztes Jahr in Rom besucht habe. Als dieser Bahnhof in den 1920ern gebaut wurde, da war er der größte Bahnhof der Welt - und auch der höchste, wegen des Bürogebäudes oben drauf! Aber keiner war glücklich mit dem Standort, niemand wollte einziehen; denn das wahre Leben in den wilden 20ern, das passierte dort drüben in Downtown, und nicht hier." Der letzte Zug verließ den Bahnhof 1988. Heute steht Michigan Central Station eingezäunt auf einer grünen Wiese. Ein leeres Gerippe, vor dessen Kulisse inzwischen Hipster gemütliche Picknicks veranstalten."Detroit ist eine sterbende und zugleich wieder auferstehende Stadt. Wie eine Schlange, die sich häuten muss. Wenn sie wächst, muss sie sich ihrer alten Haut entledigen. Und diesen Häutungsprozess zu dokumentieren - das gefällt mir." Ein paar Meilen weiter nordöstlich: Packard Plant - zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl die größte Industrieanlage der Welt. Bis in die 50er-Jahre wurde dort der "Packard", eine Luxuskarosse gebaut, dann musste die Fabrik schließen. Heute schießen Bäume durch die löchrigen Etagen. "Da oben war mal ein Geschoss. Das bricht alles zusammen wegen der Scrapper, wie wir sie nennen. Diese Schrotthändler klauen Metall: Stützen, Träger, alles, was das Gebäude zusammenhält. Bis es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. Die reißen das ganze Innenleben raus." Die Abendsonne fällt durch eine rostige Glasfassade, die wie durch ein Wunder stehen blieb. Hinter einem riesigen Schuttberg. Die perfekte Theaterkulisse. Aber nein. Dies hier ist alles ganz real.Mehr Ruinen:Für Detroit-Einsteiger: Die zwei Franzosen Yves Marchand und Romain Meffre haben die Detroiter Ruinen fotografiert und damit weltweit Beachtung gefunden. Von Detroitern selbst wird es als Coffeetable-Buch belächelt.Für Detroit-FortgeschritteneWer nicht nur Ruinen, sondern auch Menschen in Ruinen sehen will, ist mit dem Fotografen Dave Jordano besser beraten: "Detroit - Unbroken Down" - Fotoarbeit von Dave Jordano Schwartz im verlassenen Zoo auf der Insel "Belle Isle". Flora überwuchert die Orte, wo einst Tiere eingesperrt waren. (Andreas Main) Fisher Body, eine vom Architekt Albert Kahn erbaute Fabrik. (Marietta Schwarz) Packard Plant war zum Zeitpunkt, als es gebaut wurde, eine der größten Fabrikanlagen der Welt. (Andreas Main) Fisher Body steht heute leer und wird von Schrottsammlern illegal entkernt. (Andreas Main)
Von Marietta Schwarz und Andreas Main
Gary Schwartz ist von Los Angeles nach Detroit gezogen, weil kaum eine andere Stadt für Neues so offen ist. Der Künstler, Filmemacher und Dozent bietet freiwillig eine "Postindustrial Apocalyptic Landscape Tour" an. Eine urbane Erkundung.
"2012-10-03T15:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:26:00.217000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/detroit-apokalyptisch-100.html
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Die Ruhe nach dem Veto
Das Veto des Präsidenten gegen Teile der Justizreform war offenkundig im Alleingang und ohne Absprache mit der PiS-Spitze eingelegt (dpa/Jan A. Nicolas) Die Messestadt Posen ist für die Regierungspartei PiS ein schwieriges Pflaster. Posen lebt nicht zuletzt von deutschen Investitionen. Anders als in Warschau erzielte die PiS hier im Westen keine Mehrheit, und die Proteste gegen die Justizreform auf dem Freiheitsplatz gehörten zu den prägnantesten im ganzen Land. Am Bahnhof hat die Opposition auf einem riesigen Plakat die drei örtlichen Abgeordneten der PiS aufgehängt, die allesamt für die Zerschlagung des Obersten Gerichts votiert haben. "Wir werden uns daran erinnern", steht da - es klingt wie eine Drohung "Ja, ja, das erste Plakat mit mir als aktivem Politiker hat die Opposition aufgehängt", sagt Szymon Szynkowski vel Sęk, einer der drei vom Plakat-Pranger, und verspottet die Aktion als kostenlose Werbung. Der 35-Jährige empfängt in den Abgeordnetenbüros der Posener PiS, etwas versteckt in einem Hinterhof im Stadtzentrum. Aber verzagt wirkt er nicht. Das Veto des Präsidenten gegen Teile der Justizreform, offenkundig im Alleingang und ohne Absprache mit der PiS-Spitze eingelegt, hatte kurzfristig für Wirbel gesorgt in der Kaderpartei Kaczynskis. Inzwischen aber scheint Ruhe erste Abgeordneten-Pflicht. "Diese Reform ist notwendig" Mal sehen, was kommt, sagt auch Szynkowski. Noch etwa anderthalb Monate bleiben dem Präsidenten bis zur Vorlage des versprochenen Kompromissvorschlags in Sachen Justiz. Könnte der Duda-Vorschlag die PiS am Ende spalten, die Kompromissbereiten und die Unbeugsamen um Parteichef Kaczynski? "Unwahrscheinlich. Die allgemeine Überzeugung, dass diese Reform notwendig ist, ist zu groß. Wenn ein Politiker dazu beitragen würde, dass sie gar nicht kommt - und eine Spaltung hieße, sie kommt nicht - dann würde er eine sehr große Verantwortung tragen." Szynkowski, der auch Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe ist, bedauert, dass sich das nachbarschaftliche Klima in den letzten Wochen verdüstert habe. Er bemängelt eine seiner Meinung nach voreingenommene Berichterstattung in deutschen Medien. Es würde ausnahmslos kritisch über die Justizreform berichtet, aber ohne die Regierungsseite überhaupt zu Wort kommen zu lassen, behauptet er. Hört endlich auf, uns zu bevormunden und wie arme, dumme Cousins zu behandeln, ruft er den Deutschen zu: "Besser mal zuhören, als immer nur reden!" Eine Haltung, die ankommt, auch bei jüngeren Posener PiS-Unterstützern wie Natalia Janikowska. Ein Teil ihrer Familie wohnt in Pforzheim, aber alle haben PiS gewählt, "natürlich", sagt die frühere Pfadfinderin: "Meine Generation ist in Freiheit aufgewachsen und hat nie Unterdrückung erlebt. Aber wir wollen unser Vaterland unterstützen und unsere Werte hier, und die PiS steht dafür, für das, was hier geschieht, aber sie ist auch offen für Europa. Sie unterstützt zum Beispiel Kinder und junge Familien." Mit seinem Veto hat der Präsident auch bei den Jungen gepunktet Patriotisch sei die PiS, nicht "nationalistisch", betont die junge Frau: "Moderner Patriotismus bedeutet, das eigene Land zu unterstützen und sich nicht dafür zu schämen. Offen zu sein für andere Kulturen, aber sich dessen bewusst sein, was wir selbst können und schätzen." Mit seinem Veto hat Präsident Duda bei der jungen PiS-Sympathisantin gepunktet. Sie widerspricht dabei ausdrücklich Parteichef Kaczynski, der von einem schweren Fehler Dudas gesprochen hatte: "Für mich war das kein Fehler. Er hat vielmehr bewiesen, dass er der Präsident aller Polen ist." An eine drohende Spaltung im rechten Lager glaubt sie allerdings auch nicht: "Ich denke nicht, dass es dazu kommen wird. Die Opposition misst der ganzen Sache zu viel bei. Der Präsident hat einfach getan, was er zu tun hatte. Als Anwalt kennt er sich aus. Nicht auf Druck von der Straße hin, sondern auf Grund der Gespräche mit Experten. Daraus entsteht keine neue Bewegung. Es bleibt weiterhin ein Präsident der PiS. Er hat nur gezeigt, dass er selbständig ist, nicht alles unterschreibt, kein Grüßaugust. ist wie sein Vorgänger Komorowski. Bei der nächsten Wahl werde ich bestimmt für ihn stimmen." Im Abgeordnetenbüro der PiS ist der junge Abgeordnete Szynkowski nicht ganz so begeistert. Ich teile Dudas Zweifel an der Justizreform nicht, sagt er. Aber er nehme sie zur Kenntnis. Und wenn am Ende ein Duda-Vorschlag steht, der nicht den Gefallen der Parteispitze findet? Dann, sagt der Abgeordnete, wird in der Fraktion beraten. Fraktionsdisziplin aber sei wichtig in der Politik. Ohne sie gebe es alle drei Monate Neuwahlen.
Von Jan Pallokat
Die Aufregung nach dem Einspruch des polnischen Präsidenten währte nur kurz. Für die Regierungspartei PiS ist sein Veto gegen einen Teil der Justizreform Beweis für eine lebendige Demokratie - aber die Reform werde so oder so kommen. Dabei kann sie auf ihre Basis in Posen zählen.
"2017-08-11T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:24.041000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-die-ruhe-nach-dem-veto-100.html
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Aktionsplan gegen Ebola
Die Minister von elf afrikanischen Staaten verpflichteten sich auf der zweitägigen Konferenz in Ghanas Hauptstadt Accra zu einer verstärkten Mobilisierung aller nötigen finanziellen und personellen Ressourcen, einer besseren Überwachung und einer stärkeren grenzüberschreitenden Kooperation in der westafrikanischen Region. Zudem soll die Bevölkerung besser über die Krankheit aufgeklärt werden. Nach Einschätzung der WHO wird die Epidemie wohl noch "mehrere Monate" andauern. Mehr Aufklärung über den Umgang mit Ebola-Patienten nötig Guineas Gesundheitsminister Remy Lamah zeigte sich besonders froh darüber, dass der Gipfel auch eine engere Zusammenarbeit mit lokalen Dorfgemeinschaften und Häuptlingen beschlossen hat. Denn diese hätten großen Einfluss auf die Menschen in Afrika. "Erklären Sie mal einer Bevölkerung, die weder lesen noch schreiben kann, dass es für diese Ebola keine Medizin gibt. Dass man aber trotzdem die Kranken mitnehmen muss, um sie zu isolieren. Dann sagen die Angehörigen: Warum sollen wir unsere Kranken weggeben, wenn sie doch in der Isolierstation sterben? Deshalb kümmern sie sich lieber selbst oder gehen zu einem traditionellen Heiler." Eine Vertreterin des Gesundheitsministerium in Liberia äußerte sich ähnlich: Traditionen bei der Pflege von Kranken und Totenkulte erschwerten den Kampf gegen Ebola. "Die Leichen werden gewaschen, umarmt, geküsst. Viele Menschen stecken sich bei ihren Angehörigen an. Deshalb hat auch Präsidentin Johnson-Sirleaf gesagt, dass es ab sofort strafbar ist, Kranke oder Tote zu Hause zu verstecken." Gefahr unterschätzt Die Epidemie brach im März in Guinea aus. Seitdem hat es laut WHO über 750 Fälle mit 445 Toten in Guinea, Sierra Leone und Liberia gegeben. Eine Medizin gegen den hoch ansteckenden Ebola-Erreger gibt es bislang nicht. Guinea, von den Nachbarstaaten nur durch schmale Flüsse oder Wälder getrennt, hätte die Ausbreitung vielleicht noch verhindern können, sagen Experten. Doch wie viele andere unterschätzte auch Guineas Präsident Alpha Condé die Ebola-Gefahr. Noch im April sagte er, die Krankheit sei eingedämmt, die Helfer von Ärzte ohne Grenzen sollten abziehen. (nin/kis)
null
Guinea ist am stärksten von der aktuellen Ebola-Epidemie in Westafrika betroffen. Dort soll jetzt ein Kontrollzentrum eingerichtet werden, um den grenzüberschreitenden Kampf gegen die weitere Ausbreitung der Seuche zu koordinieren. Das hat der Krisengipfel in Ghana beschlossen.
"2014-07-04T11:02:00+02:00"
"2020-01-31T13:50:47.244000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/westafrika-aktionsplan-gegen-ebola-100.html
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Eishockey-Weltverband stellt sich auf die Seite von Belarus
Die weiß-rot-weiße Flagge der belarussischen Opposition inmitten der Flaggen der WM-Teilnehmer in Riga. (dpa-Bildfunk / AP) Auf einem zentralen Platz in Riga wehen die Fahnen aller Teilnehmerländer der Eishockey-Weltmeisterschaft. Der Bürgermeister der lettischen Hauptstadt ließ die offizielle belarussische Fahne gestern abnehmen – und durch die historische weiß-rot-weiße Fahne von Belarus ersetzen, die von Gegner des dortigen Machthabers Alexander Lukaschenko benutzt wird. Damit drückte er seine Solidarität mit dem am Sonntag unter spektakulären Umständen in Belarus verhafteten Journalisten Roman Protasiewitsch aus. Der lettische Staatspräsident Egil Levits begrüßte die Aktion. In Belarus schlug dies hohe Wellen. Außenminister Wladimir Makej erklärte: "Wir haben unsere entschiedenen Protest formuliert. Das verstößt auf zynische Weise gegen alle Normen des internationalen Rechts. Das ist faktisch ein Akt des staatlichen Vandalismus. So ein Verhalten gegenüber einem souveränen Staat und einer souveränen Nation ist nicht hinnehmbar." Lettische Diplomaten aus Belarus ausgewiesen Später verwies das Außenministerium sogar den lettischen Botschafter und alle andere Diplomaten des Landes. Staatliche Kanäle im Internet zeigten Videoaufnahmen von der Abreise des Botschafters und versahen sie mit hämischen Kommentaren. Lettland reagierte seinerseits mit der Ausweisung aller belarussischen Diplomaten. Auch der Vorsitzende des belarussischen Eishockeyverbandes Dmitrij Baskow äußerte sich: "Der Verband wertet die Geste der Stadtverwaltung in Riga als Akt einer tiefen Respektlosigkeit gegenüber unseren Sportlern. Diese sind zur Weltmeisterschaft gefahren, um zu beweisen, wozu unser Land fähig ist – und zwar auf dem Eis und nicht auf der Tribüne der Politik." Allerdings ist Sport in Belarus alles andere als unpolitisch. Baskow selbst ist ein treuer Anhänger von Alexander Lukaschenko und nutzt sein Amt, um Stimmung für den Machthaber zu machen. Nach Flugzeugentführung durch Belarus - EU reagiert mit Sanktionen - Belarus bestätigt Verhaftung von RegimekritikerMit Empörung und verschärften Reaktionen hat die EU auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Passagiermaschine in Belarus reagiert. Das Regime in Minsk bestätigte inzwischen, dass sich der bei der Aktion verhaftete Regimekritiker Roman Protasewitsch in U-Haft befindet. Eishockey-Weltverband auf der Seite von Belarus Der Eishockey-Weltverband schloss sich dem Protest gegen die Aktion des Rigaer Bürgermeisters an. Der Verbandsvorsitzende René Fasel erklärte, dass die Flagge des Weltverbandes nicht neben der historischen belarussischen Fahne wehen dürfe und deshalb vom zentralen Platz in Riga entfernt werden müsse. Dem werde er nachkommen, erklärte der Bürgermeister.
Von Florian Kellermann
Rigas Bürgermeister hatte bei der Eishockey-WM in Lettland die Fahne der belarussischen Opposition gehisst. Belarus wertete das als Affront. Die beiden Länder wiesen gegenseitig Diplomaten aus. Währenddessen ergriff der Eishockey-Weltverband Partei für Belarus - und ließ Verbandsfahnen in Riga abhängen.
"2021-05-25T22:52:00+02:00"
"2021-05-26T15:46:32.348000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fahnen-streit-bei-der-eishockey-wm-eishockey-weltverband-100.html
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Säkularer Reformer oder Opportunist?
Der ehemalige Cricket-Star Imran Khan hat die Parlamentswahl in Pakistan gewonnen. (dpa / picture-alliance) Peter Sawicki: Gestern hatte er sich schon zum Sieger gekrönt; jetzt ist auch das offizielle Ergebnis bekannt. Imran Khan hat die Parlamentswahl in Pakistan gewonnen – ein Außenseiter, der sich jetzt durchaus überraschend durchgesetzt hat. Pakistan hat gewählt, ein Außenseiter geht als Sieger hervor. Doch was bedeutet das jetzt eigentlich für das Land und für die Region? Darüber sprechen wir mit dem Politologen und Südasien-Experten Jochen Hippler von der Uni Duisburg. Guten Tag, Herr Hippler! Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Sawicki. "Viele Hinweise, dass der Wahlprozess nicht richtig funktioniert hat" Sawicki: Im Vorfeld hieß es, dass das Ganze eine historische Wahl werden würde. Ist es das geworden? Hippler: Na ja, das hat man bei den letzten Wahlen auch schon immer gesagt, und immer war es nie ganz richtig und nie ganz falsch. Es ist jetzt das dritte Mal, dass ein Präsident abgesetzt und ersetzt worden ist durch einen neuen, oder ein neues Parlament gewählt worden ist, nachdem das alte seine Amtsperiode zu Ende führen konnte. Das ist jetzt nicht mehr ganz so neu, wie es mal war. "Historisch" ist tatsächlich, dass jetzt mal ein Ministerpräsident wahrscheinlich regieren wird, der weder zur Muslim-Liga, noch zur Volkspartei gehört, und das ist tatsächlich neu. Aber so ganz schrecklich neu ist es auch nicht; man hat sich in den letzten vier, fünf Jahren schon an die Partei gewöhnt. Sawicki: Es gibt jetzt viele Vorwürfe, vor allem von der Muslim-Liga, die unterlegen ist, in Sachen Wahlmanipulation. Sagen die das nur, weil sie verloren haben? Hippler: Nicht nur. Es gibt tatsächlich viele Hinweise dafür, dass der Wahlprozess nicht richtig funktioniert hat. Viele Wähler haben wohl gar nicht geschafft, ihre Stimme abzugeben, weil die Organisation schlecht war. Es gab tatsächlich Auszählungsprobleme. Manche Beobachter der Parteien hat man nicht wirklich informiert und kein Dokument gegeben, wo die Wahlkreise, die Endzahlen amtlich festgestellt worden sind. Es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen, dass das nicht besonders gut organisiert, auch nicht ganz fair gewesen ist. Trotzdem muss man schon darauf hinweisen, dass auch bei unabhängigen Meinungsumfragen in der letzten Zeit die Partei von Imran Khan vorne gelegen hat – nicht mit so einem großen Abstand wie jetzt, aber das hängt natürlich auch vom Mehrheitswahlsystem Pakistans ab, dass ein paar Prozent mehr dann durchaus mehr Sitze im Parlament nach sich ziehen. Eine Überraschung war es nicht wirklich und man muss jetzt noch mal die Auszählung ganz abwarten. Es fehlen noch 13 Wahlkreise, aber eigentlich ist jetzt klar, dass Imran Khan wirklich gewonnen hat. Militär stellt Eigeninteressen über die des Landes Sawicki: Diese Manipulation, auch diese Unregelmäßigkeiten, die Sie schildern, die es offenbar gegeben hat, die es immer wieder gegeben hat in den letzten Jahren, obwohl das Land sich auf den ersten Blick politisch weiterentwickelt hat, wenn zum dritten Mal in Folge eine zivile Regierung neu gewählt wird – warum gibt es in dem Land diese Schwierigkeiten? Hippler: Es gibt unter anderem Schwierigkeiten, weil das Militär tatsächlich – darauf ist auch eben schon hingewiesen worden – häufig die Eigeninteressen über die des Landes stellt und versucht, hinter den Kulissen die Fäden zu ziehen, unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnt. Das ist sicher ein Problem. Es gibt aber auch ein Problem außerhalb des Militärs, weil in gewissem Sinne, gleichgültig wer die Wahl gewinnt, bestimmte soziale Gruppen, bestimmte Familien eigentlich seit Jahrzehnten immer den Drücker an der Macht behalten und sich im Wesentlichen durch eine gierige Form von Selbstbereicherung und durch Korruption auszeichnen. Das sind zwei wichtige Gründe; man könnte sicher noch ein paar mehr sagen, die Pakistan wirklich die Schwierigkeiten nicht überwinden lässt. "Das Problem ist seine Undurchsichtigkeit" Sawicki: Dann schauen wir mal etwas genauer auf den Wahlsieger Imran Khan in Pakistan, eine prominente Figur, ein früherer Cricket-Spieler, ein Cricket-Star. Kann er ein Land mit 200 Millionen Menschen effektiv regieren? Hippler: Niemand kann das allein. Niemand kann das auch im Moment gegen das Militär. Und es ist noch ein zusätzliches Problem, dass der Staatsapparat in Pakistan einfach sehr deformiert ist, will ich mal sagen. Es gibt Teile des Staatsapparates, die sind eher überentwickelt. Dazu gehört gerade der Militärgeheimdienst oder auch das Militär. Andere Elemente sind ganz grauenvoll unterentwickelt. Die Steuerbehörden, die Polizei, andere Elemente des Staates funktionieren einfach nicht wirklich. Und natürlich wäre es schön, wenn man ein so kompliziertes, schwieriges Land regieren möchte, dass man zumindest einen funktionierenden Staatsapparat zur Verfügung hat, und die Schwäche des Staates in vielen Bereichen wird von Regierenden aller Parteien – das gilt für die Muslim-Liga, das gilt für die Volkspartei von der Familie Bhutto – in der Regel dadurch ausgeglichen, dass man manchmal am Staat vorbei Netzwerke wichtiger Männer in Distrikten, in Provinzen einspannt, um das Land tatsächlich regieren zu können. Das Problem ist durch den Machtantritt oder den Amtsantritt von Herrn Imran Khan sicher nicht behoben worden. Sawicki: Sehen Sie in seiner Agenda Ansätze, dass er damit anfängt, die Schwierigkeiten zu lösen? Hippler: Das Problem mit ihm scheint mir nicht so sehr seine politische Ausrichtung zu sein, sondern mehr seine Undurchsichtigkeit. Er gibt häufig den säkularen Reformer. Er ist der Beckenbauer Pakistans. Cricket ist das, was Fußball ist, und er hat die Mannschaft damals zur Weltmeisterschaft geführt. Daher zieht er seine Bekanntheit und Legitimität. Aber wenn er heute den säkularen Reformer gibt, gibt er dann morgen jemanden, der tief auch in religiösen Sachen verwurzelt ist. Der Opportunismus pakistanischer Spitzenpolitiker ist bei ihm sicher auch noch mal stärker gewesen, und unser Problem ist jetzt, heute einzuschätzen: Wenn er bestimmte bedenkliche und auch dumme Sachen über die Rolle der Religion sagt, wie er das jetzt kürzlich gesagt hat, meint er das so. "Er redet viel, aber das, was er redet, widerspricht sich häufig" Sawicki: Was denn zum Beispiel? Hippler: Na ja, zum Beispiel, dass er bestimmte Gesetzgebungen von der Militärdiktatur Sia Ul Hak, die sehr scharfe religiöse Zwangsmaßnahmen eingerichtet haben, zum Beispiel die Todesstrafe für Gotteslästerung, dazu hat er jetzt kürzlich sich geäußert, dass das irgendwie für ihn ganz in Ordnung wäre. Aber niemand weiß, ob er das tatsächlich ernst meint, oder ob er, der eine Geschichte hat von Playboy im Ausland, ein ziemlicher Lebemann gewesen zu sein, in welchem Maße er noch so funktioniert. Wir wissen einfach relativ wenig. Er redet relativ viel, aber das, was er redet, widerspricht sich häufig. Deswegen kann man sehr schwer projizieren, was er nun wirklich tun wird, wenn er an der Macht ist. Das einzige, was wir konstant bei ihm haben – und das teilt er mit vielen Pakistanern -, ist, dass er ständig sehr massiv gegen Korruption wettert. Das ist aber nun eine Sache, was vom säkularen Bereich bis in den fundamentalistisch-religiösen Bereich eigentlich Konsens ist. Insofern sagt uns das nicht so viel. Sawicki: Kann ich Ihren Worten entnehmen, in denen Sie die schwierige Lage in Pakistan geschildert haben, und dieses widersprüchliche Programm, widersprüchliche Aussagen von Imran Khan dazugestellt haben, dass er nicht der richtige Mann ist, um das Land nach vorne zu bringen? Hippler: Wir können uns ja keinen backen in Pakistan. Das heißt, wir haben keinen richtigen Mann. "Die Alternativen sind wirklich auch nicht so richtig appetitlich" Sawicki: Es gibt keinen anderen, keinen besseren? Hippler: Im Moment erkennt man niemanden, der glaubwürdiger oder besser wäre. Das heißt, die Familie von Nawaz Sharif, der jetzt ja wegen Korruption im Gefängnis ist, und sein Bruder, das ist eine Gruppe, ein Netzwerk von Leuten, von denen jeder Pakistaner Ihnen sagen würde, dass sie bis über beide Ohren korrupt sind. Die Unterstützer bringen zu seiner Verteidigung in der Regel vor, dass er zwar Geld gestohlen hat, aber es im Gegensatz zur Familie Bhutto nicht in die Schweiz gebracht hat oder nach England, sondern in Pakistan investieren würde. Das ist doch besser. – Und die Familie Bhutto, die jetzt von einem sehr jungen, von dem Sohn von Benazir Bhutto geführt wird, aber immer noch die Fäden ein bisschen der Vater Zardari in der Hand hat, der mal Präsident war, dessen Spitzname im Land ist Mr. 15-Prozent, weil er wirklich mindestens wahrscheinlich noch korrupter ist, als Nawaz Sharifs Familie das gewesen ist. Das sind die beiden Gegenpole, die großen. Dann haben wir noch ein kleines islamistisches Bündnis. Die kriegen in Pakistan immer nur zwischen zwei und fünf Prozent, sind keine wirkliche Alternative. Und dann gibt es noch ein paar Regionalparteien. Insofern: Die Alternativen zu ihm sind wirklich auch nicht so richtig appetitlich. Sawicki: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk der Politologe Jochen Hippler zur Parlamentswahl in Pakistan. Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit hatten. Hippler: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jochen Hippler im Gespräch mit Peter Sawicki
Der Wahlsieg von Imran Khan in Pakistan wird von Betrugsvorwürfen überschattet. Der Politologe Jochen Hippler sagte im Dlf, es gebe Anzeichen dafür, dass die Wahl nicht fair gewesen sei. Khan sei dennoch wahrscheinlich der legitime Sieger. Für welche Politik er stehe, sei allerdings unklar.
"2018-07-27T12:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:38.879000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pakistanischer-wahlsieger-imran-khan-saekularer-reformer-100.html
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Freie Wähler verlieren Zugpferd
Mit dem Aufzug geht es in den vierten Stock. München, Maximilianstraße, 1-A-Lage zwischen Bayerischer Staatsoper und dem Nobelhotel "Vier Jahreszeiten". Am Tag nach seinem Rückzug steht Stephan Werhahn leger gekleidet - kariertes Hemd, Anzugshose - in einem Sitzungssaal mit dunkel vertäfelten Wänden und mit Blick auf den Bayerischen Landtag. Mitspielen bei den Großen, das war sein Ziel als Spitzenkandidat der Freien Wähler für die Bundestagswahl. Mit dieser Partei aber sei das nicht möglich: "Die Bundesvereinigung der Freien Wähler ist nicht nur schlecht organisiert, sondern das ist auch ein Minenfeld persönlicher Rachegefühle. Und wenn man da hineingerät als Spitzenkandidat, dann, ja dann wird man zerrissen."Erst vor knapp einem Jahr trat Werhahn den Freien Wählern bei und ließ sich zum Spitzenkandidaten ausrufen. Für die Freien Wähler ein Coup, denn mit dem Enkel von Konrad Adenauer als Zugpferd wollten sie sich bundesweit profilieren. "Die Freien Wähler sind mir begegnet vor einem Jahr als diejenigen, die im Bereich der Euro-Rettungsschirm-Kritik fast alleine dastanden."Euro-Rettungsschirm, Kreditzusagen für die Schuldenländer – Angela Merkels Politik wollte Stephan Werhahn damals in der CDU nicht länger mittragen. Deshalb hat er nun ein atemberaubendes Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel hinter sich. Vor nicht einmal einem Jahr trat der Finanzexperte bei der CDU aus – nach 40 Jahren Mitgliedschaft. Er ging zu den Freien Wählern, wurde dort Spitzenkandidat und ist quasi über Nacht nun wieder in der Union. Für die Freien Wähler hatte er sich vergangenen Sommer entschieden, weil diese die Eurokritik als ihr Thema für die Bundestagswahl entdeckt hatten. "Eine realistische Europapolitik ist eine, die die Tugenden der Menschen, die für den normalen Privatmann gelten – etwa, dass man keine Schulden macht oder die Schulden, wenn man welche hat, wieder abbaut –, dass man die auch im öffentlichen Bereich anwendet."Der 59-Jährige ist Anwalt und Investmentberater. Halt – Investitionsberater, korrigiert er sich selbst. Deshalb sitzt er zum Interview im Münchner Büro einer Investmentfirma, für die er tätig ist. Und er erklärt, warum er sich bei den Freien Wählern nun doch fehl am Platz fühlte. "Insbesondere in den großen, bevölkerungsreichen Bundesländern Baden-Württemberg, NRW und Niedersachsen sind die Freien Wähler sehr schlecht aufgestellt, organisatorisch nicht kampagnenfähig. Dort herrscht wirklich ziemliches Chaos und Inkompetenz. Es ist eben nicht ausreichend für einen Bundestagswahlkampf."Bei einer Bundestagswahl treten die Freien Wähler erstmals an, sonst sind sie vor allem in der Kommunalpolitik daheim und leben überwiegend vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder. Stephan Werhahn muss sich also gefühlt haben wie in einer fremden Welt: Der Spitzenkandidat sollte seine Flüge selbst buchen und bezahlen – und bekam erst auf eigene Initiative hin ein Berliner Büro. Letztlich war die Liaison zwischen ihm und den Freien Wählern wohl ein Missverständnis. Das räumt auch deren Bundesvorsitzender Hubert Aiwanger ein:"Ja ok, vielleicht war ihm nicht bewusst, was wir hier jahrzehntelang ehrenamtlich am Aufbau dieser Organisation gewirkt haben. Und nicht auf Fingerschnippen die Millionen aufm Tisch liegen. Er ist vielleicht andere Zahlen gewohnt aus seiner Tätigkeit bei großen Konzernen. Ich find’s trotzdem schade, dass es am Ende nicht geklappt hat, weil die Ziele verschiedene waren."Der Eindruck drängt sich freilich häufiger auf bei den Freien Wählern: Die einen sind dagegen, überhaupt zu Wahlen auf Bundes- oder Länderebene anzutreten. Die anderen dafür. Eine dritte Gruppe macht Stimmung gegen den Parteivorsitzenden. So fordert der saarländische Landesvorstand dessen Rücktritt mit den Worten: "Hubert muss weg!" Und auch Werhahn ist nicht gut Aiwanger zu sprechen: "Er hat auch dazu beigetragen, dass ich demontiert wurde. Er hat über die Presse dem Spitzenkandidaten Ratschläge erteilt, was er tun sollte. Und das führt eindeutig zu einer Demontage des Spitzenkandidaten – und so kann man keine Wahlen gewinnen."Und in der Tat tendieren die Chancen der Freien Wähler auf einen Einzug in den Bundestag gegen Null. In aktuellen Umfragen dümpeln sie unter fünf Prozent vor sich hin. Doch Kritik deshalb an seinem Führungsstil beeindruckt Aiwanger wenig. "Da können Sie nicht viel dagegen tun. Wir hatten einen Kandidaten, der für den Bundestag kandidieren wollte, zu Hause durchgefallen ist und jetzt natürlich gegen alles und jeden randaliert. Sie können diese Leute nicht aus der Partei schmeißen und ihnen nicht den Computer abstellen."Die Freien Wähler aber haben noch ein anderes Problem: die neue Konkurrenz der Euroskeptiker von der "Alternative für Deutschland", kurz AfD. Eine Partei, die Mitte April offiziell gegründet wird, zu deren Unterstützern etwa der frühere BDI-Chef Hans-Olaf Henkel zählt. Stephan Werhahn wollte, dass die Freien Wähler gemeinsam mit der AfD zur Bundestagswahl antreten, um so die Fünfprozenthürde zu knacken. "Man wäre also mit einer Liste angetreten und hätte dann dadurch die Eurorettungsschirm-kritischen Stimmen gebündelt. So, und das wird nicht erfolgen, weil Herr Aiwanger sich dagegen stemmt."So zerplatzte die Vision von Stephan Werhahn, als Gesicht und Stimme der Eurokritiker in den Bundestag einzuziehen. Diesen Traum will er sich nun bei seiner alten und neuen Partei, der CDU, erfüllen – übrigens im Landesverband Baden-Württemberg:"Ich würde sehr, sehr gern in den Deutschen Bundestag kommen nach Berlin, ich kann mir aber auch eine Aufgabe auf Landesebene vorstellen, oder auf europäischer Ebene etwas zu tun."Der verlorene Sohn kehrt geläutert zurück. Ob der Adenauer-Enkel allerdings als Euroskeptiker in der Merkel-CDU tatsächlich im Aufzug nach oben fährt, ist völlig offen. "Ja, es ist immer noch besser, innerhalb einer großen und stabilen Organisation in einer relativen Minderheit zu sein als in einer Nichtorganisation Spitzenkandidat zu werden, der jeden Tag angeschossen wird."
Von Burkhard Schäfers
Nach 40 Jahren CDU-Mitgliedschaft wollte Stephan Werhahn als Spitzenkandidat der Freien Wähler für die Bundestagswahl endlich bei den Großen mitspielen. Nun ist der Enkel von Konrad Adenauer wieder zur CDU zurückgekehrt - nach nur einem Jahr bei den Freien Wählern, denen er Chaos und Inkompetenz vorwirft.
"2013-04-04T19:15:00+02:00"
"2020-02-01T16:13:28.814000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/freie-waehler-verlieren-zugpferd-100.html
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Erinnerung an Brücken-Einsturz vor fünf Jahren
Am 14. August 2018 war um 11.36 Uhr ein Fahrbahnabschnitt der Stadtautobahnbrücke in Genua, der sogenannten Morandi-Brücke, eingestürzt. (dpa-Bildfunk / ANSA / AP / Luca Zennaro) Beim offiziellen Gedenkgottesdienst mit Erzbischof Tasca wird Verkehrsminister Salvini die Regierung vertreten. Im gesamten Land finden weitere Messen statt. Wie schon in den vergangenen Jahren ertönen zum Zeitpunkt des Unglücks Schiffssirenen im Hafen, dazu läuten die Glocken aller Kirchen der Stadt. Am 14. August 2018 war um 11.36 Uhr ein Fahrbahnabschnitt der Stadtautobahnbrücke in Genua, der sogenannten Morandi-Brücke, eingestürzt. Er riss Autos und Lastwagen mit sich und begrub Dutzende Häuser unter sich. 43 Menschen starben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Rund 600 Personen verloren ihr Zuhause. Während der Bau einer neuen Brücke nur knapp zwei Jahre dauerte, begann der Prozess gegen mögliche Verantwortliche erst vor einem Jahr. Diese Nachricht wurde am 14.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Italien erinnert heute an den Brückeneinsturz in Genua vor fünf Jahren.
"2023-08-14T14:42:41+02:00"
"2023-08-14T06:47:35.505000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erinnerung-an-bruecken-einsturz-vor-fuenf-jahren-102.html
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Britische Sportverbände schlagen Alarm
Beim Spiel zwischen den zwei britischen Erstliga-Rugby-Teams Saracens and Wasps lief Anfang September vor den Augen der beiden Trainer alles nach Plan. Im Amateurbereich will der britische Rugby Verband allerdings mehr als 100 Trainer entlassen. (imago images / Uk Sports Pics Ltd) Während in Deutschland die Zahl der mit dem Coronavirus infizierten Menschen am Mittwoch im Vergleich zum Vortag laut Robert Koch-Institut um 1.769 auf insgesamt 275.927 gestiegen ist, ist die Entwicklung der Fallzahlen in Großbritannien weitaus drastischer. Fast 5.000 neue Corona-Fälle wurden allein gestern vermeldet. Die Regierung um Premierminister Boris Johnson hat daher neue Einschränkungen des öffentlichen Lebens verkündet, von denen auch der Sport unmittelbar betroffen ist. Zwei Maßnahmen sind dabei besonders folgenreich. Einerseits dürfen ab Donnerstag nicht mehr als sechs Personen gleichzeitig in Hallen Sport treiben. Für Teamsportarten wie Handball oder Basketball bedeutet das: Mannschaftstraining ist nur in sehr geringem Maße möglich. Premier League verliert pro Monat 110 Millionen Euro Andererseits wird - entgegen der ursprünglichen Pläne - weiterhin vorerst kein Publikum bei Sportveranstaltungen zugelassen sein. Eigentlich sollte in Großbritannien ab Anfang Oktober zumindest wieder eine begrenzte Anzahl von Fans zugelassen werden. Doch das Programm zur stufenweisen Rückkehr, z.B. in der Premier League, wurde wegen der hohen Infektionszahlen nun erst einmal ausgesetzt. Für die britischen Sportvereine ist das ein Rückschlag, sind sie doch genauso wie Vereine in Deutschland auf Zuschauereinnahmen angewiesen. Einige Experten gehen davon aus, dass die Fußball-Klubs wohl frühestens ab März oder April wieder auf Stadionbesucher hoffen dürfen. Eigenen Angaben zufolge verliert die Premier League im Spielbetrieb mit jedem Monat ohne Zuschauereinnahmen rund 110 Millionen Euro. Und auch in anderen Sportarten ist die Sorge vor finanziellen Existenznöten groß. Offener Brief an Premier Boris Johnson Bereits am Montag haben diverse britische Sportverbände daher einen offenen Brief an Premierminister Boris Johnson geschrieben, in dem sie davor warnen, dass Sportvereine und Fitnessstudios dauerhaft geschlossen bleiben könnten. Ihre Befürchtung: Corona und die Auswirkungen könnten zu einer verlorenen Generation im Sport führen. Die ersten Konsequenzen gibt es schon. So hat der britische Rugby Verband bereits im August angekündigt, mehr als 100 Trainer auf lokaler Ebene zu entlassen. Laut Guardian will auch der englische Fußballverband im Amateur- sowie Nationalmannschaftsbereich Einsparungen tätigen und fast alle Futsal-Teams auflösen. Der Ruf nach staatlichen Hilfen für den Sport wird in diesen Tagen daher immer lauter. Auch deutsche Sportvereine finanziell angeschlagen Die Beratungen darüber haben längst begonnen. Dabei geht es um direkte Zuschüsse, aber auch um Kredite oder Steuererleichterungen. Bis zu 500 Millionen Euro könnten allein in Sportanlagen wie z.B. Schwimmbäder fließen. Auch in Deutschland unterstützt der Bund mit mehreren hundert Millionen Euro die Sanierung von Sportanlagen. Und auch hierzulande sind viele Sportvereine Corona-bedingt finanziell angeschlagen. Der Deutsche Bundestag hat daher einen 200 Millionen Euro schweren Corona-Hilfsfond beschlossen, aus dem professionelle und semiprofessionelle Vereine Hilfen beantragen können – ausgenommen sind die Fußballvereine aus den ersten drei Ligen. Über diesen Fonds sollen besonders die Verluste wegen fehlender Zuschauereinnahmen ausgeglichen werden. Dafür müssen die Klubs nachweisen, wie viele Einnahmen sie durch die staatlichen Einschränkungen verloren haben. Pro Klub können maximal 800.000 Euro ausbezahlt werden. Doch selbst dieser Höchstbetrag dürfte für einige Sportvereine nicht ausreichen. Das zeigt ein Blick auf die Deutsche Eishockey-Liga DEL. Eishockey ist nach dem Fußball in Deutschland die Sportart mit dem höchsten Zuschauerschnitt. Und anders als im Fußball wird das Geld nicht mit lukrativen TV-Rechten verdient, sondern zu 80 Prozent mit Zuschauereinnahmen. Bei einigen Vereinen bewegen sich die Verluste daher bereits jetzt im Millionenbereich, so dass den Klubs laut DEL insgesamt rund 60 Millionen Euro fehlen. "Wir brauchen viel Hilfe, auch fremde Hilfe", sagte DEL-Geschäftsführer Gernot Tripcke heute gegenüber dem Münchner Merkur: "Aus eigener Kraft werden wir dieses Delta nicht schließen können." Seine Forderung: Das Konjunkturpaket des Bundes müsse jetzt festgezurrt werden. DEL-Saisonstart könnte erneut verschoben werden Gelingt das nicht, müsse die kommende Spielzeit wohl zum zweiten Mal verschoben werden. Eigentlich will die Deutsche Eishockey Liga am 13. November in die neue Saison starten. Das Problem: Aktuell dürfen auch im Eishockey nur 20 Prozent der Zuschauer in die Stadien. Deswegen fordern die Vertreter der DEL nun, dass entweder wieder mehr Fans in die Hallen dürften – oder dass die Politik die finanzielle Hilfe erweitert. Zumindest ersteres dürfte bei den aktuellen Infektionszahlen nicht drin sein.
Von Maximilian Rieger
Fast 5.000 neue Corona-Fälle an einem Tag: In Großbritannien hat die Regierung um Premierminister Boris Johnson neue Einschränkungen des öffentlichen Lebens verkündet. Unmittelbar davon betroffen ist wie in Deutschland auch der Sport - mit erheblichen Konsequenzen für Vereine und Verbände.
