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Und immer wird irgendwo gestreikt
Fluglotsen bei der Arbeit (picture alliance / dpa / Uli Deck) Es herrscht Hochbetrieb im Flugsicherungscenter, die Fluglotsen kommen mit ihrer Arbeit kaum nach. Allein im deutschen Luftraum hat die DFS, die Deutsche Flugsicherung, im ersten Halbjahr knapp 1,6 Millionen Flüge kontrolliert – 2018 wird wahrscheinlich beim Verkehrsaufkommen das Rekordjahr 2017 überflügeln. Denn das zweite Halbjahr ist normalerweise verkehrsreicher als die erste Jahreshälfte. Der Stau am Himmel ist ein Grund für die vielen Verspätungen, das ärgert die Fluggesellschaften. Einige von ihnen, vor allem Ryanair und die britisch-spanische IAG, zeigen deshalb mit dem Finger auf die Fluglotsen: Die seien in Europa zu häufig im Streik, klagen sie in diesen Wochen immer wieder. Ist das ein gerechtfertigter Vorwurf? Nein, wehrt sich Matthias Maas, Vorsitzender der Gewerkschaft der Fluglotsen: "Das Thema Streik oder das andere Thema, was von den Fluggesellschaften recht häufig für Verspätungen genommen wird, ist das Thema Wetter. Das sind zwei Gründe, die entbinden nachher die Fluggesellschaft von einer Entschädigung gegenüber den Passagieren. Das ist natürlich recht einfach, wenn ich sage, es sind Streiks in Frankreich, es sind Streiks in Spanien, deshalb haben wir hier so viele Flugausfälle oder so viele Flugverspätungen. Aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass zum Beispiel alleine in Köln-Bonn dieses Jahr schon weit über 500 Flüge ausgefallen sind, und das alles mit einem Streik zu begründen, der nicht in Deutschland stattgefunden hat – für mich unbegreiflich." Höheres Verkehrsaufkommen und zugleich weniger Lotsen Die Fluglotsen in anderen Ländern können zwar auch aus politischen Gründen in den Ausstand treten. Das geht in Deutschland nicht, da gibt es also noch unterschiedliche Vorschriften. Aber es gibt tiefer liegende Gründe für die Verspätungen. Denn wesentliche Bereiche sind seit 2012 in Europa einheitlich reguliert. In Brüssel werden mittelfristige Prognosen für die Entwicklung des Luftverkehrs erstellt und auf deren Basis dann Vorgaben für die nationalen Flugsicherungen erarbeitet, erklärt Kristina Kelek, Sprecherin der Deutschen Flugsicherung DFS: "Es gibt von der EU Regulierung seit 2012 so genannte Regulierungsperioden, da werden bestimmte Verkehrsprognosen erstellt und demnach auch unsere Kosten eingeplant. Wir bekommen bestimmte Vorgaben, wie hoch wir auch unsere Kosten halten dürfen. D.h, wir müssen in verschiedenen Bereichen die Kosten etwas nach unten drücken, und das kann natürlich auch die Personalplanung betreffen, weil keiner möchte zu viel ausgebildete Fluglotsen zum Beispiel, die dann eben die Kosten eben sehr in die Höhe treiben würden." Und da hat Brüssel für den aktuellen Zeitraum zwischen 2016 und 2019 ein zu niedriges Verkehrsaufkommen kalkuliert. Der Kostendruck sei aber auch durch den Einfluss der Fluggesellschaften gekommen, vermutet GdF-Chef Maas: "Genau die Leute, die Lobbyisten, die uns die letzten Jahre in diesen Sparzwang getrieben haben, die immer gesagt haben, ihr seid zu teuer, das sind jetzt genau die gleichen Leute, die momentan fast tagtäglich über Medien oder sonstige Kanäle schreien: ‚Ihr habt zu wenig Kapazität.‘ D.h., die haben inzwischen erkannt, dass ihre Flugzeuge nicht mehr pünktlich fliegen können, weil zu wenig Personal bei der Flugsicherung, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern europaweit ist. Scheinbar wird jetzt akzeptiert, dass mehr ausgebildet wird. Dadurch werden wahrscheinlich die Flugsicherungsgebühren wieder steigen, aber dafür fliegen dann die Flieger demnächst wieder etwas pünktlicher." Neue Fluglotsen rekrutieren dauert Das aber dürfte noch einige Zeit dauern. Denn der Fluglotsenmangel lässt sich so schnell nicht beheben, sagt DFS-Sprecherin Kelek: "Es ist natürlich jetzt so, dass wir alle Maßnahmen ergreifen müssen, um mehr Personal zu rekrutieren. Aber das Problem dabei ist, das geht nicht über Nacht. Wir brauchen also jetzt vielleicht 3, 4 Jahre bis wir die entsprechenden Fluglotsen rekrutiert haben, ausgebildet haben und sie fertig eingesetzt werden können an ihren Arbeitsplätzen." Das hätte man schneller sehen müssen, moniert Gewerkschaftsführer Maas: "Jetzt hat man es natürlich erkannt, jetzt wo alle klagen, jetzt sind die Probleme groß. Jetzt will man pro Jahr wieder bis ans Limit der Ausbildungskapazität hochfahren. Aber das muss man nicht nur dieses Jahr machen, das muss man Minimum vier, fünf, sechs Jahre lang machen, um überhaupt das jetzige Minus auszugleichen." Eine weitere Schwierigkeit: Die Ausbildung zum Fluglotsen ist nicht nur langwierig. Sie ist auch sehr individuell, sagt Kristina Kelek: "Ein Fluglotse ist speziell auf ein Luftraumsegment, wir sagen ‚Sektor‘, ausgebildet und kann auch nur in diesem einen Luftraum eingesetzt werden. Wir versuchen jetzt, im Zuge dieser hohen Anforderungen, dass wir Fluglotsen ausbilden, die man vielleicht etwas flexibler einsetzen könnte." Die Passagiere müssen also voraussichtlich weiter mit Verspätungen rechnen. Aber sie sollten sich nicht sorgen, meint die DFS-Sprecherin. "Sicherheit geht vor Kapazität. Wir würden keine Maßnahmen ergreifen im Moment, die die Sicherheit tangieren würden."
Von Brigitte Scholtes
Derzeit haben viele Flüge Verspätung. Die Fluglinien machen dafür unter anderem den "Stau am Himmel" verantwortlich und zeigen mit dem Finger auf die europäische Flugsicherung. Die versinke im nationalen Regulierungschaos und werde durch Streiks zu oft beeinträchtigt. Doch es gibt auch andere Gründe.
"2018-07-23T13:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:03.477000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serie-luftverkehr-flugsicherung-und-immer-wird-irgendwo-100.html
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"Gewalt und Hass belügen sich selbst"
Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. (picture alliance / dpa / Oliver Berg) "Es gibt keine Überzeugung oder Ansicht, von der ich jetzt zurücktrete nach dieser Gewalt, die ich erlebt habe", sagte die parteilose Politikerin Reker in Köln. Ihre Entschlossenheit sei durch die Attacke nur gestärkt worden, berichtete Moritz Küpper im DLF. Sie habe großes Glück gehabt, den Messerangriff einen Tag vor ihrer Wahl überlebt zu haben. Zugleich machte sie klar: "Gewalt und Hass belügen sich selbst. Sie sind keine Lösung." Reker war am 17. Oktober von einem Mann an einem Wahlkampfstand niedergestochen worden. Der Attentäter sei an dem Stand auf einem Wochenmarkt auf sie zugekommen, habe freundlich gelächelt und ihr das Messer in den Hals gestoßen, sagte die 58-Jährige. Sie wurde schwer an der Luftröhre verletzt. Fremdenfeindlicher Hintergrund der Tat Ein Plakat der Kölner Obermeisterkandidatin Henriette Reker am Tatort des Messerangriffs. (dpa / picture alliance / Federico Gambarini) Nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat die Tat einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Der 44-jährige mutmaßliche Täter soll sich selber entsprechend geäußert haben. Reker war vor der Wahl als Sozialdezernentin in Köln tätig und hat sich um Flüchtlinge und deren Aufnahme gekümmert. Auch zur Sicherheitslage nach den Anschlägen von Paris äußerte sich die Kölner Oberbürgermeisterin. Zur Frage, wie es um die Sicherheit auf den Weihnachtsmärkten stehe, sagte sie: "Ich bin überzeugt, dass wir unseren Lebensstil nicht ändern sollten. Es ist unsere Stadt und ich kann nur jeden dazu ermuntern, so wie bisher zu leben."
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Gut einen Monat nach dem Messerangriff auf Henriette Reker hat die Politikerin ihre Arbeit als Kölner Oberbürgermeisterin aufgenommen. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt machte sie klar, sie werde nicht von ihren politischen Überzeugungen abrücken. Auch die Anschläge von Paris kamen zur Sprache.
"2015-11-20T14:31:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:11.243000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-koelner-oberbuergermeisterin-gewalt-und-hass-beluegen-100.html
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Vetterlein kandidiert für AfD
Der DHB muss sich mit der AfD-Kandidatur des sächsischen Handball-Präsidenten Vetterlein befassen. (imago images / Hartenfelser) Das Präsidium des Deutschen Handballbundes DHB wird sich am Montag in Stuttgart mit der AfD-Kandidatur seines Mitglieds Uwe Vetterlein befassen. Das erklärte der DHB-Präsident Andreas Michelmann im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vetterlein habe ihm in einem Telefonat vorgeschlagen, das Präsidium möge in seiner Abwesenheit über seinen Fall beraten, so Michelmann. Diesen Vorschlag habe man akzeptiert. Sächsische Handballer fürchten um ihre Reputation Vetterlein, der auch Präsident des Handballverbandes Sachsen ist und für uns für eine Stellungnahme nicht zu erreichen war, kandidiert bei der kommenden sächsischen Kommunalwahl im Dresdner Wahlkreis 4 für die AfD. Das sorgte für Empörung. Der Leipziger Bezirk des Landesverbandes wolle nicht mehr mit Vetterlein zusammenarbeiten, berichtete die Leipziger Volkszeitung. Die Begründung des Bezirks laute, das offene Bekenntnis Vetterleins zu den "nationalistischen, diskriminierenden und antidemokratischen Positionen und die Nutzung der populistischen Phrasen" der AfD sei mit dem Amt des HVS-Präsidenten nicht vereinbar und schade der Reputation der sächsischen Handballer. Turnusmäßige Sitzung soll Klarheit bringen DHB-Präsident Michelmann sagte dem Dlf, dass der DHB nach der turnusgemäßen Sitzung über den Fall informieren werde und erklärte: "Die Grundsatzposition ist ja erstmal klar: Dass wir als Verband politisch neutral sind, das sind wir auch. Was aber niemanden verbietet, sich in irgendeiner Partei zu organisieren, solange sie auf dem Boden des Grundgesetzes steht. So. Und da kann man bei der AfD unterschiedlicher Meinung sein. Aber sie scheint jedenfalls nicht grundgesetzwidrig zu sein, sonst wäre sie ja nicht im Bundestag vertreten."
Von Erik Eggers
Die Spielbezirksleitung Leipzig des Handball-Verbandes Sachsen kündigt die Zusammenarbeit mit Uwe Vetterlein auf. Grund ist die AfD-Kandidatur des HVS-Präsidenten. Auch der Deutsche Handballbund hat Gesprächsbedarf.
"2019-05-23T22:52:00+02:00"
"2020-01-26T22:53:34.649000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sachsens-handballpraesident-in-der-kritik-vetterlein-100.html
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Schiitische Milizen unter den Bodentruppen
Duskhurmatu, eine Kleinstadt im Nordirak, unweit der Ölfelder von Kirkuk. Gut 150 Kilometer sind es von hier noch bis Bagdad. "Das ist eigentlich eine kurdische Stadt, aber man sieht hier überall unterschiedliche schiitische Fahnen, Bilder von Ali, schwarze Parolen." Ali, der Stammvater der Schiiten, volkstümliche Darstellungen schiitischer Märtyrer auf Plätzen und Fassaden – genauso wie im Iran. Fuad Zindani ist in diesem Teil von Kurdistan aufgewachsen. Der Vorsitzende einer kurdischen Menschenrechtsorganisation hat später jahrelang in Deutschland gelebt. Was er hier sieht, hat nichts mehr mit dem Ort zu tun, den er mal kannte. Im Zentrum: Bilder der Verwüstung. Selbst an der Hauptstraße stehen viele Häuser leer, die Türen sind herausgebrochen, die Fensterränder rußgeschwärzt. Scherben und Möbelreste liegen auf den Gehwegen davor. "Man sieht hier mehrere Läden, zahlreiche Läden verbrannt, die gehörten Kurden. Man sieht darauf mehrere Fahnen der Schiiten, schiitische Fotos. Ein großes Foto von Imam Ali." Vor vielen Geschäften sind die Rolläden heruntergelassen. Auf einigen davon steht, in roten, arabischen Buchstaben: "Kurde". Andere sind, ebenfalls mit roter Farbe, von oben bis unten durchkreuzt. Selbst auf dem Markt ist es ruhig, kaum Käufer, kaum Verkäufer. Niemand möchte etwas sagen, außer Sch'tiwan, einem kurdischen Händler, der auf seinem Karren Gurken und Tomaten anbietet: "Sie haben mehr als Hundert Häuser und Läden von Kurden verbrannt. Sie haben mehrere Zivilisten gefangen genommen und gefoltert." "Sie?" Wer sind "sie"? Der Händler blickt sich sorgfältig nach allen Seiten um. Erst dann antwortet er: "Die schiitischen Freiwilligenmilizen, die Hascht al Schaabi. Vor rund zwölf Monaten wurden sie hier her geschickt, um gegen den IS zu kämpfen. In unserer Stadt gibt es Kurden, zudem arabische Minderheiten und turkmenische Schiiten. Die schiitischen Freiwilligenverbände versuchen jetzt, die kurdische Mehrheitsbevölkerung zu vertreiben und ihre Häuser zu übernehmen, also zu enteignen. Meine Verwandten haben sie bereits aus ihren Wohnungen in der Stadt verjagt." Schiitenmilizen wollen den Einfluss des Iran auf Kurdistan ausdehnen Die frei gewordenen Immobilien, sagt er, erhielten Angehörige der schiitisch-turkmenischen Minderheit. So oder ähnlich bestätigen uns das auch andere Einwohner der Stadt. Die Hascht al Schaabi, die Schiitenmilizen, heißt es immer wieder, versuchten Duskhurmatu zu einer schiitisch dominierten Stadt zu machen und so den Einflussbereich des Iran auf Kurdistan auszudehnen. Der Zentralregierung in Bagdad scheint das aber nicht allzu viel auszumachen: "Nachdem die irakische Armee durch Angriffe von ISIS zerschlagen wurde. Diese Hascht al Schaabi sind ein Teil der Regierungstruppen." Sadi Ahmed Pire sitzt im Politbüro der PUK, der Patriotischen Union Kurdistans. Einer der zwei großen Parteien, die sich unter Präsident Masud Barzani traditionell die Macht in der kurdischen Autonomieregion, im Norden des Irak teilen. Pire, hat in Wien studiert und spricht fließend Deutsch. Die Debatten in Deutschland und Europa verfolgt er sehr genau. Fordert man nicht gerade dort ein breites Bündnis aller Kräfte gegen den Terror des IS? Genau so ein Bündnis, unterstreicht er, habe man auch in der kurdischen Autonomieregion geschlossen. "Und Mr. Barzani hat gemäß der Entscheidung der 62 Länder, die zusammen kooperieren gegen diese Terrorfront gesagt: OK, Irak soll auch mitmachen. Man fragt den Irak: Wer sind deine Truppen? Sagt er: Soviel reguläre Armee – so viel Hascht el Schaabi. Man kann zu Hascht al Schabi nicht sagen: Ich kann nicht mit denen arbeiten. Das ist die Kraft, die die Regierung hat." Regierungstruppen also, die die Bevölkerung aus ihren Häusern und Geschäften vertreiben? Wir versuchen, mit diesen Hascht al Schaabi, diesen schiitischen Freiwilligen, Kontakt aufzunehmen. Sie zu finden, ist nicht schwer. Denn an den bunten Fahnen der unterschiedlichen Einheiten lassen sich die Häuser leicht erkennen, die sie beschlagnahmt und zu Kasernen umfunktioniert haben. Vor einem Komplex, der wie eine ehemalige Schule aussieht, fragen wir den Wachtposten nach seinem Kommandanten. Er zögert und bedeutet uns dann, ihm zu folgen. In einem Innenhof lungern viele junge Männer in selbst zusammengestellten Tarn-Uniformen herum. Einige auf Prischen, andere auf Matten. Als wir eintreten starren sie uns verwundert an; wirken unangenehm berührt. Dann kommt der Kommandant: ein hochgewachsener Mann in olivfarbener Kampfuniform, mit schwarzweiß gemustertem Halstuch. Was wir hier zu suchen haben. Ein Gespräch? Er nimmt sein Handy und verschwindet telefonierend in einem der Räume. Inzwischen sammeln sich immer mehr Milizionäre, starren uns an. Junge Männer zwischen 18 und 25. Wir werden aufgefordert, auf einer Bank am Rand des Innenhofs Platz zu nehmen. Das Kasernentor schließt sich. An den Uniformen einiger Schiitenmilizionäre fällt dem kurdischen Menschenrechtler Fuad etwas auf. Offenbar gehören sie zu den iranischen Revolutionsgarden, den Pasdaran. "Auf dem rechten Arm, auf den Klamotten, gibt es ein Zeichen für iranische offizielle Pasdar. Wenn die einfach die Tür zu machen, können wir nicht raus, weil die sind bewaffnet. Wenn sie uns entführen als Kidnapper, was sollen wir machen? Es gab hier mehrere Entführungen, Ermordungen. Ich hab gemerkt: Die sind Iraner da drinnen. Die Iraner, natürlich, sie wollen die Europäer haben." Bodentruppen, die aus Verbrechern bestehen? Nach einigen Minuten, die quälend langsam zu verstreichen scheinen, taucht der Kommandant wieder auf: Gesprächsanfrage abgelehnt. Die Tore öffnen sich. Wir treten wieder auf die Straße. Setzen uns ins Auto. Beeilen uns, aus der Gegend wegzukommen. Aus Fuads Sicht ist die PUK, die zweite große Kurdenpartei für die Lage in Duskhurmato verantwortlich. Kurdenführer Talabani und seine Gefolgsleute unterhalten enge geschäftliche und politische Beziehungen zum Ayatollah-Regime in Teheran. Und die Gegend um Kirkuk, und damit auch die Stadt Duskhurmatu, gehört zum Machtbereich der Patriotischen Union Kurdistans. Sadi Ahmed Pire aus dem Politbüro der PUK will allerdings von einer möglichen Präsenz iranischer Revolutionswächter nichts wissen. "Bodentruppen Iran? Wir haben nicht. Diese Hascht al Schaabi, die meisten sind ... manche sind Verbrecher, die aus dem Gefängnis freigelassen wurden. Kriegszustand, das ist Dschungelgesetz." Bodentruppen, die aus Verbrechern bestehen? Oder doch iranische Revolutionswächter mit ihrer ganz eigenen Agenda? In einem wie im andern Fall: Für den IS wäre das nur von Vorteil. So nämlich kann sich die sunnitische Terrororganisation einer verzweifelten Bevölkerung gegenüber als Retter anbieten, als einzig wahre Schutzmacht im Konflikt mit dem Iran und den Schiiten.
Von Marc Thörner
Die Terror-Truppen des IS haben auch Gebiete im Nord-Irak besetzt. Eine internationale Koalition geht dort gegen sie vor. Sie unterstützen Bodentruppen aus lokalen Kräften, in diesem Fall die kurdischen Peschmerga. Doch mittlerweile sind unter den Truppen auch schiitische Freiwilligenmilizen, die ihre ganz eigene Agenda verfolgen.
"2015-12-05T13:30:00+01:00"
"2020-01-30T13:12:41.066000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-den-is-schiitische-milizen-unter-den-100.html
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Nur Vorwürfe, keine Lösungen
Syrische Familien auf der Flucht aus Ost-Aleppo (dpa / picture-alliance / Aleppo Media Center / Handout) Vertreter mehrerer Länder forderten im Sicherheitsrat, eine zehntägige Feuerpause durchzusetzen, um humanitäre Helfer in die Stadt zu lassen. Zivilisten müssten umgehend eine Pause vom Bombenhagel bekommen, sagte etwa Großbritanniens UNO-Botschafter Matthew Rycroft. Russlands Botschafter Witali Tschurkin machte in New York klar, dass seine Regierung eine Initiative Frankreichs und Großbritanniens für eine Waffenruhe ablehnen werde. Er sagte, dass der Westen solche humanitären Fragen nur als Vorwand nutze, um seine politische Agenda für einen Regimewechsel in Syrien voranzutreiben. "Ohne unsere Sorgen zu berücksichtigen, wird keine Resolution verabschiedet werden", sagte Tschurkin. Der russische Außenminister Sergej Lawrow kündigte später eine Fortsetzung der Angriffe und die "Rettung Aleppos vor den Terroristen" an. Vertreter mehrerer Länder machten Russland daraufhin allein für die Unfähigkeit des Rats verantwortlich, die Gewalt in Aleppo zu stoppen, berichtet Georg Schwarte im Deutschlandfunk. Es gebe nur Vorwürfe, keine Lösungen. Russland ist in dem Krieg Verbündeter des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. "... sonst werdet ihr vernichtet" Ohne Gegenmaßnahmen könne sich Aleppo in "einen gigantischen Friedhof" verwandeln, sagte UNO-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien bei der Sitzung am Mittwoch. Der Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, sprach angesichts verstärkter Luftangriffe auf den Ostteil der Metropole von einer "humanitären Tragödie", die sich verschlimmere. Lotte Leicht, Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet von abgeworfenen Flugblättern über Aleppo, deren Urheber Assads Regime und Russland sein sollen. Auf ihnen ist demnach zu lesen: "Wenn ihr diese Gebiete nicht sofort verlasst, werdet ihr vernichtet. Ihr wisst, dass Euch alle aufgegeben haben. Sie haben euch eurem Schicksal überlassen." Dutzende getötet, Zehntausende auf der Flucht Wegen der Kämpfe in den Rebellenvierteln und den Luftangriffen wurden allein in den vergangenen Tagen fast 70.000 Menschen vertrieben, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London meldete. Mindestens 26 Zivilisten, darunter mehrere Kinder, starben ihren Angaben zufolge in Ost-Aleppo durch Artilleriebeschuss. Dutzende wurden verletzt. In den vergangenen Tagen hätten mehr als 30.000 Zivilisten in Gebieten unter Kontrolle kurdischer Einheiten Zuflucht gesucht, etwa 20.000 in Vierteln des Regimes. Mehr als 15.000 Zivilisten seien zudem in andere Rebellenviertel im Südosten Aleppos geflohen. Zahlreiche syrische Familien fliehen vor den Kämpfen und Luftangriffen aus dem Ostteil der syrischen Stadt Aleppo. (AFP / George Ourfalian) Rettungshelfer berichteten, bei dem Beschuss des Stadtteils Dschubb al-Kubba seien 45 Menschen getötet worden. Bei den Opfern handele es sich um Zivilisten, die in Stadtteile unter Kontrolle der Regierung fliehen wollten, sagte Abdel Rahman Hassan von der Organisation Weißhelme. Fotos der Helfer zeigten Leichen, die neben Gepäckstücken auf der Straße lagen. Selten bekommen die Opfer des Krieges ein Gesicht in der Öffentlichkeit. Anders ist das bei der siebenjährigen Bana. Die twittert mit einem von ihrer Mutter bedienten Account aus dem Osten Aleppos, wie Anna Osius berichtet. In ihren Tweets beschreibt sie ihre Sehnsucht nach Frieden und nach einfachen Wünschen wie dem Lesen eines Harry-Pooter-Buchs. Die Echtheit solcher Tweets ist schwer zu überprüfen - Twitter selbst verifizierte aber den Account. Erbitterter Kampf um Aleppo Vor der aktuellen Offensive lebten nach Schätzungen der Vereinten Nationen rund 250.000 Menschen in den Rebellengebieten im Osten der Stadt. Die neben Damaskus größte Stadt des Landes gehört zu den am stärksten umkämpften Gebieten im fast sechs Jahre dauernden Bürgerkrieg. (nch/jcs)
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Der UNO-Sicherheitsrat hat in einer Dringlichkeitssitzung keine Einigung auf eine Resolution für eine Feuerpause in Aleppo erzielt. In der Stadt im Norden Syriens gehen die Kämpfe weiter, Zehntausende sind auf der Flucht. Russland kündigte eine Fortsetzung der Angriffe an.
"2016-12-01T09:28:00+01:00"
"2020-01-29T19:06:40.150000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/uno-sicherheitsrat-zu-aleppo-nur-vorwuerfe-keine-loesungen-100.html
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"Auf jeden Fall hat Serbien jetzt einen großen Schritt nach vorne gemacht"
Jasper Barenberg: Der "Schlächter vom Balkan" wird Ratko Mladić genannt, er stand im Krieg um Bosnien an der Spitze der Armee der bosnischen Serben, er führte das Kommando bei der Belagerung von Sarajevo und auch, als seine Soldaten im Juli 1995 die Enklave der Srebrenica erstürmten und 8000 Jungen und Männer getötet wurden. Seit Dienstag sitzt er im Gefängnis des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, heute Vormittag wird er zum ersten Mal vor einem Richter erscheinen und sich zu den elf Anklagepunkten äußern müssen: Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – das sind die Vorwürfe. Wie beurteilt man in Serbien die Verhaftung und das Verfahren, welche Perspektiven eröffnen sich für das Land jetzt auf dem Weg in die Europäische Union? Darüber möchte ich in den nächsten Minuten mit dem Repräsentanten der Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad sprechen. Guten Morgen, Henri Bohnet!Henri Bohnet: Guten Morgen, Herr Barenberg!Barenberg: Herr Bohnet, in dem Dorf, in dem Mladić aufgespürt und verhaftet wurde, gilt er weiterhin als Held. Es gab nach seiner Verhaftung Proteste auch in Belgrad. Ist das nur noch ein Häuflein ewig Gestriger, oder ist das noch mehrheitsfähig in Serbien, diese Meinung?Bohnet: Also es ist deutlich geworden, dass es noch ewig Gestrige gibt. Das ist natürlich schade, aber ich denke auch, dass es wirklich nicht mehr so viele Leute sind, die Mladić unterstützen, die Sympathie mit ihm haben. Seit den letzten Jahren hat sich einiges verändert, Präsident Tadić hat dies auch in seinen letzten Äußerungen jetzt gesagt in Zusammenhang mit seinen Bestrebungen und den Bestrebungen Serbiens, in die EU einzutreten. Ich glaube wirklich, dass die Unterstützung für Mladić in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, und obwohl es eine politische Partei gibt, die Radikalen, die Sympathien mit ihm haben, aber deren Anführer auch in Den Haag sitzt – denke ich, dass die Mehrheit der Menschen wirklich vorwärtsschaut in Richtung EU und endlich weiter die Reformen in Serbien greifen sehen möchte.Barenberg: Warum ist das denn so, dass die Unterstützung für diese Figur Mladić, die ja auch immer eine Symbolfigur gewesen ist, abgenommen hat?Bohnet: Also auf jeden Fall wurde mehr dafür getan, darüber zu sprechen, welche Verbrechen Mladić angehaftet sind, aber auch natürlich die Rolle Serbiens im Krieg, denn Bosnien … oder auch im ganzen Jugoslawien. Nicht umsonst wurde letztes Jahr die Srebenica-Resolution des Parlaments in Serbien verabschiedet, die zwar sehr kontrovers diskutiert wurde, aber doch mit einer Mehrheit verabschiedet wurde. Und das sind kleine Schritte, die dazu beigetragen haben, dass auch das Bewusstsein, das öffentliche Bewusstsein darüber, dass man eingestehen muss, früher Fehler begangen zu haben, eine schwierige, problematische Rolle auf dem Balkan gespielt zu haben, überdacht wird.Barenberg: Das ist nach Ihrem Eindruck auch anerkannt in Serbien bei den Menschen, dass das Land in den 90er-Jahren quasi einen Eroberungskrieg geführt hat auf dem Balkan?Bohnet: Also ich denke, es wird meistens weiterhin ausgeblendet, aber es wird damit begonnen, darüber nachzudenken, und meine Hoffnung ist, dass gerade mit dem Prozess gegen Mladić auch deutlicher und öffentlich darüber gesprochen wird, erstens, wie er natürlich so lange versteckt bleiben konnte und wer ihn dabei unterstützt hat, aber natürlich auch, die Fakten noch mal anzuschauen und darüber zu diskutieren, welche Rolle Serbien da wirklich gespielt hat. Darüber wird öffentlich wenig gesprochen, und es ist problematisch, solange auch noch Parteien, politische Parteien eine Rolle spielen, die damals auch relevant gewesen sind, so zum Beispiel die Nachfolgepartei von Milosević in der Regierung mit Präsident Tadić. Der Innenminister ist der Chef dieser Partei, die SPS heißt. Aber man sieht: Es hat sich einiges getan, und auch diese Menschen – der Innenminister sagt wenigstens, dass sie in die EU wollen, und die Reformen, die bisher durchgeführt wurden, zeigen, dass es ernsthafter seit Langem in der Geschichte so verläuft.Barenberg: Muss denn Tadić, muss Präsident Boris Tadić mit Blick auf seine Koalitionspartner da auch innenpolitisch noch Rücksicht nehmen?Bohnet: Also ich glaube, und Präsident Tadić macht das auch immer deutlich, dass seine Regierung die Reformen macht und in die EU will, dass seine Regierung als oberste Priorität hat, den Kandidatenstatus der Europäischen Union zu bekommen. Seine Regierung hat die Resolution für Srebrenica verabschiedet, unter seiner Führung wurde auch die UN-Resolution für den Beginn der Gespräche mit Kosovo erarbeitet. Also ich denke, dass tatsächlich hier es Kräfte gibt, die Einsicht haben, dass viel gemacht werden soll. Das heißt noch lange nicht, dass natürlich jeder ein begeisterter Europäer ist, aber ich denke, dass die meisten Politiker des Landes sehen, dass der große Nutzen Serbiens innerhalb der EU viel größer ist als außerhalb. Und diese Zweifel oder diese Dichotomie zwischen entweder "wir gehen nach Brüssel" oder "wir lassen uns von Russland unterstützen oder haben engere Beziehungen zu China" – ich glaube, den meisten Leuten ist klar, dass wirtschaftliches Wohlbefinden nur noch innerhalb der EU möglich ist.Barenberg: Mit der Verhaftung von Mladić hat Serbien ja sicherlich eine wichtige Voraussetzung erfüllt auf dem Weg in die Europäische Union. Ist aber das Land reif für den Beitritt mit Blick auf all die Kriterien und Anforderungen, die die Gemeinschaft nun mal stellt?Bohnet: Also der Annäherungsprozess und Beitrittsprozess für die EU ist ja sehr abgestuft worden in den letzten Jahren, er ist in gewisser Hinsicht auch sehr bürokratisch geworden, und es gibt eine immer stärkere Konditionalität, das heißt, werden diese Kriterien umgesetzt, kommt der Kandidatenstatus, werden andere Kriterien weiter umgesetzt, kommen da die Beitrittsverhandlungen. Insofern denke ich hat der Präsident Tadić ja deutlich gemacht, dass er jetzt erwartet, dass der Kandidatenstatus und dann auch die Beitrittsverhandlungen für die EU beginnen. Es ist normalerweise ein Prozess der Beitrittsverhandlungen, der recht lange dauert. Man sieht das jetzt auch am Beispiel von Kroatien, man muss da mit fünf oder sechs Jahren rechnen. Zuerst aber geht es wirklich darum, den Kandidatenstatus zu erhalten, und dann die Gespräche zu beginnen. Die EU hat bis jetzt deutlich gemacht – und das haben auch westliche und deutsche Politiker gemacht –, dass es nicht nur um die Auslieferung Mladićs geht, sondern es geht vor allem auch um Reformen, vor allem in der Justiz, aber auch in der Administration, aber auch in der Wirtschaft und der Politik, sodass ich denke: Auf jeden Fall hat Serbien jetzt einen großen Schritt nach vorne gemacht, aber es gibt noch mehrere Kriterien, die erfüllt sein sollten, und da geht es vor allem noch um die Umsetzung von Gesetzen und nicht nur um die Verabschiedung der Gesetze, wo Fortschritte zu sehen sein müssen bis zum Sommer, damit man wirklich ruhigen Gewissens den Kandidatenstatus an Serbien verleihen kann.Barenberg: Das heißt, Herr Bohnet, Sie machen da noch, was den Beitrittsstatus oder den Status als Beitrittskandidat angeht, da machen Sie noch ein Fragezeichen?Bohnet: Also ich denke: Beurteilt man das objektiv, sollte man wirklich noch mal auch den Serben deutlich machen, dass jetzt in den letzten Wochen, bevor es dann dazu kommt, die Beurteilung zu schreiben, wie weit ist Serbien gekommen, noch mal verstärkte Anstrengungen gerade im Bereich Rechtsstaat macht, zum Beispiel auch mithilfe von den Erkenntnissen, die man durch die Festnahme von Mladić hat, dass man alte Strukturen aufdeckt, dass man die Unabhängigkeit der Justiz weiter festigt, die bis jetzt immer noch unter politischem Einfluss ist, dass die Rechtsprechung und auch vor allem die Rechtsstaatlichkeit, die Prinzipien eingehalten werden. Da gibt es noch große Defizite. Man hat die Erfahrungen in Kroatien, dass das auch das schwierigste Kapitel in den Verhandlungen ist, das heißt: Je mehr auch vorher noch geregelt wird und die Kriterien schon erfüllt werden, desto einfacher werden vielleicht auch die Gespräche werden, die sowieso lange dauern, vor allem, weil es natürlich noch die zusätzliche Frage gibt, wie die Normalisierung mit Kosovo bewerkstelligt werden kann, denn nur so, mit gutnachbarlichen Beziehungen, kann Serbien später in die EU eintreten.Barenberg: Das heißt, ohne eine Anerkennung eines unabhängigen Kosovo, auch ohne klaren und verbindlichen Verzicht auf Gebietsansprüche ist es undenkbar, dass Serbien in die EU kommt?Bohnet: Auch hier muss man wieder ein bisschen vorsichtig formulieren: Ich glaube, den meisten Leuten in Europa ist klar, dass momentan es unwahrscheinlich ist und auch unmöglich ist für die Serben, innerhalb so kurzer Zeit nach der Unabhängigkeitserklärung den Kosovo offiziell anzuerkennen. Aber was gefordert wird, ist, dass die Beziehungen normalisiert werden, dass es einen pragmatischen Umgang mit den Nachbarn gibt, dass eine Lösung gefunden wird für alltägliche Probleme wie zum Beispiel Katasterwesen oder Mobilfunk innerhalb Kosovos, dass da, sagen wir mal, nicht nur die Kosovaren, sondern auch die Minderheit der Serben, die dort lebt, ein ordentliches Leben führen kann, aber gleichzeitig, dass, wie gesagt, die Beziehungen normalisiert werden, denn zum Beispiel momentan können Kosovaren mit kosovarischen Pässen nicht oder nur in Ausnahmefällen nach Serbien einreisen, was natürlich zwischen Nachbarn vor allem in Europa heutzutage kaum denkbar ist.Barenberg: Henri Bohnet, er leitet das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bohnet!Bohnet: Sehr gerne!Links auf dradio.de:"Aktuell" vom 31.05.2011: Serbien überstellt Mladic nach Den Haag - Auslieferung an UN-Kriegsverbrechertribunal"Aktuell" vom 26.05.2011: Serbischer Kriegsverbrecher Mladic ist verhaftet - Regierungschef Boris Tadic bestätigt Festnahme"Aktuell" vom 26.05.2011: Ein Schritt in Richtung EU-Beitritt - Viel Lob für Serbiens Regierung nach Mladic-Festnahme
Henri Bohnet im Gespräch mit Japser Barenberg
Serbien ist nach der Verhaftung des früheren bosnischen Serbenführes Ratko Mladic auf einem guten Weg, früher oder später den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten. Doch weitere Voraussetzungen seien zu erfüllen, meint Henri Bohnet von der Konrad-Adenauer-Stiftung.
"2011-06-03T06:50:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:02.668000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auf-jeden-fall-hat-serbien-jetzt-einen-grossen-schritt-nach-100.html
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Fehler der Vergangenheit werden nachwirken
Der FC Bayern München wird zukünftig nicht mehr mit dem Ärmelsponsor Qatar Airways auflaufen. (IMAGO / MIS / IMAGO / Bernd Feil / M.i.S.) Es ist auf dem ersten Blick tatsächlich eine überraschende Entscheidung: Die Partnerschaft des FC Bayern München mit Qatar Airways wird nicht verlängert. Das ist zunächst einmal ein Erfolg für die Ultras, die besonders engagierten Fans. Sie haben seit Jahren hart dafür gekämpft. Sie haben mit Plakaten im Stadion die Vereinsführung kritisiert, haben Podiumsdiskussionen veranstaltet, haben das Thema auf Mitgliederversammlungen angesprochen. Es war vorbildliche Arbeit kritischer Fans und Vereinsmitglieder. Der FC Bayern hat in den vergangenen Jahren hingegen mehrere taktische und strategische Fehler gemacht. Fehler, die nachwirken werden. FC Bayern zu Dialog mit Fans gezwungen Zunächst hatte der Verein versucht, die eigenen Fans zu ignorieren – bei den Podiumsdiskussionen bleibt der Platz des Clubs leer, trotz Einladung. Als Bayern-Fan Michael Ott dann 2021 einen Anti-Katar-Antrag auf der Mitgliederversammlung einbringen will, versucht der Verein alles, um das zu verhindern. Am Ende schneidet Präsident Herbert Hainer den kritischen Stimmen sogar das Wort ab. Er wird daraufhin ausgepfiffen und angebrüllt – von den eigenen Fans. Spätestens hier wird klar: Die Frage „Menschenrechte oder Geld?“ beantworten die Ultras anders als die Vereinsführung. Auch wenn der FC Bayern ein halbes Jahr später einen sogenannten Round Table veranstaltet, mit Vertretern des Vereins, von Menschenrechtsorganisationen, mit Vertretern aus Katar und mit Fans. Eine wirkliche Debatte entsteht nicht, auch, weil der FC Bayern gerne mit PR-Stanzen versucht, eigenes Nichtstun zu überdecken. Menschenrechtsorganisationen kritisieren Partnerschaft Der FC Bayern hatte ganze fünf Jahre Zeit, die Partnerschaft mit Qatar Airways dafür zu nutzen, in Katar Gutes zu tun. Fünf Jahre hat der Verein nicht mal das Nötigste getan. Das Frauen-Team hat Schulen besucht und mit weiblichen Teenagern trainiert. Das Männer-Team hat aber bis heute keinerlei derartige Aktion absolviert, nicht einmal ein Event für die vielen Gastarbeiter veranstaltet. „Kultureller Austausch“, für den sich der FC Bayern zum Abschied in einer Pressemitteilung rühmt, sieht anders aus. Dabei hatten Menschenrechtsorganisationen dem Verein geraten: Wenn ihr so eine Partnerschaft eingeht, dann müsst ihr eure Reichweite nutzen. Die Bayern haben das nicht gemacht. Sie sind stumm geblieben und haben das Geld genommen. Katar orientiert sich jetzt in Richtung England Für Katar haben sich die 25 Millionen Euro pro Saison gelohnt. Im kritischen Zeitraum vor der Weltmeisterschaft hatte man den wichtigsten deutschen Verein durch diese Partnerschaft an seiner Seite und konnte sich darauf verlassen: Deutliche Kritik der Bayern wird es nicht geben. Jetzt ist die WM durch, der Golfstaat hat sein Ziel erreicht. Und vielleicht ist auch das der Grund für das Ende: Deutschland ist jetzt nicht mehr so wichtig. Stattdessen versucht eine katarische Stiftung, Manchester United zu kaufen. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate besitzen in England bereits Klubs. Es wäre nur logisch für Katar, das Geld in diesen Wettkampf zu stecken.
Ein Kommentar von Maximilian Rieger
Seit 2018 wurde der FC Bayern München von Qatar Airways gesponsert. Jetzt gab der Fußball-Bundesligist bekannt: Der Vertrag wird nicht verlängert. Die Fehler der Vergangenheit werden aber nachwirken, prognostiziert Kommentator Maximilian Rieger.
"2023-06-28T22:50:00+02:00"
"2023-06-29T11:23:16.570000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sport-aktuell-kommentar-zu-bayern-qatar-airways-deal-100.html
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Zu große Kita-Gruppen und zu wenig qualifizierte Erzieher
Die Bertelsmann Studie bemängelt, dass in den vergangenen Jahren zwar Kitaplätze ausgebaut wurden, aber nicht genügend in die Qualität investiert worden sei (picture-alliance/Frank Rumpenhorst/dpa) Was hat die Studie untersucht? Was sind die wichtigsten Befunde der Studie? Welche Probleme gibt es beim Personalschlüssel? Welche Probleme zeigt die Studie bei der Gruppengröße? Wie ist es um die Qualifikation des Personals bestellt? Lassen sich regionale Unterschiede festmachen? Welche politischen Forderungen leiten die Wissenschaftler aus den Befunden ab? Was hat die Studie untersucht? Die Bertelsmann Stiftung hat mit Daten des Statistischen Bundesamtes untersucht, wie es um die Rahmenbedingungen in deutschen Kinderkrippen und Kitas bestellt ist und hat die Daten 2019 mit denen aus dem Jahr 2013 verglichen. Dabei haben sie den Fokus auf den Personalschlüssel, die Gruppengröße und die Qualifikation des Personals gelegt. Denn dies seien die entscheidenen Faktoren für eine gut frühkindliche Bildung. Was sind die wichtigsten Befunde der Studie? Die Studie kommt zu einem durchwachsenen Urteil. "Der Kita-Ausbau in den vergangenen Jahren war beachtlich", sagte Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung im Dlf, "aber die Bedingungen für die pädagogische Arbeit sind vielerorts noch unzureichend". Die Gruppengrößen und der Personalschlüssel seien nicht kindgerecht. Zudem würden laut Stein Standards für die Qualifikation des Personals fehlen. Welche Probleme gibt es beim Personalschlüssel? Laut Studie steht für 74 Prozent der Kinder in den Kita-Gruppen nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung. Dabei ist der Personalschlüssel in Ostdeutschland schlechter als in Westdeutschland. In Ostdeutschland gebe es für 93 Prozent der Kinder nicht ausreichend Personal, in Westdeutschland für 69 Prozent. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in Kinderkrippen eine Fachkraft 4,2 Kinder betreuen musste. Ein Schlüssel, bei dem eine Fachkraft drei Kinder betreut, die jünger als drei Jahre sind, sei hingegen empfehlenswert. In Kindergartengruppen sollte laut den Wissenschaftlern der Bertelsmann Stiftung eine Fachkraft nicht mehr als durchschnittlich 7,5 Kinder betreuen. Im bundesweiten Durchschnitt waren es aber 8,8 Kindergartenkinder, die von einer Fachkraft betreut wurden. Welche Probleme zeigt die Studie bei der Gruppengröße? Auch die Gruppengröße lag häufig über den von den Wissenschaftlern empfohlenen Werten. Kleinkinder sollten demnach in Gruppen betreut werden, in der nicht mehr als zwölf Kinder sind. Bei Kindergartenkindern sollte sollten nicht mehr als 18 Kinder in einer Gruppe sein. Alles darüber bedeute für Personal und Kinder oft Stress. Bundesweit seien laut Studie aber rund die Hälfte aller Kita-Gruppen (54 Prozent) zu groß. Wie ist es um die Qualifikation des Personals bestellt? Bei der Qualifikation des Kita-Personals zeigt sich ein gemischtes Bild. Während in Ostdeutschland 82 Prozent der Fachkräfte eine Ausbildung als Erzieher oder Erzieherin haben, liegt dieser Wert laut Studie in Westdeutschland bei gerade einmal 66 Prozent. Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung im Dlf dazu: "Damit Fachkräfte sich mit der individuellen Entwicklung und Bildung von Kindern beschäftigen können, brauchen sie ein sehr gutes Fachwissen." Das bedeute, dass die vier- bis fünfjährige Ausbildung zum Erzieher, die notwendige Voraussetzung sei. Aber gerade in Westdeutschland arbeite laut Studie deutlich mehr Personal auf Assistenzniveau, beispielsweise als Kinderpfleger oder Sozialassistentin. Insbesondere bei einem Personalmangel steigt damit das Risiko einer niedrigeren Bildungsqualität. Lassen sich regionale Unterschiede festmachen? Zwar sind seit 2013 überall Kita-Plätze massiv ausgebaut worden, doch die Studienautoren kommen zu dem Schluss, dass dabei die Qualität zu Lasten der Quantität ging. Zwar unterscheidet sich die Situation zwischen Bundesländern deutlich, aber zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in ganz Deutschland ein massives Personalproblem gebe, so die Autoren. Es lasse sich aber sagen, "dass der Personalschlüssel eher im Westen besser sei", so Stein im Dlf. Vor allem die Bundesländer Bremen und Baden-Württemberg seien an dieser Stelle zu nennen. Bei kleinen Gruppen und der Qualifikation des Personals sei aber der Osten vorne. Welche politischen Forderungen leiten die Wissenschaftler aus den Befunden ab? "Notwendig ist eine Gesamtstrategie auf allen politischen Ebenen", sagte Anette Stein im Dlf: "Gegen diesen Personalmangel brauchen wir ein Bündnis aus Bund, Länder, Kommunen, Trägern und Gewerkschaften, die nicht nur für eine gute Ausbildung und attraktive Arbeitsbedingungen sorgen, sondern auch für eine angemessene Bezahlung." Das würde auch zusätzliche Mittel des Bundes einschließen. Quelle: Marius Gerads, Josphine Schulz
null
Zu viele Kinder werden von zu wenigen Fachkräften betreut, die zum Teil nicht über ausreichende Qualifikation verfügen - so lassen sich die Befunde der Bertelsmann-Studie zur frühkindlichen Erziehung zusammenfassen. Hier die Antworten zu den wichtigsten Fragen.