"2020-09-23T16:44:00+02:00"
"2020-09-24T16:17:29.220000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/folgen-der-corona-einschraenkungen-britische-sportverbaende-100.html
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Bestechend brillant
Auf einer Tafel hat ein Programmierer Elemente eines Algorithmus aufgemalt. (picture alliance / Maximilian Schönherr) Eine 19-jährige Unternehmerin aus Erlangen liebt den Hash-Algorithmus. Wenn sie über ihn spricht, leuchten ihre Augen. Ein Beobachter könnte dagegen überrascht sein: So viel Zuneigung für eine spröde Liste von Rechenvorschriften? Denn genau das sind Algorithmen: Rezepte, aus denen Computerprogramme entstehen. Das Manuskript zur Sendung: "Ich finde den Titel der Sendung äußerst interessant, weil wir eigentlich noch nie in meiner Lebenszeit über Schönheit gesprochen haben, sondern es ging immer um Leistung und Performanz." "Ja, wie ist denn der Titel der Sendung?" Bestechend brillant: Die Schönheit von Algorithmen Von Maximilian Schönherr Oliver Vornberger, Informatikvorlesung an der Universität Osnabrück: "Ja, guten Tag zusammen. Herzlich willkommen in der Informatik. Mein Name ist Oliver Vornberger, und Sie sitzen hier in der Veranstaltung "Algorithmen". Wem das jetzt irgendwie komisch vorkommt, der hat jetzt Gelegenheit, ganz unauffällig über den hinteren Ausgang diese heilige Halle wieder zu verlassen. Okay, das scheint nicht der Fall zu sein." "Algorithmus (auch Algarithmus), abgeleitet von dem Namen des arabischen Mathematikers Mohammed Ben Mufa Alkaresmi, im Mittelalter Rechnung nach dem dekadischen Zahlensystem, auch Bezeichnung für arithmetische Lehrbücher; jetzt so viel wie Rechnungsverfahren überhaupt." (Meyers Konversationslexikon 1890) "Sie kennen schon viele Algorithmen aus dem Alltag. Denken Sie an eine Telefonzelle. Gut, Sie benutzen die nicht mehr. Kurz nach dem Krieg gab es diese gelben Kisten, und da konnte man reingehen, und da war ein Algorithmus beschrieben, und zwar durch Piktogramme, nämlich: Hörer abnehmen, Geld einwerfen, wählen, auflegen. Da war sozusagen eine endlich lange Vorschrift durch Bildchen beschrieben, und derjenige, der telefonieren wollte, musste jeden einzelnen Schritt verstehen. Deswegen ist so eine Anweisung in einer Telefonzelle ein Algorithmus." ... . und kein hässlicher. Er fasst einen ziemlich komplexen Vorgang in wenigen Bildern zusammen, nämlich von der Einleitung eines Telefonats bis zur ordentlich Beendung samt Barzahlung mit Münzen. "Kein Wechselgeld" stand extra vermerkt, war ein lukratives Nebengeschäft der Post und nicht direkt Teil des Algorithmus. Alle Wissenschaftler, mit denen ich für diese Sendung über Algorithmen sprach, mochten Algorithmen. Wie kann man eine Rechenvorschrift mögen, wie kann man sie schön finden? "Wir finden Algorithmen schön, wenn sie eine gewisse Eleganz haben. Ich glaube, das kann man mit einem Phänomen von heute vergleichen: Im Moment gibt es ja überall Videos zu sogenannten Live-Hacks. Ein Live-Hack ist zum Beispiel, wie man ein Ei trennt – mit einer Plastikflasche!" Katharina Anna Zweig, Professorin für Graphentheorie und die Analyse komplexer Netzwerke an der Technischen Universität Kaiserslautern. "Die Algorithmen, die wir schön finden, haben so eine Live-Hacking-Qualität. Das ist aber vielleicht nicht die einzige Dimension von Schönheit von Algorithmen, die man besprechen kann. Es ist nicht nur dieser Live-Hack, dieser Kunstgriff, der ein Problem plötzlich viel leichter macht als es vorher war, sondern es ist auch ihre Wandelfähigkeit. Ich finde, das ist ein hervorragender Aspekt der Schönheit von Algorithmen. Ich habe als Biochemikerin angefangen und mich dafür interessiert, wie Muster zustande kommen: Wie bekommt zum Beispiel ein Embryo Finger? Wieso weiß der Körper, wo oben und unten ist? Wieso sind beide Beine gleich lang?" Diese Fragen bewegen die inzwischen ins Informatik-Lager übergewechselte Naturwissenschaftlerin noch immer. Sie modifizierte einen Algorithmus namens "Statistische Signifikanz der Anzahl gemeinsamer Nachbarn in einem Netzwerk" und nutzte ihn, um große Datenmengen von genetischen Grundbausteinen, den Mikro-RNAs auszuwerten. Ein Ergebnis der Berechnung war, dass es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Mikro-RNAs und einer besonders gefährlichen Brustkrebsvariante gibt. Auf so etwas kommt man nicht, wenn man einfach einen großen Datensatz vor sich hat. Katharina Zweig: "Und mit demselben Algorithmus, mit sehr wenig Modifikation, kann ich Ihnen auch sagen, welches das nächste Buch sein sollte, was Sie lesen werden. Oder ich kann damit herausfinden, welche zwei Nichtmitglieder einer sozialen Netzwerkplattform sich wahrscheinlich kennen. Ich finde es bis heute faszinierend, wie ein und derselbe Algorithmus so unterschiedliche Fragestellungen beantworten kann." Können Algorithmen schön sein? "Ich schlage mal eine Seite mit Pseudocde auf. Also wir haben einen Datensatz, ein kleines Feld, ein Array. Ich schreibe da mal Zahlen hin. 10, 3, 1. ..." Susanne Albers leitet den Lehrstuhl für effiziente Algorithmen an der Technischen Universität München. Sie schreibt acht Zahlen nebeneinander auf ein Blatt Papier und fragt: Wie sortiert man die der Größe nach? Bei so wenigen Zahlen machen wir Menschen das mit links. Wir sehen sofort, die 10 ist die größte, also schieben wir sie ans eine Ende. Eine 9 gibt es nicht, als ist die nächst kleinere die 8, also ziehen wir sie zur 10 rüber usw. Bei 1.000 Zahlen müssten wir lange gucken, um die größten zu finden, und Fehler, weil wir etwas übersehen haben, sind sozusagen vorprogrammiert." Ein Rechenautomat macht solche Fehler nicht. Aber er kann auch nichts mit weichen Aussagen anfangen wie: Guck mal nach der größten Zahl und schiebe sie nach rechts. Wir brauchen ein sehr präzises Rezept, alle Zahlen der Größe nach zu ordnen – einen Algorithmus. Susanne Albers stellt einen der schönsten Algorithmen überhaupt vor, einen Klassiker, er nennt sich "Bubble Sort" und funktioniert so: "Schau dir irgendwo in der Zahlenkolonne zwei beliebige nebeneinander stehende Zahlen an. Wenn die linke größer als die rechte ist, vertausche die beiden. Rechts soll immer die größere Zahl stehen. Dann nimm dir das benachbarte Pärchen vor, ordne wieder nach der Größe." "Man sieht, die größte Zahl in unserem Feld, die 10, wird – Bubble Sort – wie eine Blase nach rechts oben steigen, wie eine Seifenblase. Und jetzt wir die 7 nach oben wandern..." Die Schönheit dieses Algorithmus liegt in seiner Einfachheit. Der Computer muss sich immer nur zwei benachbarte Zahlen ansehen (es können auch Namen im Adressbuch oder die Gewichte von Waren sein), und wenn er das Schritt für Schritt durchzieht, ist er irgendwann einmal fertig, und alle Daten sind geordnet. Wegen dieser Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise heißt das Verfahren "iterativ", es wiederholt sich laufend. Susanne Albers: "Es ist ganz alt, es gehört zu den Wurzeln der Algorithmik. Damit haben die Leute angefangen: einfache Sortierverfahren, einfache Datenstrukturen. Wie sind Daten im Computer zu repräsentieren? Damit hat die Disziplin begonnen." Quicksort - der beliebteste Sortieralgorithmus aller Zeiten Bubble Sort ist unter verschiedenen Namen aufgetaucht, zeitgleich mit den ersten Datenverarbeitungsmaschinen, die damals nichts anderes taten, als lange Listen zu ordnen. Bubble Sort ist robust: Er ordnet alles, was man ihm gibt, fehlerlos; er stürzt, wie man später sagte, auch nicht ab. Aber ziemlich bald beklagten sich die Pioniere der elektronischen Datenverarbeitung: "Bubble Sort braucht sehr lang, bis er das Ergebnis liefert. Wenn wir unsere Adressliste verdoppeln, braucht Bubble Sort viermal so lang. Statt einer Minute vier Minuten. Wenn wir die Liste 100 Mal länger machen, braucht er 10.000 Mal länger. Statt einer Minute 10.000 Minuten, das sind sieben Tage! Inakzeptabel." Der wunderschön einfache Bubble-Sortierungsalgorithmus war damit nicht mehr so schön. Er "skaliert schlecht", wie die Mathematiker sagen. Katharina Zweig räumt zur Demonstration ihr Buchregal neu ein: "Uns interessiert, wenn ich das Problem ein bisschen größer mache, wenn ich bei meinem Umzug zum Beispiel ein Buch mehr sortieren möchte, wie viel länger dauert das Problem dann? Wenn ich zum Beispiel ein weiteres Buch dazu nehme und nicht 100, sondern 101 Bücher sortiere, dann ist der Mehraufwand sehr gering. Und dann gibt es andere Probleme, da nehme ich nur eine einzige Einheit dazu, und plötzlich brauche ich doppelt so lange. Wenn ich meine Bücher sortiere, indem ich einmal das Buchregal umkippe und dann die Bücher wieder in der Reihenfolge reintue, dann ist das ein einfacher Algorithmus. Den kann ich in drei, vier, fünf Zeilen beschreiben und jedem Hörer vermitteln. Elegant ist der nicht. schön ist der nicht. Der schönste Sortieralgorithmus ist vielleicht "Quicksort". Und da brauche ich 90 oder 120 Minuten, um meinen Studierenden den zu erklären, und er braucht auch deutlich mehr Zeilen. Trotzdem ist das der schönere Algorithmus." Quicksort ist der beliebteste Sortieralgorithmus aller Zeiten – und auch heute noch. Erfunden hat ihn 1962 der britische Informatiker Tony Hoare. Quicksort, englisch für "schnell ordnen" guckt sich nicht wie Bubble Sort Nachbarn der ungeordneten Daten an, sondern zieht ziemlich beliebig eine Trennlinie, einen Splitter. Und der raffinierte Gedanke von Quicksort ist, alle größeren Zahlen rechts von dem Splitter zu schmeißen, alle kleineren nach links. Und dann macht man das Gleiche innerhalb des rechten und des linken Bereichs: Man zieht wieder neue Linien. Am Schluss ist alles fein geordnet, der Algorithmus hat seinen Job erledigt. Wenn ein Algorithmus sich immer wieder selbst aufruft, spricht der Mathematiker von... "... rekursiv. Man wendet dasselbe Verfahren rekursiv auf das linke Teilproblem an und rekursiv auf das rechte Teilproblem. Ich würde hier wieder einen Splitter nehmen, sagen wir einmal die 3..." "Wer entscheidet, welche Zahl Sie nehmen?" "Super Frage. Es klingt fast so, als hätten wir uns abgesprochen, es ist aber gar nicht so. Es gibt mehrere Möglichkeiten: Wir könnten sagen, wir nehmen immer das letzte oder das erste Element." "Das ist von der Performanz nicht unbedingt das Beste, oder?" "Nein, das würde auch wieder auf eine quadratische Laufzeit hinauslaufen. Wenn wir n Datensätze haben, dann würde die Laufzeit proportional zu n2 laufen. Wir könnten bei dem Splitter-Element sagen, es soll nicht immer das letzte sein, sondern wir ziehen es zufällig. Es gibt eine wunderbare Laufzeit, die proportional ist zu n * log (n). Das ist deutlich besser als n2, und man kann zeigen, es ist "asymptotisch optimal". "Die Algorithmik geht auch immer hin und fragt für ein gegebenes Problem: Was ist eigentlich machbar? Wo sind die Grenzen? Wir wollen nicht nur gucken, geht es gut; das ist natürlich auch der Anspruch. Der Mensch möchte immer wissen: Geht's nicht noch besser? Wo sind die Grenzen?" "Und da kann man sogar zeigen, diese Laufzeit n * log (n) ist das Best Mögliche. Und dieser Quicksort, genauer: der randomisierte Quicksort holt asymptotisch die beste Laufzeit. Ist überraschend, ist aber so." Quicksort von Sir Charles Antony Richard Hoare wurde über die Jahre verbessert, aber im Kern besteht er aus nur sechs Zeilen Pseudocode: funktion quicksort(links, rechts) falls links < rechts dann teile(links, rechts) mach wieder quicksort, diesmal (links, teiler-1) und jetzt (teiler+1, rechts) ende Wir hören algorithmische Musik. Die Töne spielt der Computer automatisch nach der fast 1.000 Jahre alten sogenannten Fibonacci-Folge. Der Algorithmus erzeugt Zahlen, die der Rechner in Töne umsetzt. "Die erste und zweite Zahl sind 1 und 1" "Jede beliebig spätere Zahl ist die Summe aus ihren beiden Vorgängerzahlen." Vor meinem Fenster werden gerade Bäume gefällt, mit elektrischen Sägen. Das Interessante an diesem Verfahren ist, dass es einem strengen Algorithmus folgt. Man sägt ja eine Hecke und einen Baum nach bestimmten Regeln ab, damit der Baum in die richtige Richtung fällt und die Hecke von außen kleiner wird usw. Ein typischer Algorithmus. Und jetzt begebe ich mich zu meinem Bildschirm, und da sehe ich vor mir "The Algorithm Auction – the world's first auction celebrating the art of code." Also: Die Algorithmus-Auktion, die erste, die die Kunst am Code zelebriert. Wir sehen sieben Algorithmen, die man als Bilder ersteigern kann. Skizzen von Algorithmen, erste Computerausdrucke von Algorithmen. Das höchste Gebot mit 7.500 Dollar und bislang 14 Geboten ist für "Hello World" von Brian Cernigan. Cernigan hat 1978 vielleicht als erster "Hello World" als Beispiel für einen Computercode, für einen Algorithmus, der die Worte "Hello World" auf den Bildschirm zaubert, erfunden. Das ist tatsächlich ein handschriftlich von Cernigan auf Lochpapier geschriebener Code, in einer Zeile. Print f ("Hello, World \n"); in einem schwarzen Rahmen. The Algorithm Auction. "Mein Name ist Aya Jaff. Ich bin 19 Jahre alt und studiere Wirtschaftsinformatik an der FHU Nürnberg. Ich habe verschiedene Jobs." Aya Jaff gehört zu den erfolgreichsten jungen IT-Unternehmern in Europa. Im Rahmen eines Stipendiums für "Women Who Code" (Frauen, die Code entwickeln) bereiste sie im Sommer 2015 das Silicon Valley und stieg als Software-Spezialistin in ein Unternehmen für Höchstgeschwindigkeitstransport ein. Angefangen hat ihr Erfolg mit der Entwicklung von Tradity, einem Börsenspiel, das unter anderem den Umgang mit der Währung Bitcoin lehrt. Aya Jaff liebt Algorithmen. Ihr absoluter Favorit heißt Hash. Hash erzeugt unter anderem die Bitcoin-Münzen. Sie findet dieses Verfahren deswegen schön, weil es mit einer erstaunlich einfachen Grundidee die IT-Welt der letzten Jahre umgewälzt hat. Keine Verschlüsselung kommt heute um den "Hash-Algorithmus" herum. "Und zwar kann man sich vorstellen, wir haben einen Eingangstext wie zum Beispiel eine Zahlenfolge aus 1, 2 und 3. Wir versuchen jetzt, die Hash-Funktion "Quersumme" herauszubekommen. Die Quersumme ist natürlich die Addition von den Zahlen: 1 + 2 + 3. Der Hash-Wert ist 6. Wenn man jetzt aber von dem Hash-Wert 6 auf die drei Zahlen kommen will, die diesen Hash-Wert gebildet haben, kann man das nicht. Das sind drei Variablen, das heißt, man müsste eine Gleichung wie 6 = x + y + z aufstellen, drei Variable, mathematisch unmöglich zu lösen. Es könnte ja 6 + 0 + 0 sein oder 1 + 1 + 4 oder so. Das ist jetzt nur irgendeine Hash-Funktion. Diese Hash-Funktion heißt "Quersumme", das heißt, es wird von einem verlangt, das alles zu addieren. Aber es gibt natürlich andere, kompliziertere [Funktionen]. Und das interessante dabei ist, dass es jede beliebige Funktion sein kann. Wichtig ist nur, dass sie dem Rezipienten und dem, der die Hash-Funktion produziert hat, bekannt ist. Das ist wie ein Schlüssel. Man macht eine Tür auf, die Tür weiß, das ist der richtige Schlüssel, und man selbst weiß auch, der Schlüssel ist für dieses Schloss geschaffen. Das ist die Hash-Funktion." Der Hash-Algorithmus ist nicht neu. Man entdeckt nur immer neue Funktionen für ihn. Vermutlich sind die meist eingesetzten Algorithmen heutzutage Hash. Fast immer wenn wir im Internet surfen und Daten übertragen, ist Hash im Spiel, weil er von jedem Datenpaket eine abgesicherte Prüfsumme bildet, die der Empfänger quittiert – quasi ..." "Okay, das Datenpaket kam komplett rüber, das nächste bitte." Hash entwickelt sich also weiter, es werden immer neue Funktionen dafür ersonnen. Die meisten scheitern, weil sie das Problem zu langsam abarbeiten. Sind sie damit hässlich? Gibt es überhaupt hässliche Algorithmen? "Also, ich könnte keinen hässlichen Algorithmus hinschreiben, könnte aber vielleicht auf etwas verweisen. Es gibt Optimierungsprobleme, und die sind sogar sehr vielfältig, wenn es um praktische Anwendungen geht, die, wie man sagt, in der Komplexitätstheorie "np-hart" sind. Das heißt, man kennt keine schnellen Polynomialzeit-Algorithmen für diese." Susanne Albers. Als Beispiel nennt die Leiterin des Algorithmus-Lehrstuhls der Technischen Universität München den Spediteur, der alle Orte abfahren muss, auf möglichst kurzer Strecke in möglichst kurzer Zeit. Das ist doch trivial, denkt man. Keineswegs, sagen die Mathematiker, denn es ist "np-hart", es ist eben nicht einfach zu lösen. Außerdem skaliert es miserabel: Wenn nur eine Stadt hinzu kommt, schießt die Rechenzeit in die Höhe. Susanne Albers: "Eigentlich ist das hässlich. Es wäre toll, wenn man die Frage klären könnte, ob es für diese Klasse von Problemen nur diese 'hässlichen' Exponentialzeitalgorithmen gibt, oder eben auch schöne polynomielle. Aber das ist das im Moment härteste Problem, das im Moment für die Algorithmik und die Komplexitätstheorie im Universum schwirrt. Und ich bin auch nicht sicher, ob ich in meiner Lebenszeit die Antwort darauf erleben würde. Das wäre ein riesen Durchbruch." Was wäre, wenn man eines Nachts erwacht und einen solchen eleganten Algorithmus findet? Katharina Zweig: "Pro Jahr gibt es so fünf bis zehn ernst zu nehmende Versuche, dieses Problem zu lösen. Wenn mir das gelingen würde, dann hätte ich erst einmal dieses Preisgeld von einer Million Dollar." Die Nachfrage nach neuen Algorithmen ist enorm Eine Million Dollar verdiente sich ein Team von Programmierern beim Preis des Internet-Filmportals Netflix. Sie fanden einen Algorithmus, der sich die großen Datenmengen ansieht, wie sie bei Filmbewertungen anfallen: Millionen von Kunden sehen ja Tausende von Filmen und geben ihnen gern Noten. Der "kollaborative Filteralgorithmus" kann jetzt sehr verlässlich voraussagen, wie ein neuer Film bewertet werden wird, ohne dass der Algorithmus ihn kennt." Ein 2015 verliehener hoch dotierter Medizinpreis ging an Programmierer, die sich mit der Behandlung von Wunden bei Patienten durch zu lange Bettlägerigkeit beschäftigen: Mit sogenannten Support Surface (Flächenstütz)-Algorithmen kann man jetzt herausfinden, wie man bei bestimmten Wunden oder Knochenverletzungen Betten und Unterlagen optimal für den individuellen Patienten konstruiert. Die Nachfrage nach neuen Algorithmen ist enorm. Informatiker mit kreativen Ideen sind gesucht. Ein Beispiel ist die Autoindustrie. In modernen Pkw strömen immer mehr Daten über immer mehr Sensoren in den Bordcomputer ein. Wie geht der damit um? Tobias Glasmachers vom Institut für Neuroinformatik der Universität Bochum erforscht solche "Big Data Algorithmen" – und er leidet darunter, dass es keine richtig guten gibt. "In der Informatik gucken wir uns Laufzeiten von Algorithmen an. Und aus dieser Sicht bekommen wir tatsächlich Probleme, zumindest mit vielen Standardalgorithmen, die es heute gibt. Ich habe also keine Angst, in den nächsten Jahren arbeitslos zu werden." "Sind solche Algorithmen teuer? Kann ich sie kaufen?" "Ich glaube nicht, dass Sie besonders viele dieser Algorithmen überhaupt kaufen können oder kaufen müssen. Es ist vielmehr so, dass die meisten Algorithmen, die breit verwendet werden, als Open Source-Software verfügbar sind." Die Schönheit spielte nie eine Rolle bei der Wahl des Algorithmus. Aber wenn er mit einer feinen Idee gut funktioniert, schwärmt jeder Informatiker von seiner Eleganz und seiner Schönheit. Die Einfachheit des alten Bubble-Sort-Algorithmus hinderte niemanden daran, den mindestens so eleganten Quick Sort einzusetzen. Die Triebkraft war der Markt. Wir leben gerade in einer Periode, wo Rechenleistung und Speicher billig sind. Also kommt man auf Ideen, die man früher nicht hatte, und merkt in vielen Fällen: Selbst 1.000 Computer kommen mit den vielen Daten, die man jetzt analysieren möchte, nicht zurecht. Dann steigt die Sehnsucht nach neuen Algorithmen, die viel effektiver rechnen, die sich auch auf mehrere Maschinen verteilen. Gute Ideen für solche Rechenrezepte sind der Motor der modernen Informationstechnik. Nicht mehr tolle Rohstoffe und präzise Maschinen treiben die Industrie an, sondern die Ideen, die zu Software führen. In wenigen Jahren, wenn die autonomen Autos auf den Autobahnen herumfahren, wird nicht der Hersteller die meisten Fahrzeuge verkaufen, der den besten Motor und die besten Verbundfasern verbaut, sondern der den verlässlichsten Algorithmus für das selbstständige Steuern entwickelt hat – eben das sicherste Auto liefert. Und er wird dieses Rezept geheim halten. Sein Algorithmus ist sein Kapital. Er wird nicht einmal versuchen, es zu patentieren – falls das überhaupt möglich wäre. Wäre es möglich? Katharina Zweig: "In Deutschland ist die Patentierung eines reinen Algorithmus nicht möglich. Es ist nur möglich, dass ein Chip, der eine bestimmte Implementierung dieses Algorithmus hat, patentiert wird. In Amerika ist die Situation anders. Da können reine Berechnungs- und Lösungsideen als Algorithmus patentiert werden. Das heißt, wir haben da einfach unterschiedliche Rechtslagen, und eine Firma, die sich nicht ruinieren will, wird natürlich einen Algorithmus erst einmal nicht einsetzen, der in irgend einem anderen Land patentiert ist. Auf Dauer brauchen wir da sicherlich eine gesellschaftliche Diskussion, was wir da wollen." "Nein, ein Wissenschaftler lässt nichts patentieren. Das passt jetzt nicht mehr in die Zeit, das weiß ich sehr wohl." Frieder Nake, Pionier der Computerkunst und heute emeritierter Professor der Informatik in Bremen. Nake hat in den 1960er Jahren ein Buch über die "Ästhetik von Algorithmen" geschrieben. Für ihn passt der aktuelle Patentierungsdrang in sein Bild einer von Wirtschaftsinteressen getriebenen Informatik. "Ich habe eine Doktoranden, der macht etwas Verrücktes mit Musik, Musik, die kein Mensch hören will. Und der hat mich neulich gefragt, ja, das will er jetzt patentieren lassen. Ich dachte, bist du denn verrückt geworden? Der Tradition des Wissenschaftlers, glaube ich, läuft das zuwider, dass das, was man wissenschaftlich macht, zu einem Patent und damit zu irgendwelchen Geldforderungen führt. Das ist eigentlich unmoralisch." Patente behindern die Entwicklung. Ein Beispiel ist der Resonator. Er beschreibt auf elegante Weise einen Rechenweg für bestimmte Sounds. Man kann mit ihm ermitteln, welche Geräusche entstehen, wenn man ein Objekt zum Schwingen anregt, etwa eine fünf Kilometer lange Trompete. Diese vielversprechende Disziplin der Musikinformatik heißt "physikalisches Modellieren". Egbert Jürgens: "Das physikalische Modellieren ist leider ziemlich zum Stillstand gekommen, weil es Patente gibt auf dem Gebiet." Egbert Jürgens, Entwickler bei der Berliner Musiksoftware-Firma Native Instruments. "Diese Patente laufen jetzt langsam aus, aber sie haben 20 Jahre lang die Entwicklung blockiert. Es ist eine Art Resonator, da wird Energie hineingesteckt und Energie reflektiert und erzeugt dadurch eine Schwingung. Mit diesem Resonator können Sie verschiedenste Instrumente nachbauen. Sie können sogar eine Saite damit modellieren, aber auch alle Blasinstrumente beispielsweise. Es ist trotzdem nur ein sehr, sehr einfaches Verfahren. Sie brauchen dazu nur wenige Zeilen Code. Es erscheint einem ziemlich trivial. Vor 20 Jahren war es nicht ganz so trivial. Trotzdem würde ich sagen, es wäre besser, es hätte das Patent nicht gegeben." "Amerikanisches Patent?" "Amerikanisches Patent." "Das kann jeder lesen?" "Richtig. Es gibt zum Glück jetzt die ersten Patente, die auslaufen. Im Laufe der nächsten fünf bis zehn Jahre werden die meisten davon auslaufen." "Der Algorithmus kann in jeder beliebigen, dem Menschen zugänglichen Form beschrieben werden, zum Beispiel auch gezeichnet, halb gezeichnet, skizziert, getanzt oder sonst etwas werden." Nur gekocht darf mit Algorithmen nicht werden, meint Frieder Nake. Obwohl Kochrezepte doch wie Rechenvorschriften aussehen. "Das sind keine Algorithmen! Die werden ja von der Mehrheit der Informatikprofessoren, die die Einführungsveranstaltung machen, als Beispiele genommen, weil sie so alltäglich sind – wobei die meisten Studenten, denen das erzählt wird, nie gekocht haben, vermute ich." "Und köchle al dente". "Schmecke ab mit einer Prise Salz." "Nein, es ist nicht algorithmisch! Das Kochen ist nicht algorithmisch. Wir haben viele Rückzugsbereiche, die man auch verteidigen muss, wo der Computer nicht brauchbar ist. Und insofern ist es eine hundsgemeine Ideologie, die zeigt, wofür die da sind: Nicht das algorithmische Denken in aller Radikalität den Studierenden nahezubringen, sondern die kleinbürgerliche Ideologie. Das ist jetzt ein bisschen großer Klotz, ich meine es aber schon ernst so." Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015
Von Maximilian Schönherr
Algorithmen sind Rezepte, aus denen Computerprogramme entstehen. Es gibt keine Software ohne Algorithmen. Je eleganter ein Algorithmus ist, desto weniger Rechenpower benötigt er, um zum Ziel zu kommen. Algorithmen können allerdings teuer sein - und die Nachfrage zur Lösung neuer und alter Probleme ist riesig.
"2016-01-10T16:30:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:01.012000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-schoenheit-der-algorithmen-bestechend-brillant-100.html
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Der Mensch in bester Gesellschaft
Westerhaus, Christine
Lange dachten Biologen, Bakterien dominierten die Welt der Mikroorganismen in uns. Doch nun zeichnet sich ab: Auch die dortigen Pilze steuern unsere Gesundheit, unser Denken und Fühlen. (Wiederholung vom 6. Juni 2022)
"2023-05-28T16:30:00+02:00"
"2022-06-03T10:58:14.017000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pilzmikrobenfilz-der-mensch-in-bester-gesellschaft-1-2-dlf-f715a74c-100.html
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Wie Chinas Regierung Hongkong umbaut
Flaggen von China und Hongkong erinnern an die Rückgabe Hongkongs an China vor 25 Jahren. (AFP/Daniel Suen) Eine kleine Einkaufsstraße im Hongkonger Stadtteil Wan Chai. Neben Gemüse- und Obstständen gibt es Schuhverkäufer und Spielwarenläden. Menschen drängen sich dicht an dicht. Eine typische, zeitlose Hongkonger Szene, könnte man meinen. Doch die Zeit in der Stadt steht nicht still. Gerade in den vergangenen Jahren hat sich viel verändert. Seit 1997 gehört die ehemalige britische Kolonie nun schon zur Volksrepublik. Für viele in Hongkong ist der 25. Jahrestag der Übergabe allerdings kein Grund zu feiern. "Man muss sehr vorsichtig sein, bei dem was man sagt" "Ich will nichts feiern; ich mache mir eher Sorgen. In den letzten Jahren hat es viele Veränderungen gegeben. Wir haben jetzt weniger Freiheiten. Und man muss sehr vorsichtig sein, bei dem was man sagt.““Hongkong hat heute keine Autonomie mehr. Die Regierung in Peking bestimmt alles - das ist die Realität. Verglichen mit der Zeit vor der Übergabe 1997 ist es heute schlimmer. Vor allem was die Meinungsfreiheit angeht, das hat sich in den letzten zwei Jahren drastisch verschlechtert.” Marko Martin: "Die letzten Tage von Hongkong"Abschied von einer Insel der Freiheit 12:43 Minuten03.12.2021 Chinas Machthunger (1/2)Als nächstes Taiwan? Chinas Machthunger (2/2)Als nächstes Taiwan? Rückblick: Am 1. Juli 1997 geht Hongkong an die Volksrepublik China. Bei der Übergabe-Zeremonie in der Nacht zuvor wird die Flagge der ehemaligen Kolonialmacht eingeholt, die britische Union Flag. Nach der britischen Hymne wird die chinesische gespielt. Und es wird die Flagge der Volksrepublik gehisst. Hongkongs kapitalistisches Wirtschaftssystem sollte erhalten bleiben Doch Hongkong soll nicht einfach über Nacht eine ganz normale chinesische Stadt werden. Seit den 1980er-Jahren haben Großbritannien und die Volksrepublik über Jahre hinweg verhandelt. Herausgekommen ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag, die sogenannte Joint Declaration, hinterlegt bei den Vereinten Nationen. In diesem Vertrag werden den Menschen in Hongkong weitgehende Rechte eingeräumt. Für 50 Jahre sollen sie ihre Art zu leben beibehalten dürfen. Hongkong soll autonom regiert werden, als sogenannte chinesische Sonderverwaltungsregion. Unter dem Begriff „Ein Land, zwei Systeme“ sollte Hongkongs kapitalistisches Wirtschaftssystem erhalten bleiben. Aber auch Grundrechte, wie sie die Menschen bereits in den letzten Jahren der britischen Kolonialzeit genossen haben, wurden garantiert: Pressefreiheit, Religionsfreiheit, das Recht zu demonstrieren, Meinungsfreiheit, Rechtstaatlichkeit. Außerdem wurden den Menschen in Hongkong teil-demokratische Elemente eingeräumt. All das gab und gibt es in Festlandchina nicht. Deshalb wurde es damals in einer Art Verfassung festgehalten, dem sogenannten Basic Law. 25 Jahre Übergabe Hongkongs an China Keine Feierstimmung 25 Jahre Übergabe Hongkongs an China Keine Feierstimmung In Hongkong gebe es keinen Grund zu feiern, sagt die Sinologin Kristin Shi-Kupfer zum 25. Jahrestag der Übergabe Hongkongs an China. Es sei ein trauriger Tag. Vor einem Vierteljahrhundert erlebte sie selbst noch die Aufbruchstimmung in der Stadt mit. Kaum Zuversicht mehr in Hongkong Der damalige chinesische Staats- und Parteichef Jiang Zemin versprach bei der Übergabezeremonie, sich an die Verträge zu halten und die Abmachung „Ein Land, zwei Systeme“ prompt umzusetzen. Hongkong solle von Hongkongern regiert werden, es werde viel Autonomie geben. Die Menschen sollten ihr gesellschaftliches und wirtschaftliches System sowie ihre Art zu leben beibehalten dürfen, so Jiang Zemin. Von der damaligen Zuversicht ist heute wenig übrig. Was in den ersten Jahren nach der Übergabe gut funktioniert hat, ist von der kommunistischen Zentralregierung in Peking unter Staats- und Parteichef Xi Jinping immer weiter ausgehöhlt worden. Zum Beispiel ist von den damals verabredeten Grundrechten 25 Jahre später kaum noch was übrig. Hongkongs einst so lebendige Zivilgesellschaft ist zerschlagen. Der Politologe Jean-Pierre Cabestan von der Hongkonger Baptist University spitzt es zu: „Es kam zu einer Art Showdown zwischen der Hongkonger Regierung sowie der Zentralregierung in Peking auf der einen Seite. Und der Hongkonger Gesellschaft auf der anderen. Darüber, wie Hongkongs politische Zukunft aussehen soll. Und dieser Showdown endete mit der Unterdrückung der Protestbewegung 2019 und der Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes Ende Juni 2020.“ Pressekonferenz in London. Chris Patten, der letzte britische Gouverneur Hongkongs, stellt sein neues Buch, „The Hong Kong Diaries“, „Die Hongkong-Tagebücher“ vor. Patten sagt, dass sich die Dinge in Hongkong viel schlechter entwickelt haben als er das erwartet hatte: „Ich habe nie einen Sinn darin gesehen, das Schlimmste zu erwarten. Man muss das Beste beabsichtigen und versuchen, alles zu tun, um das zu schützen. Und um fair zu sein: Auch wenn nichts perfekt lief nach 1997 […], blieb Hongkong doch etwa zwölf Jahre lang weitgehend das, was es war und blieb eine respektable, offene, freie Gesellschaft. Die Veränderung kam, als Xi Jinping 2013/14 Diktator wurde.“    Hätten die Briten mehr tun können? Patten zeigt sich auch der eigenen britischen Kolonialadministration gegenüber durchaus kritisch. Die Frage, ob die Briten vor 1997 noch mehr für die Hongkonger hätten tun können, beantwortet er mit „ja“: „Wir hätten etwas mehr tun können, um die Demokratisierung in Hongkong zu beschleunigen, wir hätten früher handeln können. Aber wir hatten immer das Problem, dass die Chinesen zu uns gesagt haben: ‚Wenn ihr noch mehr für die demokratische Entwicklung in Hongkong tut, dann werden die Leute glauben, dass Hongkong früher oder später unabhängig wird, wie andere Kolonien, wie Singapur oder Malaysia. Aber das wird nicht passieren, denn die Bedingungen sind, dass ihr Hongkong an China übergeben müsst.‘ Insofern gab es von chinesischer Seite immer Widerstand, und um ehrlich zu sein, glaube ich, dass wir das manchmal als Argument genommen haben, um nicht so schnell und so weit zu gehen, wie wir es hätten tun sollen.“ Versäumnisse vor der Übergabe Hongkongs Auch Prof. Tsang sieht Versäumnisse bei den Briten. Der gebürtige Hongkonger leitet das China-Institut an der Londoner SOAS Universität. Es ist eines der weltweit führenden Institute mit China-Expertise: Nein, Großbritannien habe nicht genug getan, sagt Tsang. Die Joint Declaration nimmt er aber aus. Was die Aushandlung dieser chinesisch-britischen Erklärung angeht, sei nicht mehr herauszuholen gewesen, glaubt er. Großbritannien habe die Wahl gehabt, entweder zu verhandeln und Kompromisse zu machen oder Hongkongs Zukunft von vornherein China zu überlassen. Versäumnisse sieht Prof. Tsang, ähnlich wie Chris Patten, eher in den Jahrzehnten vor der Übergabe Hongkongs: „Die Ironie war, dass die britische Kolonialadministration in Hongkong in den letzten zwei Jahrzehnten der britischen Herrschaft in der Öffentlichkeit eine außergewöhnlich hohe Anerkennung genoss. Das hat der Administration den Spielraum gegeben, die Demokratisierung nicht weiter voranzutreiben. Sie hätte mehr machen können, und ich würde sagen, mehr machen sollen, um die Demokratie in Hongkong zu verankern. Das hätte die Kommunistische Partei unter Xi Jinping zwar wohl nicht davon abgehalten, die Rechte der Hongkonger einzuschränken, aber es hätte den Hongkongern eine bessere Chance gegeben, für ihre Rechte einzutreten, und es wäre noch offensichtlicher, dass die chinesische Regierung die Demokratisierung nicht nur aufhalten, sondern zurückdrängen will.“  NGOs und Aktivisten unter Druck Kaum noch Freiräume für Hongkongs Zivilgesellschaft NGOs und Aktivisten unter Druck Kaum noch Freiräume für Hongkongs Zivilgesellschaft In Hongkong geben immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Arbeit auf. "Wir haben nicht mehr viele Freiräume, um offen zu protestieren und uns offen zu äußern", sagt ein Meinungsforscher. Doch einige junge Aktivistinnen und Aktivisten kämpfen weiter für eine demokratische Zukunft Hongkongs. Aufnahmen der Nachrichtenagentur AFP vom 29. Dezember vergangenen Jahres: Eine Polizei-Razzia in den Büroräumen des regierungskritischen Online-Portals Stand News. Polizisten führen Mitarbeiter ab, andere tragen Kisten mit beschlagnahmtem Material aus dem Gebäude. Es ist der letzte Tag von Stand News, einem der wenigen noch übrig gebliebenen pro-demokratischen Online-Portale in Hongkong. Es muss schließen. Das Online-Portal habe gegen das äußerst vage formulierte Nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong verstoßen.Die Journalistinnen und Journalisten sollen Teil einer Verschwörung gewesen sein, mit dem Ziel umstürzlerische Artikel zu veröffentlichen. Ein halbes Jahr vor Stand News musste bereits die größte regierungskritische Zeitung Hongkongs schließen: Apple Daily. Zeitungsgründer Jimmy Lai saß zu dem Zeitpunkt bereits im Gefängnis. Die Vorwürfe gegen Jimmy Lai und Apple Daily lauten ähnlich wie die gegen Stand News. Cedric Alviani leitet das Ostasienbüro der nichtstaatlichen Organisation „Reporter ohne Grenzen“ mit Sitz in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh: „Jetzt hat die Regierung in Hongkong damit begonnen, das berüchtigte Nationale Sicherheitsgesetz auch gegen Medien anzuwenden. Derzeit sitzen in Hongkong zwölf Journalisten und Verteidiger der Pressefreiheit im Gefängnis. Und die Schließungen der Angebote von Apple Daily und Stand News hatte auch Auswirkungen auf andere Medien, die sich aus eigenem Antrieb aufgelöst haben, weil sie Angst hatten, dass ihnen das gleiche Schicksal widerfährt wie Apple Daily und Stand News.“ Kaum Möglichkeiten für freie Berichterstattung Ehemalige Journalisten von Apple Daily, Stand News und anderen kritischen Medien, arbeiten inzwischen für linientreue Medien, haben das Land verlassen oder fahren Taxi. Der frühere Stand News-Journalist Lam Yin Bong wollte das nicht. Er hat seinen eigenen kritischen Online-Kanal gestartet. Re-News hat inzwischen fast 30.000 Follower auf Instagram. Angst habe er keine, sagt er. Auch nicht davor, dass ihm das Geld ausgeht. „Ich nutze mein Erspartes. Ich will nicht pessimistisch klingen, aber ich denke eh nicht, dass ich das besonders lange durchziehen kann. Ich glaube nicht, dass ich Ende des Jahres noch frei berichten kann. Das heißt, ich erwarte, dass ich entweder festgenommen werde oder dass meine Webseite in einem halben Jahr dicht gemacht wird.“ Wie Hohn wirkt da die Aussage der scheidenden Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam vom 10. Juni dieses Jahres. In einem Interview mit dem US-TV-Sender CNBC sagte sie, Hongkong sei so frei wie immer. Dass sich die Dinge unter ihrem Nachfolger John Lee wieder entspannen, ist nicht zu erwarten. Der 64-jährige tritt am 1. Juli die Nachfolge von Carrie Lam an. Er wurde Anfang Mai zum neuen Regierungschef bestimmt – von einem nicht-demokratisch legitimierten Wahlgremium, das von der Zentralregierung in Peking kontrolliert wird. Gegenkandidaten gab es keine. John Lee war als ehemaliger Sicherheitschef von Hongkong für die harten Polizeieinsätze gegen Demonstrierende im Jahr 2019 verantwortlich. Außerdem hat er an der Umsetzung des von der Staats- und Parteiführung beschlossenen Sicherheitsgesetzes mitgewirkt. Hongkongs neuer Regierungschef John Lee und seine Frau Janet. Er wurde von einem Wahlausschuss bestimmt und war der einzige Kandidat für das Amt. (AFP) Treffen mit Tommy Cheung im Hongkonger Parlamentsgebäude. Der 72-jährige ist Vorsitzender der Liberalen Partei, einer konservativen, wirtschaftsnahen Partei aus dem pro-Peking Lager. Echte Oppositionsparteien gibt es inzwischen keine mehr im Parlament, dem Legislative Council, kurz LegCo. Tommy Cheung ist zufrieden mit der aktuellen Entwicklung in Hongkong. Das vor der Übergabe angedachte Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ funktioniere sehr gut. Hongkong müsse zur Ruhe kommen, damit die Wirtschaft wieder wachsen könne, so der pekingtreue Politiker. Die jüngsten politischen Reformen, beispielsweise wie der Regierungschef oder das Parlament gewählt werden, helfen seiner Ansicht nach dabei. “All these changes we are doing, including how we elect our Chief Executive, the legislative council, this will actually put politics off the charts of meddling with Hong Kong’s economics.” Schmerzhafte Erinnerungen an 2019 „Bricks on the road“, „Ziegelsteine auf der Straße“ – so hieß Mitte Juni eine Ausstellung in London, die an die Massenproteste in Hongkong 2019 erinnerte. Dorothee, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern die Ausstellung besuchte, war 2019 bei den Protesten dabei: „Das erinnert mich sehr an das, was vor drei Jahren in Hongkong passiert ist. Ich glaube, dass das ein Meilenstein in der Geschichte Hongkongs war und für das Ansehen der Hongkonger, die erkennen, was Chinas Kommunistische Partei Hongkong angetan hat.“ Schlagstöcke, Wasserwerfer, Regenschirme, Gasmasken: Fotos und Acrylbilder zeigen Szenen der Straßenschlachten von 2019, auf i-pads sind Filmaufnahmen der Proste zu sehen. Viele Exil-Hongkonger stehen wie gebannt vor den Exponaten, schmerzliche Erinnerungen werden wach. Einige Frauen weinen. Eine Ausstellung wie diese würden ihre Kinder in Hongkong nicht zu sehen bekommen, sagt Dorothee. Wegen der Kinder hätten sie und ihr Mann sich dann auch entschlossen, auszuwandern. Demonstranten in Hongkong 2019 (AFP / Anthony Wallace) Dorothees Familie konnte über die neue BNO-Regelung nach Großbritannien kommen. BNO steht für British National Overseas. Diesen Status haben alle Hongkonger, die vor dem 1. Juli 1997 geboren sind, sie können einen entsprechenden BNO-Pass beantragen. Kurz nachdem im Juni 2020 das sogenannte Sicherheitsgesetz für Hongkong in Kraft getreten war, kündigte der britische Premier Boris Johnson die Öffnung der Grenzen für BMOs an: „Wir haben klar gemacht: Wenn China das Sicherheitsgesetz durchsetzt, würden wir für diejenigen mit BNO-Status einen neuen Weg schaffen, um nach Großbritannien zu kommen – mit der Möglichkeit, im Königreich zu leben und zu arbeiten und danach die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Und genau das werden wir nun tun.“ Neue Möglichkeiten in Großbritannien BNO-Pass-Inhaber und ihre Familienangehörigen können nun zunächst für fünf Jahre im Königreich bleiben, dann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten und nach einem weiteren Jahr die britische Staatsbürgerschaft beantragen. Theoretisch könnte damit wohl knapp die Hälfte der rund sieben Millionen Hongkonger nach Großbritannien kommen, de facto rechnet die britische Regierung in den ersten fünf Jahren mit etwa 320.000. Es wird zudem erwartet, dass die meisten von ihnen ein hohes Bildungsniveau haben. Simon Cheng hat 2019 für das Britische Generalkonsulat in Hongkong gearbeitet und war eigenen Angaben zufolge damit beauftragt, die Proteste zu beobachten und dem Konsulat Bericht zu erstatten. Bei einer Reise auf das chinesische Festland im August 2019 wurde er dann von chinesischen Beamten festgenommen. Simon sagt, dass er gefoltert worden sei und zugeben sollte, ein britischer Spion zu sein und die Proteste in Hongkong angestiftet zu haben. Nach seiner Freilassung ist er nach Großbritannien geflohen. Dort hat er im Juni 2020 Asyl erhalten. Heute versteht sich der 31-Jährige als „Exil-Aktivist für Hongkongs Demokratie“. Das Interview möchte er gern in einem Pub führen – also in einem öffentlichen, aber trotzdem geschützten Raum, in dem er nicht von jedem gesehen und gehört werden kann. Auf die Frage, ob er sich verfolgt fühlt, sagt er: „Absolut. Absolut. Ich habe das Gefühl, überwacht und verfolgt zu werden. Meine elektronischen Geräte könnten gehackt sein, um zu erfahren, was wir als Nächstes tun werden. Der Polizeiapparat in China wurde aufgestockt, der hat große Ressourcen. Früher oder später wird der anschauen, was die Exil-Hongkonger und Aktivisten im Ausland machen.“ Angst vor dem langen Arm der chinesischen Zentralregierung Simon sagt, dass er lernen müsse, mit der Unsicherheit zu leben. Die Angst vor dem langen Arm der chinesischen Zentralregierung lässt ihn auch in London nicht los. 50 Jahre Übergangsfrist waren für Hongkong vereinbart worden, nun ist Halbzeit. Viele ursprünglich zugesagte gesellschaftliche Freiheiten für die rund sieben Millionen Menschen in der chinesischen Sonderverwaltungsregion hat die Zentralregierung in Peking inzwischen abgeschafft. Gleichzeitig versucht die Staats- und Parteiführung am freien wirtschaftlichen Sonderstatus für Hongkong festzuhalten. Ein ziemlicher Spagat, meint der Politikwissenschaftler Jean-Pierre Cabestan von der Baptist University in Hongkong: „China versucht die Quadratur des Kreises. Ich will damit nicht sagen, dass China scheitern wird. Die Staats- und Parteiführung denkt, sie kann an beiden Fronten gewinnen: Auf der einen Seite Ordnung und Disziplin in Hongkong herstellen, auf der anderen Seite der Wirtschaft genügend Freiraum bieten.“ Der Politikwissenschaftler Cabestan geht nicht davon aus, dass die Regierung in Peking plant, Hongkong komplett in die Volksrepublik einzugliedern, als ganz normale chinesische Stadt. „Das Modell der kommunistischen Partei für Hongkong ist nicht Festlandchina per se. Sie wollen am Status „Ein Land, zwei Systeme“ festhalten, Hongkong soll eine Art Sonderverwaltungsregion bleiben. Sie wollen aber einen Strich ziehen zwischen Wirtschaftsinteressen und nationaler Sicherheit. Die große Frage ist natürlich, ob das möglich ist.“
Von Benjamin Eyssel und Imke Köhler
Ein Land, zwei Systeme: Das war Chinas Versprechen vor der Übergabe von Hongkong durch Großbritannien. Doch 25 Jahre später zeigt sich, wie die kommunistische Partei Chinas die einstige britische Kronkolonie immer weiter ans Festland angleicht und aus zwei Systemen eines macht.
"2022-06-29T18:40:00+02:00"
"2022-06-27T18:45:12.298000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/china-hongkong-ein-land-zwei-systeme-100.html
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Lastenräder und die Lust am kostenlosen Teilen
Eine Frau fährt mit einem Lastenfahrrad. (picture alliance / dpa / Tobias Hase) So klingt Kasimir: Ein schwarzes Transportfahrrad, das 40 Kilo schwer ist. Mit knapp 90 Zentimetern ist es viel breiter als andere Fahrräder. Außerdem hat es drei Räder: hinten eins und zwei vorne. Zwischen den vorderen Rädern ist eine große grüne Kiste mit Tür montiert, wo man seine Transportsachen reinlegen kann. Eine Last bis zu 100 Kilo lässt sich mit Kasimir transportieren: "Eine Gitarre, Ukulele, Melodika, Tambourin ...""Essenskorb""Genau! Da unten sind die Isomatten ... " Diese zwei Musikerinnen aus Köln haben jede Menge Instrumente in der Kiste, um Straßenmusik zu machen. Sie waren mit Kasimir und einem leichten Rennrad unterwegs. "Irgendwann wurde es auf dem Sattel bisschen unbequem und deswegen haben wir uns abgewechselt nach fünf, zehn Kilometern." Kasimir sei überall aufgefallen, erzählen die Musikerinnen. Einmal wollte jemand wissen: "Ja, was kostet denn so was? Und wir haben dann gesagt: Ja, wenn man das kauft, wissen wir jetzt nicht. Aber der ist umsonst. Den kann man sich ausleihen, ist von einem Verein. Der könnte das gar nicht glauben irgendwie." Gegen die Argumente der Autobesitzer Stimmt aber. Das Ausleihen dieses Lastenrades kostet tatsächlich keinen Cent. Und das Beste: Jeder, der will, in Köln kann es ausleihen. Normalerweise bis zu drei Tagen. Die Idee zum kostenlosen Verleih hatte der kleine Verein "wielebenwir". Das sind ein paar Leute zwischen 30 und 40 Jahren. Darunter Pädagogen, Lehrer und Künstler. Sie denken unter anderem darüber nach, wie man in einer Großstadt voller Verkehr ohne Auto zurechtkommt. "Das Argument ein Auto zu besitzen ist: Na, ja ich kann ja keine schweren Sachen mit dem Fahrrad transportieren. Das geht ja nicht. Und wir sind ein bisschen angetreten zu sagen: Nein, eigentlich brauchst du kein Auto und du musst dir nicht mal dein eigenes Lastenrad anschaffen, sondern wir machen dir dieses Angebot", sagt Florian Egermann. Wie alle anderen im Verein hat und will er kein Auto. Aber Lust aufs Teilen haben alle, erzählt Christian Wenzel: "Uns ging es darum zu zeigen, dass man Dinge auch einfach nur nutzen kann und sie deswegen nicht besitzen muss, sondern für den Zeitraum, wo man sie braucht zur Verfügung stehen." Das Lastenrad Kasimir ist quasi Gemeingut. Das Geld dafür - 2.500 Euro - kam von einer Stiftung. Die Infrastruktur drumherum hat der Verein auf die Beine gestellt. Jeder in Köln kann dieses Lastenrad über eine Internetseite buchen. Alle paar Wochen wechselt das Rad seine Station, wo es abgeholt und wieder abgegeben wird. Die beiden Musikerinnen haben Kasimir zu einem Café zurückgebracht und geben drinnen ein kleines Konzert. Unkompliziertes Abholen Als der Café-Besitzer von dem Lastenrad-Projekt hörte, war er sofort Feuer und Flamme und hat sein Café als Station für Kasimir angeboten. Das Abholen sei ganz unkompliziert, sagt er: "Wir haben hier eine Kiste mit dem Passwort für jeden Tag und dann die Leute müssen das Passwort geben, wenn es stimmt natürlich ist es in Ordnung." Inzwischen ist Kasimir seit über einem Jahr auf den Straßen in Köln unterwegs. Grillgut, Briketts und Waschmaschinen hat das Rad schon von A nach B gebracht. Es war an mehreren Umzügen und an einer Hochzeit beteiligt. Christian Wenzel sagt über das Ziel, das der Verein "wielebenwir" hat: "Unser Ansatz momentan ist es, das wir versuchen die Idee, die dahinter steckt und das Konzept so weit zu verbreiten, dass eben andere Initiativen und Privatleute auf Basis dieser Idee eigene Lastenräder anschaffen oder zur Verfügung stellen." Und genau das rollt langsam an. Seit Kurzem sind in der Domstadt zwei weitere kostenlose Lastenräder von anderen Initiativen unterwegs. Und die Idee breitet sich sogar weiter aus. In Dortmund und München verkehren inzwischen die Lastenräder Rudolf und Daniel. Weitere Städte stehen in den Startlöchern. Kasimir ist oft Tage und Wochen im Voraus ausgebucht. Morgen wird das Lastenrad Yogamatten transportieren kreuz und quer durch Köln.
Von Lisa von Prondzinski
In der Stadt mit viel Verkehr könnten elektrische Lastenräder laut einer Studie bis zu 85 Prozent der Autokurierfahrten ersetzen. Aber auch für den privaten Gebrauch eignet sich ein Lastenrad. In Köln hat ein Verein solch ein Transportfahrrad angeschafft. Das Schöne: Wer will, kann es umsonst ausleihen.
"2014-09-29T11:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:00.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rent-a-bike-lastenraeder-und-die-lust-am-kostenlosen-teilen-100.html
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Sind Absolventinnen und Absolventen fit genug für den Job?
Die Wirtschaft kritisierte vor knapp 20 Jahren, dass Hochschulabsolventen oft viel zu spät ins Berufsleben einsteigen (picture alliance / dpa / Uwe Anspach) Entsprechen Studiengänge und deren Abschlüsse nicht den von der Wirtschaft erwarteten betrieblichen Anforderungen? Geht die universitäre Autonomie und Freiheit von Forschung und Lehre durch die Fixierung auf den Arbeitsmarkt verloren? Oder stellt die Reform endlich die Bedürfnisse der Studierenden auf ein praxisnahes Studium in den Mittelpunkt statt persönliche Vorlieben der Lehrstuhlinhaber? Darüber diskutieren: Doktor Achim Dercks, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer DIHK-Deutschland Professorin Sabine Kunst, Präsidentin der Humboldt-Universität Berlin Professor Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg Professor Frank Ziegele, Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), Gütersloh
Eine Sendung von Christian Floto (Moderation) und Barbara Weber
Ein früherer Einstieg ins Berufsleben, eine Vereinheitlichung der Studiengänge und mehr Wechselmöglichkeiten ins Ausland: Als der Bachelor vor knapp 20 Jahren von europäischen Bildungsministern diskutiert wurde, galten die USA als großes Vorbild. Doch die Kritik an der dann folgenden Bologna-Reform ebbt nicht ab.
"2018-06-29T19:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:42.198000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschulquartett-sind-absolventinnen-und-absolventen-fit-100.html
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Pakistan - Partner der USA oder Terrorunterstützer?