"2020-08-25T14:35:00+02:00"
"2020-08-26T15:37:23.108000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bertelsmann-studie-zu-grosse-kita-gruppen-und-zu-wenig-100.html
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"Was wir uns alles getraut haben!"
Gruppenaufnahme eines Teils der Redaktion Radio100 (Thomas-Raese) Adalbert Siniawski: West-Berlin, Ende der 80er Jahre: Ein kleiner, mutiger Radiosender schickt das erste lesbisch-schwule Programm in den Äther. In einer anderen Sendung liest der Moderator eine gefälschte Meldung über die angebliche Öffnung der Berliner Mauer - und sorgt damit bei den Hörern für große Verwirrung. Und überhaupt DDR: Regelmäßig haben Bürgerrechtler jenseits der Mauer ihr eigenes Fenster im Programm. Radio 100 hieß dieser anarchisch-politische Sender, der vor 30 Jahren als eines der ersten privaten Programme die Hörfunklandschaft in Berlin und darüber hinaus aufmischte. 1991 wurde Radio 100 nach einem Insolvenzverfahren der Stecker gezogen. Doch die Erfolgsgeschichte wird an diesem Samstag für einen Tag neu aufgelegt: Die Macher von damals bringen Radio 100 noch einmal auf Sendung. Wie das klingen wird, hören wir jetzt von Michael Neuner - früher PR-Mann und Programmgestalter-, und Manuela Kay, Moderatorin der ersten Stunde bei der lesbisch-schwulen Sendung Eldoradio. Guten Tag nach Berlin! Manuela Kay: Hallo! Michael Neuner: Hallo! Siniawski: Ja, warum etwas aus Nostalgie wiederbeleben, was längst Geschichte ist und sich erledigt hat? Neuner: Hat es sich erledigt? Das ist ja genau die Frage, weshalb wir das Ganze veranstalten. Das ist ein Rückblick, das ist für viele auch eine persönliche Frage. Es ist ein bisschen Selbstbeschauung. Es ist ein Abgleich mit der Jetzt-Zeit. Haben wir Spuren hinterlassen, wenn ja: wo? Wo wären wir heute? "Das Konkursverfahren war ie vieles bei uns auch ein Fake" Kay: Und wir waren ja auch noch gar nicht fertig. Sie haben es ja in der Anmoderation gesagt. Uns wurde der Stecker gezogen, ja! Konkursverfahren war aber - wie vieles bei uns - auch ein Fake. Wir waren faktisch gar nicht Konkurs. Es gab 1991 nämlich ganz starkes Interesse an der dann im neuen Berlin - in der boomenden kommenden Hauptstadt - an unserer Frequenz. Und wir wurden praktisch gegen unseren Willen rausgeschmissen und ein neuer Sender hat ohne Vergabeverfahren dann auf unserer Frequenz einfach weitergesendet. Und deshalb haben wir da vielleicht noch etwas aufzuarbeiten. Siniawski: Genau, aber gucken wir doch mal was es überhaupt für ein Sender war. Berlin, 1987, damals gab es im Radio auf West-Seite den US-amerikanischen Rias zu hören und die Programme des öffentlich-rechtlichen SFB - Sender Freies Berlin. Da geht Radio 100 - neben dem Sender Hundert,6 - als erstes Privatradio in Berlin On Air. Mit welcher Message und welcher Überzeugung? Kay: Unsere Ausrichtung war überschrieben mit links-alternativ. Wir waren so eine Art "taz" im Radio. Heute würde man irgendwo sagen, zwischen öko und sicherlich auch aus dieser Aufbruchsstimmung der 80er Jahre, also Friedensbewegung, Anti-Atombewegung. Wir hatten natürlich auch nicht-deutschsprachige Programme als erster Sender. Neuner: Türkisch, Kurdisch, als erste überhaupt. Kay: Also da waren wir schon sehr bewusst. Schwul-lesbisch, sehr feministisch. Wir hatten zwar diese Sendung, aber es haben alle überall mitgearbeitet. Das war ein sehr neuartiges Konzept. Wir waren sehr radikal und ich glaube, sehr weit unserer Zeit voraus. Auch - ich würde sagen - kackfrech wirklich. Wir haben uns unheimlich viel getraut. Wir hatten eine Radikalität, die mich heute noch erschreckt, wenn ich alte Sendungen höre. Was wir uns getraut haben! "Es gab keine Scheren im Kopf" Neuner: Und das ist also nicht auf den rein politischen Bereich beschränkt gewesen. Das zog sich eben auch stellvertretend für alle kulturellen Strömungen der Stadt durch das Programm. Es gab keine Scheren im Kopf - auch beispielsweise in den verschiedenen Musikredaktionen. Und das war ja dann auch so ein bisschen die Fahne, die man vor sich her trug. Die Musikredaktionen mussten keinen Bestimmungen folgen, sie konnten wirklich ausprobieren. Und wir waren als einziger Sender der Bundesrepublik als independent eingestuft, was auch dazu führte das eben die kleinen Labels, die es sich sonst gar nicht leisten konnten große andere Sendergruppen zu bemustern, gewusst haben: Bei denen werden wir gespielt, also schicken wir da auch mal eine Platte hin. Das rentiert sich, da haben wir eine Chance. Und so eskalierte das auch, im positiven Sinne. Tonregieraum bei Radio100 (Thomas Raese) Kay: Aber wenn wir Lust hatten, haben wir auch Schlager gespielt. Also alles war möglich. Es war nicht verboten in diesem Sender. Siniawski: Alles möglich. Basisdemokratisch. Gab es da überhaupt einen gemeinsamen Nenner, bei dieser sehr heterogenen Truppe. Kay: Ja und nein. Wir haben uns natürlich die Köpfe heiß geredet. Ganz klar, aber irgendwann hat auch so eine Art Pragmatismus gesiegt, weil wir waren ja keine Diskussionsgruppe oder politische Initiative. Wir mussten Sendung machen, anfangs vier Stunden, später sechs Stunden und dann schließlich 24 Stunden, rund um die Uhr. Und irgendwann mussten wir fertig werden mit dem Diskutieren und Streiten und mussten auf Sendung gehen, und das hat uns glaube ich ganz gut getan. Ich würde mal sagen der kleinste gemeinsame Nenner war: Das Rotlicht geht an - wir müssen senden. Und dann hat man sich berappelt und irgendwie erstaunlich gute Sendungen zum Teil gemacht. "Ein anarchistischer-radikaler Humor" Siniawski: Und einmal im Monat gab es dann für das Berliner Umland, also sprich die DDR damals "Radio Glasnost", in dem viele Vertreter der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu Wort kamen, weil Aufnahmen aus der DDR nach Westberlin geschmuggelt wurden. Und in einer anderen Sendung Ende Oktober 1989 hat Moderator und Filmemacher Uli Schueppel eine Fake-News verlesen, wie man heute sagen würde: "Wir müssen hier kurz mal unterbrechen. Im Nebenraum laufen die Ticker rund. Ich muss euch unbedingt die brandheißeste DPA-Meldung durchgeben.'Ost-Berlin: Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen in Ost-Berlin verlautet wurde, hat die SED-Führung in geheimer Sitzung die völlige Öffnung der innerdeutschen Grenze in beide Richtungen beschlossen.'" Siniawski: Ja, brandheiß die News. Dutzende Hörer riefen damals verwundert beim Sender an. Das war 2 Wochen, bevor die Mauer tatsächlich gefallen ist. Schueppel wurde auch wegen einer anderen Grenzüberschreitung in der Sendung wohl entlassen. Aber dennoch: Gab es damals noch diesen Freiraum für Anarchie und schwarzen Humor? Und vielleicht auch: War das Leichtsinn? Gibt es das heute vielleicht noch? Kay: Heute gibt's das nicht mehr so. Also so frisch und so unerschrocken ohne das man an die Konsequenzen denkt, gibt's das sicherlich nur noch teilweise. Also ich vermisse das auch stark. So ein anarchistischer-radikaler Humor. Neuner: Es geht ja nicht nur darum, dass wir uns inhaltlich ausgetestet haben. Wir haben ja auch mit dem kompletten Medium und den Strukturen herumexperimentiert. Wie gestaltete ich ein Radio? Wie müssen wir miteinander umgehen - wenn man vorher über Diskussionskultur spricht? Welche Maßnahmen ergreifen wir, um auch ökonomisch überleben zu können. Das war ja offen in alle Bereiche. Und diese Experimente sehe ich heute vielleicht hier und da mal ansatzweise im Internet, aber in dieser Wucht und in dieser Breite als gesellschaftliches Experiment sehe ich es nicht. "Womit kann ich die Welt verbessern?" Siniawski: Aber an den privaten Hörfunk waren damals große Hoffnungen geknüpft! Heute wissen wir, wie er sich entwickelt hat: alles durchformatiert, wenig Experimente. Ja, was ist da schief gelaufen? Kay: Naja, schief gelaufen. Es gibt natürlich immer einige wenige, die denken, sie müssten an ihre Karriere denken. Als wir loslegten mit Radio 100 haben wir alle glaube ich überhaupt nicht daran gedacht, dass wir davon leben wollen oder damit Geld verdienen. Uns war erstmal nur wichtig, dass der Sender überlebt und dass die Kosten, Miete, Technik und so ein Kram irgendwie getragen werden - über Werbung, aber dass wir selber ja auch Miete zahlen müssen und was essen, daran haben wir einfach nicht gedacht. Wir haben alle nebenbei gejobbt und dann steht heute mehr im Vordergrund: "Womit kann ich Geld verdienen?" als "Womit kann ich die Welt verbessern?" Wir hatten damals noch an erster Stelle an die Weltverbesserung, würde ich sagen. Podcast - ein bisschen autistisch Siniawski: Findet man sowas vielleicht heute bei den Podcasts, wo eben diese mutigen, schrägen und individuellen Formate eine Nische finden - von Politik über Special-Interest bis hin zu neuen Erzählformen? Kay: Also ich persönlich bin nicht so ein Fan von Podcasts, mir ist das zu unprofessionell. Das können alle machen wie sie möchten. Ich sehe das aber eher als so eine Art Tagebucheintrag. Dazu hat man sicherlich auch das Recht, aber ob man das unbedingt veröffentlichen muss, weiß ich nicht. Kreative Redaktionsarbeit bei Radio100 (Rhomas Raese) Neuner: Es ist im Gegensatz zu unserem großen Projekt irgendwie auch ein bisschen autistisch. Weil wir mussten uns ja auch im Vorfeld schon ein bisschen miteinander auseinandersetzen, bevor wir dann auf den Rest der Menschheit On Air losgelassen wurden. Kay: Und trotzdem hatten wir einen journalistischen Anspruch. Also wir hatten schon Redaktionen und Leute, die da nochmal drüber geguckt haben. Und die Radikalität innerhalb eines journalistischen Formats, das war ja das spannende an Radio 100. "Ich war dafür bekannt, sehr schlecht gelaunt zu sein" Siniawski: Am Samstag wird Radio 100 einen Tag wieder auferstehen: Wie wird das Revival klingen? Anders als damals? Neuner: Ich denke, Manuela wird sich anhören wie seinerzeit. Man kann es sich anhören auf 88,4. Wir streamen das auch auf unserer Webseite www.radio100.de. Siniawski: Da kommt der Marketingfachmann durch. Neuner: Natürlich, ich muss doch jetzt endlich mal die Werbebotschaften hier absondern. Siniawski: Aber dieselben Sendungen von damals? Kay: Zum Teil, also ich darf wirklich am Samstagfrüh mit dem Morgengrauen anfangen. Das war die Sendung immer von 7:00 bis 10:00 Uhr. Neuner: Steht hier auch als Untertitel: "Mies gelaunt am frühen Morgen", wie schon in den 80ern. "Moderation: Manuela Kay." Die Vielfalt West-Berlins Siniawski: Und worum wird es gehen, wissen Sie das schon? Kay: Ich war dafür bekannt, sehr schlecht gelaunt zu sein, während auf anderen Sendungen dann immer: "Ja, ruft uns an und ein toller neuer Tag" war das auf Radio 100 ein bisschen anders und traf glaube ich das Lebensgefühl unserer Hörerinnen und Hörer morgens um 7:00 Uhr sehr viel besser. Was gibt es zuhören? Ich freue mich zum Beispiel sehr: Wir werden ein Interview mit Walter Momper haben, der ja zum Mauerfall regierender Bürgermeister in - damals noch West-Berlin - war. Und mit dem werden wir so ein bisschen zurückblicken. Wie erinnert er sich an das anarchistische West-Berlin. Wir haben ein paar Zeitzeugen. Wir waren ja auch ein Teil dieser Schöneberger Kultur. Da Potsdamer Straße war auch so ein Biotop aus Prostitution und Straßenstrich und nebenan war ein von Lesben besetztes Haus und gegenüber türkische Imbissbuden. Und es war so ein Ökotop, was sich auch direkt im Radioprogramm wiederspiegelte, diese Vielfalt von West-Berlin damals. Siniawski: Das also am Samstag in Berlin. On Air auf UKW 88,4 und im Live-Stream auf www.radio100.de. Und im Berliner Columbia Theater gibt es am Freitag und Samstag, Diskussionen, Panels, eine Ausstellung und Party. Viel Spaß dabei, Manuela Kay und Michael Neuner. Danke. Neuner: Danke! Kay: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michaela Kay und Michael Neuner im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
Stimmen der DDR-Opposition, Straßenschalten als Sportevent, gefälschter Mauerfall: Mit einem provokanten Programm irritierte der erste private Berliner Hörfunksender Radio 100 Ende der 80er-Jahre seine Hörer und die Politik in West und Ost. Am Samstag wird das anarchisch-politische Radio für einen Tag zum Leben erweckt.
"2017-03-02T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:17:24.166000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/revival-von-radio-100-was-wir-uns-alles-getraut-haben-100.html
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Wie Fußball und Wirtschaft voneinander profitieren
Sponsoren nutzen den Fußball für PR-Kampagnen und Einflussnahme auf die Vereine (dpa / picture alliance / Daniel Sambraus) Es ist so etwas wie ein Feuilleton in Bildern. "Herzliche Willkommen zum Literarischen Quartett." Einst die Kult-Sendung mit Marcel Reich-Ranicki, hat das ZDF die Reihe wiederaufleben lassen – und in der letzten Folge, kurz Weihnachten, tauchte auf einmal auch ein Fußball-Buch darin auf. "Man muss ein Spiel auch lesen können." Christine Westermann, die einzige Frau in dem Quartett: "Es ist wunderbar geschrieben, es kommen Gedichte vor, winzige Anekdoten. Es ist einfach ein Buch..." "Zum Verschenken?" "Ja". Und der jüngste Coup einer gelebten Kooperation eines Wirtschaftsunternehmens mit einem Fußballverein. Denn das 239-Seiten-lange Werk, geschrieben von der Autoren-Nationalmannschaft, ist ein Projekt des Chemie-Konzerns Evonik. "Dieses Nischen-Buch muss man eigentlich sagen, ist innerhalb von wenigen Wochen zum bestverkauften BVB-Buch aller Zeiten geworden." Es ist eine Woche vor Heilig Abend. Markus Langer sitzt in seinem Büro im Evonik-Hochhaus. Er leitet den Bereich "Konzernmarketing und PR" des Essener Spezialchemie-Unternehmens. Aus der einstigen Ruhrkohle AG ausgekoppelt, wurde Evonik im Jahr 2007 gegründet und sollte dann an die Börse gebracht werden: "Um Evonik bekannt zu machen und Vertrauen aufzubauen in dieses neue Unternehmen, haben wir damals beschlossen, einzusteigen bei einem Fußball-Verein. Hauptsponsor werden." Eigentlich war ein Engagement beim Revier-Rivalen Schalke 04 weit gediehen, doch diese Idee zerschlug sich. Nun also Schwarz-Gelb, der BVB. Zwar schaltete Evonik zur Gründung auch eine große, klassische Werbekampagne, aber: "Was eine Werbekampagne nicht leisten kann, ist, dass sie tatsächlich über das ganze Jahr hinweg, wenn sie so wollen, ein kommunikatives Grundrauschen erzeugt und ihre Marke, das ganze Jahr über im Bild hält." Ein Plan, der aufging – und in einer nun manifestierten Kooperation mündete: Denn Evonik ist mittlerweile nicht nur Hauptsponsor, sondern auch mit knapp 15 Prozent der größte Einzel-Anteilseigner beim BVB, dem einzigen börsennotierten Erstligisten Deutschlands. Und obwohl sich Evonik nicht an den Endverbraucher richtet, macht die Kooperation mit dem BVB deutlich, welchen Wert der Fußball für Wirtschaftsunternehmen heute hat. Denn, für Marketing-Experten Langer ist klar, im weltweiten, harten Konkurrenz-Kampf zählen Kleinigkeiten – und der BVB bringt Sympathien: "Dieses emotional Wohlwollen führt zu einem bestimmten Vorsprung, den wir haben vor anderen Unternehmen, vor Wettbewerbern, in dem Moment, in dem die Beziehung zu Evonik akut wird, weil jemand einen Tätigkeit sucht, einen Job sucht, weil jemand Geld investieren will oder weil jemand in der Situation ist, dass er zwischen uns als Lieferanten und einem anderen Lieferanten entscheiden muss." Ein Beispiel: Dortmunds japanischer Mittelfeldspieler Shinji Kagawa. Durch ihn ist der BVB in Japan bekannter als Bayern München – und der Evonik-Konzern kann bei Geschäftstreffen mit Zugang zu seinem Star punkten. Exklusive und relevante Inhalte mit dem Unternehmen verbinden, eine Vorgehensweise, die auch der FC Bayern München praktiziert. So erzählte Bayern-Trainer Pep Guardiola in einem Interview, warum er einst beim FC Barcelona aufhörte. Das Gespräch wurde weltweit zitiert, doch Guardiola gibt großen Zeitungen und Zeitschriften keine Einzelinterviews. Das Gespräch erschien im Geschäftsbericht des Audi-Konzerns, einem Anteilseigner der FC Bayern München AG. "Man muss sich die Fakten angucken: Sponsoring und die Investitionen in Sponsoring steigen von Jahr zu Jahr, insofern muss man konzedieren: Es macht für die Unternehmen Sinn." Philipp Klotz ist Geschäftsführer des "Sponsors"-Verlag und langjähriger Beobachter der Branche. Alleine das Volumen des Trikotsponsorings in der laufenden Bundesliga-Saison liegt bei rund 165 Millionen Euro. Dazu kommen noch Namensponsoring der Stadien, Banden-Aufdrucke, Klub-Partnerschaften oder eben auch Investoren wie Evonik. In den vergangen sechs Jahren sind die Investitionen im Sponsoring um über 50 Prozent gestiegen. Die Idee dahinter bleibt simpel: Man gibt Geld – und bekommt das Recht auf eine Partnerschaft. Der Ursprung solcher Initiativen geht unter anderem auf das Jahr 1973 zurück, in dem mit Eintracht Braunschweig erstmals ein Fußball-Bundesligist mit einem Trikotsponsor auflief. Ein Gegner von damals, der 1. FC Köln mit dem späteren Weltmeister Wolfgang Overath, der sich an diese Zeiten erinnert: "Da gab es kaum Leute aus einer anderen Ebene, Vorstandsvorsitzende oder so, die sich um Fußball gekümmert haben. Wenn sich heute der Vorstandsvorsitzende nicht über Fußball unterhalten kann, dann hat er ein Problem." Und diesem Trend können sich nur wenige entziehen: Die Telekom, Adidas, Audi sowie die Allianz sind mittlerweile Anteilseigner der FC Bayern München AG, des Branchenprimus. Und dieser Weg sich Anteil zu kaufen, macht aus Sicht von Sponsoring-Experten Klotz auch Sinn: "Wenn ich Gesellschafter und Anteilseigner eines Klubs bin, dann ist es natürlich auch sehr naheliegend, dass der Klub, der mir zu gewissen Teilen gehört ja nicht mit meinem Konkurrenten Kooperationen macht." Eine Vorgehensweise, die Evonik-Mann Langer unterschreiben würde, die aber für beide Seiten gilt: "Dass wir natürlich zum einen dafür sorgen müssen, dass der BVB auch in der Lage ist, Wettbewerbsfähig zu spielen, also auch eben eine bestimmte Sicherheit über einen längeren Zeitraum. Zum anderen, dass wir gesagt haben, wir müssen dieses Investment, das wir dort tätigen, auch absichern, in dem wir uns selbst an dem Verein beteiligen." Noch sind dies – zumindest nach der sogenannten 50+1-Regel, nach der Investoren nicht die Stimmmehrheit in einem Klub in der ersten und zweiten Fußball-Bundesliga übernehmen dürfen – Minderheitsbeteiligungen. Doch dieses Konstrukt – ohnehin ausgehöhlt durch sogenannte Werksvereine aus Leverkusen und Wolfsburg – wackelt. Sollte RB Leipzig, ein Kunst-Konstrukt von "Red Bull", so wie es aussieht, den Aufstieg ins Oberhaus schaffen, würde dies den Trend noch verstärken. Und gerade "Red Bull" steht wie kein anderer Konzern dafür, sein Produkt mit Sport zu verbinden. Auch "Sponsors"-Geschäftsführer Klotz sieht darin – siehe Evonik-Buch oder Audi-Geschäftsbericht – die Zukunft im Kampf um Aufmerksamkeit: "Also diese Idee zu implementieren, die aber dann auch über andere Kommunikationskanäle zum Leben zu erwecken, dass ist sicherlich die höchste Form des Sponsorings und die große Kunst." Es ist ein lukratives Wechselspiel, dessen Ende noch nicht in Sicht ist. Das sieht nicht nur Sponsoring-Experte Klotz so, sondern auch der Manager der Nationalmannschaft, Oliver Bierhoff. Der sagte einst bei seiner Vertragsverlängerung: "Ich sehe noch keine Sättigung für die Marke der Nationalmannschaft. Ich sehe noch keine Sättigung für den Fußball." Die Rhetorik der Wirtschaft, sie ist also längst auch im Fußball angekommen.
Von Moritz Küpper
Fußball ist in Deutschland allgegenwärtig. Mit den Vorwürfen um die WM 2006 wurde einer breiten Öffentlichkeit deutlich, wie machtbewusst und interessengeleitet der Fußball und seine Institutionen agieren. Eine Serie der DLF-Sportredaktion über Fußball in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft. Teil 2: Das lukrative Wechselspiel zwischen Fußball und Wirtschaft.
"2016-01-01T00:00:00+01:00"
"2020-01-30T13:16:44.087000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serie-blinde-liebe-wie-fussball-und-wirtschaft-voneinander-100.html
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Brauner als gedacht
Karteikarten und Akten werden nach Namen von Mitarbeitern durchforstet, um sie auf eine Mitgliedschaft in der NSDAP zu überprüfen. (picture-alliance / dpa / Soeren Stache) "D, E, ... so, bald sind wir an der Stelle, R, S, T ... kurz zurück." Franziska Kuschel starrt angestrengt auf den kastenförmigen Monitor. Vergilbte Karteikarten rauschen über den Bildschirm. Sie stammen aus der Mitglieder-Kartei der NSDAP, wurden einzeln abfotografiert und lagern heute als Mikrofilme im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Kuschel sucht in diesen Karteikarten nach Namen von Mitarbeitern des Innenministeriums der DDR. Die Historikerin möchte wissen, ob sie vor 1945 in der NSDAP waren. "Altdeutsche Schrift, aber das ist zumindest der richtige Vorname, jetzt gleiche ich noch das Geburtsdatum ab." Kuschel gehört zum Team der acht Wissenschaftler, das seit einigen Wochen die Geschichte des Bundesinnenministeriums aufarbeitet. NS-Belastung in DDR und BRD untersucht In dieser ersten Phase des Forschungsprojekts wollen sie herausfinden, wie hoch die NS-Belastung unter den Mitarbeitern der 50er-, 60er- und 70er-Jahre war. Dass sich die Historiker dabei nicht nur dem westdeutschen Innenministerium widmen, sondern auch dem der DDR, ist ungewöhnlich. Die meisten anderen Kommissionen dieser Art konzentrieren sich ausschließlich auf die Behörden der Bundesrepublik. Wie viele Nationalsozialisten im DDR-Innenministerium saßen, wissen die Forscher noch nicht. Zwei Dinge sind aber abzusehen, sagt Frank Bösch, Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung und einer der Leiter der Studie: "Generell können wir davon ausgehen, dass die NS-Belastung in der DDR geringer war als in der Bundesrepublik. Hier zählte natürlich viel stärker eine kommunistische Vergangenheit oder sozialistische Vergangenheit. Aber, was sich auch schon abzeichnet, ist, dass die NSDAP-Belastung im Innenministerium der DDR deutlich höher war, als wir das bisher kennen." Und für das BRD-Innenministerium spricht Bösch sogar von einer "markanten" NS-Belastung in vielen Bereichen. Ganz anders klang das noch vor zehn Jahren aus dem Mund des damaligen Innenministers Otto Schily von der SPD. Außenminister Joschka Fischer hatte gerade die Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes veranlasst. Schily erkannte darin kein Vorbild: "Ich habe keine Veranlassung, eine historische Untersuchung vorzunehmen, die dem Eindruck dann Vorschub leistet, dass es hier eine Kontinuität gibt; dann wird wieder unterstellt, als ob die Bundesministerien eine nationalsozialistische Vergangenheit hätten." Nachzügler: Geschichte vieler Ministerien bereits aufgearbeitet Als der Bericht fürs Auswärtige Amt vorlag, gab es tatsächlich einigen Ärger. Diplomaten fühlten sich an den Pranger gestellt, sprachen gar von Verleumdung. Seitdem ist viel passiert: Fast alle wichtigen Bundesministerien und sogar die Geheimdienste lassen inzwischen die Archive durchforsten. Die Ergebnisse sind unterschiedlich. Im Justizministerium arbeiteten sehr viele Nazis. Und das hatte Folgen: So konnten Kriegsverbrecher, die im Ausland strafrechtlich verfolgt wurden, mit intensiver Hilfe aus dem Ministerium rechnen. Beim Verfassungsschutz hingegen entdeckten die Historiker keinen prägenden Einfluss früherer Nationalsozialisten. Das Innenministerium hinkte in Sachen Aufarbeitung lange hinterher, obwohl es eines der Schlüsselministerien der jungen Bundesrepublik war. Historiker Frank Bösch: "Das Innenministerium hatte damals noch eine viel größere Kompetenz als es heute der Fall ist. Es war zum Beispiel auch für die Gesundheitspolitik, für die Sozialpolitik verantwortlich, aber auch beispielsweise für die Medienpolitik, also die Fragen der Filmzensur und schließlich für Bereiche, die nach 1945 besonders zentral waren und besonders sensibel zu behandeln waren, wie zum Beispiel die sogenannten Belange des Judentums." So entschied das Innenministerium über Entschädigungen für Juden und andere Verfolgte im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachungspolitik. Erste Ergebnisse für November erwartet - Kanzleramt fehlt noch Politiker der Opposition begrüßen diese Aufarbeitung, deren erste Ergebnisse im November vorliegen sollen. Doch finden Linke und Grüne, eine ganz wichtige Behörde fehle noch: das Bundeskanzleramt. "Das Kanzleramt war natürlich die Schaltstelle der Bundesrepublik, in der damals entschieden wurde, dass eine Rückkehr der alten Eliten aus Wirtschaft, Staat, Polizei und Justiz gewollt ist. Deswegen ist das Kanzleramt eigentlich, wenn wir die Institutionen und Ministerien kritisch aufarbeiten wollen, in gewisser Weise ein Schlusspunkt, weil es die zentrale Stelle damals gewesen ist, wo diese Politik entschieden, flankiert und durchgesetzt wurde," sagt Jan Korte, Vize-Vorsitzender der Linken im Bundestag. Seine Fraktion verlangt eine unabhängige Historikerkommission auch für das Kanzleramt. Das allerdings schweigt bislang zu dieser Forderung. Die Aufarbeitung der NS-Lasten nach 1945 in BRD und DDR, die Suche nach ehemaligen Nazis in den Ministerien beider Staaten, sie hat noch lange kein Ende gefunden. Das zeigt das mühsame Schaffen von Franziska Kuschel im Bundesarchiv: "Ja, also jetzt sehen wir hier, der Betreffende hat keinen Treffer in der Datenbank, das heißt, mit hoher Wahrscheinlichkeit war er nicht in der NSDAP." Heute ist die Historikerin nicht fündig geworden. Auf ihrer Liste setzt sie hinter den Namen des gesuchten Mitarbeiters des DDR-Innenministeriums das Wörtchen "nein". Einen hat Kuschel damit abgehakt, hunderte weitere warten noch auf sie.
Von Änne Seidel
Ein Team von acht Wissenschaftlern arbeitet seit einigen Wochen die Geschichte des Innenministeriums - von West und Ost - auf. Viele Akten und Karteikarten warten noch auf ihre Auswertung. Aber eines ist bereits absehbar: Das BRD-Ministerium war von einer "markanten" NS-Belastung in vielen Bereichen geprägt.
"2015-03-05T19:15:00+01:00"
"2020-01-30T12:25:02.739000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-des-innenministeriums-brauner-als-gedacht-100.html
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Zur näheren Zukunft der Kunstakademien
Wie die Kunst sich zum Phänomen der Superkunstjahre verhält, überlegt Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Essay. Für ihn vollzieht sich ein Schisma in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Ein Schisma - das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen. Schließlich nehmen sich die Kunstwelten gegenseitig kaum noch wahr. Welche Konsequenzen hat das für die Kunstakademien? Wird das Ideal einer Autonomie der Kunst preisgegeben? Wolfgang Ullrich, geboren 1967, war Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG in Karlsruhe. Er ist Autor zahlreicher Bücher wie "Was war Kunst?" (Fischer Verlag) und dem zuletzt erschienenen "Siegerkunst" (Wagenbach Verlag). Er lebt in Leipzig. Der gesamte Beitrag zum Nachlesen: Ein Schisma vollzieht sich in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr. Das nächste Superkunstjahr soll im Jahr 2027 stattfinden. Auch dann wird es wieder, wie alle zehn Jahre, gleichzeitig eine Documenta, eine Biennale in Venedig und Skulpturenprojekte in Münster geben, zudem natürlich eine Art Basel und zahllose weitere Messen, Biennalen und Events. Aber es scheint mir noch nicht sicher, ob man 2027 wieder von einem Superkunstjahr sprechen wird - so wie man es in diesem Jahr tut und wie man es vor zehn Jahren, 2007, tat. (1997, vor 20 Jahren, war dieser Begriff, wenn ich mich richtig erinnere, noch nicht gebräuchlich, er ist also ziemlich jung und unverbraucht.) Die Rede vom Superkunstjahr entstand, als die bildende Kunst es immer häufiger auf Titelseiten und in die Hauptnachrichten geschafft hatte und nicht länger nur eine Sache von Brancheninsidern war. Vielmehr sorgten der langanhaltende Boom auf dem Kunstmarkt sowie die immer noch größeren kuratorischen Großereignisse dafür, dass die bildende Kunst mehr und breitere Aufmerksamkeit als früher erhielt und überhaupt erst mit Attributen wie super assoziiert werden konnte. Auf der Art Basel wurde in diesem Jahr nach Auskunft der Händler fast eine Milliarde Euro umgesetzt und bei der Documenta hofft man, erstmals mehr als eine Million Besucher zählen zu können. Und ob es um einen Auktionsrekord für ein Gemälde oder um die fotogensten und schrillsten Werke einer Biennale geht: Bildende Kunst ist ein Sujet der Massenmedien geworden; mittlerweile gibt es Starkünstler, Stargaleristen und Starkuratoren, Großsammler und Großausstellungen. Nur Großkritiker gibt es nicht. Ist das Kunst? Doch sind es genau diese Veränderungen, die bei mir Zweifel wecken, ob in zehn Jahren nochmals ein Superkunstjahr ausgerufen wird. Selbst und gerade wenn die Preise auf Großmessen noch höher und die kuratorischen Botschaften auf Großereignissen noch lauter und politischer als heute sein sollten, könnte es sein, dass niemand mehr ein Superkunstjahr erkennen kann. Und dies aus dem einfachen Grund, dass eine Documenta und eine Art Basel - allgemeiner: ein kuratorisches und ein kommerzielles Event - nicht mehr gleichermaßen als Kunstveranstaltungen wahrgenommen werden. Tatsächlich scheint mir vorstellbar, dass innerhalb der bildenden Kunst ein Schisma stattfindet, weil sich all das, was bisher noch unter Kunst gefasst werden konnte, immer weiter auseinanderentwickelt. Ein Schisma - das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbstständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen. Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier) Schon jetzt zeugt es eher von Gewohnheit und Trägheit als von Sinnhaftigkeit, dass die in diesem Superkunstjahr in der Fondation Pinault in Venedig ausgestellten neuen Arbeiten von Damien Hirst - künstlich patinierte Bronzen, die antike Schätze simulieren und viel eher an Requisiten aus Fantasy-Filmen denn an etwas aus der Kunstgeschichte erinnern - genauso Kunst sein sollen wie Workshops für Flüchtlinge, die Ólafur Elíasson als Biennale-Teilnehmer in derselben Stadt ausrichtet und in denen Lampen gebastelt und zusammen mit NGOs Vorträge und Diskussionen zu aktuellen Themen veranstaltet werden. Wer von außen auf beides blickt und die jeweiligen Entstehungsprozesse und Hintergründe analysiert, käme nie auf die Idee, es demselben Genre - und dann gerade noch Kunst - zuzuordnen. Es gibt auch bereits etliche Statements, die später vielleicht einmal als Prophezeiungen eines Kunst-Schismas gewürdigt werden. So sieht Massimiliano Gioni, der 2013 selbst künstlerischer Leiter der Biennale in Venedig war, in der Hirst-Ausstellung sowie in der zeitgleich eröffneten Athener Ausgabe der Documenta "ein Musterbeispiel für das Auseinanderdriften der divergierenden Auffassungen von Kunst". Diese charakterisiert er folgendermaßen: "Auf der einen Seite Celebrity Culture, Markt, visuelle Unterhaltung, auf der anderen eine Idee von Kunst als Politik und Engagement, die nicht ganz frei ist von einem Übermaß an Moralismus und Widersprüchen." Voraussetzung für ein Schisma ist allerdings, dass jeweils einflussreiche Auffassungen von Kunst sich nicht nur stark voneinander unterscheiden, sondern dass das, was nach einer Auffassung große Kunst ist, nach einer anderen ausdrücklich keine Kunst ist. Dann kommt es im nächsten Schritt dazu, dass etwas allein deshalb, weil die einen es als Kunst begreifen, für die anderen keine Kunst mehr sein kann. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis konträre Fraktionen sich entweder gegenseitig aus dem Kunstbetrieb auszuschließen versuchen oder bis eine Fraktion sich unter einem neuen Begriff sammelt oder sich zumindest nicht mehr darum schert, ob ihre Vertreter noch mit Kunst assoziiert werden. Bereits 2013 war die Rede von einem "kalten Krieg" Nach Tim Sommer, dem Chefredakteur des Kunstmagazins "Art", zeichnet sich eine Konfliktsituation bereits ab. So stellt es für ihn einen "absurden Mechanismus des Kuratorenzeitalters" dar, dass mittlerweile "kommerzieller Erfolg [...] eher hinderlich" für Künstler sei, die es auf eine Biennale oder Documenta schaffen wollen. Sie gelten als korrumpiert, denn soweit sie eine marktaffine Siegermentalität besitzen, spricht man ihnen die Fähigkeit ab, sich in Minderheiten oder unterprivilegierte Milieus hineinversetzen und damit eine Kunst machen zu können, die den gesellschaftspolitischen Ansprüchen der meisten Kuratorinnen und Kuratoren genügt. Umgekehrt scheinen aber auch die Zeiten vorbei, als die Teilnahme an einer Documenta den Weg zu guten Galerien und großen Messen bahnte und fast zwangsläufig in Markterfolg mündete. Vielmehr werden bei etlichen kuratierten Events gezielt Künstlerinnen und Künstler bevorzugt, die mit Performances, partizipativen Projekten oder temporären Installationen arbeiten und gar keine kommodifizierbaren Werke im Angebot haben, als Optionen für Sammler und Anleger also von vornherein ausfallen. Dr. Robert Fleck, Intendant (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland) Der Kunsttheoretiker und Kurator Robert Fleck sprach bereits 2013 ziemlich drastisch von einem "kalten Krieg", der zwischen den Vertretern einer Kunstmarktkunst auf der einen Seite und den Repräsentanten der Welt der Biennalen sowie der Kunstvereine auf der anderen Seite herrsche. Dass dieser Krieg nicht nur kalt ist, sondern auch still und kaum sichtbar stattfindet, dürfte vor allem dem konservativen Charakter von Institutionen zuzuschreiben sein. So widmen sich Magazine wie "Art" trotz Einsicht in das Auseinanderdriften und die Unvereinbarkeit verschiedener Kunstauffassungen weiterhin allem, was im Kunstbetrieb passiert. Viele Museen und Ausstellungshäuser versuchen ebenfalls, millionenschwere Kunstmarktstars genauso wie unkommerzielle Kunstaktivisten im Programm zu haben - sie fühlen sich für alle zuständig, die, wo auch immer, im Namen der Kunst halbwegs erfolgreich auftreten. Und Kunsthochschulen sortieren unter den Bewerbungen ebenfalls nicht von vornherein einzelne aus, nur weil sie ein bestimmtes Verständnis von Kunst erkennen lassen. Grundsätzlich kann man ebenso einen Studienplatz bekommen, wenn man angibt, man wolle mit der Kunst reich und berühmt werden, wie wenn man sich mit der Begründung bewirbt, man sei gegen den Kapitalismus und strebe an, mit den Mitteln der Kunst die Gesellschaft zu verändern. Doch wie lange werden die Institutionen ihre Allvertretungsansprüche noch wahren können und wahren wollen? Was also sollte dafür sprechen, dass Kunsthochschulen auch weiterhin das gesamte Spektrum an Kunstauffassungen abdecken wollen und können? Tatsächlich werden sie vielleicht sogar die ersten Institutionen sein, in denen sich das Schisma der Kunst manifestiert. Da sie sich im Wettbewerb untereinander befinden, stehen sie ohnehin unter dem Druck, jeweils ein möglichst markantes, unverwechselbares Profil auszubilden. Was läge daher näher, als sich auf die eine oder andere Art von Kunst zu spezialisieren? Denkbar ist ein globales Schullabel Aber unabhängig davon könnte der erste Schritt in Richtung eines Schismas auch von privater Seite kommen. Denkbar ist etwa, dass Damien Hirst oder Takashi Murakami, die beide schon seit längerem jüngere Künstlerinnen und Künstler mit ihren Firmen vertreten, ihr Business weiter professionalisieren, indem sie eine eigene Ausbildung anbieten. Sie könnten sich dafür mit Prominenz aus anderen Luxusbranchen zusammentun - mit dem Unternehmer und Sammler Steven A. Cohen oder dem Modeschöpfer Jean Paul Gaultier - und ein globales Schullabel gründen, das den Zweck verfolgt, den Studierenden beizubringen, welche Interessen und Mentalitäten die Superreichen in den verschiedenen Kulturen besitzen. So wäre es besser als bisher möglich, Möbel, Skulpturen, Teppiche, Geschirr, Bilder, Schmuck, Wohnaccessoires, Yachten, Kleidung, Uhren und Events speziell für diese Zielgruppe zu entwickeln. Die Schule könnte Filialen in New York, Tokyo, Shanghai, London, Paris, Berlin und Dubai haben; vielleicht wäre sie im Franchise-System organisiert, um den einzelnen Niederlassungen Spielraum für kulturspezifische Ansprüche zu lassen. In jedem Fall gäbe es eine mehrjährige Spezialausbildung, die Studiengebühren betrügen eine mittlere sechsstellige Summe, es würden aber auch einige Stipendien ausgelobt. Mit einer Reihe namhafter Gastdozenten würde man die Studierenden auf ihre spätere Tätigkeit vorbereiten; man könnte also etwa Mike Meiré, Katharina Grosse, Marc Jacobs, Wade Guyton und Gigi Hadid verpflichten. In Veranstaltungen würde man sich mit der Geschichte der Auftragskunst befassen, Zeremonialwissenschaft, Luxustheorien und Ökonomien der Verschwendung lehren und erforschen, wie sich die Distinktionskraft von Statussymbolen steigern lässt. Eine solche Schule führte nicht nur schlagartig zu einer Verringerung der Bewerberzahlen an staatlichen Kunstakademien, sie bestärkte diese wohl auch darin, sich ihrerseits zu spezialisieren. Freiwerdende Professuren, die bisher Malerei oder Bildhauerei gewidmet waren, würden immer häufiger neu definiert. Sie hießen nun vielleicht "Raum und Körper", "Artivismus", "Temporäre Installation" oder "Partizipative Strategien". Und es gibt, dazu passend, vermehrt Seminare über die Geschichte kuratierter Kunst, vermittelt werden Kenntnisse in Crowdfunding und zum Verfassen von Projektanträgen, die Studierenden lernen viel über Formen politischer Ästhetik sowie über Stilmittel der Provokation und des Widerstands. Und natürlich ist man darum bemüht, bekannte Kuratorinnen und Kuratoren ebenso für Lehraufträge zu gewinnen wie Vertreter von NGOs und Aktivistengruppen. Schon bald wird es nicht mehr möglich sein, ja kommt wohl auch niemand mehr auf die Idee, von einem Hochschultyp zum anderen zu wechseln. Vor allem wird unübersehbar sein, dass es für den Erfolg in der Welt exklusiv-teuren Lifestyles ganz andere Begabungen braucht als dafür, zu einer Biennale oder Documenta eingeladen zu werden und dort mit einer politisch brisanten Arbeit aufzufallen. Muss man im einen Fall wie oder, noch besser, als ein Unternehmer auftreten, smart und polyglott sein und über die Kondition verfügen, einem globalisierten Business standzuhalten, so ist im anderen Fall die Fähigkeit gefragt, theoretische Texte und kuratorische Konzepte zu rezipieren; ferner muss man Spaß daran haben, site specific zu arbeiten und gut kommunizierbare Projekte zu entwickeln. Die staatlichen Kunsthochschulen werden versuchen, sich ihrerseits möglichst klar voneinander zu unterscheiden - und dies umso mehr, wenn der Wettbewerb unter ihnen infolge der sinkenden Bewerberzahlen noch weiter zunimmt. Manche werden Künstler und Kuratoren konsequent zusammen ausbilden, andere werden die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst durchlässig machen und Klassen für Bildhauerei auch für Designer öffnen (und umgekehrt) oder ihr Lehrprogramm insgesamt einem Begriff wie Inszenierung unterstellen, womit alles von Rauminstallation bis Webdesign grundsätzlich gleichberechtigt behandelt wird. Kaum noch Kunst, die einfach nur Kunst sein will Die verschiedenen Veränderungen könnte man damit zusammenfassen, dass mit ihnen das Ideal einer Autonomie der Kunst preisgegeben wird. Vielmehr verspricht man sich mehr Relevanz, wenn man die Kunst mit anderen Bereichen verbindet und mit deren gesellschaftlichen Funktionen anreichert. Tatsächlich hat sie die große und breite Aufmerksamkeit, die ihr seit rund zwei Jahrzehnten zukommt und die nicht zuletzt zu Begriffen wie Superkunstjahr geführt hat, ebenfalls vor allem einer Aufladung mit Bedeutungen zu verdanken, die von außen an sie herangetragen werden. So wirkt sie entweder stark und provokant, weil sie viel mehr kostet als nahezu alles andere, ja weil sie vor allem anderen Macht und Reichtum repräsentiert und die Sieger der Gesellschaft unterstützt - oder weil sie aktuelle und brisante Themen verhandelt und damit sogar gezielt in politische Diskurse eingreift. Klimawandel, Flüchtlingskrise, Armut, Nahrungsmittelspekulation, Nachhaltigkeit - das alles sind auf einmal Sujets gerade auch der Kunst. Röhren Flüchtlinge Installation Hiwa K documenta 14 (Thomas Fuchs) Für viele markiert es einen Bedeutungszuwachs der Kunst, dass sie so viel Anschluss an die reale Welt - an Geld und Politik - gefunden hat. Ein Skeptiker hingegen könnte die Frage stellen, ob es nicht auch von einem Misstrauen gegenüber der Kunst oder gar von einer Schwäche zeugt, wenn externe Kriterien wie ihr Preis oder die politische Aktualität maßgeblich dafür sind, ob und wie sehr eine künstlerische Arbeit überhaupt Beachtung findet. Und heißt das nicht umgekehrt, dass Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeit weiterhin an kunstspezifischen Kriterien ausrichten und sich um eine möglichst schlüssige Fortsetzung oder Dekonstruktion einer Form- oder Problemgeschichte bemühen, die also eher die Kunstgeschichte als den Markt und die Politik, ja eher andere Künstler als Oligarchen und Kuratoren im Blick haben, an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verlieren? In dem Maß, in dem Kunsthochschulen in den nächsten Jahren programmatisch noch weiter auseinanderdriften, wird sich aber auch die Entwicklung noch verstärken, dass Kunst an ihr eigentlich fremden Kriterien ausgerichtet wird. So sehr dadurch einigen Absolventen große Karrierechancen geboten werden, die es früher vielleicht schwer gehabt hätten, innerhalb der Kunst Erfolg zu haben, so sehr werden andere, die bisher als besonders begabt galten, kaum noch Resonanz bekommen. Wer vor allem anderen Kunst machen - Bilder malen, Videos drehen oder fotografieren - will und sich dabei darauf beruft, autonom zu sein, muss zunehmend damit rechnen, als etwas langweilig und altmodisch, auf jeden Fall aber als zu harmlos zu gelten. Wo bleibt der Thrill, ja wie will etwas cool und relevant sein, wenn es weder spektakulär teuer noch gesellschaftspolitisch akut ist? Mochten die Avantgarden daran geglaubt haben, dass es genügt, einen neuen Stil zu finden, um die Welt zu verändern, mochten viele andere, die im Namen der Kunst agierten, davon überzeugt gewesen sein, dass es vor allem darum geht, die Menschen zu läutern, zu rühren, zu verzaubern, zu erheben, so spielt das alles keine große Rolle mehr. Zumindest reicht es nicht, um Erfolg zu haben. Ein Blick auf die diesjährige - doppelte - Documenta genügt, um festzustellen, dass dort kaum noch Kunst zu sehen ist, die den Geist der Autonomie verkörpert und einfach nur Kunst sein will. Manche, so etwa die österreichische Kunstkritikerin Sabine B. Vogel, sagen sogar, es sei dort zwar "viel Engagiertes ausgestellt, Archive, Requisiten von Erlebnissen, Recherchematerial - aber kaum Kunst im kunsthistorischen Sinn". Vielleicht wird in der Tradition von Autonomie stehende Kunst, die es nach wie vor gibt, nicht ausgewählt, weil sie nicht gut genug zu einem kuratorischen Konzept passt und generell als mangelhaft empfunden wird, vielleicht haben Künstlerinnen und Künstler, die sich als unabhängig begreifen, aber auch keine Lust, ja verstößt es gegen ihren Stolz und ihre Vorstellung von der Freiheit der Kunst, sich in allem abzustimmen und die eigene Arbeit dem "Regime" von Kuratoren zu unterwerfen, wie es der Kunsttheoretiker Stefan Heidenreich in einem Text formuliert, in dem er scharf mit den neuen Machthabern des Kunstbetriebs abrechnet. Man kann spekulieren, wie sich die Kunst entwickelt hätte oder welche Künstler bekannt geworden wären, hätte es schon vor 100 Jahren starke Kuratoren gegeben. Hätten sich ein Max Beckmann oder ein Piet Mondrian darauf eingelassen, ihre Werke einem kuratorischen Konzept anzupassen oder gar im Auftrag eines Kurators zu agieren? Genauso kann man fragen, ob diese - und viele andere - Künstler nicht ein Problem gehabt hätten, wären ihre Werke schon damals zu Millionenpreisen gehandelt worden, um dann zum größten Teil in Privatsammlungen zu verschwinden, in denen sie für eine breitere Öffentlichkeit höchstens gelegentlich - im Fall von Leihgaben - sichtbar sind. Hätten sie nicht zurecht die Sorge gehabt, dass man über ihre Werke nur noch spricht, weil sie teuer oder weil sie Teil eines Großevents sind, aber nicht mehr, weil in ihnen eigenständig ein Weltbild formuliert oder eine Erkenntnis gestiftet wird, wie es nur mit Mitteln der Kunst möglich ist? Außerhalb des tradierten Kunstbetriebs winkt mehr Wirksamkeit Es ist fast egal, ob es damals leichter war, als Künstler autonom zu sein, weil es noch keine so starken externen Kräfte gab, die Einfluss auf das Kunstgeschehen nahmen, oder ob diese Kräfte sich nicht entwickeln konnten, weil das Künstler-Ethos der Autonomie so unverbrüchlich feststand. Heute jedenfalls wird von Jahr zu Jahr und von Event zu Event deutlicher, dass eine als autonom verstandene Kunst zwischen zwei Polen verloren zu gehen droht, die nahezu alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und daher auch die Dynamik entwickeln, immer selbstständiger zu werden und sich zunehmend voneinander zu entfernen. Ich selbst gehörte lange Zeit zu denen, die misstrauisch auf Autonomie‑Beschwörungen reagierten und Auswüchse autonomer Bestrebungen gerne kritisierten; manches missbilligte ich als Künstlerselbstherrlichkeit und wünschte der Kunst daher etwas mehr Erdung: Orientierung an anderen Bereichen. 2007, im letzten Superkunstjahr, schrieb ich darüber, welche Zwänge es mit sich bringt, wenn Autonomie zur Norm wird, und bemängelte, dass die Ausbildung an Kunsthochschulen aufgrund des Autonomie-Dogmas zu "einseitig" sei. So werde in einem Kunststudium aus Angst vor Überfrachtung und Instrumentalisierung der Kunst "nichts vermittelt, was auch anderswo helfen könnte. Eine Akademie ist vielmehr ein Vakuum - ein Raum, in dem die Freiheit lebensbedrohliche Ausmaße angenommen hat und wo Menschen bewusst zu Idiosynkratikern erzogen werden, um den Fetisch Kunst möglichst rein zu produzieren". Heute glaube ich, dass das schon damals nicht stimmte und ich meinerseits zu einseitig in meiner Wahrnehmung war. Zu diskutieren ist also weniger darüber, wie sehr eine zum Statussymbol avancierte Autonomie der Kunst schadet, als vielmehr darüber, warum autonome Kunst nicht mehr attraktiv ist. Dass die Beurteilung von Kunst gemäß externen Kriterien kaum einmal als Problem angesehen wird, ihre Deautonomisierung also nicht etwa zu Klagen oder gar Protesten führt, belegt erst recht, wie sehr sich das Ideal der Autonomie erschöpft hat. Statt eigens über Vorzüge und Nachteile autonomer Kunst zu debattieren, teilen sich Theoretiker und Kritiker höchstens im Zuge jenes kalten Kriegs zwischen Marktkunst und Kuratorenkunst in unterschiedliche Lager auf. Dass man dabei auf wohlbekannte Unterscheidungen zwischen Liberalen und Linken, zwischen reich und arm, weiß und schwarz trifft, belebt vertraute klassenkämpferische Rhetoriken neu, doch alles, was unabhängig von diesen beiden konträren Polen ist, gerät erst recht ins Off der Aufmerksamkeit. Auf dem Gemälde "Open Casket" von US-Künstlerin Dana Schutz ist die Leiche von Emmett Till zu sehen, einem afroamerikanischen Jugendlichen, der 1955 im Alter von 14 Jahren in Mississippi von zwei Weißen ermordet wurde. (picture-alliance / dpa / Schmitt-Tegge) Beispielhaft für diese Entwicklung ist ein Streit, den ein Gemälde der US-amerikanischen Malerin Dana Schutz im Frühjahr 2017 auslöste, als es bei der Whitney Biennale in New York ausgestellt wurde. Als Vorbild dient ein berühmtes Foto, das die von Rassenhass getriebene brutale Ermordung eines schwarzen Jugendlichen im Jahr 1955 dokumentiert. Schutz übersetzte das Schwarz-Weiß-Foto in ihre gestische, farbkräftige Malerei, die zugleich eine selbstbewusste Beschäftigung mit dem Stilrepertoire der Klassischen Moderne - von Amedeo Modigliani bis Francis Bacon - darstellt. Hatte Schutz damit lange großen Erfolg, so gab es diesmal aber Protest. In einem offenen Brief, von der Künstlerin Hannah Black verfasst und von zahlreichen anderen Künstlern mitunterzeichnet, wird Schutz zwar zugestanden, als Weiße Scham gegenüber dem Geschehenen zu empfinden, dann aber festgestellt, dass das nicht angemessen zum Ausdruck komme ("this shame is not correctly represented"), sondern im Gegenteil die Gewalt der Weißen gegenüber Schwarzen sich weiter fortsetze, wenn jenes Foto als Rohmaterial ("raw material") für eine Malerei diene, die Teil eines Kunstbetriebs sei, in dem es um "Geld und Spaß" ("profit and fun") gehe. Hier wird also nicht anerkannt, dass die Künstlerin in einer kunsthistorischen Tradition steht, in der es selbstverständlich war, Bilder realer Ereignisse in eigene Formsprachen zu verwandeln und damit künstlerische Autonomie zu postulieren. Vielmehr wird rein moralisch‑politisch argumentiert, die Debatte damit aber nicht nur auf das Sujet des Bildes verkürzt, sondern zugleich, im Sinne jenes kalten Kriegs, gegen eine Kunst protestiert, die auf dem Markt erfolgreich ist: Ist die Wahl des fotografischen Vorbilds nicht erst recht unsensibel oder gar zynisch, wenn damit noch Geld verdient wird? Statt also über Malerei zu diskutieren, dominieren bei der Bewertung des Gemäldes jene kunstexternen Kriterien Politik und Markt. Oder, wie der Kunstkritiker Kolja Reichert bilanziert, es gehe hier nicht um die Freiheit der Kunst, "sondern um ihre Verantwortung". Unterschiedliche Gründe führten dazu, dass ich 2015 - nach 18 Jahren Tätigkeit an mehreren Kunsthochschulen - meinen Beamtendienst quittierte, um seither lieber freiberuflich zu arbeiten. Einer dieser Gründe war ein wachsendes Fremdheitsgefühl. So wenig ich jemals die Ambition hatte, mich mit dem, was an Kunsthochschulen passiert, identifizieren zu können, so sehr hatte ich eine Reihe von Jahren doch das Gefühl, mich nicht in einer grundsätzlichen Differenz dazu zu befinden, sondern höchstens am Sinn einzelner Praktiken und Werkformen zu zweifeln. Zuletzt aber fiel es mir immer schwerer, mich überhaupt noch für etwas zu interessieren, was dort diskutiert und fabriziert wurde. Tatsächlich erschien mir vieles zu glatt, zu kommodifiziert, zu steril, anderes hingegen empfand ich als hypersensibel und selbstgerecht. So oder so aber spürte ich eine Art von Professionalität, die wenig mit künstlerischer Könnerschaft zu tun hat, sondern die vielmehr verrät, wie sehr Standards anderer Bereiche in die Kunst eingewandert sind. Es ist die Professionalität von Geschäftsleuten, die nichts dem Zufall überlassen wollen, oder die Professionalität von Leuten, die sich als Anwälte, gar als Missionare eines Themas verstehen und die daher ihrerseits keine Lücke lassen wollen. Ich sage das alles ausdrücklich nicht als Kulturpessimist, zumal ich (wie angedeutet) die Zeit, in der man voll Pathos der Autonomie der Kunst frönte, keineswegs für besser halte. Ich beobachte die Entwicklung aber lieber mit etwas mehr Abstand und staune vielleicht auch deshalb, welches Tempo die Veränderungen des Kunstbetriebs in den letzten Jahren angenommen haben. Mir scheint, als komme man kaum noch hinterher, das alles zu erfassen, aber es gehört wohl auch zu diesen Veränderungen, dass zumindest für einige Bereiche dessen, was noch, aber vielleicht nicht mehr lange unter Kunst läuft, Theorie, Kritik und, ganz allgemein, Diskurs keine nennenswerte Rolle spielen. Ein Schisma könnte nicht zuletzt deshalb unvermeidlich sein. Wie aber wird sich ein solches Schisma vollziehen? Sicher wird niemand offiziell kundtun, aus der Kunst auszutreten. Das passierte nur einmal: Joseph Beuys machte es 1985, ein Jahr vor seinem Tod. Auch bei ihm war das zwar schon die Absage an eine autonome und sich separierende Kunst, doch statt diese mit externen Bedeutungen aufzuladen, ging es ihm darum, auf die vielen kreativen Kräfte jenseits des Kunstbetriebs aufmerksam zu machen. Sie zu fördern und den Menschen insgesamt zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen, war sein Ziel, das ihm viel wichtiger schien als eine irgendwie geartete Fortsetzung klassischer Werkgattungen der Kunst. Statt der Kunst ausdrücklich den Rücken zuzukehren, werden manche sich künftig wohl wegschleichen oder, noch eher, ihre Kontakte in die Kunstwelt vernachlässigen, sich weniger oft auf die Kunst berufen und schon gar nicht mehr zu ihr bekennen. Für sie ist es viel spannender, Grenzen zu überschreiten und als Künstler auch einmal bei einer Luxusgütermesse vertreten zu sein oder mit einem Uhrenhersteller zu kooperieren - oder aber bei einem Event mitzumachen, mit dem politische Forderungen durchgesetzt werden sollen oder das von der Polizei geschützt werden muss. Überall außerhalb des tradierten Kunstbetriebs winkt mehr Wirksamkeit, gar so etwas wie Macht, der gegenüber jede Idee von Autonomie nur als schöngeredete Impotenz erscheint, auf die man verzichten kann, ohne eigens darüber nachdenken, ohne sich ausdrücklich dagegen entscheiden zu müssen. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr. Krieg - ob kalt oder heiß - setzt hingegen voraus, dass man dasselbe will und darum kämpft, ja es dem anderen streitig machen will. Doch was sollte ein für Superreiche arbeitender Künstler einem mit Aktivisten kollaborierenden Ex-Kollegen wegnehmen wollen? Und warum sollte jemand, der sich von der Kunst aus in Richtung Ökologie oder Migrationspolitik auf den Weg macht, ehemalige Kommilitonen als Konkurrenz empfinden, die Handtaschen entwerfen oder die Lebensgeschichte eines erfolgreichen Start-up-Unternehmers in dessen Villa bildstark in Szene setzen? Noch studieren alle, egal wohin sie sich dann mit ihrer Arbeit orientieren, an denselben Kunsthochschulen. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das 2027 noch genauso sein wird. Nein, eigentlich glaube ich es nicht.
Von Wolfgang Ullrich
Das nächste Superkunstjahr soll im Jahr 2027 stattfinden. Auch dann wird es wieder, wie alle zehn Jahre, gleichzeitig eine Documenta, eine Biennale in Venedig und Skulpturenprojekte in Münster geben. In seinem Essay prophezeit der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, dass man dann nicht wieder von einem Superkunstjahr sprechen kann.
"2017-10-03T09:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:02.856000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-deko-und-diskurs-zur-naeheren-zukunft-der-100.html
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Mehr Beachtung für Kultur auf EU-Ebene gefordert
Statue der "Europa" vor dem Europaparlament in Brüssel (dpa/ Daniel Kalker) Marc Jongen: "Die EU ist eine gewaltige Bürokratie, die auch ohne Kulturkommissar funktioniert. Außerdem ist ein Kommissar keine demokratische Insitution, das sagt schon der Name. Es ist eine zentralistische Stelle. Die Kultur braucht keine Kommissare, die sie zentralistisch steuert und beeinflusst." Das passt zum Bild, das sich Jongen und seine Partei oft genug von staatlicher Kulturpolitik auch auf anderen Ebenen machen. Sie gebe ein bestimmtes Weltbild vor. Das gilt für ihn auch auf europäischer Ebene. "Vor allem müssten ideologische Vorgaben, wie Diversity, Geschlechtergerechtigkeit, all diese politisch korrekten Dinge, die in der Kultur wenig zu suchen haben, zurückgefahren werden." Kulturpolitik auf höherer Ebene Mit dieser Position ist seine Fraktion allerdings allein im Bundestag. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums sitzt Simone Barrientos, bei der Linksfraktion für Kulturpolitik zuständig. Sie redet weniger von einem Weltbild, das Kulturpolitik angeblich vermittle, sondern will ganz grundsätzlich die Kulturpolitik auf eine höhere Ebene bringen. "Ich will Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz. Damit es eine Verpflichtung gibt, damit es Mindestsummen gibt. Genau das wünsche ich mir auf europäischer Ebene, dass es als europäisches Grundsatzziel auf die Agenda kommt. Es bräuchte ein Kommissariat nur für Kultur." Ein reines Kulturkommissariat will außer der Linkspartei niemand, aber ansonsten ist auch Thomas Hacker von der FDP überzeugt: Kultur muss in den Titel. "Dass die Kulturpolitik in einer europäischen Union, in der man das Gefühl hat dass die Länder immer weiter auseinandergehen, in der die nationalen Egoismen immer stärker werden, von besonderer Bedeutung ist, das sollte sich niederschlagen. Dass die Kultur in die Untertitel verschoben wird, bedauern wir sehr." Kultur als zentraler Begriff für Europa Das sieht auch ein Mann so, der sich in seiner SPD-Fraktion um europapolitsiche Fragen kümmert und bei seinen Kollegen im EU-Parlament schon mal dafür getrommelt hat, dass sie bei den Anhörungen der Kandidatinnen und Kandidaten auf der Kultur für ein EU-Kommissariat bestehen. Axel Schäfer. "Das ist für mich unabdingbar. Kultur ist für Europa ein zentraler Begriff. Es verbindet uns. Und gerade weil wir Europa wirtschaftlich begründet haben, Kohle, Stahl und Landwirtschaft, war immer das darüber hinausgehende, die Softpower, das war immer die Kultur. Daher muss sie namentlich genannt werden." Vom CDU-Koalitionspartner ist auch Stefan Kaufmann überzeugt davon. Und er plädiert damit auch an seine Parteikollegin, an Ursula von der Leyen, dass sie als zukünftige EU-Kommissionspräsidentin die Entscheidung gegen ein Kulturressort überdenkt. Er sagt es so: "Für den Zusammenhalt in der EU ist die Kultur wichtig. Daran sollten wir auch in der neuen Legislaturperiode anknüpfen." Aber wohin sollte sich die EU-Kulturpolitik weiter entwickeln? Die europäischen Programme sind auf mehrere Kommissariate verteilt und können auf einen Gesamtetat von etwa 240 Millionen Euro zurück greifen. Das Größte nennt sich Creative Europe und unterstützt neben europäischen Filmproduktionen unter anderem die Kulturhauptstädte. Erhard Grundl von den Grünen formuliert seine Vorstellungen: Ideale einer europäischen Kulturpolitik "Ich glaube, man müsste sich auf mehrere Säulen stützen, das eine ist die Erinnerungskultur, das andere ist der Umgang mit den Kreativen. Und das meint nicht nur die Kreativwirtschaft, nicht nur den Profit. Und das Dritte wäre die integrative Kraft der Kultur. Das könnte man sehr groß machen." Am Ende wird klar: Ein politisches Signal von Berlin nach Brüssel ist – bis auf die AfD – eindeutig: kein Kommissariat ohne Kultur. Mal sehen, was die designierte Kommissarin Mariya Gabriel und ihre Chefin aus dieser Botschaft machen. Eine Botschaft hat Mariya Gabriel schon mal ausgegeben: Investieren sollte Europa in Menschen, in Talente.
Von Vladimir Balzer
Die Fraktionen im Bundestag senden eine Botschaft nach Brüssel: Kultur muss in die EU-Kommission. Und zwar nicht versteckt hinter einem anderen Titel. Die Linkspartei fordert sogar ein eigenes Ressort. Fast alle Fraktionen sind sich beim Thema Kultur auf EU-Ebene einig. Nur die AfD sieht das anders.
"2019-09-28T17:30:00+02:00"
"2020-01-26T23:12:35.721000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-appell-an-bruessel-mehr-beachtung-fuer-kultur-auf-100.html
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Die Hoffnungen werden nicht größer
Benjamin Netanjahu bleibt wohl Israels Ministerpräsident (afp / Menahem Kahana) Nadir macht Falafel-Bällchen. Eins nach dem anderen lässt er am Straßenrand mitten in Ramallah ins heiße Fett fallen. Er macht damit auch ungerührt weiter, als er über die Wahl in Israel redet. "Die sind doch alle gleich. Ob jetzt der eine regiert oder der andere – hier hat doch keiner geglaubt, dass sich was ändert." "Ja, ich wollte einen Wechsel, einen anderen als Netanjahu. Damit es uns vielleicht besser geht", sagt dagegen Rokaya. Sie ist aus Nablus mit ihrer Freundin nach Ramallah zum Einkaufen gekommen. Rokaya sagt, ein Machtwechsel bei den Israelis hätte womöglich dazu geführt, dass geschlossene Checkpoints wieder aufgemacht werden, dass nicht noch mehr Siedlungen gebaut werden. Sie träumt davon, ein paar Kilometer weiter nach Jerusalem hineinzufahren, auch um dort in der Aqsa-Moschee zu beten. Letztendlich, sagt die Palästinenserin, wollten doch alle Frieden und, ja, Sicherheit. Der Begriff der Sicherheit wird so oft von israelischen Politikern gebraucht, dass er aus dem Mund einer Palästinenserin ganz eigenartig klingt. Das sorgt für Gelächter auf der Straße in Ramallah. Hoffnungen auf Herzog Ja, die Palästinenser hätten sich gewisse Hoffnungen gemacht, sagt dann Sadi Zeemani im Café. Aber Luftschlösser habe sich niemand erträumt. Zeemani lehrt Philosophie an der palästinensischen Al-Quds-Universität. Von dem unterlegenen linken Kandidaten Yitzhak Herzog, dem Chef der israelischen Arbeitspartei, hatte er zumindest Bewegung im israelisch-palästinensischen Konflikt erwartet: "Zum einen mehr Gleichberechtigung für die palästinensische Minderheit in Israel , die doch Staatsbürger sind. Zum anderen Bewegung für einen Friedensprozess, der wahrscheinlich wiederbelebt worden wäre. Eine israelische Regierung unter Herzog wäre doch eher bereit gewesen, Zugeständnisse zu machen, um in Richtung Frieden voranzukommen." "Was soll ich im Westjordanland?" Noch ist unklar, welche Parteien der israelische Ministerpräsident in seine künftige Regierung holt. Ein Bündnis allein mit den rechts-nationalistischen und religiösen Parteien würde für eine Mehrheit im israelischen Parlament reichen. Bei den Palästinensern sind in den Tagen nach Netanjahus Wahlsieg dessen Aussagen im Wahlkampf ein großes Thema. Der Hotel- und Bau-Unternehmer Jamal Nimer etwa sagt, allein Netanajhus Absage an einen Staat Palästina mache es der palästinensischen Wirtschaft schwer: "Wenn es wieder Verhandlungen gegeben hätte, dann hätte es auch wieder mehr Hoffnung gegeben. Aber die hat Netanjahu zerstört, nicht nur für die Menschen hier, sondern auch für die Investoren. Wenn die hören, was Netanjahu sagt, fragen die sich doch: Was soll ich im Westjordanland?" "Rassistische Hetze!" Und noch ein Satz von Benjamin Netanjahu beschäftigt die Palästinenser. Saeb Erekat, der ehemalige Chefunterhändler, ist außer sich, als er in Ost-Jerusalem an Netanjahus Appell am Wahltag erinnert: "Mich als Araber hat es mich tief getroffen, dass ein israelischer Ministerpräsident warnt: 'Die Araber kommen in Bussen zu den Wahllokalen!' So etwas kann man nicht rechtfertigen, in keiner Sprache, in keiner Kultur. Diese rassistische Hetze sollte jedem Israeli die Augen öffnen. Wenn sie im Jahr 2015 ein solches Israel haben wollen, dann: Herzlichen Glückwunsch!" Mit Netanjahu im Amt des israelischen Ministerpräsidenten gehe nichts voran, sagt der Polit-Veteran Erekat. Zwei Dinge kündigen die Palästinenser als Reaktion an: ein Ende der Kooperation in Sicherheitsfragen in den Autonomiegebieten im Westjordanland. Und: mehr Anstrengungen für eine staatliche Anerkennung Palästinas. Die Hoffnung auf Entspannung oder Erleichterung im Alltag der Palästinenser wird dadurch nicht größer.
Von Christian Wagner, Ramallah
Die Palästinenser schwanken nach der Wahl in Israel zwischen Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit. Viele hatten sich einen Regierungswechsel gewünscht. Mit Benjamin Netanjahu auch weiterhin an der Regierungsspitze erwarten sie keine Besserung ihrer Lebensverhältnisse.
"2015-03-20T05:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:29.974000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/palaestinenser-nach-netanjahus-wahlsieg-die-hoffnungen-100.html
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Eiswürfel mit Weitblick
Der US-Physiker Francis Halzen kam zum Südpol wie die Jungfrau zum Kind. Der Mann ist Theoretiker, Experimente waren eigentlich nie sein Ding. Kein Wunder also, dass er sich noch vor 15 Jahren nie hätte träumen lassen, einmal den Bau des größten Teilchendetektors aller Zeiten zu koordinieren. Und dann auch noch in so einer unwirtlichen Gegend wie der Antarktis. Doch die Argumente für die weiße Wüste waren zwingend."If you want to build a billion ton detector, you simply have to find a place, where nature has already constructed it for you.”"Wenn man einen Megadetektor bauen will, der Milliarden Tonnen wiegt, sagt Francis Halzen, muss man dorthin gehen, wo die Natur bereits die Vorarbeiten geleistet hat."”Um Neutrinos nachzuweisen, braucht man einen großen Block aus transparentem Material, in dem sich Licht unterirdisch über hunderte von Metern ausbreiten kann."Der kilometerdicke Eispanzer am Südpol ist ideal dafür. Wenn die flüchtigen Elementarteilchen aus dem All auf ein Eismolekül treffen, entstehen dabei nämlich manchmal andere Partikel, die sich durch ein charakteristisches blaues Leuchten im Eis verraten. Basketballförmige Lichtsensoren, die in regelmäßigen Abständen im Eis verteilt werden, registrieren dieses Leuchten und erlauben es, die Flugbahn der kosmischen Botschafter zu ermitteln. Das Detektionsprinzip an sich ist nicht neu, wohl aber die schiere Größe des Neutrino-Teleskops am Südpol. Einen Kilometer Kantenlänge soll der gigantische Eiswürfel haben, wenn er 2010 fertig ist: Ein Kubikkilometer Detektorvolumen, gespickt mit 4800 Sensoren. Halzen:"”Mittlerweile haben wir rund ein Viertel des Detektors aufgebaut. Da die Arbeiten extrem gut voran kamen, bin ich nun erstmals optimistisch, dass wir termingerecht fertig werden, ohne das Budget zu überziehen.""Danach sah es nicht immer aus. Allein schon das Ausbringen der Sensoren entpuppte sich als eine Wissenschaft für sich. Halzen:"”Um die lichtempfindlichen Sensoren gleichmäßig im Eis zu verteilen, müssen wir insgesamt 80 Löcher bohren, jedes zweieinhalb Kilometer tief. Da sie am Südpol nur während der zwei Sommermonate arbeiten können, würde das mit konventioneller Bohrtechnik viele Jahre dauern. Deshalb mussten wir ein Verfahren entwickeln, mit dem wir so ein Loch bei geringem Treibstoffverbrauch in deutlich weniger als zwei Tagen bohren können.""Ein Heißwasser-Bohrer mit fünf Megawatt Leistung war die Lösung. Das heiße Wasser schmilzt zweieinhalb Kilometer tiefe Löcher ins Eis. Weil Eis ein hervorragender Wärmeisolator ist, bleibt das geschmolzene Wasser in den vertikalen Kanälen lange genug flüssig, um die Trossen mit jeweils 60 der kugelförmigen Sensoren daran in die Tiefe abzulassen. Halzen:"Sobald die Sensoren im Eis stecken, schalten wir sie ein. Wir warten nicht, bis der Detektor komplett ist, sondern nehmen jetzt schon Daten."Innerhalb von ein paar Jahren, so hoffen die Forscher, dürften dem riesigen Eiswürfel am Südpol einige 100.000 Neutrinos ins Netz gehen. Das ist deutlich mehr als alle bisherigen Detektoren je registriert haben und erhöht die Chance dramatisch, die Botschaften der kosmischen Marathonläufer zu verstehen. "”It’s like taking a new picture of the sky. The southpole is a blessing.”"Die Arbeit am Südpol sei aber nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht ein Segen, betont Francis Halzen:"”Die Plätze in den Flugzeugen zur Südpolstation sind jedes Jahr heiß umkämpft. Die Antarktis übt eine ungeheure Faszination auf alle Mitglieder des Icecube-Teams aus. Diese Saison, die eben zu Ende ging, waren rund 50 davon dort. Als ich einen meiner Studenten nach seiner Rückkehr fragte, wie es denn gewesen sei, sagte er nur: Das war das beste Hotel, in dem ich je abgestiegen bin.""
Von Ralf Krauter
Neutrinos sind kosmische Langstrecken-Läufer: Botschafter aus den Tiefen des Alls, von deren Analyse sich Physiker neue Erkenntnisse über Entstehung und Schicksal des Universums versprechen. Doch die mysteriösen Geisterteilchen sind schwer zu fassen. Das Projekt Icecube am Südpol setzt dabei völlig neue Maßstäbe.
"2007-03-02T16:35:00+01:00"
"2020-02-04T12:44:53.368000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eiswuerfel-mit-weitblick-100.html
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DDR-Spuren im alten Adels-Schloss
DDR-Emblem im Barockspiegel in Schloss Kummerow (dpa / Jens Büttner) Viele Wege führen in das zunächst unscheinbar wirkende Dorf Kummerow in Mecklenburg: zwei Landstraßen, ein Radweg und der Kummerower See. Diesmal nähere ich mich meinem Ziel mit dem Paddelboot, denn das Schlossanwesen samt Lennépark wurde um 1730 direkt am Seeufer errichtet. Schon beim Eintritt durch die schwere Eichentür erkennt man, mit wie viel Liebe zum historischen Detail der Berliner Immobilienmakler und neue Schlossherr Torsten Kunert das kastenförmige Haupthaus restaurieren ließ. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Rundgang mit seiner Tochter Aileen. "Also das war für meinen Vater sehr wichtig, dass man überall noch die Spuren der Vergangenheit spürt." Ursprünglicher Sitz der Adelsfamilie von Maltzahn Vor allem beim Blick auf die Wände und Decken der Räume; einige Stellen wirken unfertig, als habe der Restaurator vergessen, die vielen unter den alten Tapeten zutage getretenen Farbschichten zu entfernen. Doch die sollten erhalten bleiben, erklärt Juliane Henke. Sie managt das Anwesen, wenn der Schlossherr - so wie jetzt - nicht in Kummerow sein kann. "Die Tapeten wurden entfernt, und darunter wirklich sehr wolkenhaft diese Farbpatina an den barocken Wänden zusammen mit dem Stuck. Somit wird nachvollziehbar, dass selbst die Vorfahren dieses Hauses alles andere als nur weiße Wände hatten." "Wer waren denn die Vorfahren?" "Das war die Adelsfamilie von Maltzahn. Die haben hier gelebt, und hier hat traditionell der zweitgeborene Sohn der Familie gewohnt." Schloss Kummerow in Mecklenburg Vorpommern (dpa / Jens Büttner) "Seit dem 13. Jahrhundert und bis zum Ende des 2. Weltkrieges lebte und wirtschaftete die Familie vor Ort. Mit Einzug der Roten Armee sind diese dann geflohen und letztendlich wurde die gesamte Anlage von der Gemeinde übernommen." Schloss in der DDR als "Multifunktionshaus" "Wie sind die Räume dann genutzt worden?" "Insbesondere zu DDR-Zeiten war die Nutzung sehr vielfältig, angefangen bei der Bürgermeisterei über die Schule, Kindergarten, Hort, Jugendclub, Gaststätte, Konsum, Post, Friseur und vereinzelt Wohnungen." "Heute würde man sagen: 'Multifunktionszentrum'oder so…" "'Multifunktionshaus' - absolut." Von dieser lebendigen Nutzung zeugten nur noch wenige Spuren, als ihr Vater auf das Gebäude stieß, ergänzt Tochter Aileen. "Er hat das Schloss 2011 ersteigert und es war in einem sehr schlechten Zustand. Er hat mir erzählt, dass ein Jahr später das Schloss wohl zusammengestürzt wäre. Wir haben hier in der Nähe ein Gutshaus, was er auch restauriert hat. Und da hat er sich einfach in diese Region verliebt. Er bezeichnet dieses Schloss teilweise auch als fünftes Kind. Das ist sein Baby." Wandbemalungen aus DDR-Zeiten "Hier sind wir jetzt im Kleinod des Hauses. Das Besondere hier: Der Spiegelsaal, historisch genutzt für Festivitäten, also der Prunksaal im Schloss Kummerow. Zu DDR-Zeiten war in diesem Saal der Werkraum der Schule untergebracht. Und daher rührt wahrscheinlich auch diese ganz besondere Wandmalerei, die man hier gefunden hat unter Tapeten. Da ist ein großes blaues "J" - das Zeichen für die Jungpioniere. Da sind Hammer, Sichel, Ährenkranz - das Emblem, das jedes schwarz-rot-goldene Tuch zu einer DDR-Fahne machte, denke ich. Und: "'Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes Eigen sein.' Das sagt mir auch noch etwas. 'Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme.' Von Heine ein Zitat, wenn ich das richtig sehe." "Genau. Die historischen Wandgemälde, Wandteppiche sind eben weg gewesen, entwendet worden. Nicht mehr auffindbar. Diese nachzubilden wäre irgendwo eine Fälschung. Und Originalton des Eigentümers: 'In diesem Haus gibt es keine Fälschungen!'" Raum für Fotografie Das gilt erst recht für Torsten Kunerts Privatsammlung von rund 2.000 Kunstfotografien. Bei jedem Besuch bin ich begeistert darüber, dass und auf welche Weise der kunstsinnige Mann das Schloss Kummerow zur öffentlich zugänglichen Herberge für seine Bilder macht. Schlossherr Torsten Kunert zeigt seine Fotosammlung (dpa / Jens Büttner) Denn vom großen Spiegelsaal abgesehen trifft in jedem Raum zeitgenössische Fotografie auf zumeist großformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus DDR- und Wendezeiten. Sie stammen von Künstlern wie Ute Mahler und Siegfried Wittenburg, und deren Stimmung ermöglicht mir eine Reise zurück in die Zeit meiner Kindheit und Jugend, die ich vor allem in einer vorpommerschen Kleinstadt und ab Mitte der 80er-Jahre in Berlin verbrachte. "Gerade hier bei Harald Hauswald mit der linken Aufnahme von dem Bruce-Springsteen-Konzert in Berlin-Weißensee und diesen beiden FDJlern im Vordergrund, die ganz steif und starr dort sitzen. Man weiß nicht so recht, ob die sich nicht trauen oder vielleicht auch gar keine Lust hatten, dort teilzunehmen. Also diese Kontraste oder diese Widersprüche im damaligen DDR-Regime - ganz gut festgehalten auf diesem Foto." Übrigens: Wer nach Kummerow will, sollte Zeit mitbringen und Muße haben. Denn ob man aus Richtung Berlin, Hamburg oder Rostock kommt - es geht abseits größerer Verkehrsachsen quer durch die dünnbesiedelte, seen- und waldreiche Mecklenburgische Seenplatte. Spätestens beim Schlendern durch Schloss Kummerow stellt sich unweigerlich eine heiter-entspannte Stimmung ein. Versprochen!
Von Silke Hasselmann
2011 wurde Schloss Kummerow in Mecklenburg-Vorpommern versteigert. Das marode Bauwerk sollte vor dem Verfall gerettet, der Charme seiner fast 300-jährigen Geschichte aber erhalten werden. Heute sind in Kummerow nicht nur die Spuren aus DDR-Zeiten zu besichtigen, sondern auch eine sehenswerte Fotosammlung.
"2018-08-08T14:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:16.114000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lieblingsort-schloss-kummerow-in-mecklenburg-vorpommern-ddr-100.html
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Deutsche Hilfsgüter unterwegs - Streit um Waffen
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist zum Abflug der Transall-Maschinen zum Nato-Flugplatz Hohn in Schleswig-Holstein gereist. (picture alliance / dpa / Axel Heimken) Die ersten vier Transall-Maschinen der Luftwaffe sind am Morgen vom Militärflugplatz Hohn in Schleswig-Holstein aus nach Erbil gestartet, 36 Tonnen Medikamente, Lebensmittel und Decken sollen in den Irak transportiert werden. Dort werden sie nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums von Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen in Empfang genommen. In Erbil leben zahlreiche Kurden, die von der Terrorgruppe "Islamischer Staat" bedroht sind. Bundesregierung bereitet weitere Lieferungen vor Ministerin Ursula von der Leyen (CDU), die zu dem Flugplatz gereist war, sagte, Deutschland habe "schnell und mit großer Entschlossenheit" seine Verantwortung wahrgenommen. Die Lage in Erbil sei verhältnismäßig sicher. "Zur Zeit ist alles so, dass wir anfliegen können und auch liefern können", sagte von der Leyen. Die Bundesregierung arbeite mit Hochdruck daran, weitere Hilfslieferungen vorzubereiten. "Natürlich ist dies nur der Anfang", so die Ministerin. Auch die Lieferung von Ausrüstung wie Schutzhelme, Schutzwesten oder Unimogs könne sich "in den nächsten Tagen konkretisieren". Deutsche Waffenlieferungen im Kampf gegen die IS-Terrorgruppe sind laut von der Leyen aber nicht realistisch. Steinmeier: "Bis ans politisch und rechtlich Machbare gehen" Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will in den Irak reisen. (AFP / John MacDougall) Die Außenminister der Europäischen Union sprachen sich dagegen für Waffenlieferungen einzelner EU-Mitglieder in den Irak aus. Das sagte der deutsche Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Freitag am Rande eines Außenministertreffens in Brüssel. Die Bereitschaft zu solchen Lieferungen sei aber von Land zu Land unterschiedlich. Die Europäer dürften sich nicht darauf beschränken, die US-Luftangriffe gegen die Dschihadisten zu begrüßen und den "mutigen Kampf der kurdischen Sicherheitskräfte" zu loben, sagte Steinmeier: "Wir werden auch sehen müssen, was wir zum Schutz der Sicherheitskräfte in Kurdistan tun können." Dabei sei er dafür, "dass wir bis an die Grenze des rechtlich und politisch Machbaren gehen". Steinmeier will am Wochenende in den Irak reisen. Auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), der bei Rüstungsexporten sonst eher zurückhaltend auftritt, zeigte sich offen für Waffenlieferungen in den Nordirak. "Bei der Verhinderung eines möglichen Genozids darf man nicht am Anfang gleich alles, was möglich ist, ausschließen", sagte der Vizekanzler der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Kontroverse über mögliche Waffenlieferungen Deutschlands Die Bundeswehr fliegt die Hilfsgüter mit Transall-Maschinen in den Irak. (AFP / Pool / Oliver Lang) Der Schriftsteller Navid Kermani forderte im DLF-Interview, im Kampf gegen das "Monster" Islamischer Staat müssten die Kurden mit Waffen ausgestattet werden. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), sagte im Deutschlandfunk, er vermisse eine klare Linie der Bundesregierung. Er nannte Waffenlieferungen "hochproblematisch". Unterdessen haben die UNO und die USA erleichtert auf den Abtritt des ehemaligen irakischen Regierungschefs Nuri al-Maliki reagiert. Die Nationale Sicherheitsberaterin von US-Präsident Barack Obama, Susan Rice, sagte, der Sinneswandel sei ein "großer Schritt nach vorne". Die US-Regierung hoffe, dass es Al-Malikis designiertem Nachfolger Haidar al-Abadi gelinge, den Irak zu einen. Nach Einschätzung von ARD-Korrespondent Tim Aßmann steht al-Abadi nun vor der "sehr schwer lösbaren Aufgabe", eine Regierung zu bilden. UNO-Sondergesandter spricht von "historischem Meilenstein" UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte, der Weg für eine schnelle Regierungsbildung sei nun frei. Der UNO-Sondergesandte für den Irak, Nickolay Mladenov, sprach von einem "historischen Meilenstein". Der Rückzug al-Malikis ermögliche nun den friedlichen Regierungswechsel in einem Land, das "zu viel Blutvergießen und Gewalt erleiden musste". Der Irak-Konflikt ist heute zentrales Thema bei einem Treffen der Außenminister der Europäischen Union in Brüssel. Der UNO-Sicherheitsrat befasst sich ebenfalls mit dem Vormarsch der islamischen Terroristen und will über eine Resolution abstimmen, die Sanktionen gegen Hintermänner der Gruppe Islamischer Staat vorsieht. (tj/nch/bor)
null
Die Bundeswehr hat begonnen, Hilfsmittel zu den von Hunger und Durst bedrohten Menschen im Nordirak zu fliegen. Die EU-Außenminister haben sich derweil für Waffenlieferungen an die Kurden ausgesprochen - was in Deutschland umstritten bleibt.