In der pakistanischen Stadt Karachi protestieren Menschen gegen US-Präsident Trump (2.1.18) (AFP / ASIF HASSAN) Sie tragen den Protest auf die Straße, verbrennen amerikanische Flaggen und ein Poster des US-Präsidenten. Die pakistanische Hafenstadt Karachi in dieser Woche. Die scharfen Worte aus Washington, wonach Pakistan ein Doppelspiel betreibe, lüge und auch amerikanischer Finanzhilfe nicht würdig sei, fanden den erwarteten Widerhall. "Trump beleidigt uns. Aber das war schon immer typisch für die USA. Wenn sie ein Ziel erreicht haben, lassen sie ihre Partner einfach im Stich." So der Anführer des Protestmarsches, den die Gruppe Jamaat-ud-Dawa organisiert hat. Aber diese Gruppe ist ein Kern des Problems – die Jamaat ist nicht nur eine islamistische Organisation, ihr Gründer Hafiz Saeed gilt außerhalb Pakistans als Terrorist, er soll hinter schweren Anschlägen im benachbarten Indien stecken. In Pakistan aber kann sich Saeed frei bewegen. Unter Druck von außen scheint das Land geeint. Auch Oppositionsführer Imran Khan, ein früherer Cricket-Star, facht die Empörung über die Angriffe aus Washington an. "Pakistan hat viele Opfer gebracht für einen amerikanischen Krieg. Unsere Stammesgebiete an der afghanischen Grenze sind verwüstet. Und jetzt werden wir erniedrigt, von einem Präsidenten, der den Verstand verloren hat, ignorant ist und sich von unseren Feinden beeinflussen lässt." Indien - seit jeher der große Rivale Die Feinde sitzen für viele Pakistaner in Indien und in der afghanischen Regierung. Indien ist seit jeher der große Rivale, beinahe täglich gibt es an der Grenze Scharmützel zwischen Soldaten beider Länder. Und Afghanistans Regierung wirft Pakistan seit Langem vor, Extremisten zu unterstützen und das Land zu destabilisieren. Eine Haltung, die die US-Regierung teilt. Imran Khan will diese Vorwürfe aber nicht stehen lassen. "In Afghanistan waren noch vor wenigen Jahren 150.000 NATO-Soldaten und mehr als 200.000 afghanische Soldaten im Einsatz. Aber Trump versucht nun zu sagen, dass die NATO den Krieg dort auch nach 16 Jahren nicht gewinnen kann, nur weil ein paar Tausend Kämpfer aus Pakistan nach Afghanistan geschickt worden seien. Jeder, der die Fakten kennt, wird diese Version für unglaubwürdig halten." Dabei gibt es - Khans Äußerungen zum Trotz - viele Anhaltspunkte für ein Doppelspiel Pakistans. NATO-Soldaten berichteten jahrelang davon, wie Pakistans Armee Talibankämpfer gedeckt hat, die sich über die pakistanische Grenze zurückzogen. Die pakistanische Stadt Quetta unweit der afghanischen Grenze gilt als Hochburg der afghanischen Taliban. Das sogenannte Haqqani-Netzwerk, eine berüchtigte Terror-Gruppe im Umfeld der afghanischen Taliban, wird angeblich vom pakistanischen Militärgeheimdienst ISI gefördert. Islamisten wandten sich gegen die eigene Regierung Dazu gibt es Terrorgruppen, die sogar offene Unterstützung des ISI erhielten. Sie richten sich zum Teil immer noch gegen Pakistans Erzfeind Indien und kämpften vor allem im indischen Kaschmir, das Pakistan für sich beansprucht. Viele Islamisten wandten sich dann aber gegen die eigene, pakistanische Regierung, die ihnen schlichtweg nicht radikal genug ist. Die frühere US-Außenministerin Hillary Clinton sagte dazu bereits vor sieben Jahren: "Wer in seinem Hinterhof Schlangen halte, könne nicht davon ausgehen, dass nur die Nachbarn gebissen werden." Tatsächlich haben sich mindestens 30 extremistische Gruppen zum Netzwerk der pakistanischen Taliban zusammengeschlossen. Sie sowie andere Gruppen, die dem so genannten Islamischen Staat die Treue geschworen haben, überzogen Pakistan jahrelang mit Terror und sind immer noch aktiv. Pakistan aber macht für die Opfer der vielen Anschläge die USA verantwortlich, so auch Ex-Premier Nawaz Sharif. Immer noch ein mächtiger Politiker: "17 Jahre lang haben wir in einem Krieg gekämpft, der nicht unserer war. Wir haben eine Operation gegen die Terrorgruppen gestartet und ihnen das Rückgrat gebrochen. Die letzten Terrornester werden wir auch bald ausgemerzt haben. Aber ich würde dem jetzigen Premierminister Abbasi raten, das Land von amerikanischer Finanzhilfe unabhängig zu machen, sodass unsere Würde nicht derart angegriffen werden kann wie jetzt von Trump." Kompliziertes Verhältnis zwischen USA und Pakistan Zuletzt hatte der US-Kongress vor etwas mehr als einem Jahr Finanzhilfen für Pakistan in Höhe von 1,1 Milliarden Dollar freigegeben. Das Geld, das Trump jetzt einbehalten will, ist Teil dieses Pakets. Doch trotz aller Drohungen: Viele Beobachter glauben nicht, dass es zum Bruch in den Beziehungen beider Länder kommen wird. Denn auch die USA brauchen Pakistans Hilfe, solange sie in Afghanistan engagiert sind. Außerdem ist Pakistan eine Atommacht. Die USA haben kein Interesse daran, dass das Arsenal in falsche Hände geraten könnte. Es ist zudem ein offenes Geheimnis, dass US-Drohnen weiterhin gegen Terrornester in Pakistan eingesetzt werden. Und so dürfte das Verhältnis beider Staaten bleiben, was es schon seit vielen Jahren ist: extrem kompliziert.
Von Jürgen Webermann
Die USA haben die millionenschwere Unterstützung an Pakistan eingefroren. Donald Trump warf der Regierung vor, die USA zu täuschen und Terroristen Zuflucht zu gewähren. Der Protest in Pakistan fiel heftig aus. Die Situation ist heikel, weil Pakistan eine Atommacht ist.
"2018-01-06T13:30:00+01:00"
"2020-01-27T17:33:46.470000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angespanntes-verhaeltnis-pakistan-partner-der-usa-oder-100.html
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Faszinierende Kriminalgeschichten
Stephen Avery aus der Netflix-Serie "Making a Murderer" (DPA / Netflix) Die amerikanische Podcast-Reihe "Serial" ist der Ursprung des True Crime Booms. In zwölf Folgen rollt die Journalistin Sarah Koenig den Fall des verurteilten Mörders Adnan Syed auf, und Millionen hören weltweit mit. Doch neu ist dieses Genre nicht: "Ein Interesse an dem echten Verbrechen das gibt es schon länger." Jens Ruchatz ist Medienwissenschaftler an der Universität Marburg. Bereits im Mittelalter galt das Motto: "There's no crime like True Crime": "Das geht auf den Bänkelsang zurück, wo eben die Bänkelsänger schaurige Geschichten, die sich angeblich wirklich so dargestellt haben, auf öffentlichen Plätzen gegen Entgelt einem Publikum vortrugen. Im 19. Jahrhundert ist das eine gängige Rubrik in der Presse. Gerichtsreporter von Mordprozessen. Im 20. Jahrhundert wird das dann in Medien in verschiedensten Formaten genutzt. In Filmen die dann sagen 'Nach einer wahren Begebenheit.'" Oder eben "Aktenzeichen XY… ungelöst". Eine Sendung, die schon von Loriot parodiert wurde, zu ihrem 50. Jubiläum aber aktueller ist als jemals zuvor. Was in den letzten Jahren allerdings neu hinzugekommen ist: True Crime als Fortsetzungsgeschichte mit charismatischer Hauptfigur: "Man hat eigentlich zwei Genre kombiniert, die momentan sehr gut laufen: 'Crime', das Verbrechen, geht gut. Es gibt Sender in den USA, die zeigen eigentlich nur die Polizei bei der Arbeit. Und das andere ist, dass wir serielles Erzählen haben, was in den letzten Jahren sich sehr viel stärker auch komplexeren, vielschichtigeren Figuren angenommen hat, und deshalb auch Figuren zu Hauptfiguren erheben kann, die man sich früher nie getraut hätte." Realen Geschichten als Vorbild Zum Beispiel Mafiaboss Tony Soprano oder Serienmörder Dexter Morgan. Sie sind Verbrecher, die nicht eindeutig gut oder böse sind. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren Serien wie "Making a Murderer" oder "The Jinx". Mit einem Unterschied: Die Figuren sind real. Neuester Fall in dieser Reihe ist der Deutsche Jens Söring. Hauptfigur in dem Film "Das Versprechen". Jens Söring ist Anfang 20, als ihn eine Jury in den USA zu lebenslanger Haft für den Mord an den Eltern seiner damaligen amerikanischen Freundin verurteilt. Grundlage für die Verurteilung ist ein Geständnis des Deutschen, das er zum Zeitpunkt des Prozesses allerdings längst widerrufen hat. Im Laufe der Jahre tauchen weitere Zweifel an seiner Schuld auf. Doch bis heute sitzt der mittlerweile 50-Jährige in Haft. "Ich habe mein Leben zerstört. Ich habe die Leben meiner Eltern zerstört. Ich habe so vielen Menschen so viel Unglück gebracht. Weil ich dachte, dass es sich um Liebe drehte. Aber die Liebe gab es nicht." Im Film wird diese Liebesgeschichte durch die Briefe erzählt, die sich Jens Söring und seine damalige Freundin schrieben, vorgetragen durch die Schauspieler Imogen Poots und Daniel Brühl. Dazwischen gibt es Interviews mit dem Verurteilten im Gefängnis. Gespräche mit ehemaligen Ermittlungsbeamten. Ein Hauch von Hollywood in einem weitgehend klassischen Dokumentarfilm. Oder wie Jens Ruchatz meint: "Reality TV für Intellektuelle". War er es, oder war er es nicht? "Der Reiz der Wirklichkeit zuzuschauen wird hier noch mal ein bisschen auf die Spitze getrieben. Aber es ist ganz klar, man versucht, von der klassischen Wackelkamera, die im Nachmittagsfernsehen, von diesem ein bisschen Dilettantischen, sich abzusetzen, aber trotzdem die Versprechen des Reality TV, in die Seele des wirklichen Lebens, ins Authentische hinein zu blicken. Dieses Versprechen eben dann mit einer Form zusammen zu bringen, die das gebildetere Publikum dann auch aus den Sendungen kennt, die es täglich im Fernsehen rezipiert." Daran geknüpft ist außerdem das Versprechen eines größtmöglichen Cliffhangers. True Crime Formate leben von der Frage: War er es, oder war er es nicht? Die "Serial"-Hauptfigur Adnan Syed etwa wird jetzt einen neuen Prozess bekommen. Auch der Fall Jens Söring könnte im kommenden Jahr noch einmal aufgerollt werden. "Es geht um die grundlegenden Emotionen, die grundlegenden Affekte: Hass. Liebe spielt in dem Film eine große Rolle. Schmerz. Leid. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit: Der machtlose Einzelne gegen die Übermacht des Gesetzes, das ist wie eine Art Cliffhanger am Schluss. Wir können dann weiter verfolgen, ob in der Realität irgendwie etwas passiert, was sich aus dieser Geschichte ableitet." Auch deshalb eignet sich True Crime besonders für das serielle Erzählen. Erst recht, wenn ein Fall so vielschichtig ist wie der von Jens Söring. Dessen Geschichte Liebesdrama und Kriminalverbrechen zugleich ist. Reduziert auf Filmlänge wirkt das Potential verschenkt. Aber vielleicht heißt es auch hier bald "Fortsetzung folgt..."
Von Simone Schlosser
Der Botschaftersohn Jens Söring soll 1985 zwei Menschen brutal umgebracht haben. Seitdem sitzt er in den USA in Haft - schuldig oder unschuldig? Nach den US-Serien "Making a Murderer" und "The Jinx" kommt mit "Das Verspechen" nun ein deutsches True-Crime-Format ins Kino.
"2016-10-25T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T19:01:08.580000+01:00"
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"Steinmeiers Politik ist mutig"
Niels Annen, SPD Bundestagsabgeordneter (spdfraktion.de / Florian Jaenicke) Die Kritik des CSU-Politikers Ferber ziele auf die Außenpolitik von Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel, sagte Niels Annen in dem Gespräch; eine Politik, die auf eine "friedliche Lösung" setze. Markus Ferber hatte die Krisendiplomatie des Außenministers als erfolglos bezeichnet. "Außer Spesen nichts gewesen", sagte der CSU-Spitzenkandidat für die Europawahl am Mittwoch zu der Reise des SPD-Politikers nach Kiew und Odessa. Steinmeier müsse erkennen, "dass die Diplomatie eines einzelnen Mitgliedsstaates keinen Erfolg haben kann". Laut der Tageszeitung "Die Welt" gingen Horst Seehofer die Äußerungen zu weit, der CSU-Chef soll Ferber zur Ordnung gerufen haben. Steinmeier habe in einer zugespitzten Situation ein "politisches Risiko" auf sich genommen, so Annen im DLF. Diesen Mut sollte man loben und nicht kritisieren. Es sei der Kern von Außenpolitik, so Annen, "beharrlich daran zu arbeiten, dass die Menschen an einen Tisch kommen". Der deutsche Außenminister hatte in Kiew in Gesprächen mit dem Chef der Übergangsregierung, Arseni Jazenjuk, und dem Übergangspräsidenten Alexander Turtschinow für den nationalen Dialog unter Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geworben. Das Interview in voller Länge: Christoph Heinemann: Die gute Nachricht: Es saßen Leute am Runden Tisch. Die haben miteinander geredet und das wollen sie morgen wieder tun, voraussichtlich im Osten der Ukraine. Allerdings: Wichtige Leute fehlten. Vertreter der Separatisten, die den östlichen Landesteil Russland zuschlagen möchten, die waren gar nicht erst eingeladen. Das Ganze kommentiert von Moskau: Der russische Außenminister versicherte, Russland wolle keine Truppen in das Nachbarland schicken. Und dann noch dies: Die Wahl am 25. Mai könne nicht als legitim gelten, solange die Regierung ihren Militäreinsatz gegen Separatisten fortsetze. Wir kommen zur innenpolitischen Wahrnehmung dieser Krisendiplomatie. „Außer Spesen nichts gewesen", so fasst Markus Ferber, der Spitzenkandidat der CSU bei der Europawahl, die Krisendiplomatie eben des Bundesaußenministers zusammen. Frank-Walter Steinmeier habe insbesondere bei seiner letzten Reise in die Ukraine nichts erreicht. Die Diplomatie eines einzelnen Mitgliedsstaates bringe nun mal nichts. Berechtigte Kritik oder Wahlkampfgetöse – die CSU ist immer für Überraschungen gut, das weiß man. CSU-Chef Horst Seehofer hat den Spitzenkandidaten seiner Partei für die Europawahl dann nach dessen Äußerung an Steinmeier zur Ordnung gerufen. In einem Telefonat habe Seehofer seinem Unmut Luft gemacht, das berichtet heute die Tageszeitung "Die Welt". Am Telefon ist jetzt Niels Annen, Obmann der SPD im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Guten Morgen. Niels Annen: Ja, schönen guten Morgen! Heinemann: Herr Annen, was hat Frank-Walter Steinmeier denn bislang erreicht? Annen: Lassen Sie mich zunächst mal sagen, ich finde die Kritik von Herrn Ferber an unserem Außenminister wirklich infam. Heinemann: Damit haben wir gerechnet. Bitte zur Frage: Was hat Herr Steinmeier bislang erreicht? Annen: Wir haben zumindest eine Sache klargestellt: Wir setzen auf eine friedliche Lösung. Und deswegen zielt ja die Kritik von Herrn Ferber auch letztlich darauf, dass die deutsche Außenpolitik – übrigens die Außenpolitik von Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel – deutlich macht, wir haben nur die Möglichkeit, über Diplomatie diesen Konflikt zu lösen. Denn die Alternative wäre ja, sich auf dieselbe Logik zu begeben wie die Russische Föderation, mit dem Einsatz von Militär zu drohen oder es sogar in Erwägung zu ziehen, Militär einzusetzen. Das kann nicht die Lösung sein. Und ich finde persönlich, wenn man in einer solchen zugespitzten Situation das Risiko auf sich nimmt, in eine Region zu fliegen, Gespräche zu führen, ohne dass vorher die Diplomaten alles geklärt haben, und man sich am Ende dann dafür beglückwünschen kann, ein Dokument zu unterschreiben, wie das übrigens viele Außenminister in Europa getan haben, dann sollte man das nicht kritisieren, sondern den Mut eigentlich loben, in einer solchen Situation wirklich auch ein politisches Risiko auf sich zu nehmen. Das ist im Kern ja auch die Aufgabe von Außenpolitik, immer wieder beharrlich auch dafür zu arbeiten, dass die Menschen an einen Tisch kommen. Und es gibt die OSZE-Mission in der Ukraine, ein Vorschlag von Frank-Walter Steinmeier. Es hat das Treffen in Genf gegeben, auch ein Vorschlag von Frank-Walter Steinmeier. Heinemann: Herr Annen, der Bundesaußenminister hat gestern folgendes zu Protokoll gegeben: "Was die Ukraine dringend braucht ist der Aufbau neuer Legitimität und neuer Glaubwürdigkeit." Können wir uns darauf einigen, dass solche Äußerungen entbehrlich sind? Annen: Ich weiß nicht, was daran entbehrlich ist, denn wenn man sich die Lage anschaut – aus Ihrem Korrespondentenbericht eben ist das ja auch hervorgegangen: Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es ist ja nicht nur politisch eine zugespitzte Situation, sondern dort sind in den letzten Tagen Menschen gestorben. Damit steigt der Hass in der Ukraine aufeinander. Mit jedem Toten, den es gegeben hat, sinkt die Chance auf eine politische friedliche Beilegung der Lage. Und das, was die Ukraine in der Tat braucht, ist eine neue Legitimität. Deswegen ist diese Wahl am 25. Natürlich eine riesige Herausforderung, mit all den Problemen, mit denen es die ukrainische Regierung zu tun hat. Es ist aber vielleicht auch eine Chance für Russland, von seiner Position sich gesichtswahrend zu verabschieden und endlich – und darum geht es ja – einen legitimierten Gesprächspartner in Kiew zu akzeptieren, damit wir wirklich zu einer politischen Lösung dieses Konflikts kommen. Ich halte diese Äußerung überhaupt nicht für entbehrlich. Heinemann: Markus Ferber hat gesagt, Steinmeier sollte der EU-Außenbeauftragten, nämlich Lady Ashton, mal Beine machen. Die leiste bestenfalls Dienst nach Vorschrift. Wäre das nicht der bessere Weg, als ständige Einzelreisen eines einzelnen Ministers in die Ukraine oder sonst wohin? Annen: Nun, wissen Sie, dieser Teil der Kritik von Herrn Ferber, der ist nun besonders kurios, denn es war Frank-Walter Steinmeier, der mit dem Außenminister Polens und Frankreichs gemeinsam auch ein symbolisches Zeichen der europäischen Einheit gesetzt hat, und es war Frank-Walter Steinmeier, der unermüdlich vor und hinter den Kulissen dafür gearbeitet hat, dass es in Genf ein Treffen gibt. Das war seine Idee und es war auch seine Idee, Frau Ashton für die gesamte Europäische Union dort hinzuschicken. Herr Ferber weiß das übrigens auch, deswegen zielt diese Kritik nun wirklich ins Leere. Heinemann: Ergebnis der Politik ist: Russland benimmt sich wie es will, Bruch des Völkerrechts, separatistische Aufstände werden angezettelt. Ist das auch die Quittung für eine falsche Assoziierungspolitik der Europäischen Union und des Bundesaußenministers? Annen: Entschuldigen Sie mal! Die Verantwortung für die russische Politik und die russische Aktivität in den letzten Monaten, die kann man ja nun nicht beim deutschen Außenminister festlegen. Heinemann: Die Frage lautete, ist das eine Folge, ist das die Quittung für eine falsche Assoziierungspolitik der EU und des Bundesaußenministers namens Frank-Walter Steinmeier. Annen: Nein, das halte ich wirklich, wenn Sie erlauben, für eine etwas merkwürdige Frage. Die Verantwortung dafür trägt die russische Regierung. Dass ist auch bei vorherigen Bundesregierungen sicherlich Fehler gegeben hat, was die Konzeption der europäischen, gerade der östlichen Nachbarschaftspolitik angeht, das ist sicherlich richtig. Aber da besteht aus meiner Sicht kein kausaler Zusammenhang. Das wäre auch zu einfach, denn nur wenn man sich selbstkritisch äußert, heißt das ja nicht, dass damit der Bruch von Völkerrecht legitimiert werden kann. Dieser Logik kann ich nicht folgen. Heinemann: Herr Annen, Helmut Schmidt sagt heute in der "Bild"-Zeitung – ich zitiere: "Es gibt zurzeit leider niemanden, der konstruktive Vorschläge zur Zukunft der Ukraine vorbringt." Ist das der nächste Nackenschlag für den Bundesaußenminister? Annen: Nun, Sie werden mir nachsehen, dass ich als Sozialdemokrat und als Hamburger Abgeordneter nun sicherlich nicht Ihre Sendefrequenzen dafür nutzen werde, Helmut Schmidt, den ich sehr bewundere, zu kritisieren. Wir brauchen eine Initiative innerhalb der Ukraine für einen nationalen Dialog, und die Europäische Union kann dabei helfen und das sollte sie auch tun. Wir können am Ende nicht die Arbeit für die Ukrainer selber übernehmen. Das ist ein Prozess, der diesem Land noch bevorsteht. Heinemann: Sie müssen Helmut Schmidt ja nicht kritisieren. Sie können ja sagen, er hat recht oder er hat Unrecht. Annen, Niels (SPD)Geboren 1973 in Hamburg. Der SPD-Politiker studierte unter anderem Spanisch und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin und schloss mit einem Master an einer amerikanischen Universität ab. 1989 trat Annen in die SPD ein; noch während seines Studiums wurde er 2005 als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt und ist dort seit 2014 außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Annen: (lacht) Ich glaube, dass wir das, was wir in den letzten Jahren nicht ausreichend getan haben, nämlich auch über unsere zivilgesellschaftlichen Instrumente diejenigen in der Ukraine unterstützen und auch ermutigen müssen, die den Weg ihres Landes nach Europa sehen, die sich auf dem Maidan auch mutig dafür eingesetzt haben. Und dass es im ukrainischen System, das dominiert ist von Oligarchen, zum Teil auch von Einzelpersonen, die über große Macht-Reservoirs verfügen, dass es dort einen riesigen Reformbedarf und auch einen Mangel an Visionen gibt, ja, das ist richtig. Heinemann: Helmut Schmidt ist ja nicht der Einzige aus der SPD, der die Außenpolitik kritisiert. Gerhard Schröder hat das getan, unterstützt den russischen Präsidenten, fällt ihm auch gern schon mal um den Hals. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck hat gestern den russischen Eisenbahnminister zu Gast gehabt. Der Mann steht auf der Sanktionsliste der USA und der hat dann auch noch seine geballten Vorurteile gegen Homosexuelle zum Besten geben dürfen. Können Sie sich daran erinnern, dass ein amtierender Bundesaußenminister jemals in dieser Weise von eigenen Parteifreunden vorgeführt wurde? Annen: Nun, das ist Ihre Interpretation. Ich bin der Meinung von Matthias Platzeck, dass wir gerade in einer solchen Lage jede Möglichkeit zum Gespräch nutzen sollten. Und Sie müssten dann natürlich auch noch einmal dazu sagen, dass Matthias Platzeck die inakzeptablen Äußerungen, gerade was die Homosexuellen in Russland angeht, von Herrn Jakunin eindeutig zurückgewiesen hat. Heinemann: Wieso lädt der denn so einen Menschen ein? Annen: Ja wenn wir in einer Krisensituation, wo wir eine diplomatische Lösung anstreben, nicht in der Lage sind, miteinander zu sprechen, dann begeben wir uns in der Tat auf das Feld derjenigen, die glauben, man könnte Politik auch kurzfristig mit den Zielen von Einschüchterung, von Containment, von militärischen Drohungen bewältigen. Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird, und ich kann deswegen diesen Widerspruch, den Sie dort konstruieren, auch nicht erkennen. Heinemann: Sigmar Gabriel hat ja auch schon einmal laut über die Verantwortlichen der Krise nachgedacht. Auch er sagt, die Assoziierungspolitik wäre nicht glücklich gelaufen. Muss sich Steinmeier – deren Verhältnis ist ja nicht besonders – Sorgen machen? Annen: Ich weiß nicht, worüber er sich Sorgen machen wird. Ich weiß aber, worüber er sich Sorgen macht, und das ist die Lage in der Ukraine, und dass er unermüdlich dafür kämpft und auch Vorschläge dafür unterbreitet, dass wir diese Lage dort auf eine friedliche Art und Weise lösen. Übrigens hat der Bundesaußenminister, aber auch die Bundeskanzlerin im Bundestag durchaus sich selbstkritisch geäußert zu der Art und Weise, wie die Europäische Union mit der Ukraine in den letzten Jahren umgegangen ist. Darüber gibt es eine notwendige Debatte. Und eines muss man ja sagen: Die Assoziierung war als Alternative zur Mitgliedschaft gedacht. Das was die EU-Kommission in den letzten Jahren daraus gemacht hat, war eine de facto Beitrittsverhandlung. Dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte, wenn man die Ukraine vor eine unmögliche Wahl zwischen Ja zu Europa und Nein zu Russland stellt, das ist, glaube ich, in den Debatten der letzten Tage hinreichend deutlich geworden. Heinemann: Herr Annen, Sie müssen zum Zug, bei uns folgen die Nachrichten. Danke schön für das Gespräch – der SPD-Außenpolitiker Niels Annen, abermals zu hören unter Deutschlandfunk.de. Einen guten Tag Ihnen! Tschüss! Annen: Das wünsche ich Ihnen auch. Tschüss! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Niels Annen im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die SPD hat die Kritik an der Krisenpolitik von Außenminister Steinmeier zurückgewiesen. Diese sei "infam", sagte der außenpolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Annen, im DLF. Die Krise in der Ukraine sei nur über Diplomatie zu lösen.
"2014-05-16T07:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:41:20.055000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-steinmeiers-politik-ist-mutig-100.html
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"Dieser fürchterliche Neid"
Christoph Heinemann: Der Historiker Götz Aly beschäftigt sich seit Langem mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Mehrere seiner Werke haben für Kontroversen gesorgt, etwa seine Deutung der 68er, denen er vorwarf, sie seien der Generation ihrer Eltern, also der Generation von 1933, ähnlicher als sie dies selbst wahrnehmen wollten. Götz Aly hat ein neues Buch vorgelegt, das heute im Buchhandel erscheint, der Titel: "Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass". Wir hören einen Auszug.Sprecher: "Kain erschlug seinen Bruder Abel, weil er sich von Gott zurückgesetzt und ungerecht behandelt fühlte. Der erste Mord der Menschheitsgeschichte geschah aus Neid und Gleichheitssucht. Die Todsünde des Neides, kollektivistisches Glücksstreben, moderne Wissenschaft und Herrschaftstechnik ermöglichten den systematischen Massenmord an den europäischen Juden. Das zwingt zum Pessimismus. Es gibt keinen Ort des Bösen, der sich ein- für allemal vermauern ließe, um derartige Schrecken zu bannen. Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen. Wer solche Gefahren mindern will, sollte die komplexen menschlichen Voraussetzungen betrachten, und nicht glauben, die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir heutigen."Heinemann: Vor dieser Sendung habe ich Götz Aly gefragt, wieso er dieses Buch geschrieben hat angesichts der Fülle der Literatur über den Nationalsozialismus.Götz Aly: Na ja, ich habe ja dazu beigetragen, dass die Werke über den Nationalsozialismus zugenommen haben, auch mit ganz gutem Erfolg, und das Hauptproblem ist: Wenn Sie Bücher über die Geschichte des deutschen Antisemitismus lesen oder Bemerkungen, Einleitungen, dann wird immer der Antisemitismus aus dem Antisemitismus erklärt, dann wird immer gesagt, der hat noch eine antisemitische Äußerung gemacht, der hat was gegen die Juden gesagt. Und das erklärt aber nichts, weil die Frage nach dem Warum ... Warum konnte das in Deutschland mit dieser Wucht und in dieser sozialen Breite entstehen und schließlich zu diesem verbrecherischen Ergebnis, nämlich dass die Vertreibung und dann die Ermordung der Juden zum Staatsziel wurde 1933, enden?Heinemann: Und methodisch haben Sie geschrieben, Sie wollten Sichtblenden wegschieben, die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Nationalsozialismus, so drücken Sie es aus, zum Fremdkörper wird. Welche Vorboten dieser NS-Zeit sind denn bisher unterbelichtet geblieben?Aly: Die ganze Frage des Antisemitismus. Wir tun immer so, als sei das in einer ganz besonders schmutzigen Ecke der deutschen Geschichte beheimatet gewesen, also und dann sagen wir, da gab es Wilhelm Raabe und dann gab es den Hofprediger Stöcker und dann gab es einen Herrn Heinrich Claß und dann die Judenzählung im Ersten Weltkrieg, und schwups, sind wir in Auschwitz. Und diese Reduktion des Antisemitismus hat nichts mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun. Vielmehr ist es so, dass in allen Schichten der deutschen Bevölkerung sich diese Judenfeindschaft ausbildet und sehr stark ausprägt im Laufe des 19. Jahrhunderts, und zwar aus bestimmten Gründen, die man auch benennen kann und die man beschreiben kann, und dass es überhaupt nicht zweckmäßig ist, zwischen guten und bösen Deutschen dabei zu unterscheiden, weil: Insbesondere auch die deutschen Demokraten, die demokratische Nationalbewegung von 1810, '12 und dann später hin zur 48er-Revolution hat in ihren Reihen unendlich viele Judenfeinde gezählt, und der Antisemitismus bei Ernst Moritz Arndt, Turnvater Jahn und so weiter steht in nichts dem reaktionären Antisemitismus nach.Heinemann: Wollen Sie Turnvater Jahn oder Ernst Moritz Arndt für die Gaskammern verantwortlich machen?Aly: Nein, überhaupt nicht. Nichts an dieser Vorgeschichte ist zwingend, aber das ... und das beschreibe ich ja in dem Buch, wie sich das potenziert. Das beginnt mit der napoleonischen Besatzung, die sehr hart ist, sehr viele Menschenopfer, sehr viele wirtschaftliche Opfer fordert, darüber macht man sich heute überhaupt keine ausreichenden Gedanken; dann mit der auch daraus folgenden, unglaublich verzögerten, langsamen, hängenden Entwicklung der Deutschen, was die Modernisierung, was die industrielle Revolution betrifft; dann dieses krampfartige, schnelle aufholen im zweiten deutschen Reich, also in der Kaiserzeit nach 1870, '71; dann diese Anspannung im Ersten Weltkrieg – und da, im Druckgefäß des Ersten Weltkrieges, entsteht auch dieser spezifische deutsche Nationalismus, und das ist immer gepaart, auch der Neid gegenüber den Juden, mit dem eigenen Schwächegefühl. Man muss sich doch klar machen: Um 1900 haben Juden zehn Mal so oft Abitur gemacht wie deutsche Christen, zehn Mal so oft, und sie haben im Durchschnitt – das ist statistisch damals berechnet worden – vor dem Ersten Weltkrieg fünf Mal so viel verdient wie deutsche Christen. Diese Phänomene und die sozialen Spannungen, der Hass und der Neid – und das macht den spezifischen deutschen Antisemitismus aus –, ... Und man braucht den Antisemitismus nicht mehr auf den Antisemitismus zurückzuführen, sondern man kann sagen: Es sind bestimmte Phänomene und Ursachen in der deutschen Geschichte, und ich würde sagen, insbesondere die Rückständigkeit der deutschen Bildungsinstitutionen, vor allem der elementaren, und die gleichzeitige Gewährung der wirtschaftlichen Freiheit an die Juden 1808, '12. Die gab es natürlich auch für die Mehrheitsdeutschen, die christlichen Deutschen, aber die wussten davon nichts anzufangen, die hatten Angst vor Freiheit und Gewerbefreiheit, die fühlten sich in den alten, gewissermaßen leibeigenen, behüteten zünftischen Umständen wohl.Heinemann: Sie sprachen von Neid und Missgunst. Kann man damit den Völkermord der Nationalsozialisten begründen?Aly: Na, ich finde, dass man mal über Neid einfach reden kann. Das ist dieser offensichtliche Rückstand, das ist dieses Gefühl der Schwäche, mangelnder Schlagfertigkeit, mangelnder wirtschaftlicher Intelligenz, nicht genügender Geistesgegenwart, das die Mehrheit der deutschen Christen gegenüber diesen voranschreitenden, in die Moderne stürmenden Juden empfindet. Und dass dann Neid entsteht, ist nämlich ein verborgenes Gefühl, das man sich selber nicht eingesteht. Und dann flüchtet man ins Kollektiv, weil man nur so genügend Stärke für sich selber erwerben kann, macht den anderen, den Beneideten schlecht, und freut sich – da man sich den Neid selber nicht eingesteht –, wenn andere sozusagen dem Beneideten Nachteiliges zufügen.Heinemann: Wieso führten solche niederen Instinkte in anderen Staaten nicht zu einer vergleichbaren Katastrophe? Auch Italien zum Beispiel ist eine verspätete Nation, die zu einer großen Aufholjagd ansetzt.Aly: Ja, aber Sie haben es da natürlich mit viel weniger Juden zu tun, es sind ein paar sephardische Juden in Livorno und Rom, das ist überhaupt kein Vergleich. Und die Eigenmobilisierung eben des italienischen Bürgertums und auch sozusagen das Erringen der eigenen nationalen Freiheit gegenüber Frankreich, gegenüber der Habsburgischen Monarchie und auch dem Kirchenstaat, dem Papsttum, das geschieht eben mit großem Elan und führt zu eigener nationaler Stärke, während umgekehrt die Deutschen im Grunde immer dieses Schwächegefühl ... Die wissen immer gar nicht, was deutsch ist. Gerade im Aufholen entsteht dieser Nahhass, dieser fürchterliche Neid. Es wird nur heute immer weggedrückt, weil wir die Ursachen für den deutschen Antisemitismus komplizierter oder anders machen wollen als sie wirklich waren. Wir wollen uns nämlich nicht eingestehen, dass dem Gefühle zugrunde liegen, die wir heute noch selber haben, die wir an uns selber kennen, und das holt dieses Verbrechen näher. Das macht uns klar, dass diejenigen – das sind ja unsere christlichen Vorväter insoweit –, die es begangen haben, uns ähnlicher sind, als uns lieb sein kann.Heinemann: Und deshalb lassen Sie in Ihrer Darstellung immer wieder auch das Vorbildliche und aber auch das Fehlerhafte Ihrer eigenen Vorfahren einfließen. Sollte die Nazizeit stärker in den deutschen Familiengeschichten gespiegelt werden?Aly: Wenn es eine Massenerscheinung war, der deutsche Antisemitismus – und das ist mein sicheres wissenschaftliches Gefühl, wenn Sie so wollen –, dann muss ich das in der eigenen Familie finden. Und dann will ich auch darüber Rechenschaft ablegen, wobei ich denke, das sind durchschnittliche Familienverhältnisse aus sehr unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Hintergründen, die ich da dokumentiere, das sind etwa sieben Prozent des Buchtextes. Und es dient eigentlich der Anregung für die Leser und Leserinnen, auch für Sie, über die eigenen Familien nachzudenken und sich zu fragen, ja, was haben die damals gemacht, wo waren die eingesetzt, wie haben die wohl gedacht? Das sind Fragen, die man sich stellen kann.Heinemann: Herr Aly, Sie schreiben in der Einleitung, dass ein Teil der historischen Forschung – Sie nennen die Theorien über den Faschismus und die Diktatur – den Holocaust in sorgfältig einhegender Weise auf Distanz hielten. Inwiefern?Aly: Das merken Sie doch jeden Tag, allein schon, wenn Sie die Ausdrucksweise lesen. Also da ist irgendeine Gemeinde, da wurden dann mal die Juden vertrieben oder enteignet, und diese Gemeinde hat 4000 Einwohner, und dann heißt es an der Gedenkstätte oder in der Erinnerungsschrift für die Juden: "Dann kamen die Nationalsozialisten und haben ... " Ja, wer sind denn nun die Nationalsozialisten? Was soll das? Oder "die SS-Täter", oder "das NS-Regime" – wer ist denn das? Ja, meine Verwandten sind das NS-Regime nicht. Aber wenn Sie mich fragen: Gab es in meiner Verwandtschaft jemanden, der gesagt hat, ein jüdisches Kaufhaus, da gehen wir nicht hin – dann muss ich Ihnen leider sagen, ja. Gab es in meiner Verwandtschaft jemanden im Ersten Weltkrieg, der in Feldpostbriefen geschrieben hat, hier ist ein Jude, der drückt sich vor dem Fronteinsatz – dann kann ich Ihnen sagen, ja. Und ich glaube, dass man das sich klar machen muss, dass dieses Grundgefühl, dass da Juden sind, die sich vorangedrängt haben und die es irgendwie besser haben als man selber und nicht so hart gearbeitet haben, und das versuche ich ja zu schildern an den vielen Dokumenten, die ich aufführe, wie das entstanden ist – wenn man dann sagt, na ja, also wenn der Staat denen mal eins oben drauf gibt, und wenn er sie im Krieg zur Zwangsarbeit deportiert, weit weg, dann geschieht es denen irgendwie recht, und für die brauchen wir uns ganz bestimmt nicht zu engagieren –, dieses Grundgefühl, wie das in der deutschen Gesellschaft, und zwar schichtenübergreifend, in allen Schichten der deutschen Bevölkerung entstanden ist, darum geht es auch in dem Buch.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Götz Aly im Gespräch mit Christoph Heinemann
"Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass". So heißt das neue Werk des Historikers Götz Aly. Im Interview sagt er, dass die Deutschen die Ursachen für Antisemitismus komplizierter machen wollen als sie wirklich waren.
"2011-08-12T08:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:34.488000+01:00"
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Parteienforscher: Piraten haben Großteil ihres politischen Kredits verspielt
Mario Dobovisek: Wir wollen beim Thema bleiben: bei den Piraten. Wir sprachen mit den Piraten, wir wollen auch über die Piraten sprechen. Am Telefon an der Universität in Göttingen hat mitgehört der Politikwissenschaftler Alexander Hensel. Guten Morgen, Herr Hensel!Alexander Hensel: Guten Morgen!Dobovisek: Der Blogger Sascha Lobo schreibt, "für die Piraten ist Prism", also der Abhörskandal, "ein Elfmeter vor leerem Tor, Rückenwind, abschüssiger Platz. Warum befürchtet man trotzdem, dass sie verfehlen?" In der Tat scheint es so, dass die Piraten erst langsam in Sachen Datenskandal Fahrt aufgenommen haben, und in den Umfragen dümpeln sie weiter bei zwei bis drei Prozent herum. Machen die basisdemokratischen Strukturen die Partei träge?Hensel: Ich habe leider Ihre Frage gerade nicht ganz gehört. Aber wenn es um die basisdemokratischen Strukturen geht, die sind im Wahlkampf natürlich schwierig. Basisdemokratische Strukturen versuchen, möglichst viele Menschen mit einzubeziehen. Das dauert natürlich tendenziell länger. Die Piraten wollen gerade keine zentralisierte und strukturierte politische Führung haben, und von daher sind sie natürlich ein wenig träger als eine sehr fokussierte, auf Effizienz ausgerichtete politische Organisation zum Beispiel.Dobovisek: Wir haben jetzt viele Punkte vom Parteichef, von Bernd Schlömer gehört, auch in Sachen Datenschutz und Datensicherheit. Warum ist offenbar kaum jemand bereit, der Piratenpartei zuzuhören?Hensel: Ich denke, das liegt einmal an der Situation der Piraten selbst. Die Piraten haben im letzten Jahr natürlich einen großen Teil ihres politischen Kredits verspielt. Es ging die meiste Zeit im letzten Jahr um politische Skandale innerhalb der Piratenpartei. Insgesamt haben die Piraten aber natürlich auch ein einfaches strukturelles Problem, was natürlich auch typisch ist für so kleine Parteien wie die Piratenpartei. Sie kommen erst einmal relativ schwer in die Medien. Das sah man jetzt in dem Überwachungsskandal. Die Piraten haben eine ganze Weile gebraucht, bis sie mit ihren verschiedensten Aktionen, mit ihren Forderungen, mit ihren Initiativen in die Massenmedien hineingekommen sind. Aber gerade diese Repräsentation in Massenmedien ist natürlich von sehr hoher Bedeutung, um die Anliegen und möglicherweise auch die Wut, die man über ein Thema hat, der Öffentlichkeit zu vermitteln.Dobovisek: Die Transparenzdebatte um Abgeordneteneinkünfte vor ein paar Monaten haben die Piraten klar verschlafen. Ist das doch eine Art Strukturproblem?Hensel: Natürlich sind die Piraten durch ihre Organisation etwas träger als normale Parteien. Hinzu kommt natürlich das Problem, dass die Piraten mittlerweile durch das Mitgliedswachstum, was in den letzten Jahren ja wirklich enorm war, sehr breit aufgestellt sind. Das heißt, sie haben eine sehr große Vielfalt mittlerweile an Themen. Da ist es verbunden mit der Organisation, die ich gerade angesprochen habe, oft schwierig, etwas fokussiert in den Vordergrund zu rücken.Dobovisek: Kann die Affäre um Prism und Tempora die Piraten vor der Bundestagswahl noch aus dem Umfragetief holen?Hensel: Das ist durchaus eine schwierige Situation erst mal. Ganz kann ich die Frage, glaube ich, nicht beantworten. Ich denke, ein wichtiger Punkt ist, dass bisher die allgemeine Empörung und die Protestbereitschaft in der breiten Bevölkerung zu dem Thema fehlt.Dobovisek: Warum ist das so? Verstehen die Internetnutzer die Tragweite nicht, oder ist die möglicherweise auch übertrieben?Hensel: Ich denke, dass es insgesamt an verschiedenen Voraussetzungen für einen breiteren Protest bisher fehlt. Einmal geht es natürlich um Betroffenheit und Empörung. Da sieht man: Im Kreis der Internetnutzer, in Foren und so weiter, die etwas spezialisierter sind, da ist die durchaus da. Aber wenn man etwas breiter in die Gesellschaft hineingeht, dann ist das durchaus nicht so klar. Man hört ja immer wieder sehr viele Stimmen, im privaten Umfeld, aber auch in den Medien, die sagen, wenn ich nichts zu verbergen habe, dann ist im Prinzip auch eine Überwachung weiter nicht schlimm. Das heißt, es gibt keine breite Empörung. Andere Faktoren fehlen. Für gelungenen Protest braucht es natürlich auch ein Mindestmaß an Organisation und es braucht vor allem eine Entstehung eines Gefühls einer Wir-Gruppe, also einer Gruppe von Personen, die sich als Träger des Protestes selbst definieren und sich auch gegenüber einem klaren politischen Gegner abgrenzen können. Gerade bei diesem letzten Punkt ist das natürlich in der Überwachungsaffäre relativ schwierig. Das haben wir auch gerade ein bisschen im Interview oder auch in der Anmoderation gehört. Die politischen Gegner sitzen in diesem Fall in Amerika, in Großbritannien vielleicht auch. Die Bundesregierung dagegen ist nur so eine Art indirekter Ansprechpartner, das macht es natürlich wesentlich schwieriger, das politisch zu polarisieren.Dobovisek: Alexander Hensel ist Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen und war bei uns im Interview. Vielen Dank dafür!Hensel: Vielen Dank.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Hensel im Gespräch mit Mario Dobovisek
Der Politikwissenschaftler Alexander Hensel bezweifelt, dass die Piraten vom NSA-Abhörskandal profitieren können. Dafür fehle es an Empörung in der breiten Gesellschaft. Zugleich falle es der Partei durch ihre dezentrale Struktur schwerer im Wahlkampf zu reagieren.
"2013-07-12T08:20:00+02:00"
"2020-02-01T16:26:06.988000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/parteienforscher-piraten-haben-grossteil-ihres-politischen-100.html
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Beispiellose sicherheitspolitische Aufrüstung stoppen
Die gefühlte Bedrohungslage habe mit der Realität in Deutschland nichts zu tun, Deutschland sei ein sicheres Land, sagte der FDP-Politiker Gerhart Baum im Dlf (picture alliance / dpa / Georg Wendt) Ann-Kathrin Büüsker: In Bayern soll am Dienstag ein neues Polizeiaufgabengesetz beschlossen werden: Es gibt der Polizei umfangreiche neue Rechte, die insbesondere mit dem Schutz vor Terrorismus begründet werden. Kritiker sagen, dieses Gesetz beschneidet umfangreich die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb sind gestern in München Zehntausende auf die Straße gegangen. Der zuständige Innenminister wehrt sich nun gegen die Kritik. Unser Landeskorrespondent Tobias Krone berichtet. Über das möchte ich nun sprechen mit einem, der bereits für Freiheitsrechte vor Gericht gezogen ist: der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, FDP. Guten Tag, Herr Baum! Gerhart Baum: Guten Tag! Büüsker: Polizeiarbeit, die auf drohende Gefahr aufbaut – Polizisten dürfen dann etwas, weil sie davon ausgehen, dass etwas passieren könnte. Das bemängeln ja viele Kritiker dieses Gesetzes. Nun hat aber ja das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Urteils über das BKA-Gesetz eine solche Handlung im Falle einer drohenden Gefahr durchaus für möglich erklärt. Wo liegt dann also hier das Problem? Baum: Also ich habe das Urteil mit erstritten. Das ist im April 2016 ergangen, und das sieht für eng begrenzte Ausnahmefälle der Terrorismusbekämpfung, vor, dass ohne einen konkreten Verdacht, im Vorfeld die drohende Gefahr zu bestimmten polizeilichen Maßnahmen führen kann, und die Interpretation des bayrischen Innenminister Herrmann ist völlig falsch, und sie wird auch vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand haben, denn jetzt setzt er dieses Instrument ein auch für die allgemeine Kriminalität. So war das nie gesehen worden von dem Bundeskriminalamt, von dem Bundesverfassungsgericht des Bundeskriminalamts, und nur dieses darf bei der Terrorbekämpfung diese Mittel einsetzen, aber im Grunde verstößt er gegen Verfassungsrecht. "Wir rutschen immer weiter in Überwachung hinein" Büüsker: Aber die Idee ist ja, auch die Polizei damit besser auszustatten im Kampf gegen Terrorismus. Baum: Ja, gut. Da darf ich einen Blick werfen auf die allgemeine Situation, die gekennzeichnet ist durch eine für mich unbegreifliche Kriminalitäts- und Terrorismusangst, und hier regiert der Dämon, ein hinterhältiger Dämon, nämlich die Angst in unserer Gesellschaft. Die wahre Bedrohung der Sicherheit ist mit der Wirklichkeit überhaupt - die Wirklichkeit stimmt mit den gefühlten Bedrohungen überhaupt nicht mehr überein, und das ist ein sehr besorgniserregendes Phänomen. Ich habe mit Leuten öffentlich diskutiert, die nur noch mit einem Messer das Haus verlassen oder mit Pfefferspray. Wir leben in einem sicheren Land, bei allen Bedrohungen, die wir haben. Das müssen wir wahrnehmen, und wir dürfen die Angst nicht dazu benutzen, immer weitere Freiheitseinschränkungen zu machen, denn das, was in Bayern jetzt kritisiert wird, sind ja die Vorfeldbefugnisse, die immer weiter ausgedehnt werden, und die betreffen uns, die völlig unbescholtenen Bürger. Wir rutschen immer weiter in Überwachung hinein, Kameraüberwachung, Schleierfahndung, also Überwachung auf den Straßen, Computerüberwachung, Präventivhaft. "Opfer des Falles Amri könnten noch leben, wenn die Gesetze richtig angewandt worden wären" Büüsker: Herr Baum, wenn ich ganz kurz einhaken darf: Verstehe ich Sie dann richtig, dass Sie hier der CSU in Bayern vorwerfen, Politik mit Angst zu machen? Baum: Ja, das werfe ich vor. Der Herrmann hat erklärt, kürzlich erklärt, der islamistische Terrorismus sei eine Bedrohung unserer Demokratie. Das ist ja aberwitzig. Unsere Demokratie ist durch ganz andere Dinge bedroht: durch Demokratiemüdigkeit. Aber wer so denkt, der lässt sich auch zu solchen Maßnahmen verleiten. Unsere Demokratie ist dadurch nicht bedroht. Wir wehren uns. Die Kriminalstatistik ist in guter Entwicklung. Also die Wirklichkeit gibt Herrn Herrmann überhaupt nicht recht. Wir haben eine beispiellose sicherheitspolitische Aufrüstung in den letzten Jahren gehabt: in den letzten zehn Jahren etwa 50 Strafverschärfungen. Es gibt Gesetze, die verfassungswidrig sind, die jetzt vom Verfassungsgericht angegriffen werden. Die Politik hält einfach nicht inne. Ich plädiere dafür, dass man jetzt einfach mal innehält. Es ist die Anwendung der Gesetze, die wichtig ist. Die Opfer des Falles Amri könnten noch leben, wenn die Gesetze richtig angewandt worden wären. Baum: Wir müssen "diese beispiellose sicherheitspolitische Aufrüstung stoppen" Büüsker: Herr Baum, Sie haben in der vergangenen Woche in Berlin beim Netzkongress "re:publica" gesagt, mit Blick auf dieses Polizeiaufgabengesetz, das ist ein Verfassungsbruch, das dürfen wir nicht hinnehmen und wir müssen es auch juristisch angreifen. Werden Sie gegen dieses Gesetz klagen? Baum: Ja, selbstverständlich. Wir werden sind dabei, auch gegen andere Gesetze der Großen Koalition zu klagen. Das ist ja die Misere. Die Parlamente achten die Verfassung nicht, und das muss dann vor dem Verfassungsgericht repariert werden. Das ist doch kein guter Zustand. Im Grunde müssen wir wirklich jetzt in uns gehen, einfach mal Bilanz ziehen und diese beispiellose sicherheitspolitische Aufrüstung stoppen. Das bayrische Gesetz ist das schlimmste, aber in den anderen Ländern gibt es ähnliche Bestrebungen. Also ich frage mich, was wir, die unbescholtenen Bürger, die immer weiter in Überwachung hineingeraten, was wir eigentlich dagegen tun. Was die Münchener, was in München jetzt passiert ist mit der großen Demonstration, finde ich wunderbar. "Wir müssen wieder zur Besonnenheit zurückkehren" Büüsker: Sie haben es ja angesprochen: Auch andere Bundesländer wollen das bayerische Gesetz als Prämisse nehmen und darauf eigene Gesetze ausarbeiten, unter anderem Nordrhein-Westfalen, wo wir eine schwarz-gelbe Landesregierung haben. Was sagen Sie denn den eigenen Parteikollegen, die dieses bayerische Gesetz als Vorlage nehmen wollen? Baum: Sie nehmen das bayerische Gesetz Gott sei Dank nicht voll als Vorlage, aber in dem nordrhein-westfälischen Gesetz stecken auch Dinge drin, die ich nicht akzeptiere, auch mein Freund Hirsch nicht, und jetzt gibt es eine Anhörung, im Juni wird man sehen, was da rauskommt. Also ich bin der Meinung, wir sollten diesem Zug offenbar der Zeit nicht folgen, und die Angst darf nicht geschürt werden. Sie muss moderiert werden, sie muss gebändigt, sie muss beruhigt werden. Es ist ja unglaublich, wenn irgendwas in diesem Lande passiert, da erzittert die ganze Republik. Das hat es früher überhaupt nicht gegeben. Ich habe das in meinem langen Leben überhaupt nicht erlebt. Nur ein einziges Mal gab es eine ähnliche Stimmung, das war in der Zeit der RAF. Also wir müssen wieder zu Besonnenheit zurückkehren. Büüsker: Sagt Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister und Mitglied der FDP. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch heute hier im Deutschlandfunk, Herr Baum! Baum: Danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerhart Baum im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum will gegen das geplante bayerische Polizeiaufgabengesetz klagen. Dieses verstoße gegen das Verfassungsrecht, sagte er im Dlf. Dem bayerischen Innenminister Joachim Hermann warf Baum vor, Politik mit der Angst der Menschen zu machen.
"2018-05-11T12:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:55.413000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ex-innenminister-zum-geplanten-polizeiaufgabengesetz-in-100.html
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Wolfgang Ischinger: China wird sein Okay nicht geben
Wolfgang Ischinger, ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (imago / Felix Zahn / photothek)
Armbrüster, Tobias
Wolfgang Ischinger, früher Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht in Russlands Annexionsversuchen eine „durchschaubare Propagandaaktion“ des Kreml, um Erfolge vorzugaukeln. Rückendeckung aller Verbündeter habe er dafür nicht.
"2022-09-30T08:14:00+02:00"
"2022-09-30T08:36:29.615000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/putin-und-die-ostukraine-annexion-interview-mit-wolfgang-ischinger-dlf-cb1635a5-100.html
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Wahlbetrug als Dauerthema
Wahlmaschine bei der Präsidentschaftswahl 2020 in den USA (imago/ Pat A. Robinson) Er war das, was man eine "Cash cow" nennt, eine Lizenz zum Gelddrucken: Lou Dobbs' Show auf Fox News war ein Quotenhit, und dementsprechend teuer konnte die Werbung verkauft werden. Doch mit der Milliardenklage gegen ihn und Fox News ist Dobbs auf einmal zu einem finanziellen Risiko für seinen Sender geworden. Einen Tag nachdem der Wahlautomatenhersteller Smartmatic die Klage eingereicht hatte, gab Fox bekannt, die Show "Lou Dobbs Tonight" mit sofortiger Wirkung abzusetzen. Das sei angeblich seit langem geplant gewesen, hieß es aus dem extrem konservativen und wirtschaftlich extrem erfolgreichen Medienhaus. Doch die Klage gegen Fox, drei seiner Moderatoren und gegen den ehemaligen Trump-Anwalt Rudy Giuliani hat es in sich: 2,7 Milliarden Dollar Strafe und Schadensersatz wären auch für Fox-Inhaber Rupert Murdoch keine Kleinigkeit. "Gegründet, um Wahlen zu fälschen" Immer wieder gingen in Dobbs' TV-Show Verschwörungstheorien unwidersprochen über den Sender, zum Beispiel von Guiliani über den Wahlmaschinenhersteller Smartmatic: "Also bedienen wir uns einer Firma, die Venezolanern gehört, die eng verbandelt waren mit Hugo Chavez und jetzt mit Maduro. Sie ist gegründet worden zu dem Zweck, Wahlen zu fälschen. Sie hat einen furchtbare Ruf und sie ist sehr offen für Hackerangriffe." Jede einzelne dieser Behauptungen ist frei erfunden und erlogen, so der Medienjournalist des öffentlichen Rundfunksenders NPR, David Folkenflik: "Die Firma Smartmatic ist nicht gegründet worden von Venezolanern mit engen Verbindungen zum ehemaligen Diktator Chavez. Sie ist nicht gegründet worden, um Wahlen zu fälschen. Und sie hat einen sehr guten Ruf." Strategie gegen Schadenersatzklage Eine Menge sehr spezifischer Falschangaben und Lügen im Dienste einer großen Lüge, nämlich der der Wahlfälschung, seien diese Narrative, denen Lou Dobbs und andere bei Fox Glaubwürdigkeit verliehen hätten. Nach Belegen für die schwerwiegenden Anschuldigungen gegen Smartmatic fragte Lou Dobbs nicht – unwidersprochen blieben die Lügen im Raum stehen. Als sich herausstellte, dass dies eine hohe Schadensersatzklage nach sich ziehen könnte, sendete Fox keine Gegendarstellung, sondern in allen betroffenen Shows ein Segment, in dem ein Experte den Lügen über die Wahlmaschinenhersteller widersprach – Teil einer juristischen Strategie, die Fox immunisieren sollte. Neue und alte Konkurrenz für Fox Dies könnte sogar Erfolg haben, denn Klagen wegen übler Nachrede sind in den USA mit ihrer Tradition der freien Rede extrem schwierig. Denn dem Beklagten muss "tatsächliche Bösartigkeit", "actual malice", nachgewiesen werden, was in den wenigsten Fällen Erfolg hat. Dennoch kommt die Klage für Fox zur Unzeit. Auf dem noch rechteren Rand wachsen Konkurrenzsender wie Newsmax und OAN. Und im Januar, dem Monat der Kapitol-Erstürmung und der Inauguration Joe Bidens, landete Fox bei den Einschaltquoten zum ersten Mal seit 1999 nur auf dem dritten Platz der Nachrichtensender, hinter den Konkurrenten CNN und MSNBC. Seitdem haben sich die Quoten wieder erholt, aber den Mythos der Unverwundbarkeit hat der rechtskonservative Medienriese Fox News verloren.
Von Marcus Pindur
Unbelegte Behauptungen über Wahlbetrug werden seit Monaten in den US-Medien diskutiert. Im Fokus steht dabei auch ein Hersteller von Wahlmaschinen. Doch dieser wehrt sich und verklagt drei Moderatoren von Fox News sowie Trump-Anwalt Giuliani.
"2021-02-22T15:35:00+01:00"
"2021-02-23T12:37:42.528000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/milliardenklage-gegen-fox-news-wahlbetrug-als-dauerthema-100.html
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"Rote Flora" vor ungewisser Zukunft
Die Demo "Lieber tanz ich als G20" zog auch an der Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel vorbei (Imago) Die alte Opernhaus-Fassade ragt in den Hamburger Himmel über dem Schanzenviertel. Oben auf dem Dach wurden schon Wochen vor dem Gipfel große schlanke Buchstaben aus blauen Neonröhren installiert: ein leuchtendes "NO G20". Seit 28 Jahren ist die "Rote Flora" von linken Gruppen besetzt, Graffiti an den Wänden, daneben Anti-G20-Plakate, Demo-Aufrufe. Das Hauptportal ist zugemauert, eine Betonrampe führt zum Seiteneingang: eine Stahltür, vollgekritzelt mit Parolen. "Wir können hier gleich mal durch die Seitentür ins Gebäude reingehen." Andreas Blechschmidt ist Anfang 50 und fungiert als Sprecher der Rotfloristen. Blechschmidt übernimmt Presse-Interviews, die die meisten Flora-Nutzer kategorisch verweigern. Er trägt Jeans und Anorak, schiebt die schwere Tür auf, geht voran. Türen während der Ausschreitungen geschlossen "Wir stehen jetzt hier in der großen Veranstaltungshalle, die die historische Eingangshalle gewesen ist. Das ist ein Raum, der ist ungefähr 300 Quadratmeter groß. Hier passen bis zu 600 Leute bei Konzertveranstaltungen rein. Ein recht hoher Raum: zehn Meter hohe Decke mit großen Metallstützsäulen, einer Holzdecke, und einem Holzfußboden auch." Es gibt Übungsräume für Bands, eine sogenannte "Küche für alle", einen Fahrrad- und Motorwerkstatt und im ersten Stock das "Archiv der sozialen Bewegungen". Während des G20-Gipfels wurde die "Rote Flora" immer dann geschlossen, wenn Ausschreitungen auf der Straße vor dem Gebäude wahrscheinlich waren, um nicht Teil der Auseinandersetzungen zu werden. Nur für Verletzte wurde die Tür geöffnet, um sie mit einem Dienst von freiwilligen Sanitätern zu versorgen. "Ich weiß letztlich auch nicht, wer auf der Straße war" Vor dem G20-Gipfel hatten die Hamburger Linksautonomen stolz erzählt, dass Aktivisten aus ganz Deutschland und Europa anreisen würden. Nachdem sich die Polizei am Freitagabend letzter Woche vollständig aus dem Viertel zurückgezogen hatte, und Randalierer Geschäfte plünderten, Scheiben einschlugen und Feuer entfachten, veröffentlichten die Aktivisten der "Roten Flora" per Internet ein kurzes Statement, riefen dazu auf, den Exzess zu beenden. Ohne Erfolg. Am Morgen danach erklärte ein blasser Andreas Blechschmidt: Ein Aktivist mit Bengalos steht am 05.07.2017 in Hamburg auf dem Dach der Roten Flora neben einem G20-Schriftzug (dpa / picture alliance / Christian Charisius) "Wir haben immer gesagt, dass die physische Integrität von Menschen eine rote Linie ist. Wir haben den Eindruck, dass die Menschen, die da gestern in der Schanze agiert haben dafür den Blick verloren haben. Das fanden wir falsch." Aber viele Menschen, vor allem die Anwohnerinnen und Anwohner, fragen sich, warum die Hamburger Linksautonomen nicht viel stärker auf die Randalierer eingewirkt haben: "Gestern haben im Hamburger Schanzenviertel keine Strukturen agiert, mit denen wir politisch verbunden sind. Ich weiß letztlich auch nicht, wer auf der Straße war. Ich kann nur sagen, dass das ein Agieren war, das nicht aus unserem Kreis heraus organisiert worden ist. Wir waren nicht Teil davon. Und insofern müssen wir uns auch nicht mit der Frage der Verantwortung an diesen Punkt auseinandersetzen." "Seit einem Jahr wussten die das!" Am gleichen Tag verteilten die Aktivisten Entschuldigungsschreiben in der Nachbarschaft. Auf den Straßen standen die Menschen zusammen und diskutierten. Tauschten sich aus über die Ängste, die sie ausgestanden haben, über die Wut auf die Randalierer und die Polizei, die stundenlang dem Treiben zuschaute. Einige loben die Rotfloristen für das Entschuldigungsschreiben, andere schüttelt darüber den Kopf. "Das waren auch nicht die Linken, die das gestern angefangen haben, das war für mich ein Hooligan-Mob, die das übernommen haben, die geplündert haben." "Muss ich mal ehrlich sagen, obwohl ich ja auch Sympathien habe für die Ziele. Aber das ist heuchlerisch. Ich will jetzt hier nicht klugscheißerisch reden, aber das ist meine Einschätzung. Das ist unehrlich. Jetzt so zu tun: 'Das wollen wir auch nicht!' Das haben sie gewusst. Die kamen aus Teilen von Ländern, mit einer harten Szene, das wussten die alles, seit einem Jahr wussten die das!" "Wir müssen über Konsequenzen nachdenken" Zwei Tage später, Pressekonferenz im Hamburger Polizeipräsidium. Bürgermeister Olaf Scholz sieht man den Schlafmangel an, neben ihm sitzen Innensenator Andy Grote, Polizeipräsident Ralf-Martin Meyer und Hartmut Dudde, der Gesamteinsatzleiter des G20-Gipfels. Und natürlich wird auch die Frage nach einer Schließung der Roten Flora gestellt: "Das ist jetzt keine Entscheidung, weil wir dazu gar keine Handhabe hätten, das muss man ausdrücklich sagen. Die ist ja nun schon seit Langem da. Aber ehrlicherweise macht sich keiner von uns irgendwas vor: In den Räumen der Roten Flora haben sich, soweit wir das beurteilen können, Leute besprochen. Und deshalb müssen wir darüber nachdenken, was das für Konsequenzen hat. Allerdings ist das, was wir dann tun, kein Schnellschuss." Der Schriftzug «No G20» leuchtet am 05.07.2017 in Hamburg auf dem Dach des autonomen Kulturzentrums Rote Flora im Schanzenviertel. (dpa picture alliance/ Christian Charisius) Vor drei Jahren hatte die Stadt das Gebäude dem Vorbesitzer abgekauft und auf diese Weise dessen Abriss- und Neubaupläne gestoppt, gegen die die linke Szene scharf protestierte. Die Eigentumsrechte wurden der mit Stadtentwicklungsprojekten befassten Lawaetz-Stiftung übertragen. Das Ziel des Rückkaufs erklärte damals Hamburgs Finanzsenator Peter Tschentscher so: Aktivisten hätten mehr tun können "Wir tun dies, weil wir für eine friedliche, gewaltfreie Entwicklung der Stadt nicht wollen, dass ein privater Eigentümer mit seinen Verwertungsinteressen unsere Stadt allein durch Ankündigungen und Pläne – die aus unserer Sicht auch nicht durchsetzbar sind – in Aufruhr versetzt." Nach den Gewaltexzessen beim G20-Gipfel vor dem für Randalierer verschlossenen Haus gehen die Debatten unter den Anwohnern weiter. Jutta Franck betreibt zusammen mit ihrer Schwester einen Teeladen hundert Meter von der Roten Flora entfernt. An vier Stellen prallten Freitagnacht Steine gegen das Schaufenster, ganz zu Bruch ging es nicht. Die ältere Dame regt sich auf über die Rote Flora-Aktivisten. Die hätten doch über Lautsprecher Durchsagen machen können und ihren Appell zur Mäßigung nicht nur per Internet verbreiten sollen. "Nur, wenn man jetzt sagt: 'Die Rote Flora muss weg', dann werden wir natürlich einen richtigen Bürgerkrieg erleben. Und dann werden einige vor lauter Angst sagen: 'Die Rote Flora muss bleiben!' Aber das ist auch eine Kapitulation." Draußen auf dem Schulterblatt regnet es in Strömen. Unter den Markisen vor den Cafés wird Kaffee getrunken, gefrühstückt. Heute Abend kommt das Plenum der Roten Flora zusammen. Dann wird diskutiert, wie man sich positionieren will, welche Lehren aus dem Desaster vom Wochenende gezogen werden müssen.
Von Axel Schröder
Nach den schweren Ausschreitungen während des G20-Gipfels in Hamburg werden Forderungen laut, das linksautonome Zentrum "Rote Flora" zu schließen. Die Bewohner betonen zwar, dass sie die Gewalt abgelehnt hätten. Dennoch gibt es eine Debatte um Konsequenzen, auch unter Anwohnern des Schanzenviertels.
"2017-07-12T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:36:34.050000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-den-g20-krawallen-rote-flora-vor-ungewisser-zukunft-100.html
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"Ich kann die Entscheidung nachvollziehen"
Kevin Volland, so ARD-Korrespondent Jens Wolters, wäre natürlich auch ein denkbarer Ersatz für Marco Reus gewesen, der sich beim Länderspiel am 7. Juni 2014 eine Sprunggelenksverletzung erlitt. Aber für die Position von Marco Reus habe Jogi Löw bereits einige Alternativen im Kader, meint Wolters: Von Podolski über Müller bis zu Götze. Daher sei es für ihn nicht überraschend gewesen, dass der Bundestrainer die Nachnominierung genutzt hat, um seine Mannschaft mit Mustafi devensiv zu verstärken. Der Kader bleibe so oder so sehr vielseitig. ARD-Korrespondent Jens Wolters ist bereits in Rio de Janeiro. Die Arbeitsbedingungen seien top, erzählt er - trotz gelegentlicher Stromausfälle. Die Stimmung auf den Straßen sei allerdings verhalten. Von Vorfreude auf die WM sei da noch nicht viel zu spüren. Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 8. Dezember 2014 als Audio-on-demand abrufen.
ARD-Korrespondent Jens Wolters im Gespräch mit Astrid Rawohl
Das WM-Aus des verletzten Marco Reus war noch nicht verkraftet, da kam der nächste Aufreger: Bundestrainer Jogi Löw nominierte für den offensiven Reus den defensiven Shkodran Mustafi nach. Nachvollziehbar, sagt ARD-Korrespondent Jens Wolters.
"2014-06-07T19:17:00+02:00"
"2020-01-31T13:46:02.223000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mustafi-nachnominierung-ich-kann-die-entscheidung-100.html
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Lehrer wollen mehr Geld und Verbeamtungen
Nur 30 Prozent der Bevölkerung finden, dass die Lehrergehälter steigen sollten (picture-alliance / dpa/Bernd Weißbrod) Ein vollzeitbeschäftigter Lehrer verdient in Deutschland durchschnittlich 2750 Euro netto: "Na, für das bisschen Schule. – Nein, mehr müssen sie nicht kriegen, auf keinen Fall nicht, das würde ich sagen, wäre ausreichend. – Die Oberlehrer, die verdienen genug." So sieht das die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Nur 30 Prozent finden, dass die Lehrergehälter steigen sollten. Das ist das Ergebnis einer Studie des ifo Instituts im Rahmen des Bildungsbarometers 2016. Zusätzlich hat das Institut in diesem Jahr auch extra 700 Lehrer befragt. Dass dabei drei Viertel der Lehrer finden, dass ihre Gehälter steigen müssten, findet Ludger Wößmann vom Ifo Institut nicht erstaunlich: "Lehrer sind Menschen wie alle anderen und gerade wenn es um unsere eigenen Berufe geht, wenn Sie mich fragen, ob Professoren mehr Gehalt bekommen sollten, dass würde ich natürlich augenzwinkernd sagen, natürlich und wenn es um die Arbeitsbelastung geht, möchte man natürlich mehr Freiheiten haben und ganz ähnliche Dinge sehen wir auch bei den Lehrern." Andere Realitäten als früher Zum Beispiel finden 65 Prozent der Lehrer, dass sie unbedingt verbeamtet werden sollten, dieser Meinung sind aber nur 33 Prozent der übrigen Bevölkerung. 50 Prozent aller befragten Menschen befürworten die Inklusion von Kindern mit Lernschwächen in Regelklassen, aber nur 25 Prozent der Lehrer. Und während ebenfalls die Hälfte der Bevölkerung Ganztagsschulen befürwortet sind es bei den Lehrern nur knapp 40 Prozent: "Die meisten Lehrer, die wir heute haben, sind in diesen Job gegangen, wo es so war, dass man mittags nach Hause gehen konnte und dann den Rest des Arbeitstages frei gestalten konnte. Wenn sich das verändert, sind das natürlich andere Realitäten, und das ist schwierig zu akzeptieren. Wir sehen aber gleichzeitig, dass über ein Viertel der Lehrer auch dafür ist. Und ich bin mir sicher, je mehr das sozusagen zur normalen Realität wird, je mehr junge Lehrer reinkommen, die unter dieser Realität sich für den Job entschieden haben, desto mehr wird sich da auch die Meinung ändern." Lehrer als Schlüsselelemente im Bildungssystem Und um Bildungsreformen auf den Weg zu bringen, sei es wichtig, die Meinung der Lehrer ganz genau zu kennen, sie seien die Schlüsselelemente im Bildungssystem: "Zum einen sind sie natürlich die Hauptakteure und die Lehrer sind der wichtigste Einflussfaktor dafür, wie die Qualität des Bildungssystems ist, wie viel die Schülerinnen und Schüler lernen. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die in so einem Bereich, wie alle anderen Berufsgruppen in ihrem Bereich auch, Eigeninteressen haben. Wenn wir Politik machen wollen, dann kann man das selten gegen die Lehrer machen, sondern dass sind eben die entscheidenden Interessenträger in diesem Bereich." Aufnahmeprüfungen an den Universitäten? Und die müsse man mit ins Boot holen, sonst hilft die beste Reformidee nichts, so Ludger Wößmann. Als Verhinderer will er die Lehrer dabei nicht sehen, einige neue Ideen finden in der Umfrage sowohl überwiegend Befürworter in der Bevölkerung, als auch bei den Lehrern: "Zum Beispiel für die Idee einer Fortbildungspflicht für Lehrer sogar außerhalb der Unterrichtszeit gibt es eine absolute Mehrheit der Lehrer, die dafür sind. Oder die Frage: Sollte es Aufnahmeprüfungen geben an den Universitäten für Leute, die den Lehrerberuf ergreifen wollen, in dem Sinne, dass sie sowohl fachlich, als auch pädagogisch geeignet sind, gibt es absolute Mehrheiten dafür, wo wir sehen, doch, auch die Lehrer sind dem gegenüber ganz offen." Vor jeder Reform sei es wichtig, mit den Lehrern in die Diskussion zu kommen. Neuerungen im Bildungssystem sollten nicht nur den Schülern etwas bringen, sondern sie müssten in jedem Fall von den Hauptakteuren und Betroffenen mit getragen werden.
Von Anja Nehls
Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland wünschen sich laut aktuellem ifo-Bildungsbarometer höhere Gehälter und mehrheitlich die Verbeamtung. Sie beurteilen das Bildungssystem insgesamt schlechter als die Gesamtbevölkerung. Der Leiter des ifo-Instituts rät deshalb, die Lehrer bei Bildungsreformen mit ins Boot zu holen.
"2016-09-14T14:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:23.425000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ifo-bildungsbarometer-lehrer-wollen-mehr-geld-und-100.html
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Notfalleinsätze an Schulen nehmen zu
Vor 17 Jahren lief ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt Amok (dpa / picture alliance / Stephanie Pilick) Stephanie Gebert: Für Eltern ist es ein Alptraum, wenn ihrem Kind an der Schule Leid widerfährt. In Erfurt mussten Angehörige das vor 17 Jahren erleben: Ein ehemaliger Schüler hatte am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst erschossen. Hunderte Schüler und Lehrkräfte erlebten die Tat oder ihre Folgen vor Ort mit. Damals übernahmen Notfallseelsorger die psychosoziale Betreuung, sie sprachen mit den Opfern und Augenzeugen, nahmen sich Zeit für Trauer- und Trauma-Arbeit. Nach jüngsten Studien kommen Notfallseelsorger an Schulen grundsätzlich immer häufiger zum Einsatz. Erforscht hat das Harald Karutz, er ist Professor für Notfall- und Rettungsmanagement in Hamburg. Ich grüße Sie! Die höheren Einsatzzahlen sind aber nicht damit zu begründen, dass es mehr Notfälle tatsächlich gibt, sagen Sie. Warum also dann? Harald Karutz: Es hat sicherlich auch damit zu tun, dass einfach die Sensibilität gestiegen ist und man heute einfach auch mehr darüber weiß, was für psychische Auswirkungen solche Ereignisse nach sich ziehen, und dann werden also Helfer wie Notfallseelsorger heute einfach eher dazu gezogen. Vor vielen Jahren hätte man das halt nicht gemacht, weil man gar nicht wusste, wie wichtig diese Hilfe ist. Vielfältige Gründe für Notfallseelsorge Gebert: Was sind das denn dann für Beispiele, wo die Notfallseelsorger kommen, ohne dass ein Amoklauf stattgefunden hat an einer Schule? Karutz: Ach, das ist ein ganz breites Spektrum. Es gibt die sogenannten Individualnotfälle, wo also eigentlich nur, in Anführungszeichen, ein Schüler oder ein Lehrer, ein Mitglied der Schulgemeinde betroffen ist, das kann eine schwere Erkrankung sein, das kann ein schwerer Unfall sein, bei dem jemand verletzt oder getötet wird. Es treten aber auch Suizide auf von Schülern und von Jugendlichen. Dann gibt es Unglücke auf Klassenfahrten, gar nicht so selten in der Tat, es gibt aber auch etwas ungewöhnlichere Ereignisse wie zum Beispiel Unglücke im Chemieunterricht beispielsweise oder Unglücke auf Klassenfahrten. Karutz: Kinder und Jugendliche erleben Notfälle anders Gebert: Was ist die besondere Herausforderung, wenn Seelsorger sich um Schülerinnen und Schüler kümmern? Also welche Rolle spielt das Alter? Karutz: Das Alter spielt eine Rolle, weil Kinder und Jugendliche Notfälle schon etwas anders auch erleben, anders bewältigen als Erwachsene. Aber es ist zum Beispiel auch so, dass man in Schulen eigentlich ja immer mit einer großen Gruppe von Betroffenen konfrontiert ist. Also selbst, wenn ein Schüler verunglückt ist, dann ist natürlich die Klassengemeinschaft mit betroffen und die Lehrerinnen und Lehrer oftmals ebenso. "Die Schule hat eine ganz wichtige Bedeutung" Gebert: Welche Bedeutung hat der Ort Schule auch als Schutzraum und als Lernraum, wie er nun von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommen wird? Karutz: Die Schule hat eine ganz wichtige Bedeutung, weil die Schule in der Tat ja auch, wie Sie sagen, ein Lebensraum für die Jugendlichen ist. Und das ist etwas, was wir als Notfallseelsorgerinnen, Notfallseelsorger auch versuchen, die Schule als eine Ressource zu stärken und zu schauen, was die Schule insgesamt als Organisation beitragen kann, dass solche Notfallerfahrungen möglichst gut bewältigt werden. Gebert: Was könnte das denn sein zum Beispiel? Karutz: Das Miteinander in der Schulgemeinschaft, und nach schweren Unglücken versuchen wir zum Beispiel, mit den Schülern und Lehrern gemeinsam zu überlegen, wie gut reagiert werden kann, was geeignete Nachsorgeangebote sein können. Und da finden die einzelnen Schulklassen zum Beispiel auch immer ihre individuellen Wege und haben eigene Vorschläge, das entsteht aus der Gemeinschaft heraus. Und das ist genau das, was wichtig und wertvoll ist, und das versuchen wir von der Notfallseelsorge aus gemeinsam auch mit der Schulpsychologie zum Beispiel, auch mit Schulsozialarbeitern dann eben aufzugreifen und zu stärken. Es fehlt an niedrigschwelligen Beratungsangeboten Gebert: Jetzt haben Sie gerade die Sozialarbeiter und die Psychologen angesprochen. Wir wissen alle, wie es um die Situation in den meisten Schulen in Deutschland steht, es gibt zu wenig Lehrkräfte, es gibt eben zu wenig Sozialpädagogen. Wie sieht es aus, wenn es um Krisenintervention geht? Ist da ebenfalls noch Luft nach oben? Karutz: Ja, Luft nach oben kann man sicherlich sagen. Man muss aber auf der anderen Seite auch sagen, dass in diesem Bereich der Notfallnachsorge in Deutschland unglaublich viel schon geschehen ist. Also es gibt eigentlich überall in Deutschland inzwischen an den einzelnen Schulen interne Krisenteams, wo also Lehrkräfte selber sich fort- und weitergebildet haben, um Hilfen anzubieten. Auf der anderen Seite kann man sicherlich sagen, dass man die Situation noch weiter verbessern könnte. Gebert: Wie denn zum Beispiel? Was fehlt noch? Karutz: Generell, glaube ich, kann man sagen, dass Beratungsangebote, die niedrigschwellig im Schulalltag zu erreichen sind, dass es daran mangelt. Die schulpsychologischen Beratungsstellen sind oftmals nicht in unmittelbarer Nähe, da müssen Termine vereinbart werden, die einzelnen Schulpsychologen sind für sehr, sehr viele Kinder und Jugendliche zuständig. Also da könnte man sicherlich noch etwas verbessern. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Hilfe im Notfall Wenn Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sind, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein, müssen es aber nicht. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie - auch anonym - mit anderen Menschen sprechen können. Eine Übersicht der Angebote finden Sie zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.Sofortige Hilfe erhalten Sie rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der kostenlosen Rufnummern 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Und im Internet unter www.telefonseelsorge.de.
Harald Karutz im Gespräch mit Stephanie Gebert
Suizide, Unfälle, Erkrankungen: Einer Studie zufolge nehmen Seelsorge-Einsätze an Schulen zu. Seit dem Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium 2002 sei die Sensibilität an Schulen gestiegen, sagte Studienleiter Harald Karutz im Dlf. Dennoch gebe es in Sachen Beratungsangebote noch Luft nach oben.
"2019-05-29T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:37.290000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/seelsorge-notfalleinsaetze-an-schulen-nehmen-zu-100.html
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Baden-Württemberg ist weiter als andere
Verfügt eine Kommune über ein Konzept der Wärmeplanung, können Hausbesitzer transparent erfahren, wenn die Stadt beispielsweise die Errichtung eines Wärmenetzes plant. Auf die Anschaffung einer Wärmepumpe könnte dann wahrscheinlich verzichtet werden. (IMAGO / Christian Ohde)
Thoms, Katharina
In Baden-Württemberg ist die kommunale Wärmeplanung bereits seit drei Jahren Pflicht, zumindest für Große Kreisstädte. Aber auch für kleinere Orte kann ein solches Konzept durchaus sinnvoll sein – auch, um Hausbesitzern teure Umrüstungen zu ersparen.
"2023-06-01T14:12:00+02:00"
"2023-06-01T15:16:12.220000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommunale-waermeplanung-baden-wuerttemberg-ist-weiter-als-andere-dlf-361429a7-100.html
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Osten Aleppos ohne Krankenhäuser
Das von "Ärzte ohne Grenzen" veröffentlichte Archivfoto zeigt ein Krankenhaus in Ost-Aleppo nach einem Luftangriff im April. (Karam Almasri / Medecins sans Frontieres / dpa) Die Nationale Sicherheitsberaterin der USA, Susan Rice, fand deutliche Worte: "Es gibt keinerlei Entschuldigung für diese abscheulichen Taten", erklärte Susan Rice zu den jüngsten Luftangriffen im von Rebellen gehaltenen Ostteil von Aleppo. Die USA verurteilten die schrecklichen Angriffe gegen medizinische Einrichtungen und humanitäre Helfer. "Das syrische Regime und seine Verbündeten, vor allem Russland, sind verantwortlich für die aktuellen und langfristigen Konsequenzen dieser Taten." Der UNO-Hilfskoordinator für Syrien, Ali al-Saatari, äußerte sich ebenfalls entsetzt über die jüngste Eskalation der Gewalt. Die Union of Syrian Medical Organizations (UOSSM) hatte zuvor mitgeteilt, zuletzt sei das Omar Bin Abdul Asis Krankenhaus im Osten Aleppos in einer Reihe von Luftangriffen zerstört worden. Bereits am Freitag habe man vier weitere Kliniken nach schweren Angriffen schließen müssen, darunter auch die letzte noch funktionierende Kinderklinik im Ostteil der Stadt. Heute gingen die Angriffe weiter: Nach Angaben der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden mindestens 25 Menschen getötet. Die syrischen "Weißhelme" berichteten sogar von mehr als 60 Toten. Es sei ein "katastrophaler Tag mit einem beispiellosen Bombardement" gewesen. Die Freiwilligen der Organisation hätten mehr als 180 Luftangriffe gezählt, zudem seien zahlreiche Faßbomben und Artilleriegranaten niedergegangen. (jasi,jan)
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Im Osten der umkämpften syrischen Stadt Aleppo sollen alle Krankenhäuser außer Betrieb sein. Nach Angaben der syrischen Ärztevereinigung mussten fünf Kliniken schließen, nachdem sie vom Militär des Regimes und den Verbündeten aus der Luft angegriffen wurden. Die US-Regierung verurteilte die "abscheulichen Taten" und warnte Damaskus und Moskau vor Konsequenzen.
"2016-11-19T19:48:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:01.198000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-osten-aleppos-ohne-krankenhaeuser-100.html
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Wenn das psychische Leid in die Öffentlichkeit rückt
Rapper Kanye West fällt immer wieder durch bizarre Verhaltensweisen auf, und zeigt Interesse bei der amerikanischen Wahl als Kandidat anzutreten (imago) I hate being Bi-Polar. It’s awesome" – "Ich hasse es bipolar zu sein. Es ist großartig." Diese Aussage findet man auf dem Cover des Albums "Ye" des US-amerikanischen Rappers Kanye West. West ist nicht der Einzige, der sich dazu bekennt, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Auch Musikerinnen und Musiker wie James Blake oder Selena Gomez thematisieren psychische Dissonanzen. Und überhaupt scheint es heutzutage immer selbstverständlicher zu sein, über mentale Gesundheit zu sprechen und das eigene psychische Leid in der Öffentlichkeit zu beleuchten. Dies, so Deutschlandfunk Redakteur Raphael Smarzoch, ist durchaus eine ambivalente Angelegenheit. Krankheit als Marke Zum einen ist es durchaus positiv zu bewerten, dass offenbar eine Entstigmatisierung des Themas stattgefunden hat. Wenn große Stars wie Ariane Grande über ihren Kampf mit Depressionen sprechen, dann hat das natürlich Vorbildfunktion und könnte auch anderen Menschen helfen, darüber zu sprechen und in einen Dialog zu treten. Andererseits können psychische Erkrankungen auch zu einer Marke werden. "Das könnte beispielsweise bei Kanye West der Fall sein, der angeblich unter einer bipolaren Störung leidet und in letzter Zeit durch äußerst erratisches Verhalten in Erscheinung getreten ist. Und dieses Verhalten ist natürlich medienwirksam. Es generiert Aufmerksamkeit und damit auch Umsätze. Und vor diesem Hintergrund ist das durchaus kritisch zu sehen. Zum einen weil psychische Zusammenbrüche, wie beispielsweise bei seiner Wahlkampfveranstaltung, zum Meme werden, man erwartet sie förmlich, zum anderen weil West daraus auch selbst Kapital schlägt." Geniale Züge West bezeichnet seine psychische Erkrankung als eine Art Superkraft. "Da findet ja auch eine Verklärung, eine Romantisierung, statt, die weit in die Musik- und Kultur-Geschichte zurückreicht, nämlich in den Genie-Kult." Dieser sogenannte Genie Kult befeuert die Annahme, dass kreative Tätigkeiten von krankhaften Gemütszustände profitieren, dass diese Gemütszustände zu künstlerischen Höchstleistungen führen. "Das findet man schon in der klassischen Musik, aber auch in der Literatur oder Kunst. Natürlich war das nur den Männern vorbehalten. Denn schöpferische Geistigkeit und Weiblichsein galten als unvereinbar. Die Frauen waren bloß dazu da als Schutzinstanzen, die Männer wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen, etwa wie das Kim Kardashian bei ihrem Ehemann Kanye West macht." Depression als Fetisch Die Tatsache, dass Fragen nach psychischem Wohlbefinden im Pop heutzutage so virulent sind, hat einerseits tragische Gründe. Der Star DJ Aviccii nahm sich unter anderem letztes Jahr das Leben. Und auch Chester Bennington von Linkin Park. Diese traurigen Vorfälle haben dazu geführt, dass anders über Depressionen und psychische Erkrankungen geredet wird. Eine Serie wie "Tote Mädchen lügen nicht", "13 Reasons Why", führte beispielsweise auch zu einer Diskursverschiebung. Das ist die Kehrseite der Medaille. Depressionen können zu einer Art Ästhetik werden. Traurigkeit wird fetischisiert, man denke in diesem Kontext nur an Lana del Rey, die das Image einer melancholischen, apathischen und verführerischen Muse pflegt. Oder an die Sad Boys Clique rund um den schwedischen Rapper Yung Lean, die einen ironischen Zugang zu dem Thema pflegen. Dabei gibt es da gar nichts zu lachen. Wenn Sie sich selbst von Suizidgedanken betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter den kostenlosen Hotlines 0800-111 0111 oder 0800-11 10222 erhalten Sie Hilfe.
Von Raphael Smarzoch
Musiker Kanye West weint auf der Bühne und berichtet in den sozialen Medien von seiner Bipolarität. Auch James Blake und Selena Gomez machen ihre psychischen Probleme zum Thema. Genie und Wahnsinn liegen auch im Pop dicht beieinander. Ein schmaler Grad zwischen echtem Leid und falschem Fetisch.
"2020-08-11T15:05:00+02:00"
"2020-08-12T08:59:46.747000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mentale-gesundheit-im-pop-wenn-das-psychische-leid-in-die-100.html
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Trump kritisiert Migration aus "Drecksloch-Ländern"
US-Präsident hat afrikanische Länder und Haiti "shithole-countries" genannt. Ihm seien Einwanderer aus Norwegen oder Asien lieber. Ein Sprecher verteidigte Trumps Aussagen. (AP / dpa / Evan Vucci) Die umstrittene Äußerung des US-Präsidenten war der Aufmacher in den Abendnachrichten aller großen Fernsehsender in den USA: "Explosive Kommentare des Präsidenten", hieß es bei CBS. Und NBC sprach von "schockierenden Kommentaren im Oval Office": "Könnte für einige jüngere Zuschauer nicht geeignet sein" Und auch das geschieht nicht alle Tage. In der Anmoderation zum Beitrag über die Äußerungen des Präsidenten warnte NBC-Moderator Lester Holt: "Das was sie gleich hören, könnte für einige unserer jüngeren Zuschauer nicht geeignet sein". Was war passiert? Donald Trump hatte Senatoren beider Parteien zu Gast im Oval Office. Eine Gruppe von sechs Senatoren hatte einen überparteilichen Kompromiss erarbeitet: Damit sollten hunderttausende junge Einwanderer, die sogenannten "Dreamer", vor Abschiebung geschützt werden. Die Senatoren trauten ihren Ohren nicht Die von Trump heftig kritisierte Einwanderungslotterie sollte halbiert werden, dafür aber dürften Einwanderer aus Mittelamerika bleiben, die aufgrund von Naturkatastrophen in die USA kamen. Offenbar gefiel Donald Trump dieser überparteiliche Kompromiss überhaupt nicht. Die Senatoren jedenfalls trauten ihren Ohren nicht, als sie die Reaktion des Präsidenten hörten, berichtete CNN-Korrespondent Jim Acosta und zitierte dann Trumps umstrittene Äußerung: "Warum lassen wir all diese Leute aus Drecksloch-Ländern hierher kommen?", habe Trump wörtlich gesagt und sich dann vor allem über Einwanderer aus Afrika und Haiti beklagt. "Warum brauchen wir mehr Haitianer?", habe Trump protestiert: "Schmeißt Sie raus!" Stattdessen schlug Trump vor, mehr Menschen aus Ländern wie Norwegen aufzunehmen. Oder aus asiatischen Ländern, weil die Amerikas Wirtschaft voranbringen. Kein Dementi aus dem Weißen Haus Aus dem kam kein Dementi. Im Gegenteil: Ein Sprecher verteidigte Trumps Aussagen: Während sich manche Politiker in Washington lieber für Ausländer einsetzen, werde Trump "immer für die Amerikaner kämpfen". Der Präsident heiße jene Einwanderer willkommen, die zum Wirtschaftswachstum beitragen und sich gut assimilieren. Heftige Kritik kam anschließend sowohl von Demokraten als auch von einigen Republikanern. Die republikanische Kongressabgeordnete Mia Love, deren Familie aus Haiti stammt, bezeichnete Trumps Verhalten als "unakzeptabel für den Anführer unserer Nation". Trumps Worte seien "ein Schlag ins Gesicht der Werte unserer Nation". Der demokratische Senator Ben Cardin sagte: "Ich hätte nie geglaubt, dass so was aus dem Mund des Präsidenten der Vereinigten Staaten kommt. Das ist extrem schädlich": Trump-Bemerkung vor dem 8. Jahrestag des Haiti-Erdbebens Mehrere Politiker wiesen darauf hin, dass Trumps abfällige Bemerkungen unmittelbar vor dem 8. Jahrestag des verheerenden Erdbebens in Haiti fielen. Der Sprecher der afroamerikanischen Kongressabgeordneten Cedric Richmond twitterte: Trumps Äußerungen seien ein weiterer Beleg dafür, dass Trumps Agenda "Mach Amerika wieder großartig" in Wirklichkeit das Ziel habe: "Mach Amerika wieder weiß". Dass Trump am gleichen Abend sein Verhältnis zum nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un als "gut" bezeichnete, ging in den US-Medien fast unter. In einem Interview mit dem "Wall Street Journal" sagte er dem überraschten Reporter, der ihn mit früheren "Rocket-Man"-Äußerungen konfrontierte: "Sie werden das bei mir häufiger erleben ... Auf einmal ist jemand mein bester Freund ... Ich bin ein sehr flexibler Mensch." Heute hat Donald Trump weniger Zeit für umstrittene Äußerungen. Er muss ins Krankenhaus, um seinen jährlichen Gesundheits-Check zu absolvieren.
Von Martin Ganslmeier
Bei einem Treffen zur US-Einwanderungspolitik hat sich US-Präsident Donald Trump abfällig über Einwanderer aus Afrika und Haiti geäußert. Die Äußerung fiel während einer Debatte über einen neuen Gesetzesentwurf, mit dem sich bestehende Regelungen geändert hätten.
"2018-01-12T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:34:37.135000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einwanderer-aus-afrika-und-haiti-trump-kritisiert-migration-100.html
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Generalsekretär Guterres für Regulierungsbehörde zu KI
Antonio Guterres, UNO-Generalsekretär (Salvatore Di Nolfi/KEYSTONE/dpa) Wissenschaftler und Experten hätten die Welt zum Handeln aufgerufen und KI zu einer existenziellen Bedrohung für die Menschheit erklärt, sagte Guterres in New York. Diese Warnungen müsse man ernst nehmen. Er verwies dabei auf die Macht großer Tech-Firmen und Staaten, die die Menschenrechte missachten. Guterres stellte ein Positionspapier vor, in dem die Vereinten Nationen Vorschläge zum weltweiten Umgang mit KI machen, und kündigte die Gründung eines hochrangigen Beratergremiums zu dem Thema an. Außerdem unterstütze er die Gründung einer Regulierungsbehörde, sagte Guterres. Als Vorbild nannte er die Internationale Atomenergie-Behörde. Diese Nachricht wurde am 13.06.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
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UNO-Generalsekretär Guterres hat vor den Gefahren des Missbrauchs von Künstlicher Intelligenz gewarnt und sich für die Einrichtung einer Regulierungsbehörde ausgesprochen.
"2023-06-14T01:14:40+02:00"
"2023-06-13T02:31:58.660000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/generalsekretaer-guterres-fuer-regulierungsbehoerde-zu-ki-100.html
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Hoffnung auf Gleichberechtigung und Respekt
Teilnehmer der Eröffnungsshow der Paralympics im Stadion von Pyeongchang formen eine Lotus-Blume. (picture alliance / dpa / MAXPPP) Die Zeremonie begann pünktlich um 20.00 Uhr Ortszeit mit Pyrotechnik, Trommelschlägen und einer Lichtshow. Südkoreas Staatspräsident Moon sprach die traditionellen Eröffnungsworte auf Koreanisch. "Wir träumen von einer Welt, in der jeder respektiert und gleich behandelt wird", sagte er in seiner Rede. "Das ist ein Traum, der durch die Paralympics mit Leben erfüllt wird. Mit diesen Spielen nähern wir uns wieder einer Welt von Gleichheit und Einheit", sagte Südkoreas Staatspräsident. Parsons: "Paralympischer Sport ändert die Welt" Moon hielt seine Rede an der Seite von Andrew Parsons, dem Präsidenten des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), und Thomas Bach, dem Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). "In den nächsten zehn Tagen werden Träume wahr. Paralympischer Sport ändert nicht nur Leben, sondern auch die Welt. Die Paralympics eröffnen neue Horizonte", sagte Parsons. Danach entzündete die südkoreanische Rollstuhl-Curlerin Seo Soonseok mit Olympia-Curlerin Kim Eun Jung die Paralympische Flamme. Ihr Landsmann Choi Bogue und der Nordkoreaner Ma Yu Choi hatten zum Abschluss des Fackellaufes mit rund 800 Teilnehmern das Feuer ins Stadion getragen. Bei der Eröffnungsfeier waren Athleten aus Nord- und Südkorea unter getrennter Flagge ins Olympiastadion von Pyeongchang ins Stadion gekommen. Das Team aus dem Norden wurde von den 30.000 Zuschauern bei eisigen Temperaturen mit großem Beifall empfangen. Bei den Olympischen Spielen waren beide Länder noch gemeinsam eingelaufen. An der Spitze der deutschen Mannschaft trug die sechsmalige Paralympics-Siegerin Andrea Eskau die Fahne. Die 46-Jährige vom USC Magdeburg führte die 20 Athleten des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) sowie die vier Begleitläufer an. Die 46-Jährige reckte jubelnd beide Arme in die Luft und winkte ins Publikum. "Das war natürlich total erhebend. Insbesondere der Moment, wenn die Nation aufgerufen wird", sagte Eskau im ZDF. "Es ist schon toll, wenn man alleine vorne steht vor allen." Keine Medaillenvorgabe für deutsches Team Zu den größten Medaillen-Hoffnungen zählen neben Eskau Anna Schaffelhuber, Andrea Rothfuss (beide Ski alpin) und Anja Wicker (Langlauf und Biathlon). Eine Medaillenvorgabe vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) gibt es für das Team allerdings nicht. Man sei dabei, "um zu gewinnen", sagte DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher jedoch in aller Deutlichkeit: "Wir haben sehr viele Olympiasieger, Weltmeister und Weltcupsieger dabei. Da ist man automatisch in der Favoritenrolle." Bundeskanzlerin Merkel hat den deutschen Teilnehmern viel Glück gewünscht. "Wenn möglich werde ich mir Wettbewerbe im Fernsehen ansehen und auch die weitere Berichterstattung verfolgen", sagte Merkel der vom "Tagesspiegel" produzierten "ParalympicsZeitung". Zu ihrer persönlichen Einstellung zum Sport sagte sie, sie sei eher die typische Breitensportlerin, "die Sport aus Freude an der Bewegung und zur Erhaltung der Gesundheit treibt". Südkoreanische Tänzer während der Eröffnungsshow der Paralympischen Winterspiele in Pyeongchang (AFP / Ed Jones) In Südkorea war die Vorfreude auf die Paralympics in den vergangenen Tagen deutlich zu spüren. So wird in der U-Bahn, im Fernsehen und am Olympiapark von 1988 fleißig für die Spiele geworben. Vor der Eröffnungsfeier wurden die Teilnehmer freundlich begrüßt. (tj/wes)
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Südkoreas Staatspräsident Moon hat die 12. Winter-Paralympics in Pyeongchang eröffnet - mit einem Aufruf zu mehr Gleichberechtigung und Respekt. Wie schon bei den Olympischen Spielen gab es eine große Show – diesmal allerdings ohne gemeinsamen Einzug der Sportler von Nord- und Südkorea.
"2018-03-09T13:04:00+01:00"
"2020-01-27T17:42:38.014000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/paralympics-in-suedkorea-hoffnung-auf-gleichberechtigung-100.html
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Internationaler Frauentag: Frauen, Finanzen und Feminismus
Internationaler Frauentag am 8. März 2019 (imago stock&people / Christian Mang) Mitwirkende: Silke Hahne, Deutschlandfunk Wirtschaftsredaktion Dr. Emilia Roig, Politikwissenschaftlerin Rückmeldungen an: dertag@deutschlandfunk.de
Von Sonja Meschkat
Frauen verdienen im Vergleich zu Männern weniger und leisten mehr unbezahlte Care-Arbeit. Über "biografische Knotenpunkte" von Frauen und warum ungleiche Bezahlung auch ein strukturelles Problem ist. Außerdem: Intersektionaler Feminismus will Diskriminierung von Frauen auf unterschiedlichen Ebenen mitdenken. Warum das wichtig ist und wie die Diskrimierungsebenen zusammenhängen.
"2021-03-08T17:00:00+01:00"
"2021-03-09T12:55:20.957000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-internationaler-frauentag-frauen-finanzen-und-100.html
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Knödel im Freilichtmuseum?