"2014-08-15T08:40:00+02:00"
"2020-01-31T13:58:44.711000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/irak-krise-deutsche-hilfsgueter-unterwegs-streit-um-waffen-100.html
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Nach dem Tsunami kamen die Islamisten
Gebet zum Gedenken an die Tsunami-Opfer vor zehn Jahren. (imago) "Ich klammerte mich an eine vorbei schwimmende Matratze und hatte panische Angst, im Wasser herumtorkelnde Trümmer würden mich zerschmettern. Mit einem Brett paddelte ich landeinwärts und rettete mich schließlich auf das Dach eines zweistöckigen Hauses, das schon voll war mit Menschen, die meisten verwundet. Einer Frau hing ein Augapfel aus der Höhle, eine andere hatte eine riesige Wunde am Bauch, die stark blutete. Kinder schrien; und einen verwirrten Mann mussten wir festhalten, weil er wieder ins Wasser springen wollte." Ulee Lheu, ein Dorf nahe der Stadt Banda Aceh im Norden der indonesischen Insel Sumatra. Kyamat, das Jüngste Gericht, sei gekommen, glaubte Nilawati Ta an jenem 26. Dezember 2004, als der Tsunami über die Provinz Aceh hereinbrach. Mit Tränen in den Augen sitzt die 45-Jährige auf einer Bastmatte. "Wir Menschen hier in Aceh hatten die Geduld Allahs überstrapaziert", meint nachdenklich ihr Cousin Fatalan. "Wir hatten zu viel gesündigt in den Jahren vor dem Tsunami." "Allah hat uns aufgerüttelt mit dieser Katastrophe. Wir sollten aufhören mit dem Bürgerkrieg, der so viele unschuldige Menschen das Leben gekostet hatte. Und wir sollten aufhören, herumzuhuren in den Bordellen unserer Städte. Und die Lektion haben wir zum Glück gelernt." Lange muslimische Tradition in Aceh Das vom Schicksal so unfassbar getroffene Aceh blickt auf eine lange muslimische Tradition zurück. Ab dem siebten Jahrhundert siedelten hier arabische Gewürzhändler, die mit Madrassas, Koranschulen, den Islam verbreiteten – in Indonesien und Teilen der Philippinen; in Singapur und Südthailand. Im 17. Jahrhundert war das Sultanat von Aceh die stärkste Macht der Region. Jahrzehntelang kämpften die Acehnesen gegen niederländische Kolonialherren für ihre Selbstbestimmung, später 30 Jahre lang gegen Indonesiens Zentralregierung. Nach dem Tsunami fand überraschend schnell der Bürgerkrieg ein Ende - und der Islam gewann eine noch größere Bedeutung im Alltag der Menschen, als er sie ohnehin schon hatte – im Vergleich zum restlichen Indonesien. Acehs frühere Rebellen und heutige Herrscher nutzten den verbreiteten Glauben, der Tsunami sei eine Strafe Allahs gewesen, als Wasser auf ihre Mühlen. Und sie begannen, ein öffentliches Leben strikt nach den Regeln des Korans durchzusetzen – die Scharia. Dies, obwohl Indonesien ein säkulares Staatswesen ist und der Islam keine Staatsreligion.Systematisch hat sich die Regierung der autonomen Provinz das Recht ertrotzt, immer neue Bereiche auch des privatesten Lebens den Vorschriften des Koran zu unterwerfen. Frauen müssen Körper und Gesicht verhüllen, unverheiratete Paare dürfen sich nicht allein treffen, Homosexualität gilt als Verbrechen. Scharia-Polizei setzt Vorschriften des Koran durch Durchgesetzt werden diese Gebote von einer Scharia-Polizei, die in feldgrünen Uniformen patrouilliert. Ein Scharia-Gericht verurteilt überführte Delinquenten zu Prügelstrafen, die im Rahmen eines öffentlichen Spektakels verabreicht werden. Der Tarif für, zum Beispiel, Sex außerhalb der Ehe liegt bei 100 Stockhieben. Chairul Fahmi, ein Soziologe, erforscht am international geförderten Aceh Institute das Verhältnis zwischen Politik und Zivilgesellschaft in der Provinz. Die auffällig starke Regulierung des sexuellen Lebens durch die Scharia erklärt Fahmi damit, dass die Ehre des Einzelnen und seiner Familie geschützt werden müsse. Die Scharia-Strafen hält der Wissenschaftler für nicht ganz so schlimm, wie sie aussehen: "Diese Strafen verfolgen in erster Linie das Ziel, den Delinquenten öffentlich bloßzustellen, damit er bereut und andere abgeschreckt werden. Vor der Bestrafung zieht der Verurteilte eine dicke Jacke an und der die Strafe ausführende Scharia-Polizist darf nicht zu stark ausholen. Sicher, Striemen auf dem Rücken haben die Geschlagenen anschließend, aber noch keiner musste meines Wissens wegen solcher Verletzungen ärztlich behandelt werden. Nur einmal wurde eine Frau ins Krankenhaus eingeliefert – dies aber nicht wegen ihrer Verletzungen, sondern weil sie infolge der öffentlichen Bloßstellung und Schande ohnmächtig geworden war." Die Theorie von der Scharia-Strafe als bloßer Lektion für Übeltäter, die auch viele Politiker in Aceh verbreiten, erweist sich in der Realität als nicht stichhaltig. Augenzeugen wie die alte Bäuerin Ani in Ulee Lheu berichten: "Ich habe einmal mit angeschaut, wie sie auf dem Hof einer Moschee Ehebrecher bestraft haben. Der Mann wurde von einem Mann geschlagen, die Frau von einer Frau. Beide haben furchtbar geschrien, weil das wohl sehr wehtat." Außerdem: 2009 verabschiedete das Parlament von Aceh ein Gesetz, dass die Steinigung von Ehebrechern vorsieht. Dies Gesetz trat nur deshalb nicht in Kraft, weil sich der damalige Gouverneur weigerte, es zu unterschreiben. Muslimischer Fundamentalismus bedroht Christen und Buddhisten In der methodistischen Kirche von Banda Aceh, einem schlichten Zweckbau, feiert die Gemeinde ihren Sonntagsgottesdienst. Auch diese Kirche wurde vom Tsunami zerstört. Mit Hilfe vor allem aus den USA haben die 300 Gemeindemitglieder das Gotteshaus wieder aufgebaut. "Leider nicht so groß, wie wir es wollten", klagt Johann, der Pfarrer der Gemeinde. Die Stadtverwaltung stellte sich quer. Insgesamt 90.000 Christen leben in Aceh, knapp zwei Prozent der Bevölkerung. Viele gehören der chinesisch-stämmigen Minderheit an. In einer bis heute noch subtilen Art und Weise bedrohe wachsender muslimischer Fundamentalismus diese Christen und auch die Buddhisten Acehs, meint der Pfarrer: "Im Distrikt Bireuen betreiben wir Methodisten einen Kindergarten. Dorthin haben früher auch viele Muslime ihre Kinder geschickt. Vor einigen Jahren jedoch wurden sie von radikalen Kräften bedroht: 'Wagt es nicht, eure Kinder weiter von Christen indoktrinieren zu lassen.' Und uns ließ die Stadtverwaltung inoffiziell wissen, es sei besser für uns, keine Muslime mehr aufzunehmen." Drei protestantische Kirchen und eine katholische gibt es in Banda Aceh. Viele Christen aber, berichtet der methodistische Pfarrer, feiern ihre Gottesdienste nicht in traditionellen Kirchen, sondern in einem halb privaten Rahmen. "Es gibt hier, wissen Sie, eine weitverbreitete Hausbauweise, die wir Romatako nennen: Im Erdgeschoss ist ein Laden untergebracht und im Obergeschoss eine Wohnung. Solche Wohnungen nutzen wir Christen seit Langem auch als Kirchen. Plötzlich aber kam die Regierung und schloss viele solcher Kirchen – mit der Begründung, wir hätten gegen die Bauvorschriften verstoßen und Wohnraum zweckentfremdet." Ausdehnung der Scharia auf Nicht-Muslime? Von bürokratischer Schikane und Anfeindungen im Alltag sei es oft nur ein kleiner Schritt zu offener Diskriminierung oder gar Pogromen, sorgt sich Pfarrer Johann. Hinzu kommt: Im Dezember 2013 unterzeichnete Gouverneur Zaini Abdullah eine Verordnung, nach der auch Nicht-Muslime in Aceh die Regeln der Scharia befolgen müssen. Ein Veto der Zentralregierung in Jakarta verhindert vorläufig die Umsetzung der Verordnung. "Wirklich Angst, dass uns die Scharia aufgezwungen wird, haben wir noch nicht. Denn das öffentliche Leben Indonesiens beruht immer noch auf der Pancasila, unserer offiziellen Staatsphilosophie, in der religiöse Freiheit und Toleranz eine große Rolle spielen. Trotzdem sind wir beunruhigt; denn zumindest die neue Bürgermeisterin von Banda Aceh will allen Bürgern der Stadt die Scharia aufzwingen." Diskriminierung von Christen, Ausdehnung der Scharia auf Nicht-Muslime? "Alles Unsinn", sagt in seinem Büro Suleiman Abda, Vizepräsident des Parlaments von Aceh. Abda gilt als engagierter Befürworter der Scharia in Aceh, wirft zugleich aber Christen wie ausländischen Kritikern Paranoia vor: "Das hier Christen ausgegrenzt und Vorschriften der Scharia auf Nicht-Muslime angewandt werden, ist nichts als ein Gerücht. Und bei offiziellen Anlässen feiern Angehörige aller Religionen gemeinsam. Überhaupt: Dort drüben, auf der anderen Straßenseite, steht eine Kirche. Muss die bewacht werden? Wird die mit Steinen beworfen? Nein. Und ich kann Ihnen nur empfehlen, bösartig in die Welt gesetzten Gerüchten keinen Glauben zu schenken. Damit wollen gewisse Kräfte nur Investoren von Aceh fernhalten." Frauen besonders betroffen Zu den wenigen Kritikern der Scharia-Diktatur in Aceh zählt eine kleine Frauenorganisation mit dem Namen APIK. Die Organisation gewährt Frauen juristische Hilfe gegenüber religiös motivierter Willkür und veranstaltet Seminare – zur Poesie acehnesischer Freiheitskämpferinnen zum Beispiel. Gegründet wurde APIK von der Rechtsanwältin Azriana Rambemanalu. Eine in schwarz gekleidete, schon etwas ältere Frau von sanfter, aber energischer und anklagender Gestik. Die Einführung der Scharia in Aceh verkörpere vor allem eine Diskriminierung von Frauen, sagt sie. Die Scharia-Vorschriften regelten das Leben von Frauen weit stärker als das von Männern; und eine Prügelstrafe sei fast gleichbedeutend mit der Todesstrafe für die betroffene Frau. "Die Folgen solcher Bestrafungen treffen Frauen ganz anders als Männer. Nach außen hin ist die Strafe zwar die gleiche: Die Namen werden veröffentlicht, die Eltern und die genaue Anschrift werden genannt. Der Unterschied liegt darin, wie die Gesellschaft hier die sogenannten Vergehen bewertet. Wenn ein Mann trinkt, spielt oder herumhurt, sagt man: Naja, das haben Männer schon immer getan. Trinkt dagegen eine Frau oder hat sie Sex außerhalb der Ehe, dann reagiert die Gesellschaft extrem heftig. Und an jene Resozialisierung, von der die Regierung und die islamische Geistlichkeit so gern schwafeln, ist gar nicht zu denken. Im Gegenteil: Der Mann lässt sich scheiden; die Frau verliert ihre Kinder und ihren Arbeitsplatz; sie muss fortziehen und ein völlig neues Leben beginnen. Dazu aber fehlt vielen Frauen schlicht und einfach die Kraft."
Von Thomas Kruchem
Die indonesische Provinz Aceh war 2004 am stärksten vom Tsunami betroffen. Die Menschen begriffen die Katastrophe als göttliche Strafe, auch deshalb bestimmen seither die Islamisten das gesellschaftliche Leben. Eine Scharia-Polizei ahndet geringste Vergehen gegen die islamische Ordnung.
"2014-12-30T09:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:21:04.714000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/indonesien-nach-dem-tsunami-kamen-die-islamisten-100.html
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Die gefährliche Politisierung der Corona-Pandemie
Unterstützer von Donald Trump bei den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am Mount Rushmore (dpa / AP / Alex Brandon) Erneut sind an einem Tag über 50.000 Menschen positiv getestet worden. Der führende US-Immunologe Anthony Fauci hat in dieser Woche schon gewarnt, das sich bald mehr als 100.000 Menschen pro Tag mit dem Virus infizieren könnten. Als Reaktion hat fast die Hälfte der Bundesstaaten inzwischen bereits eingeleitete Lockerungen wieder rückgängig gemacht, Bars und Restaurants wieder geschlossen. Jeder Tag ein neuer Infektionsrekord US-Präsident Donald Trump scheint von alledem unbeeindruckt: Er hält an den Feierlichkeiten zum Independence Day fest. Die Zeremonie am Mount Rushmore, dem National Memorial, mutete gespenstisch an, berichtet USA-Korrespondent Thilo Kößler. Trotz mehr als 58.000 Neuinfektionen an einem Tag versammelte Trump dort 7500 Anhänger. Viele trugen "Make America Great"-Kappen, aber keine Gesichtsmasken. Auch Trump und seine gesamte Entourage ignorieren Abstandsregeln und Vorsichtsmaßnahmen. "Das ist Ausdruck der Politisierung dieser Epidemie durch Donald Trump. Dieser verharmlost das Virus immer noch und behauptet, es werde einfach verschwinden. Mehr noch: Er nutzt die aufgeheizte Atmosphäre, um auch die gesellschaftliche Krise für sich zu nutzen: Die Auseinandersetzung um den Rassismus, wie man auch am Streit über die Entfernung der Denkmäler von Südstaatengenerälen festmachen kann", berichtet Thilo Kößler. Donald Trump instrumentalisiert den Nationalfeiertag Das zutiefst spalterische Verhalten zeige sich deutlich in seiner lange angekündigten Rede, berichtet Kößler. Darin forderte er harte Strafen für all diejenigen, die - wie er sagte - Denkmäler schänden. Diese Bewegung, sei angezettelt von einem linken Mob, indoktriniert von einer vorurteilsbelasteten Erziehung an öffentlichen Schulen, indoktriniert von linken Journalisten. Allesamt würden sie der Öffentlichkeit den Hass auf ihr Land lehren. "Das ist eine erschreckende Verschärfung des Tonfalls, die völlig außer Acht lässt, was dieser Gesellschaft in diesen bewegten Zeiten erst bewusst wird, nämlich dass der Rassismus tief in diese Gesellschaft eingegraben ist. Es geht ja nicht nur um eine Debatte über Polizeigewalt, es geht um eine Debatte über den Rassismus. Und Donald Trump hat diese rassistischen Botschaften heute aggressiv erneuerte, hat sich offen wie nie zuvor zum Fürsprecher der These von der "Überlegenheit der Weißen" gemacht, erläutert Kößler. Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel) Veranstaltungen könnten Infektionsgeschehen noch weiter beschleunigen Es ist ganz offensichtlich, dass die Trump-Administration diese Krise nicht in den Griff bekommt. Im Gegenteil: Immer mehr Experten warnen davor, dass die Situation der Regierung Trump völlig entgleitet. Angesichts der dramatischen Lage im Süden und im Westen haben sich 20, 25 Bundesstaaten dazu entschlossen, die viel zu schnell eingeleiteten Lockerungen zumindest teilweise wieder zurückzunehmen. Besonders schlimm ist es in Florida, Arizona, Kalifornien, Georgia, Alabama, Kansas, North Carolina, South Carolina - allesamt Staaten, die viel zu früh gelockert haben und die sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht haben, was dann geschehen soll, wenn sich die Lage wieder verschlimmert."Das alles wirkt völlig chaotisch, unorganisiert, kopflos. Viele sagen, ein totaler Shutdown wäre erneut angebracht", so der Eindruck von Thilo Kößler. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Viele befürchten, dass diese Veranstaltungen zu Infektionsschleudern werden. Verschiedene Bürgermeister haben auf die Gefahren in Anbetracht von fehlender Maskenpflicht und Abstandsgeboten hingewiesen, doch kein Gehör gefunden. "Das alles ist Ausdruck der völligen Ignoranz gegenüber den objektivierbaren Gefahren dieser Krise. Es ist auch Ausdruck der ideologischen Verblendung der politischen Rechten in diesem Land. Es gibt ein Klima der Wissenschaftsfeindlichkeit. Es gibt ein Klima der Elitenfeindlichkeit. Es gibt ein Klima der Feindseligkeit gegenüber den staatlichen Institutionen, die sich Donald Trump zunutze macht. Und auch die Rede von Trump hat das deutlich gemacht. Er hat wieder die Abtreibungsdebatte zum Beispiel neu befeuert und den lieben Gott dabei beschworen. Also vielen sind religiöse Einstellungen viel wichtiger als wissenschaftliche Erkenntnisse." Das Fazit von Thilo Kößler an diesem Tag: "Anthony Fauci, der oberste Epidemiologe dieses Landes, hat vermutlich recht, wenn er sagt, dass dieses Land ein dramatisches Bildungsproblem hat."
Von Thilo Kößler
Die USA kämpfen weiter mit einem dramatischen Anstieg von Corona-Fällen. Dennoch finden an diesem Wochenende die Feierlichkeiten zum Independence Day statt. "Das alles ist Ausdruck der völligen Ignoranz gegenüber den objektivierbaren Gefahren dieser Krise", sagt USA-Korresponent Thilo Kößler.
"2020-07-04T06:10:00+02:00"
"2020-07-06T17:11:59.537000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/feierlichkeiten-zum-independence-day-die-gefaehrliche-100.html
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Radiolexikon Gesundheit: Moortherapie
Vlotho in Ostwestfalen, ein milder Frühlingstag. Wald so weit das Auge reicht, Wiesen und ein Bach, der sich durch die Landschaft schlängelt. "Wir stehen jetzt mitten auf dem Moorteich, der trocken gelegt ist, früher wurde er auch der Senkelteich genannt, der Teich in der Senke", erzählt Ulrike Großmann, Geschäftsführerin der Moorland-Klinik, einem Fachkrankenhaus für orthopädische und rheumatologische Rehabilitation, das sich ganz und gar dem Moor verschrieben hat. "Heute wird er permanent trocken gelegt, damit wir das Moor hier noch mit der Hand abgraben können direkt hier vor Ort im Moorland Bad Senkelteich in Vlotho, und hier hört man das Wasser plätschern des Senkelteichs, wir möchten es immer trocken legen und es wird abgeleitet in einen kleinen Bach hier im Kurgebiet." Moore sind Lebensräume mit ständigem Wasserüberschuss aus Niederschlägen. Mit der Zeit entstehen Seen, die sich mit pflanzlichen Resten füllen. Wegen des Wasserüberschusses werden diese Pflanzenreste aber nicht vollständig abgebaut, sondern bilden auf dem Grund der Seen mächtige Torfschichten. Zehn Millimeter pro Jahr wachsen sie, Moore speichern biologisches Material vieler Tausend Jahre, das getrocknet nicht nur gut brennt, sondern wegen seiner Inhaltsstoffe auch medizinische Verwendung findet. Vor dem Einsatz – sagt Moorland-Mitarbeiter Frank Meier – wird der Torf zunächst gestochen und anschließend..."von draußen reingeschöppt durch ein Förderband in einen Bunker, von den Bunker aus über ein Förderband, und vom Förderband wird es klein geschreddert zu einem Mus, das kommt in einen anderen Bunker wieder rein, wird angereichert mit Wasser, und wenn es fertig ist, wird es in die Wannen reingefüllt" Und auf 38 bis 40 Grad Celsius erhitzt. "In diesem Moment, man hört die Rührgeräusche, wird die Wanne Nummer 63 für die Frau Dresen vorbereitet, warm gemacht, gerührt, und nachdem die Maschine alles ordnungsgemäß gemacht hat, prüft natürlich Herr Meier noch ganz genau, ob die Maschine wirklich gut gearbeitet hat, er macht eine Kerntemperaturmessung dieses Mediums in der Wanne, des Moorbreibades, und prüft auch noch, in dem er mit der Hand durchrührt, ob die Maschine auch gut gerührt hat, sodass wirklich beim Gast, beim Patienten, ein hochwertiges, ein bestes Moorbreibad in dickbreiigster Konsistenz ankommt, und das werden wir gleich erleben." Bei einer Patientin, die vorsichtig in die Wanne steigt und sich dann mit wohligem Genuss in den warmen, schwarzen Brei legt, ... "Naja, man hat das Gefühl, man tritt in einen Mus oder einen Brei, das habe ich auch erwartet, nur die Konsistenz ist aber dermaßen kompakt, es umschließt einen gleich, ganz toll...." Es sei, sagt sie, als ob die Schwerkraft aufgehoben würde. "Ich schwebe, ich ecke nirgends an, ich liege auch nicht auf dem Grund, ja, ich hänge in diesem schluffigen sich leicht anfühlenden Element." ... mit dem sie vor allem ihr Rheumaleiden lindern möchte. "Ich bin hier, weil ich seit zehn Jahren chronische Polyarthritis habe, also Gelenkrheuma, und auch Cortison schlucke, und zu dieser Jahreszeit beziehungsweise in einer feuchten Jahreszeit, also Nebelwetter, Regenwetter, leide ich an meinen Gelenken, es sind höllische Schmerzen und das Moor ist für mich eine reine Wohltat." Orthopädische und rheumatische Leiden lassen sich mit Moorvollbädern oder Moorpackungen behandeln, gleiches gilt für einige gynäkologischen Erkrankungen, sowie für Schlafstörungen und Erschöpfungszustände. Bei der Therapie orthopädischer und rheumatischer Krankheiten – sagt Dr. Miriam Schäffler, Ärztin für Allgemeinmedizin und Naturheilkunden in der Moorland-Klinik – erfüllt das Moor verschiedene Funktionen. "Die eine Funktion ist eben über die Wärme. Sie kann sehr gut in den Körper eindringen und kann dadurch die Muskulatur entspannen, dadurch wird die Muskulatur wesentlich besser durchblutet, Schlackenstoffe können abtransportiert werden, es findet eine Ausleitung und Entgiftung statt, das ist so die eine Funktion des Moores, dann sind in dem Moor verschiedene Inhaltsstoffe, da sind Phytohormone drin, Huminsäuren drin und eben auch antientzündliche Stoffe" ,die der Körper über die Haut aufnimmt und die dann im Körper wirksam werden. Patienten mit orthopädischen und rheumatischen Leiden stellen bei den Moortherapien die größte Gruppe. Beliebt sind die Bäder aber auch bei Menschen mit Erschöpfungszuständen und Schlafstörungen. "Da ist es eben so, dass das Moor auch wieder verschiedene Funktionen hat, das eine ist eben, durch diese feuchte Wärme findet eine starke Entspannung statt, also durch die erhöhte Durchblutung des Körpers findet eine Regulation des Nervensystems statt, eine Runterregulation des Nervensystems, sodass die Patienten eben danach eine tiefe Entspannung erfahren und eben, was die meisten nicht mehr kennen, eine richtige Müdigkeit und Erschöpfung entsteht und dadurch der Schlaf gefördert wird." Drei Moorvollbäder pro Woche reichen, sagt Miriam Schäffler, wer 30 Minuten in dem heißem Brei liegt, lässt seinen Körper Schwerstarbeit leisten! Neben den äußeren Anwendungen gibt es aber auch innere Moorkuren, etwa für Patienten mit Darmleiden. "Man trinkt dann eben das Moor verdünnt, hört sich erst mal ekelig an, schmeckt aber relativ neutral, ist so ähnlich wie wenn man Heilerde einnimmt, und von der Wirkung ist es eben so, dass es da reinigend, ausleitend und entgiftend wirkt und die natürliche Darmfunktion unterstützt und vor allem auch dafür sorgt, dass Fäulniskeime gebunden und wieder ausgeschieden werden können." Mittlerweise liegt Frau Dresen seit 15 Minuten in dem warmen Moorbrei. Sie genießt das Bad, sie weiß, wie gut es ihr tut. "Die Tatsache, dass ich ja nicht nur einmal in die Wanne steige, sondern in der Woche bestimmt drei Mal diese Anwendung annehmen werde, wird mir bestimmt für zwei, drei Monate wieder sehr, sehr gut tun. Wir gehen dann natürlich auch in den Sommer rein, dann ist mir normalerweise sowieso wohler, wenn wir keinen verregneten Sommer haben, aber dieses Element mit dem Moor, das ist ein Gedicht!" Zur Übersichtsseite des Radiolexikon Gesundheit
Von Mirko Smiljanic
Moore finden seit langem Anwendung in der Medizin - als Moorpackung etwa oder als Moorvollbad. Für wen diese Therapien sinnvoll sind und wie sie funktionieren, erläutert das Radiolexikon.
"2012-06-19T10:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:13:53.809000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-moortherapie-100.html
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Frankreich fürchtet sich vor Energie-Engpässen
Das Thema "Folgen des deutschen Atomausstiegs für die französische Stromwirtschaft" ist ein heikles. Beim französischen Atomstromgiganten Electricité de France, EDF, winkt die Pressestelle beim Wunsch nach einem Interview ab. Ebenso wie im Stab von Energieminister Besson. Denn zum einen beobachten die Verantwortlichen in Paris erschrocken, dass mancher im Land angesichts der drastischen Wende der deutschen Energiepolitik nunmehr selbiges für Frankreich fordert. Und zum anderen: die Freude über einen potenziell steigenden Stromexport nach Deutschland wird getrübt durch eine Tatsache. Nach dem Abschalten der ersten Meiler wird Deutschland vorerst weniger Elektrizität ausführen können."Deutschland ist europaweit der größte Stromerzeuger. Und beliefert viele Länder mit Elektrizität, darunter auch Frankreich,"hält Sophia Majnoni fest, Energieexpertin bei Greenpeace Frankreich. "Seit den 90er-Jahren importiert Frankreich Strom aus Deutschland, vor allem in den Wintermonaten. Denn drei Viertel der französischen Elektrizität stammt aus Kernkraftwerken und die sind nicht geeignet, mit Spitzenbelastungen im Stromnetz, vor allem im Winter, klarzukommen."Der grenzüberschreitende Stromhandel in Frankreich ist gewissermaßen ein Saison-Geschäft. Im Sommer, Flaute-Zeit der Stromnachfrage, übersteigt die Produktion der Meiler bei weitem den inländischen Bedarfhochzeit für den Export. Im Winter jedoch, wenn Millionen von Haushalte die Stromheizung anknipsen, kommt das Land ohne Importe nicht aus. Die beiden Hauptlieferanten: Großbritannien und Deutschland"Seit zwei Jahren importiert Frankreich zwei bis drei Mal so viel Strom aus Deutschland wie es dorthin exportiert. Konkret gesagt: der Import liegt zwischen 16 bis 19 Terawatt-Stunden, exportiert werden sieben bis neun Terawatt-Stunden."Der Strom aus Deutschland könnte Frankreich nicht erst im kommenden Winter fehlen, sondern schon im nahenden Sommer. Seit Wochen leidet das Land unter einer Dürre, die alle bisherigen Rekorde bricht. Kürzlich hat die Regierung deswegen einen Krisenstab einberufen: Er soll einem Blackout bei der Stromversorgung vorbeugen. Mitte Mai verkündet die Atomsicherheitsbehörde, in den Kernkraftwerken herrsche trotz Dürre normaler Betrieb. Doch sollte sich im Sommer zur andauernden Dürre eine Hitzewelle gesellen, sind Probleme bei der Stromversorgung absehbar. Laut Yves Marignac gibt es drei Möglichkeiten, dem Ernstfall Strommangel entgegen zu treten. Marignac leitet das Büro der Nichtregierungsorganisation World Information Service Energy in Paris:"Zum einen könnte man darauf setzen, manchen Atommeiler, der normalerweise im Sommer für Wartungsarbeiten vom Netz geht, erst später abzuschalten. Aber damit würden die Probleme einfach ein bisschen zeitlich verschoben, denn im Herbst und vor allem im Winter steigt der Strombedarf."Ebenso könnten als Übergangslösung massiv andere Kraftwerke eingesetzt werden: Gas, Öl, Kohle. Die aber treiben den Ausstoß an Kohlendioxid nach oben. Option drei: die Bürger zum Stromsparen anzuhalten. Yves Marignac sagt: Dies wäre ein Novum in der französischen Energiepolitik."Es zeugt natürlich von einer ungeheuren Ironie, festzustellen, dass Frankreich, das alles auf den Ausbau der Atomkraft setzte, um im Energiebereich seine Unabhängigkeit aufzubauen, in Wirklichkeit im Winter völlig abhängig ist von den Entscheidungen, die die Nachbarländer betreffs ihres eigenen Stromparks treffen."
Von Suzanne Krause
Frankreichs Energieminister Eric Besson kritisierte den deutschen Atomstromausstieg. Er ist überzeugt, dies führe dazu, dass Deutschland demnächst mehr Elektrizität aus Frankreich importiere. Die Grande Nation muss sich infolgedessen dem Problem eines möglichen Strommangels stellen.
"2011-06-09T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:22:32.389000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-fuerchtet-sich-vor-energie-engpaessen-100.html
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Was die Ausrufung der Alarmstufe bedeutet
Die Erdgasspeicher in Deutschland - wie dieser in Rehden - sollten nach dem Willen der Bundesregierung bis zum Winter zu 90 Prozent gefüllt sein. (dpa/Mohssen Assanimoghaddam) Die Ausrufung der "Alarmstufe" geht auf den Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland zurück. Das Papier wurde erstmals 2012 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erstellt und zuletzt 2019 aktualisiert. Alle EU-Staaten sind laut einer Verordnung zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung verpflichtet, solch ein Papier in der Schublade zu haben. Es gibt drei Stufen. FrühwarnstufeAlarmstufeNotfallstufe 1. Schritt: Frühwarnstufe - noch kein Eingriff des Staates Die Frühwarnstufe wurde bereits am 30. März 2022 ausgerufen. Anlass war die Forderung der russischen Regierung, "unfreundliche Staaten" sollten Gaslieferungen aus Russland ab sofort nur noch in Rubel zu bezahlen. Deutschland und die anderen westlichen Staaten lehnten dies ab, weil es die wegen des Ukraine-Kriegs verhängten Sanktionen gegen Russland unterlaufen würde. In den Verträgen wurde außerdem eine Bezahlung in Euro oder Dollar vereinbart. Einigen europäischen Staaten hat Russland seither den Gashahn zugedreht. Sie hatten sich geweigert, in Rubel zu zahlen. Deutschland wurden die Gaslieferungen derzeit nur gekürzt. Die Bundesnetzagentur ermittelt seit Wochen täglich die Versorgungslage. In der europäischen Verordnung zur Gewährleistung der Energiesicherheit sind die Kriterien für die Ausrufung der einzelnen Krisenstufen formuliert. Zur Frühwarnstufe kommt es demnach in folgendem Fall: Es liegen konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf vor, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- bzw. der Notfallstufe führt. Der Staat greift in dieser Phase noch nicht in den Gasmarkt ein. Vielmehr sollen die Marktteilnehmer dafür sorgen, dass die Gasversorgung gesichert bleibt - etwa indem sie auf den Inhalt der Gasspeicher zurückgreifen. Sie sollten nach dem Willen der Bundesregierung aber bis zum Winter zu 90 Prozent gefüllt sein. 2. Schritt: Alarmstufe - der Markt soll die Störung alleine bewältigen Die Alarmstufe wird in Kraft gesetzt, wenn sich die Gasversorgungslage erheblich verschlechtert hat - etwa durch eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas. Die Regierung nimmt in dieser Phase an, dass der Markt noch in der Lage ist, die Probleme alleine zu bewältigen. Der Staat greift nicht ein. Nicht systemrelevanten industriellen Kunden dürfen Gaslieferungen gekürzt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Alarmstufe am 23. Juni 2022 aktiviert. Anlass war, dass der russische Staatskonzern Gazprom die Lieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 Mitte Juni gedrosselt hatte - auf nur noch knapp 40 Prozent der Maximalkapazität. Die Alarmstufe ist Voraussetzung dafür, dass die Bundesregierung ihr Vorhaben umsetzen kann, zur Stromproduktion verstärkt Kohlekraftwerke heranzuziehen. Auch das soll den Gasverbrauch reduzieren. 3. Schritt: Notfallstufe - Gas wird durch die Bundesnetzagentur verteilt Die dritte und höchste Stufe des Notfallplans Gas ist die Notfallstufe. Sie wird aktiviert, wenn es eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas gibt oder die Gasversorgung gestört ist oder sich die Versorgungslage durch andere Faktoren erheblich verschlechtert hat. Alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen sind nicht mehr geeignet, die Nachfrage nach Gas zu decken. In dieser Phase müssen laut dem europäischen Regelwerk "nicht-marktbasierte Maßnahmen" ergriffen werden, um die Gasversorgung sicherzustellen. Der Staat tritt also in Aktion - im Fall Deutschlands in Form der Bundesnetzagentur. Sie wird nun zum "Bundeslastverteiler". Das bedeutet: Sie regelt in Abstimmung mit den Netzbetreibern, wie das noch vorhandene Gas verteilt wird. Dabei sind bestimmte Verbrauchergruppen besonders geschützt und müssen nach Möglichkeit bis zuletzt mit Gas versorgt werden. Zu ihnen gehören Haushalte, soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, aber auch Gaskraftwerke, weil sie in vielen Haushalten die Wärmeversorgung sicherstellen. Die Industrie zählt nicht zu den besonders geschützten Verbrauchergruppen. Betriebe müssen also, wenn die Notfallstufe aktiviert wird, damit rechnen, dass ihnen das Gas abgedreht wird. Für die Wirtschaft kann das schwerwiegende Folgen haben.
null
Bundeswirtschaftsminister Habeck hat die zweite Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen und reagiert damit auf die Kürzung der russischen Gaslieferungen. Was bedeutet die "Alarmstufe" konkret und welche weiteren Stufen gibt es? Ein Überblick.
"2022-06-23T12:58:00+02:00"
"2022-06-23T08:22:15.232000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausrufung-fruehwarnstufe-notfallplan-gas-100.html
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Kommt ein Masterplan zur Rettung der Bäder?
Wenn Bäder fehlen, wird es zunehmend schwieriger, schwimmen zu lernen. Davor warnt die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft schon länger. (imago) In einem inszenierten, düsteren Video beschreibt die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) die Lage. In dunkel gefärbten Farben sind traurige Kinder, Familien, Senioren, Sportler zu sehen, die durch ein verlassenes Schwimmbad streifen - ein Querschnitt aller Menschen, die gern ins Schwimmbad gehen - nur das die Becken leer und vermodert sind, Startblöcke und Springturm verfallen. Dazu eine Statistik, wonach alle vier Tage ein Schwimmbad für immer schließe. Rettet die Bäder - warnt die DLRG inzwischen schon seit Jahren und weist auf die stetig steigende Zahl von Nichtschwimmern hin, DLRG-Präsident Achim Haag beklagt, "dass am Ende der Grundschule drei von fünf Kindern keine sicheren Schwimmer sind." Also nicht mindestens die Schwimmfähigkeiten haben, die dem Freischwimmer oder Bronzeabzeichen entsprechen. Das Seepferdchen dokumentiert noch keine ausreichende Schwimmfähigkeit. "Die Gründe dafür sind die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für die Schwimmausbildung. Die Zahl der schließenden oder von akuter Schließung bedrohten Bäder nimmt zu und das ist für usn alamierend. Nur jede vierte Grundschule hat überhaupt Zugang zu einem Bad", mahnte DLRG-Präsident Achim Haag im Dezember im Petitionsausschuss des Bundestages und legte 120.000 Unterschriften zusammen mit seiner Petition vor und formulierte den Anspruch: "Wir fordern einen goldenen Plan." Viele Kommunen mussten Bäder schließen So wie es ihn schon mal in den 1960er Jahren gab, als von der öffentlichen Hand damals Milliarden in die Errichtung neuer Sportstätten flossen. Trotz guter Konjunkturlage mussten viele Kommunen in den vergangenen Jahren Bäder schließen. Besonders die Städte und Gemeinden, die keine Quersubventionierungen etwa durch Erträge der örtlichen Versorgungsunternehmen vornehmen können, seien betroffen, beobachtet Marc Riemann, Vorstandsmitglied der Internationalen Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtungen. "Es gibt sehr viele kleine Kommunen, die haben die Möglichkeit nicht und die betreiben die Bäder eben selbst. Und das sind meistens auch die, die wirklich die Probleme haben mittlerweile, Bäder, die in die Jahre gekommen sind, weiterhin in Stand zu halten und zu finanzieren." Marc Riemann ist Manager der Kölnbäder und Vorstandsmitglied der Internationalen Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtungen. (Jessica Sturmberg / Deutschlandfunk) Seine Vereinigung ist eine Organisation, die Wissen um Sportstättenbau bündelt. Riemann ist als Manager der Kölnbäder spezialisiert auf dem Gebiet der Schwimmbäder. Ein Fehler, der oft gemacht werde, sei die Instandhaltungskosten zu unterschätzen: "Wenn man den gesamten Lebenszyklus eines Bades betrachtet von 50 Jahren, sind die Erstellungskosten gerade mal ein Viertel. 75 Prozent sind die Unterhaltskosten und die Betriebskosten eines Bades. Und letztlich geht es ja darum: ein Bad ist ein Sonderbau, bauphysikalisch sehr, sehr kompliziert durch Luftfeuchtigkeit, durch Wasser natürlich im Becken, was in den Beton hineindringt - und das macht die Sache so irre kompliziert." Und teuer. Auch Riemann unterstützt den Gedanken eines neuen goldenen Plans, doch müsse dieser anders sein als in den 1960er Jahren, als Bäder errichtet wurden, deren langfristige Instandhaltung aber oft nicht ausreichend mitgeplant oder in klammen Jahren zu sehr vernachlässigt wurde. Jetzt brauche es Nachhaltigkeit und dauerhafte Finanzierung. Nicht nur auf Spaßbäder fokussieren Vor einem weiteren Fehler warnt DLRG-Sprecher Achim Wiese. Sich nicht, wie nach der Wiedervereinigung in den 90er Jahren häufig geschehen, auf Spaßbäder zu fokussieren. "Denn in den meisten Spaßbädern, die geschaffen wurden, ist eine Schwimmausbildung nicht möglich. Sondern Spaßbäder, wie das Wort schon sagt, ist der pure Spaß und der kann natürlich nur dann betrieben werden, wenn ich auch sicher schwimmen kann. Nur dieses sichere Schwimmen dort zu lernen und auch zu lehren ist nicht möglich." Damit ein Bad sowohl als Ausbildungsstätte als auch als Kultur- und Begegnungsstätte dienen kann, brauche es idealerweise eine Mischung aus allen Elementen: "Man soll auch diesen Erlebnisraum Wasser durchaus erleben und auch den Spaß darin erleben und es gibt gute Beispiele in Deutschland, dass eben alles unter einen Hut zu kriegen ist." Wichtig auch für das soziale Leben Zwar sind Schwimmbäder eine freiwillige kommunale Leistung, doch wie wichtig sie auch für den Sport und das soziale Leben vor Ort sind, sieht auch die Bundespolitik. Die Vorsitzende des Bundestagssportausschusses Dagmar Freitag von der SPD hält es für notwendig, angesichts der Entwicklung etwas zu unternehmen. Zusammen mit Sachverständigen soll es im Sportausschuss darum gehen, wie das Thema am besten angegangen werden kann. Sieben verschiedene Organisationen sind dazu eingeladen. Dass der Bund Mittel dazu geben wird, da ist Dagmar Freitag nach einem Gespräch vor Weihnachten mit Innen- und Sportminister Horst Seehofer optimistisch: "Er hat sich jedenfalls öffentlich sehr positiv zu einem bundesweiten Sportstättenförderprogramm geäußert und jetzt müssen wir sehen, ob das für den Haushalt 2021 mehrheitsfähig und darstellbar ist. Aber dieser Diskussion möchte ich an dieser Stelle nicht vorgreifen."
Von Jessica Sturmberg
Die Schwimmbäder in Deutschland werden weniger, die Nichtschwimmer mehr. Darauf verweist die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft seit Jahren. In einer Petition im Bundestag hatte sie einen Masterplan gefordert. Nun wird im Sportausschuss des Bundestags über die Bäderinfrastruktur gesprochen.
"2020-01-12T19:33:00+01:00"
"2020-01-26T23:27:29.936000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwimmbaeder-in-deutschland-kommt-ein-masterplan-zur-100.html
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Wertschöpfung durch Wind und Sonne
Erneuerbare Energien sorgen für Wachstum, Jobs und zusätzliche Steuereinnahmen, sagt Andre Böhling von der Umweltorganisation Greenpeace. Zwar ist die Zahl der Beschäftigten in der Branche im vergangenen Jahr um zehn Prozent gesunken. Die Wertschöpfung aber ist auf einen neuen Rekordwert gestiegen. Eine Verbesserung um zehn Prozent gegen über dem Vorjahr. Das geht aus einer Studie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung hervor, die Greenpeace heute vorstellt. "Erneuerbare Energien, gerade Wind und Sonne, sind ein enormer Wirtschaftsfaktor für Deutschland. Und dieser darf nicht zu Lasten einer blinden Kostendiskussion gestoppt werden. Wir müssen die Kosten und den Nutzen vergleichen und stellen dann mit dieser Studie fest, dass der Nutzen bundesweit höher ist als die Kosten."Die Bilanz fiele noch positiver aus, wenn die Solarbranche nicht unverhofft in eine schwere Krise geschlittert wäre. Die Konkurrenz chinesischer Billiganbieter hat deutschen Herstellern das Leben schwer gemacht. Einige Solarfirmen mussten Insolvenz anmelden. Greenpeace-Experte Andre Böhling: "International haben wir die Situation, dass es bei den Herstellern Überkapazitäten gibt und dass gerade aus China enormer Wettbewerbsdruck auf die deutschen Hersteller gewirkt hat. Und dies und die Debatten über Ausbaustopp, Ausbaudeckel führen dazu, dass Investoren abgeschreckt werden."Das hat nicht nur der Solarindustrie zugesetzt, auch die Biogasbranche hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Folge: Die Zahl der Beschäftigten in der Ökostrombranche ist gesunken, laut Greenpeace-Studie insgesamt um zehn Prozent auf 166.000. Rechnet man noch die Zulieferer und Dienstleister hinzu, sind es insgesamt 377.000 Jobs, die durch Erneuerbare Energien gesichert werden. Trotz des Rückschlags im vergangenen Jahr sieht die Umweltorganisation gute Perspektiven für die Branche, auch für die krisengeschüttelte deutsche Solarbranche: "Also die Solarindustrie ist in den letzten Jahren derart günstig geworden, wie es kein Experte vorausgesehen hat. Und vor diesem Hintergrund sehen wir eine sehr positive Perspektive in den nächsten Jahren für die Solarenergie und auch für deutsche Hersteller."Ohnehin ist der Bau von Windrädern oder Solarpaneelen längst nicht mehr der wichtigste Geschäftszweig. Immer wichtiger werden Planung, Installation und Betrieb der Anlagen. Diese Firmen stellen inzwischen zwei Drittel der Jobs und erwirtschaften zwei Drittel der Wertschöpfung der Branche. Und anders als bei großen zentralen Kraftwerken profitieren nicht nur einige wenige. Das sei der Vorteil dezentraler Energieerzeugung, sagt Professor Bernd Hirschl, der Leiter der Studie.Nicht nur die industriellen Ballungsräume erleben dadurch einen Aufschwung, sondern auch Gemeinden in entlegenen Gebieten. Und die Aussichten sind günstig. Bei gleichbleibendem Ausbautempo werden die Erneuerbaren Energien im Jahr 2030 197.000 Menschen Lohn und Brot bieten, 20 Prozent mehr als heute. Die Wirtschaftsleistung wird laut Studie um 50 Prozent steigen. "Das heißt: Erneuerbare Energien werden weiter für mehr Beschäftigung, mehr Steuereinnahmen und mehr Einkommen und Beschäftigte sorgen können, gerade in den Kommunen. Und deswegen sollten wir den Ausbau vorantreiben. Aber natürlich auch, weil wir eine Energiewende für mehr Klimaschutz und für eine bessere Umwelt in Deutschland brauchen."Voraussetzung - so Böhling – sei allerdings, dass die Politik den Ausbau der Erneuerbaren Energien nicht blockiere, sondern den Ausbau wie geplant vorantreibe.
Von Gerhard Schröder
Greenpeace verteidigt die Energiewende, das überrascht nicht. Jetzt hat sich die Umweltorganisation argumentative Schützenhilfe durch eine Studie des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin geholt. Sie besagt: erneuerbare Energien sorgen für Wachstum.