Der Lichthof der juristischen Fakultät. Vier Stockwerke wendeln sich die Treppen hier im altehrwürdigen Gebäude hinauf, aber für Jan Sommerfeld geht es erst einmal in die andere Richtung."Da geht's runter." Die Mensa ist im Keller untergebracht, an manchen Tagen drängen sich hier 4.500 Jura-Studenten vor den Theken."Die Auswahl ist nicht so groß, fast jeden Tag gibt es irgendein Knödelgericht, weniger Gemüse, aber eigentlich schmeckt es immer ganz gut."Knödel, viel Fleisch, große Portionen - das alles war für Jan Sommerfeld zwar nicht das entscheidende Argument bei der Wahl seiner Erasmus-Stadt, aber es schmeckt ihm schon. Er studiert Jura mit Schwerpunkt auf der europäischen Rechtspraxis, ein Auslandsaufenthalt gehört für ihn zum Pflichtprogramm."Die Leibniz-Universität in Hannover hat verschiedene Partner, von Reykjavik in Island bis nach Istanbul."Seine Stadt liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen diesen Orten. Vor allem eins hat ihn hierher gelockt - die lange Tradition der Hochschule, die die älteste Universität nördlich der Alpen ist."Hier wird seit 1348 Jura gelehrt, also direkt seit Gründung der Universität. Diese Tradition finde ich interessant."Und das Leben in der Stadt? Es sei einfach begeisternd, findet Jan Sommerfeld - und keineswegs wie im Freilichtmuseum, was manche der Stadt wegen ihres riesigen historischen Zentrums immer wieder vorwerfen."Das Schönste ist, dass die Stadt viel Kultur und Geschichte mit modernem Lebensstil verbindet. Hier hat man an jeder Ecke ein kleines Theater."Wenn nur die Landessprache nicht wäre, an der sich viele Erasmus-Studenten die Zähne ausbeißen."Sie hat sehr viele Fälle, ein paar zu viele für uns. Sie hat mehr Wörter für ein- und dieselbe Sache, was es schwer macht, sich auszudrücken und alles zu verstehen."Für die Mühen immerhin entschädigt immerhin das Panorama. Jan Sommerfeld genießt es jeden Abend, wenn er aus der Bibliothek nach Hause geht."Wenn wir aus der Fakultät rausgehen, sehen wir direkt den Fluss, auf der anderen Seite den Regierungssitz und die Burg." Diese Silhouette ist das Wahrzeichen der Stadt, die für Jan Sommerfeld inzwischen zur Heimat geworden ist. Wenn er in Hannover fertig studiert hat, sagt er, kommt er vielleicht zurück - dann, um als Anwalt hier Fuß zu fassen. Anm. d. Red.: Die Lösung lautete: Prag. Die Gewinner des Rätsels stehen bereits fest.
Von Kilian Kirchgessner
Seit 25 Jahren unterstützt das europäische Austauschprogramm Erasmus Studierende bei einem Auslandsstudium. Für "Campus & Karriere" Anlass, mit einem fünfteiligen Rätsel quer durch das Erasmus-Gebiet zu reisen.
"2012-06-13T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:13:10.926000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/knoedel-im-freilichtmuseum-100.html
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Jazz für die "Peanuts"
Charlie Brown: "Bitte alles auf die Plätze! Wir fangen an. Schröder, beginne bitte mit der Musik für die erste Szene."Derrick Bang: "'Linus and Lucy', natürlich, oh mein Gott. Wer könnte schon den Moment vergessen, als er zum ersten Mal den Song 'Linus and Lucy' gehört hat? War das aufregend. Ich tat, was alle Fans taten. Ich ging zum nächsten Plattenladen und kaufte sämtliche Schallplatten, auf denen der Name Vince Guaraldi stand."Der amerikanische Autor Derrick Bang war zehn Jahre alt, als er mit Leib und Seele der Musik des Pianisten Vince Guaraldi verfiel. Das war 1965, als "A Charlie Brown Christmas", die erste Folge der heute legendären Peanuts-Serie im U.S.-Fernsehen gesendet wurde. Und Guaraldi als Komponist eine für viele Ohren damals ungewöhnliche Filmmusik beigesteuert hatte.Derrick Bang: "Durch Guaraldis Soundtrack zu 'A Charlie Brown Christmas' wurde der Jazz zum ersten Mal der breiten Masse zugänglich gemacht. Man sagt, dass Guaraldi den Musikgeschmack von mehr Amerikanern beeinflusst hat, als jeder andere Jazzmusiker.""Er hatte sehr kleine Hände. Guaraldi war ja auch ein sehr kleiner Mann. Die Spannweite seiner Hände reichte nicht aus, eine Oktave zu greifen. Wenn er dann eine Oktave, None oder Dezime spielte, musste er den Akkord auf der Tastatur 'springen'. Von der untersten zur obersten Note. Er tat das so rasend schnell, dass der Zuhörer glaubte, er habe beide Noten gleichzeitig gespielt","erzählt Bang über die definitiv besondere Spielweise seines Idols. Guaraldis energetischer, von Bebop, Bossa Nova und Funk beeinflusster Stil gab der Peanuts-Serie einen Klang, eine Individualität, die keine Zeichentrickproduktion je vorher hatte. Der Pianist mit dem Riesen-Schnurrbart spielte anspruchsvolle Musik, die sich gar nicht wie "Kindermusik" anhörte.Derrick Bang: ""Guaraldi hatte zuviel Respekt vor Kindern, um bewusst die Musik, die er für die Peanuts komponierte, zu trivialisieren. Und letztendlich wurde die Serie auch von allen Altersgruppen gern gesehen, nicht nur von Kindern."Der Komponist gilt auch als der Erfinder der sogenannten "trombone voice". Dabei wurden die Stimmen der Erwachsenen bei den Peanuts durch quakende Posaunengeräusche ersetzt, die so etwas wie "hohle Worte" suggerierten.Charlie Brown: "Warum muss ich nur immer alles falsch machen?"Lehrerin: "Wahwahwah."Charlie Brown: "Ja, bitte?"Lehrerin: "Wahwahwah."Charlie Brown: "Ja?"Schröder: "Beethoven war der allergrößte, ein wunderbarer Pianist, ein Turm an Stärke."Guaraldi aber war der Klavierspieler, der dem hintergründigen Humor der Peanuts von Charles M. Schulz ein musikalisches Gesicht verlieh.BuchtippDerrick Bangs Biografie "Vince Guaraldi at the piano" (in englischer Sprache) ist als Kindle-Edition verfügbar für 17 Euro verfügbar.
Von Simone Wienstroer
Mit seinen Soundtracks zu den "Peanuts"-Verfilmungen habe Vince Guaraldi den Musikgeschmack von mehr Amerikanern beeinflusst als jeder andere Jazzmusiker, meint der US-Schriftsteller Derrick Bang. Der "Peanuts"-Experte hat jetzt die erste Guaraldi-Biografie veröffentlicht.
"2012-11-26T15:05:00+01:00"
"2020-02-02T14:35:09.202000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jazz-fuer-die-peanuts-100.html
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Waffenschmuggel Richtung Westeuropa?
Diese Waffen stellte der ukrainische Geheimdienst an der Grenze zu Polen sicher. (dpa/AP/SBU Press Service) Zum 25. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine wird kommende Woche in Kiew eine Parade abgehalten, mit Waffen. Denn die Armee und ihre Ausrüstung seien der Stolz des Landes, hat Präsident Petro Poroschenko dieser Tag wissen lassen. Doch die ukrainischen Behörden haben längst den Überblick verloren, wo welche Waffen kursieren. Die Hauptstadt ist ein Umschlagplatz, an dem sogar Raketenwerfer zu haben sind. Der Krieg im Donbass macht es möglich, sagt die Vize-Chefin des ukrainischen Parlaments Oksana Syroid: "Im Osten gibt es rund 5.000 bis 6.000 russische Militärangehörige, die ukrainisches Gebiet besetzen, 30.000 Mann vor Ort wurden von Russland trainiert und ausgestattet, 30.000 sind jenseits der Grenze zusammengezogen worden. Die Konzentration von Waffen, einschließlich schwerer, ist dort enorm. Und weil die Front nicht abgeriegelt ist, weiß niemand, wie viele Waffen von dem besetzten auf unbesetztes ukrainisches Gebiet gelangen." Waffen-Lobby wird unterstützt von Nadeschda Sawtschenko Tausende Freiwillige in 40 Bataillonen unterstützen die ukrainische Armee. Dass sie ihre Waffen auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen, hält die Abgeordnete von der Partei Selbsthilfe allerdings für üble Nachrede: "Das diskreditiert die Freiwilligen und ist nicht akzeptabel." Die Ukrainische Assoziation der Waffenbesitzer geht von landesweit bis zu fünf Millionen nicht registrierter Feuerwaffen aus. Die sollen legalisiert werden, zusätzlich müssen die Besitzer eine Ausbildung absolvieren. Den Bürgern stehe das Recht auf Selbstverteidigung zu, sagt Wladimir Sbaranski von der Waffen-Assoziation: "Ob es dem Volk erlaubt wird, Waffen zu haben, sagt viel aus über das Vertrauen des Staates in seine Bürger. Das ist ein Indikator. Wenn der Staat den Bürgern nicht vertraut, bekommen nur Auserwählte Waffen, die Polizei oder auch jemand, der bevorzugt oder ausgezeichnet wird." Die Waffen-Lobbyisten werden unterstützt von Nadeschda Sawtschenko, der in Russland gefangen gehaltenen und verurteilten Kampfpilotin. Die Abgeordnete mischt sich seit ihrer Freilassung unüberhörbar in der Politik mit, hält eine Legalisierung der im Umlauf befindlichen Waffen für notwendig: "Es gibt ein Armee-Sprichwort", erklärt sie in einer Talk-Show: "Wenn man der Unordnung nicht Herr werden kann, muss man über die Unordnung herrschen. Das Waffengesetz ist so ein Fall, die Leute haben doch bereits Waffen in ihren Händen." "Ursache des Problems ist die Okkupation durch Russland" Die stellvertretende Parlamentspräsidentin Syroid dagegen kann keinen Bedarf für eine Reform des bestehenden Waffengesetzes erkennen: "Es ist ziemlich streng. Das Problem ist nicht ein Waffengesetz, sondern der Krieg." Es gibt erste, allerdings widersprüchliche Meldungen, dass ukrainische Waffen Richtung Westeuropa geschmuggelt werden. An der Grenze zu Polen wurde im Juni ein Mann festgenommen, der in seinem Auto fünf Kalaschnikows, über 5.000 Patronen, zwei Panzerfäuste mit Munition, 125 Kilogramm Sprengstoff und 100 Zünder nach Frankreich bringen wollte. Ein britisches Fernsehteam berichtete über angebliche Waffenschmuggler, die über Rumänien Gewehre für Scharfschützen nach Westeuropa liefern wollten, dazu halbautomatische Waffen, Jagdgewehre, Pistolen, auch nagelneue Kalaschnikows. Die Ukraine weist die Anschuldigungen zurück. Die ukrainisch-rumänische Grenze werde gemeinsam überwacht, man ginge zusammen gegen Kriminelle vor. Oksana Syroid sagt, dass, solange Krieg in der Ostukraine herrsche, die Quelle für immer neue Waffen nicht versiege: "Wir müssen verstehen, dass die Ursache des Problems die Okkupation durch Russland ist. Durch die russische Armee, mit russischen Waffen. Das ist die Ursache der Bedrohung." Mit der Zunahme der Waffen steigt auch die Kriminalität Zwölf Prozent des ukrainischen Gebietes sind von Russland besetzt, davon fünf Prozent im Osten. Statt das Waffenrecht zu ändern, müsse ein Gesetz über das okkupierte Territorium her, das dessen vollständige Abriegelung vorsieht, findet die 40-jährige Spitzenpolitikerin: "Ich möchte Russland daran hindern, die Waffen oder was immer über die Front zu schmuggeln. Deswegen haben wir einen Gesetzentwurf ins Parlament gebracht, der vorsieht, die Grenze entlang der Frontlinie dicht zu machen und das russisch kontrollierte Territorium zu isolieren." Mit der Zunahme der Waffen steigt auch die Kriminalität. Die Polizei registrierte im vorigen Jahr über 1.500 Straftaten mit Waffeneinsatz, eine Verdopplung gegenüber 2013, wobei die Ostukraine gar nicht mitgerechnet wurde.
Von Sabine Adler
Bis zu fünf Millionen nicht registrierte Waffen sollen in der Ukraine im Umlauf sein. Die Regierung sieht die russische Okkupation als Ursache des Problems und fordert eine Abriegelung des Gebietes. Anschuldigungen, dass Waffen auch nach Westeuropa geschmuggelt werden, weist die Ukraine zurück.
"2016-08-17T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:48.848000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-waffenschmuggel-richtung-westeuropa-100.html
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Bloß keine Kritik an Putin
In Russland laufen die Vorbereitungen für die Duma-Wahl am 18. September. (picture alliance / dpa / Vladimir Smirnov) Jekaterinburg, russische Millionenstadt im Uralgebiet. Ein Mann betritt eine Apotheke. Er trägt einen Anzug und ein Abzeichen am Revers. "Deputat Gosudarstvennoj dumy" steht darauf, "Abgeordneter der Staatsduma". Aleksandr Petrow ist Mitglied der Regierungspartei "Einiges Russland". Seit 2011 sitzt er im russischen Parlament, der Duma, und er kandidiert auch jetzt wieder. Es ist Mitte August, noch ein guter Monat bis zur Wahl. "Ich hatte Anfragen aus der Bevölkerung. Die Leute haben gesagt, die Medikamente werden immer teurer, warum gehst du nicht in die Apotheken und kontrollierst das? Ich habe es ihnen versprochen." Petrow ist nicht allein unterwegs. Ihn begleiten etwa fünf Kamerateams und noch eine Handvoll Lokalreporter. Der Politiker lässt sich zwei Medikamente geben, hält die Schachteln in die Kameras und wartet bis alle Objektive auf ihn gerichtet sind. "Das eine sind 28 Tabletten, das andere 24. Praktisch die gleiche Menge. Aber hier steht der Preis. Das eine kostet 206 Rubel, das andere 78. Eins ist in Ungarn hergestellt. Das andere, billigere, in Nowosibirsk in Russland." Hohe Inflation lässt Preise steigen Arzneipreise sind ein großes Thema in Russland. Die Inflation ist hoch, fast alles ist teurer geworden, Lebensmittel, aber auch Medikamente. Petrow verdächtigt die Apotheker, absichtlich teurere Medikamente zu verkaufen, weil sie dabei mehr verdienen. Aleksandr Petrow, Kandidat der Regierungspartei „Einiges Russland“, begleitet von den Lokalmedien bei seinen Kontrollgängen durch Apotheken in Jekaterinburg, der russischen Millionenstadt im Uralgebiet. Arzneipreise sind ein großes Thema in Russland: Zwar (Foto: Gesine Dornblüth / Deutschlandradio) "Ich wende mich noch einmal an unsere Fernsehzuschauer. Wenn Sie in die Apotheke gehen, fragen Sie nach dem Wirkstoff eines Medikaments." Am Abend wird Petrovs Apothekenrundgang in den Lokalnachrichten zu sehen sein. Auf die Frage, welche Themen er in den verbleibenden vier Wochen im Wahlkampf noch ansprechen möchte, schüttelt er energisch den Kopf. "Ich arbeite heute nicht als Kandidat, sondern als Verbraucher, als Experte. Ich kandidiere auf der Parteiliste, ich darf Ihnen ohne Jurist gar nicht antworten." Tatsache ist: Der Wahlkampf in Russland verläuft äußerst schleppend, selbst in der letzten Woche vor dem Urnengang. Dabei werden am Sonntag auch noch zahlreiche Regionalparlamente und Gouverneure gewählt. Kremlkritische ebenso wie kremlnahe Experten sprechen von dem schwächsten Wahlkampf der letzten zehn Jahre. Es gibt kaum Wahlkampfauftritte, die für Aufsehen sorgen, keine großen Bühnen. Gestritten wird allenfalls in den täglichen Fernsehdebatten. Die russischen Nachrichtenprogramme berichteten zuletzt weitaus mehr über den US-Wahlkampf und Hillary Clintons Gesundheitszustand als über die Parlamentswahl im eigenen Land. Turnusmäßig hätte die Wahl erst im Dezember stattfinden müssen. Das Parlament hat sie um drei Monate nach vorn verlegt. Aus Kalkül, meint die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman. Wahrscheinlich nur vier Parteien im Parlament "Die Politik des Staates zielt ganz klar darauf, die Wahlbeteiligung gering zu halten. Dafür wurde viel getan. Im September sind die Leute gerade aus dem Urlaub zurück, sie sind beschäftigt, es ist Schulbeginn, vielleicht noch gutes Wetter, dann fahren die Leute am Wochenende lieber auf die Datscha. Vor allem aber wurden keine Parteien und Kandidaten zugelassen, die in der Lage wären, große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen." Darunter fällt zum Beispiel die Fortschrittspartei des Antikorruptionsbloggers Aleksej Nawalnyj. Er hatte bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau vor drei Jahren aus dem Stand 27 Prozent der Stimmen erhalten. Zur Duma-Wahl wurde seine Partei nicht zugelassen. Gerade in Moskau könnten deshalb viele Menschen die Wahl ignorieren, erläutert die Politologin Schulman. Und davon profitiere die Regierung. "Wenn die Wahlbeteiligung gering ist, steigen die Chancen derer, die organisiert und kollektiv wählen. Das sind Staatsangestellte, Polizisten, Armeeangehörige. Sie werden dafür sorgen, dass die Duma wieder relativ homogen aussehen wird." Wahlwerbung der rechtspopulistischen Partei LDPR in Sawolschje in Russland. (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth) Bisher saßen vier Parteien in der Duma. Einiges Russland hatte die absolute Mehrheit. Die Kommunisten, die rechtspopulistischen Liberaldemokraten und die Partei Gerechtes Russland gelten als nur formal oppositionell. Sie stimmten oft mit der Regierung. Jüngsten Prognosen zufolge werden nur diese vier Parteien wieder ins russische Parlament einziehen. Probleme für Soziologen nach Umfragen Allerdings hat Russland in diesem Jahr das Zweistimmenwahlrecht wieder eingeführt. Jetzt werden nicht mehr alle 450 Sitze in der Duma über Parteilisten besetzt, sondern die Hälfte wird per Direktwahl bestimmt. Theoretisch könnten deshalb auch einige Parteilose oder Vertreter von Splitterparteien in das Parlament einziehen. In Umfragen liegt Einiges Russland weit vorn, aber nur noch bei rund 40 Prozent. Ein Meinungsforschungsinstitut, das unabhängige Lewada-Zentrum, bescheinigte der Partei Ende August sogar einen Absturz auf rund 30 Prozent. Prompt bekamen die Soziologen Schwierigkeiten: Das Lewada-Zentrum wurde ins Register ausländischer Agenten eingetragen. Mit diesem Stigma weiterzuarbeiten, ist so gut wie unmöglich. Ein "ausländischer Agent" bekommt in Russland keine ehrlichen Antworten aus der Bevölkerung. Einiges Russland gilt vielen Russen als Bürokratenpartei. Bei den Protesten nach der letzten Duma-Wahl machte der Name "Partei der Gauner und Diebe" die Runde. In den letzten Jahren gab es diverse Fälle von Korruption und Unterschlagung unter hohen Parteimitgliedern. Doch vor allem der Parteivorsitzende, Premierminister Dmitrij Medwedew, hat potenzielle Wähler verprellt. Zum Beispiel, als er kürzlich öffentlich auf die niedrigen Gehälter russischer Lehrer angesprochen wurde. Daraufhin Medwedew: "Lehrer zu sein, ist eine Berufung. Wer Geld verdienen möchte, kann das woanders schneller und besser. Zum Beispiel in der Wirtschaft." Einiges Russland setzt voll auf Präsident Putin Bereits im Mai besuchte Medwedew die Krim. Anwohner fragten ihn nach der langersehnten Rentenanpassung. Der russische Comedian Semjon Slepakow hat Medwedews Reaktion in ein Lied gefasst. Das Video wurde im Internet mehr als acht Millionen Mal aufgerufen. Zwei Senioren schauen im Dezember 2011 eine Rede des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew vor den Duma-Wahlen. (picture alliance / dpa / Tass / Smirnov Vladimir) "Es ist kein Geld da", singt Slepakow. "Halten Sie hier aus. Ich wünsche Ihnen gute Laune! Alles Gute!" Das hat Medwedew wirklich gesagt. Die Rentenanpassung ist aufgeschoben. Anfang 2017 soll es stattdessen eine Einmalzahlung geben. Einiges Russland setzt nun im Wahlkampf voll auf Präsident Putin. Der ist zwar nicht mal Parteimitglied, aber seine Zustimmungswerte liegen stabil bei rund 80 Prozent. In Werbespots klingt Putins Stimme aus dem Off, er mahnt die Partei, den Menschen zuzuhören. "Die Politik von Einiges Russland basiert auf der Achtung der Traditionen und der Kultur unseres Vielvölkerstaates, so wichtiger Werte wie Patriotismus, Wahrheit, Gerechtigkeit und nationale Einheit." Dazu sind Bilder zu sehen, die an Putins Erfolge erinnern sollen: Die annektierte Krim, das Feuerwerk bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Sotschi, der erste Raketenstart auf dem neuen russischen Weltraumbahnhof Wostotschnyj. "Man darf Putin nicht ersetzen" Die übrigen Parteien haben das Problem, dass sie Putin nicht kritisieren wollen – eben wegen dessen Beliebtheit. Den Vogel schießt die Splitterpartei "Rodina" ab. Sie präsentiert sich als "Speznas Putina", als "Sondereinheit Putins", die den Präsidenten schützen wolle. Ein Kandidat der gleichfalls kaum bekannten "Bürgerplattform" stellt klar: "Man darf Putin nicht ersetzen. Denn Putin ist das Rückgrat Russlands. Wenn wir ihn ersetzen, vernichten wir Russland." Bezeichnend auch ein Wahlwerbespot der in der Duma vertretenen Liberaldemokraten und ihres Spitzenkandidaten Wladimir Schirinowskij. "Bereits 1992 hat Wladimir Schirinowskij erklärt, dass die Krim Russland zurückgegeben werden muss. All die Jahre war eine Untergrundzelle der LDPR auf der Krim aktiv. 22 Jahre später ist die Krim nach Russland zurückgekehrt." Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 2014 in Moskau. (imago / Russian Look) Fast alle Parteien setzen im Wahlkampf auf Patriotismus, auch die Kommunisten. "Die Krise vertieft sich. Die NATO kreist Russland ein. Die Ukraine ist von Bandera-Anhängern ergriffen. Die fünfte Kolonne bereitet sich auf eine Revanche vor. Wir haben eine starke Mannschaft. Die KPRF kann es." "My smoschem", "wir können es" – das klingt ein bisschen nach Obamas "Yes, we can". Die Funktionäre weisen das selbstverständlich zurück, man habe an eine Losung aus dem Zweiten Weltkrieg gedacht: "Wir sind im Recht, wir werden siegen." Opposition nur in Fernsehdebatten In den Fernsehdebatten sind aber durchaus auch kremlkritische Töne zu hören. Unter den insgesamt 14 zur Wahl zugelassenen Parteien sind auch die Parnas-Partei des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow und die linksliberale Partei Jabloko. In ihren Reihen kandidiert zum Beispiel der Journalist Lew Schlossberg aus Pskow, der den Tod russischer Soldaten in der Ostukraine öffentlich machte. Oder Andrej Zubow, ein Geschichtsprofessor. Er verglich die Annexion der Krim mit dem Anschluss Österreichs im Deutschen Reich und verlor daraufhin seine Anstellung. Solche Leute kommen normalerweise im russischen Staatsfernsehen nicht vor, es sei denn, sie werden verunglimpft. An den Wahlkampfdebatten aber müssen sie beteiligt werden, das schreibt das russische Gesetz vor. Michail Kasjanow, Spitzenkandidat der Parnas-Partei, nutzte die Gelegenheit zu einem Rundumschlag. "Russland macht die falsche Außenpolitik. Unsere wichtigsten Partner sind heute unsere Feinde. Schuld sind Putin und seine Leute. Wir müssen diese Regierung ablösen und einen neuen politischen Kurs einschlagen, mit dem Ziel, für Wohlstand unserer Bürger zu sorgen, für wirtschaftliches Wachstum, für höhere Löhne und würdige Renten. Dass Menschen in Würde leben können, das ist das nationale Interesse Russlands." Umfragen zufolge liegen die Parnas-Partei und auch Jabloko bei je ein bis zwei Prozent der Wählerstimmen, weit unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Die Parteien haben sich aufgrund persönlicher Animositäten ihres Führungspersonals nicht auf ein Wahlbündnis einigen können und ihre Chancen damit erheblich verringert. Gerade in der russischen Provinz kämpfen ihre Kandidaten auf verlorenem Posten. Grigori Jawlinski, Gründer der demokratischen Partei Jabloko (picture alliance / dpa / Tass / Maxim Novikov) Die Universitätsdozentin Natalja Kalinina kandidiert im Amur-Gebiet für die Duma. Sie ist die Vorsitzende von Jabloko in der Region, etwa 6.000 Kilometer von Moskau entfernt. Das Parteibüro ist vollgestellt mit drei kleinen Schreibtischen. Trotz geöffneter Fenster ist es stickig. Zwischen Rechnern und Druckern liegt ein angeschnittener Laib Brot auf einem Blatt Papier, daneben steht ein Glas löslicher Kaffee. Regierungspartei kann den Staatsapparat nutzen "Wir versuchen, Leute für uns zu gewinnen, reden, erklären unsere Position. Aber das ist nicht einfach. In den letzten Jahren wurden gezielt Feindbilder geschaffen, das Bild eines Nationalverräters, einer fünften Kolonne; wir seien Agenten des US State Department und so weiter, all diese gängigen propagandistischen Stempel. Natürlich wird es da immer schwerer. Ich habe schon aufgehört dagegen zu kämpfen." Im Internet wurde Kalinina mehrfach bedroht. "Ich nehme nur an der Wahl teil, weil ich meiner Partei verpflichtet bin. Deshalb kandidiere ich. Für mich persönlich sehe ich natürlich überhaupt keine Perspektive." Die Oppositionsparteien haben auch deshalb keine Chance, weil sie machtlos sind gegen die sogenannte "administrative Ressource". So nennt man es in Russland, wenn sich die Regierungspartei des Staatsapparates und seiner finanziellen und organisatorischen Mittel bedient, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Grigorij Melkonjants von der Wahlbeobachterorganisation "Golos": "Die Macht versucht, diese Technologie zu institutionalisieren. Sie ist dabei, die Marke Einiges Russland vollständig in die alltägliche Arbeit der staatlichen Stellen zu integrieren. Die Leute können gar nicht mehr unterscheiden, was von der Partei kommt, was vom Gouverneur; ob die Partei einen Kindergarten oder eine Straße gebaut hat oder ob das mit Steuergeldern bezahlt wurde. Beim Bürger entsteht der Eindruck, als würde alles, was der Staat tut, von Einiges Russland gemacht." Präsenz der Regierungspartei in Öffentlichkeit Das schlägt sich im Wählerverhalten nieder. Denn die Wähler in Russland interessieren sich nicht für Parteiprogramme. Zwei junge Frauen in Jekaterinburg im Ural: Aufgefächerte Wahlzettel der Partei "Einiges Russland" ((dpa/ picture alliance/ Yegor Aleyev)) "Wichtig ist, was eine Partei tut. Ob die Leute erst im Wahlkampf aktiv werden, oder ob sie schon vorher etwas machen, zum Beispiel bei Wohltätigkeitsaktionen. Die LDPR zum Beispiel ist immer dabei, wenn es etwas für Kinder oder für die alten Leute gibt. Einiges Russland natürlich auch. Deren Kandidaten sind da ganz vorn." Die Abhängigkeit der Medien vom Staat sorge dafür, dass die Regierungspartei in der Öffentlichkeit noch präsenter sei, erläutert Wahlbeobachter Melkonjants: "In einer Region hat ein Kandidat von Einiges Russland mit Leuten Tee getrunken. Alle Medien haben drüber berichtet. Ich denke, viele Kandidaten trinken mit irgendwelchen Leuten Tee. Aber das interessiert keinen Journalisten. Der Grund für diese Ungleichheit liegt in der Finanzierung der regionalen Medien in den Regionen. Die meisten werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Wenn sie sich weigern, über derlei Nicht-Ereignisse zu berichten, dann wird ihnen künftig das Geld gestrichen. Die Leidtragenden sind die Wähler. Denn sie bekommen gar keine objektive Information darüber, wer überhaupt kandidiert. Sie sehen immer nur eine Partei und deren Kandidaten." Kaum freiwillige Wahlbeobachter Aus dem Kreml hieß es mehrfach, diese Duma-Wahl sollte transparent und fair verlaufen. Die Zentrale Wahlkommission erhielt eine neue Vorsitzende: Die Menschenrechtlerin Ella Pamfilowa. Ihr Vorgänger, der bärtige Wladimir Tschurow, hatte über Jahre Wahlmanipulationen gedeckt und damit bei der letzten Duma-Wahl 2011 Proteste in der Bevölkerung ausgelöst. Pamfilowa räumt ein: "In einigen Regionen Russlands verharren die Machthaber weiterhin im Jahr 2011. Sie hören weder auf den Präsidenten, noch auf die Bürger. Sie versuchen, ihre schrumpfende Autorität mit administrativem Druck zu ersetzen." Die Wahlleiterin Pamfilowa hat angekündigt zurückzutreten, sollte die Wahl nicht fair verlaufen. Das Augenmerk liegt nun auf dem Wahlsonntag. Bei der letzten Duma-Wahl füllten Angehörige der Wahlkommissionen Stimmzettel stoßweise aus und warfen sie in die Urnen. Sie könnten das kaum kontrollieren, fürchtet Wahlbeobachter Melkonjants. "Wir haben es mit Apathie bei den Wählern und den Beobachtern zu tun. Verglichen mit 2011 haben wir höchstens halb so viel. Und wir haben wirklich ein Problem, Freiwillige zu finden." Ein sehr ernst zu nehmendes Examen für die Macht Und das ist denn auch das größte Merkmal der diesjährigen Wahl: das Desinteresse der Bevölkerung. Oft hört man, es werde sich ja ohnehin nichts ändern. Doch diese Duma-Wahl sei wichtig, erläutert die Politologin Jekaterina Schulman. "Wichtig nicht in dem Sinn, wie es in Demokratien der Fall ist. Der Wähler hat nicht die Möglichkeit, seinen Willen zu äußern, er hat nicht die Möglichkeit, auf die Macht einzuwirken. Aber: Es ist ein sehr ernst zu nehmendes Examen für die Macht selbst, für die föderale wie auch für die auf regionaler Ebene. Es ist eine Periode, in der die regionalen Machthaber demonstrieren müssen, wie gut sie ihre Gebiet kontrollieren, wie gut sie das nötige Wahlergebnis sicherstellen können und die Wahl dabei noch einigermaßen anständig aussehen lassen, ohne Skandale und Proteste." Und in diesem Sinn ist die Duma-Wahl auch ein Test für die weit wichtigeren Präsidentenwahlen 2018.
Von Gesine Dornblüth
Überraschungen wird es bei der Parlamentswahl am Sonntag in Russland nicht geben, trotz Wirtschaftskrise und Inflation. Die Kremlpartei Geeintes Russland wird ihre Macht festigen, dafür sorgen schon ihre Präsenz in den Medien und die Unterstützung durch Präsident Wladimir Putin. Trotzdem gilt die Wahl als wichtiger Gradmesser.
"2016-09-17T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:54:04.031000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-der-duma-wahl-in-russland-bloss-keine-kritik-an-putin-100.html
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Anklage der Festung Europa
Die damals 17-jährige Samir Yusuf Omar vor dem Beginn des 200-Meter-Rennens bei den Olympischen Spielen in Peking im Jahr 2008. (dpa picture alliance/ Kerim Okten) "Wir lieben natürlich solche Geschichten. Und dass diese Geschichte, bildlich gesprochen, an den schroffen Felsen von Europa zerbricht, das ist natürlich schon etwas, das mich sehr erschüttert hat. Und ich denke auch, dass man über so eine Geschichte halt auch für dieses Thema dann eher sensibilisiert wird." Die Geschichte ist die der olympischen Läuferin Samia Yusuf Omar, die auf dem Weg nach Europa in einem Flüchtlingsboot ertrinkt, und Flüchtlinge sind das Thema. Die Idee zu seiner Graphic Novel "Der Traum von Olympia" ist Reinhard Kleist in Palermo gekommen. Ein Jahr hat er dort gelebt und die verzweifelte Situation afrikanischer Flüchtlinge aus nächster Nähe beobachtet. Der europäische Wohlstand, ausgetragen auf dem Rücken ärmerer Nationen, zieht sich als Subtext durch Kleists Graphic Novel, in deren Mittelpunkt die junge Sportlerin und ihr Traum stehen: "Ich möchte wieder trainieren. Ich denke dauernd an Peking zurück. Wo ich auch war, konnte ich das olympische Feuer sehen. Es war wie der Mond." Die islamistischen Milizen in Samias Heimat Somalia verbieten Frauen, Sport zu treiben, und so fasst sie den Entschluss, nach Europa auszuwandern. "Der Traum von Olympia" erzählt ihre wahre Geschichte, von Olympia 2008 bis zum tragischen Ende vor der Küste Libyens vier Jahre später. Ein wichtiges Element sind Samias Facebook-Einträge. Den Text, so Kleist, habe er erfunden: "Sie beruhen aber auf dem, was ich so aufgeschnappt habe. Auch aus Erzählungen, auch aus Berichten von Ihrer Schwester, wo ich dann auch mal so einen besonderen Einblick geben konnte." Brisantes politisches Statement Schon vorher hat Kleist vor allem biografische Comics geschrieben. "Der Boxer" zum Beispiel ist die Geschichte eines Überlebens im Nationalsozialismus, "I see a Darkness" eine Ode an den legendären Johnny Cash. Wie sie ist "Der Traum von Olympia" in poetische, schwarz-weiße Bilder gekleidet und frei von Pathos. Nur in einem Punkt unterscheidet sich Samias Geschichte von den Vorgängern. "Wenn ich mir meine letzten Arbeiten angucke, das ging eigentlich immer um Persönlichkeiten, die irgendwie gebrochen sind, die schwierig sind, und bei ihr ist es das komplette Gegenteil - also für mich ist sie wirklich - sie ist eine Heldin." Schon letztes Jahr ist die Graphic Novel gerafft als Serie in der "FAZ" erschienen. Durch die Ereignisse der letzten Wochen hat aber ein Aspekt unerwartete Aktualität erlangt: Islamismus-Kritik wird in Zeiten von Pegida und dem Charlie Hebdo-Anschlag sehr schnell zum brisanten politischen Statement. "Man muss mit diesen Themen sich weiter beschäftigen können, ohne dass man davon so befangen ist, dass man sich das nicht mehr traut. Klar, ich hab da natürlich auch erst mal geschluckt und dachte so "um Gottes Willen, jetzt hab ich hier auch was drin, was sagen wir mal, nicht islamkritisch, sondern islamismuskritisch ist. Muss ich mir jetzt auch Gedanken machen? Nee, glaub ich aber nicht." Reinhard Kleist beherrscht sein Medium wie nur wenige deutsche Autoren. Obwohl sein Comic jetzt doppelt so lang ist wie die Urfassung, ist kein Strich zu viel und kein Wort verschwendet. Oft kommt er seitenlang ohne Dialoge aus, und sagt dabei sehr viel. "Der Traum von Olympia" ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die ein besseres Leben verdient hätte, sondern auch eine Anklage der Festung Europa, ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Von Kai Löffler
In Reinhard Kleists Graphic Novel "Der Traum von Olympia" geht es um die Flucht nach Europa. Er erzählt die reale Geschichte der Läuferin Samia Yusuf Omar, die in Europa Profi-Sportlerin werden wollte - deren Flucht aus ihrer Heimat jedoch tragisch endete.
"2015-01-29T15:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:19:17.897000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/graphic-novel-von-reinhard-kleist-anklage-der-festung-europa-100.html
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Wissenschaftlichkeit oder Dr. Stasi?
Bei der angestrebten Überprüfung, träfe es mehr als 400 Dissertationen früherer Stasi-Funktionäre. (picture-alliance / dpa / Soeren Stache) Die Juristische Hochschule in Potsdam-Golm ist längst aufgelöst, aus gutem Grund, denn es war die Juristische Hochschule des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Wer dort einen Doktortitel erwarb, konnte was werden im Machtapparat der Diktatur. Das durfte nicht jeder, es war nur den treuesten Anhängern des SED-Regimes vorbehalten. Über "Die Planung der politisch-operativen Arbeit im MfS" schrieb Gerhard Neiber, Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke. Der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski promovierte mit dem Thema "Zur Bekämpfung der imperialistischen Störtätigkeit auf dem Gebiet des Außenhandels." Ein wahrhaft wissenschaftlicher Titel, aber das passt nicht allen: "Diese Titel wurden durch den Einigungsvertrag abgesichert, aber wenn man mal genauer hinguckt und feststellen möchte, haben diese Titel überhaupt einen wissenschaftlichen Wert? So wird man mit Sicherheit in vielen Fällen feststellen, dass das Niveau über das eines Abituraufsatzes nicht hinausgeht", sagt Axel Vogel. Zweifel an Wissenschaftlichkeit Der Fraktionschef von Bündnis 90/die Grünen im Brandenburger Landtag will die Doktortitel deshalb aberkannt wissen, er bezweifelt die Wissenschaftlichkeit der Werke, weil: "Viele dieser Arbeiten als Gruppenarbeit verfasst wurden. So also mit einer 43 Seiten umfassenden Arbeit insgesamt vier Stasi-Offiziere jeweils einen Doktortitel summa cum laude erwerben konnten." Und ihn auch bis heute führen dürfen. Sollten die von der Stasi-Hochschule verliehenen Doktortitel 25 Jahre nach dem Mauerfall überprüft werden, träfe das mehr als 400 Dissertationen früherer Stasi-Funktionäre. Die Grünen streben Überprüfung an Die wollen die Grünen mithilfe der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen untersuchen lassen. Das Problem: Dafür gibt es bislang kein Verfahren. Er zieht einen gewagten Ost-West-Vergleich: "Wenn die Hochschule von Frau Schavan aufgelöst worden wäre, im Jahr 2005, aus welchen Gründen auch immer, dann hätte gar keine Möglichkeit bestanden, zu prüfen, ob dieser Doktortitel nach den damals gültigen Vorschriften oder wissenschaftlichen Standards zurecht erworben wurde." Denn bislang gilt: keine Hochschule - keine Prüfung! Hans-Jürgen Scharfenberg, Abgeordneter der Partei Die Linke im Innenausschuss des Brandenburgischen Landtages, war auch mit der Stasi verstrickt; er berichtete von 1978 bis 1985 als inoffizieller Mitarbeiter an das Ministerium für Staatssicherheit über Kollegen, Vorgesetzte und Nachbarn. Seine 270-Seiten-Doktorarbeit schrieb er 1982; allein. "Also ich bitte Sie, selbstverständlich!" Thema: "Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung als wichtiger Bestandteil der ideologischen Manipulierung der BRD-Bürger." Allerdings nicht in Golm, sondern an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, abgekürzt ASR in Potsdam-Babelsberg. "Es ist eine Literaturarbeit gewesen, ich bin nie in der Bundesrepublik gewesen, das war auch der Nachteil, und habe sie unter den damaligen Bedingungen auch verteidigt." Aktive Politiker mit Doktortitel von der DDR-Elite-Akademie An der DDR-Elite-Akademie ASR war Scharfenberg in guter Gesellschaft. Dort studierten Minister, Mitglieder des SED-Zentralkomitees und MfS-Generäle. Dabei auch der erste Potsdamer Nach-Wende-Oberbürgermeister, Horst Gramlich (SPD), der brandenburgische Wirtschaftsminister Ulrich Junghanns (CDU), aber auch der jetzige sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU). Auch die ASR gibt es nicht mehr, aber immerhin einen Rechtsnachfolger: die Uni Potsdam. Will der Grüne Axel Vogel diese Titel auch aberkennen lassen? "Ich kann mir vorstellen, dass im Rahmen der kritischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, es eine solche Überprüfung geben könnte. Man kann sie nicht erzwingen, aber ich denke die Hochschule müsste vielleicht selber ein Interesse daran haben eine solche Überprüfung durchzuführen!"
Von Axel Flemming
Doktortitel als Karrierebeschleuniger - das funktionierte auch so in der ehemaligen DDR. Die Brandenburgischen Grünen streben eine Überprüfung von Arbeiten an, die an Stasi-Hochschulen geschrieben wurden. Sie bezweifeln die Wissenschaftlichkeit und befürchten Fälle, in denen "das Niveau über das eines Abituraufsatzes nicht hinausgeht".
"2014-08-25T14:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:31.442000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aufarbeitung-der-ddr-vergangenheit-wissenschaftlichkeit-100.html
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"Die meisten Bürger des Euroraums haben von unserer Politik profitiert"
Von 2014 bis 2019 war Isabell Schnabel Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“) (IMAGO/IPON) Die Coronakrise beschäftigt auch die Europäische Zentralbank (EZB). Um die wirtschaftlichen Folgen abzufedern, hat sie ein Notfallanleihekaufprogramm in Höhe von 1,85 Billionen Euro aufgelegt. Die Direktorin der EZB, Isabel Schnabel, zeigte sich im Interview der Woche im Deutschlandfunk zuversichtlich, dass der Euroraum das Jahr 2021 mit vier Prozent Wirtschaftswachstum abschließen kann. Entscheidend werde dabei aber sein, wie schnell es mit dem Impfungen vorangehe. Schnabel äußerte sich auch zur aktuellen Diskussion um einen digitalen Euro. Es gehe dabei nicht darum, das Bargeld abzuschaffen, sondern Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zu sicherem digitalen Zentralbankgeld zu gewähren. Ob man eine digitale Währung ausgeben wolle, habe man aber noch nicht entschieden. Klemens Kindermann: Vielleicht eine interessierte Frage vorweg: Wie arbeitet eigentlich die EZB in Corona-Zeiten? Geht das alles vom Home-Office aus? Isabell Schnabel: Tatsächlich ist es so, dass die EZB sehr früh damit war, recht weitreichende Maßnahmen zu ergreifen. Und es befindet sich also seit viele Monaten ein erheblicher Teil der Mitarbeiter im Home-Office. Und ich finde es ehrlich gesagt ganz bemerkenswert, wie gut das funktioniert hat, denn es ist ja eine sehr komplexe Institution, die jetzt tatsächlich fast vollständig im Teleworking-Modus arbeitet. "Tiefster Wirtschaftseinbruch seit Zweitem Weltkrieg" Kindermann: Stichwort Corona. Die Pandemie hat die Wirtschaft der Eurozone einbrechen lassen, alleine in Deutschland um fünf Prozent letztes Jahr. Wegen der Aussicht auf Impfstoffe waren viele für das Jahr 2021 optimistischer. Jetzt gibt es die Probleme mit der Impfstoffverteilung. Es gibt mutierte Corona-Viren. Es gibt zahlreiche Lockdowns in ganz Europa. Droht doch wieder ein Rückschlag für die Wirtschaft? Schnabel: Ja, Sie haben es ja bereits gesagt. Die Pandemie hat tatsächlich zu dem tiefsten Wirtschaftseinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Es gab ja einen dramatischen Einbruch im Zuge des ersten Lockdowns. Und dann kam es im Laufe des nächsten Jahres ja zu einer unerwartet starken Erholung. Und diese wurde jetzt eben leider durch die zweite Welle des Virus unterbrochen. Und für den Euroraum zeichnet sich schon für das vierte Quartal des Vorjahres ein negatives Wachstum ab. Und angesichts der sich weiter verschärfenden gesundheitlichen Lage in vielen Ländern ist auch mit einem sehr schwachen ersten Quartal zu rechnen. Entscheidend wird natürlich sein, wie schnell es jetzt mit den Impfungen vorangeht. Denn letztlich wird es nur dadurch möglich sein, die Pandemie dauerhaft einzudämmen. Und, wenn dann die Lockdown-Maßnahmen wieder aufgehoben werden, dann kann durchaus dasselbe passieren wie im vergangenen Jahr, dass es eben dann zu einem sehr kräftigen Aufschwung kommt. "Positives Wachstum in diesem Jahr" Kindermann: Wo sehen Sie denn die Wirtschaft der Eurozone am Ende des Jahres, werden wir ein deutliches Wachstum, aufs Gesamtjahr gesehen, haben? Schnabel: Ja, es wird natürlich ein positives Wachstum in diesem Jahr geben. Wir sehen das Wachstum für den Euroraum bei knapp vier Prozent für das laufende Jahr. Aber trotzdem werden wir selbst am Ende dieses Jahres das Niveau des Bruttoinlandsproduktes der Vorkrisenzeit noch nicht erreicht haben. Kindermann: Die Europäische Union hat sich auf einen 750-Milliarden-Euro-Plan gegen die Corona-Krise geeinigt. Reicht das Geld, um die durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Probleme zu beheben? Schnabel: Ja, zunächst einmal möchte ich betonen, was für eine große Errungenschaft es ist, dass es tatsächlich gelungen ist, eine europäische Antwort auf diese Krise zu finden. Und jetzt heißt es erst einmal, dieses ja durchaus große Programm tatsächlich auch rasch zu implementieren und umzusetzen. Und vor allem dafür zu sorgen, dass dieses Geld eben auch sinnvoll eingesetzt wird. Denn was natürlich ganz entscheidend ist, ist, dass es gelingt, die Wirtschaft des Euroraums nach der Krise wieder auf einen höheren nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Und dafür ist es erforderlich, dass das Geld genutzt wird, um zu investieren, um den Strukturwandel zu fördern, und zwar in Richtung einer digitaleren Wirtschaft, einer grüneren Wirtschaft. DIW-Chef: "Eine Pleitewelle ist unvermeidbar"Die Coronakrise könnte Deutschland rund 400 Milliarden Euro kosten, prognostiziert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. DIW-Chef Marcel Fratzscher sagte im Dlf, der Staat könne nur einen Teil der verlorenen Wirtschaftsleistung kompensieren. Kindermann: Wenn Sie sagen, es kommt darauf an, das rasch zu implementieren, das erste Geld soll ja frühestens Mitte des Jahres fließen. Reicht das? Müsste das nicht schneller gehen? Schnabel: Ja, man muss ja sehen, dass die Länder selbst schon einiges getan haben und auch weiterhin einiges tun werden. Das heißt, es gibt ja durchaus auch Aktivitäten auf der nationalen Ebene. Und die sind natürlich ebenfalls sehr wichtig. Aber trotzdem haben Sie natürlich vollkommen recht. Natürlich muss man sich ein bisschen beeilen, sodass dann diese europäischen Mittel auch wirklich bald verfügbar werden und genutzt werden können. Kindermann: Sie sagen: Aktivitäten auf der nationalen Ebene. Viel hängt ja davon ab, wie die nationalen Regierungen in der Eurozone die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bekämpfen. Einige nationale Regierungen können mehr an Wirtschaftshilfen geben als andere, zum Beispiel Deutschland. Ist das für die Erholung des gesamten Euroraums ein Problem? Schnabel: Wir sehen tatsächlich, dass die verschiedenen Länder des Euroraumes sehr unterschiedlich von der Krise betroffen werden. Und das hat ja im Wesentlichen damit zu tun, dass bestimmte Sektoren stärker von der Krise getroffen werden als andere. Wir sehen eben vor allen Dingen einen Einbruch im Bereich der Dienstleistungen. Während Bereiche wie die Industrie ja weniger stark getroffen sind und jetzt auch davon profitieren, dass beispielsweise China sich sehr schnell erholt hat. Und das führt dazu, dass es eine gewisse Divergenz im Euroraum gibt. Und hinzu kommt, dass die Länder, die jetzt besonders stark betroffen wurden, weil sie beispielsweise einen sehr großen Tourismussektor haben, auch diejenigen waren, die bereits vor der Krise in einer schwächeren Ausgangssituation waren und auch geringere fiskalische Spielräume hatten. Und gerade deshalb ist es ja so wichtig, dass es eine europäische Antwort auf diese Krise gibt. "Massive staatliche Maßnahmen erforderlich" Kindermann: Viele Eurostaaten, gerade die, von denen Sie gerade sprechen, erhöhen jetzt auch ihre Verschuldung deutlich. Ist das nicht gefährlich? Schnabel: Angesichts der Schwere der Pandemie sind massive staatliche Maßnahmen erforderlich. Und das muss natürlich finanziert werden durch eine höhere Verschuldung. Hätte es diese staatlichen Maßnahmen nicht gegeben, wären die Länder in eine noch viel tiefere Krise geraten. Denken Sie an die Kurzarbeiterprogramme, die ja außerordentlich wichtig sind, um sicherzustellen, dass die Menschen ihren Arbeitsplatz behalten können. Ohne die Maßnahmen wären auch viele tragfähige Unternehmen in Konkurs gegangen. Man kann also sagen, wenn diese ganzen Maßnahmen nicht ergriffen worden wären, wäre die Krise noch viel tiefer gewesen. Und das hätte mittelfristig sogar zu einer höheren Verschuldung führen können. Für die Tragfähigkeit dieser Verschuldung ist es natürlich entscheidend, dass es den Ländern gelingt, auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzukehren. Wenn die Länder nach der Pandemie wieder kräftig wachsen, dann ist die höhere Verschuldung auch kein Problem. Kindermann: Also, eine neue Euro-Schuldenkrise, noch mal nachgefragt, die sehen Sie nicht? Schnabel: Nein, die sehe ich derzeit nicht. Kindermann: In Deutschland gibt es ja aktuell eine Diskussion um eine Aussetzung der Schuldenbremse für mehrere Jahre. Wie sieht das auf europäischer Ebene aus? Da ist die Defizitgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Euroländer angesichts der Pandemieverschuldung auch derzeit ausgesetzt. Müsste man hier nicht auch über eine mehrjährige Aussetzung nachdenken, um den Ländern eine Perspektive zu geben? Schnabel: Es war sicher außerordentlich wichtig, dass das europäische Regelwerk vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde. Genauso wichtig ist es natürlich, nach der Pandemie wieder zu einem fiskalischen Regelwerk zurückzukehren. Aber es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es bei diesen Regeln einen gewissen Reformbedarf gibt, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil diese Regeln in guten Zeiten letztlich zu wenig binden und in schlechten Zeiten zu viel. Und das schränkt tatsächlich ihre Effektivität ein. Und deshalb halte ich es durchaus für sinnvoll, die Ausgestaltung des Regelwerks zu überdenken. EZB hat "zum Glück sehr schnell reagiert" Kindermann: Die EZB hat im letzten Jahr ein gewaltiges Notfallanleihekaufprogramm gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf den Weg gebracht, es im Dezember sogar nochmals erhöht. Wie können Sie unseren Hörerinnen und Hörern diese gewaltige Summe erklären? Warum müssen es eigentlich unvorstellbare 1,85 Billionen Euro sein? Schnabel: Ja, lassen Sie mich noch mal betonen, dass wir uns in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. Und außergewöhnliche Situationen erfordern natürlich außergewöhnliche Maßnahmen. 2020 kam es zu dramatischen Verwerfungen an den Finanzmärkten, die tatsächlich an die Verwerfungen zur Zeit der globalen Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 erinnerten. Die Märkte sind zusammengebrochen. Die Liquidität ist ausgetrocknet. Und gleichzeitig war es so, dass viele Unternehmen dringend Liquidität benötigten, weil ihnen ja die Einnahmen weggebrochen waren. Und das war eben die Situation, in der dann die EZB – und man kann sagen, zum Glück – sehr schnell reagiert hat und ein umfangreiches Maßnahmenpaket beschlossen hat, das im Wesentlichen zwei Komponenten hatte. Zum einen eine umfangreiche Liquiditätsbereitstellung an die Banken zu außergewöhnlich niedrigen Konditionen. Und dann eben das von Ihnen erwähnte neue Anleihekaufprogramm, das sich eben vor allen Dingen durch eine sehr große Flexibilität auszeichnete. Und mit diesem Maßnahmenpaket ist es dann auch gelungen, die Finanzmärkte relativ rasch zu beruhigen. Aber ich möchte betonen, der eigentliche Wendepunkt in der Krise kam eigentlich erst dann, als sich die Einigung auf das europäische Rettungspaket abzeichnete. Und daran kann man eigentlich sehr schön sehen, wie sich in dieser Krise, anders als in früheren Krisen, die geldpolitischen und die fiskalpolitischen Maßnahmen gegenseitig verstärkt haben, das heißt, auch in ihrer Wirkung gegenseitig verstärkt haben. Und das war außerordentlich wichtig. EZB-Urteil des Verfassungsgerichts - Ein Erdbeben, ausgelöst in KarlsruheDas Bundesverfassungsgerichts hat zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank geurteilt und damit Schockwellen ausgelöst, die noch lange spürbar sein werden. Das Urteil ist unter Ökonomen umstritten. Kindermann: Das bedeutet, dass die Anleihekäufe im Rahmen dieses Notfallprogramms namens PEPP jetzt nicht noch mal erhöht werden müssen? Schnabel: Das hängt natürlich sehr stark davon ab, wie sich die Pandemie entwickelt. Also, man kann sagen, die wirtschaftliche Entwicklung wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie schnell es gelingt, diese sogenannte Herdenimmunität zu erlangen. Und da spielt eben die Impfung eine ganz herausragende Rolle. Wir haben ja im Dezember unsere Programme bereits deutlich verlängert. Eben angesichts der Tatsache, dass sich abzeichnete, dass die Pandemie auch deutlich länger dauern wird. Wir haben sie jetzt verlängert bis zum März bzw. Juni des nächsten Jahres. Und zunächst einmal hoffen wir natürlich, dass das ausreichen wird. Kindermann: Besonders hoch verschuldete Eurostaaten müssen Renditeaufschläge auf ihre Staatsanleihen hinnehmen, wenn sie sich weiter verschulden. Jetzt die Frage: Kauft die EZB gezielt Staatsanleihen dieser Länder, um die Renditeaufschläge zu begrenzen? Schnabel: Also, zunächst einmal ist es ja so, dass unsere Kaufprogramme so ausgestaltet sind, dass wir nach dem sogenannten EZB-Kapitalschlüssel kaufen. Das kann man sich so im Großen und Ganzen so vorstellen, dass die Anteile den Anteilen des Bruttoinlandsprodukts am gesamten Bruttoinlandsprodukt des Euroraumes entsprechen. Allerdings ist das neue Anleihekaufprogramm mit einer besonderen Flexibilität ausgestattet, die es erlauben würde, in Krisenzeiten in den Ländern mehr Anleihen zu kaufen, in denen sich besondere Verwerfungen zeigen. Und der Grund ist, dass man damit sicherstellen möchte, dass unsere gemeinsame Geldpolitik eben auch den gesamten Euroraum erreicht. Und genau eine solche Situation hatten wir im März des vergangenen Jahres, als es zu einer deutlichen Fragmentierung im Euroraum gekommen ist. Und dann wurden auch verstärkt Anleihen bestimmter Mitgliedstaaten gekauft. Allerdings hat sich dann die Situation sehr schnell wieder beruhigt. Und dadurch war das dann auch nicht mehr erforderlich, von bestimmten Ländern mehr Anleihen zu kaufen. Und so ist es dann auch gekommen, dass diese Abweichungen vom sogenannten Kapitalschlüssel dann auch wieder zurückgegangen sind. Kindermann: Also, das Bundesverfassungsgericht hatte ja in seinem spektakulären EZB-Urteil letztes Jahr vorgeschrieben, dass die EZB genau diese Kapitalschlüssel auch erfüllen muss. Das heißt, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, an die ja eigentlich die EZB gar nicht richtig gebunden ist, die werden aber aus Ihrer Sicht erfüllt? Schnabel: Absolut. Also, was ja vom Verfassungsgericht besonders betont wurde, ist, dass unsere Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Und das ist uns tatsächlich schon immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Das heißt, wenn wir über Maßnahmen entscheiden, dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob diese Maßnahmen überhaupt wirksam sind, ob sie angemessen sind, ob andere Maßnahmen vielleicht wirksamer wären. Und natürlich auch, ob mit den Maßnahmen Nebenwirkungen einhergehen, die möglicherweise größer sind als die eigentlichen positiven Wirkungen. Und diese Prüfung findet bei uns regelmäßig statt und spielt eben eine ganz wichtige Rolle in der Entscheidung, welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen werden. "Sparüberhang hat letztlich dazu geführt, dass die Zinsen gefallen sind" Kindermann: Sie haben ja sehr deutlich dargestellt, dass Sie die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen, für Staaten günstig halten mit diesen Anleihekäufen die Wirtschaft also stützen. Aber ist das überhaupt Ihr Mandat? Ist Ihr eigentliches Mandat nicht eigentlich die Sicherung der Preisstabilität im Euroraum? Schnabel: Ja, da haben Sie natürlich vollkommen recht. Das Ziel ist die Sicherung der Preisstabilität. Aber das wird dadurch erreicht, dass die Wirtschaft stimuliert wird. Und das erfordert tatsächlich, dass die Finanzierungsbedingungen im Euroraum für Haushalte und für Unternehmen günstig sind. Kindermann: Sie kaufen ja nicht nur Anleihen, sondern Sie halten auch die Zinsen niedrig. Der Leitzins liegt seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Wir lange müssen wir denn noch auf eine Zinserhöhung in der Eurozone warten? Schnabel: Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass das niedrige Zinsumfeld nicht allein mit der Geldpolitik der EZB zu tun hat. Das wird tatsächlich getrieben durch sehr langfristige makroökonomische Trends. Denn nicht zuletzt aufgrund der weltweiten demografischen Lage wird mehr gespart. Und gleichzeitig wird aber weniger investiert, weil das Produktivitätswachstum zurückgegangen ist. Und das ist ein globales Phänomen, auf das die Zentralbanken nur einen geringen Einfluss haben. Und dieser Sparüberhang hat dann letztlich dazu geführt, dass die Zinsen gefallen sind. Und das ist also nicht in allererster Linie ein Ergebnis der Zentralbankpolitik, sondern das hat zu tun mit den zugrundeliegenden makroökonomischen Faktoren. Und mit denen muss sich die Geldpolitik dann natürlich auseinandersetzen. Und, wenn dann eine Stimulierung überhaupt noch stattfinden soll, dann müssen eben die Zinsen noch niedriger gesetzt werden. Wann es zu einem Zinsanstieg kommt, kann ich Ihnen natürlich nicht voraussagen. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ein Zinsanstieg in der jetzigen Situation verheerende Auswirkungen hätte. Und insofern sollte sich das niemand wünschen. Volkswirt warnt vor Inflationsfolgen für SparerDie Wirtschaftsaktivität geht weiter zurück. Derzeit kaufe die EZB Anleihen auf, damit die Schulden nicht weiter steigen, sagte der Volkswirt Thomas Mayer im Dlf. Doch die Rechnung werde kommen. Kindermann: Sparüberhang wäre allerdings auch das Stichwort. Was sagen Sie denn den Sparern, die seit Jahren keine Zinsen mehr auf Ihrem Konto sehen, eigentlich fürs Alter vorsorgen wollen? Schnabel: Für Sparer ist das derzeitige Zinsumfeld außerordentlich schwierig. Natürlich sind die Menschen nicht nur Sparer. Sie sind auch Kreditnehmer. Die Kreditnehmer freuen sich über niedrige Zinsen. Und sie müssen eben auch sehen, dass die niedrigen Zinsen – wie ich ja vorher schon beschrieben habe – die Wirtschaft stimulieren. Und das bedeutet unter anderem, dass diese Niedrigzinspolitik ganz große positive Auswirkungen hatte auf den Arbeitsmarkt. Und viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz behalten oder einen neuen Arbeitsplatz gefunden, weil sich die Wirtschaft aufgrund der expansiven Geldpolitik besser entwickelt hat. Und insofern darf man eben nicht die Zinsen isoliert betrachten. Die meisten Bürgerinnen und Bürger des Euroraums haben von unserer Politik tatsächlich profitiert. "Derzeit ist die Messung der Inflation gar nicht so einfach" Kindermann: Bei den lang laufenden US-amerikanischen Staatsanleihen sehen wir im Moment einen deutlichen Anstieg der Renditen. Das ist üblicherweise so der Vorbote höherer Inflationserwartungen. Müsste die EZB jetzt schon Gegenkurs aufnehmen, sich auf eine höhere Inflation einstellen? Schnabel: Wir sehen ja eine ganz interessante kurzfristige Dynamik. Jetzt sind ja auch gerade die ersten Schätzungen für die Inflationsrate für Januar in Deutschland veröffentlicht worden. Und die waren ja überraschend hoch. Kindermann: Ja, aber das liegt ja an der Mehrwertsteuersenkung und am CO2-Preis, oder? Schnabel: Da haben Sie vollkommen recht. Das hat zunächst einmal mit Sondereffekten zu tun, genau mit denen, die Sie gerade genannt haben. Man muss auch berücksichtigen, dass derzeit die Messung der Inflation gar nicht so einfach ist, weil sich ja der Warenkorb unseres Konsums relativ dramatisch verändert hat. Also, bestimmte Dinge konsumieren wir ja fast gar nicht mehr. Restaurantbesuche, Friseur, Reisen. Und das hat sich jetzt übrigens auch in dem Warenkorb niedergeschlagen, der bei der Inflationsmessung verwendet wird. Und da ist es zu recht dramatischen Veränderungen der Gewichte gekommen. Das heißt, da sind dann auch die Vergleiche über die Zeit manchmal gar nicht so einfach. Hinzu kommen übrigens in diesem Jahr dann noch die sogenannten Basiseffekte bei den Energiepreisen. Wir hatten ja einen sehr deutlichen Einbruch der Energiepreise im vergangenen Jahr. Und das führt dann dazu, dass quasi genau ein Jahr später dann die Inflation besonders hoch ist. Das heißt, wir rechnen jetzt im Laufe dieses Jahres mit einer Beschleunigung der Inflation. Allerdings darf man diese kurzfristige Entwicklung eben nicht verwechseln mit einem anhaltenden Anstieg der Inflation. Tatsächlich ist so, dass wir eine ausgeprägte Nachfrageschwäche haben. Und derzeit zeichnet sich leider auch nicht ab, dass sich das grundsätzlich ändert. Insofern gilt unsere Sorge nach wie vor eher einer zu niedrigen als einer zu hohen Inflation. Wie sich die neue CO2-Bepreisung auswirktAb Januar 2021 werden Benzin, Diesel, Heizöl und Gas teurer: Der CO2-Preis soll dazu beitragen, dass fossile Rohstoffe sparsamer verbrannt werden. Welche Umstellungen wird es geben? Ein Überblick. Kindermann: Die Europäische Zentralbank, die will nicht nur ihre geldpolitische Strategie auf den Prüfstand stellen, sondern auch besser kommunizieren. Ein Teil davon ist sicher dieses Interview, das wir hier gerade führen. Was gehört noch dazu, Frau Schnabel? Schnabel: Ja, also zunächst einmal sind wir natürlich in erster Linie an unser Mandat gebunden. Und damit haben wir schon sehr viel zu tun. Wir sind in einer sehr herausfordernden wirtschaftlichen Lage und müssen jetzt sehen, wie es uns gelingt, die Inflation wieder auf ein Niveau zu bringen, das näher an unserem Inflationsziel liegt. Aber wie Sie ja wissen, unterziehen wir gerade unsere gesamte Strategie einer grundlegenden Überprüfung. Und im Rahmen dieser Strategieüberprüfung spielen dann auch ganz andere Themen eine Rolle. Sie haben bereits erwähnt, das Thema Kommunikation, das mir ganz besonders am Herzen liegt. Ein anderes Thema ist das Thema Klimaschutz. "Klimawandel ist die größte Herausforderung" Kindermann: Ja, da wurde ja diese Woche ein Klimaschutzzentrum der EZB gegründet oder angekündigt, es zu gründen. Warum muss sich denn eine Notenbank um Klimaschutz kümmern? Können das nicht andere besser? Schnabel: Ja, also, Sie haben sicherlich recht, dass für die Klimapolitik in allererster Linie die Regierungen zuständig sind und nicht die Zentralbanken, die sicher nur einen relativ kleinen Beitrag leisten können. Aber man darf natürlich nicht ignorieren, dass der Klimawandel die größte Herausforderung ist, der sich unsere Gesellschaft gegenübersieht, noch viel größer als die Pandemie. Und das kann auch die EZB nicht ignorieren. Und deshalb stellen wir uns durchaus die Frage, welche Rolle wir im Rahmen unseres Mandats bei der Bekämpfung des Klimawandels spielen können. Kindermann: Das bedeutet: grüne Anleihen kaufen? Schnabel: Das bedeutet tatsächlich sehr Vieles. Also, zunächst einmal müssen wir uns die Frage stellen: Wie berücksichtigen wir den Klimawandel eigentlich in unseren ökonomischen Modellen? Traditionell hat der Klimawandel dort gar keinen Platz. Und das muss sicherlich geändert werden. Wir müssen uns die Frage stellen: Was für Auswirkungen hat der Klimawandel auf die Einschätzung von Risiken? Das ist wichtig für die Bankenaufsicht. Aber das ist natürlich auch wichtig für die Geldpolitik. Und dann schließlich müssen wir uns die Frage stellen: Was bedeutet der Klimawandel für unsere geldpolitischen Operationen? Und schließlich müssen wir uns natürlich auch als Institution die Frage stellen, ob wir grüner werden müssen, indem wir uns die Frage stellen, wie viele Reisen tatsächlich erforderlich sind oder wie wir beispielsweise die Mittel aus unseren Pensionsfonds investieren. Kindermann: Noch mal die Frage: Sollte die EZB auch grüne Anleihen kaufen? Schnabel: Das ist tatsächlich ein Thema, das jetzt sehr intensiv im Rahmen der Strategieüberprüfung diskutiert wird. Aber es ist natürlich schon jetzt so, dass die EZB in gar nicht so geringem Umfang grüne Anleihen kauft. Die Frage ist eher, ob die EZB mehr grüne Anleihen kaufen sollte als ihrem Anteil an dem derzeitigen Markt entspricht. Und das ist eine Frage, die natürlich kontrovers diskutiert wird, aber die ein ganz wesentlicher Teil auch sein wird der Strategieüberprüfung. Dossier: Klimakrise (Sean Gallup / Getty Images) Kindermann: Was passiert denn, wenn die EZB ihre Anleihekäufe reduziert, weil zum Beispiel eine höhere Inflation droht? Sprachen wir vorhin drüber. Dann ist das Ausmaß des Klimaschutzes von der Inflation abhängig? Schnabel: Ja, also, am Ende des Tages ist es natürlich so, dass es genauso möglich sein muss, die Anleihekäufe zu erhöhen wie sie einzuschränken. Und da darf man sich natürlich dann nicht von anderen Erwägungen treiben lassen als von unserem primären Mandat, dem der Preisstabilität "Geht nicht darum, das Bargeld zu ersetzen" Kindermann: Dann zum Schluss noch der digitale Euro, den wollen Sie auch in Angriff nehmen, prüfen das jedenfalls. Was muss man sich vorstellen? Wollen Sie eine Konkurrenz zum Bitcoin schaffen? Schnabel: Nein. Das sicherlich nicht. Also, die Digitalisierung erfasst ja inzwischen alle Bereiche unseres Lebens. Und das wurde ja auch durch die Pandemie noch verstärkt. Das sieht man auch daran, wie die Menschen bezahlen. Da spielen digitale Zahlungen inzwischen eine größere Rolle. Also, ein digitaler Euro würde letztlich den Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zu sicherem digitalen Zentralbankgeld gewähren. Also, man kann sich das so vorstellen wie Banknoten in digitaler Form. Dabei geht es eigentlich nicht darum, das Bargeld zu ersetzen, das ja im Euroraum nach wie vor sehr beliebt ist. Sondern es ist einfach eine alternative Form des Geldes. Man muss natürlich sehen, dass wir derzeit ganz viele Entwicklungen sehen. Es werden private digitale Währungen entwickelt, aber auch andere Währungsräume denken darüber nach, digitale Währungen zu schaffen. Und auf eine solche Situation muss die EZB vorbereitet sein und muss eben in der Lage sein, dann gegebenenfalls selbst eine digitale Währung zu emittieren, um so die monetäre Souveränität zu sichern. Aber ich möchte noch mal betonen, es wurde hier noch keine Entscheidung getroffen. Es sind noch viele Vorarbeiten erforderlich. Aber das ist ein Thema, mit dem sich die EZB in digitalen Zeiten natürlich beschäftigen muss. Kindermann: Mit den anderen Währungsräumen meinen Sie wahrscheinlich China. Da gibt es ja schon seit mehr als fünf Jahren entsprechende Bemühungen. Der digitale Yuan wird bereits getestet, per Verlosung unters Volk gebracht. Ist denn der Vorsprung Chinas da eigentlich noch aufzuholen? Schnabel: Ja, also es ist so, dass manche Länder etwas früher damit begonnen haben, sich mit diesen Projekten auseinanderzusetzen. Aber es ist jetzt auch nicht so, dass da der Zug abgefahren wäre. Wichtig ist vor allen Dingen, dass man einen digitalen Euro gut vorbereitet, damit man, wenn es dazu kommt, dass dieser digitale Euro eingeführt wird, dass man eben auch ein gut durchdachtes System hat, das auch robust ist. Also, es würde, glaube ich, nichts bringen, wenn man das jetzt überstürzen würde und dann mit einem halbgaren Konzept in den Markt ginge. Dafür ist das Geld einfach zu wichtig. Kindermann: Facebook will ja sogar auch eine eigene Währung namens Diem schaffen. Früher als Libra geplant. Wäre das eine Konkurrenz zu einem digitalen Euro? Schnabel: Es stellt sich ja die Frage, ob diese sogenannten privaten Währungen überhaupt als Währungen zu verstehen sind, oder ob es sich dabei nicht viel eher letztlich um Anlageprodukte handelt. Also, eine Währung muss sich natürlich durch ganz bestimmte Charakteristika auszeichnen. Und dazu gehört ganz wesentlich das Vertrauen. Und ich würde jetzt mal behaupten, dass es kaum gelingen wird, dass ein privater Anbieter ein Geld schaffen kann, das ein derartiges Vertrauen genießen kann wie eben das der EZB. Kindermann: Das war fast schon ein Schlusswort. Aber trotzdem will ich Ihnen noch eine allerletzte Frage stellen, Frau Schnabel, wenn Sie gestatten. Schnabel: Sehr gerne. Kindermann: Wie legen Sie persönlich eigentlich Ihr Geld an? Schnabel: Ja, das wird immer gerne gefragt. Und tatsächlich ist es ja so, wir sind da sehr transparent. Sie können das, nicht mit Beträgen, aber zumindest mit Posten können Sie das sogar auf unserer Homepage nachlesen. Wir haben natürlich bestimmte Restriktionen. Wir dürfen beispielsweise gar nicht in Finanzinstitutionen investieren, weil wir die ja überwachen. Aber ich versuche immer in Bereiche zu gehen, die zukunftsfähig sind, also digital, ökologisch und natürlich auch in dem Bereich ETF.
Isabel Schnabel im Gespräch mit Klemens Kindermann
Die Europäische Zentralbank (EZB) habe auf die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise "zum Glück sehr schnell reagiert", sagte EZB-Direktorin Isabel Schnabel im Dlf. Wieviel Wachstum es 2021 geben werde, hänge vom Tempo der Impfkampagnen ab.
"2021-01-31T11:05:00+01:00"
"2021-01-30T12:13:22.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ezb-direktorin-isabel-schnabel-die-meisten-buerger-des-100.html
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Vernachlässigter Klimafaktor
Ohne Mykorrhiza hätten viele Gewächse in borealen Nadelwäldern ein Versorgungsproblem. Diese mikroskopisch kleinen Pilze leben an und in den Wurzeln vieler Bäume und Sträucher. Sie helfen ihnen, Stickstoff und andere Nährsalze aus dem Boden aufzunehmen. Als Gegenleistung schicken die Pflanzen Zucker und weitere Kohlenstoffverbindungen zu den Wurzeln. Und das sogar in großen Mengen, wie Björn Lindahl und seine Kollegen von der Universität für Landwirtschaft im schwedischen Uppsala berechnet haben. 50 bis 70 Prozent des im Boden gespeicherten Kohlenstoffs entdeckten die Pilzforscher in den Wurzeln der dort lebenden Gewächse und in den verbündeten Mykorrhizapilzen. "Wir haben beobachtet, dass der Kohlenstoff im Boden deutlich jünger ist, als man es erwarten würde, wenn er durch heruntergefallene Nadeln dorthin gelangt wäre. Auch unsere DNA- und chemischen Analysen deuten darauf hin, dass der Kohlenstoff über die die Mykorrhiza Pilze in den Boden eingetragen wird und nicht durch abgestorbenes organisches Material. Insgesamt ergibt sich daraus das Bild, dass diese Pilze eine wichtige Rolle beim Aufbau der Kohlenstoffschichten in Waldböden spielen." Diese Beobachtung wirft ein neues Licht auf bisherige Klimamodelle. Darin galten boreale Nadelwälder als riesige Kohlenstoffsenken, die das schädliche Treibhausgas CO2 aus der Atmosphäre fernhalten. Die dort lebenden Bäume und Sträucher nehmen Kohlendioxid aus der Luft auf und speichern es in ihren Geweben. Verlieren die Gewächse ihre Nadeln, wird der darin enthaltene Kohlenstoff in den Boden eingetragen und dort langfristig gespeichert. So die Theorie. Lindahls Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass nur ein geringer Teil des Kohlenstoffs länger dort verweilt. Der größte Teil wird offenbar permanent von (den) mikroskopisch kleinen Pilzen umgesetzt. Diese Beobachtung sollte unbedingt in den jetzigen Klimamodellen berücksichtigt werden, so der Forscher. "Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie Kohlenstoff in den Boden eingetragen und von dort wieder freigesetzt wird. Nur so lassen sich richtige Modelle darüber entwickeln, ob der Boden als Kohlenstoffspeicher funktioniert und wie er auf zukünftige Klimaveränderungen und einen erhöhten Kohlendioxid Gehalt in der Luft reagieren wird. Das ist eine der großen Unsicherheiten in den jetzigen Klimamodellen." Klimatische Veränderungen könnten auf lebende Pilze einen stärkeren Effekt haben, als auf totes organisches Material. Deshalb sei es wichtig zu verstehen, wie sich ihr Wachstum durch menschliche Einflüsse verändert."Mykorrhizapilze reagieren zum Beispiel sehr stark auf Nitratdüngung. Auch ein erhöhter Kohlendioxidgehalt in der Luft wird sich auf das Wachstum der Pilze auswirken. Bisher ist sehr wenig darüber bekannt, wie diese Pilze auf erhöhte Temperaturen und mehr CO2 in der Luft reagieren. Man darf aber spekulieren, dass das Kohlendioxid die Fotosynthese der Pflanzen ankurbelt und deshalb mehr Kohlenstoffverbindungen in die Wurzeln zu den Pilzen transportiert wird."Diesen Zusammenhang wollen die Forscher noch genauer untersuchen. Schon jetzt sieht es aber so aus, als reagierten die Pilze anders auf gute Wachstumsbedingungen, als man es erwarten würde."Eines unserer Ergebnisse war, dass die Mykorrhiza Pilze am wenigsten Kohlenstoff in den Boden eintragen, wenn sie am besten wachsen. Und wenn sie langsamer wachsen, speichern sie mehr Kohlenstoff. Das ist eigentlich widersprüchlich, aber es stimmt gut mit den Ergebnissen anderer Studien überein. Wenn man in experimentellen Systemen den Kohlendioxidgehalt erhöht, wird mehr Kohlenstoff in die Wurzeln transportiert aber weniger im Boden gespeichert. Das ist ein sehr interessantes Phänomen, das viele Forscher untersuchen."Noch wagt Lindahl nicht zu spekulieren, ob dieser Effekt den Klimawandel weiter beschleunigen wird. Immerhin bedeckt der von ihm untersuchte Waldtyp große Teile Kanadas, Sibiriens und Skandinaviens und trägt damit entscheidend zur weltweiten Kohlenstoffbilanz bei. Doch im Waldboden leben noch viele andere Mikroorganismen. Sie alle können den Kohlenstoffkreislauf in die eine oder andere Richtung lenken, gibt der Forscher zu bedenken."Wir können nicht sagen, in welche Richtung unsere Ergebnisse die jetzigen Klimamodelle beeinflussen werden. Auf alle Fälle sollten wir aber mehr berücksichtigen, welche Rolle Mikroorganismen im Kohlenstoffkreislauf spielen. Denn es ist nicht so, dass sie Kohlenstoff nur abbauen und wieder in die Atmosphäre bringen. Das hat man früher gedacht. Doch unsere Ergebnisse zeigen, dass sie auch Kohlenstoff in den Boden eintragen und speichern können."Bisher haben Lindahl und seine Kollegen jedoch nur Wälder untersucht, die von menschlichen Einflüssen weitgehend verschont geblieben sind. Deshalb wollen sich die Forscher als nächstes Nadelwälder ansehen, die forstwirtschaftlich genutzt werden. Denn auch der Mensch beeinflusst den Mikrokosmos im Boden.
Von Christine Westerhaus
Die Böden der borealen Wälder im Norden gelten als gigantische Kohlenstoffspeicher. Ein Großteil des Kohlenstoffs gelangt aber nicht als abgestorbenes Material in den Boden, sondern über mikroskopisch kleine Pilze. Diese neue Beobachtung schwedischer Forscher könnte einige Klimarechnungen durcheinanderwirbeln.
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https://www.deutschlandfunk.de/vernachlaessigter-klimafaktor-100.html
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Energie im Fenster
Lange Jahre hat die Wissenschaft geforscht und getüftelt. Jetzt wird geliefert: Zumindest in kleinem Maßstab sind organische Solarzellen marktreif. Als Strom spendende Taschen und Käppis gibt es sie schon. Und nun lassen sie sich auch in die Fassaden von Gebäuden einbauen."Das Interessanteste hier ist: Man kann diese organischen Solarzellen transparent machen, kann sie also in Fenster integrieren. Das ist einer der Vorteile dieser Technologie, die mit anderen Technologien sehr schwer zu machen sind", sagt Prof. Christoph Brabec, Physiker an der Universität Erlangen-Nürnberg. Fenster, beklebt mit durchsichtigen, folienartigen Plastik-Solarzellen – das klingt vielversprechend, etwa für großflächig verglaste Bürohaus-Fassaden. Nur: Mit den Solarzellen aus kristallinem Silizium, wie sie sich heute auf vielen Hausdächern finden, können die Plastikzellen noch nicht mithalten. Denn:"Die Effizienz ist deutlich geringer im Vergleich zu kristallinen Technologie." Während handelsübliche Siliziumzellen einen Wirkungsgrad von bis zu 20 Prozent schaffen, sind es bei den derzeit erhältlichen Plastikzellen nur drei Prozent. Sie wandeln also gerade mal drei Prozent des Sonnenlichts in Strom um. Im Labor aber sind die Forscher schon ein Stück weiter: Letztes Jahr schraubten sie die Effizienz erst auf acht, dann auf neun Prozent hoch – um jüngst sogar eine Schallmauer zu durchbrechen."Die höchste Effizienz wurde vor wenigen Wochen von Mitsubishi Chemical angekündigt - mit über zehn Prozent. Die zehn Prozent sind so etwas wie der magische Meilenstein der Fotovoltaik, um ernst genommen zu werden. Und es scheint, dass die organische Fotovoltaik das vor wenigen Wochen geschafft hat!"Ein Teilerfolg. Nun tüfteln die Ingenieure daran, diesen Wirkungsgrad von zehn Prozent auch in die Praxis zu bringen. Grundlagenforscher wie Christoph Brabec hingegen schielen schon nach neuen Rekorden."Man steckt sich jetzt die nächsten Ziele. Man möchte zeigen, dass man diese Technologie in den Bereich von 20 Prozent bringen kann." Also in den Bereich der derzeit besten Siliziumzellen. Nur: Wie wollen die Forscher das schaffen? Brabec setzt auf folgende Strategie."Man versucht Materialien zu entwickeln, die Photonen aus dem Infrarot nehmen, also dort, wo die organischen Halbleiter nicht absorbieren. Und dann immer zwei Infrarot-Photonen in ein blaues Photon umzuwandeln."Aus zwei mach eins. Klingt nicht sehr effizient, sondern eher verschwenderisch. Doch dahinter steckt ein Kniff: Und zwar wollen die Forscher infrarote Photonen, also infrarote Lichtteilchen, mit denen die Plastiksolarzelle eigentlich gar nichts anzufangen weiß, umwandeln in blaue Photonen, welche die Zelle zu Strom machen kann. Aus zwei unbrauchbaren Lichtteilchen wird also ein brauchbares. Als Übersetzer oder Konverter fungieren spezielle Nanoteilchen, gespickt mit dem Leuchtstoff Phosphor."Das sind Metalloxide. Die haben Größen von einigen zehn Nanometern. Wir sind in der Lage, in die Nanoteilchen diese Leuchtstoff-Konverter einzubringen, die dann den Job der Lichtkonversion machen."Die Nanoteilchen lösen die Forscher in Flüssigkeit. Das Resultat ist eine Tinte, mit der die Plastik-Solarzellen einfach bedruckt werden können. Das Prinzip funktioniert, das konnten das Team um Christoph Brabec vor kurzem zeigen. Nur: Den Wirkungsgrad konnten sie damit bislang noch nicht signifikant steigern. Bislang nämlich treten noch zu viele Infrarot-Photonen einfach durch die Konverterschicht hindurch, ohne dabei auf ein Nanoteilchen zu treffen und in blaue Lichtteilchen verwandelt zu werden. Einfach mehr Nanoteilchen in die Tinte zu rühren, funktioniert nicht. Gewisse Eigenschaften der Tinte würden sich dadurch verschlechtern. Deshalb planen die Forscher, das Licht quasi in die Schicht einzusperren, etwa durch winzige Gräben, die das Licht umleiten und seinen Weg in der Schicht verlängern. Und damit würden die Chancen deutlich steigen für ein erfolgreiches Rendezvous zwischen Photon und Nano-Teilchen.
Von Frank Grotelüschen
Sogenannte organische Solarzellen kommen zum Beispiel in Rucksäcken zum Einsatz, mit denen sich Handys aufladen lassen. Allerdings: Richtig ausgereift sind die Plastik-Zellen noch nicht. Vor allem ihre Effizienz lässt noch zu wünschen übrig. Eine neue Strategie könnte Abhilfe schaffen.
"2011-09-06T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:13:23.026000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/energie-im-fenster-100.html
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Google-Mitarbeiter protestieren gegen zensierte Suchmaschine
"Mitarbeiter als moralischer Kompass": Hauptquartier von Google in Beijing, China (imago) Google arbeite daran, mit einer zensierten Suchmaschine auf den chinesischen Markt zurückzukehren. Das berichtete das Portal "The Intercept" vor zwei Wochen. Mehr als 1.000 Googler drückten daraufhin in einem Schreiben ihre Bedenken gegen diesen Plan aus. Es ist nicht das erste Mal, dass Angestellte Druck auf das Management ausüben - so wurde nach internen Beschwerden ein Drohnen-Projekt mit dem US-Verteidigungsministerium beendet. Auch bei Microsoft-Mitarbeitern brodelte es kürzlich: Microsoft hat einen Rechnernetz-Vertrag mit der US-Zoll- und Einwanderungsbehörde ICE. Es ist ein kurzer Brief mit deutlicher Botschaft: "Für unsere Industrie hat ein neues Zeitalter moralischer Verantwortung begonnen: Unsere Entscheidungen haben Folgen für die ganze Welt", heißt es in dem Schreiben. Und weiter: "Wir haben derzeit nicht die nötigen Informationen, um Entscheidungen über unsere Arbeit, unsere Projekte und unsere Anstellung zu treffen." Verstoß gegen die eigenen Ethik-Regeln Das ist nur ein kurzer Ausschnitt, der zeigt, wie die Stimmung bei etlichen Google-Mitarbeitern ist, nachdem sie aus der Presse erfahren haben, dass der Konzern darüber nachdenkt, mit einer zensierten Suchmaschine auf den chinesischen Markt zurückzukehren. Der Journalist Ryan Gallagher vom Online-Portal "The Intercept" erklärte gegenüber dem Radiosender NPR, wie Googles spezielle Suchmaschine für China aussehen könnte. "Um sich an die Regeln der Kommunistischen Partei zu halten, müsste Google seine Suchmaschine streng an die Zensur des Regimes anpassen: Informationen über oppositionelle Politiker, Demokratie, Menschenrechte, selbst wissenschaftliche Arbeiten, die nachteilig für die Regierung ausfallen, sind geblockt. Und daran müsste sich auch eine Google-Suchmaschine halten." Verärgert über die Heimlichtuerei und mögliche Verstöße gegen Ethik-Regeln des Unternehmens unterschrieben über 1.400 Googler den Brief an die Konzernführung. So heißt es in den Regeln, dass Google keine Dienste anbietet, die zu Verletzungen von Menschenrechten führen. Es ist ein Déjà-vu für Google: Erst im April kündigte der Konzern nach Mitarbeiterprotesten an, das sogenannte Project Maven nach Vertragsende im März 2019 nicht fortzusetzen. Dabei wurden intelligente Algorithmen bei der Erkennung und Unterscheidung von Menschen in Drohnenvideos für das Pentagon eingesetzt. Kurz darauf veröffentlichte Google Grundsätze im Umgang mit Künstlicher Intelligenz: So versprach der Konzern, sie nicht für Waffen oder "Gewalt gegen Menschen" einzusetzen. Ian Sherr vom Technologieblog CNET sagte dazu dem Sender CBS. Die Verlockungen des chinesischen Marktes "Angestellte im Silicon Valley haben grundsätzlich ein Problem damit, sich gegenüber Regierungen zu verbiegen. Das sehen wir immer wieder. Speziell bei Google, wo schon ein anderes Projekt mit dem Verteidigungsministerium nach Protesten beendet wurde. Mitarbeiter dieser Konzerne wollen ihre Ideale nicht aufgeben, bei allem technologischen Fortschritt, der im Silicon Valley entwickelt wird. Es ist ein sehr schwieriges Thema." Ein Thema, bei dem auf der anderen Seite ein gewaltiger unerschlossener Markt wartet, fährt Sherr fort: "Für Google oder auch Facebook hat sich das Wachstum in den USA und der westlichen Welt verlangsamt – und in China leben eine Milliarde Menschen. Es ist eine riesige Chance zu wachsen, aber man muss sich mit diesen haarigen Problemen auseinandersetzen." Google-Chef Sundar Pichai sagte in einer Mitarbeiterversammlung: Noch sei nichts entschieden, die China-Pläne seien noch in einem sehr frühen Stadium. Querelen auch bei Microsoft und Amazon Google ist nicht das einzige Unternehmen, in dem Management und Angestellte nicht auf einer Linie sind, was die Verwendung ihrer Produkte angeht. So wurde bei einem Pilotprojekt der Polizei in der US-Metropole Miami Gesichtserkennungs-Software von Amazon eingesetzt. Nach Protesten von Mitarbeitern und der Bürgerrechtsorganisation ACLU wurde das Projekt gestoppt, inzwischen aber weiter fortgesetzt. Die Mitarbeiter sprachen sich in dem Brief auch dafür aus, die Daten-Sammel-Firma Palantir von seinen Cloud-Diensten zu sperren. Palantir ist ein Unternehmen von Paypal-Mitbegründer und Trump-Unterstützer Peter Thiel, der enge Verbindungen zum Geheimdienst CIA hat. Im Juni richteten Microsoft-Angestellte einen Brief an ihren Chef Satya Nadella. Sie forderten ihn auf, einen Vertrag mit der Einwanderungsbehörde ICE im Wert von 19 Millionen Dollar zu kündigen. Hintergrund für die Forderung waren die Familientrennungen an der US-mexikanischen Grenze. Auch das haben Technologieunternehmen 2018: Mitarbeiter als moralischen Kompass.
Von Nicole Markwald
Google-Mitarbeiter haben sich in einem Schreiben an ihren Arbeitgeber gegen eine zensierte Suchmaschine für den chinesischen Markt ausgesprochen. Verärgert über mögliche Verstöße gegen Ethik-Regeln des Unternehmens unterschrieben über 1.400 Googler den Brief an die Konzernführung.
"2018-08-21T07:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:07:03.552000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/technologiekonzern-google-mitarbeiter-protestieren-gegen-100.html
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Tihange-1 gefährlicher als angenommen?
Teilnehmer bilden (25.06.17) vor dem Atomkraftwerk Tihange (Belgien) eine Menschenkette. (dpa / belga / Anthony Dehez ) Viele Katastrophen kündigen sich an, haben Vorläufer, die auf das drohende Unheil hinweisen. Das gilt auch für die Atomkraft. Hier sprechen die Techniker von "Precursor", zu Deutsch "Vorboten": "Ich erinnere daran, dass Tschernobyl einen Vorläufer hatte, dieser Vorläufer wurde nur nicht beachtet. Tschernobyl hätte nicht stattfinden können und nicht stattfinden dürfen, wenn man sachgerecht untersucht hätte, also eine Precursor-Analyse durchgeführt hätte", sagt Manfred Mertins, langjähriger Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, GRS. Precursor-Analysen sind also enorm wichtig. Die GRS selbst spricht von "Vorboten für Schäden im Reaktorkern". In vielen Ländern werden sie seit Jahren systematisch erfasst. Dem WDR liegt nun ein Schreiben der Brüsseler Atomaufsicht vor, in dem erstmals Zahlen über Precursor-Ereignisse in den belgischen Atomkraftwerken genannt werden. Demnach gab es in Belgien zwischen 2013 und 2015 insgesamt 14 Precursor-Fälle – davon mehr als die Hälfte in dem Reaktor Tihange-1. Atomexperte Mertins ist alarmiert: "Precursor kann man schon einstufen als einen Indikator für den Sicherheitszustand der Anlage. Die Anzahl der Precursor, und das zeigt sich ja in Tihange-1, zeigt, dass wir hier eine deutliche Häufung haben, gegenüber anderen Anlagen in Belgien, so dass man schon allein aus diesem Indikator heraus feststellen kann, dass die Sicherheit der Anlage hier Probleme aufweist." Atomsicherheit - Angelegenheit der jeweiligen Regierungen? Der ehemalige Chef der deutschen Atomaufsicht im Bundesumweltministerium, Dieter Majer, drückt es noch drastischer aus: "Diese Zahlen sind erheblich höher als üblich. Da müssen eigentlich die Alarmglocken bei allen Verantwortlichen, sowohl bei den Betreibern in Belgien, bei der Behörde in Belgien und auch bei den Nachbarländern, also sprich bei der deutschen Behörde, beim deutschen Bundesumweltministerium müssten alle roten Lampen angehen." Die Bundesregierung jedoch wiegelt ab. Atomsicherheit sei Angelegenheit der jeweiligen Regierungen, so das Umweltministerium gegenüber WDR-Hörfunk und Monitor. Im Übrigen seien Precursor, Zitat, "nicht geeignet, direkte Rückschlüsse auf das Sicherheitsniveau einer Anlage zu ziehen". Fast wortgleich äußert sich auf Anfrage die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC. Dem widersprechen nicht nur die Atomexperten Majer und Mertins. In einem Bericht der EU-Kommission von 2009 heißt es: "Aus den Erfahrungen ergibt sich, dass schweren Unfällen in der Regel relativ harmlose Vorläuferereignisse vorausgehen, und dass eine signifikante Verschlechterung des Zustandes der Anlagen oder der Sicherheitskultur in der Regel aus frühen Anzeichen erkennbar ist." In öffentlichen Stellungnahmen spielte Tihange-1 bislang Precursor-Ereignisse können also durchaus ein Zeichen für Mängel im der Anlage oder beim Personal sein – zumal, wenn es so viele sind und weitere Probleme, z.B. häufige Reaktorschnellabschaltungen und lange, außerplanmäßige Stillstände, hinzu kommen – wie im Fall Tihange-1. Nuklearexperte Mertins kommt daher zu dem Schluss: "Man muss einfach feststellen, dass das Risiko der Anlage Tihange-1 vergleichbar ist mit dem Risiko der beiden anderen genannten Anlagen, also Doel-3 und Tihange-2, so dass man hier auch darauf dringen müsste, die Anlage in überschaubarer Zeit abzustellen." Obwohl man im Umweltministerium nach eigenem Bekunden über die Precursor-Fälle in Belgien informiert ist: In den öffentlichen Stellungnahmen der Bundesregierung spielte Tihange-1 bislang keine Rolle. Ein grobes Versäumnis, meint Sylvia Kotting-Uhl, Atomexpertin der Grünen im Bundestag: "Die Bundesregierung müsste in ihrer Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung darauf drängen, dass untersucht wird, was ist mit diesem Reaktor los, warum hat er diese vielen Vorfälle, und dass er dann eventuell in der Konsequenz auch abgeschaltet wird." Die grüne Atomexpertin meint, dass jetzt auch noch einmal neu über die Lieferung deutscher Brennelemente an Doel und Tihange nachgedacht werden müsse.
Von Jürgen Döschner
Belgiens Atomkraftwerke sind gefürchtet – zumindest die beiden Reaktoren Tihange-2 und Doel-3. Sie haben Risse in den Reaktorbehältern und bedrohen die gesamte Grenzregion rund um Aachen. Doch Belgien betreibt insgesamt sieben Atomreaktoren – und zumindest einer, nämlich Tihange-1 – ist offenbar genauso riskant.
"2018-02-01T11:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:37:30.160000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomkraft-in-belgien-tihange-1-gefaehrlicher-als-angenommen-100.html
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Ein Schlag gegen die Mafia
Italienische Polizisten bei einem Anti-Mafia-Einsatz auf Sizilien. (dpa / picture alliance / Carabinieri/dpa) Settimo Mineo, der mutmaßliche neue Chef der sizilianischen Mafia, ist gemeinsam 45 weiteren Verdächtigen festgenommen worden. Die Mafia erlebt derzeit erhebliche Rückschläge, sagt Buchautor David Schraven vom Recherchenetzwerk Correctiv. Denn zusätzlich zu den Verhaftungen würden in Italien massive Beschlagnahmungen von Kapital durchgeführt. Allein in den vergangenen Jahren habe es Beschlagnahmungen in Milliardenhöhe gegeben. "Allerdings sind die Ressourcen, auf die die Mafia zurückgreifen kann, enorm", so Schraven weiter. Insgesamt gebe es im Kampf gegen die Mafia hoffnungsvolle Ansätze. Eigentlich sind sich Bund und Länder einig: Über den Digitalpakt soll Geld aus dem Bundeshaushalt an die Schulen fließen. Dafür hat der Bundestag bereits mit breiter Mehrheit eine Grundgesetzänderung beschlossen. Doch jetzt verweigert auf einmal die Ländervertretung, der Bundesrat, die Zustimmung. Das Geld wird vorerst nicht fließen. Christiane Habermalz aus dem Haupstadtstudio erklärt, warum sie den schwarzen Peter eher bei den Ländern sieht.
Von Philipp May
In Italien ist den Behörden ein mächtiger Mafia-Boss ins Netz gegangen. Wie sehr schwächt das Cosa Nostra? Und: Wie Bund und Länder beim Digitalpakt für Schulen versagen.
"2018-12-04T17:00:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:56.758000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-ein-schlag-gegen-die-mafia-100.html
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Mit dem Bus nach Österreich
Die ungarische Polizei geleitet Flüchtlinge in Bicske zu einem Bus. (picture-alliance / dpa / Herbert P. Oczeret) Der Stabschef des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban teilte mit, dass rund hundert Busse zum Einsatz kommen. Sie sollen zum einen die Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in Budapest aufnehmen. Die Busse sollen aber auch zur Autobahn M1 fahren. Dort sind deutlich mehr als 1.000 Flüchtlinge zu Fuß auf dem Weg nach Österreich. Die Wegstrecke bis zur Grenze beträgt rund 170 Kilometer. Der Plan der ungarischen Regierung ist es nach eigenen Angaben, die Flüchtlinge zum Grenzübergang Hegyeshalom zu bringen. Das ist der wichtigste Übergang von Ungarn nach Österreich. Wie viele Flüchtlinge genau in Ungarn sind, und wie viele nun auf dem Weg nach Österreich, ist nicht überprüfbar. Es könnten mehrere tausend sein. Die ersten Busse trafen inzwischen an der Grenze ein. Die Österreicher empfingen die Flüchtlinge mit Applaus, Willkommenspaketen und Essen. Die österreichische Regierung gab bekannt, dass sie die Menschen einreisen lässt. Das Büro des Bundeskanzlers teilte mit, es handle sich um eine Notsituation an der Grenze. Faymann selbst hatte zuvor mit Orban telefoniert. Danach machte er deutlich, dass er sein Vorgehen mit Bundeskanzlerin Merkel abgestimmt hat. Er äußerte zudem die Erwartung, dass Ungarn jede zukünftige, verbindliche Quotenregelung der EU akzeptiere. Hintergrund ist ein Treffen der vier Länder Ungarn, Tschechien, Polen und Slowakei. Sie hatten gemeinsam erklärt, dass sie verbindliche Quoten für eine Verteilung von Flüchtlingen ablehnen. Stattdessen plädierten sie für freiwillige Quoten. Deutschland und Frankreich treten dagegen für verpflichtende Regeln ein. (jcs/jan)
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In Ungarn sind in der Nacht zahlreiche Busse losgefahren, um Flüchtlinge nach Österreich zu bringen. Inzwischen trafen die ersten Busse auch dort ein. Bundeskanzler Werner Faymann hatte vorher erklärt, man werde die Menschen ungehindert ins Land und ebenso nach Deutschland ausreisen lassen.