"2013-09-02T11:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:33:39.661000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wertschoepfung-durch-wind-und-sonne-100.html
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Separatisten stürmen weitere Gebäude
Unter den Angreifern waren etwa 50 schwer bewaffnete Männer in schwarzen Kampfanzügen oder Uniformen, die Schüsse auf die Fenster des Gebäudes feuerten. Die Polizei setzte Blendgranaten und Tränengas ein. Die Separatisten hatten vorher bereits die Regionalverwaltung besetzt und haben weitere Verwaltungsgebäude unter ihrer Kontrolle. Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow beschimpfte die Polizisten im Osten des Landes als "Verräter" und warf ihnen Untätigkeit vor. "Die große Mehrheit der Sicherheitskräfte im Osten ist nicht in der Lage, ihre Pflicht zu erfüllen und unsere Bürger zu schützen", sagte er. Die Ereignisse im Osten des Landes zeigten die "Machtlosigkeit und in einigen Fällen kriminelle Niedertracht" der Polizei. Moskau will keine neuen Sanktionen gegen den Westen Russland sieht derzeit keine Notwendigkeit dafür, weitere Sanktionen gegen den Westen zu verhängen. Präsident Wladimir Putin betonte jedoch, wenn sich die Strafmaßnahmen gegen sein Land fortsetzten, müsse man darüber nachdenken, mit welchen Unternehmen man künftig zusammenarbeiten wolle. Die Botschafter der EU-Staaten hatten sich auf 15 Namen geeinigt, nachdem die Lage in der Ostukraine weiter eskaliert war. Die neuen Einreiseverbote und Kontensperrungen der EU treffen eine Reihe russischer Spitzenpolitiker sowie maßgebliche Vertreter der prorussischen Aufständischen im Osten der Ukraine. Die im Amtsblatt der EU veröffentlichte Namensliste wird angeführt vom russischen Vize-Ministerpräsidenten Dmitri Kosak. Zu den anderen prominenten Betroffenen gehört der Vertreter von Staatspräsident Wladimir Putin im "Föderationskreis Krim", Oleg Belawenzew. Auch der Chef des russischen Militärgeheimdienstes, Igor Sergun, sowie Generalstabschef Waleri Gerassimow und der russische Krim-Minister Oleg Saweljow stehen auf der EU-Sanktionsliste. Andere Betroffene sind der amtierende Gouverneur der ukrainischen Stadt Sewastopol, Sergej Menjailo, sowie die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der russischen Duma, Ljudmila Schwezowa und Sergej Newerow. Russisches Außenministerium: "Vollkommen kontraproduktiv" Das russische Außenministerium warf der EU am Dienstag vor, mit den "neuen unfreundlichen Gesten" gegenüber Russland den "Befehlen Washingtons" zu folgen. Einer der stellvertretenden Außenminister Russlands, Grigori Karasin, sagte laut der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die westlichen Sanktionen seien "vollkommen kontraproduktiv" und steuerten in eine Sackgasse. Vizeaußenminister Sergej Rjabkow warf den USA vor, mit ihrer Sanktionspolitik in die Zeiten des "Eisernen Vorhangs" zurückzufallen. Baldige Freilassung der Inspektoren? In der Ukraine kommt derweil Bewegung in die Gespräche über die festgehaltenen westlichen Militärbeobachter. Der Separatistenführer und selbsternannte Bürgermeister der Stadt Slawjansk sprach auf einer Pressekonferenz von Fortschritten. Der "Bild"-Zeitung sagte er zudem, es sehe so aus, als könnten die Inspektoren bald freigelassen werden, und zwar ohne Geiselaustausch. Die Separatisten hatten die Militärbeobachter, darunter vier Deutsche, am Freitag in ihre Gewalt gebracht. Schröder und Putin feiern zusammen Unterdessen wird ein Treffen von Altkanzler Gerhard Schröder mit Kremlchef Wladimir Putin kritisch diskutiert. Schröder feierte seinen 70. Geburtstag im russischen St. Petersburg nach. Als Putin in einer Wagenkolonne am Jussupow-Palais ankam, wurde er bereits von Schröder erwartet. Beide umarmten sich vor dem Palais herzlich. Schröder und Putin gelten als enge Freunde. Der SPD-Politiker war am 7. April 70 Jahre alt geworden. Bei der Feier handelte es sich nach einem Bericht des Internetportals fontanka.ru um einen Empfang der Nord Stream AG. Schröder ist Vorsitzender des Aktionärsausschusses des Unternehmens, das die gleichnamige Ostsee-Pipeline betreibt und vom russischen Staatskonzern Gazprom dominiert wird. Altkanzler Gerhard Schröder und Kremlchef Wladimir Putin ( picture alliance / dpa / Anatoly Maltsev) Parteifreunde distanzieren sich von Schröder Die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, sagte, Schröder habe mit dem Treffen die Bemühungen der Bundesregierung zur Eindämmung der Krise in der Ukraine torpediert. Selbst Parteifreunde des Alt-Kanzlers gingen auf Distanz. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, stellte klar, dass es sich um ein "privates Treffen" gehandelt habe. Er äußerte im Deutschlandfunk aber die Hoffnung, dass sich der Alt-Kanzler im Gespräch mit Putin für eine Lösung des Ukraine-Konflikts eingesetzt habe. Dann, so Mützenich wörtlich, "wäre das Treffen zumindest noch hilfreich gewesen". Auch CDU-Parlamentarier bei Empfang anwesend Kritik an Schröder kam auch aus der Union. "Ich war befremdet über das Umarmungsbild", sagte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt nach der Klausursitzung der Koalitionsspitzen in Königswinter. Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte, er könne die Begegnung von Schröder und Putin nach derzeitigem Stand "nicht als hilfreich betrachten". Allerdings: Bei dem Empfang war einem Bericht zufolge auch der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder anwesend. Nach Angaben der Tageszeitung "Die Welt" bestätigte Mißfelder Meldungen über seine Teilnahme an der Geburtstagsfeier. Der CDU-Politiker wolle sich jedoch nicht näher zu dem Vorgang äußern und sprach gegenüber der Zeitung von einer "privaten Reise". (pg/nch/ach/tön) Die OSZE in der UkraineIm Auftrag der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind derzeit Militär- und zivile Beobachter in der Ukraine im Einsatz.Die OSZE beschloss am 21. März mit der Zustimmung aller 57 Mitgliedsstaaten - also auch Russlands - einen zivilen Beobachtereinsatz in der Ukraine. Diese Mission begann einige Tage später. Etwa 100 Beobachter sind vor allem im Osten und Südosten der Ukraine tätig, sechs weitere in der Hauptstadt Kiew.Parallel dazu sind Militärbeobachter auf bilateraler Basis in die Ukraine entsandt worden. Grundlage für den Einsatz ist das sogenannte Wiener Abkommen. Es wurde 1990 beschlossen und gilt in den 57 OSZE-Staaten vom Atlantik bis zum Ural. In ihm sind Mechanismen verankert, die das Risiko einer militärischen Konfrontation verringern und mehr Vertrauen zwischen den Mitgliedsländern schaffen sollen.Während Russland dem zivilen Einsatz zustimmen musste, war dies bei der Mission der militärischen Inspektoren nicht der Fall. Es sind Mitglieder dieser militärischen Mission, die seit Freitag, 25. April, von Separatisten festgehalten werden. Unter ihnen sind drei Bundeswehroffiziere und ihr Dolmetscher. Sie waren auf Einladung der Ukraine im Land und waren unbewaffnet. Deutschland führt den Einsatz, ein Oberst der Bundeswehr ist Chef der Inspektorengruppe.Die ersten Inspektoren wurden Anfang März in die Ukraine geschickt, als sich die Situation auf der Krim zuspitzte. Die damals 51 Offiziere aus 28 Staaten sollten eigentlich die Lage auf der Halbinsel überprüfen, wurden aber nicht dorthin durchgelassen. Mit der Eingliederung der Krim in das russische Staatsgebiet Ende März verlagerten die Inspektoren ihren Einsatz in den Osten und Süden der Ukraine. Die Bundeswehr entsandte mehrfach Offiziere in die Inspektorenteams.Die deutschen Beobachter, auch der Dolmetscher, stammen vom Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen. Dort gibt es 140 Militärbeobachter, die speziell für solche Einsätze ausgebildet sind.
null
Nach der Besetzung der Regionalverwaltung im ostukrainischen Lugansk haben prorussische Separatisten auch das Polizeihauptquartier der Stadt gewaltsam gestürmt. Der ukrainische Übergangspräsident Turtschinow warf den Sicherheitskräften im Osten des Landes Unfähigkeit vor und bezeichnete sie als Verräter.
"2014-04-29T11:06:00+02:00"
"2020-01-31T13:38:11.978000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ostukraine-separatisten-stuermen-weitere-gebaeude-100.html
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Flut im Kampong
Wassermassen des Ciliwung schießen durch die Kampongs - alte, dörflich anmutende Viertel, in denen die Einwohner bis heute auf traditionelle Weise leben (imago / Zuma) Ist das tatsächlich ein übrig gebliebenes Fleckchen Regenwald - mitten in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, dem drittgrößten Ballungsraum der Welt? Der weitverzweigte Stamm direkt am Ufer des Flusses Ciliwung schaut aus wie ein prächtiges Exemplar der Gattung Gummibaum, umschlungen von Lianen und Buschwerk. An einem abgesägten Ast hängt ein Vogelkäfig. Gleich neben dem Baum schauen aus einer Hütte ein paar Erwachsene und Kinder zu uns hinüber. Wir winken, und eine Frau fragt neugierig: "Sie kommen doch sicher auch hierher, um die Umwelt zu studieren, den Fluss und das Hochwasser? Zuletzt kam hier ein Forscher aus Korea vorbei und stellte uns viele Fragen. Ob wir gern in unserer Hütte wohnen, ob wir nicht lieber in eine moderne Wohnung umziehen würden und so weiter. Als ob das alles so einfach wäre für arme Leute wie uns." Die Armen leben in Kampongs In der halb offenen Hütte sitzt eine Großfamilie auf Holzbänken: drei Frauen und ein Mann mittleren Alters, eine Großmutter und zwei kleine Kinder. Draußen ist es heiß, hier drinnen angenehm: Es weht eine leichte Brise, weil die Seitenwände aus geschreddertem Bambus nur bis zur Hüfte reichen. Durch die Ritzen im Strohdach dringen nur ganz wenige Sonnenstrahlen. Die Hütte ist rund 20 mal fünf Meter groß und wirkt geräumig. Schränke oder Kommoden fehlen, vor den Wänden stehen Bänke, Tische und Regale, auf denen sich Hausrat stapelt. Kleidungsstücke hängen von Leinen und Nägeln. Frau Hassana, die wie viele Indonesier nur einen Namen trägt, genießt den Augenblick: "Ja, solange es keine Probleme gibt, sitzt man hier wunderschön am Ufer im Grünen. Dann braucht man den Fluss auch nicht zu hassen. Allerdings wird das nächste Hochwasser nicht lange auf sich warten lassen. Dann wird mal wieder eine Welle auf uns zurollen und ich werde denken: Warum muss ich ausgerechnet hier auf diesem Fleck leben? Dann kommt das Wasser auch schon heran geschossen - mitten durch die Hütte - und reißt unseren ganzen Hausrat mit." In Sichtweite stehen etwa 20 weitere Hütten, manche mit hochgezogenen Wänden und richtigen Türen, an denen Schlösser hängen. Die kleine Siedlung trägt den Namen "Timur" und ist ein typischer "Kampong": So heißen in Indonesien die alten, dörflich anmutende Viertel, in denen die Einwohner bis heute auf traditionelle Weise leben - auch mitten in Großstädten. Im Großraum Jakarta leben inzwischen 32 Millionen Menschen, ein Drittel bis die Hälfte von ihnen in Kampongs. Genauer weiß das niemand, weil viele nirgendwo gemeldet sind. Der Kampung Tongkol ist eines von vielen kleinen Dörfchen am Ciliwung Fluß in Jakarta. Die Regierung möchte die Menschen in Hochhäuser umsiedeln. (imago / Zuma) Auch Sozialwohnungen kann sich kaum einer leisten In Hassanas Kampong fließt der Ciliwung noch frei: Die Ufer bestehen aus Erde und Steinen, Büschen und Bäumen sowie Trampelpfaden. Ein paar Meter weiter sitzen alte Menschen und Mütter mit Kindern auf selbst gezimmerten Bänken. Sie verkaufen Snacks, Getränke, Bonbon- und Erdnuss-Tüten, die ausgebreitet auf Holztischen liegen. Auf der unbefestigten Uferpiste kommen ab und zu Motorräder oder Motorroller vorbei. Das moderne Jakarta erblickt man von hier nur am Horizont: Dort ragen zwei moderne Apartment-Türme in den Himmel. "Die Menschen in den neuen Hochhäusern kümmern uns nicht. Das sind reiche Leute. Um ihnen Platz zu schaffen, werden immer mehr Kampongs geräumt. Die Regierung verspricht uns subventionierte Sozialwohnungen. Aber solange es geht, bleiben wir lieber hier: in unserer eigenen Hütte. Denn hier müssen wir keine Miete zahlen. Selbst die Sozialwohnungen kosten 25 Euro Miete pro Monat oder sogar noch mehr. Wasser und Strom kommen da noch oben drauf. So was können wir uns doch gar nicht leisten." Baufirmen üben Druck auf Anwohner aus Hassana zeigt Fotos von Bettgestellen und Schränken, die nach einer besonders hohen Flutwelle auf den Gummibaum vor ihrer Hütte gespült wurden. Dort hingen die Möbel damals in etwa zwei Metern Höhe. Ihren eigenen Hausrat hatte Hassanas Familie damals noch rechtzeitig auf eine höher gelegene Straße retten können: Auf einem der Fotos steht sie stolz neben drei geretteten Wokpfannen mit knallroten Griffen, die ich jetzt in ihrer Hütte wiedererkenne. Dort könnte es etwas eng werden, sobald es draußen regnet und alle nach drinnen möchten, erzählt sie. Allerdings hat sie sich diese Wohngemeinschaft auch nicht ausgesucht. "Zuvor habe ich flussabwärts in Cawang gewohnt, aber dort musste ich meine Hütte aufgeben. Und weil ich keinen Mann habe, blieb mir keine andere Wahl, als hierher zu meinen Verwandten zu ziehen. In Cawang kam eine private Baufirma und machte Druck, dass ich meine Hütte räumen soll. Ich habe mit denen so lange gestritten, bis sie mir eine Entschädigung gezahlt haben: rund 300 Euro pro Quadratmeter. Nun ist meine alte Hütte abgerissen und sie bauen dort bereits neue Apartmentblöcke." Hassana will nicht verraten, wie viel Geld sie insgesamt bekommen hat von der Baufirma, aber 300 Euro pro Quadratmeter klingen schon mal gar nicht schlecht. Denn Indonesien ist ein überwiegend muslimisches Land, und in der patriarchalischen Gesellschaft müssen alleinstehende Frauen aus einer schwachen Position verhandeln. Ins 17. Stockwerk "kommt das Hochwasser natürlich nie hin" Mit meinem Dolmetscher Michael verlasse ich den Kampong Timur. Nach fünf Minuten Fußmarsch erreichen wir den nächstgelegenen Apartmenttower. "Pancoran Apartments am Flussufer" steht auf einem Schild vor der umzäunten Anlage. Ein Wachmann winkt uns freundlich durch das Tor am Eingang. Noch ein paar Schritte, und wir stehen an einem Innenhof mit Basketball-Platz, der so auch in Brooklyn zu sehen sein könnte. Aber hier treibt niemand Sport: In der prallen Sonne ist es mindestens 40 Grad heiß, und die Wohntürme halten den Wind ab, der eben noch durch Hassanas Hütte wehte. Eine Frau in ihrem Alter steht vor einem Gebäude im Schatten. Sie trägt Sandalen, eine Art Sari und darüber eine Strickjacke, wie man sie drinnen in gekühlten Räumen anzieht. Wir fragen sie, ob sie hier gerne wohnt. "Ich bin auf den Molukken aufgewachsen und als Kind mit meinen Eltern nach Jakarta gezogen. Von meinen direkten Nachbarn hier in der Anlage kenne ich zwar kaum jemanden, aber ich kenne ein paar Menschen aus dem Kampong Timur. Denn die arbeiten hier als Wachleute und Putzfrauen. Mir gefällt es, so nah am Fluss zu leben. Allerdings wohne ich auch im 17. Stockwerk, da kommt das Hochwasser natürlich nie hin. Den armen Leuten im Kampong kann man nur wünschen, dass sie bald umgesiedelt werden. Vielleicht wohnen ja bald einige von ihnen hier, in meiner Apartment-Anlage." In den Pancoran Apartments geht es diskreter zu Nun macht Frau Maggie allerdings ein Gesicht, als würde sie daran selbst nicht so recht glauben. Sie ist genauso höflich wie Frau Hassana, aber eher distanziert als herzlich. Auf der anderen Seite: Wer würde schon in Deutschland zwei hergelaufene Männer in sein Apartment bitten? Hassana hatte es da einfacher gehabt: In ihrer Hütte saßen noch andere Familienmitglieder, und auch ihre Nachbarn hatten zu uns herüber geschaut. Hier in den Pancoran Apartments geht es diskreter zu. "Ich finde das Leben in Jakarta ganz okay. Ich habe mich daran gewöhnt. Die meisten Leute sind recht nett und freundlich. Mehr erwarte ich ja gar nicht. Ich lebe immer noch bei meinen Eltern, alles gut." Dann muss Maggie zum Friseur. Michael und ich möchten eigentlich auf geradem Weg zurück zum Fluss laufen, aber wir finden kein einziges Loch im Zaun der Wohnanlage, in Jakarta ein seltener Umstand. So nehmen wir wieder den Umweg durch das Haupttor. Ciliwung - größter von 13 Flüssen, die durch Jakarta fließen Der Ciliwung ist der größte von 13 Flüssen, die mitten durch Jakarta fließen, um dann im Norden in die Javasee zu münden. Bei tropischen Regenstürmen trat deren Wasser schon immer über die Ufer und flutete das Stadtgebiet. Doch seit einigen Jahren fallen die Hochwasser noch heftiger aus: Denn in den Vorstädten wurde inzwischen der meiste Wald gerodet, und viele Einbuchtungen wurden bebaut, sodass sie nicht mehr länger Wasser aufnehmen können. Ein Stück flussabwärts bin ich mit Andrea Fitrianto und Muhammad Kamil von den "Architekten ohne Grenzen" verabredet. Sie mögen die alten Kampongs, erklärt Fitrianto gleich zur Begrüßung. "Sie sind ein toller Lebensraum für Menschen und Tiere. Die Menschen lieben es, Vögel zu halten. An den Flussufern wachsen Bananen, Mangos und Papayas, und im Fluss kann man Fische angeln." Stigma der Kloake aus dem Kampongs Fische sind in Jakarta aber nur mit Vorsicht zu genießen: Nur sehr wenige Haushalte sind an Kläranlagen angeschlossen, die meisten Abwässer landen unbehandelt in Flüssen und im Meer - also bei den Fischen. Fitrianto räumt ein: "Wir Indonesier wissen, dass wir mit Abwässern und Abfall nicht gut umgehen können. Der Ciliwung kommt aus Bogor, einer anderen großen Stadt. Manchmal sieht man hier Plastiktüten mit Aufdrucken von dort. Nicht nur die Bewohner der Kampongs sind verantwortlich für den vielen Müll, sondern alle Bürger - gerade auch die von außerhalb." Nach der Flut bleibt der Müll: Es gibt zwar Umweltgesetze, aber die Menschen werfen ihren Müll trotzdem in die Flüsse. (imago stock&people) "Viele machen die Bewohner der Kampongs für die Hygieneprobleme der Stadt verantwortlich. Deren Einwohner gelten als schmutzig, manchmal sogar als Überträger von Krankheiten. Da ist immer dieses hochpolitische Stigma. Ob daran überhaupt was dran ist, hat noch keiner wirklich sachlich geklärt." Wir stehen mitten im Kampong "Dusem". Hier sind die Flussufer eingemauert: Massive, bis zur Hüfte ragende Deichwände sollen Überschwemmungen verhindern. Eine alte Fährfrau zieht an einer Leine ein hölzernes Boot zwischen den Ufern hin und her. Wir sind hier noch zehn Kilometer entfernt von der Küste, und nur alle paar Kilometer führen große Autobahnbrücken über die Flüsse. Die Bewohner der Kampongs müssen kleine, privat betriebene Fährboote nutzen. Drei Schüler schwimmen sogar durch den Ciliwung und halten dabei ihre Tornister hoch. 14.000 Familien in zwei Jahren zwangsgeräumt Der Architekt Fitrianto zeigt auf eine Schautafel mit Fotos, die die Bewohner des Kampong Dusem beim Aufräumen zeigen: Sie sammeln Müll und filtern inzwischen auch ihre Abwässer selbst, unterstützt von den "Architekten ohne Grenzen". Davon hatte ich zuerst in der "Jakarta Post" gelesen. Trotzdem sind viele Kampongs von Räumung bedroht: Die indonesische Stiftung für Rechtshilfe zählte innerhalb von zwei Jahren mehr als 200 Zwangsräumungen, bei denen 14.000 Familien ihr zu Hause verloren. In Dusem wollen die Bewohner dem Image von den vermüllten Slums rechtzeitig entkommen. Der Architekt Kamil sieht Jakarta zweigeteilt: "Jakarta besteht seit langem aus zwei Sphären: Der Norden wurde von den niederländischen Kolonialherren durchgeplant. Hier im Süden entstanden ungeplant die Kampongs, die bis heute organisch wachsen. Viele Menschen kommen von außerhalb, um in Jakarta Arbeit zu suchen, und die meisten landen zuerst in einem Kampong. Die Hütten und Häuser stehen hier alle bloß zwei oder drei Stockwerke hoch. Die Anwohner regeln alles untereinander: Wer darf Stühle auf den schmalen Uferweg stellen, wer parkt wo sein Moped? So versuchen sie, ihren Kampong lebenswert zu gestalten. Hier gibt es durchaus eine Ordnung - auch wenn vieles zuerst chaotisch erscheinen mag." Neue Uferstraße kündet von Autoverkehr Auf dem Fußweg am Ciliwung-Ufer Richtung Norden tauchen bald immer neue Hindernisse auf. Die Stadt wird städtischer: Wo vor kurzem noch Kampongs standen, stehen nun große Häuserblöcke mit Wohnungen und Büros, oder öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser. Immer öfter müssen wir das Flussufer verlassen und Umwege nehmen. Einmal müssen wir sogar über eine Stadtautobahn hasten. Als wir von dort zum Flussufer zurückkehren, wartet eine Überraschung: Im Kampong Bukit Duri, den ich noch vor wenigen Wochen unberührt gesehen hatte, hält gerade die Neuzeit Einzug. Ein Bagger reist in Bukit Duri Häuser am Chíliwung-Fluß ein - mehr als tausend in den vergangenen zwei Jahren. Das Gebiet ist von Überschwemmungen bedroht, deshalb sollen die Bewohner in Hochhäuser ziehen. Doch für viele ist das zu teuer. (imago / Xinhua) Am Ufer des Ciliwung steht bereits eine nagelneue Mauer, die bis zur Brust reicht. Mit Beton aus einem Mischfahrzeug errichten Arbeiter eine neue Uferstraße, inklusive Bürgersteigen und Geländern aus Metall. Sogar ein Vorfahrtschild wurde installiert, obwohl es gar keine Seitenstraßen gibt. Es ist auch noch kein einziges Auto zu sehen. Herrn Tanto, der an dem neuen Geländer lehnt, scheint das so recht zu sein: "Was haben wir von der neuen Straße? Die ist etwas für Autobesitzer. Von uns fährt keiner, wir gehen alle zu Fuß. Das soll angeblich eine "Inspektionsstraße" werden, von der bei Überflutungen die Lage erkundet werden soll. Aber das ist sicher nur eine Ausrede, um uns bald den ganzen Autoverkehr vor die Nase zu setzen. Drüben, im Schatten der Bäume, ist es deutlich kühler und angenehmer als auf der neuen Straße." Stadt will "Ufer von 350.000 Einwohnern 'befreien'" Nun ist in Bukit Duri die ganze Stadt auf einem Fleck vereint: Die Uferstraße und die Bautrupps stehen für die Veränderungen, auf einem hundert Meter breiten Streifen stehen die verbliebenen Kampong-Hütten und weiter landeinwärts ragen bereits erste Hochhäuser in grauem Beton. Herr Tanto trägt eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck "Just Do It" und eine coole Sonnenbrille. Der ältere Mann neben ihm - mit Poloshirt und Baseball-Kappe - taxiert das seltsame Gespann von europäischem Reporter und einheimischem Dolmetscher. Dann meint Herr Papan Djum: "Wir sollen doch letztlich alle von hier verschwinden, um den Uferstreifen freizumachen. Prinzipiell haben wir ja gar nichts dagegen, aus unseren alten Hütten in neue Apartments zu ziehen. Aber die Großfamilien wollen zusammenbleiben. Wir wollen nicht getrennt über die Riesenstadt verstreut werden. Wir haben hier feste Kontakte zu unseren Nachbarn entwickelt, die wollen wir auch weiter pflegen." Viele der ärmeren Einwohner haben keine Rechtstitel für ihre Grundstücke und können deshalb nur auf ihr Gewohnheitsrecht verweisen. Organisationen wie Human Rights Watch werfen der Stadtregierung vor, die alten Viertel rücksichtslos zu räumen, um sie an Baugesellschaften zu übergeben. Der städtische "Generaldirektor für Flüsse" verkündete in einheimischen Medien, dass er allein die Ufer des Ciliwung von 350.000 Einwohnern "befreien" möchte. Nur wer dort aus Behördensicht "rechtmäßig" wohnt, erhält anschließend eine kleine Entschädigung und kann eventuell in eine kommunale Wohnung umziehen. "Im Kampong staute sich das Wasser der Bäche" In Bukit Duri haben die Herren Tanto und Papan Djum noch neue Jobs in ihrer alten Heimat gefunden: Sie stehen in einem neu erbauten, lavendelfarben gestrichenen Pumpenhaus und wachen über ein mannshohes, schmiedeeisernes Schwungrad, das die Wand eines Stauwehrs steuert. Bei Hochwasser sollen sie die Stauwand schließen und ein paar kleine Bäche stoppen, bevor die den Pegel des Ciliwung noch höher treiben. "Das Stauwehr ist neu und wir mussten es bisher erst einmal schließen: Das Hochwasser kam, wir wurden alarmiert und schlossen die Stauwand. Der Ciliwung trat nicht über die Ufer. Aber im Kampong staute sich das Wasser der Bäche." Nach heftigem Starkregen hat die Flut des Ciliwung-Flusses nur Trümmer und Müll hinterlassen. (imago / Zuma) Es ist Nachmittag geworden und noch etwas heißer. Wir merken, dass wir die Mündung des Ciliwung nicht mehr zu Fuß erreichen können. Deshalb verlassen wir das Flussufer und gehen fünf Minuten zur nächsten Stadtautobahn. Staumauern trennen Reich von Arm Ein echter Kulturschock: Plötzlich rauschen Limousinen, Laster, SUVs und Motorrikschas auf sechs Fahrspuren vorbei. Die schmalen Bürgersteige sind zugeparkt. Dort huschen wir von Lücke zu Lücke, bis wir eine Fußgängerbrücke erreichen. Dort steigen wir eine Treppe hoch und in der Fahrbahnmitte wieder hinunter auf eine Verkehrsinsel im tobenden Verkehr: eine Haltestelle für "Transjakarta"-Autobusse, die auf eigenen Fahrspuren an endlosen Staus vorbei durch Jakarta brettern. Der Bus ist überfüllt. Aber nach den Temperaturen draußen freuen wir uns über die Klimaanlage. Nach einer halben Stunde steigen wir im Stadtteil Bandan aus. An der Saharistraße fallen zuerst mehrere große Hotels, eine Karaoke-Bar, ein Baumarkt und eine Tankstelle ins Auge. Kurz vor der Mündung fließt der Ciliwung bereits auf 20 Metern Breite, anfangs in Timur waren es nur acht Meter gewesen. Hier stehen am Ufer meterhohe Betonmauern, und schon in Sichtweite führen mehrere Brücken über den Fluss. "Gleich kommen der Yachthafen und der Strandklub", steht auf einem Plakat. Der Fahrer eines Motorradtaxis kommt zu uns herüber, um seine Dienste anzubieten. Hat er hier noch gelegentlich mit Hochwasser zu tun? "Das Schlimmste habe ich hier 1996 erlebt: Das Wasser reichte bis zur Brust und die Elektrizität wurde abgeschaltet. So etwas passierte damals so alle vier bis fünf Jahre. Aber seitdem ist es besser geworden: Nun räumen wir hier im Viertel auf - nur zwei, drei Stunden lang – und dann öffnet die Schule meiner Tochter auch schon wieder. Dann geht das Leben weiter." Am nächsten Tag wird der Gouverneur von Jakarta die Räumung eines weiteren Kampongs ankündigen.
Von Achim Nuhr
Die 32-Millionen-Metropole Jakarta sinkt schneller als der Meeresspiegel steigt, die City sackte bereits bis zu fünf Meter ab - Weltrekord. Gleichzeitig fallen die Fluten nach Tropenstürmen immer heftiger aus. Nun werden Mauern gegen Überschwemmungen gebaut, doch das trifft vor allem die Armen.
"2018-05-06T11:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:04.709000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochwasserschutz-in-indonesien-flut-im-kampong-100.html
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Der Streit um die Mine im Kosovo
Trepca-Mine in der heute geteilten Stadt Mitrovica. (Deutschlandradio / Dirk Auer) Aber die Mine war und ist nicht nur ein Wirtschaftsfaktor.1989 verbarrikadierten sich die kosovo-albanischen Bergleute in den Schächten, um mit einem Hungerstreik gegen die drohende Abschaffung der Autonomie des Kosovo zu protestieren. Bis heute spiegelt sich der ungelöste Kosovo-Konflikt auch unter Tage wider: Serben und Albaner arbeiten ausschließlich in "ihren" Bergwerken. Während der Nordteil von Belgrad kontrolliert wird, steht der Süden unter Kontrolle der Autoritäten in Prishtina. Und doch ist die Hoffnung auf beiden Seiten groß, dass Trepca wieder zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden könnte. Arbeiter unter Tage in der Trepca-Mine bei Mitrovica (dpa / picture alliance / Dirk Auer) Mitarbeit: Una Hajdari
Von Dirk Auer
Sie galt einst als "Kronjuwel" des Kosovo: Die Trepca-Mine in der heute geteilten Stadt Mitrovica. Zu jugoslawischer Zeit gruben hier bis zu 20.000 Bergleute nach Blei, Zink und Edelmetallen; fast alle Familien in und um Mitrovica haben direkt oder indirekt von Trepca gelebt.
"2017-04-29T11:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:19:18.335000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mythos-trepca-der-streit-um-die-mine-im-kosovo-100.html
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Streitpunkt Athleten-Klassifizierung
Rollstuhlbasketball ist ein Publikumsmagnet - wie hier das Spiel Deutschland - Großbritannien bei den Paralympics 2016 (picture alliance / Nordphoto) Welchen Grad körperlicher Einschränkung müssen Athleten aufweisen, damit sie bei den Paralympics teilnehmen dürfen? Daran entzündet sich nun ein Konflikt, bei dem die populärste Mannschaftssportart der Spiele, der Rollstuhlbasketball aus dem Programm genommen werden könnte. Jedenfalls droht das Internationale Paralympische Komitee IPC damit, wenn der Rollstuhlbasketball-Weltverband nicht bis Ende Mai die Anforderungen des neuen Klassifizierungssystems erfüllt. Dieses wurde 2015 beschlossen und ist 2017 in Kraft getreten. Bis Ende Januar sei dieses neue Klassifizierungssystem kein so bedeutendes Thema gewesen, erklärt der Präsident des Rollstuhlbasketball-Weltverbandes, Ulf Mehrens gegenüber unserem Sender: "Wir führen seit 2015 mit dem IPC einen Dialog, wo es um die Klassifizierung geht von Menschen mit einer totalen - ich will es mal ganz einfach ausdrücken - totalen Behinderung bis zu einer leichten Behinderung. Das ist ein sehr lockerer, normaler, offensiver Diskussionsbeitrag gewesen von beiden Seiten. Wir haben dann 2016 Rio gemacht mit dem Klassifizierungssystem, was uns seit Jahren begleitet." Neue Bewertung von körperlichen Beeinträchtigungen Und das aus der Sicht der Rollstuhlbasketballer gut funktioniere, weil es die unterschiedlichen Grade körperlicher Einschränkung in einem Team zusammenbringt durch ein ausgeklügeltes Punkte-System. Leichter eingeschränkte Spieler, etwa mit einem kaputten Knie werden mit 4,0 bis 4,5 Punkten bewertet, Spieler mit großen Einschränkungen, wie einer Querschnittslähmung, mit einem Punkt. Die 5 Spieler auf dem Feld dürfen zusammen nie mehr als 14 Punkte mitbringen. Das Internationale Paralympische Komitee sieht in diesem System vor allem die mit 4,0 und 4,5 Punkten bewerteten Athleten kritisch und fordert, dass die Spieler nochmal einer Bewertung unterzogen werden mit der Begründung: "Der IWBF ist prinzipiell großzügiger in der Anerkennung körperlicher Schädigungen, von denen viele aus den zehn anerkannten Beeinträchtigungen herausfallen, die das Klassifizierungssystem vorsieht." Anders als Rollstuhlbasketball-Weltverbandspräsident Ulf Mehrens erklärt das IPC zudem, dass die bisherige Auseinandersetzung zum neuen Klassifizierungssystem keine lockeren Gespräche gewesen seien. Sondern teilt schriftlich dazu mit: "Das ist keine neue Angelegenheit. Der IWBF (Verband) war seit Jahren darüber informiert und hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit sich damit zu befassen. Wir haben mit dem IWBF viele Monate zusammen gearbeitet um eine Lösung zu finden. Bis jetzt war der IWBF nicht bereit zu kooperieren um die Anforderungen zu erfüllen und daher mussten wir nun eine Entscheidung fällen." Bleibt noch genug Zeit für die Begutachtung? Dass es jetzt noch sechseinhalb Monate bis zum Beginn der Spiele sind, sei zwar bedauerlich, aber es sei noch genug Zeit um die Anforderungen zu erfüllen. Auch hier gehen die Ansichten auseinander. Denn eine neue Begutachtung der Spieler kostet Zeit, ebenso müsste für eventuelle Einsprüche ein Schiedsgerichtsverfahren bedacht werden, erklärt Weltverbandspräsident Ulf Mehrens, der zugleich Präsident des deutschen Rollstuhlbasketballverbands ist. "Das ist unschön, sehr, sehr unschön. Sie müssen sich vorstellen, dass auf der ganzen Welt alle Qualifizierungsturniere gespielt worden sind und die Mannschaften natürlich mit dem alten Klassifizierungssystem angetreten sind. Das hat erhebliche Auswirkung auf Spielerqualität, das hat erhebliche Auswirkung auf Sponsoren vor Orte." Frustrierte Spieler, ideologischer Streit Daher sei die ganze Rollstuhlbasketballwelt und ganz besonders die zehn qualifizierten Frauen - und zwölf Männermannschaften für die Spiele in Tokio gerade erschüttert darüber, dass jetzt so ein scharfer Wind weht und der Sportart der Ausschluss vom wichtigsten Wettbewerb droht. Zumal es ein Publikumsmagnet ist, der auch gerne im Fernsehen übertragen wird. Gerade deswegen ist Männer-Bundestrainer Nicolai Zeltinger diese Zuspitzung jetzt schleierhaft. Er weiß nach erfolgreicher Qualifikation und mitten in der Vorbereitung nicht, ob sein Team nach Tokio fahren darf und wenn ja, mit welchen Spielern. Jetzt müssen schnell neue Untersuchungen stattfinden, Diagnosen geschrieben, übersetzt und dann das ganze Verfahren abgewartet werden. Parallel dazu wird weiter trainiert. Viele haben dem Sport oberste Priorität vor Ausbildung und Beruf eingeräumt und sind frustriert. Zeltinger bedauert dabei auch den ideologischen Streit: "Inhaltlich halte ich es für sehr gravierend, dass wir jetzt in eine Debatte gerutscht sind, wo darüber diskutiert wird – ist ein Mensch behindert genug, um daran teilzunehmen oder reicht die Behinderung nicht? Da muss ich ganz ehrlich sagen, das ist ja eigentlich eine Ausgrenzung und fast eine Diskriminierung von Behinderten. Dahinter steckt natürlich die Frage: Was ist Behinderung? Und das ist halt eben eine Frage, die auch nicht ganz leicht zu beantworten ist." Inklusiver Ansatz gefährdet Und die bei strikter Auslegung auch bedeutet, dass die Paralympics eine exklusivere Veranstaltung sind. So ist die erklärte Absicht des IPC, dass paralympischer Sport denjenigen vorbehalten ist, die eine anerkannte Beeinträchtigung haben. Als anerkannt gelten die in einer Liste ausdrücklich genannten Schädigungen. Der Rollstuhlbasketball versteht sich seit Jahren jedoch als inklusive Sportart, die Menschen mit wenig und mit erheblichen Einschränkungen und zum Teil auch sogar ganz ohne Behinderung zusammenbringt. Dass die leichter Geschädigten die schwer Geschädigten aus dem Wettbewerb verdrängen könnten, sieht Nicolai Zeltinger beim Rollstuhlbasketball nicht. Im Gegenteil – ohne die weniger behinderten Spieler gäbe es gar nicht so viele Mannschaften in Deutschland, eine so hohe Akzeptanz der Sportart bis in Schulen hinein und ein entsprechend breit aufgestelltes Angebot. Ohne diesen inklusiven Ansatz könnten viele schwer Behinderte ihren Sport gar nicht ausüben. Genau diesen Ansatz sieht der Rollstuhlbasketball nun gefährdet.
Von Jessica Sturmberg
Die deutschen Rollstuhlbasketball-Spielerinnen und Spieler sind entsetzt: Sechseinhalb Monate vor dem Beginn der Paralympics in Tokio fordert das Paralympische Komitee, dass körperliche Beeinträchtigungen neu bewertet werden. Einer der populärsten Behindertensportarten droht dadurch bei den Spielen das Aus.
"2020-02-16T19:40:00+01:00"
"2020-02-18T15:32:05.765000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rollstuhlbasketball-streitpunkt-athleten-klassifizierung-100.html
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Wie die Digitalisierung die Popmusik verändert
Popmusik ist immer und überall verfügbar (Unsplash / Sai Kiran Anagani ) Alles, was im Überfluss vorhanden und zugänglich ist, verliert an Wert, nicht nur an materiellem. Wie sich die Wertigkeit von Popmusik verändert hat, seit man sie nicht nur zu Hause am Plattenspieler und beim Livekonzert hören kann, sondern immer und überall, und seit man sie sich relativ unaufwändig immer und überall besorgen kann. Und wie sich im Zuge dessen auch ihre Vermarktung und Rezeptionsweisen verändert haben - diesen Fragen ist der Mediensoziologe Robert Seifert nachgegangen, im Transcript Verlag ist soeben seine Dissertation "Popmusik in Zeiten der Digitalisierung" erschienen Weniger Wertschätzung Durch die Quantität der verfügbaren Popmusik gehe auch die Wertschätzung und Aufmerksamkeit dafür verloren, da ohne Plattenhüllen und CD-Cover die Informationsbeschaffung nicht mehr automatisch gegeben sein. Gleichzeitig habe man aber über das Internet auch mehr Möglichkeiten, aktiv mit Musik umzugehen, so Robert Seifert. Wir haben noch länger mit Robert Seifert gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Ein unvorhersehbarer Nebeneffekt der Digitalisierung sei außerdem die verstärkte Nachfrage nach Vinyl und Live-Konzerten, denn die Menschen wollten zurück zur physischen Erfahrung. Der Wunsch nach mehr Authentizität drücke sich auch in dem Trend zu handgemachter Musik, zu Singer-Songwriter- und Folkmusik aus, wie sie etwa Ed Sheeran spiele. Außerdem werde Musik mittlerweile so produziert, dass sie auch auf schlechteren Laptop- oder Smartphone-Lautsprechern gut klinge. Robert Seifert: "Popmusik in Zeiten der Digitalisierung. Veränderte Aneignung – veränderte Wertigkeit"Transcript Verlag Bielefeld, 2018. 368 Seiten, 29,99 Euro.
Robert Seifert im Corsogespräch mit Sigrid Fischer
Die Digitalisierung sei der Grund dafür, dass sich die Aneignung, der Produktionsprozess und damit die Popmusik selbst verändere, sagte der Mediensoziologe Robert Seifert im Dlf. So werde das klassische Band-T-Shirt heute durch den Soundtrack ersetzt, den man mit sich führe.
"2018-07-25T15:12:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:17.228000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mediensoziologe-zu-musik-rezeption-wie-die-digitalisierung-100.html
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"Der Mensch entwickelt sich, indem er spielt"
Drei Milliarden Euro werden in Deutschland jedes Jahr für Spielzeug ausgeben. Pro Kind sind das 290 Euro. (dpa/ Foto: Monika Skolimowska) "Der Mensch spielt, seit es ihn gibt. Und damit ist Spielen quasi der Ursprung des menschlichen Handelns. Auch des menschlichen Denkens. Der menschlichen Weiterentwicklung. Der Mensch entwickelt sich, indem er spielt." - Dr. Karin Falkenberg, Volkskundlerin und Direktorin des Nürnberger Spielzeugmuseums. "Eigentlich ist unsere Kultur nur auf der Grundlage von Spiel denkbar. Dass quasi spielerische Tätigkeiten, auch wenn sie nicht immer explizit als Spiel betitelt sind, der wesentliche Innovationsmotor für gesellschaftlichen Wandel, für das Hervorbringen von Kultur sind." - Dr. Volker Mehringer, Erziehungswissenschaftler, Spiel- und Spielzeugforscher, Universität Augsburg. "Die Gesellschaft beeinflusst das Spielzeug. Also diese Ideen, die in einer Gesellschaft sind, zu dem, was ist normal, das fließt eindeutig ein in die Produktion von Spielzeugen. Nicht umsonst gibt es so wenig Spielzeuge, die unterschiedliche Dimensionen aufgreifen." - Prof. Dr. Wiebke Waburg, Erziehungswissenschaftlerin, Universität Augsburg. Sie und ihr Team, zu dem auch Volker Mehringer gehört, untersuchen Spielzeug und Spielverhalten unter pädagogischen und soziologischen Gesichtspunkten. Ein wichtiges gesellschaftliches Thema, denn alleine im Vorschulalter verbringen Kinder bis zu 15.000 Stunden mit Spielen. "Innerhalb dieser Zeit oder innerhalb dieser Altersspanne, durchlaufen Kinder auch die größten Entwicklungsschritte. Auf jeder Ebene. Sei es die soziale Entwicklung, sei es die motorische Entwicklung, Intelligenz und kognitive Entwicklung." Empathie lernen durch Rollenspiele Überaus beliebt sind bei den Kindern dieser Altersgruppe Rollenspiele. Sie stellen Situationen nach, die sie aus ihrem Alltag im Familienverbund kennen. Dabei bereitet es ihnen besonderes Vergnügen, aus ihrer gewohnten Kind-Situation auszubrechen und im Spiel miteinander den Blickwinkel der Erwachsenen einzunehmen. Vater-Mutter-Kind: Rollenspiele prägen das Sozialverhalten. (dpa / picture alliance) "Die Lust, mal in die Elternrolle zu schlüpfen, diese andere Machtposition, mal in der Hierarchie oben zu stehen und da bestimmen zu können. Oder mal Cowboy und Indianer zu sein oder Polizist zu spielen. Das sind ganz, ganz wichtige Schlüsselkompetenzen für soziales Agieren. Empathie, Rollenwechsel, Rollenverständnis, soziales Aushandeln. Das ist unglaublich komplex. Das traut man manchen Spielsituationen gar nicht zu, was für eine Tiefe da oft drin steckt." Eltern spielen heute mehr mit Wie Kinder mit bestimmten Spielzeugen umgehen, wie sie sich in Spielsituationen verhalten, wie sich ihre interaktive Kommunikation mit anderen Kindern oder Erwachsenen gestaltet, liefert den Augsburger Wissenschaftlern wichtige Informationen. Dazu gehen sie regelmäßig in Kindergärten oder in den Familienbereich und erhalten aus Beobachtungen, Testreihen und Fragebögen wichtige Informationen. Ein klarer Trend ihrer Analysen: Haben frühere Eltern-Generationen ihre Kinder beim Spielen oft sich selbst überlassen, spielen Mütter und Väter heute mehr mit ihrem Nachwuchs. Wichtig dabei ist: "Dass man Impulse gibt, dass man Kinder zu bestimmten Spieltätigkeiten anregt, dass man selber mitspielt, was die Eltern- Kind-Interaktion total prägen kann und was auch mehrfach durch Forschung bestätigt ist, ganz stark die Bindung zwischen Eltern und Kind fördern kann. Was aber auch eventuell die Schattenseite haben kann, dass ein Kind sich daran auch gewöhnt. Und ich glaube, das kann man auch ein bisschen mit moderieren. Wie viel Zeit möchte ich denn gerne mit meinem Kind spielen, wie sehr braucht es mein Kind auch? Da gibt es ganz große individuelle Unterschiede zwischen den Kindern, dass ich merke, das hilft ihm jetzt total und das bringt uns näher zusammen, wenn ich mit dem Kind spiele und dann kann es Phasen geben, wo ich so etwas intensiver mache und dann gibt es auch Phasen, wo ich sage: Da nehme ich mich jetzt wieder etwas zurück und versuche es zu ermutigen, auch Sachen alleine spielen zu können." Unterschiedliche Gütesiegel für Spiele Ob alleine oder gemeinsam mit Eltern oder Spielkameraden: Gutes Spielzeug sollte es sein, mit dem sich Kinder beschäftigen. Über die Qualität von Spielzeug wachen in Deutschland verschiedene Institutionen wie TÜV oder Ökotest, die Spielzeug auf technische und toxische Sicherheit überprüfen und dementsprechend zertifizieren. Schon seit 1955 steht das bundesweit älteste Gütesiegel "Spiel Gut" für pädagogisch wertvolles Spielzeug. Regelmäßig trifft sich dafür ein ehrenamtliches und unabhängiges Gremium aus Fachleuten. Ob der Spielwert eines Spielzeugs für die Kinder wirklich optimal ist, entscheidet die Runde per Mehrheitsbeschluss. Auch Volker Mehringer ist einer der "Spiel Gut"- Juroren. Was qualitativ gutes Spielzeug ausmacht, interessiert ihn natürlich auch für seine wissenschaftliche Arbeit als Spielzeugforscher. "Also, dass Spielzeug den Kindern bestimmte Spielmöglichkeiten eröffnet und dass es da vielleicht verschiedene Qualitätsstufen gibt. Also dass manche Spielzeuge mehr zu Spiel anregen und auch zu vielseitigerem Spielen und zu längerfristigem Spielen. Was gibt es eigentlich für unterschiedliche Aspekte und Kriterien, wie man Spielzeug bewerten kann und dementsprechend die Qualität von Spielzeug? Und die bemisst sich ausschließlich daran, was letztendlich für ein Spiel dadurch möglich wird. Im Mittelpunkt bleibt immer das Spielen." Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der die Augsburger Spielzeugforscher interessiert, ist die Analyse des Kaufverhaltens. Dabei beschäftigt sie zum Beispiel die Frage: "Wer wählt Spielzeug, wie, anhand welcher Kriterien aus? Und da gucken wir unterschiedliche Akteure an. Kinder als allererste. Das ist so eine Veränderung, die sich in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft durchgesetzt hat, dass man Kinder als aktive sozial handelnde Akteure wahrnimmt und auch so behandelt und deswegen macht man das auch in der Forschung so, dass man nicht mehr sagt, ich frage die Eltern oder die Erzieherin, die pädagogischen Fachkräfte, sondern wir fragen auch die Kinder heutzutage." Und das aus gutem Grund, denn Kinder scheinen in Sachen Spielzeugkauf die letzte und entscheidende Instanz zu sein. "Unsere Untersuchung hat natürlich sehr stark gezeigt, dass der Kinderwunsch eine ganz große Rolle spielt. Also bei den Kleinen, die können sich ja noch nicht so gut äußern, da spielt das noch keine so große Rolle, aber je älter die werden, wenn die sich nachher artikulieren und sagen, das möchte ich - da ist das für die Eltern schon ganz schwer zu sagen: Das Spielzeug möchte ich nicht." Aktuell angesagt: die Drehscheibe "Fidget Spinner". Der pädagogische Wert ist umstritten. (picture alliance / Petr Sznapka / CTK / dpa) Viele Eltern, Großeltern oder Sorgeberechtigte gehen bedingungslos auf die Spielzeugwünsche ein, um dadurch ihre Beziehung zu den Kindern positiv zu beeinflussen. Da werden dann auch schon einmal die Augen zugedrückt, was den pädagogischen Wert von einzelnen Spielzeugartikeln angeht. Warum sich Kinder ganz hartnäckig für ein besonderes Spielzeug interessieren, hat nicht immer nur individuelle Bedürfnisgründe. Schon für Kinder im Vorschulalter werden Autos, Figuren oder Puppen bestimmter Hersteller zum Statussymbol, deren Besitz in der Gemeinschaft über Ausgrenzung oder Gruppenzugehörigkeit entscheiden kann. Doch nicht in jeder Familie ist das Geld für alle jeweils angesagten Spielzeugartikel vorhanden. "Und deswegen entwickeln Eltern teilweise ganz kreative Strategien, das ist ja heute alles möglich, dann wird da eben über Ebay-Kleinanzeigen billiger gekauft, gebraucht gekauft. Egal ob die Eltern viel Geld haben oder wenig Geld, trotzdem wird viel Geld in Spielzeuge investiert." Spielwarenmesse liefert 100.000 Neuheiten pro Jahr Drei Milliarden Euro werden in Deutschland jedes Jahr für Spielzeug ausgeben. Pro Kind sind das 290 Euro. Das ist der Spitzenplatz in Europa. Über solche Zahlen freut sich die Branche und entwickelt laufend neue Produkte. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg, der weltweit wichtigsten Veranstaltung ihrer Art, werden jedes Jahr bis zu 100.000 Neuheiten vorgestellt. Branchenintern bezeichnet man Nürnberg gerne als "Toy-City". In der Großregion Nürnberg haben viele große Spielzeugproduzenten ihren Firmensitz. Schon im Mittelalter war die fränkische Stadt Zentrum der Spielwarenherstellung. Im Nürnberger Spielzeugmuseum wird an dieses interessante Kapitel der Stadtgeschichte erinnert. "In dieser Vitrine haben Sie die zarten Anfänge des Spielzeugs, was man eben davon erhalten hat. Hier für Mitteleuropa interessant sind diese kleinen Docken, so heißen die bei uns in Nürnberg. Das sind Puppen mit Kruseler Hauben, also in dem Stil der Damen des 13. und 14. Jahrhunderts. Ganz eindeutig auch Modepuppen, aber zum Spielen gemacht für Kinder." Diese aus Holz gedrechselten, meist etwa zehn Zentimeter großen Figuren, wurden in den Nürnberger Manufakturen in Massen hergestellt und zum Verkaufsschlager, der auch in andere Städte, Regionen und Länder verkauft wurde. Passend für Jungen gab es solche Docken auch als Reiter mit Pferd. "Spielzeug ist nie unschuldig. Spielzeug hat meisten eine Intention und natürlich sollten die jeweiligen Geschlechter auf ihre Rollen vorbereitet werden. Die waren in früheren Jahrhunderten sehr viel traditioneller, als sie es heute noch sind. Aber ganz klar, die Mädchen sollten sich mit Mode beschäftigen, sollten den Haushalt beherrschen lernen. Die Jungs sollten sich im Wehren üben, sollten Reiten lernen, sollten kämpfen lernen. Kleine Schwerter zu haben, kleine Schaukelpferde zu haben, das geht noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein, dass das ein klassisches Jungs-Spielzeug war, zu reiten, auf Pferden zu sitzen und ein klassisches Mädchenspielzeug Puppenküchen zu betreiben und das ganz Inventar dieser Küchen zu lernen und wahrzunehmen. Also Spielzeug hatte eine Doppelrolle. Es war zum Spielen da, aber es war auch ganz klar zur Erziehung der Mädchen und der Jungs eingerichtet worden." Stumme, aber aussagekräftige Zeugen Die Welt der Erwachsenen diente in Spielzeugformat als Vorlage für das eigene spätere Leben. Das Museum zeigt dafür viele Beispiele. Eine bis ins Detail nachgebildete Mini-Metzgerei, ein Klassenraum mit Schüler-Figuren, die in engen Bänken sitzen. Der Lehrer steht vor der Klasse und drischt mit dem Zeigestock auf das Hinterteil eines Schülers ein. Auch das gehört zum Zeitgeist und zur Realität vergangener Jahrhunderte. Es gibt viele aufwendig gestaltete Puppenküchen mit Herden, Töpfen, Pfannen, Rührschüsseln und Küchengeräten. Für die Volkskundlerin Karin Falkenberg sind diese wirklichkeitsgetreuen Spielzeugwelten aus vergangenen Jahrhunderten stumme, aber aussagekräftige Zeitzeugen. "Wir können damit Kulturgeschichte der Vergangenheit nachvollziehen und teilweise viel präziser als mit vielen anderen Quellen, die wir haben. Wir haben natürlich Bildquellen, wir haben textliche Quellen, aber wenn wir plötzlich so ein kleines Spielzeug in der Hand haben und sehen, wie authentisch etwas nachgebildet ist, dann hat man plötzlich einen Einblick in vergangene Realitäten, die andere Quellen in dieser Eindrücklichkeit nicht bewerkstelligen können. Puppenhäuser zeigen Einrichtungsstile idealtypisch aus vergangenen Jahrhunderten, die wir in normalen Häusern nie erhalten konnten. Aber wenn man die Puppenstuben anguckt, die erhalten sind aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, da hat man teilweise richtig intakte, idealtypische Wohnwelten der jeweiligen Zeit." Aussagekräftige Zeitzeugen: wirklichkeitsgetreue Spielzeugwelten aus vergangenen Jahrhunderten (picture-alliance / dpa / Daniel Bockwoldt) In einer anderen Vitrine zeigen Ausstellungsstücke, wie manipulativ Spielzeug sein kann, wie es die Meinung von Kindern prägt, ihren Blick auf die Gesellschaft beeinflussen kann. Hitler am Rednerpult, den rechten Arm zum Gruß emporgestreckt. Figuren in SA- und SS-Uniformen, Wehrmachtssoldaten, Hakenkreuzfahnen. Das Dritte Reich in Spielzeugformat. Nationalsozialistisches Gedankengut eroberte ab 1933 auch die Kinderzimmer. "Daran sieht man, wie wichtig es ist, sich mit Spielzeug intensiv auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, was machen wir denn da eigentlich gerade, wie prägen wir unsere Kinder? Was vermitteln wir denen? Was trauen wir ihnen zu, was können sie selber machen, was können sie auch noch nicht selber entscheiden? Mit welchen Ideal-Vorstellungen und welchen Ideal-Bildern konfrontieren wir sie oder geben sie ihnen völlig unreflektiert an die Hand und was bewirkt das dann? Und das Schöne ist, hier im Spielzeugmuseum, hier kommen die Diskussionen auf und hier ist diese Bewusstwerdung, was Spielzeug alles ist und was es alles bedeutet und was es auch für Effekte haben kann." Mädchen spielen auch mit "Jungsspielzeug" Dass Spielzeug durch die Jahrhunderte hinweg bis heute ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, vielmehr aber noch Spiegelbild des gesellschaftlichen Denkens, beschäftigt auch die Augsburger Spielzeugforscher Wiebke Waburg und Volker Mehringer. Sie wollten wissen, wie sich die Veränderung im Rollenverständnis von Frau und Mann in der modernen westlichen Welt auf den Umgang mit Spielzeug niedergeschlagen hat und kamen in einem Versuch zu erstaunlichen Ergebnissen. Viele Jungs zeigten zwar großes Interesse an "typischem Mädchenspielzeug", lehnten aber dennoch ab, damit intensiver zu spielen. "Da gibt es so etwas wie eine gewisse soziale Grenze, ein sozial gewünschtes Verhalten, wie ich mich verhalten soll als Junge. Und dazu gehört auch, dass ich im Regelfall nicht mit Mädchenspielzeug spiele. Umgekehrt aber, dass sich das für Mädchen mehr geöffnet hat, dass die gesagt haben: Das ist Jungs-Spielzeug, damit kann ich aber auch spielen, da habe ich überhaupt kein Problem mit. Das deckt sich mit vielen anderen Studien, die aussagen, dass in den letzten Jahrzehnten eher eine Schließung des Spielzeugs für Jungs passiert, dass die eher bei ihrem Jungsspielzeug bleiben und durch eine Veränderung der weiblichen Geschlechterrolle da eine Öffnung stattgefunden hat, dass es eher okay ist, für Mädchen mit Jungsspielzeug breiter zu spielen und für Jungs weniger okay ist, mit Mädchenspielzeug zu spielen. Und das fanden wir total spannend." Die Normvorstellungen aus der Erwachsenenwelt fließen auch in das Spielwarensortiment vieler Produzenten ein. Sie bedienen die Rollenerwartungen und Klischees, weil sie damit gute Umsätze machen. Welchen Einfluss das auf die Entwicklung der sozialen Kompetenzen unserer Kinder hat, ist eine der aktuellen Fragen, der die Augsburger Wissenschaftler Wiebke Waburg und Volker Mehringer auf den Grund gehen wollen. "In Spielzeugen werden bestimmte Normalitätsvorstellungen darüber, wie Menschen heutzutage sein sollen, transportiert. Und bestimmte Kategorien, die auch auf einer Strukturebene in der Gesellschaft abgewertet werden oder benachteiligt sind, finden im Spielzeug auch wenig Berücksichtigung." Die Vielfalt der Gesellschaft ist nicht abgebildet Die Spielzeugwelt wird von Figuren und Puppen mit weißer Hautfarbe dominiert. Auch Themen wie Behinderung, Krankheit, Gebrechlichkeit, Alter oder Armut scheinen im riesigen Spielwarenangebot vollkommen ausgeblendet zu sein. "Das hat eigentlich mit der Vielfalt und der Breite der Gesellschaft relativ wenig zu tun. Aber Kinder erschließen sich gerade im Spielen die Welt, die sie umgibt. Wenn wir ihnen beibringen wollen, wie es ist, in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben, selber akzeptiert zu sein oder andere zu akzeptieren, zu gucken ob da Ungleichheit draus entstehen kann und wie man was dagegen tun kann, sollte man eigentlich schon früh anfangen. Und Kinder fangen schon im Kindergartenalter an, solche Unterschiede zwischen Personen, zwischen Gruppen ganz klar wahrzunehmen und da auch eine Einstellung zu entwickeln. Und die kann positiv oder negativ sein." Um herauszufinden, wie gesellschaftliche Vielfalt im Angebot auf dem Spielzeugmarkt dargestellt ist, werteten die Augsburger Wissenschaftler Kataloge der wichtigsten Hersteller aus. 3.000 Artikel nahmen sie dabei unter die Lupe und stellten fest, dass 75 Prozent aller Spielzeugfiguren und -Puppen weiße Hautfarbe haben. Figuren mit körperlichen Beeinträchtigungen finden sich kaum. Nur 1,2 Prozent der Figuren und Puppen tragen eine Brille und nur eine Figur stellte eine Person im Rollstuhl und mit Gehstock dar. In Bezug auf das Alter zeigte sich, dass hauptsächlich Erwachsene mittleren Alters, gefolgt von Jugendlichen im Angebot der Hersteller repräsentiert sind. Senioren sind, wie soziale Randschichten, total unterrepräsentiert. Dominiert wird die Spielzeugwelt von smarten Erfolgstypen. Diese ernüchternde Bilanz brachte die Augsburger Pädagogen zur Fragestellung für ein aktuelles Forschungs-Projekt. Spielzeugfiguren mit körperlichen Beeinträchtigungen finden sich kaum. (Spielwarenmesse eG / Alex Schelbert) "Gibt es Spielzeug, das vielfältig ist, das frei ist von Diskriminierungen, von Stereotypen, von Vorurteilen, sondern sehr offen, sehr differenziert ist und Spielzeug auch, das inklusiv ist? Das nicht in der Form diskriminiert, dass es nur Kinder benutzen können, die vielleicht keine Behinderung haben, sondern dass es Kinder mit und ohne Behinderung nutzen können. Und wenn man Spielzeug nach solchen Kriterien auswählt, hat das wirklich einen Effekt auf das Spielverhalten der Kinder? Bringt es etwas, Kinder an gesellschaftliche Vielfalt heranführen zu wollen?" Bei großen Firmen und kleinen Werkstätten suchten die Wissenschaftler nach Spielzeug, das die Gesellschaft in ihrer Vielfalt repräsentiert. Sie kauften Puppen, die Menschen mit Downsyndrom darstellen, Puppen mit unterschiedlicher Hautfarbe und ein großes Krankenhaus mit dazugehörigen Spielfiguren, die Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen charakterisieren. Das geeignete Testumfeld fanden die Wissenschaftler im Augsburger Hessing Förderzentrums für Kinder und Jugendliche. "In diesem Zentrum gibt es ein Hessing-Kinderhaus, wo Inklusion von Anfang an gelebt wird, und zwar wirklich von einer Krabbelgruppe, die ganz Kleinen letztendlich, über eine integrative Krippengruppe, die von Null bis Drei, dann auch Kindergarten und es gibt auch eine Hortgruppe." Identifizierungsmöglichkeit durch spezielles Spielzeug Silvia Reißner ist die Leiterin des Kinderhauses, wo die Wissenschaftler in einer ersten Testphase zunächst einmal inklusionserfahrene Kinder mit und ohne körperlicher und geistiger Behinderung dabei beobachten wollten, wie sie gemeinsam mit dem speziellen Spielzeug umgehen. Das Spielzeugkrankenhaus mit seinen vielen verschiedenen Figuren, darunter auch Rollstuhlfahrer, stieß in der Testgruppe auf besonders großes Interesse bei den Kindern, wie Katharina Enderle sagt. Sie war eine der Erzieherinnen, die an dem Projekt beteiligt waren. "Das ist bei den Kindern sehr gut angekommen und hat jeden angesprochen, hat behinderte und nicht behinderte Kinder angesprochen. Es hat einfach viel widergespiegelt. Die Kinder haben sich da auch wiedergefunden, die auch oft schon im Krankenhaus waren und haben dazu auch oft etwas formuliert. Das war ganz toll, dass das immer so in der Gemeinschaft passiert ist." Die aktuelle Studie zeigt, dass Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung durch spezielles Spielzeug eine Identifikationsmöglichkeit erhalten, ihre besondere Lebenssituation besser reflektieren und sich im Spiel mit Kindern ohne Behinderung besser einbringen und austauschen können. "Das bietet vielfältige Möglichkeiten, vor allem im Kita-Alltag, auf Unterschiede einzugehen und sie wertschätzend zu behandeln. Und das Ziel ist natürlich auch, die Kinder zu schulen in Bezug auf Fairness, auf Gerechtigkeit und dass sie im allerbesten Fall, wenn ihnen irgendwo etwas auffällt, hier ist jemand ungerecht, hier wird jemand schlecht behandelt, dass sie selbst sogar eingreifen und sagen, so geht es nicht, das möchte ich nicht, so wollen wir nicht miteinander umgehen." In einer weiteren Testphase, die noch in diesem Jahr beginnen soll, wollen Wiebke Waburg und Volker Mehringer herausfinden, wie Kinder in nicht inklusiven Einrichtungen auf das spezielle Spielzeug reagieren, wie sie mit Spielfiguren im Rollstuhl, Puppen mit Downsyndrom oder mit solchen, die Menschen aus anderen Kulturkreisen darstellen, umgehen. Mit den Ergebnissen ihrer Arbeit wollen die Augsburger Spielzeugforscher wichtige Informationen für Eltern, vor allem aber für das Erziehungspersonal von Kindergärten geben. Entscheidungshilfen für die Anschaffung von Spielzeug, das sich gut dazu eignet, den Kindern positive Lernimpulse im Umgang mit anderen Mitmenschen zu geben. "Spielzeug reicht natürlich nicht, das muss immer eingebettet sein in bestimmte pädagogische Strategien. Viele Gespräche, viel Spielen miteinander. Aber es kann zumindest einen Anlass geben, um Kinder auf das Leben in der heutigen Gesellschaft besser vorzubereiten."
Von Alfried Schmitz
Allein im Vorschulalter verbringen Kinder bis zu 15.000 Stunden mit Spielen. Dabei durchlaufen sie auch die größten Entwicklungsschritte. Die Welt der Erwachsenen in Spielzeugformat dient dafür seit jeher als Vorlage für das eigene spätere Leben - mit den Ideal-Vorstellungen der jeweiligen Zeit.
"2017-07-27T20:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:03.606000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spielzeug-als-spiegelbild-der-gesellschaft-der-mensch-100.html
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Enttäuschte Zuneigungen
Wenzel: "Wir machen keinen Wahlkampf, um den amtierenden Ministerpräsidenten an der Macht zu halten, sondern wir machen Wahlkampf um ihn abzulösen, und wir stehen auch nicht zur Verfügung als Steigbügelhalter für den amtierenden Ministerpräsidenten."McALLISTER: "Die sind ja so am Ende, die Grünen. Also, ich bin mal gespannt, ob in der nach unten offenen Skala wir in den nächsten Tagen noch weitere Tiefschläge erwarten – die haben Sie doch nicht mehr alle!"Man könnte es als Wahlkampfgetöse abtun, wenn sich Stefan Wenzel, grüner Spitzenkandidat in Niedersachsen und CDU-Ministerpräsident David McAllister in diesen Tagen öffentlich anfeinden. Zum größten Teil ist es das sicher auch, denn die politische Marschrichtung, die dem Wähler vermittelt werden soll, ist klar: Rot-Grün will Schwarz-Gelb am 20. Januar stürzen. Da sind Nettigkeiten fehl am Platz. Doch ein kleines bisschen könnte beim öffentlichen Schlagabtausch hier auch enttäuschte Zuneigung eine Rolle spielen. Zumindest bei David McAllister. Der schien lange Zeit als klammheimlicher Grünen-Fan. Obwohl die Koalition mit der FDP in Niedersachsen reibungslos lief, schien der Regierungschef einem Flirt mit den Grünen nicht abgeneigt. "Wir wollen klar stärkste Kraft werden, und wir möchten am liebsten mit der FDP unsere gute und bewährte Arbeit in Niedersachsen fortsetzen. Die Grünen haben in Niedersachsen entschieden, dass sie von vorne herein mit der CDU nicht sprechen würden, nicht sprechen wollen, haben das auf ihrem Landesparteitag beschlossen. Dann ist das so. Ich laufe den Grünen nicht hinterher."Rückblick 2009: Zum Abschiedsfest für den scheidenden Grünen-Landesvorsitzenden ist auch David McAllister eingeladen, damals noch CDU-Fraktionschef im Landtag und Landesparteivorsitzender. Seine launige Rede an diesem Abend lässt einige aufhorchen, denn darin lobt er die Grünen als "Premium-Opposition". Dort, wo CDU und Grüne in Kommunen zusammenarbeiteten, höre er "nur Gutes", lässt McAllister die Zuhörer wissen. Anderthalb Jahre später wird Christian Wulff Bundespräsident und sein Schützling folgt ihm als Ministerpräsident. Nach und nach überrascht der mit grünen Positionen: So gehört McAllister nach Fukushima zu den emsigsten Verfechtern der Energiewende. In der Asylpolitik weicht er den bislang harten niedersächsischen Flüchtlingskurs der CDU auf und selbst beim jahrzehntelangen Streitthema Gorleben macht der Ministerpräsident einen Riesenschritt auf die Grünen zu, indem er den Salzstock indirekt für nicht-geeignet erklärt. "Die deutsche Politik hält bisher am Prinzip fest, der Atommüll müsse nicht-rückholbar endgelagert werden. Wir bitten als Niedersachsen, dieses Kriterium kritisch zu überprüfen, ob nicht die Rückholbarkeit doch eine Option sein könnte. Wenn die Rückholbarkeit ein ganz entscheidendes Kriterium wird, dann scheidet Salz als Endlagermedium wohl aus. Und damit eben auch Gorleben."Und die Grünen? Die greifen den Ministerpräsidenten während seiner bislang zweieinhalbjährigen Amtszeit zwar pflichtschuldig immer wieder im Parlament an - Oppositionsgeschäft. Doch rund die Hälfte der bisherigen grünen Fraktionsmitglieder gilt als pragmatisch und schwarz-grünen Bündnissen grundsätzlich nicht abgeneigt. Vor allem Fraktionschef Stefan Wenzel pflegt über lange Zeit ein erstaunlich gutes Verhältnis zu McAllister. Die beiden Männer duzen sich, treffen sich ab und an auf ein Bier. CDU und Grüne wandeln auf Freiersfüßen. Doch dann kommt die Wulff-Affäre. Wenzel schlüpft in die Rolle des Chefaufklärers und nimmt dabei auch die Regierung McAllister scharf ins Visier. "Sie haben allenfalls ein Drittel unserer Fragen formal beantwortet, im Kern verweigern Sie die Aufklärung."Als Wenzel McAllister dann im Landtag sogar einen Lügner nennt, kühlt das Verhältnis merklich ab. Als der grüne Fraktionschef später fordert, ausgerechnet den an Alzheimer erkrankten ehemaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht im Gorleben-Untersuchungsausschuss vorzuladen, schlagen bei der CDU in Niedersachsen Wellen der Empörung hoch. Endgültig zerstört wird die zarte schwarz-grüne Bande dann im Frühjahr vergangenen Jahres. Bei der Listenaufstellung für die jetzt anstehende Landtagswahl setzen sich überwiegend Grüne durch, die dem linken Lager zuzuordnen sind, die gemäßigten Pragmatiker haben das Nachsehen. Jetzt geben bei den niedersächsischen Grünen Politiker wie der Holzmindener Christian Meyer den Ton an. Mit seinem lautstarken Feldzug gegen Massentierhaltung und Agrarindustrie ist der landwirtschaftliche Fraktionssprecher für viele Konservative im ländlich geprägten Flächenland ein rotes Tuch. "Weil wir ihnen natürlich auch Stimmen wegnehmen, weil sie merken, gerade im bürgerlichen Bereich dringen wir ein mit den Themen Landschaftsschutz, Naturschutz, etwas Wertkonservatives, eine Bewahrung von bäuerlicher Landwirtschaft, da dringen wir in ihr Segment ein, und deshalb sind wir natürlich – und ich als Person – verhasst bei der CDU, und deshalb versuchen sie diese alte Kampagne: Wenn die Grünen drankommen, geht das Agrarland Niedersachsen unter."Nach dem Linksruck der Partei scheint ein schwarz-grünes Bündnis in Niedersachsen unmöglich. Vor allem die von den Grünen geplante Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Verdopplung der Erbschaftssteuer lehnt die CDU kategorisch ab. Die Grünen interessiert das nicht, der Landesverband hat sich klar für Rot-Grün entschieden. Doch am Ende könnte die bundespolitische Großwetterlage noch eine Rolle spielen. Nach Steinbrücks erneuten Patzern denken manche Grüne über einen Plan B für den Bund nach. Und der könnte am Ende dann doch auf Schwarz-Grün hinauslaufen. Vielleicht auch schon in Niedersachsen?
Von Susanne Schrammar
Niedersachens Ministerpräsident David McAllister galt lange Zeit als heimlicher Grünen-Fan. Mit Grünen-Chef Wenzel traf sich der CDU-Mann hie und da auf ein Bier. Doch im Schatten der Wulff-Affäre ist das Verhältnis merklich abgekühlt. Ein schwarz-grünes Bündnis scheint inzwischen unmöglich. Beinahe.
"2013-01-10T19:15:00+01:00"
"2020-02-01T16:04:02.232000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/enttaeuschte-zuneigungen-100.html
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Treffen sich Kunst und Kommerz?
Bereit zum Verkauf: Letzte Vorbereitungen für die erste Ausgabe der Art Berlin (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen) Thekla Jahn: Heute Abend nun eröffnet die erste Art Berlin und meine Kollegin Marie Kaiser konnte sich schon vorab umschauen in der Station am Gleisdreieck. Marie, was erwartet den Besucher dort? Marie Kaiser: Eine riesige Halle, ziemlich rustikal - es ist ja ein ehemaliger Postbahnhof - und da sind dann viele Galerien, die alle ihre kleinen Kojen aufgebaut haben, und jeder macht so ein bisschen sein Ding. Jahn: Die Art Cologne, eine der ältesten Messen für zeitgenössische Kunst weltweit, hat mitgeholfen, die Art Berlin auf die Beine zu stellen. Brauchten die Berliner diese Hilfe vom Rhein? Kaiser: Ja, auf jeden Fall. In Berlin hat sich niemand gefunden, der überhaupt die finanzielle Verantwortung für eine solch große Kunstmesse übernehmen wollte. Und was Berlin bis zum vergangenen Jahr hatte, war die Art Berlin Contemporary, also eine Messe, bei der verschiedene Galerien jeweils immer nur einen ihrer Künstler vorgestellt haben, und das wirkte, wenn man da reingegangen ist, wie eine große Ausstellung mit vielen Einzelpositionen von zeitgenössischen Künstlern. Das hat aber auch dazu geführt, dass zwar viele gekommen sind, um da durchzulaufen und zu gucken, aber gekauft wurde immer weniger. Und die neue Art Berlin ist jetzt Teil der Kölnmesse, es gibt eine Arbeitsteilung: Die Art Cologne kümmert sich vor allem um Budget und Finanzen. In gewisser Weise ist das Berliner Team also fremdbestimmt, soll aber federführend bleiben. Mehr Aussteller Jahn: Was unterscheidet denn die neue Art Berlin von der alten Art Berlin Contemporary? Kaiser: Also das ist jetzt kein radikaler Neuanfang, eher eine Weiterentwicklung. Der Ort bleibt zum Beispiel derselbe: die Station Berlin, eben im Berliner Zentrum. Ich habe schon vor der Eröffnung in die große Halle hereinschauen dürfen. Es gibt zum Beispiel mehr Aussteller: 110 Galerien in diesem Jahr. Und wo früher alles sehr offen und experimentell war, gibt es jetzt diese Messekojen und das war was, da hat die ABC immer gesagt, das wollen wir auf keinen Fall, da haben sie sich von distanziert, alles sollte experimentell und offen sein. Und der Berliner Galerist Guido Baudach, der viel auf internationalen Messen unterwegs ist, der hofft, dass die Kojen auch dabei helfen, auf der Art Berlin mehr zu verkaufen: Guido Baudach: "Es sieht geordneter aus, strukturierter. Vorher war es immer ein bisschen offener und für die Leute nicht so klar zu durchschauen, was passiert. Und der entscheidende Unterschied eigentlich, ist: Es ist nicht mehr der Zwang für den Aussteller da, eine Solopräsentation zu machen. Das heißt zum Beispiel, wir haben jetzt sechs oder sieben Künstler am Stand. Und das ist auch das Kommerziellere. Dass heißt, die Leute kommen und müssen sich nicht auf einen einlassen. Man kann verschiedene Geschmäcker und Interessen bedienen." Kaiser: Da habe ich schon aufgemerkt: Das ist eine erstaunliche Entwicklung für mich. Auf einmal ist es in Berlin nicht mehr ganz so anstößig, im Zusammenhang mit Kunst Worte wie "verkaufsorientiert" oder "kommerziell" überhaupt in den Mund zu nehmen. Das ist ein ganz klares Signal: Die 90er Jahre sind vorbei - eben die Zeit, in der Kunst nichts kosten durfte. Kunst der Moderne als Publikumsmagnet Jahn: Berlin musste vor sechs Jahren die internationale Kunstmesse Art Forum aufgeben. Damals ist es daran gescheitert, dass einfach nicht genug Kunst verkauft werden konnte. Ist die Hauptstadt denn mittlerweile bereit für eine neue kommerzielle Messe? Kaiser: Ich habe daran noch Zweifel, aber die Direktorin der Art Week, Maike Cruse, ist überzeugt davon. Maike Cruse: "Ich glaube, es ist ein guter Zeitpunkt, weil die Galerienszene und die Künstlerszene ist sehr stark in Berlin. Das ist der Grund, warum hier viele Leute herziehen, Sammler, die herziehen oder ihre Wochenendwohnung jetzt hier haben. Und es fangen auch sehr viele junge Leute an, Kunst zu sammeln. Und deswegen, denke ich, ist es schon ein ziemlich guter Zeitpunkt, mit einer Messe anzufangen und die die nächsten Jahre auch aufzubauen. Kaiser: Aber die Art Berlin, die setzt auch ganz klar auf Sammler, die extra anreisen, internationale Sammler, aber es werden auch viele Gäste aus dem Rheinland erwartet. Das ist auch ein Effekt der Zusammenarbeit mit der Art Cologne. Und ein entscheidender Punkt, der dafür spricht, dass sich die Art Berlin etablieren könnte, ist, dass jetzt nicht nur zeitgenössische Kunst gezeigt wird, sondern auch die Kunst der Moderne. Und gestern hab ich da in der Station Arbeiten von Roy Lichtenstein oder Andy Warhol gesehen und das zieht natürlich ganz andere Sammler an. Und mit Kunst der Moderne, da verkauft man natürlich auch viel besser und viel teurer. Tanzperformance von Boris Charmatz Jahn: Die Art Berlin ist nur ein Highlight der Art Week in Berlin. Viele andere Ausstellungen werden dieser Tage eröffnet. Welche Favoriten haben Sie in diesem Jahr? Kaiser: Wenn ich mir zwei rauspicken müsste, dann auf jeden Fall die Volksbühne unter neuer Leitung von Chris Dercon, die ist jetzt Teil der Art Berlin. Auf dem ehemaligen Flughafengelände Tempelhofer Feld wird es eine sechsstündige Tanzperformance von dem französischen Choreographen Boris Charmatz. Und unbedingt gehen sollte man auch in den Hamburger Bahnhof, also das Museum für Gegenwartskunst. Da übernimmt der dänisch-isländische Künstler Ólafur Elíasson, bekannt ja für seine poetischen Installationen, und er wird da sein mit seinem Institut für Raumexperimente. Das ist eine Gruppe von über 100 Künstlern, und angekündigt ist ein Punk-Opern-Wetterleuchten über dem Museum, also eine Mischung aus Performance, Wahrnehmungsspiel und Happening. Das sollte sich wohl kein Besucher der Berlin Art Week entgehen lassen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marie Kaiser im Gespräch mit Thekla Jahn
Jahrelang hatte Berlin keine große internationale Kunstmesse. Zur diesjährigen Berlin Art Week wagt die Hauptstadt mit der Art Berlin einen neuen Versuch. "Die 90er Jahre sind vorbei - eben die Zeit, in der Kunst nichts kosten durfte", sagte Kulturjournalistin Marie Kaiser im Dlf.
"2017-09-14T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:50:56.953000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-messe-art-berlin-treffen-sich-kunst-und-kommerz-100.html
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Emotional erzählt
Hat seine CD im Gewandhaus aufgenommen: der junge Pianist Daniel Ciobanu. (Emilian Tsubaki) Für eine Debüt-CD ist das eine eigenwillige Zusammenstellung: Eine Klaviersonate von Sergej Prokofiew, ein Satz aus einer Klaviersuite von George Enescu, einige Préludes von Claude Debussy und die sogenannte Dante-Sonate von Franz Liszt. Was sie eint, diese verschiedenen Werke und Musikstile, ist ihre darstellerische Kraft. Sie alle erzeugen Bilder im Kopf und wollen sich mitteilen. Genau das dürfte auch das entscheidende Kriterium für den Pianisten Daniel Ciobanu gewesen sein. Seine erste CD, beim Label Accentus erschienen, stelle ich Ihnen in dieser Sendung vor. Los geht es mit dem Anfang der Platte: Prokofiews siebte Klaviersonate. Sie entstand 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg. Musik: Sergej Prokofjew - Klaviersonate Nr. 7, op. 83, I. Allegro inquieto Die brutale Härte des Krieges zeigt diese Musik – und brutale Härte mutet Daniel Ciobanu dem Klavier zu. Da kracht und donnert es, stellenweise bekommt man fast den Eindruck, der Klang würde sich überschlagen. Ciobanu bringt das Instrument an seine Grenzen und verabschiedet sich vom Schönklang. Das passiert regelmäßig, nicht nur bei der russischen Weltkriegsmusik. Auch bei Liszt und Debussy reizt er das Extrem aus. Mit Härte und Zeit Warum? Ciobanu bearbeitet nicht 72 Minuten lang die Klaviatur wie ein Wahnsinniger. Er setzt die Klanghärte als Mittel ein. Wut, Angst und Sorge werden bei ihm als solche deutlich erkennbar. Auch im berühmten "Minstrels" aus dem ersten Buch von Claude Debussys "Préludes": Musik: Claude Debussy – "Minstrels", Préludes, Nr. 12, 1. Buch Hier nimmt sich Daniel Ciobanu Zeit. Knapp drei Minuten dauert seine Interpretation – und damit ungefähr eine halbe Minute länger als bei den meisten anderen Pianistinnen und Pianisten. Bei so einem kurzen Stück ist eine halbe Minute eine Menge. Eine eigene Erzählweise Warum macht er das? Daniel Ciobanu erzählt eine Geschichte. Die gemessene Länge ist nur ein Indiz, der eigentliche Unterscheid zu den meisten anderen Interpretationen ist ein anderer. Ciobanu befreit das Stück aus der gewohnten Klangvorstellung und hat sich ganz offenbar in erster Linie einzig und allein mit den Aussagen der Musik auseinandergesetzt – mit der Dramaturgie, auch mit der Essenz. Um das nun in Klang umzusetzen, findet er seine ganz eigene Erzählweise. Und die dauert nun mal ein bisschen länger als bei anderen, die eher Notentext wiedergeben als den Sinn darin nachzuerzählen. Dieses "Erzählerische" führt zu einer inneren Geschlossenheit. Alles macht Sinn, er spielt keinen Ton "einfach so". Das gilt ganz besonders auch für die Aufnahme eines anderen Debussy Préludes: "La fille aux cheveux de lin", das Mächen mit dem flachsfarbenen Haar: Musik: Claude Debussy – "La fille aux cheveux de lin", Préludes, Nr. 8, 1. Buch Debussys Spielanweisung "Très calme et doucement expressif", also "Sehr ruhig und sanft ausdrucksvoll", setzt Daniel Ciobanu nicht nur mit dem langsamen Tempo um. Sein Spiel ruht hier so sehr in sich, dass man sich unweigerlich mit einem Seufzen entspannt. Auch hier hat jeder Ton ganz bewusst seinen Platz bekommen, auch hier erzählt Ciobanu eine Geschichte. Musik: Claude Debussy – "La fille aux cheveux de lin", Préludes, Nr. 8, 1. Buch Den Inhalt der Werke im Fokus Diese beiden Extremen umreißen gut, in welchem Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten sich Daniel Ciobanu auf seiner CD bewegt: die donnernde Härte wie am Anfang der Prokofjew-Sonate und die samtige Weiche dieses Debussy-Préludes. Dass Ciobanu diese Töne technisch so ausdifferenziert erzeugen kann, ist toll. Dass diese Möglichkeiten für ihn aber nur Mittel sind, um den Inhalt der Werke spannend darzustellen, fesselt beim Zuhören. Musik: George Enescu - VII "Carillon nocturne", Klaviersuite Nr. 3, op. 18 Daniel Ciobanu ist ein junger, rumänischer Pianist. Auf einigen der großen Podien dieser Welt hat er bereits gespielt, viele weitere werden vermutlich noch folgen. Der breiteren Klassiköffentlichkeit stellte er sich 2017 vor, als er die Silbermedaille und den Publikumspreis beim Artur Rubinstein Wettbewerb in Tel Aviv gewann. Einen wichtigen Fürsprecher hat er im Dirigenten Omar Meir Wellber gefunden. Mit ihm ist er etwa in der letzten Saison und dem Gewandhausorchester aufgetreten. Abwechslungsreiche Gesamtdramaturgie Die Geschichten, die Ciobanu erzählt, haben unterschiedliche Formen. Das bringt Abwechslung in das Album. Am Anfang steht mit der Sonate von Prokofjew eine dreiteilige, fast 20 Minuten lange Geschichte. Danach hat er eine einteilige, etwas kürzere gewählt. Sie hören sie gerade im Hintergrund: Es ist der letzte Satz aus George Enescus Klaviersuite. Er heißt "Carillon nocturnes", also "Nächtliches Glockenspiel". Das Werk hat weniger eine erzählerische Dramaturgie, es wirkt eher wie ein Tongemälde. Daran an schließt Ciobanu sechs Kurzgeschichten, sechs Préludes von Debussy – eine Auswahl der insgesamt 12 Stücke. Und am Ende der CD steht eine Geschichte, die ziemlich genau so lang ist wie die erste: Die sogenannte "Dante-Sonate" von Franz Liszt. Korrekt bezeichnet: Der siebte Satz aus dem zweiten Teil der "Années de pèlerinage", dem "Italien-Teil".Mit etwa jeweils fast 20 Minuten rahmen sie das Album ein. So ergibt sich eine Balance über die ganze CD. Hier wird deutlich: Daniel Ciobanu hat über die Gesamtdramaturgie viel nachgedacht. Und das lohnt sich: Die Stücklängen sind aufeinander abgestimmt und präzise angeordnet. Die "Geschichtsarten" wechseln sich geschickt ab und schieben immer unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund. Neben den sich entwickelnden Erzählungen ist etwa das Klanggemälde von Enescu mit seiner Statik ein starker Gegensatz. Musik: George Enescu - VII "Carillon nocturne", Klaviersuite Nr. 3, op. 18 Eine Entdeckung: Enescus Klaviersuite "Carillon nocturne" ist das unbekannteste Stück auf Daniel Ciobanus Album. Es ist der siebte Satz aus George Enescus dritter Klaviersuite. Ihr gab er den Beinamen "Pièces impromptus". Die einzelnen Sätze sollen dem Komponisten nach also einen improvisierten Charakter haben. So spielt es Ciobanu auch. Immer wieder lässt er die Glockenschläge verhallen und wirft dann die neuen ein wie Spontaneinfälle. Enescu schrieb die Suite in den Jahren von 1913 bis 1916. Eine Zeit, in der in Europa der Erste Weltkrieg wütete. Enescu lebte in diesen Jahren in seinem Heimatland Rumänien und war damit während dem Kompositionsprozess dieser Stücke nicht unmittelbar von den Kriegsleiden betroffen. Der Erste Weltkrieg erreichte Rumänien erst etwa einen Monat nachdem die dritte Klaviersuite komponiert war: im August 1916. Der Weg zur ersten Aufführung war anschließend ein abenteuerlicher, denn: Das Manuskript ging verloren als George Enescu der königlichen Familie nach Moldawien ins Exil folgte. Die Stücke waren ihm offensichtlich aber sehr wichtig: Er nahm sie in sein handschriftliches Werkverzeichnis mit auf. Erst 1957, zwei Jahre nach Enescus Tod entdeckten Musikforscher die Manuskripte wieder. Sie wurden veröffentlicht und konnten uraufgeführt werden. Bis heute kennen nicht wirklich viele diese Suite. Das ist sehr schade, denn die Stücke entwickeln eine ganz eigene Tonsprache. In dem Satz, den Daniel Ciobanu mit auf sein Album genommen hat, wird das sehr deutlich: Das Läuten der Glocken schwankt zwischen Dissonanz und Harmonie. Und obwohl viel Bewegung in diesem Stück herrscht, wirkt es doch auf eigentümliche Weise starr. Geschickte Illusion Zwei Aspekte machen dieses Stück noch dazu sehr besonders: Enescu gelang es sehr geschickt, Glockenklänge zu imitieren. Eine musikwissenschaftliche Analyse konnte sogar zeigen, dass es speziell um große und kleine europäische Kirchenglocken geht. Der andere Aspekt ist, dass das Werk zwar den Charakter einer Improvisation haben soll, gleichzeitig aber haargenau konstruiert ist. Beim Hören wird das nicht sehr deutlich, aber das Stück ist tatsächlich wie ein Rondo aufgebaut. Über das Stück hinweg erklingen außerdem viertelstündliche Glockenklänge, und nach dem vierten Mal auch das zwölfmalige Schlagen der Mitternachtsglocke. An dieser Stelle wird exemplarisch deutlich, wie fein Ciobanu die unterschiedlichen Klänge artikulieren muss, damit die Illusion des Glockenläutens so gut funktioniert: Musik: George Enescu - VII "Carillon nocturne", Klaviersuite Nr. 3, op. 18 Auch in der Dante-Sonate von Franz Liszt spielt Daniel Ciobanu mit dieser sehr genauen Artikulation. Etwa in der Mitte des Stücks liegen mehrere Schichten Musik übereinander: zwei bis drei Farbflächen und eine zart fließende Melodie. Wie Ciobanu sanft den Fluss der Musik aufbaut, am Ende groß auftürmt und dabei alle Schichten ganz sauber auseinanderhält, ist großartig. Alles fließt organisch, die Musik klingt mehrdimensional. Musik: Franz Liszt - "Après une lecture du Dante" – Fantasia quasi Sonata, aus: Années de Pèlerinage, 2. Teil "Italie" Mit diesem Debüt-Album stellt sich Daniel Ciobanu als kluger und extrem emotionaler Künstler vor. Beim genauen Blick wird die clevere Konzeption und das genaue Nachdenken über die Stücke deutlich. Musikalisch packt der unbedingte Erzählerwille des Pianisten, dem mit diesem technischen Vermögen scheinbar nichts im Weg steht. Musik wird bei Daniel Ciobanu zum Erlebnis. Daniel Ciobanu plays Prokofiev, Enescu, Debussy, and Liszt // The debut recording Daniel Ciobanu, Klavier Accentus ACC30515
Am Mikrofon: Jonas Zerweck
Daniel Ciobanu betritt den Plattenmarkt als Pianist, der viel über Musik nachdenkt. Aber er ist auch ein sehr emotionaler Geschichtenerzähler an der Klaviatur. Eine Kombination, die beim Zuhören begeistert.