"2015-09-05T02:57:00+02:00"
"2020-01-30T12:57:51.080000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-mit-dem-bus-nach-oesterreich-100.html
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Schicksalstage für Netanjahu
"Wenn wir Netanjahu abwählen, wäre es so, als würden wir Selbstmord begehen", sagt eine Anhängerin von Israels Premierminister (Getty Images / Amir Levy) Es ist Mittagszeit auf dem größten Markt Jerusalems im jüdischen Westteil der Stadt. In den engen überdachten Marktgassen reihen sich Lebensmittelgeschäfte an Cafés und Bars. Manche der Marktbesucher kaufen fürs bevorstehende Wochenende ein, andere trinken schon entspannt ein Bier. Natürlich ist der dritte Wahlkampf in Israel in weniger als einem Jahr auch hier Thema und Regierungschef Benjamin Netanjahu, Spitzname Bibi, hat auf dem Markt in Jerusalem viele Fans. Diese Frau, in einem der Cafes, hat ihn schon bei den beiden Wahlen im letzten Jahr gewählt und wird nun wieder für Bibi stimmen. "Er ist die stärkste Führungskraft der Welt – das sagen alle. Auf der ganzen Welt wird er geliebt und hier wünschen ihm alle den Tod. Wenn wir Netanjahu abwählen, wäre es so, als würden wir Selbstmord begehen." Mehr als zehn Jahre regiert Bibi Netanjahu nun schon an einem Stück. Zusammen mit einer Amtszeit Mitte der 1990er-Jahre ist er länger Premierminister als Staatsgründer Ben Gurion. Nach der Wahl wird Netanjahu erneut Geschichte schreiben - wenn auch in negativer Hinsicht. Als erster Regierungschef Israels überhaupt soll er wegen des Verdachts der Korruption auf die Anklagebank. Diese Wirtschaftsstudentin, die in einem der Cafés auf dem Markt kellnert, wird ihn trotzdem wählen. "Warum Bibi? Weil ich finde, dass er der Premierminister ist, der am Meisten für Israel erreicht hat. Ich glaube auch nicht, dass etwas an den Vorwürfen dran ist. Und selbst wenn er korrupt ist, wenn er wirklich diese Dinge getan haben soll, ist er mir – nach allem was er für den Staat Israel getan hat – lieber als Gantz oder irgendjemand anderes." Israel vor der nächsten Wahl - Hoffen auf das Ende des politischen PattsBereits zum dritten Mal binnen eines Jahres sind die Israelis am Montag zur Wahl aufgerufen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hofft ebenso wie sein Herausforderer Benny Gantz, dass es diesmal für eine klare Mehrheit reicht. "Benny Gantz ist zwar neu, aber er hat eine Chance verdient" Benny Gantz ist Spitzenkandidat für das Oppositionsbündnis Blau-Weiß, das bei der letzten Wahl im vergangenen September stärkste Kraft vor Netanjahus Likud-Partei wurde. Damals scheiterte nach Netanjahu auch Benny Gantz an der Bildung einer Regierungskoalition. Auf dem Markt in Jerusalem sind seine Anhänger zwar in der Minderheit, aber man findet sie. Diese Frau Anfang Fünfzig wird das Bündnis von Gantz wählen. "Nur Blau Weiß, denn wir brauchen in diesem Land eine Veränderung. Ich denke nicht, dass ein Premierminister, der vor Gericht stehen wird, regieren kann. Da kann man nichts machen. Benny Gantz ist zwar neu, aber er hat eine Chance verdient. Bibi hat auch einmal angefangen. Jetzt müssen andere die Chance bekommen." Gantz gegen Netanjahu. Bibi gegen Benny. Diese Personalfrage prägte auch den zurückliegenden Wahlkampf und wie schon in den vergangenen Kampagnen bekam der Amtsinhaber erneut Unterstützung aus dem Weißen Haus. Donald Trump wählt die große Bühne – am 28. Januar – als er seinen Plan für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern präsentiert. Der Plan sieht einen palästinensischen Staat unter starken Einschränkungen und für Israel äußerst günstige Bedingungen vor. So sollen alle jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland und das Jordantal offiziell israelisches Staatsgebiet werden. Die USA, sagt ihr Präsident, würden Israels Souveränität über die Gebiete anerkennen, die dem Plan zufolge zu Israel gehören sollten. "The United States will recognize Israeli Sovereignty over the territory that my vision provides to be part of the State of Israel very important." Sehr wichtig sei das, sagte Donald Trump und da spricht er sicher auch für den Mann an seiner Seite. Benjamin Netanjahu ist bei der Vorstellung des Plans dabei und dass die USA nach jahrzehntelanger Blockade grünes Licht für die Annektierung besetzter Gebiete geben, sei eine historische Chance, die ergriffen werden müsse, sagt der Wahlkämpfer Netanjahu. "Viel zu lange wurde das Herz des Landes Israel, wo unsere Patriarchen beteten, unsere Propheten predigten und unsere Könige herrschten, in empörender Weise als illegal besetzt gebrandmarkt. Heute, Mister President, durchstechen sie diese große Lüge." Nahost-Experte Michael Lüders - "Diesen palästinensischen Staat wird es nicht geben"Die Umsetzung von Trumps Nahost-Plan sei wohl aus guten Gründen nicht benannt worden, so der Nahost-Experte Michael Lüders. Details zeigten, dass ein Deal mit den Palästinensern nicht gewollt sei. Mehr als 600.000 Israelis in Siedlungen im Westjordanland Eitam Luz zeigt in Richtung Küste, wo die Skyline von Tel Aviv zu sehen ist. Raanana ein Vorort der Metropole, sei nur 29 Kilometer entfernt erzählt Eitam. Der Hügel mit dem Haus allerdings, in dem Eitam und seine Frau Avital mit ihren sechs Kindern leben, ist völkerrechtlich gesehen, nicht in Israel. Vor neunzehn Jahren kamen Avital und Eitam auf diesen Hügel im besetzten Westjordanland, das sie nur Judäa und Samaria nennen. Erst wohnten die beiden in einem Wohnwagen, dann bauten sie das Haus. Avital und Eitam sind national-religiöse jüdische Siedler – zwei von mehr als 600.000 Israelis, die in den Siedlungen im Westjordanland und im arabischen Ostteil Jerusalems wohnen. Hier, in dem Gebiet zu leben, das Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte, ist für die beiden Teil ihres Bekenntnisses zu ihrer Religion und zum jüdischen Staat. Für sie ist klar, dass das jüdische Volk auf dieses Land einen historischen Anspruch hat. Der Nahostplan von US-Präsident Trump, der grünes Licht für eine israelische Annexion der Siedlungsgebiete im Westjordanland gibt, ist für Avital eine gute Nachricht. "Dieses ganze Gerede, das heute in Europa so aktuell ist, zu sagen: ah! das sind Besatzer, lasst uns Siedlungen räumen, lasst uns jeden Juden aus seinem Haus zerren - dieses Gerede wird es Trumps Plan zufolge nicht mehr geben. Für mich ist das sehr wichtig. Ich verstehe diesen Plan als freudige Botschaft. Ich freue mich darüber und sehe ihn zumindest in Teilen positiv." Avitals Mann, Eitam, hofft, dass die kleine Siedlung in der er lebt, offiziell von Israel annektiert wird. Er glaubt aber nicht, dass das bald passieren wird – obwohl Benjamin Netanjahu es im Wahlkampf immer wieder angekündigt hat. Mit den Palästinensern in der Nachbarschaft will Eitam zusammenleben – in Frieden, aber nicht gleichberechtigt. "Mein Israel basiert auf einem sehr alten Entwurf, den es schon in der Bibel gegeben hat. Demnach gehört das Land dem Volke Israel und in diesem Land gibt es Bewohner, die individuelle Rechte besitzen, die ihnen auf keinen Fall abgesprochen werden dürfen. Sie haben aber keine Bürgerrechte." Eitam und Avital Luz sind beide in der national-konservativen Likud-Partei. Avital ist mit 15 eingetreten. Jetzt ist sie 38. Eitam ist ein Jahr älter. Beide stehen hinter dem Likud-Vorsitzenden Benjamin Netanjahu. Die Korruptionsvorwürfe gegen ihn hält Avital für eine Verschwörung von Justiz, Medien und Opposition. Sie spricht von einer Hexenjagd. Die Linken wollen eine rechte Regierung stürzen, glaubt Avital. Für sie ist Netanjahu ein Opfer. "Was er gerade durchmachen muss, liegt einzig und allein an seiner politischen Einstellung. Sie wollen ihn aus dem Amt jagen, denn sie können ihn nicht kontrollieren, so wie sie es gewohnt sind. Viele lange Jahre waren wir davon überzeugt, dass er nicht ausreichend hinter der Siedlungsbewegung steht. Aber wenn wir sehen, was er jetzt durchmachen muss, ändert das meine Meinung völlig. Heute stehe ich an seiner Seite. Ich glaube wirklich, dass er ein großer Staatsmann ist und ich fürchte mich davor, was passieren wird, wenn er die Bühne räumt. Denn wenn ich nach rechts oder links, 360 Grad um mich herum schaue, sehe ich niemanden, der seine politische Macht, seine Weitsicht und sein Charisma besitzt." "Blau-Weiß wir sind hier", schallt es aus den Lautsprechern. "Blau Weiß. Es ist an der Zeit. Wir werden gewinnen." Das Publikum klatscht im Takt. Der Kinosaal in einem Einkaufszentrum in Kfar Saba, vor den Toren Tel Avivs, ist voll. Rund 450 Zuhörer sind gekommen um den Spitzenkandidaten von Blau-Weiß zu hören. Die israelischen Siedler Eitam und Avital Luz unterstützen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Tim Aßmann) Wolffsohn zur israelische Siedlungspolitik - "Andere politischen Lösungen gefragt"Der Historiker Michael Wolffsohn hat einen neuen politischen Ansatz in der Diskussion um die israelische Siedlungspolitik gefordert. Die bisher gängige Meinung im Völkerrecht, die Siedlungen als illegal anzusehen, habe nicht zum Frieden geführt, sagte er im Dlf. Der dritte Wahlkampf mit der gleichen Botschaft "Guten Abend", ruft Benny Gantz in den Saal und er blickt in strahlende Gesichter. Vor ihm sitzt wohlhabender israelischer Mittelstand, gebildet, Durchschnittsalter im Saal: Über 50. Hier muss der Ex-General Benny Gantz kaum noch jemanden von sich überzeugen. Es ist nun auch sein dritter Wahlkampf mit der immer gleichen Botschaft: Es ist Zeit für einen Wechsel. "Es kann nicht sein, dass alles nur durch Macht, Tricks, Ausübung von Druck oder durch Korruption vorangeht. Das muss sich ändern. Ich bin auch nicht bereit, eine Situation hinzunehmen, in der der Premierminister Geschäfte macht, die bis zum Himmel stinken oder in der er nicht nur auf dem Stuhl des Regierungschefs, sondern auch auf der Anklagebank sitzt." Benny Gantz will Benjamin Netanjahu an der Spitze des Landes ablösen. In Kfar Saba spricht Gantz, der ehemalige Armeechef, 20 Minuten über die Sicherheit Israels, über die Spannungen in der Gesellschaft, das vergiftete politische Klima zwischen Rechts und Links, über Missstände im Gesundheits- und im Bildungswesen. Den Friedensplan der US-Regierung findet auch Benny Gantz im Kern gut. "Ich denke, dass der Plan von Trump eine hervorragende Basis für den Beginn von Verhandlungen ist, denn was unterscheidet den Plan von allem, was bis heute vorgebracht wurde? Er sieht der Realität ins Auge, spricht nicht von dieser oder jener illusorischen Grenze und ignoriert auch nicht die Tatsachen vor Ort." Zu Gast bei Alon Alsheich und Frau Tair. Mit seinen zwei Kindern lebt das Paar im Kibbutz Nir Am, im Süden Israels, direkt an der Grenze zum palästinensischen Gaza-Streifen. Alon ist 43 Jahre alt. Er hat ein eigenes Start-up-Unternehmen, auch Tair, sie ist 40, arbeitet im High-Tech-Sektor. Die Familie ist typischer israelischer Mittelstand – ihre Lebensbedingungen an der Gaza-Grenze sind alles andere als normal. Regelmäßig schießen Palästinenser Raketen und Granaten in Richtung Israel. Wenn es Alarm gibt, haben wir nur 15 Sekunden um die Schutzräume im Haus oder draußen zu erreichen, erzählt Tair. "Wir leben in einem Art Tischtennisspiel, das auf unserem Rücken gespielt wird, und wir wissen nicht wie wir da rauskommen. Wir sind quasi das Netz zwischen beiden Seiten und das ist sehr frustrierend und hart." Benny Gantz, Kandidat des israelischen Oppositionsbündnis Blau-Weiß (dpa / Oded Balilty) Während seine Frau erzählt, hat Alon Fundstücke aus seinem Garten geholt. Eines davon sieht aus wie eine Raketenspitze. Das ist ein Geschoss des israelischen Luftabwehrsystems Eiserne Kuppel, erklärt Alon. "Sowas hat man eigentlich nicht im Garten. Das ist von der Eisernen Kuppel. Wenn die Palästinenser Richtung Norden schießen, treffen sich die Flugbahnen ziemlich genau über Nir Am. Hier treffen die Abfanggeschosse die Kassam-Raketen und dann fällt alles herunter – in großen Stücken und mit einem großen Knall. Auf jede Rakete kommen zwei Abfanggeschosse. Zwischen 2017 und 2019 hatten wir mehr als 200 Alarme – also rund 600 Mal Bumm in den letzten 700 Tagen." Alon Alsheich zeigt die Raketentrümmer, die in seinen Garten fielen. (Tim Aßmann) Alon und Tair ist wichtig, zu betonen, dass sie nicht als Opfer gesehen werden wollen. Sie leben bewusst in Nir Am und sind bereit mit der Situation umzugehen. Sie möchten von der Politik aber gerne wissen, wie es weitergehen soll? Es gibt einen Mangel an Führungsstärke, sagt Alon bedauernd. Er wird bei der Wahl voraussichtlich für das Oppositionslager stimmen, auch wenn er von Benny Gantz, dem Spitzenkandidaten des Bündnisses Blau-Weiß nicht überzeugt ist. Benjamin Netanjahu will er auf keinen Fall unterstützen. Den kann man nicht wählen, sagt Alons Frau Tair. "Er verbreitet Hass und spaltet. Ich würde ihn nie wählen. Seine Zeit ist vorbei. Er hat viel Gutes erreicht – für die Wirtschaft und in anderen Bereichen aber nicht, soweit es uns angeht, für die wirklichen Bedürfnisse Israels in 2020. Ich glaube nicht, dass seine juristische Lage ihm erlauben wird, so zu arbeiten, wie man es erwartet." Untreue-, Betrugs- und Bestechlichkeitsvorwürfe Benjamin Netanjahu ist wegen Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit angeklagt. Es geht unter anderem um die Annahme von Luxusgeschenken. Außerdem soll Netanjahu einem Medienunternehmer wettbewerbsrechtliche Vorteile verschafft haben – im Gegenzug für positive Berichterstattung. Bibi Netanjahu weist die Vorwürfe zurück, spricht von einem Putschversuch durch die Justiz. Im Wahlkampf hat sich Netanjahu zuletzt vor allem auf die Suche begeben. Auf die Suche nach den 300 000. So viele Anhänger seiner Likud-Partei sind bei der letzten Wahl im vergangenen September zuhause geblieben, glaubt Netanjahu. Nun sucht er also – zum Beispiel im Publikum einer Wahlveranstaltung in der Siedlung Ariel im Westjordanland. Bibi holt sich einen jungen Mann nach vorne und fragt: Liroi gehörst Du zu den 300.000? Er habe nicht gewählt, weil er sicher war, dass Netanjahu gewinnt, sagt Liroi. "Kommst Du jetzt", fragt Netanjahu. "Wirst Du Likud wählen?" "Klar", sagt Liroi. Bibi sei der König. "Nein, nein", unterbricht ihn Bibi. "Ich will, dass Du es sagst, dass Du nicht gewählt hast, jetzt für den Likud stimmst und die 300.000 an die Wahlurne gehen." Liroi stammelt etwas, kriegt es aber hin und bekommt dafür ein Dankeschön von Netanjahu. Dann richtet sich Netanjahu an die Nichtwähler und sagt: "Ich komme zu Euch nach Hause." Die Mobilisierung wirklich aller Wähler des rechts-nationalen Lagers ist die Mission des Wahlkämpfers Netanjahu. Den Umfragen zufolge haben seine Likud-Partei und deren potentielle national- und streng-religiöse Koalitionspartner keine Chance auf eine eigene Parlamentsmehrheit. Der Likud wird möglicherweise erneut nur zweitstärkste Kraft hinter Benny Gantz und seinem Bündnis Blau-Weiß. Der wiederum könnte eine Minderheitsregierung bilden, toleriert durch die Vereinigte Liste der Parteien der arabischen Minderheit im Land. Dass Benny Gantz ein Ministerpräsident unter Duldung der arabischen Parteien sein könnte, thematisiert Benjamin Netanjahu gebetsmühlenartig. Wenn die Umfragen annähernd zutreffen, wird auch nach dieser Wahl keines der beiden Lager eine Parlamentsmehrheit haben. Es könnte zu einer vierten Wahl kommen. Gespräche über eine große Koalition zwischen dem Likud und Blau-Weiß scheiterten bisher immer an der Frage, welche Rolle der unter Korruptionsanklage stehende Benjamin Netanjahu künftig in einer Regierung spielen soll. Da nun klar ist, dass er sich bald vor Gericht verantworten muss und er auch keine Aussichten auf parlamentarische Immunität hat, könnte es sein, dass Netanjahu den Weg doch freimachen muss, sagt der Politikwissenschaftler Amir Fuchs vom Israelischen Demokratie Institut. "Es ist völlig klar, dass ohne Netanjahu eine Koalition innerhalb von zwei Tagen möglich wäre. Die Positionen von Blau-Weiß und dem Likud sind zwar nicht völlig identisch aber man ist nah genug beieinander, um koalieren zu können." König Bibi ist das entscheidende Teil im israelischen Polit-Puzzle. Noch hofft Netanjahu auf eine Parlamentsmehrheit. Er will im Amt bleiben - auch wenn er gleichzeitig vor Gericht steht. Angeklagt wegen Untreue, Betrug, Bestechlichkeit: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. (picture alliance/Ilia Yefimovich/dpa)
Von Tim Aßmann
Zum dritten Mal innerhalb von zwölf Monaten wird in Israel ein neues Parlament gewählt - wieder droht ein Patt zwischen dem Likud unter Regierungschef Benjamin Netanjahu und dem Blau-Weiß-Bündnis von Benny Gantz. Angesichts der Vorwürfe gegen ihn, ist offen, ob Netanjahu doch den Weg freimachen muss.
"2020-03-01T18:40:00+01:00"
"2020-03-17T08:52:19.034000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dritte-parlamentswahl-in-israel-schicksalstage-fuer-100.html
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Wie die Al-Shabab-Miliz ihren Terror in Somalia finanziert
Holzkohle wird in Somalia aus den schnell schwindenden Akazienwäldern hergestellt – finanziert Terror und befeuert Korruption (imago / Nature Picture Library) Aufräumarbeiten in der somalischen Hauptstadt Mogadischu: Ladenbesitzer und Händlerinnen schieben Schutt, zerbeulte Türgitter, Teile von Wellblechdächern und Reste ihrer Waren beiseite. Am 29. Oktober 2022 wurden ihre Geschäfte durch zwei verheerende Autobomben teilweise zerstört, die Nachrichtenagentur AFP stellte Bilder von den Auswirkungen ins Internet.  Die beiden Autobomben töteten nach Regierungsangaben mehr als 120 Menschen. Für Somalia war das der verheerendste Anschlag seit rund fünf Jahren. Die Islamistische Terrormiliz Al Shabab reklamierte die Tat bald für sich und Präsident Hassan Sheikh Mohamud erklärte nicht zum ersten Mal, die somalische Regierung werde die Terroristen mit allen Mitteln bekämpfen. Doch die Trennlinie zwischen den Terroristen auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen ist längst nicht so scharf, wie die Regierung es darstellt. Das deckt eine gemeinsame Recherche von Deutschlandfunk und dem Correctiv V CrowdNewsroom auf. Demnach betreiben die Terroristen ein illegales Geschäft, an dem sich auch Vertreter des Staates bereichern: Es geht um den millionenschweren Handel mit Holzkohle. Sie wird aus den schnell schwindenden Akazienwäldern Somalias hergestellt. Holzkohleschmuggel für Al Shabab wichtigste Einnahmequelle Die Folgen sind katastrophal, für die Umwelt, das Klima und die Sicherheitslage. Der Sicherheitsexperte Abdisalan Guled, der lange für den somalischen Geheimdienst gearbeitet und dann eine Sicherheitsfirma gegründet hat, ordnet das Geschäft so ein: „Der Schmuggel von Holzkohle ist für die Shabaab-Miliz die wichtigste Einnahmequelle. Wenn er gestoppt würde, hätte das ohne Zweifel große Auswirkungen auf die Finanzierung der Terrorgruppe. Und wenn sie weniger Geld hätte, würde sie das natürlich militärisch schwächen.“  Herstellung von Holzkohle und der Handel mit ihr sind in Somalia untersagt - doch beides geht weiter (picture-alliance / Radu Sigheti) Eine Expertenkommission, die das Ausmaß des Holzkohleschmuggels im Auftrag der Vereinten Nationen untersuchte, kam schon 2011 zu dem Ergebnis, dass sich die Terrormiliz vor allem durch das Geschäft mit der Holzkohle finanziert. Die Experten schätzten die Einnahmen allein aus dem Export in die Golf-Region auf mehr als 15 Millionen US-Dollar. Die Untersuchung hatte Folgen – zumindest auf dem Papier: Herstellung von und Handel mit Holzkohle sind in Somalia seit 2012 gesetzlich untersagt. Verboten zunächst vom UN-Sicherheitsrat, Somalias schwache Regierung zog kurze Zeit später nach. Faktisch läuft das kriminelle Geschäft aber weiter, wie mehrere Akteure nun eingeräumt haben. Recherchen zu dem heiklen Thema sind in Somalia für Medienschaffende und ihre Gesprächspartner lebensgefährlich. Über eine digitale Plattform, die der Correctiv Crowdnewsroom eingerichtet hat, konnten sich nun Holzfäller, Köhler, Lastwagenfahrer, Händler und Käufer anonym und sicher zum Holzkohle-Handel äußern. Einige sind an dem illegalen Geschäft beteiligt. Viele leben in Gebieten, die von der Shabaab-Miliz kontrolliert werden. Mit einigen von ihnen haben somalische Kollegen zusätzlich Interviews geführt. Alle Aussagen wurden von einem Experten mit Hilfe von Satellitenbildern überprüft und analysiert. Abholzung für Umwelt katastrophal Ganz am Anfang der illegalen Wertschöpfungskette steht Ahmed. Er verbrennt das Holz in selbst gebauten Meilern zu Kohle. Der Mann heißt eigentlich anders, will aber, wie alle übrigen Befragten, anonym bleiben: „Ich mache das nicht gerne. Ich habe nur mit dem Brennen von Holzkohle angefangen, weil ich keine andere Möglichkeit habe, Geld zu verdienen.“Ahmed weiß, dass sein Job schädlich ist – für ihn, die Umwelt in Somalia und das globale Klima: „Dass wegen der Holzkohle so viele Bäume gefällt werden, hat schlimme Folgen. Die Dürre, unter der Somalia zurzeit leidet, hat damit zu tun. Außerdem werden die Böden immer härter und schlechter, wenn die Bäume fehlen. Aber für uns Köhler gibt es keine Alternative, wir müssen ja irgendwie überleben.“ Bessere Ernten trotz TrockenheitWie Afrikas Landwirtschaft krisenfester werden kann 18:49 Minuten12.07.2022 Somalia ohne RegenAuf Dürre folgt Hunger Der ohnehin knappe Baumbestand ist in den vergangenen Jahren dramatisch zurückgegangen. Laut einer gemeinsamen Studie der Europäischen Union und der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO wurden allein zwischen 2006 und 2012 sieben Prozent der ohnehin spärlichen Vegetation für Holzkohle abgeholzt. Nach der Abholzung werden die Böden schnell knochenhart, die ausgelaugten Flächen gleichen Wüsten. An Landwirtschaft oder Viehhaltung ist dann nicht mehr zu denken. In den entwaldeten Regionen ist die Folge ein Teufelskreis aus Armut, Raubbau an der Natur und noch mehr Armut. Auch der somalische Umwelt- und Klimaschutzminister Adam Aw Hirsi sieht, dass die Abholzung schlecht für das Land ist: "Der Holzkohleschmuggel und die Abholzung verschärfen die Folgen der Klimakrise, die in Somalia verheerende Auswirkungen hat. Das ist im ganzen Land spürbar.“ Natürlich verschuldet Somalia die Auswirkungen der Klimakrise bei weitem nicht allein. „Somalia hat 2021 pro Kopf nur 0,03 Tonnen Treibhausgase ausgestoßen. Und trotzdem leiden wir zu 100 Prozent unter den Folgen der Klimakrise.“ Mehr zu Treibhausgasen Kohlendioxid-EmissionenTricksereien beim Klimaschutz mit Zertifikaten 05:29 Minuten10.06.2022 Klimaforschung und KlimapolitikWeltklimafrust - wie die Wissenschaft an der Politik verzweifelt 28:43 Minuten31.10.2021 Technologien zum CO2-RecyclingGemessen an den Klimazielen nicht effizient genug 04:50 Minuten21.02.2022 Zum Vergleich: Deutschland stößt pro Kopf etwa 300 Mal so viel CO2 aus. In Somalia wandelt sich das Klima also auch durch den globalen Ausstoß an Treibhausgasen. Zusätzlich hat die Abholzung das lokale Klima sehr spürbar verändert. Die Entwaldung geht vor allem in drei Regionen, die überwiegend von der Al-Shabab-Miliz kontrolliert werden, schnell voran: Jubaland, Lower Shabelle und Bay. Beispiel Jubaland: Dort wird die Stadt Jilib von den Islamisten kontrolliert. 2006 ist das Umland auf Satellitenbildern noch von sattem Grün. Jetzt ist alles Rostrot, die Farbe des nackten Bodens. Mohamed ist einer der Fahrer, die Baumstämme oder Holzkohle aus den Regionen in die Städte fahren, wo sie zu Kohle verarbeitet oder verkauft werden. Genauso wie Ahmed findet er seinen Job in jeder Hinsicht problematisch: „Ich mache mir große Sorgen wegen meines Jobs. Ich weiß, dass ich immer wieder Probleme kriegen kann. Holzkohle ist Schmuggelware, die Regierung kann jederzeit entscheiden, das Verbot wirklich durchzusetzen. Hinzu kommt, dass Somalia unter den Folgen leidet, schwere Dürren werden häufiger. Ich finde es nicht gut, dass immer mehr Bäume gefällt werden, aber ich habe nur diesen Job, um meine Familie zu ernähren.“ Ganze Regionen der Willkür der Terror-Miliz ausgeliefert Er und viele andere berichten, angesichts der gegenwärtigen Krise seien sie mehr denn je gezwungen, auf diese illegale und schädliche Weise ihr Geld zu verdienen. Infolge des Kriegs in der Ukraine sind in Somalia die Preise für Energie und Getreide stark gestiegen. Das betrifft auch das Gas zum Kochen, für die meisten die einzige denkbare Alternative zur Holzkohle. Zwar wurde auch Holzkohle teurer, aber nicht ganz so deutlich wie Gas. Diejenigen, die in der illegalen Wertschöpfungskette mitmachen, quält nicht nur das schlechte Gewissen. Sie leiden ihrerseits unter der Dürre und dem Terror, wobei sie zu beidem mit beitragen: Weil der illegale Handel mit Holzkohle die letzten Wälder zerstört und die islamistische Shabab-Miliz finanziert. Die Mitglieder der Terrorgruppe bedrohen und peinigen die Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Regionen - und machen auch den Lastwagenfahrern das Leben schwer, die Holz oder Holzkohle transportieren. Die Abholzung der Bäume für Holzkohle befördert auch die vielen Dürren in Somalia (picture alliance / Jerome Delay) Omar ist einer von denen, die der Willkür der Milizionäre ausgeliefert sind: „Einmal hat mich die Shabab-Miliz verhaftet, als ich mit voller Ladung auf dem Weg nach Mogadischu war, sie haben mich ins Gefängnis gesteckt. Ich war nicht der einzige, sie haben mich und einige andere tagelang festgehalten. Wir haben sie angefleht uns freizulassen und ihnen Geld gezahlt. Schließlich haben sie uns gehen lassen.“ In den Gebieten, die sie kontrollieren, führen sich die Mitglieder der Terrormiliz wie eine Verwaltung auf, erzwingen so genannte Steuern und andere Abgaben, drücken ihre Regeln durch. Dagegen hat in der Hauptstadt Mogadischu und in anderen Regionen die somalische Regierung das Sagen – doch deren Vertreter verhalten sich oft gar nicht so anders als Al Shabab. Das wird in vielen Antworten auf unsere Fragen deutlich und auch in den anonymen Interviews. Omar fährt Baumstämme oder Holzkohle aus anderen Regionen nach Mogadischu. Über die Gefahren seines Jobs sagt er: "Wir haben viele Schwierigkeiten, jeden Tag gibt es neue Probleme. Manchmal halten uns Soldaten oder Polizisten an und verlangen Steuern, an anderen Tagen nehmen sie unser Geld nicht an und stecken uns stattdessen ins Gefängnis. Dann flehen wir sie an, dass wir zahlen können und sie uns gehen lassen. So was erzählen mir Kollegen immer wieder. Mich haben sie noch nicht verhaftet, ich habe stattdessen mehr Probleme mit der Shabaab-Miliz. Einmal haben sie mir sogar meinen LKW in Brand gesteckt." Korruption auch unter staatlichen Sicherheitskräften In der anonymen Befragung nannten mehrere Teilnehmer Zahlen. Mehrere Händler und Fahrer berichteten, sie müssten der Shabab-Miliz und der Regierung pro Fuhre zwischen 75 und 85 US-Dollar bezahlen. Das Geld wird an den Straßensperren fällig, die Mitglieder der Terrormiliz ebenso wie staatliche Sicherheitskräfte errichten. Andere Befragte berichten, die Abgaben würden direkt von der Verwaltung in den verschiedenen Distrikten Mogadischus erhoben – und das, obwohl das Geschäft ja illegal ist. Satellitenbilder bestätigen, dass Bäume massenhaft gefällt, transportiert, gelagert und nahe der Absatzmärkte zu Holzkohle verschwelt werden. In Afgooye am Stadtrand von Mogadischu zeigen die Satellitenbilder ein regelrechtes Industriegebiet für Holzkohle, kaum vier Kilometer von einer Straßensperre des somalischen Militärs entfernt. Dort müssten die somalischen Soldaten die Lastwagen und deren Ladung eigentlich beschlagnahmen. Stattdessen verlangen sie ihrerseits eine sogenannte „Steuer“, verdienen also kräftig mit. Und helfen so, ihre Feinde zu finanzieren - deren Opfer sie womöglich beim nächsten Terroranschlag werden. Selbst der Regierung ist das bewusst, aber sie tut nichts dagegen. Auch der somalische Umwelt- und Klimaschutzminister Adam Aw Hirsi leugnet gar nicht, dass korrupte Vertreter des Staates häufig Schmiergelder aus dem illegalen Geschäft annehmen: „Es stimmt, dass Mogadischu von der Regierung kontrolliert wird. Aber Regierungen sind für ihr Handeln auf Gesetze angewiesen, und wir haben noch nicht genug Gesetze, um gegen dieses neue Phänomen vorgehen zu können.“ Korrupte Politiker verdienen mit Worauf der Minister anspielt: Somalia ist als Staat noch im Aufbau. Jahrzehntelang galt das Land am Horn von Afrika als Paradebeispiel für einen gescheiterten Staat. Auslöser für den Zusammenbruch aller staatlichen Strukturen war der Sturz von Diktatur Siad Barre im Januar 1991. SomaliaDer Sturz von Diktator Siad Barre Somalia versank im Bürgerkrieg, erst seit 2012 hat das Land überhaupt wieder eine international anerkannte Regierung, die aber noch immer nicht das ganze Staatsgebiet kontrolliert. In der Tat ist bis heute vieles ungeklärt. So gibt es beispielsweise nur einen Verfassungsentwurf, keine gültige Verfassung. Aber Gesetze, die die Herstellung von und den Handel mit Holzkohle verbieten, gibt es durchaus. Sicherheitsexperte und Ex-Geheimdienstmitarbeiter Abdisalan Guled hat denn auch eine andere Erklärung dafür, dass niemand das kriminelle Geschäft stoppt, trotz dessen katastrophaler Folgen: „Der einzige Grund dafür ist, dass Al Shabab und andere Kriminelle damit Geld verdienen, darunter korrupte Politiker. Das nutzt Al Shabab aus.“ Das will Minister Hirsi natürlich so nicht stehen lassen. Er bringt ein zweites Argument um zu erklären, warum die Sicherheitskräfte das illegale Tun nicht unterbinden: „Es gibt Leute, die für ihr Überleben auf das Geschäft mit der Holzkohle angewiesen sind. Bisher können wir nicht sicher zwischen denen unterscheiden, die aus purer Not dabei mitmachen, und denen, die aus dem Export von Holzkohle nur zusätzlichen Profit schlagen wollen.“ Wogegen sich der Minister zu Recht wehrt, ist der Begriff „Steuer“ für die Abgaben, die Militärs, Polizisten oder Behördenvertreter von denen erzwingen, die in die Wertschöpfungskette des Holzkohleschmuggels eingebunden sind: „Weil der Handel mit Holzkohle in Somalia illegal ist, kann es keine Steuern geben, sondern nur Schmiergeld. Wer Schmiergeld annimmt, wird die Konsequenzen zu spüren bekommen, sobald wir die entsprechenden Gesetze und alle staatlichen Organe haben die nötig sind, um die Gesetze durchzusetzen.“ Holzkohle aus Somalia international leicht erhältlich Eine andere Behauptung des Ministers ist hingegen bestenfalls eingeschränkt richtig: „Ich denke, die Käufer sind schwer zu fassen. Niemand stellt ein Plakat auf und sagt, dass er Holzkohle kauft oder exportiert. Aber es gibt verdächtige Länder, von denen wir wissen, dass sie Holzkohle erhalten. Wir werden die internationalen Strafverfolgungsbehörden, die regionalen Organisationen und alle anderen uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um diese Länder dazu zu bringen, keine illegale Holzkohle mehr zu importieren. Gleichzeitig werden wir diejenigen in Schach halten, die Holzkohle aus Somalia exportieren.“ Bei Shisha-Rauchern besonders beliebt: Holzkohle aus dem Holz des Akazienbaums (imago images / Hans Lucas) Tatsächlich machen einige Importeure im Internet kein Geheimnis daraus, dass sie mit Holzkohle aus Somalia handeln. Wegen des speziellen Aromas der somalischen Akazien ist sie in arabischen Ländern bei Shisha-Rauchern besonders beliebt. So wirbt beispielsweise eine Firma mit Sitz in Ägypten damit, die herausragende somalische Holzkohle in, so wörtlich, „jeder beliebigen Menge“ liefern zu können. „Schnellste Lieferung“ und „beste Qualität“ seien garantiert. Exportiert werde von Zwischenhändlern oder direkt aus Somalia. Im vergangenen September konnten die UN-Kontrolleure den Hafen von Kismayo im Süden des Landes besuchen. Er ist der landesweit wichtigste für den Export von Holzkohle. In Kismayo türmen sich die Lagerbestände an Holzkohle in einem großen Gebiet viele Meter hoch – die UN-Kontrolleure zählten mehr als 500.000 Säcke. Der geschätzte Wert auf dem internationalen Markt: 12 Millionen Dollar. Die Entwaldung dürfte in Zukunft sogar noch schneller voranschreiten, fürchtet Sicherheitsexperte Guled - trotz der anhaltenden Dürre: „Heutzutage nutzen sie Maschinen zum Fällen, nicht mehr Äxte, so wie früher. Mit Hilfe der Maschine kann ein Mann vielleicht hundert Bäume am Tage fällen. Das ist eine reale Gefahr für die verbliebenen Bäume.“  Regierung duldet illegales Geschäft mit Holzkohle Angesichts der riesigen Lagerbestände könnte man erwarten, dass die Preise für Holzkohle in Somalia auf einem historisch niedrigen Stand wären. Das Gegenteil ist aber offenbar der Fall, das berichten übereinstimmend Händler und auch die Menschen in Somalia, die selbst auf die Holzkohle angewiesen sind. Früher habe sie ein Kilo Holzkohle für 5.000 somalische Shilling gekauft, sagt beispielsweise Aamina. Heute müsse sie mehr als das Doppelte bezahlen, nämlich 12.000 Shilling – etwa einen halben US-Dollar. Um die Mahlzeiten für ihre Familie kochen zu können, gibt sie einen großen Teil ihres Einkommens aus: „Trotzdem ist Holzkohle für mich immer noch die bessere Wahl, weil ich mir Gas gar nicht leisten kann. Das geht vielen Familien so, die wenig Geld haben.“ Weil die Binnennachfrage gestiegen ist, wird Nachschub im Land knapp. Noch häufiger führen Händler die gestiegenen Preise allerdings darauf zurück, dass sie immer mehr Abgaben zahlen müssen: an die Shabab-Miliz entlang des Transportweges und an die Behörden in der Stadt. Wehren können sich die Händler, Köhler und Lastwagenfahren gegen diese erzwungenen Abgaben nicht. Schließlich ist ihr Geschäft illegal. Ob sich auch führende Regierungsmitglieder daran beteiligen, ist schwer zu sagen. Klar ist aber, dass sich das Geschäft so offensichtlich vor den Augen aller abspielt, dass die Regierung es jedenfalls duldet. Das lässt befürchten, dass der lukrative Schmuggel recht ungehindert weitergehen wird. Korrektur: Wir haben im Teaser einen sachlichen Fehler mit Blick auf die Herstellung von Holzkohle korrigiert und präzisiert, woran die Al-Shabab-Miliz mitverdient.
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Der Handel mit Holzkohle ist in Somalia illegal und dennoch eine der größten Einnahmequellen der islamistischen Al-Shabab-Miliz. Doch deren Terrorfinanzierung ist nur möglich, weil viele Mitarbeiter des Staates mitverdienen.
"2023-01-27T18:40:00+01:00"
"2023-01-27T20:25:26.528000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-die-al-shabab-miliz-in-somalia-terror-mit-holzkohle-finanziert-100.html
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Die europakritischen Stimmen werden lauter
Die Journalisten Jan Roos and Thierry Baudet stehen vor dem Parlament in Den Haag mit Unterschriften für eine Volksabstimmung über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine. (imago/ZUMA Press) Wer hätte das gedacht! Unverhohlen triumphierend fuhr der umstrittene Journalist und Bürgerschreck Jan Roos Ende September in seinem rosafarbenen Cadillac beim Finanzamt in Heerlen vor, um dort mehr als 450.000 Unterschriften abzuladen. Unterschriften, mit denen sich niederländische Bürger für ein Referendum über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine aussprechen. Das niederländische Parlament hatte diesen Vertrag bereits im April mit großer Mehrheit verabschiedet. 300.000 Unterschriften hätten für ein Referendum gereicht - und selbst die hätten die wenigsten für möglich gehalten. Denn die Unterschriften müssen innerhalb von nur sechs Wochen gesammelt werden. So will es ein neues Gesetz, das den Niederländern seit dem ersten Juli dieses Jahres das Recht auf ein konsultatives Referendum einräumt. Geradezu sehnsüchtig haben niederländische EU-Skeptiker auf diesen Moment gewartet, um als erste von diesem Recht Gebrauch zu machen - angeführt von Jan Roos, der mit seiner satirischen Polit-Website "geen stijl" - zu deutsch: "stillos" - immer wieder in die Schlagzeilen gerät. Mit geschmacklosen Provokationen, die unter die Gürtellinie gehen. "Wir werden zum Gespött von ganz Europa" Nun hat er seine Kräfte mit zwei euroskeptischen Bürgerinitiativen gebündelt. Ihr Ziel: Brüssel in Sachen Demokratie eine Lektion zu erteilen und die Eliten zum Zuhören zu zwingen. Jan Roos: "Europa ist ein rasender Zug, der immer schneller fährt anstatt zu bremsen. Es kostet schon jetzt unglaublich viel Mühe und Geld, die verschiedenen Mitgliedsländer zusammenzuhalten. Wir können es uns nicht leisten, dauernd neue zuzulassen. Aber wir werden gar nicht erst gefragt, denn in Brüssel geht es wenig demokratisch zu. Jetzt soll auch noch ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine geschlossen werden - einem Land, in dem Bürgerkrieg herrscht. Einem Land, in dem die MH17 abgeschossen wurde und 200 unserer Landsleute ums Leben kamen. Das ist das Letzte, was Europa gebrauchen kann." Die Regierung in Den Haag will sich in den nächsten Tagen zu Wort melden. Erst muss der niederländische Wahlrat die Stimmen prüfen und bekannt geben, ob es tatsächlich wieder zu einem Referendum kommen wird – so wie 2005, als die Niederländer "nee" zum EU-Verfassungsvertrag sagten. Eine Volksabstimmung, die damals noch auf einer Sonderregelung beruhte. Um es zehn Jahre später wieder so weit kommen zu lassen, müssen mindestens 300.000 der 450.000 abgegebenen Stimmen gültig sein. Sollte das der Fall sein, muss das Referendum innerhalb von drei bis sechs Monaten stattfinden. Mit anderen Worten: ausgerechnet in dem Halbjahr, in dem die Niederlande die EU-Ratspräsidentschaft innehaben und eigentlich Antreiber statt Bremser sein sollten. "Wir werden zum Gespött von ganz Europa", prophezeit Sybrand Buma, Fraktionsvorsitzender der christdemokratischen Oppositionspartei CDA: "Es ist zwar nur ein konsultatives Referendum, also nicht bindend. Aber wenn die meisten Wähler "Nein" sagen, können wir Politiker nicht einfach so weiter machen wie bisher und ihnen eine lange Nase zeigen. Wir spielen mit dem Feuer, es ist ein gefährliches Lotterie-Spiel." Politiker müssen Farbe bekennen Darüber sind sich auch die Linksliberalen im Klaren, die das Gesetz zusammen mit den Grünen initiiert und sich jahrzehntelang dafür eingesetzt haben. Aber, so der linksliberale Abgeordnete Kees Verhoeven: "Wir haben das Recht auf dieses konsultative Referendum ermöglicht. Dass es nun umgehend angewendet wird, darüber können wir aus demokratischer Sicht nur jauchzen. In einer Demokratie muss es möglich sein, dass eine Mehrheit der Wähler das Parlament zurückpfeift, auch wenn es bereits eine Entscheidung getroffen hat." Für die Sozialisten und auch Geert Wilders' "Partei für die Freiheit" wäre das ein Grund zum Jubeln: Sie hatten gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine gestimmt, waren aber in der Minderheit. Doch ob es soweit kommt, bleibt abzuwarten. Erstens muss die Wahlbeteiligung über 30 Prozent liegen. Zweitens hat sich eine ganze Reihe von Niederländern zwar für das Referendum ausgesprochen - will dann aber "Ja" zum Assoziierungsabkommen sagen. So wie Kulturtheologe Frank Bosman: "Ich bin für Europa und trotzdem für dieses Referendum. Weil es unsere Politiker zwingt, endlich Farbe zu bekennen und über Inhalte zu sprechen anstatt uns Wähler mit armseligen technokratischen Floskeln wie "es ist nötig" oder "es ist gut für den Handel" abzuspeisen. Deshalb begrüße ich dieses Referendum, deshalb sehe ich es nicht als Gefahr, sondern als Chance."
Von Kerstin Schweighöfer
In den Niederlanden zeichnet sich eine Volksbefragung über das zwischen der EU und der Ukraine ausgehandelte Assoziierungsabkommen ab. Eine Bürgerinitiative hat wohl die nötigen 300.000 Unterschriften beisammen. Aber es geht nur auf den ersten Blick um den Vertrag zwischen Brüssel und Kiew.
"2015-10-08T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:03:13.074000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/volksabstimmung-in-den-niederlanden-die-europakritischen-100.html
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"Wir haben mehr Ärzte denn je"
Gerd Breker: Die Halbgötter in Weiß werden offenbar zur Mangelware. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler will den Ärztemangel bekämpfen und stößt dabei auch auf Zustimmung seines Koalitionspartners. Wir sollten uns in der Koalition noch vor der Sommerpause auf Eckpunkte einigen, das erklärte der Gesundheitsexperte der Union, Jens Spahn, in der Zeitung "Die Welt". Der FDP-Politiker Rösler hatte unter anderem vorgeschlagen, den Numerus clausus für den Zugang zum Medizinstudium abzuschaffen. Am Telefon bin ich nun verbunden mit der SPD-Politikerin Carola Reimann. Sie ist die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Tag, Frau Reimann.Carola Reimann: Guten Tag, Herr Breker.Breker: Frau Reimann, stimmt das überhaupt? Haben wir wirklich zu wenig Ärzte, oder sind unsere Ärzte nicht einfach nur falsch verteilt?Reimann: Das ist richtig. Wir haben mehr Ärzte denn je, aber sie sind natürlich in der Fläche nicht so in dem Maße vorhanden, weil wir viele in den Ballungszentren haben und zu wenige in der Fläche und im ländlichen Raum, und das muss behoben werden.Breker: Wie erklärt sich das? Ist das ein hausgemachtes Problem, oder warum ist es nicht attraktiv, Landarzt zu sein?Reimann: Das ist ein Thema, wo die Bedarfsplanung sicher versagt hat, aber es ist natürlich auch ein Thema, das es nicht attraktiv ist, zurzeit Hausarzt zu sein und im ländlichen Raum aktiv zu sein. Das ist sicher auch ein Problem. Arbeitsbelastung ist da eines und ich glaube, dass die Arbeitsorganisation dort ein ganz, ganz zentraler Punkt ist. Die allermeisten Mediziner sind Medizinerinnen und die möchten Job und Familie miteinander verbinden, und da braucht es neue Arbeitsorganisationen und andere Aufteilungen. Da ist es extrem kontraproduktiv, dass zum Beispiel im Koalitionsvertrag drin steht, dass medizinische Versorgungszentren, die eine solche kooperative Arbeitseinteilung zuließen, noch mal auf den Prüfstand gestellt werden.Breker: Das heißt, der Verdienst ist nicht der Hauptpunkt? Den Halbgöttern in weiß geht es nicht ums Geld?Reimann: Es geht sicher immer auch ums Geld, aber es geht nicht in allererster Linie ums Geld. Es geht auch darum, ob man einen Kindergarten für seine Kinder hat, ob der Lebenspartner arbeiten kann. All diese Dinge müssen mit berücksichtigt werden und das ist nicht alleine eine Sache des Geldes.Breker: Nun ist ein Gedanke des Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler, dass man sagt, okay, wir erweitern die Zahl derer, die zum Studium zugelassen werden, und knüpfen das an die Bedingung, dass sie zunächst erst mal als Landarzt, oder in unterversorgten Gebieten arbeiten müssen. Ist das überhaupt realistisch? Wie soll das praktisch vor sich gehen?Reimann: Ich finde es richtig, über die Kriterien der Zulassung zu sprechen, dass man dort die Hürden vielleicht auch senkt und dass man soziales Engagement, Engagement im medizinisch-pflegerischen Bereich wertschätzt und das mit einem Bonus versieht. Das finde ich richtig. Aber wir müssen nicht so tun, als hätten wir einen Bewerbermangel. Auf jeden Studienplatz – wir haben ungefähr 9900 im Land jedes Jahr – kommen mehr als vier Bewerber und Bewerberinnen, und da ist es eben kein Problem allein der Zulassung, ganz im Gegenteil. Ich glaube, es ist vor allen Dingen eines der Studieninhalte. Allgemeinmedizin ist nur ein Fach unter ferner liefen, die Allgemeinmedizin muss an den medizinischen Hochschulen ganz dringend auch mit mehr Lehrstühlen an der Stelle gestärkt werden. Und man muss dann auch die Mediziner in der Versorgung behalten. Ganz, ganz viele gehen in die Facharztschiene, andere gehen aber ganz aus dem Gesundheitssystem, aus der Versorgung hinaus, und da muss man dafür sorgen, dass der Beruf des Arztes wieder attraktiver wird. Da kann das alte Arztbild sicher nicht das der Zukunft sein.Breker: Attraktiv würde wieder heißen nicht unbedingt mehr Geld, aber eine bessere Arbeitsorganisation, wie Sie es zu Beginn schon angesprochen haben?Reimann: Die Absolventen thematisieren und alle jungen Mediziner thematisieren, vor allen Dingen die Arbeitsbelastung und die unattraktiven Arbeitsbedingungen in Deutschland, da muss etwas passieren durch eine andere Form der Arbeitsorganisation, durch flexiblere Arbeitsformen, durch Arbeiten im Team. Das wäre angemessener.Breker: Nun sagt ja Ärztepräsident Hoppe, es würde überhaupt keinen Sinn machen, junge Mediziner aufs Land zu schicken, er sagt sogar, sie auf die Menschen auf dem Lande los zu lassen. Hat er nicht Recht? Gehört nicht Erfahrung dazu, um ein guter Hausarzt zu sein?Reimann: Ja, aber auch jetzt lässt man sich auch mit einer gewissen Ausbildung nieder. Es gibt auch eine entsprechende Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Es ist ja nicht so, als wenn die völlig ohne Ausbildung und völlig unbeleckt in die Praxis gehen. Auch jetzt starten natürlich die in der Praxis auch mit einer entsprechenden Ausbildung, egal wo, ob im ländlichen Bereich oder im städtischen Bereich. Aber ich glaube auch, dass solche Arztpraxen, die mit mehreren Ärzten im Team arbeiten, natürlich die Arbeitsorganisationen der Zukunft sind, wo junge und alte miteinander arbeiten und sich absprechen können, und auch in Kooperation mit den Krankenhäusern, mit Kliniken, mit entsprechenden Ambulatorien an Kliniken.Breker: Wer ist denn nun eigentlich gefordert? Ist es Aufgabe der Politik, den Ärztemangel auf dem Lande zu beenden, oder wer ist da in Anspruch genommen, die Krankenkassen vielleicht?Reimann: In allererster Linie ist es die KV. Also die Kassenärztlichen Vereinigungen, die für die Sicherstellung und für die Bedarfsplanung zuständig sind, sind da gefordert. Die machen auch erste Pilotprojekte. Ich bin ja selbst Niedersächsin und hier gibt es erste entsprechende Vereinbarungen, auch was die Fortbildung angeht, für Allgemeinmediziner. Aber es ist natürlich auch flankierend von der Politik einiges zu verändern. Zum Beispiel darf man nicht medizinische Versorgungszentren auf den Prüfstand stellen, wie das im Koalitionsvertrag jetzt passiert. Und ich muss sagen, ich wundere mich schon, dass der Minister ausgerechnet die Dinge thematisiert und vor allen Dingen die Zulassungskriterien, die ja gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegen. Das sind alles Dinge, die in der Kompetenz und in der Zuständigkeit der Bildungsministerin liegen und der Länder liegen, und natürlich muss da etwas passieren, aber das alleine wird nicht dafür sorgen, dass wir auf dem Land eine ordentliche Versorgung sicherstellen können.Breker: Faktum ist ja, Frau Reimann, dass wir derzeit Ärzte exportieren. Viele junge Ärzte gehen in die Schweiz, gehen nach Skandinavien, gehen nach Großbritannien.Reimann: Ja und wenn Sie die fragen, warum sie das machen, dann sagen die nicht in allererster Linie wegen des Geldes, sondern in allererster Linie wegen der besseren Arbeitsbedingungen. Deshalb muss man an denen in allererster Linie ansetzen.Breker: Im Deutschlandfunk war das die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Carola Reimann. Frau Reimann, danke für dieses Gespräch.Reimann: Gerne!