"2020-12-13T09:10:00+01:00"
"2020-12-13T11:52:29.655000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cd-debuet-daniel-ciobanu-emotional-erzaehlt-100.html
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Ethikrat: Individuelle Freiheitsbeschränkungen für Geimpfte nicht haltbar
Laut einem RKI-Bericht soll von gegen das Coronavirus Geimpften kaum noch ein Ansteckungsrisiko ausgehen (picture alliance / dpa / Christopher Neundorf) Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, hat die Debatte über Lockerungen der Corona-Maßnahmen für Geimpfte als wichtig bezeichnet. Es werde schwer sein, die Freiheitsbeschränkungen aufrechtzuerhalten, wenn der Sachgrund entfalle. "Es gibt jetzt eine neue Situation. Denn Geimpfte scheinen nicht mehr ansteckend und können das Virus nicht mehr übertragen", sagte Alena Buyx im Deutschlandfunk. Diese Gerechtigkeitsfragen würden viele Menschen bewegen. Corona-Immunitätsausweis -Mehr Freiheiten für Geimpfte? Die EU-Kommission will bis zum 1. Juni einen digitalen europäischen Immunitätsnachweis einführen. Vorbild ist der "Grüne Pass" in Israel. Was dafür und dagegen spricht – aus politischer, ethischer und rechtlicher Sicht. Ein Überblick. Maskenpflicht und Abstandsregeln auch weiterhin Die harten individuellen Freiheitsbeschränkungen, wie eine Quarantäne, seien rechtlich sehr schwierig durchzusetzen, wenn die Infektiösität wegfalle, sagte Buyx. Sie prophezeite, dass die starken, schweren individuellen Freiheitsbeschränkungen sich nicht werden halten lassen. Maskenpflicht oder die AHAL-Regeln werden sich aber auch zukünftig für Geimpfte nicht zurücknehmen lassen. Sie warnte aber davor, wesentliche Regeln im öffentlichen Raum infrage zu stellen. Im Privaten seien die Schrauben schon sehr weit angezogen. Im Arbeitsbereich dagegen könne man noch mehr machen. Zudem äußerte sich Buyx besorgt über die gesellschaftliche Schieflage zwischen Privilegien für Geimpfte und Nachteilen für Nichtgeimpfte. Eine solche Schieflage vermeide man durch mehr Tests für Nichtgeimpfte. Buyx forderte, auch das Tempo bei den Impfungen zu erhöhen. Corona-Impfstoffe in der ÜbersichtDie EU-Behörde EMA hat bisher vier Corona-Impfstoffe zugelassen – von Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson. Wie die Impfstoffe wirken und was über Nebenwirkungen bekannt – ein Überblick. Lesen Sie hier das vollständige Interview: Jörg Münchenberg: Frau Buyx, die Politik diskutiert über einen harten Lockdown, angesichts hoher Infektionszahlen. Gleichzeitig werden die Rufe nach einer Streichung der Auflagen für Geimpfte immer lauter. Ist das ein gutes Timing? Alena Buyx: Ich glaube, es ist nachvollziehbar. Das ist eine wichtige Debatte, weil es jetzt ja eine neue Situation gibt, was diese Frage anbelangt. Das RKI hat ja eines von zwei großen Problemen, die wir auch vom Deutschen Ethikrat beschrieben haben, mit Blick darauf, ob man diese Freiheitseinschränkungen für Geimpfte wieder zurücknehmen kann, letztlich aus dem Weg geräumt. Mit den Aussagen des Robert Koch-Instituts, dass Geimpfte wohl nicht mehr ansteckend seien, gebe es eine neue Situation, sagte Ethikerin Alena Buyx im Deutschlandfunk. (dpa / picture alliance / Michael Kappeler) Das erste Problem, sind Geimpfte noch ansteckend, oder können sie das Virus noch übertragen, das scheint zu entfallen. Das sind ja erst mal sehr, sehr gute Neuigkeiten. Ich glaube, angesichts dessen sollte man dann jetzt sehr intensiv über das zweite Problem diskutieren. Das macht natürlich keinen Spaß in einer Lockdown-Situation beziehungsweise in einer Situation, wo darum gerungen wird, wie und wann nun ein Lockdown noch mal kommt. Aber ich glaube, das ist wichtig mit Blick nach vorne, denn diese Gerechtigkeitsfragen, die bewegen viele Menschen. Können Geimpfte andere Menschen weiter anstecken? Laut einem RKI-Bericht soll von Geimpften kaum noch ein Ansteckungsrisiko ausgehen. Wie infektiös sind sie tatsächlich noch und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Münchenberg: Frau Buyx, Sie haben das RKI angesprochen. Vollständig Geimpfte sind wohl nicht ansteckend. Sind da Beschränkungen für Geimpfte überhaupt noch zu rechtfertigen? Buyx: Das sagen mir auch meine verfassungsrechtlichen Kollegen im Ethikrat immer ganz klar, dass diese ganz harten individuellen Freiheitsbeschränkungen rein rechtlich sehr, sehr schwierig durchzuhalten sind, wenn der sogenannte Sachgrund entfällt, der Sachgrund der Infektiösität. Ein klassisches Beispiel wäre dafür die Quarantäne. Das ist tatsächlich ein bisschen was anderes mit Blick auf eine ganze Reihe anderer Maßnahmen. Deswegen plädiere ich auch dafür, dass man das nicht alles über einen Kamm schert, sondern dass man das sich jetzt mit Augenmaß anschaut. Wir haben ja dieses Problem in einer Situation, wo sich noch nicht alle impfen lassen können, die sich gerne impfen lassen möchten, dass diejenigen, die zurücktreten für die, die jetzt priorisiert werden beim Impfen, einen doppelten Nachteil haben. Sie sind nicht geschützt und sie könnten dann auch weniger machen. Und diejenigen, die schon geimpft sind, haben einen doppelten Vorteil. Sie haben früher den Schutz und sie könnten mehr machen. Das ist, glaube ich, schon etwas, was man berücksichtigen muss. Dieses Problem ist allerdings auch inzwischen etwas entschärft worden, weil es jetzt doch breit verfügbar die Tests gibt. Deswegen ist zum Beispiel eine Gleichstellung von Geimpften und Getesteten aus ethischer Perspektive unproblematisch, weil man damit beiden Gruppen einen Zugang gewährleistet. Deswegen ist es sehr wichtig, dass man sich genau anschaut, über welche Maßnahmen spricht man jeweils. Das ändert sich, wenn die Hausärzte impfenSeit Ostern werden die niedergelassenen Ärzte mit in die Corona-Impfstrategie eingebunden. Die Politik hofft, so Schwung in die schleppende Impfkampagne zu bekommen. "Diese starken Freiheitsbeschränkungen, die werden sich nicht halten lassen" Münchenberg: Nun hat ja, Frau Buyx, sich der Ethikrat - Anfang Februar war das, glaube ich - doch sehr zurückhaltend geäußert, hat sich aber diese Hintertür offen gelassen, bei geklärtem Ansteckungsrisiko seien Rücknahmen der Freiheitsbeschränkungen gegebenenfalls geboten. So heißt es da. Sollte der Ethikrat sich da nicht jetzt doch klarer und neu positionieren? Buyx: Ich glaube, wir haben das tatsächlich nicht in allen Details ausbuchstabiert, aber schon in dieser Empfehlung ziemlich klar angelegt. Diese starken, schweren, individuellen Freiheitsbeschränkungen, die werden sich nicht halten lassen. Gleichzeitig gibt es eine ganze Reihe von Beschränkungen, bei denen wir klar gesagt haben, die sollten auch weiter für Geimpfte gelten, weil sie keine starken Einschränkungen der Grundrechte beispielsweise darstellen: Die Maskenpflicht, die Abstandspflicht, Hygiene, diese ganzen Basismaßnahmen. Das sind mal zwei Pflöcke, die wir eingehauen haben. Dann wird es spannend werden - und das muss man jetzt im Einzelnen sich anschauen -, wie es in dem Bereich in der Mitte passiert. Die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum - da würde ich dafür plädieren, da sehr vorsichtig zu sein, da irgendetwas früh zurückzunehmen, denn die brauchen wir einfach noch in dieser dritten Welle. Und man muss sich auch klarmachen, dass solche Rücknahmen und Unterschiede, wie Menschen sich jetzt im öffentlichen Raum verhalten können, dazu führen, dass es sehr, sehr schwer wird, dass diese Regeln überhaupt noch aufrechterhalten werden können. Gleichzeitig ist es ganz wichtig, dass man mit Blick auf solche Dinge wie Restaurants und so etwas, was wir uns ja alle erhoffen, dass es irgendwann in der Zukunft wieder möglich wird, dass man da ganz flächendeckend Zugangsmöglichkeiten über Tests generiert für diejenigen, die sich noch relativ lange nicht werden testen lassen können. Alternative zum Lockdown - Neue Perspektiven durch Corona-Selbsttests?Neue Corona-Schnelltests können - anders als die bisherigen Antigen-Schnelltests - auch von Laien zu Hause angewendet werden. Das könnte neue Perspektiven im Kampf gegen das Virus eröffnen. "Weiter unheimlich Tempo machen beim Impfen" Münchenberg: Frau Buyx, nun sind Sie ja Ethikerin. Jenseits aller medizinischen Erwägungen - rund 15 Prozent der Deutschen sind bislang geimpft, sechs Prozent vollständig. Mit anderen Worten: Für die große Mehrheit der Deutschen blieben die neuen Freiheiten erst einmal unerreichbar. Da stellt sich ja schon die Frage: Hält eine Gesellschaft so eine Schieflage aus? Buyx: Ganz richtig. Das ist genau eine der großen Sorgen. Wir hoffen ja alle, dass das Impftempo jetzt, wo die Hausärzte mitimpfen, weiter zunimmt. Das sind ja sehr ermutigende Zahlen gewesen aus der letzten Woche. Aber genau deswegen ist es wichtig, dass man eine solche Schieflage vermeidet über das flächendeckende Angebot von Tests, damit man diese Gleichstellung erreicht zwischen Geimpften und Getesteten und nicht die eine Gruppe sehr viel mehr darf als die andere. Das wäre, glaube ich, wirklich sehr, sehr schwierig. Wir haben ja jetzt tatsächlich da ein Mittel, mit dem man das, wenn auch nicht perfekt, aber doch zumindest im Grundzug für viele, viele Bereiche wird gewährleisten können, und ich plädiere dafür, da wirklich stark voranzukommen. Gleichzeitig muss man natürlich weiter unheimlich Tempo machen beim Impfen. Das ist extrem wichtig, auch mit Blick auf die dritte Welle. Münchenberg: Nun haben wir jetzt laufend eine Debatte über Änderungen des Infektionsschutzgesetzes mit mehr Kompetenzen beim Bund. Besonders umstritten - das haben wir heute Morgen auch mit FDP-Chef Christian Lindner besprochen - sind die Ausgangssperren, die da drohen. Da stellt sich auch die Frage, jenseits der rechtlichen Erwägungen: Muss es dann auch nicht für Geimpfte zum Beispiel Ausnahmen geben, was so eine Ausgangssperre betrifft? Buyx: Das ist tatsächlich jeweils pro Maßnahme anzuschauen. Ich glaube, wichtig ist, dass insgesamt das Paket der Maßnahmen so effektiv wie möglich ist und so ausgewogen wie möglich. Ich persönlich habe das schon mehrfach gesagt, dass im privaten Bereich die Schraube jetzt wirklich schon sehr eng angezogen ist und es noch andere Bereiche gibt, Stichwort Arbeit. Viele Arbeitnehmer vermissen Tests in ihrem BetriebSchnelltests im Betrieb? Viele Arbeitnehmer müssen weiter darauf warten, wie eine Umfrage zeigt. Die Ergebnisse dürften die Debatte über eine Testpflicht in Unternehmen befeuern. Da kann man sicherlich noch sehr viel mehr machen und man weiß auch, dass in diesem Bereich relativ viele Ansteckungen erfolgen. Ich hoffe sehr darauf, dass die Maßnahmen, die jetzt beschlossen werden, gleichzeitig effektiv, aber auch ausgewogen stattfinden. Was Ausnahmen für Geimpfte anbelangt, noch mal: Optimal ist es, wenn man immer eine Gleichstellung erreichen kann - nicht nur über die Impfung, sondern auch über das Testen. Aber man muss sich das dann - das wird man tun müssen - im Einzelnen anschauen, wie stark eine Maßnahme jeweils die Menschen tatsächlich einschränkt, ob man eine solche Gleichstellung tatsächlich rein praktisch hinbekommt und ab wann es dann gegebenenfalls gerechtfertigt wäre zu sagen, selbst wenn man das nicht schafft, wenn das Maßnahmen sind, wo das über die Tests nicht gewährleistet werden könnte, ob man das dann trotzdem irgendwann für die Geimpften aufheben kann. Das ist aus meiner Sicht schon eine wichtige Debatte. Ich glaube allerdings, dass wir in einer Situation, in der jetzt diese dritte Welle wirklich ganz intensiv anbrandet, vielleicht vorerst nicht über Dinge sprechen sollten, die uns ganz wesentliche Regeln von der Normbefolgung im öffentlichen Raum zerschießen. Ich glaube, das ist schon eine gerechtfertigte Überlegung. Münchenberg: Noch ganz kurz zu einem anderen Thema - Stichwort Impfgerechtigkeit. Das gehört ja zu dem Ganzen trotzdem dazu. Das Impftempo hat zwar zugenommen, seitdem die Hausärzte mit dabei sind. Das hat aber auch zur Folge, dass die Impfpriorität, die Reihenfolge doch nicht immer eingehalten wird. Wie sehr beunruhigt Sie das? "Man muss allen allen ein Impfangebot machen" Buyx: Vorweg gesagt: Die Priorisierung war und ist noch richtig und wichtig. Die hat viele Leben gerettet. Wir haben aber auch immer gesagt, das ist erstens eine Priorisierung auf Zeit für diese initiale Knappheit - vor allem ganz am Anfang und natürlich nicht für immer. Zweitens haben wir auch von Anfang gesagt, da darf man eine gewisse Flexibilität und einen gewissen Pragmatismus haben. Das darf keine Fessel sein beim Impfen. Denn natürlich ist auch das Tempo beim Impfen ein ethisches Gebot. Da irgendwie überbürokratisch und überrigide bis zur letzten Stelle - ich sage es jetzt mal so ungereimt - hinterm Komma das durchzuziehen, das ist tatsächlich auch aus ethischer Situation problematisch. Wir haben immer gesagt, man darf schon mal überlappend impfen, man kann die eine Gruppe schon einladen, bevor man mit der anderen noch gar nicht fertig ist. Und ich erwarte tatsächlich, wenn jetzt die Lieferungen wirklich so kommen, wie sie angekündigt sind für dieses Quartal, dass man dann relativ bald allen Gruppen ein Angebot gemacht hat. Dann kann man die Priorisierung aufgeben. Man muss wirklich nicht warten, bis alle in diesen Gruppen geimpft sind. Man muss allen oder sollte allen ein Angebot gemacht haben. Aber dann müssen wir so schnell es geht in die Breite gehen. Das ist das eine. Und letzter Satz vielleicht noch: Ich würde mir da auch wirklich wünschen, weil ich immer wieder ganz beunruhigende Hinweise höre, dass das Schlimmste passiert, was passieren kann im Moment, nämlich dass wegen der Sorge um die Priorisierung am Ende von einem Tag in Impfzentren tatsächlich Impfdosen weggeschmissen werden, und das ist natürlich das Allerschlechteste auch aus ethischer Perspektive. Da würde ich mir ein bisschen mehr Kreativität wünschen, was weiß ich, dass die Impfzentren ab einer gewissen Zeit per Twitter ankündigen, wir haben noch Dosen übrig, wer möchte kann vorbeikommen, damit man da nicht irgendeinen Missbrauch betreibt, aber dass man einfach sagt, jetzt machen wir das hier kurzfristig auf, damit wir nicht was wegwerfen. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alena Buyx im Gespräch mit Jörg Münchenberg
Die harten individuellen Freiheitsbeschränkungen seien bei Geimpften rechtlich sehr schwierig durchzusetzen, sagte Alena Buyx im Dlf. Denn es gebe mit den Aussagen des Robert Koch-Instituts, dass Geimpfte wohl nicht mehr ansteckend seien, eine neue Situation, sagte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.
"2021-04-12T08:10:00+02:00"
"2021-04-13T13:11:11.511000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-massnahmen-ethikrat-individuelle-100.html
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Radikalisierung den Nährboden entziehen
Präventions- und Aussteigerprogramme wie "Wegweiser" wollen Jugendliche durch Aufklärung vom Salafismus fernhalten. (picture alliance / dpa - Marius Becker) Eine Schule in Berlin-Kreuzberg. Viele Schüler haben hier Migrationshintergrund, viele sind muslimischen Glaubens. Auch der IS ist hier häufig ein Thema, so mancher hat Bekannte, die sich von der Propaganda angesprochen fühlen. Der 18-jährige Ali erinnert sich an einen jungen Mann, der sich radikalisiert hat, nachdem er die Schule abgebrochen und keinen Ausbildungsplatz bekommen hatte. "Der hat jetzt beschlossen, nach Syrien zu reisen. Seine Mutter war dagegen. Ich bin auf Facebook mit ihm befreundet und sehe auch viele Beiträge, die eigentlich gegen den Islam sprechen und dann für den Islam, dann gegen den Islam. Also man merkt schon, er weiß nicht, was er will, aber Hauptsache nach Syrien reisen und dann für so was kämpfen, für so eine sinnlose IS." An der Schule selbst gebe es keine radikalisierten Schüler, sagt die Schulleitung. Trotzdem wird das Thema Extremismus intensiv behandelt. Regelmäßig werden in Klassen Workshops angeboten, in denen die Schüler zu den Themen Antisemitismus, Salafismus und Dschihad arbeiten. "Für uns das ist eines der zentralen Themen, wo Nährboden für islamistische Radikalisierung anbietet. Eine Auseinandersetzung zu diesem Themenfeld anzubieten - ausgehend zum Beispiel von Moscheekonflikten in Deutschland." Das Versprechen der Salafisten: Einfache Antworten auf komplexe Fragen Aycan Demirel leitet die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, kurz KIgA, die diese Workshops durchführt. Ihr Ansatz: Gerade im Schulalter sind Jugendliche mit der Suche nach der eigenen Identität beschäftigt. Radikale Muslime, wie die Salafisten, bieten auf viele Fragen eine vermeintlich einfache Antwort, ein einfaches Weltbild und klare Regeln. Und sie sprechen die Jugendlichen gezielt in sozialen Netzwerken an, sagt Aycan Demirel. "Daher ist wichtig, an Medienkompetenz zu arbeiten, sie dahin zu schulen, dass sie Werkzeuge, Kompetenzen erwerben, guten Journalismus zu erkennen, kritisch Medienbeiträge aufzufassen." Die Projekte laufen gut, aber jetzt hat die Initiative ein Problem: Drei Jahre wurde sie vom Familienministerium finanziert. Ende des Jahres aber läuft die Förderung aus. Eine Weiterfinanzierung ist nicht gesichert. Dabei haben erst gerade die Innenminister bei ihrer in Köln stattfindenden Herbstkonferenz bekräftigt, wie wichtig neben Repression auch die Prävention ist. NRW-Innenminister Ralf Jäger, der die Konferenz leitet, sagt: "Wir haben ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen entwickelt, Titel: Wegweiser. Wir wollen sehr individuell gemeinsam mit lokalen Netzwerken, die aus Schulamtsvertretern, sozialen Vertretern, Moscheeverein, Imamen mit ihrer religiösen Kompetenz bestehen, auf diese jungen Männer einwirken, damit sie gar nicht erst in diese Szene abrutschen." Radikalisierung früh erkennen Ähnliche Ziele wie das NRW-Projekt verfolgt auch der Berliner Verein "Violence Prevention Network", kurz VPN, der bundesweit mit seinen Projekten versucht, Radikalisierung möglichst früh zu erkennen und mit geeigneten Maßnahmen zu bekämpfen. Der Geschäftsführer Thomas Mücke erklärt, wie das funktioniert. "Es wurde immer sehr viel über diese Jugendlichen gesprochen, aber wenig mit diesen Jugendlichen direkt gearbeitet. Unsere Arbeit ist aufsuchend, nämlich dahin zu gehen, wo diese jungen Menschen sich aufhalten und versuchen, sie direkt anzusprechen. Das ist so ein Alleinstellungsmerkmal von "Violence Prevention Network", dass wir versuchen, mit gefährdeten jungen Menschen direkt in Kontakt zu treten." Deswegen besuchen die Mitarbeiter des Vereins auch inhaftierte Jugendliche in Gefängnissen. "Die Jugendvollzugsanstalten sind große Rekrutierungsorte für gefährdete junge Menschen. In ihrem Leben ist alles gescheitert. Sie haben keine Orientierung. Und wenn es dann die Leute gibt, die sagen, du bist nur deswegen in der Vollzugsanstalt drin, weil du von dieser Gesellschaft ausgegrenzt worden bist, weil Muslime weltweit unterdrückt werden. Und dann werden ihnen so einfache Erklärungsansätze angeboten. Und dann können sie sehr schnell verfallen, sich diesem Milieu anzuschließen. Und es kann ja nicht sein, dass ein Extremist in die Jugendvollzugsanstalt reinkommt, und fünf kommen wieder raus." Dass die pädagogische Arbeit in den Gefängnissen erfolgreich ist, belegt eine unabhängige Studie. Danach werden nur 13 Prozent der Teilnehmer an den Trainingskursen von VPN nach ihrer Entlassung wegen einer Gewalttat wieder inhaftiert. Die generelle Rückfallquote beträgt hingegen 41,5 Prozent. Trotz dieses Erfolgs war das Programm immer ein Modellprojekt, klagt Thomas Mücke. "Und das ist immer das Problem, das wir in der Deradikalisierungsarbeit haben in der Bundesrepublik Deutschland. Es sind keine Regelfinanzierungen, es ist projektmodellgefördert." Weitere Finanzierung ist noch unsicher Ähnlich wie die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus bangt auch Thomas Mücke vom VPN drei Wochen vor Jahresende noch um die Weiterfinanzierung des Projektes. Das Bundesfamilienministerium hat das neue Fünf-Jahres-Programm "Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit" mit einer Fördersumme von 30,5 Millionen Euro aufgelegt. Doch Finanzierungszusagen gibt es noch nicht. Warum stellt die Politik angesichts der zunehmenden Radikalisierung von Jugendlichen Aussteiger- und Präventionsprojekte nicht künftig auf eine solidere finanzielle Basis? Berlins Innensenator wollte sich nicht äußern, NRW-Innenminister Jäger verweist auf die Länderebene: "Ich kann nur an meine Kollegen appellieren, dafür zu kämpfen, dass wir solche Präventionsprojekte in ganz Deutschland bekommen. Wir müssen verhindern, dass diese extremistische Strömung weiter wächst. Wir müssen denen das Wasser abgraben." Ob diesen Worten auch Taten und vor allem auch Gelder folgen werden? Thomas Mücke ist verhalten optimistisch: "Also wir warten mal ab, was in der Innenministerkonferenz geschieht."
Von Kemal Hür
Viele Jugendliche sind auf Identitätssuche. Deshalb werben radikale Salafisten gerade um sie. Dem entgegenwirken wollen Initiativen in Berlin und Nordrhein-Westfalen, die Aussteigern helfen und in der Prävention erfolgreich sind. Doch ihre Finanzierung ist nicht gesichert.
"2014-12-11T19:15:00+01:00"
"2020-01-31T14:18:31.545000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/praeventionsarbeit-radikalisierung-den-naehrboden-entziehen-100.html
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Hoffnung mit Haken im Kampf gegen die Varroa-Milbe
Honigbiene sitzt auf Kornblume. (imago / blickwinkel) Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Im Januar veröffentlichten Forscher vom Institut für Bienenkunde der Universität Hohenheim einen Fachartikel, in dem sie mit Lithium-Chlorid ein neuartiges Mittel gegen die Varroa-Milde vorstellten. Die Eigenschaften des Wirkstoffs, die sich abzeichneten, seien vielversprechend, sagt Peter Rosenkranz, der das Institut leitet. In ihren Versuchen konnten die Forscher das Mittel den Bienen einfach ins Futter mischen - kein Vergleich zu dem Aufwand, den etwa die Behandlung mit organischen Säuren verursacht. "Das ist ein Riesenvorteil, also das ist easy to apply auf Neudeutsch, das Zweite ist, dass es tatsächlich gut wirkt bei Bienenmilben, und dass Lithium-Chlorid ein sehr bekannter Stoff ist mit einer relativ geringen Toxizität auch bei Menschen, also er wird ja nicht umsonst in deutlich höheren Konzentrationen zur Therapie angewendet, und nicht zu vergessen: Der Wirkungsmechanismus, den wir zwar nicht kennen, der aber definitiv ganz anders ist als bei den bisherigen Mitteln." Die Varroa-Milbe kann Bienenvölker so sehr schwächen, dass sie den Winter nicht überstehen - und gilt deshalb als die größte Bedrohung heimischer Honigbienenvölker. Ein einfaches Mittel dagegen wäre toll. Entsprechend groß war die Resonanz auf die Meldung im Januar. Larven vertragen das Mittel schlecht "Unsere Pressemitteilung wurde nach zwei Wochen 42.000 Mal angeklickt, normal sind 1.000 bis 1.500 Klicks. Das zeigt, wie groß das Interesse ist sowohl in der Wissenschaft aber noch mehr bei den Imkern. Das heißt: Es ist ein Bedarf." Die Hoffnung ist groß. Weil Lithium-Chlorid im Handel erhältlich ist, haben manche Imker es ihren Völkern bereits auf eigene Faust verabreicht, berichten andere Bienen-Experten. Dabei ist noch gar nicht klar, wie genau das Mittel zu dosieren ist. Fest steht nur: Die Dosis muss sehr klein sein, die Anwendung kurz, sonst sterben neben den Varroa-Milben auch die Bienen. Insbesondere die Bienenlarven sind gefährdet, denn sie vertragen das Mittel offenbar viel schlechter als ausgewachsene Arbeiterinnen. Noch mehr aber kritisieren andere Forscher, dass in der Veröffentlichung vom Januar eine wichtige Information fehlte, die aber im Patentantrag für die Anwendung enthalten war: Die Bienenlarven vertragen das Mittel viel schlechter als die ausgewachsenen Arbeiterinnen. Das räumt auch Peter Rosenkranz ein. "Wir wussten schon früher von einem oder von zwei Vorversuchen, dass offensichtlich die Brut empfindlicher ist, wir haben das jetzt letztes Jahr im Detail getestet und können bestätigen: Wenn Sie direkt Larven mit Lithium-Salzen füttern, sind die um mehr als den Faktor 10 empfindlicher, und wir sehen schon bei sehr geringen Konzentrationen dann Effekte, Entwicklungsstörungen oder dass Larven sterben. Das heißt, es wird Stand heute eben da jetzt nicht möglich sein, einfach literweise Bienenvölkern mit Lithium zu füttern, solang Brut mit dem Volk ist. Das ist etwas, was momentan die Anwendung natürlich einschränken würde. " Zulassung wird noch Jahre dauern Das bedeutet, dass man das Lithium-Salz nur während einer sehr kurzen Zeit im Herbst verabreichen könnte, wenn kaum oder gar keine Brut mehr im Bienenvolk ist. Oder im Frühjahr, wenn der Imker seine erwachsenen Bienen mit einem sogenannten Kunstschwarm in einen anderen Stock ohne Brut umziehen lässt. Wie genau das aussehen kann - das weiß Peter Rosenkranz und noch nicht. "Ein Problem mit dieser ganzen Diskussion ist, dass man hier den übernächsten Schritt schon jetzt tut. Wir haben jetzt knapp zwei Jahre Forschung auf dem Buckel. Wir haben einen neuen Wirkstoff entdeckt, der tatsächlich ein paar ganz besondere Eigenschaften hat, die bisher kein anderer Wirkstoff hat. Und ich denke, jetzt muss man schauen, was möglich ist, eben auch angesichts der Probleme mit der Brut. Gibt es Möglichkeiten, diese Nebenwirkungen zu reduzieren durch irgendwelche andere Stoffe? Gibt es Möglichkeiten durch bestimmte Applikationen die Brut zu schützen?" Auf all diese Fragen müssen die Forscher noch Antworten finden, ehe eine breite Anwendung in Sicht ist. Bis zu einer offiziellen Zulassung von Lithium-Chlorid zur Varroa-Bekämpfung dürften nach Meinung der Experten noch mindestens fünf Jahre ins Land gehen. "Wenn Sie andere Wirkstoffe anschauen oder andere Varroa-Bekämpfungsmittel, hat es teilweise zehn, 15 Jahre gedauert, bis man eine einigermaßen zufriedenstellende Anwendung hatte, hier aufgrund der tatsächlich spektakulären Wirkungen bei den Bienen oder auf die Bienenmilben denken jetzt die Imker, dass übermorgen ein neues Mittel auf dem Markt ist. Und das ist unabhängig auch von dem, was er rausfindet, sowieso nicht möglich, weil es so eine Entwicklung und Zulassung, da reden wir dann nicht von ein, zwei Jahren, da reden von fünf oder mehr Jahren. "
Von Joachim Budde
Berichte über ein mögliches Mittel gegen die Varroa-Milbe, die Bienenvölker so schwächen kann, dass sie den Winter nicht überstehen, haben Hoffnungen bei Imkern geweckt. Aber: Bis eine neues Mittel auf den Markt kommt, sind noch erhebliche Hindernisse zu überwinden.
"2018-03-22T16:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:37.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bienensterben-hoffnung-mit-haken-im-kampf-gegen-die-varroa-100.html
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Schockenhoff: Russland ist auf Gasexporte angewiesen
Andreas Schockenhoff (picture alliance/ZB/Karlheinz Schindler) Im Streit zwischen Russland und der Ukraine um Gaslieferungen läuft am Montagmorgen um 8 Uhr MESZ eine weitere Zahlungsfrist Russlands ab. Ab dann droht Moskau damit, Gas nur noch gegen Vorkasse zu liefern oder der Ukraine den Gashahn abzudrehen. Andreas Schockenhoff kritisierte im Deutschlandfunk, dass Russland einen "willkürlichen Preis" als politisches Mittel einsetze. Der Preis werde für jeden Kunden nach politischem Wohlverhalten anders gestaltet. Demokratie eine Gefahr für Putins "kleptokratisches System" Schockenhoff war 2013 Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Es gebe gegensätzliche Interessen zwischen Europa und Russland in der Ukraine. "Wir wollen eine stabile rechtsstaatliche Entwicklung, das Putin-Regime das Gegenteil. Denn eine demokratische Entwicklung ist eine Gefährung für sein kleptokratisches System." Es handele sich um einen harten Machtkampf. Putin wolle Unsicherheit und dass die Entwicklung zu einer rechtsstaatlichen Demokratie scheitert. In diesem Machtkampf habe der Westen jedoch starke Mittel, auch wenn ein militärisches Eingreifen zurecht ausgeschlossen worden sein. Langfristig sei Russland von den Gaslieferungen deutlich abhängiger als seine Kunden, "wenn diese geschlossen und einig auftreten. Dort liegt der Hebel". Russland habe eine rückständige Wirtschaftsordnung, die sich zum Problem entwickle. Zwei Dinge seien wichtig: "2008 nach der Georgien-Krise hat Putin Europa erfolgreich gespalten. Das darf uns nicht erneut passieren." Zum anderen müsse die Entwicklung Richtung Rechtstaatlichtkeit und Demokratie in der Ukraine erfolgreich sein. Das Interview in voller Länge: Friedbert Meurer: Anfang Juni wurde in der Normandie des 70. Jahrestages der Landung der Alliierten gedacht. Unter den Gästen neben Barack Obama und Angela Merkel war auch der russische Staatspräsident Wladimir Putin. Das Erinnern an den D-Day, es hat für einen Moment den Westen und Russland wieder einander näher gebracht und einige Zeichen und Ankündigungen von Putin haben dann auch Hoffnung gemacht. Aber jetzt haben prorussische Separatisten ein Militärflugzeug abgeschossen. 49 ukrainische Soldaten sind tot. Außerdem: Die Gasgespräche zwischen beiden Ländern sind gescheitert, alles keine guten Zeichen. Bis letztes Jahr war Andreas Schockenhoff Russland-Beauftragter der Bundesregierung, jetzt ist er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mit ihm möchte ich mich über die Gasverhandlungen und auch über andere wichtige Themen unterhalten, die am Wochenende die Schlagzeilen in der Ukraine dominiert haben. Guten Morgen, Herr Schockenhoff! Andreas Schockenhoff: Guten Morgen, Herr Meurer. Meurer: In wenigen Stunden läuft das Ultimatum ab in Sachen Gaslieferungen Russlands an die Ukraine. Läuft es auf ein Scheitern hinaus? Schockenhoff: Es läuft nicht auf ein Scheitern hinaus, aber wir müssen ganz realistisch erkennen, dass die Europäische Union und Moskau in unserer gemeinsamen Nachbarschaft gegenteilige Interessen haben. Wir wollen eine stabile rechtsstaatliche Entwicklung dort haben, weil Instabilität die Friedensordnung in Europa gefährdet, aber das Putin-Regime will genau das Gegenteil, denn eine demokratische Entwicklung, die erfolgreich ist, wirtschaftlich erfolgreich ist, Korruption bekämpft, ist eine Gefährdung für sein eigenes kleptokratisches System. Deswegen will Putin Unsicherheit. Er will, dass die Hinwendung zu einer modernen rechtsstaatlichen demokratischen Entwicklung scheitert. Es handelt sich also um einen sehr harten Machtkampf. Nun ist die Frage, ob wir in diesem Machtkampf mitladen oder nicht. Zu Recht haben alle vernünftigen Politiker in der EU militärische Antworten auf eine militärische Aggression Russlands ausgeschlossen. Wenn wir aber nicht militärisch reagieren, ist die Frage, ob wir gar nicht reagieren. Wir haben Mittel in diesem Machtkampf und dann ist die zweite Frage, ob wir bereit sind, diese Mittel auch hart in einem Streit mit einem Gegner, der grundsätzlich eine andere Ordnung in Europa will als wir, einsetzen. Meurer: Bevor wir über diese Sanktionen reden, Herr Schockenhoff, noch mal zum Thema Gasverhandlungen. Gibt es eine Berechtigung für Russland zu sagen, wenn denn die Ukraine sich von uns abwendet, dann, bitte schön, müssen sie eben auch die Gasrechnungen teurer bezahlen? Schockenhoff: Russland setzt Gas, vor allem einen willkürlichen Preis, der nach politischem Wohlverhalten für jeden Kunden anders gestaltet wird, als Mittel in diesem Machtkampf ein. Aber langfristig ist Russland von diesen Gaslieferungen wesentlich abhängiger als wir. Russland hat seine Reichtümer nicht benutzt, um das Land zu diversifizieren. Russland hat eine rückständige Wirtschaftsordnung, die mehr und mehr zum wirtschaftlichen Problem wird, und die Energiemärkte verändern sich weltweit, sodass auch die Möglichkeiten, Gas und Energie anderweitig zu beziehen, für die EU insgesamt und mittelfristig auch für die Ukraine steigen. Also ist Russland von diesen Gaslieferungen abhängiger als seine Kunden, wenn die Kunden geschlossen und einig auftreten. Dort liegt der Hebel. Also wird Russland langfristig auf einen Kompromiss einsteigen müssen, wenn es nicht kurzfristig sogar die Hauptquelle des russischen Haushaltes versiegen lassen will. Meurer: Wenn Russland den Gashahn zudreht, obwohl dann die Einnahmen verloren gehen, was bedeutet das für die EU und für Deutschland? Schockenhoff: Das bedeutet, dass zwei Dinge jetzt für uns das Wichtigste sind. Das Erste ist Geschlossenheit. 2008 nach der Georgien-Krise hat Putin die Europäische Union erfolgreich gespalten. Er hat die einen bestraft, auch mit einem überzogenen Gaspreis, und er hat andere mit bilateralen Verträgen, die ihm entgegengekommen sind, bilateral, also einzelne Staaten, aber auch nichtstaatliche Akteure, belohnt. Das darf uns nicht erneut passieren. Wir müssen zusammenstehen. Und wenn die Ukraine nicht mit Gas beliefert wird, dann wird der Westen insgesamt nicht beliefert. Dann müssen wir bereit sein, auch umgekehrt aus dem Gas, das insgesamt aus Russland nach Europa kommt, die Ukraine mitzuversorgen. Dann muss sich Russland fragen, ob es ein einzelnes Land gezielt herausgreift und bestraft, oder ob es insgesamt seine Absatzmärkte infrage stellt. Das kann Russland überhaupt nicht eingehen, ein solches Risiko. Und das Zweite: Wir müssen dafür sorgen, dass die Hinwendung zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen die Korruption ein Erfolg wird. Denn nichts ist für das kleptokratische Regime in Moskau gefährlicher als eine erfolgreiche rechtsstaatliche, demokratische, freiheitliche Entwicklung in seiner Nachbarschaft. Meurer: Dominierendes Ereignis am Wochenende, Herr Schockenhoff, war der Abschuss eines ukrainischen Militärflugzeuges durch prorussische Separatisten. Alle ukrainischen Soldaten an Bord, 49, sind ums Leben gekommen. Gehen Sie fest davon aus, dass die Rakete oder die Raketen, die die Separatisten benutzt haben, um die Maschine abzuschießen, aus Russland stammen? Schockenhoff: Ja selbstverständlich! Man kennt ja die Typen. Man kennt bei vielen Waffen, sogar die Seriennummern. Es ist ganz eindeutig, dass Russland Waffen liefert, aber auch, dass russische Geheimdienstleute, russische Soldaten zu Tausenden im Osten der Ukraine aktiv sind. Sie sagen das übrigens auch selber und die sogenannten Separatisten sagen ja auch, dass sie sich in ihren Einheiten - in der Regel ist so das Bauprinzip: Ein russischer Geheimdienstmann, ein russischer Elitesoldat plus vier ukrainische Separatisten bilden eine Zelle, die sich dann wieder zu größeren Einheiten organisieren. Und die Ukrainer sagen selber, wir unterstellen uns der Führung der Russen, weil die geschult sind und weil sie unmittelbar geführt werden, weil sie Anweisungen haben, weil sie auch über militärische Führungsinstrumente verfügen. Also das ist eindeutig. Übrigens spielt Russland hier mit einer Verunsicherung, mit einer Täuschung und mit Tricksen. Auf der einen Seite wird das geleugnet, auf der anderen Seite werden Geheimdienstleute, Soldaten dafür dekoriert, dass sie in der Ukraine im Krieg sich bewähren. Das ist Teil dieser nicht offenen und transparenten, sondern mit Tarnung und Täuschung und Verunsicherung arbeitenden Taktik. Meurer: So schlimm dieser Angriff auf das Flugzeug gewesen ist, ist das der richtige Weg, wenn der neue ukrainische Präsident jetzt von Vergeltungsaktionen spricht? Schockenhoff: Nein! Aber wer gehofft hat, nach den ukrainischen Wahlen gäbe es jetzt plötzlich einen Durchbruch in Friedensverhandlungen, von heute auf morgen würde Putin, der eine aggressive Politik macht und eine andere Lösung in dieser Region will, als sie Europa will, als sie die Mehrheit der Menschen in der Ukraine wollen, der sieht sich getäuscht. Es ist ein hartes Machtspiel und Putin reagiert auf Druck, und deswegen ist es die Frage: Das gefällt uns nicht. Wir würden sehr gerne andere Mittel verwenden. Aber ob wir zuschauen und sagen, wir sind lieb, aber wenn die anderen nicht lieb sind, haben wir Pech gehabt, oder ob wir sagen, wir werden nie mit militärischen Mitteln vergelten, aber wir sind bereit, unsere Werte und unsere Gesellschaftsordnung, unsere politische Ordnung auch mit den Machtmitteln, die wir haben, robust zu verteidigen. Und dazu gehören eben wirtschaftliche Instrumente. Diese spielen ... Meurer: Neben diesen Sanktionen, Herr Schockenhoff – Entschuldigung, wenn ich noch mal auf den Punkt komme -, fordern Sie, dass die ukrainische Regierung eine Vergeltungsaktion unterlässt? Schockenhoff: Nein! Die ukrainische Regierung muss erstens Sicherheit schaffen und ein reiches Land - im Osten des Landes sind reiche Ressourcen, sind wirtschaftliche Schätze, droht eine humanitäre Katastrophe. Ich fordere zunächst, dass die ukrainische Regierung das nicht tatenlos dorthin schlittern lässt, sondern dass sie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln – und ein Rechtsstaat muss sich wehren müssen ... Meurer: Aber haben wir da nicht eine Spirale der Gewalt? Schockenhoff: Dort wo ein Rechtsstaat militärisch angegriffen wird, muss er sich natürlich auch militärisch wehren. Das ist ganz klar. Aber auf der anderen Seite immer auch das Angebot zu Gesprächen machen. Deswegen fordere ich, um auf Ihre Frage zu kommen, dass Poroschenko nicht nur Vergeltung ankündigt, sondern dass er jeder Zeit auch zu konstruktiven Gesprächen bereit ist. Aber konstruktive Gespräche sind nur möglich, wenn Putin merkt, dass er mit Gewalt nicht einseitig seine Interessen durchsetzen kann, die die Existenz der Ukraine ausschließen. Meurer: Aber Gespräche sind dann Lichtjahre entfernt. Es wird weiter gekämpft, geschossen und gestorben. Schockenhoff: Putin reagiert sehr, sehr kurzfristig und sehr, sehr machtpolitisch auf Druck. Noch am Tag der ukrainischen Wahl – das war vorletzten Sonntag – hat Putin gesagt, er werde niemals diesen Staat anerkennen und diese Wahlen anerkennen. Nachdem die EU sehr ruhig, aber klar gesagt hat, von dem Umgang mit dem Wahlausgang durch Putin hänge auch die Frage ab, ob es zu einer nächsten Stufe von Sanktionen kommt, hat Putin eine Woche später beim D-Day in der Normandie mit Poroschenko gesprochen. Also Putin ist ein sehr robuster und knallharter Machtpolitiker, aber er ist ein Realist. Und wo er sieht, dass er den Kürzeren zieht, dass die Gegenseite nicht machtlos ist, sondern Machtinstrumente, die durch unsere wirtschaftliche Stärke uns gegeben sind, auch wenn es für uns selber schwierig ist, bereit ist einzusetzen, dann wird er reagieren, und deswegen ist die Frage, ob wir einfach tatenlos zuschauen, oder ob wir sagen, wir wollen diesen Streit nicht, aber wir sind in diesem Streit nicht zahnlos und wir werden uns wehren. Wir werden auf jeden Fall eine Friedensordnung, die wir über 40 Jahre in der Europäischen Union aufgebaut haben, und die Werte, auf der diese Friedensordnung beruht, nicht tatenlos aufgeben. Meurer: Andreas Schockenhoff, stellvertretender Unions-Fraktionsvorsitzender, plädiert weiter für einen harten Kurs gegen Russland. Danke schön, Herr Schockenhoff, und auf Wiederhören. Schockenhoff: Auf Wiederhören, Herr Meurer. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Schockenhoff im Gespräch mit Friedbert Meurer
Der Westen solle im Konflikt um Gaslieferungen selbstbewusster agieren, sagte Unions-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff im Deutschlandfunk. Russland und Präsident Putin seien "von den Gaslieferungen deutlich abhängiger als seine Kunden - wenn diese geschlossen auftreten. Dort liegt der Hebel".