Carola Reimann im Gespräch mit Gerd Breker
Carola Reimann macht für den Ärztemangel in ländlichen Gebieten in allererster Linie die schlechten Arbeitsbedingungen verantwortlich. Da müsse man ansetzen und nicht die Zugangskriterien vereinfachen, wie Gesundheitsminister Rösler vorgeschlagen hatte.
"2010-04-06T13:20:00+02:00"
"2020-02-03T18:09:05.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wir-haben-mehr-aerzte-denn-je-100.html
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Angst vor der Anti-Moderne
Es gab im Mittelalter Mönche, die ihr Leben damit zubrachten, immer wieder das Antlitz Christi zu malen, immer wieder das gleiche Bild, und doch war es jedes Mal um einige Nuancen anders. Ähnliches könnte man von dem Soziologen Ulrich Beck behaupten: Seit Jahrzehnten kreist sein Denken um die Risiken ökologischer, technischer, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art. Zur Zeit der Katastrophe von Tschernobyl, also vor 21 Jahren, hat er das Buch "Risikogesellschaft" geschrieben. Längst ist es zu einem Klassiker geworden, und jeder Soziologiestudent liest es im zweiten Semester, falls er es nicht schon von der Schule her kennt. Nun also "Weltrisikogesellschaft", ein Titel, der sich in Zeiten der Globalisierung aufdrängt. Was ist neu, was ist anders?"Der Kernpunkt der Kosmopolitisierung ist, dass die Vorstellung, wir könnten die Welt nach wie vor in die Unterscheidung zwischen national und international, zwischen innen und außen, zwischen wir und die anderen aufteilen, nicht mehr funktioniert. Diese grundlegenden Unterscheidungen, unser Nationalstaatsverständnis, das wir verallgemeinert haben zu der grundlegenden Voraussetzung politischen Handelns überhaupt, stimmen einfach empirisch nicht mehr."Risiko bedeutet gedankliche Vorwegnahme der Katastrophe. Weltrisiken sind Katastrophen, die die ganze Welt betreffen, etwa die Klimaerwärmung. Doch ist das Besondere von Risiken gerade, dass sie erst in Zukunft eintreffen, sich jeder ein anderes Bild der Welt ausmalt. Sie sind also soziale Konstruktionen, Inszenierungen, die stark von dem jeweiligen kulturellen Hintergrund abhängig sind. Ulrich Beck hält deshalb nicht einen "Krieg der Kulturen" für wahrscheinlich, sondern einen "Zusammenprall der kulturell unterschiedlichen Risikowahrnehmungen". Anders ausgedrückt: Es gibt keine gemeinsame Einsicht in gemeinsame Gefahren.Wie schon vor 20 Jahren gehen für den Münchner Soziologieprofessor die Unsicherheiten und Gefahren aus den Erfolgen der Modernisierung hervor. Sie sind abhängig von menschlichen Entscheidungen, von den Erfolgen von Wissenschaft und Technik, die eben die berühmten "nicht beabsichtigten Nebenfolgen" nach sich ziehen, wenn man so will: Kollateralschäden der Modernisierung. Der letzte Adressat, so Ulrich Beck, ist immer derselbe:"Der Restrisiko-Empfänger der Weltrisikogesellschaft ist das Individuum. Alles, was das Risiko vorantreibt und unkalkulierbar macht, alles, was die institutionelle Krise sowohl auf der Ebene der regierenden Politik als auch der Märkte hervorruft, wälzt die ultimative Verantwortung des Entscheidens auf die Individuen ab, die letztlich alleingelassen werden. Zweifellos liegt hier eine mächtig sprudelnde, schwer einzudämmende Quelle für Rechtsradikalismus und Fundamentalismus in der Zweiten Moderne."Individualisierung wird in der Weltrisikogesellschaft in erster Linie erlitten, da ist wenig mehr übrig von der positiven Gestaltung eines eigenverantwortlichen Lebens, wie es Beck in den achtziger und neunziger Jahren noch so euphorisch beschrieben hatte. Der Optimismus der Individualisierungsthese, die den Soziologen in früheren Zeiten zu einer nahezu harmlosen Reduktion individueller Lebensentwürfe auf so genannte Bastelbiographien geführt hatte, ist hinweggefegt. Beck huldigt heute einer Realpolitik, allerdings einer kosmopolitischen. Was früher einmal als Völkerverständigung gefeiert wurde, sieht Beck nun als Zwangsvereinigung: Es gibt kein Entkommen vor den weltweiten Risiken mehr, wir alle sind eingebunden ins "World Wide Web der Risikoproduktion". Kosmopolitismus in diesem Sinne ist eine gemeinsame Bedrohung durch Risiken, aber keine Wahl. Man kann Ulrich Beck nur schwer widersprechen, wenn er schreibt:"Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass das, was alle Menschen heute miteinander gemein haben dürften, die Sehnsucht nach einer Welt ist, die ein bisschen weniger geeint ist."Einen Ausweg sieht Ulrich Beck in einer Art "Risikoweltbürgerrecht". Die Ethik der "Anerkennung des Anderen", über die in der Soziologie der letzten Jahre so viel gesprochen wurde, schließt seiner Auffassung nach ein, dass wir und die "Anderen" moralisch und rechtlich gleichgestellt werden, was strategische Risikoentscheidungen betrifft.Nehmen wir mal ein Beispiel: Amerikanische Wissenschaftler wollen im Weltraum große Schattenschilde installieren, die dafür sogen sollen, dass weniger Sonnenlicht auf die Erde strahlt und auf diese Weise die Erdtemperatur gesenkt wird. Die Erderwärmung ist bekanntlich ebenso wie ihre Eindämmung ein globales Problem. In die "strategischen Risikoentscheidungen", wie Ulrich Beck das nennt, müssten also alle Bürger der Erde einbezogen werden. Sollte also über die Installation der Schattenschilde im Weltraum die UNO entscheiden oder wer?Das Beispiel zeigt, dass man zwar leicht von "kosmopolitischer Realpolitik" sprechen kann, aber weder die Bürger noch die politischen Institutionen auf derartige Entscheidungen vorbereitet sind. Die von Ulrich Beck geforderte Realpolitik ist meilenweit von ihrer Realisierung entfernt. Im Grunde weiß er dies selbst, wenn er schreibt:"Weltprobleme schaffen transnationale Gemeinsamkeiten. Wer die nationale Karte zieht, verliert. Gegenseitige Abhängigkeit ist keine Geißel der Menschheit, vielmehr die Voraussetzung ihres Überlebens."Im Rückblick, so bemerkt der Münchner Soziologe, erscheine ihm sein Buch "Risikogesellschaft" idyllisch, die Welt sei damals noch "terrorfrei" gewesen. Das hat sich geändert und damit auch der Charakter der Risiken: Waren es früher "nicht beabsichtigte Nebenfolgen", so zielen die terroristischen Angriffe gerade auf Schäden ab. Ob sich der Begriff Risiko dafür überhaupt eignet? Die verselbständigte, radikalisierte Moderne hat ihr Gegenteil mitproduziert, die Sicherheitslage hat sich gegenüber der Vergangenheit dramatisch gewandelt. Ulrich Beck: "Das Interessante ist, dass die Staaten ja Sicherheit behauptet haben für ihre Bürger. Und da gab es natürlich andere Staaten, die Staaten angriffen, und man musste die entsprechend berechnen, man wusste auch über Spione, welche Machtpotenziale, Waffenpotenziale, da waren. Jetzt mit den Terroristen findet eine Verabschiedung aus diesem klaren staatlichen Feindbild statt und eine Universalisierung von Feinden, die keine Uniform mehr tragen, die alle möglichen Identitäten anhaben. Und jetzt kommt der Punkt, gegen den Staaten mit ihrem alten militärischen Abwehrsystem relativ hilflos sind."Auf einmal werden die Grundlagen der Moderne in Frage gestellt: das Recht auf Leben jedes Menschen, die Autonomie des Individuums, die demokratische Legitimation von Herrschaft. Ein Erschrecken breitet sich aus, die Angst vor der Anti-Moderne geht um. Beinahe wehmütig schaut Ulrich Beck auf die "verwaltete Welt" eines Adorno zurück: "Was für Weber, Adorno und Foucault ein Schreckensgemälde war - die perfektionierte Kontrollrationalität der verwalteten Welt - , ist für die Bewohner der Gegenwart ein Versprechen: Schön wär's, wenn die Kontrollrationalität kontrollieren würde. Schön wär's, wenn nur der Konsum uns terrorisieren würde."Ulrich Becks Theorie der "Weltrisikogesellschaft" ist der anspruchsvolle Versuch, eine kritische Theorie der Globalisierung zu entwerfen. Nicht nur an die soziologische Zunft richtet er die Aufforderung: Wer sich mit Risiken realistisch befassen will, muss sich für Alternativen öffnen.Ulrich Beck: WeltrisikogesellschaftSuhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007240 Seiten, 19 Euro
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Der Soziologe Ulrich Beck ist mit seinen Büchern noch nie dafür bekannt gewesen, ausgesprochen optimistische Zukunftsszenarien zu zeichnen. Auch in seinem neuen Buch Weltrisikogesellschaft" bleibt er sich in dieser Hinsicht treu: Die nahende Klimakatastrophe, der globale Terrorismus und die Verwerfungen einer globalisierten Wirtschaft lassen für ihn die Zeiten des Kalten Krieges als vergleichsweise idyllisch erscheinen
"2007-03-19T19:15:00+01:00"
"2020-02-04T11:06:28.583000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angst-vor-der-anti-moderne-100.html
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"Der Versuch, ein kulturelles Unbehagen aufzufangen"
Die drei Kandidaten für den CDU-Bundesvorsitz, Friedrich Merz, früherer Unions-Fraktionschef, Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Generalsekretärin und Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit (dpa-Bildfunk / Kay Nietfeld) Eigentlich sei schon entschieden, dass etwas Neues in der CDU passieren werde, sagte Publizist Robin Alexander im Dlf. Sonst hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel einfach weitermachen können - wie es ihr ursprünglicher Plan war. Zudem würden alle drei Kandidaten, Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und Jens Spahn, Veränderungen in der CDU versprechen, dies jedoch in unterschiedlicher Radikalität. Annegret Kramp-Karrenbauer wolle die Entscheidungsprozesse vom "Kopf auf die Füße stellen". Friedrich Merz und Jens Spahn wollten andere inhaltliche Akzente in der CDU. Rückzug allein reicht nicht aus Ob der Rückzug Merkels so viel Schwung bringen wird, dass auch jüngere Wähler wieder für die CDU mobilisiert werden können, sei schwer zu beantworten, so Alexander. Merkels Rückzug alleine würde nicht reichen, die CDU müsse ein Signal geben, dass sie etwas anders macht als bisher. Außerdem könne man nur spekulieren, wie sich die Kandidaten auf europäischer Bühne bewegen, da keiner von ihnen zum Stab von Regierungschefs gehörte, sagte Alexander. Das sei aber bei jedem neuen Kanzler so. Gerade aber Friedrich Merz und Jens Spahn seien aber ausgewiesene Transatlantiker.
Robin Alexander im Gespräch mit Britta Fecke
Unter Angela Merkel habe in der CDU kein offener, sondern ein Diskurs der Alternativlosigkeit geherrscht, sagte Publizist Robin Alexander im Dlf. Daher habe sich in der Partei einiges an Gesprächsbedarf angestaut. 226 Anträge werden auf dem CDU-Parteitag diskutiert.
"2018-12-02T00:00:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:30.518000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cdu-vor-dem-parteitag-der-versuch-ein-kulturelles-unbehagen-100.html
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Aussterbende Spezies
"Lesen ist ein Zugang zur Welt, aber nur dann, wenn es richtig verstanden ist."Es gibt nur ein Problem dabei: Das Lese-Image sinkt. Diese Art des Welt-Zugangs wird gesellschaftlich abgewertet. Simone Ehmig ist Leiterin der Leseforschung und Leseförderung der Stiftung Lesen in Mainz. Sie gibt seit vier Jahren eine jährliche Lesestudie heraus und beobachtet Veränderungen. In der Regel sind in allen entwickelten Ländern Kinder aus bildungsnahen Schichten leistungsfähiger. Der Zusammenhang von sozialem Status der Eltern und dem Bildungserfolg der Kinder besteht, ist aber nicht allein ausschlaggebend. Es gibt auch einen kulturellen Umbruch. Christoph Schäfer, Sprecher der Stiftung Lesen."Sehr viele Deutsche lesen sehr gerne, aber die Schere zwischen denen, die gerne lesen und denen, die gar nicht lesen - immerhin ein Viertel der Deutschen liest wirklich niemals ein Buch - die klafft weit auseinander, manche sagen immer weiter. Denn die Intensivleser sind wirklich diejenigen, die man auch als Bildungsgewinner oder Träger insgesamt auch von Bildung und Kultur in diesem klassischen Sinne sehen kann. Das ist der Punkt, der die Leseförderung beschäftigen muss." Es findet eine Um-Prämierung statt. Lesen wird funktional und gewinnbringend eingesetzt, nicht als Kulturtechnik zur Selbstbegegnung, die Individualität, Reife, und Kontakt mit anderen Erfahrungsräumen und Kulturen ermöglicht und fördert. Einfacher gesagt: Die Bildschirme in den Wohnzimmern werden immer größer und die Bücherschränke immer kleiner. Mit Verteufelung moderner Medien ist natürlich auch niemandem geholfen."Also ganz sicher können Hörbücher und andere elektronische Medien zum Lesen hinführen. Andererseits tragen sie dazu bei, dass sich Leseverhalten verändert, dass Sachbücher abgestimmt werden auf Gewohnheiten, die wir vom Internet kennen, Querverweise." Die Lese-Biografie eines Menschen ist heute ebenso eine andere wie seine Erwerbs-, oder Fortbewegungsbiografie eine andere ist. Wir arbeiten anders, gehen, fahren, leben und lesen anders. Lesen ist ein Baustein in der Bildungsbiografie neben anderen."Wir sehen sehr klar, dass die Anteile der Bevölkerung, der Menschen, die sehr viele Bücher lesen und die sehr intensiv lesen, dieser Anteil geht zurück und zwar seit Jahren kontinuierlich. Es gibt einen harten, ganz kleinen Kern von Leuten, die sehr viel lesen, das sind etwa drei Prozent , und das ist auch eine Gruppe, die bleibt stabil. Ansonsten haben wir Veränderungen in der Leseintensität. Der Anteil derer, die viel und dauerhaft auch während der Woche lesen, wird geringer. Der Anteil der Leute, die sagen, ich lese am Wochenende oder im Urlaub, dieser Anteil steigt . Und auch im Leseverhalten, also wie geh ich durch ein Buch, haben sich auch Veränderungen ergeben. Die Leute lesen häufiger quer, sie blättern und steigen wieder ein." Das ergebnisorientierte Häppchen-Lesen nimmt zu. Wer quält sich schon noch durch die "Buddenbrooks", den "Josephs-Roman" oder den "Werther" und die "Wahlverwandtschaften"? Und wozu? Schlimmer noch: Lesen insgesamt hat keinen guten Ruf, es gilt als weiblich, als zu weiblich. Vorlesen fördert Emotionalität, Empathie, Intimität und die Nachhaltigkeit des Erlebens. Das scheint nicht in unsere nutzenorientierte, männliche Ellenbogengesellschaft zu passen. Wer liest, oder vorliest, gilt als Weichei, hat offenbar zu viel Zeit übrig für Nutzloses. "Wir haben eine Reihe von Daten, die zeigen, dass Erwachsene, denen in der Kindheit vorgelesen worden ist, systematisch enger am Buch sind, am Lesen sind, als Erwachsene, denen in der Kindheit nicht vorgelesen worden ist." Im Zentrum der Anstrengung von Christoph Schäfer und Simone Ehmig von der Stiftung Lesen steht deshalb: Kinder fürs Lesen zu begeistern und Eltern für das Thema zu sensibilisieren und zu motivieren.Der hohe Bildungsgrad ist nicht zwingend ausschlaggebend für Leseerfolg und Lesekompetenz, sondern eher ein lesefreundliches Klima, eine kommunikative Kultur, betont Simone Ehmig. Einen Vorlesekoffer für Kita-Einrichtungen im Ruhrgebiet haben sie gerade mit der Deutschen Bahn zusammen verteilt. Nicht allein Bücher verschenken, sondern Zeit zum Lesen, zum Vorlesen verschenken, das wär' eine einfache Lösung. Man muss sich diese Zeit nur nehmen wollen, insbesondere die vorlesefaulen Väter - laut Vorlesestudie von 2009 - seien da gefragt, damit dieser Zugang zur Welt offen bleibt.
Von Michael Köhler
Verschenkt werden Bücher immer noch gern – und zwar die guten alten mit Seiten und ohne Touchscreen. Aber werden sie auch gelesen? Nicht wirklich, sagt die aktuelle PISA-Studie.
"2011-01-03T17:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:16:16.339000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aussterbende-spezies-100.html
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Heinen-Esser: "Jetzt ist genug getestet"
"Entweder unter zwölf Monaten installieren oder die männlichen Küken großziehen (picture alliance / ZUMA Wire, Maik Boenisch) Jasper Barenberg: Leicht zu verstehen ist es nicht, was die Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zum Kükentöten in der Geflügelwirtschaft entschieden haben. Dass Brutbetriebe männliche Küken nach dem Schlüpfen zu Millionen schreddern oder vergasen, verstößt nach ihrem Urteil gegen den Tierschutz einerseits; andererseits erlauben die Richter diese umstrittene Methode zunächst einmal weiter, um die Betriebe wirtschaftlich nicht zu überfordern – für eine Übergangsfrist. Wann das Töten der männlichen Küken allerdings aufhören muss, das bleibt unklar. Den Stein ins Rollen gebracht hatte Nordrhein-Westfalen vor sechs Jahren, als die damals rot-grüne Landesregierung das Töten der Küken mit einem Erlass verbieten wollte, wogegen dann zwei Geflügelbetriebe vor Gericht gezogen sind – bis zum Urteil in Leipzig gestern. Heute ist die CDU-Politikerin Ursula Heinen-Esser in Düsseldorf Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, für Natur und Verbraucherschutz. Schönen guten Morgen! Ursula Heinen-Esser: Ja, guten Morgen! "Urteil bringt uns großen Schritt weiter" Barenberg: Sie halten das Urteil ja für einen Durchbruch für den Tierschutz. Das müssen Sie uns aber erklären, wo doch erst einmal alles so bleibt wie es ist. Heinen-Esser: Ich glaube, die Erklärung liegt tatsächlich in der Geschichte, die wir in Nordrhein-Westfalen gegangen sind. Im Jahr 2013 hat mein Vorvorgänger Johannes Remmel zurecht eine Unterlassungsverfügung zum Töten der Küken erlassen. Die ist beklagt worden und wir haben in zwei Instanzen nicht recht bekommen. Ganz im Gegenteil! Damals bei den beiden vorherigen Urteilen war es so, dass das Töten tatsächlich noch als vernünftiger Grund im Sinne des Tierschutzgesetzes angesehen wurde. Das Urteil jetzt aus Leipzig bringt uns insofern einen großen, großen Schritt weiter, weil es explizit sagt, das Töten der Küken ist nicht mit dem Grundsatz des Tierschutzes vereinbar. Das wird uns auch in anderen Fällen künftig helfen, aber jetzt war es einmal sehr wichtig. Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, dass die Übergangszeit dezimiert wird, auf, ich sage mal, fünf Monate oder Ähnliches. Barenberg: Darüber können wir gleich noch weiter sprechen. Erst noch mal zum Urteil. Das Gericht hat ja klipp und klar gesagt, der Tierschutz wiegt schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Geflügelunternehmen. Aber heißt das nach Ihrer Interpretation, das Töten der Küken ist ab sofort eine Straftat? Heinen-Esser: Eigentlich ja, und da ist jetzt die Tür, die das Gericht da offen gelassen hat und gesagt hat, na ja, man kann den Betrieben jetzt nicht zumuten, die männlichen Küken aufzuziehen, um dann vielleicht in ein paar Monaten ein neues Verfahren zu installieren. Deshalb hat das Gericht ja explizit die Übergangszeit bis zur Anwendung definiert. Barenberg: Aber heißt das nicht auch, das ist in gewisser Weise ein widersprüchliches Urteil, weil am Ende dann doch wieder die wirtschaftlichen Interessen den Ausschlag gegeben haben? Heinen-Esser: Ja, es ist in der Tat sehr widersprüchlich, und das führt dazu, dass viele, insbesondere die Tierschützer auch ein Stück weit enttäuscht sind, dass sie sagen, wir hätten uns gewünscht, dass es sofort verboten wird. Da haben allerdings die Richter sich angeguckt, wie weit sind die Verfahren tatsächlich, sind die sofort installierbar, und kamen zu dem Schluss, dass das nicht der Fall ist, und haben dann die Übergangszeit definiert. Millionen Euro investiert und immer noch nicht marktreif? Barenberg: Kann es sein, dass in solch einer wichtigen Frage den Ausschlag gibt, wann eine Technik zur Verfügung steht, das Problem zu lösen? Heinen-Esser: Das macht es dann schwierig, wenn man den Eindruck hat – und den haben ja nicht wenige. 2013 hat Johannes Remmel diesen Erlass herausgegeben. Wir haben jetzt 2019. Der Bund hat mehrere Millionen Euro investiert in neue Technologien, und das soll immer noch nicht marktreif sein. Das lässt viele Fragezeichen zurück und deshalb sage ich, wir müssen jetzt hingehen, die Länder zusammen mit Julia Klöckner, der Bundeslandwirtschaftsministerin, und sagen, jetzt ist genug getestet, die Pilotverfahren funktionieren, die Marktreife ist gegeben, und unter zwölf Monaten erwarten wir jetzt, dass die Alternativen in den Betrieben installiert sind. Barenberg: Sie haben eben eine Frist von fünf Monaten angedeutet. Ist das Ihr Maßstab? Sie hätten am liebsten und setzen sich dafür ein, dass eine relativ kurze Frist von einem knappen halben Jahr gesetzlich eingeführt wird? Heinen-Esser: Da komme ich zu einem etwas anderen Wert. Ich würde sagen, maximal zwölf Monate. In maximal zwölf Monaten müssen die Verfahren in den Betrieben sein. Das ist meines Erachtens machbar. Das eine Verfahren ist schon sehr weit im Pilotbetrieb. Das andere Verfahren, was eigentlich besser ist, ist noch ein bisschen zurück. Aber meines Erachtens müsste das in zwölf Monaten machbar sein. Vielleicht können wir auch als Politik dann tatsächlich sagen, entweder in zwölf Monaten ist es installiert, oder aber die Brütereien müssen sich damit abfinden, dann tatsächlich die männlichen Küken auch großzuziehen. Barenberg: Das könnte natürlich dazu führen, dass die Betriebe dann in die Länder um uns herum gehen, in die Nachbarländer, wo das Töten der Küken weiter erlaubt ist. Heinen-Esser: Das ist ja die generelle Diskussion, die wir in vielen Punkten haben, und da würde ich mich als Landwirtschaftsministerin und auch als Umweltministerin, die auch für Tierschutz zuständig ist, ungern drauf einlassen, die permanente Drohung zu hören, wir gehen dann ins Ausland. Ich glaube, dass das nicht der Fall sein wird. Die Betriebe werden hier bleiben. Sie dürfen nicht vergessen, dass es auch mit einem erheblichen Aufwand verbunden ist, im Ausland zu produzieren, angefangen von qualifizierten Fachkräften bis hin zu langen Transportwegen. Davon lasse ich mich nicht einschüchtern. "Dann muss über andere Züchtungslinien nachgedacht werden" Barenberg: Sie haben die Technik angesprochen. Es gibt im Moment zwei Methoden der Geschlechtsbestimmung, die auch wiederum zum Teil umstritten sind. Täuscht das nicht alles ein wenig darüber hinweg, dass an den Ursachen des Problems gar nichts geändert wird, nämlich dass das derzeitige System, nenne ich es jetzt mal, ausgemergelte Hennen produziert und magere Hähne? Heinen-Esser: Genau das! Das ist das Thema, mit dem wir uns auch beschäftigen müssen. Das Thema haben wir auch in anderen Bereichen der Nutztierhaltung. Wie betrachten wir tatsächlich Tiere? – Es gibt die Möglichkeit, Züchtungslinien zu verändern, so dass die Hühner quasi für beides geeignet sind, für die Mast wie fürs Eier legen. Das wäre auch noch eine Option, die man sehr gut weiterverfolgen könnte. Das ist der Punkt, wo ich sage, dass die Politik jetzt den Rahmen und die Frist vorgeben muss: Wenn bis in zwölf Monaten die Anlagen nicht in den Betrieben sind, dann muss tatsächlich auch über andere Züchtungslinien nachgedacht werden. Barenberg: Das System, wie es bisher existiert, hat ja mit der Intensivierung der Landwirtschaft vor allem in den 50er-Jahren zu tun, mit selbst verschuldeten Problemen. Verstehe ich Sie richtig, Sie setzen sich für eine Abkehr von dieser Massentierhaltung ein und würden dann empfehlen zu fördern, dass beispielsweise diese Zwei-Hennen-Nutzung oder Zwei-Möglichkeiten-Nutzung, wie immer das genau heißt, dass das auch staatlich gefördert wird? Heinen-Esser: Genau! Dafür setze ich mich ein, ganz klar! Das ist ein wichtiger Punkt, den wir auch verändern müssen. Wir müssen im Verbraucherverhalten vielleicht auf uns selber ein Stückchen weit gucken: Was kaufen wir eigentlich im Supermarkt ein? Auch heute ist es schon möglich, Eier zu kaufen von Hühnern, wo der Bruder – sie heißen ja immer Brudereier oder Brüderhühnchen -, wo der Bruder mit großgezogen wird. Das ist dann ein paar Cent teurer, aber die Tiere sind anders großgezogen und gehalten worden. Das können wir tatsächlich alle selber ein Stück weit mit beeinflussen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ursula Heinen-Esser im Gespräch mit Jasper Barenberg
In der Debatte um die Tötung von männlichen Küken hat NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser eine klare zeitliche Vorgabe für die Installierung von Techniken zur Geschlechter-Bestimmung gefordert. "In maximal zwölf Monaten müssen die Verfahren in den Betrieben sein", sagte Heinen-Esser im Dlf.
"2019-06-14T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T22:57:07.727000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/toetung-von-kueken-heinen-esser-jetzt-ist-genug-getestet-100.html
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Wie das Coronavirus Deutschland verändert
Lange Schlange vor einem Supermarkt in Berlin. Strenge Abstandsregelungen gehören in Deutschland mittlerweile zum Alltag. (dpa/ Kay Nietfeld) Die Ostertage stehen vor der Tür: Familien haben Urlaub, für die nächsten Tage soll das Wetter– allerorts – frühlingshaft und sonnig bleiben. Es ist – das weiß auch Bundeskanzlerin Angela Merkel – eine besondere Zeit: "Ostern, das ist für Millionen von Christen der Kirchgang, das ist der Ostersonntag mit der ganzen Familie, vielleicht ein Spaziergang, Osterfeuer. Das ist für viele ein kurzer Urlaub an der See oder im Süden, wo es schon wärmer ist." So Merkel in ihrer wöchentlichen Video-Ansprache: "Normalerweise. Aber nicht in diesem Jahr. Wir alle werden ein ganz anderes Osterfest erleben als je zuvor." Denn: Picknicken beispielsweise, ist verboten. Genauso wie Gottesdienste, das Treffen mit Freunden, der Kurz-Urlaub. In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit dem ersten Corona-Bußgeld-Katalog, werden bei einem Picknick 250 Euro Strafe fällig. Die Verabredung zum Fußball-Spiel im Park oder im Verein kosten 1000 Euro. Es sind diese Beträge, Verwaltungsvorschriften, die zeigen: Deutschland ist im Ausnahmezustand – und zwar schon seit mehreren Wochen. "Es geht um Leben und Tod. So einfach ist das und auch so schlimm", sagt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. "Ich habe den Golfkrieg miterlebt, ich habe die Ölkrise miterlebt, ich habe einiges miterlebt. Aber in der Form habe ich es noch nicht erlebt. Vor allen Dingen so plötzlich", sagt ein Hotelier aus Düsseldorf. "Wir brauchen Hilfe, und schnell. Sonst haben wir hier tatsächlich Pleiten", sagt ein Taxi-Betreiber aus Düsseldorf. RKI - "Leute dürfen das Coronavirus nicht unterschätzen"RKI-Präsident Lothar Wieler hat sich zur Entwicklung der Coronavirus-Epidemie vorsichtig optimistisch geäußert. Zwar stehe der positive Trend bei den Fallzahlen im Zusammenhang mit den Maßnahmen, das sei jedoch nur eine Momentaufnahme. Das Land ist ein anderes Seit ein paar Wochen ist das Land ein anderes, bestimmen Vokabeln wie "Kontaktverbot", "Ausgangsbeschränkungen" und "Shutdown" die Debatte. Der Grund: das neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2. Jener Erreger, der weltweit Auslöser für die Lungenkrankheit COVID-19 ist, genannt. Aus der chinesischen Stadt Wuhan, wo Ende 2019 der erste Fall gemeldet wird, verbreitet sich das Virus. Die erste Infektion in Deutschland wird Ende Januar in Bayern bestätigt. Doch zum "Corona-Hot-Spot" wird der Landkreis Heinsberg in NRW. Dort informiert Landrat Stephan Pusch Ende Februar über die ersten Corona-Fälle: "Wir haben den Krisenstab einberufen. Wir haben erste Maßnahmen verfügt, um einer möglichen Ausbreitung des Virus entgegen zu wirken." Schulen und Kindergärten werden geschlossen, vorerst für ein paar Tage: "Ich denke, die Situation erfordert von uns allen ein wenig Disziplin, aber wir sollten auch nicht in Panik verfallen." Innerhalb der nächsten Wochen wird aus dem bis dato eher unbekannten Landrat Pusch eines der Gesichter des Kampfes gegen die Corona-Krise. Und aus Heinsberg – jenem kleinen Landkreis mit rund 250.000 Einwohnern nördlich von Aachen – der Ort in Deutschland, der fast in einem Atemzug mit dem chinesischen Wuhan genannt wird. Seit nunmehr fünf Wochen ist die Region wie abgeriegelt. Wohl ausgehend von einer Karnevalssitzung im Ort Gangelt verbreitet sich das Virus besonders schnell und stark. Der Bürgermeister der Gemeinde Gangelt, Bernhard Tholen, schildert Anfang März am Telefon: "Alles ist zurückgefahren. Dadurch, dass die Kinder zuhause sind, merkt man wirklich, dass der Straßenverkehr weitaus weniger ist. Viel weniger Menschen in den Geschäften sind." Messebauer, Dienstleister, Taxifahrer und Hoteliers in Not Unterdessen breitet sich das Virus in Nordrhein-Westfalen aus. 2. März: 92 Infizierte. 4. März: 172. Diese Zahlen klingen erst einmal harmlos, Virologen warnen jedoch schon vor dem exponentiellen Wachstum, sprich: Die Zahl der Infizierten erhöht sich aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr rasend schnell. 6. März: 324. 8. März 484. Vor einem Monat, am 9. März, dann die Nachricht: Im Universitäts-Klinikum Essen stirbt eine 89-jährige Frau an dem Virus, fast zeitgleich ein Mann aus Gangelt im Kreis Heinsberg. Es sind die ersten registrierten Corona-Todesfälle in Deutschland. Der Heinsberger Landrat Pusch informiert: "Ich muss Sie leider informieren, dass heute ein 78-Jähriger gestorben ist. Der Fall zeigt, dass besonders ältere und vorerkrankte Personen gefährdet sind." Tags drauf, am 10. März, wird das Krisenmanagement der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet, CDU, auch öffentlich sichtbar, werden erste Maßnahmen verkündet: "Mittelpunkt unserer Maßnahmen muss daher der Verzicht von Großveranstaltungen sein. Deshalb war es hilfreich, dass Gesundheitsminister Spahn sich dafür ausgesprochen hat, dass alle Veranstaltungen über 1000 Besucher abzusagen sind." NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (imago / F. Boillot ) Das Fußball-Spiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln wird zum ersten Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte März, sind viele Groß-Veranstaltungen schon abgesagt oder verschoben, wenige Tage später werden Messen in NRW komplett verboten – bis mindestens Mitte April. Viele Wirtschaftsbranchen trifft das hart. Nicht einmal drei Wochen nach den ersten Virusfällen im Kreis Heinsberg stehen Messebauer, Dienstleister, Taxifahrer und Hoteliers den Entwicklungen ohnmächtig gegenüber. Sinkende Umsätze Im "Brauereiausschank am Zoo" in Düsseldorf – kurz BAZ – steht Thomas Demske hinter der Theke und blickt auf den halbvollen Gastraum. "Das erste Mal merkte ich wirklich Anfang März, da haben wir es an einem Umsatzstarken Tag wie Montag gemerkt, dass wir nur noch die Hälfte an Umsatz hatten." Jetzt, Mitte März, sagen viele Senioren-Stammtische ab, die Messegäste fehlen. Gastronom Demske hofft, dass Restaurants wenigstens nicht ganz geschlossen werden, wie es zu der Zeit in Belgien, Italien schon passiert ist. "Jetzt wird ja diskutiert, die EM abzusagen, das sind für uns Einnahmen, die einkalkuliert sind." Ähnlich geht es Hotelier Otto Leyh. Wenige Minuten vom BAZ entfernt betreibt er das "Hotel Haus am Zoo" – seit fast 40 Jahren. "Die aktuelle Situation ist sehr kritisch. Sie ist massiv gefährdend fürs Unternehmen, da mindestens 70 Prozent storniert worden sind." Andernorts ist da die Sorge zur gleichen Zeit Mitte März noch nicht so groß: "Zum Gruße, alles gut?" Mal mit Krücken oder Rollator, mal langsam zu Fuß. "Hier ist ja was los." Aber alle gut gelaunt, treffen die Mitglieder der Senioren-Union Troisdorf, einer Kleinstadt im Rhein-Sieg-Kreis, zur Mitgliederversammlung ein: "Ich geb mal nicht die Hand." "Ne." Die Knöchel klopfen auf die grüne Tischdecke, neben einer gelben Serviette und vor der dicken Sahnetorte. Während aus Berlin die Nachricht kommt, dass der CDU-Sonderparteitag Ende April, auf dem die Machtfrage in der Kanzlerinnen-Partei geklärt werden soll, auf unbestimmte Zeit verschoben wird, treffen sich hier 22 ältere Menschen – alle in der Corona-Risikogruppe, weil über 60 Jahre alt – und machen sich wenig Sorgen: "Man muss sich nicht unbedingt die Hände geben." "Ich geh nicht zu Großveranstaltungen. Und das macht mir keine Sorgen." Zahl der Infizierten steigt rasant Die Zahl der Infizierten in NRW steigt derweil weiter rasant. 14. März: 1636. 18. März: 3838. Das Corona-Virus ist aber längst nicht mehr nur auf NRW beschränkt. Alle Bundesländer sind mittlerweile betroffen – und uneins darüber, welcher Weg jetzt gegangen werden muss. Wer reagiert wann – und wie? Es ist diese zentrale Frage, die den März dominiert. Die sich an alle politische Handelnden richtet. Die zu einer nie gekannten Prüfung des demokratischen Systems wird, Fragen an die föderale Struktur aufwirft – und zu einem politischen Wettstreit der anderen Art führt: Wer ist der beste Krisenmanager? Wer macht was zuerst – und verkündet es auch möglichst schnell? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU: "Wir sind am Beginn einer Pandemie offensichtlich weltweit. Das verunsichert. Und genau deshalb sind wir heute hier. Wir wollen mit Sachinformationen Unsicherheiten abbauen." Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder von der CSU: "Corona hat unser Land fest im Griff. Wir haben alle in den letzten Tagen viel getan. In Deutschland, aber auch in Bayern." Oder eben der christdemokratische NRW-Ministerpräsident Laschet, der nun – scheinbar vor dem Hintergrund der offenen Machtfrage in der Union – mit Söder aneinandergerät. Am Freitag, 13. März, kommt es zu einer weiteren tiefgreifenden Maßnahme. "Wir haben es mit einer sehr ernsten und komplexen Bedrohung zu tun." Stellt Armin Laschet an diesem Nachmittag klar und verkündet für sein Bundesland: "Die Schulen in Nordrhein-Westfalen werden durch das Vorziehen der Osterferien ab sofort geschlossen", sagt Laschet. Bereits am frühen Morgen war allerdings Bayern vorgeprescht, hatte Söder die gleiche Nachricht verkündet. Damit sich Schulen und Familien in NRW auf die wochenlange Schließung einstellen können, gibt es eine zweitägige Übergangsfrist. Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Herausforderung für Schüler, Lehrer und Eltern Das Friedrich-Rückert-Gymnasium in Düsseldorf nutzt die Zeit, um den unteren Jahrgängen noch schnell die schuleigenen iPads auszugeben. Eine Gruppe von Sechstklässlerinnen steht vor dem Schulgebäude an einem geöffneten Fenster. "Brauchst Du ein Ladekabel?" – "Ja!" Eine provisorische Ausgabestelle – die für ausreichend Abstand sorgt. In der Schule herrscht noch geschäftiges Treiben. Rektorin Pietzko muss viel organisieren, bevor das Kollegium ins Homeoffice geschickt wird. Das Gymnasium arbeitet mit einer eigenen Schul-Cloud. Es gibt virtuelle Klassenräume, Schüler können Fragen posten oder Dateien hochladen – das hilft der Schule nun: "Jetzt werden alle Lehrer die Schüler halt über diese Online-Plattform mit Lernmaterialien versorgen, wir haben auch Zugriff auf Lernvideos, die angeschaut werden können." Fast zeitgleich zu den Schulschließungen in NRW machen viele Staaten, in Europa und Übersee, ihre Grenzen dicht – der weltweite Flugverkehr bricht ein. Urlauber sitzen fest. Am Düsseldorfer Flughafen ist es an diesem Wochenende Mitte März gespenstisch still. Nur an ein paar geöffneten Reise-Schaltern stehen Menschen mit zum Teil sorgenvollen Gesichtern. "Ich bin für eine Dienstreise hier und kann jetzt nicht mehr zurück in die Türkei reisen." Ähnlich geht es Tausenden Deutschen – andersherum. Sie sitzen in ihren Urlaubsorten fest, wissen nicht weiter. Die Bundesregierung startet eine Rückholaktion aus 57 Ländern, die bis heute andauert. Hierzulande locken Mitte März die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings die Menschen nach draußen. Die Parks sind voll, in den Cafés sitzen Gäste dicht an dicht. Im Bundeskanzleramt beobachtet man das mit Sorge – und geht in einem außergewöhnlichen Schritt an Öffentlichkeit: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." Deutliche Worte von Angela Merkel Knapp 13 Minuten lang versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache die Bevölkerung zu mahnen: "Ich weiß, wie hart die Schließungen in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen." Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer TV-Ansprache zum Coronavirus (Shan Yuqi / imago / Xinhua) Der Hintergedanke der Politik: Staatliche Ausgangsbeschränkungen sollen verhindert werden, man wolle sich die Situation anschauen und vier Tage später, am Sonntag, in einer Schalte mit den Ministerpräsidenten bewerten. Doch im Wettlauf um den besten Corona-Krisenmanager prescht Bayerns Ministerpräsident Söder zwei Tage später, am Freitag, erneut vor. "Ich und wir können nicht verantworten zu warten. Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel. Deswegen warten wir nicht auf endlose Abstimmungen in endlosen Sitzungen und Gremien, sondern wir treffen die Entscheidung aufgrund der gesetzlichen Grundlage, die wir in Bayern haben, und handeln." Er verhängt Ausgangsbeschränkungen – bayernweit. Das Saarland sowie einzelne Kommunen, beispielsweise in NRW, ziehen nach. Ein Affront gegenüber den anderen Ländern, weshalb es in der gemeinsamen Schalte am Sonntag zwischen Söder und Laschet auch gekracht haben soll. Nach dem Treffen tritt Laschet dann – als Erster – vor die Presse: "Um alle Menschen zur Vernunft zu bringen, braucht es aus meiner Sicht weitere, strengere Maßnahmen und ein gemeinsames, geschlossenes Vorgehen von Bund und Ländern." Der Begriff des Kontaktverbots ist geboren. Laschet sagt: "Nach unserer Einschätzung ist nicht das Verlassen der Wohnung die Gefahr. Die Gefahr ist der enge, unmittelbare, soziale Kontakt. Meine Überzeugung: Kontaktverbote sind im Vergleich zu einer Ausgangssperre für die Unterbrechung von Infektionsketten verhältnismäßiger, zielgerichteter und besser zu vollziehen." Die Infizierten-Zahlen in NRW wachsen derweil weiter, wenn auch etwas langsamer. 24. März: 8745. 26. März: 10.467. 28. März 12.744. Sind die Maßnahmen verhältnismäßig? Gleichzeitig entwickeln sich außerhalb der Politik Zweifel, ob all diese Einschränkungen noch verhältnismäßig sind. Umfragen, die ein paar Tage später publik werden, zeigen zwar, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen die drastischen Maßnahmen begrüßt, doch vielerorts stoßen Menschen an ihre Grenzen. COVID-19 - Wie sich der Shutdown auf die Fallzahlen auswirkt In Deutschland gelten Auflagen, die dabei helfen sollen, die Corona-Epidemie einzudämmen – und es gibt bereits Erfolge. An Alltag ist auch in der Wirtschaft noch nicht zu denken. Der Düsseldorfer Hotelier Leyh fragt sich: "Momentan werde ich nachts wach, und der erste Gedanke ist: Wie geht's weiter vor allen Dingen? Wie geht es auch weiter danach?" Ähnliche Sorgen hat Gastronom Thomas Demske. Der 36-Jährige steht fast wie gewohnt hinter seiner Theke im BAZ. Doch statt Bier zu zapfen, schüttet er es weg. "Das läuft ab, das habe ich auch gerade wunderbar entsorgt im Waschbecken. Ja, wir gehen davon aus, dass wir 500 bis 600 Liter entsorgen müssen – allein an Altbier." Es kam dann doch schlimmer als erhofft – sein Restaurant ist erst einmal geschlossen, alle Mitarbeiter in Kurzarbeit. "Wir stehen bei null Einnahmen gerade, seit fast zwei Wochen und realistisch betrachtet wird das wohl noch die nächsten zwei Monate so bleiben", sagt Demske und blickt etwas ratlos auf den leeren Gastraum. Abhilfe sollen Rettungsschirme nicht gekannten Ausmaßes bringen. Die Zahlen mit all den Nullen purzeln nur so durch die Republik. Der Bundestag beschließt einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro sowie Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit dem Volumen von bis zu 600 Milliarden Euro. Länder wie NRW und Bayern ergänzen. Allein die Corona-Soforthilfe für Kleinunternehmer und Solo-Selbständige wird in den ersten drei Tagen nach Inkrafttreten in NRW mehr als 200.000 mal beantragt und oft innerhalb von nur einem Tage bewilligt. Auch Hotelier Leyh und Gastronom Demske sind unter den Empfängern. Kritische Stimmen werden lauter Dennoch werden nun die ersten kritischen Stimmen lauter: Während in Nordrhein-Westfalen die erste Individualverfassungsbeschwerde gegen die nordrhein-westfälische Corona-Schutzverordnung aus formalen Gründen erfolglos war, ist für Baden-Württemberg die Normenkontrollklage einer Fachanwältin für Medizinrecht gegen die Corona-Verordnung angekündigt; in Berlin löst das allgemeine Verbot von Gottesdiensten juristischen Widerstand aus. "Ich bin an diesem Tage froh, dass ich kein Jurist bin, weil ich das Gefühl habe, wir haben im Moment ganz wichtige Fragen zu klären: Es geht um Leben und Tod." Entgegnet Herbert Reul, Nordrhein-Westfalens Innenminister diesen Entwicklungen. "Ich wette, wenn das alles vorbei und es uns wieder gut geht, wird es wahrscheinlich noch viele kluge Leute geben, die uns dann genau sagen, an welcher Stelle, wer, von welchem Ministern, wo, vielleicht, irgendwie vorschnell, zu schnell, nicht hundertachtzigprozentig exakt gehandelt hat. Ich kann ihnen nur sagen: Die Sorgen habe ich nicht. Ich habe die Sorgen, dass wir, die wir jetzt in der Pflicht sind, alles tun, um zu verhindern, dass die Epidemie sich weiter ausbreitet. Punkt, Ende, Aus. Insofern: Sollen sie eine Klage einreichen – ich hoffe, Sie stoßen auf kluge Richter." Bundesländer diskutieren über Exit-Strategien Trotzdem: Mittlerweile diskutieren auch einzelne Bundesländer über die Exit-Strategien. In NRW soll ein Expertenrat entsprechende Leitlinien erarbeiten. In ihm sitzen Unternehmer, Ethiker, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler – und beraten Ministerpräsident Laschet: "Wir schaffen Unsicherheiten und vernichten auch Wohlstand, Werte und Existenzen. Das muss uns immer wieder bewusst sein. Wir sagen am Ende: Ja, das ist jetzt erforderlich, in der Abwägung. Aber wir müssen immer auch mitdenken: Wie kommen wir aus dieser Situation wieder raus." Eine Stimme im NRW-Expertenrat: Professor Hendrik Streeck. Der Chef-Virologe des Universitätsklinikums Bonn arbeitet aktuell an einer Studie im deutschen Corona-Brennpunkt Heinsberg. Untergebracht in einer leerstehenden Förderschule in Gangelt wurden tausend willkürlich ausgewählte Probanden getestet, Blutproben und Rachenabstriche entnommen, Türklinken abgestrichen, die Oberfläche der Handys abgewischt. Die Gesamtschule Gangelt-Selfkant im Kreis Heinsberg wurde wegen des Coronavirus vorübergehend geschlossen. (dpa/Henning Kaiser) "Der Landkreis Heinsberg ist eine Chance. Es ist eine Chance, Informationen zu sammeln und praktische Hinweise zu geben, wie man in der Zukunft mit der SARS Covid 2 umgehen kann und wie wir am besten eine Eindämmung weiterhin erreichen, ohne dass das Leben in den nächsten Jahren zum Erliegen kommt", sagt Streeck. Ausstiegsszenarien: Wie Deutschland zur Normalität zurückkehren könnteNoch mindestens bis zum 20. April befindet sich Deutschland im Corona-Stillstand. Doch bereits jetzt planen die Fachleute den Ausstieg. Welche Szenarien spielen dabei eine Rolle – und welche Risiken sind damit verbunden? Und dafür eignet sich der Landkreis Heinsberg eben am besten. Denn, so Landrat Pusch: "Wenn jemand in Deutschland weiß, was es heißt, mit dem Corona-Virus zu leben, dann sind es glaube ich die Menschen im Kreis Heinsberg. Wir haben viele Wechselbäder der Gefühle durchlebt." Wechselbäder, die gerade jetzt, an den Ostertagen, noch einmal besonders zu spüren sind.
Von Moritz Küpper und Vivien Leue
Es begann mit Fällen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Mittlerweile ist die ganze Bundesrepublik betroffen. Die Corona-Epidemie hat Deutschland verändert - mit Grenzkontrollen, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren. Erste Zweifel werden laut, ob die Einschränkungen verhältnismäßig sind.
"2020-04-08T18:40:00+02:00"
"2020-04-09T10:06:55.209000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chronologie-der-pandemie-wie-das-coronavirus-deutschland-100.html
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