"2014-06-16T06:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:47:20.450000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gasstreit-ukraine-russland-schockenhoff-russland-ist-auf-100.html
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"Von Abmahnwellen kann man nicht sprechen"
Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) tritt mit einer Fülle neuer Vorschriften für den Daten- und Verbraucherschutz offiziell am 25.05.2018 in Kraft. (dpa / Patrick Pleul) Georg Ehring: Datenschutz kann ganz schön auf die Nerven gehen: In den vergangenen Wochen habe ich Dutzenden von Informationsdiensten und Newslettern mitgeteilt, dass ich sie weiter beziehen möchte - und, ich gebe es zu - kein einziges Mal die dazu gehörenden Erläuterungen zum Datenschutz von vorne bis hinten durchgelesen. Anlass war natürlich die Europäische Datenschutz-Grundverordnung, vor genau einem Monat ist sie in Kraft getreten. Für mehr Datenschutz setzt sich Markus Beckedahl vom Online-Portal Netzpolitik.org ein und ihn habe ich vor dieser Sendung gefragt, ob die vielen Einverständniserklärungen und Erläuterungen wirklich nötig waren. Markus Beckedahl: Es war offensichtlich nötig, weil die Datenschutzbestimmungen von ganz vielen, eigentlich von allen Unternehmen geändert wurden, und da müssen sie dann auch wiederum rein einwilligen. Mehr Gedanken um Schutz von personenbezogenen Daten Ehring: Sind denn meine Daten jetzt besser geschützt und wenn ja, vor wem? Beckedahl: Die Datenschutz-Grundverordnung zwingt jetzt Unternehmen vor allen Dingen dazu, sich mehr Sorgen oder mehr Gedanken um den Schutz von personenbezogenen Daten zu machen, aber auch gleichzeitig Datensicherheitskonzepte zu entwickeln. Das Ausmaß sieht man aktuell noch nicht so ganz, aber dieser veränderte Rechtsrahmen schafft die Basis dafür, dass wir zukünftig im Idealfall besseren Datenschutz haben, aber vor allen Dingen auch als Nutzer, als Bürger bessere Datenschutz-Durchsetzungsrechte gegenüber Unternehmen haben, die in der Vergangenheit mit unseren Daten vielleicht nicht immer so sorgsam umgegangen sind, wie man es erwarten könnte. "Fällt jetzt leichter, gegen Google und Facebook vorzugehen" Ehring: Große Portale wie Facebook oder Google, die haben mich ja bisher mit großen Mengen an zielgenauer Reklame zugepflastert. Fällt ihnen das jetzt schwerer? Beckedahl: Vor allen Dingen fällt es uns jetzt leichter, gegen Google und Facebook gerichtlich vorgehen zu können, weil bisher musste man immer nach Irland gehen, weil diese US-Konzerne gerne nach Irland gegangen sind, weil sie dort eine laxe Datenschutzaufsicht hatten und niedrige Steuern. Das ist bisher nur dem Österreicher Max Schrems einmal gelungen, quasi dieses rechtliche Spiel durchzuspielen. Mir selbst wäre das gar nicht so möglich gewesen, in einem fremden Land, in einer fremden Sprache meine Rechte durchzusetzen. Zukünftig kann ich das in Deutschland machen, beziehungsweise können das Verbände in meinem Namen für meine Rechte vor unseren Gerichten versuchen durchzusetzen. "Gerne so getan haben, als ob sie etwas löschen" Ehring: Wissen denn solche Portale jetzt weniger über mich, oder müssen sie was vergessen, wenn ich da Widerspruch eingelegt habe? Beckedahl: Sie müssen auf jeden Fall uns besser informieren, welche Daten sie wie verarbeiten, und wir haben verbesserte Löschrechte gegenüber Unternehmen, die bisher ja auch ganz gerne so getan haben, als ob sie etwas löschen, aber dann tatsächlich nicht so richtig gelöscht haben und keiner sich das genau anschauen konnte. "Schuld einer verkorksten Informationspolitik" Ehring: Durch die Flut von Einverständniserklärungen und durch den Zwang, sich damit zu beschäftigen, ist diese Grundverordnung ziemlich unbeliebt geworden. Wie gefällt Sie Ihnen denn? Beckedahl: Mir gefällt jetzt nicht alles, was da drinsteht, aber ich finde, es ist eine ganz gute Basis geworden, dass man sich mal mehr mit Datenschutz beschäftigt, dass unsere Rechte besser geschützt sind und vor allen Dingen besser durchsetzbar sind. Nichts desto trotz bleibt das Datenschutzrecht relativ komplex und hier kann man auch ganz klar sagen: Die Bundesregierung hat leider versagt, rechtzeitig ausführliche Informationen für all die verunsicherten Menschen, die Daten verarbeiten in ihren Vereinen, in ihren Unternehmen, zu liefern. Das ist jetzt nicht unbedingt die Schuld der Datenschutz-Grundverordnung, sondern es ist die Schuld einer verkorksten Informationspolitik dazu. "Von Abmahnwellen kann man nicht sprechen" Ehring: Es gibt ja die Befürchtung, Missbrauch der Verordnung selber, zum Beispiel zu Abmahnungen bei kleinen Anbietern. Das wird befürchtet. Meinen Sie, dass das zurecht besteht? Haben die ersten Wochen gezeigt, dass es solche Abmahnwellen tatsächlich gibt? Beckedahl: Von Abmahnwellen kann man nicht sprechen. Es gibt Einzelfälle, wo versucht wird, mit Abmahnungen gegen Wettbewerber vorzugehen. Und hier muss man auch ganz klar sagen: Das ist ein deutscher Sonderweg, dass wir uns ein solches Abmahnsystem leisten. Hier könnte die Bundesregierung klare Grenzen setzen und dieses Abmahnsystem, was es in diesem Ausmaß in keinem anderen Land in der Europäischen Union gibt, beenden - beispielsweise indem man klar regelt, dass die erste Abmahnung kostenlos sein muss, quasi eine Informationsaufforderung, und erst wenn man der nicht nachkommt, quasi eine kostenpflichtige zweite Abmahnung zu verschicken. Das würde der Rechtsunsicherheit besser entgegenwirken. "Datenschutzfreundliche Voreinstellungen verpflichtend einführen" Ehring: Wo sind denn jetzt noch Lücken in der Datenschutz-Grundverordnung und wie schlagen Sie vor, die zu schließen? Beckedahl: Es wird ja gerade auf europäischer Ebene die kleine Schwester der Datenschutz-Grundverordnung diskutiert, die sogenannte ePrivacy-Verordnung, wo es unter anderem darum geht, ob man jetzt zukünftig in diesem ganzen Internet der Dinge Gerätschaften beziehungsweise in Browsern datenschutzfreundliche Voreinstellungen verpflichtend einführt. Das heißt, im Moment ist es ja so: Alles ist erst mal offen und ich muss mich dann ausführlich damit beschäftigen, meine Rechte quasi zu sichern, indem ich die Datenschutzeinstellungen auf scharf schalte. Das könnte man umdrehen und wer dann freizügig sein will, kann sich dann quasi selbst freiklicken. Auf der anderen Seite bringt die Datenschutz-Grundverordnung nicht ganz so viel gegen sogenanntes Online-Tracking. Hier könnte die ePrivacy-Verordnung auch helfen, unsere Rechte besser durchzusetzen gegen all die intransparenten Tracking-Versuche. Wenn ich auf eine Webseite gehe und im Hintergrund werden 40, 50 verschiedene Werbenetzwerke darüber informiert, welchen Artikel ich lese, dann sehe ich das schon als invasiven Eingriff in meine Grundrechte an, und das könnte man mit der ePrivacy-Verordnung ändern. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Beckedahl im Gespräch mit Georg Ehring
Die neue Datenschutzverordnung helfe Verbrauchern, ihre Rechte vor Gericht besser durchzusetzen, sagte der Datenschutzexperte Markus Beckedahl im Dlf. Die Bundesregierung habe aber dabei versagt, Menschen, die in Vereinen oder Unternehmen Daten verarbeiten, rechtzeitig über Konsequenzen zu informieren.
"2018-06-25T11:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:43.670000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/experte-zur-datenschutzgrundverordnung-dsgvo-von-100.html
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Kanzlerin Merkel muss sich erklären
Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13.02.2017 in Berlin. (dpa/Gregor Fischer) Die Sätze der Kanzlerin, die sie 2013 sagte, die kleben an ihr wie Kaugummi am Schuh: "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht. Das gilt für jeden Bürger und für jede Bürgerin Deutschlands, dafür bin ich als Bundeskanzlerin Deutschlands auch verantwortlich, das durchzusetzen." Das sagte sie im Oktober 2013 aufgrund ihres eigenen Mobiltelefons - und zu Berichten, dass die USA aus ihrer Botschaft am Brandenburger Tor heraus das Regierungsviertel abhörten. Und schon im Sommer 2013 sagte Angela Merkel: "Was wir da über angebliche Überwachung auch von EU-Einrichtungen und so weiter gehört haben, auch das fällt in die Kategorie dessen, dass man das unter Freunden nicht macht. Das geht nicht." Und die Bundeskanzlerin sagte auch, dass die Bürgerinnen ein Anrecht darauf hätten, "dass die klare, staatliche Kontrolle, die es in unserem Land über die Aktivitäten der Geheimdienste gibt, auch tatsächlich wirkungsvoll greift. Und zwar genau so, wie Recht und Gesetz unseres Landes das vorsehen." Massive Missstände Zwar hat der Ausschuss wenig dazu herausgefunden, ob die NSA auf deutschem Boden oder gegen die Bundesrepublik spioniert. Doch in der Kooperation von NSA und BND, aber auch in der eigenen Tätigkeit des BND hat er massive Missstände vorgefunden: "Der BND hat sich in weiten Teilen rechtswidrig verhalten", sagt Christian Flisek, Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss. "In der Realität ist es zu millionenfachen Grundrechtsverletzungen gekommen", sagt der Grünen-Obmann Konstantin von Notz. Ausspähen von Freunden, das ging sehr wohl im Bundesnachrichtendienst, dem deutschen Auslandsgeheimdienst, dessen Aufsichtsbehörde ist: das Bundeskanzleramt. Doch dort will man bis ins Jahr 2015 nichts davon gewusst haben, dass der BND bei seiner eigenen Spionagetätigkeit ganz gezielt und umfangreich EU-Institutionen, NATO-Partner, Parlamente, Ministerien und Regierungsmitglieder in befreundeten Staaten abhörte. Spanien, Frankreich, USA, Finnland, Österreich, Luxemburg – eigentlich dürfte dort nur spioniert werden, wenn es Verdachtsmomente gibt. Die letzte von mehr als 100 Zeugen Martina Renner von der Linkspartei: "Aber über was wir hier reden ist ja eine anlasslose Überwachung, ohne einen konkreten Anhaltspunkt in der überwachten Person oder Institution zu haben. Weil niemand würde ja behaupten, dass zum Beispiel das französische Parlament nun ein Hort von Drogendealern ist." Heute muss Angela Merkel sich und ihre Aussagen im Bundestag erklären. Als voraussichtlich letzte von über 100 Zeugen wird sie vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zur NSA-Affäre vernommen. Für den Grünen-Obmann Konstantin von Notz hat die Kanzlerin in jedem Fall ein Problem: "Entweder sie hat es gewusst, und die Öffentlichkeit bewusst in die Irre geführt. Oder sie hat es nicht gewusst hat, obwohl das Kanzleramt die Fach- und Rechtsaufsicht über den Auslandsgeheimdienst hat." Was Merkel schützen könnte: selbst die Spitze des BND, der ehemalige Präsident Gerhard Schindler, will vom Umfang der Rechtsverstöße lange Zeit nichts gewusst haben. Die Abteilung Technische Aufklärung, über 3.000 Mitarbeiter stark, habe sich verselbstständigt – und BND-Leitung und damit auch die Aufsicht im Kanzleramt seien auf korrekte Information aus dem Hause nun einmal angewiesen. Dass das Kanzleramt überhaupt auf die Idee hätte kommen können, selbst einmal nachzuforschen, wie der BND seine Informationen gewinnt? Der heutige Kanzleramtsminister Peter Altmaier, sein Vorgänger Ronald Pofalla, der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, und der zuständige Abteilungsleiter Günter Heiß hielten das im Untersuchungsausschuss für unrealistisch.
Von Falk Steiner
Der Bundesnachrichtendienst hat Freunde ausgespäht - und das Kanzleramt will bis 2015 nichts davon gewusst haben. Heute soll Angela Merkel nun vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aussagen, als letzte Zeugin vor Abschluss der Beweisaufnahme.
"2017-02-16T05:41:00+01:00"
"2020-01-28T10:15:23.997000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nsa-untersuchungsausschuss-kanzlerin-merkel-muss-sich-100.html
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"Wir müssen unser Recht verteidigen, die Wahrheit zu sagen"
Der im Exil lebende langjährige Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar (dpa / picture-alliance / Arne Dedert) Bei den Mitarbeitern von "Reporter ohne Grenzen" in Berlin ist Can Dündar mittlerweile gut bekannt. Die Nichtregierungsorganisation unterstützt den 56-Jährigen, seit er sich im vergangenen Jahr ins Exil geflüchtet hat. In Deutschland kann sich Dündar relativ frei bewegen, er schreibt Artikel, arbeitet an Büchern. Wie es seinen Freunden und Kollegen im türkischen Gefängnis geht, das weiß der ehemalige Chefredakteur jedoch nicht: "Ich kann nicht mit ihnen sprechen, nur mit den Anwälten und Familienangehörigen. Es gibt keine Möglichkeit, ihnen zu schreiben oder von ihnen Briefe zu erhalten. Jeglicher Kontakt ist untersagt. Was ich weiß, ist, dass sie zu dritt in einer Zelle eingesperrt sind, sie sind also nicht in Isolationshaft. Einmal in der Woche dürfen sie ihre Anwälte sehen, und alle zwei Wochen ihre Familie." Can Dündar kennt den Alltag hinter Gittern. Im November 2015 wurde auch er in der Türkei verhaftet, anschließend war er drei Monate lang eingesperrt. In dem heute eröffneten Prozess ist Dündar einer der Hauptangeklagten. Es ist ein Verfahren mit internationaler Strahlkraft, sagt Christian Mihr, der Geschäftsführer von "Reporter ohne Grenzen" in Berlin. "Cumhuriyet ist ein Symbol für unabhängigen Journalismus in der Türkei und es stehen gleichzeitig Journalisten als auch Justiziare vor Gericht, also diejenigen, die die Journalisten eigentlich verteidigen sollen, deswegen ist dieser Prozess ganz ganz wichtig." Vorwurf: Dündar soll mit einem Staatsanwalt gesprochen haben Die Anklage gegen Dündar und seine ehemaligen Mitarbeiter lautet: Unterstützung terroristischer Gruppen, etwa der Bewegung des islamischen Predigers Fetullah Gülen oder der kurdischen Untergrundorganisation PKK. Dündar: "Ja, wir haben einige von ihnen interviewt. Ich zum Beispiel habe einen Staatsanwalt interviewt, der die Untersuchung in einem Korruptionsskandal geleitet hat, in den Präsident Erdogan verwickelt ist." Dieser Staatsanwalt wurde später als Gülenist bezichtigt. Dündar selbst wird nun vorgeworfen, überhaupt mit ihm gesprochen zu haben: "Ganz ehrlich: Ich kenne keinen Journalisten, der die Möglichkeit verstreichen ließe, jemanden zu interviewen, der Untersuchungen in einem Korruptionsfall leitet, in die ein Präsident verwickelt ist. Aber so ist die Türkei, das Ganze ist ein politisches Verfahren." Die Auswirkungen des Putschversuchs vor rund einem Jahr halten die Türkei noch immer in ihrem Bann: Rund 150 000 Staatsdiener, darunter Lehrer, Richter, Polizeibeamte oder Wissenschaftler wurden in den vergangenen Monaten entlassen. Fast 170 Journalisten sitzen mittlerweile in türkischen Gefängnissen, so viele wie in keinem anderen Land weltweit. 130 Medien mussten schließen. Für Can Dündar und seine Cumhuriyet-Kollegen geht es bei dem jetzigen Verfahren deswegen um die Pressefreiheit an sich: "Wir müssen klarmachen, was Journalismus ist und was der Unterschied zwischen einem Bürokraten und einem Reporter ist. Ich habe Dokumente veröffentlicht, in denen es um illegalen Waffenhandel der Regierung ging. Hätte ich das nicht tun sollen? Hätte ich mich wie ein Bürokrat verhalten und die Geheimnisse für mich behalten sollen? Wir können gar nicht anders, wir müssen unser Recht zu schreiben und unser Recht, die Wahrheit zu sagen, verteidigen." Dündar leidet unter Exil Zahlreiche Diplomaten, Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft begleiten den Cumhuriyet-Prozess in den kommenden Tagen als Prozessbeobachter. Can Dündar wird ihn aus der Ferne verfolgen. In Deutschland entgeht er zwar der Verfolgung durch die türkischen Behörden: Glücklich macht ihn diese Situation jedoch nicht: "Im Geiste bin ich immer noch in dieser Gefängniszelle in der Türkei, in der jetzt meine Freunden und Kollegen sitzen. Wenn ich hier durch die Straßen gehe oder ein Café besuche, fühle ich mich nicht gut. Das ist wohl Teil des Kampfes. Gestern war ich im Gefängnis, heute bin ich im Exil. Ich werde wohl erst dann wieder fröhlich sein, wenn alle freigelassen sind." Ein Urteil wird bereits für diesen Freitag erwartet.
Von Silke Ballweg
In der Türkei wurde heute der Prozess gegen 17 Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet eröffnet - wegen Unterstützung terroristischer Gruppen. Ex-Chefredakteur Can Dündar ist einer der Hauptangeklagten und beobachtet das Verfahren hilflos aus dem deutschen Exil. Er sieht durch den Prozess die Pressefreiheit an sich gefährdet.
"2017-07-24T10:45:00+02:00"
"2020-01-28T10:38:15.220000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/prozess-gegen-tuerkische-journalisten-wir-muessen-unser-100.html
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"Das ist eine Angst, die ich keinem wünsche"
"26. April, der Freitag: Es war Prüfungstag. Und da ich 12. Klasse unterrichte, hatte ich Prüfungsaufsicht.""Ich hab am 26. meine letzte schriftliche Prüfung gemacht, in Biologie, Grundkurs. Also vorher gar nicht aufgeregt, aber als ich dann meine Aufgaben durchgelesen hatte, wusste ich: O-oh! Also meine Bio-Lehrerin stand dann auch noch neben mir und sagte: 'Und – ist ganz schön schwer, oder!?' Ich sag: 'Hm!' Und da hat sie mir noch viel Glück gewünscht.""Und in dem Moment hat es so heftig vor unserer Tür geknallt, aber richtig heftig, die Tür hat in ihren Angeln vibriert, es war kurz ruhig, da kam noch ein Knall.""Und irgendwann ist meine Bio-Lehrerin aufgestanden und meinte: 'Mensch, was ist denn hier nur los?'""Dann kam noch ein Knall, noch ein Knall; und Herr Haase meinte nur zu uns, dass es die Bauarbeiter sein werden, die halt den Boden neu machen würden.""Und gerade als sie vor der Tür stand, ging die Tür auch schon auf und ER stand halt da! Und ich habe ihm in die Augen geguckt. Meine Bio-Lehrerin stand neben mir, war total ruhig. Ich hab genau in den Lauf geguckt, ich weiß genau, wie die Pistole aussah! Und dann hat er halt seine Waffe hochgenommen und hat geschossen." "Das kriegten wir da oben nicht mit. Wir waren ja da oben, bis auf einen anderen Mathe-Kurs, der auch Prüfung schrieb, waren wir die Einzigen! Da haben mir schon die Knie gezittert! Bin aber äußerlich ruhig geblieben." "Ich weiß nur noch, dass dann der Täter bei uns im Raum stand. Und dann fing Frau Klement an: 'Raus, alle raus hier!' Ja, alle sind aufgesprungen und sind aus dem Raum rausgelaufen. Außer ich: Ich bin stehen geblieben! Da haben meine Reflexe total versagt. Dann kam Frau Klement zurück und hat mich am Arm gepackt und halt rausgezerrt. Dann bin ich halt losgelaufen, habe Schüsse gehört, hab mich umgedreht. Und da lag halt Frau Klement auf dem Boden." "Da war kein Puls mehr! Und das war dann wie ein Hammerschlag! Da ist mein Herz genauso stehen geblieben! Und da habe ich nur rüber geguckt zu dem anderen Lehrer, da war ein anderer Schüler, hat auch über dem gekniet. Und in dem Moment kamen die Schüsse wieder nach unten." "Da bin ich dann auf Frau Dettke gestoßen. Die hat mich halt mit runtergezerrt so im Fluss.""Ein Mädel aus dem Raum ist dann total hysterisch geworden und hat die ganze Zeit nur den Namen von der Lehrerin gerufen und dass sie tot ist ... Wir haben uns dann total aneinander geklammert, total gezittert, halt total aufgeregt. Man denkt wirklich: Das kann´s jetzt nicht sein, das ist jetzt nicht wirklich passiert!" "Ich hab mich dann gar nicht mehr um meine Klassenkameraden gekümmert, um gar nichts mehr gekümmert. Ich hab meinen Rucksack geschnappt und bin erst mal runter gerannt! Bin dann raus, und sowie ich draußen war, habe ich mich sicher gefühlt. Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich dort sicher gefühlt. Ich hab noch ein paar Schüsse nebenbei gehört, aber ich habe es noch nicht realisieren können, gar nicht.""Verlassen sie bitte das Objekt weiträumig, hier wird scharf geschossen, danke!"" ... sind total fertig, die Todesangst da drin, wir konnten kaum atmen, voll fertig ... " " ... also es war ein maskierter Mann, der kam aus der Toilette, bewaffnet und lief an uns vorbei ... " "Dann haben wir die Polizei angerufen. Ich bin halt da hingerannt und bin halt auf den Herrn Gorski gestoßen und hab erzählt, was ich gesehen hab. Dann bin ich zurück und er ist zur Tür rein oder wollte zur Tür rein. Und dann kamen dann diese Schüsse wieder. Und dann ne ganze Weile gar nix, total leise!""Ja, es war einfach ruhig! Es war mir gar nicht bewusst, dass es fast vier Stunden waren, die wir da oben waren! Es war mir nicht bewusst. Es änderte sich ja auch nichts, es passierte nichts! Dann haben wir gemutmaßt – im Flüsterton –: Was könnte das sein? Was könnte das sein? Keiner hat den Satz gesagt: 'Hoffentlich kommen wir hier raus!' Hat keiner gesagt! Aber alle haben´s gedacht! Wir haben nichts gemacht, wir haben nur gewartet. Jeder war mit sich beschäftigt. Das ist eine Angst, die ich keinem wünsche. Eine Angst, die man auch nicht vergisst.""Ich bin so zwischen 12 und 13 Uhr dahin gekommen, da war der Sammelpunkt dann am Sportplatz. Da hieß es, man soll sich registrieren lassen. Und da konnte einem auch niemand was sagen. Es war ja klar, es wusste auch niemand was. Das war ziemlich aussichtslos und chaotisch dort. Und dann hat man ja geguckt: Sehe ich meine Frau – oder sehe ich sie nicht? Ich hatte auf dem Handy probiert, da hat es durchgeklingelt."Detlef Baer hat seine Frau nie wieder gesehen. Als er am 26. April 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt ankam, war sie bereits tot – ebenso wie elf andere Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und ein Polizist. Ihr Mörder, der 19-jährige Robert Steinhäuser, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, richtete sich nach seinem 20 Minuten dauernden Blutrausch selbst. Dies blieb der Polizei jedoch über Stunden verborgen. Da sie außerdem von einem zweiten Täter ausging, bedeutete das Ende des Mordens noch lange nicht das Ende der Angst – weder für die in der Schule verbliebenen 180 Schüler und Lehrer, die sich, so gut es eben ging, verbarrikadiert hatten, noch für ihre Freunde und Angehörigen, die draußen auf sie warteten."Der Lehrer hat dann nur noch den Kopf von der Lehrerin mit 'ner Jacke abgedeckt, damit man das halt nicht mehr so sieht. Und dann saßen wir von um Elf bis, – ich glaube, das war halb Drei -, ungefähr in dem Raum. Und wir haben jede Minute von jedem Handy die Polizei angerufen! Weil: Wir haben gedacht, das merkt keiner!" "Und es war gespenstig ruhig. Es war einfach das Gefühl, wir wären die Einzigen im Haus. Ich sah dann nur diese weiträumige Absperrung um die Schule. Ich hab ja nach hinten rausgeguckt. Ich sah dann, dass sich da Spezialeinheiten auf der benachbarten Kindereinrichtung postierten." " ... und erst wenn das Kind registriert ist und die Eltern dabei sind, kann das Kind abgeholt werden, das heißt dann auch austragen bitte ..." "Und dann kam dieses Bangen. Dann ging dieses Erzählen rum, wer hat wen gesehn, vor allem, welche Schüler noch drin waren, das war halt auch krass! Man hat dann versucht, per Handy so viel wie möglich zu simsen oder Leute anzurufen, dass man auch wirklich mit denen in Kontakt tritt. Das waren wirklich sehr beschissene Minuten.""Ich hab da zwei Väter gesehen, die standen zusammen, völlig sprachlos, und ich kam dann dazu. Und man sah es in den Augen, die Angst steckte drinne, weil sein Kind praktisch noch in der Schule war. Aber auch diese Starre, dass er sich nicht traute, zu weinen! Und ich bin einfach auf ihn zugegangen. Ich hab in dem Moment einfach nur gemerkt: Da musst du jetzt hin! Und da habe ich ihn in den Arm genommen und dann hat er geweint! Jetzt kommen mir selber die Tränen! Das sind so Momente, wo ich gedacht habe: Ich habe meinen Sohn hier; ich habe meinen Sohn da!" Das Warten zog sich über Stunden hin. Zu chaotisch, zu desorganisiert verlief der Einsatz der Erfurter Polizei, die mit einer Amoklage schlichtweg überfordert und durch den Tod eines Kollegen traumatisiert war. Zudem verfügte sie nur über mangelhafte Funktechnik.Nach mehreren Notrufen, dass in der Schule geschossen würde und dass es Verletzte gäbe, wurden Funkwagen allein mit der Information, dass "angeblich" eine "Straftat" vorläge, an die Schule beordert.Während des gesamten Einsatzes bestand keine Funkverbindung zwischen Polizei- und Rettungsdiensten.Der Einsatzleiter der Rettungskräfte fand die Einsatzleitung der Polizei erst zwei Stunden nach seinem Eintreffen. Erst ab diesem Zeitpunkt war eine wirkliche Koordination von Polizei und Rettungsdienst möglich.Der Polizei-Einsatzleiter erfuhr über lange Zeit nicht, dass der Täter von einem Lehrer festgesetzt und der Raum von Polizisten bewacht wurde. Auch das SEK, das Spezialeinsatzkommando der Polizei, wurde über den Aufenthaltsort des Täters nicht informiert.Die im Gebäude befindlichen Polizisten erfuhren ihrerseits nicht, dass das SEK in die Schule eindrang.Das SEK wusste nicht, in welchen Räumen sich die verbliebenen 180 Schüler und Lehrer verschanzt hatten. Dabei war dies durch Handykontakte bekannt.Noch vor Ende des Einsatzes verließ der Polizei-Einsatzleiter den Tatort, um an einer Pressekonferenz teilzunehmen, auf der er nicht nur völlig überfordert wirkte, sondern auch noch falsche Angaben zur Opferzahl und zu den genauen Tatorten machte.Dass diese gravierenden Probleme keine verheerenden Folgen zeitigten, war lediglich dem Umstand geschuldet, dass die Todesopfer ohnehin keine Überlebenschance gehabt hatten und dass der Täter aufgegeben und sich selbst gerichtet hatte. Darauf berief sich auch die Thüringer Landesregierung in ihrem Abschlussbericht, der erst durch Druck von außen und zwei Jahre nach dem Amoklauf in Ergänzung zu einem stümperhaften vorläufigen Abschlussbericht zustande kam. Tenor: So manches ist nicht optimal gelaufen, aber keiner der Toten hätte verhindert werden können. Damit gaben sich fast alle zufrieden – in der Landespolitik, in den lokalen Medien, in der Öffentlichkeit. Zwei widersprachen. Die Berliner Autorin Ines Geipel:"Dort wird im Detail minutiös dokumentiert, um im Fazit zu leugnen."... und der Erfurter Rechtsanwalt Eric Langer. Langer hatte bei dem Amoklauf seine Lebensgefährtin verloren. Er zeigte die Verantwortlichen unter anderem wegen unterlassener Hilfeleistung an."Dass die Einsatzkräfte an dem Tag überfordert waren, das liegt an der Natur der Sache; ich meine, so ein Attentat hat es vorher nicht gegeben. Was aus meiner Sicht schlimmer ist, wenn Opfer von 11 Uhr 10 bis kurz nach halb eins im Treppenhaus liegen und verbluten und um Hilfe schreien und ihnen immer wieder zugerufen wird, dass man ihnen hilft, ihnen aber nicht geholfen wird, dann ist das einfach Murks! Also, wenn ich das Gefühl habe, und das hatte ich ja als Angehöriger, dass das alles immer nur mit der Frage beantwortet wird, 'Es gab ja sowieso keine Chance!', ja okay, dann kann ich – und das hat man ja auch gemacht – die Hände in den Schoß legen und sagen: Ich muss nichts tun! Nur: Wir wissen es ja vorher nicht."180 Schüler und Lehrer mussten über Stunden in der Schule ausharren, mitunter neben den Leichen ihrer Lehrer oder Freunde. Eine traumatisierende Erfahrung. Eric Langers Anzeigen und auch eine spätere Beschwerde wurden zurückgewiesen, aber immerhin wurden für ihn damit einige offene Fragen geklärt."Und dann denke ich schon, dass es seinen Anteil an einer Verarbeitung gebracht hat, die man nach außen nicht sieht. Aber faktisch wissen wir ja heute, dass die Polizei, die Feuerwehr, neue Konzepte in derartigen Fällen als Interventionskonzepte erarbeitet haben, es gibt ein neues Konzept für die Schule – Verhaltensregeln für derartige Fälle –, also ich glaub schon, dass die Fragen, die wir gestellt haben, im Nachgang auch Einfluss hatten."Die Nachwirkungen des Erfurter Amoklaufs sind mit denen von München ´72 zu vergleichen: Nach dem Desaster der missglückten Geiselbefreiung wurde 1972 die GSG-9 gegründet. Nach Erfurt wurde die Polizeistrategie geändert. Streifenpolizisten werden seitdem geschult, in Amoklagen sofort und unter hohem persönlichen Risiko einzugreifen, um eventuelle weitere Opfer zu verhindern, wo sie 2002 noch zum Warten verpflichtet waren. "Ein Abwarten bis zum Eintreffen von Spezialeinheiten ist nicht mehr zulässig."So das Thüringer Innenministerium, das zum gesamten Komplex "Amok in Erfurt" Interviews verweigert und nur schriftliche Auskünfte gibt. Schon am Tag des Amoklaufs begannen die Spekulationen, wie Robert Steinhäuser so durchdrehen konnte."Auf dem Computer der Steinhäuser wurden auf der Festplatte des Rechners 35 Computerspiele festgestellt ... ""Bereits kurz nach seinem Rausschmiss aus der Schule bereitet Steinhäuser die Tat vor ... ""Robert Steinhäuser hat mitgespielt, hat am Bildschirm mitgeballert ... ""Oder seine Probleme in der Schule, nach Abgang aus der 10. Klasse eben gar kein Zeugnis zu haben: Das passiert vielen Thüringer Schülern.""Das Spiel verändert seine Lebenswelt ... ""Er muss seine Lehrer gehasst haben ... " "Er war freundlich, ruhig, oberflächlich ... ""Keiner der Mitschüler ahnte, wie viel Frust sich in dem jungen Mann angestaut hatte ... ""Seine Eltern waren zu Elternabenden nicht da und es gab ein Problem ... " "Die Pumpgun und die Pistole gehörten ihm ganz legal ... "" ... und eines Tages hing an unserer Schulwand nur eine Bemerkung: 'Ab sofort ist Robert von unserer Schule suspendiert'""Der Detailreichtum ändert am Ende nichts, dass man über Robert Steinhäuser furchtbar wenig erfahren hat ... "Heute weiß man sicher etwas mehr, die monströse Tat entzieht sich dennoch jeder einfachen Erklärung. Vieles war zusammengekommen: schulisches Scheitern, Entfremdung in der Familie, Hass auf die Welt, der leichte Zugang zu Waffen. Auch wenn der damals neue Thüringer Ministerpräsident und vormalige Kultusminister Dieter Althaus im Januar 2004 erklärte, … "Zu Gutenberg ist alles gesagt. Robert Steinhäuser ist ein Mörder, und das hat nichts mit der Schule oder dem Schulsystem zu tun."... so widerlegen ihn sowohl der Abschlussbericht als auch die Thüringer Bildungspolitik seitdem: Der spätere Attentäter war von der heute noch immer amtierenden Schulleiterin wegen eines gefälschten Attests kaltherzig, rechts- und formwidrig von der Schule verwiesen worden und stand damit aufgrund einer Besonderheit des Thüringer Bildungssystems gänzlich ohne Abschluss da. So etwas ist heute nicht mehr möglich, da seither Thüringer Gymnasiasten in der zehnten Klasse eine obligatorische Prüfung absolvieren. Außerdem, so der derzeitige Thüringer Kultusminister Christoph Matschie, wäre auch der Schulverweis heute so nicht mehr denkbar:"Nach meinem Eindruck würde heute keine Schule mehr so handeln. Ich denke, dass alle gelernt haben aus dieser Entwicklung. Natürlich kann man persönliches Fehlverhalten von einzelnen nie hundertprozentig ausschließen, aber ich denke, wir haben alles getan, damit hier ein vernünftiger Umgang stattfindet und alles getan, damit Schülerinnen und Schüler zuallererst geholfen wird, Probleme zu bewältigen, bevor man mit disziplinarischen Maßnahmen eingreift."Vertrauenslehrer, Gewaltpräventionsprojekte – Matschie setzt auf ein Klima des Vertrauens an den Schulen - und auf professionelle Hilfen:"Ich habe dafür gesorgt, dass die Zahl der Schulpsychologen in Thüringen jetzt fast verdoppelt worden ist, damit man frühzeitig in Konflikte eingreifen kann. Und eine Schwachstelle ist nach wie vor der Einsatz von Schulsozialarbeitern; hier gibt's noch 'ne ganze Reihe von Regionen in Thüringen, wo wenig passiert ist. Also, wir haben jetzt rund 90 Stellen für Sozialarbeiter in Thüringen, und ich möchte, dass wir auf 200 Stellen kommen."Es sei viel Gutes möglich an einer Schule, sagt Matschie, wenn die Schulleitung das wolle. Und dabei sieht er nicht glücklich aus. Aber hat der Amoklauf 2002 zum großen Umdenken geführt, wie es zum Beispiel Petra Vater, Mutter eines Schülers am Gutenberg-Gymnasium, damals hoffte?"Also ich hab dann einfach daran geglaubt: Jetzt ist so was Schlimmes passiert hier in Erfurt, du bist selber mit betroffen! Jetzt werdet alle mal wach! Aber auf allen Schienen: in der Politik, im Bildungssystem oder wo auch immer! Ich hab dann einfach so innerlich mit mir gesprochen: ihr alten Saubacken! Und zum Schluss habe ich nicht das Gefühl im Nachhinein. Es ist alles dort eingeschläfert, dort ein bissel was, Computerspiele gibt es weiterhin und das ist alles nicht machbar; und da mal ein paar Strafen ausgesprochen, wegen dem Waffengesetz... Das ist alles so lächerlich im Nachhinein!"Manches wurde angestoßen, einiges verändert. Vieles verlief im Sande. Thüringen hatte unmittelbar nach dem Amoklauf schon einmal hastig mehr Schulpsychologen eingestellt – und nach einem Jahr klammheimlich wieder entlassen. Das Waffenrecht wurde verschärft – doch Stimmen nach einem Verbot von großkalibrigen Schusswaffen zu Sportzwecken blieben ungehört, auch nach weiteren Amokläufen anderswo. Polizei und Rettungsdienste rüsten langsam auf den digitalen Behördenfunk um. Ignorante Eltern gibt es auch heute noch, die weder mitbekämen, dass ihr Kind nicht mehr zur Schule geht, noch dass es Waffen und Munition hortet. Der Leistungs- und Notendruck auf die Schüler ist geblieben, die Erwartung, in eine neoliberale Arbeits- und Lebenswelt entlassen zu werden, in der Chancen ungleich verteilt sind. Computerspiele sind seither nicht friedlicher geworden.Doch zurück zum 26. April 2002: 700 Schüler und 50 Lehrer, Dutzende Polizisten und Rettungskräfte waren mit schrecklichen Bildern und Erlebnissen konfrontiert. Kinder mussten Stunden neben toten Lehrern verbringen und einen anderen um Hilfe rufen hören. Verzweifelte Angehörige wurden ohne ersichtlichen Grund über Stunden hinweg darüber im Unklaren gelassen, ob ihre Partner oder Kinder tot oder am Leben sind. Lutz Pockel hat damals überlebt, weil ein Kollege ihn vertreten hatte."Ich hab jetzt auch die Worte, die damals der eine Vater aus Littleton zu uns sagte: Der sagte, 'Sie haben sich auf einen langen Weg begeben – und sie wissen noch gar nicht, wo der hingeht, wissen auch gar nicht, ob der Weg irgendwann mal aufhört.' Und nach diesen zehn Jahren kann ich diese Worte auch einschätzen. Es ist ein elend langer Weg, den man manchmal gar nicht als solchen wahrnimmt, aber man wird immer wieder mal drauf gestoßen und wird immer wieder dran erinnert, dass manche Sachen, die man als selbstverständlich sieht, gar nicht so selbstverständlich sind."Ein Jahr lang standen jeder der 26 Schulklassen regelmäßig zwei Therapeuten zur Seite, die halfen, mit dem Erlebten umzugehen und diejenigen weiter vermittelten, die eine Einzeltherapie benötigten. Für die Unfallkasse Thüringen ein Mammutprojekt: Die Hälfte der Betroffenen war traumatisiert, jeder Dritte brauchte eine Einzeltherapie, Therapeuten mussten aus ganz Deutschland zusammentelefoniert werden. Über 200 Renten wurden zeitweise gezahlt, 16 dauerhaft. Noch immer melden sich Betroffene mit psychischen oder psychosomatischen Beschwerden. Heute kommen vor allem die, die vor zehn Jahren nicht an der Gruppentherapie teilgenommen haben. Für einige endet der 26. April 2002 nie. Glücklich können die sein, die wie der Lehrer Lutz Pockel auch Positives aus dem Erlebten ziehen können:"Heutzutage mein Umgang mit Schülern ist auch ganz einfach der, dass ich da schon sehr nah rangehe an die, weil: Ich möchte schon wissen, wie es denen geht, und möchte manchmal auch, wenn ich meine Zweifel habe, dann schon Ursachen wissen, warum was so ist. Wir haben natürlich heute ganz andere Möglichkeiten, als wir vor zehn Jahren hatten: Durch die sozialen Netzwerke, die es im Internet gibt, erfährt man viel mehr über die Schüler und über ihr Denken und über ihre Gefühle oder Krisen und Probleme, die sie haben, als man sonst hat. Und dann gucke ich schon, was da gerade läuft. Aber ich denke schon, dass wir da nicht aus Schuldgefühl, sondern einfach auch eine Art Vermächtnis unserer umgekommenen Kollegen erfüllen, dass wir an dieser Schule wirklich versuchen, sehr friedlich miteinander umzugehen."Das könnte Sie auch interessieren:"Töten kann man eben auch mit kleinkalibrigen Waffen" - Harald Dörigs Söhne überlebten den Amoklauf von Erfurt
Von Henry Bernhard
Der Schüler Robert Steinhäuser tötete am 26. April 2002 zwölf Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Eines seiner Motive: schulisches Versagen. Inmitten eines erschreckend unkoordinierten Polizeieinsatzes bangten Schüler und Lehrer stundenlang um ihr Leben - und haben die Bilder bis heute nicht vergessen können.
"2012-04-25T18:40:00+02:00"
"2020-02-02T14:00:23.072000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-ist-eine-angst-die-ich-keinem-wuensche-100.html
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Smartphone-App steuert Professor
"Viele Studenten haben das Problem, ich damals auch im ersten Semester, wenn man in 'ner großen Vorlesung sitzt, dass man sich einfach nicht meldet. Es ist besser, wenn man anonym eine Frage stellt oder eine Leistung bewertet, als sich zum Affen macht, quasi."Sergej Kukshausen ist Student der Angewandten Informatik und hat die MyTU-App mitentwickelt. Die Stopptaste ist die neueste Funktion dieser App und wird gerade in der Vorlesung "Einführung in die Informatik" bei Professor Konrad Froitzheim getestet. Wer von den Studierenden ein Smartphone hat und die App geladen, der hat im Display ein Stoppzeichen und einen Geschwindigkeitsregler. Wenn er da drauf drückt, bekommt Professor Froitzheim eine Nachricht auf seinen Tablet-Computer, von dem er die Vorlesung hält."Was ich interessant finde, ist insbesondere diese Geschwindigkeitsfunktion. Stoppzeichen kriege ich noch nicht viele, ich glaube, da schrecken die sich ein bisschen vor zurück. Was ich gut finde, ist dieser Graph, zu schnell, zu langsam, da kann ich mich schon bisschen nachjustieren und mal ein bisschen Gas geben oder langsamer machen."Konrad Froitzheim ist Professor für Angewandte Informatik an der Technischen Universität Freiberg. Er wollte die Feedbackfunktion in der MyTU-App gern haben, um wieder mehr von seinen Studenten zu erfahren. "Mir ist in den letzten Jahren aufgefallen, dass immer weniger Fragen kommen. Vielleicht ist das eine gesellschaftliche Entwicklung. Dass man mehr unerkannt entlang schwimmen will, vielleicht lernen die das in der Schule, das Fragen gar nicht so gut ist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute keine Fragen haben."Demnächst soll deswegen zum Stopp-Button noch die Option kommen, dem Professor gleich eine Frage mitzuschicken. Eine Umfrage unter den Studierenden zeigt, die App und ihre Möglichkeiten werden zwar gut angenommen, aber höchstens die Hälfte hat auch die Geräte.Die App und ihre Stoppfunktion haben aber auch klare Gegner, wie Professor Heiko Hessenkemper: "Ich verstehe nicht, wie man überhaupt auf solche Ideen kommt. Ich spiele mit dem Gedanken, die Rechtsfrage zu klären, wie man diese Smartphones aus den Vorlesungen verbannt, weil das Rumgedaddel während der Vorlesung ist unerträglich."Heiko Hessenkemper lehrt im Bereich Baustoffe und hat oft nur 20 bis 30 Studierende vor sich - von multimedialen Lehrmethoden hält er nicht so viel. "Die Lehre ist das Entzünden von Feuer und das können Sie nicht über E-Learning oder Leinwände machen. Das geht über Haltung, Gesichtsausdruck, wenig mehr."Blickkontakt findet Hessenkempers Kollege Froitzheim in der Informatik natürlich auch wichtig. Wenn es auch nicht immer so leicht ist:"Was ich vor drei bis vier Jahren hatte, war, dass ich gegen so eine Wall von Laptop-Rückwänden geguckt hab. Das ist besser geworden, seit die diese Smartphones und Pads haben. Die liegen wenigstens da unten. Die haben ihre elektronischen Devices dabei, so oder so. Gut wär's, wenn sie an dem Smartphone sagen: Jetzt mach mal ein bisschen schneller, statt: Ich schlaf hier ein, jetzt spiel ich eine Runde "Mycraft" oder so was."Die Studenten Jonas Treumer und Sergej Kukshausen haben die My-TU-App mit Hilfe der Lehrkräfte programmiert. Für sie zählt vor allem, dass die App das Studieren leichter macht. Der direkte Zugriff auf die Bibliothek oder Infos über verlegte oder verschobene Lehrveranstaltungen ersparen ihnen einiges an Zeit, finden sie. "Die Studenten von heute sind zwar alle schon gut ausgestattet mit einem Laptop, aber mit 'nem Smartphone ist man zehn Sekunden schneller und darum geht’s auch, finde ich."Und übrigens: Die unter Studenten beliebteste Funktion der MyTU-App hat wenig mit dem Lehrbetrieb zu tun:"Wir nutzen die, ja. Man kann halt schnell mal gucken, was es in der Mensa gibt." "Ich nehme die, um zu gucken, was es in der Mensa gibt, am meisten." Mehr auf dradio.de:Studieren mit dem Internet - Online-Trends für Unis und Studenten auf der CeBITFlirten in der Bibliothek - Das Internet-Portal "Bibflirt" "Das ist ein ganz Scharfer, der kann googeln" - Plagiatsgutachterin fordert von Lehrern mehr Mut zum Internet
Von Elisabeth Enders
Manche Studenten können einer Vorlesung weniger schnell folgen, andere langweilen sich. Dieses Problem hat ein Professor in Freiberg gelöst: Eine Smartphone-App ermöglicht es den Studenten, das Tempo der Vorlesung zu bestimmen. Die Technologie trifft jedoch nicht bei allen Lehrenden auf Zustimmung.
"2013-03-07T14:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:10:08.811000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/smartphone-app-steuert-professor-100.html
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Ära Voßkuhle endet mit einem Konflikt über Kompetenzen
Andreas Voßkuhle war zwölf Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht, zehn davon Gerichtspräsident (picture alliance / dpa / Uwe Anspach) Zwölf Jahre hat Andreas Voßkuhle im Namen des Volkes die höchste richterliche Autorität des Landes ausgeübt. Den Willen des Volkes, geronnen in demokratischen Wahlen, zu respektieren, war ein Leitmotiv seiner Rechtsprechung. Kontroll- und Mitbestimmungsrechte des Parlaments wurde immer wieder gestärkt. Oft zum Missfallen der Politik. Karlsruher Richter in Erklärungsnot Gerne hat sich das Bundesverfassungsgericht als weit über Deutschland hinausstrahlendes Vorbild, kommentiert Stephan Detjen. Nach dem EZB-Urteil aber befindet sich das Gericht in der Defensive. "Wenn Verfassungsrichter Politik machen wollen, mögen sie bitte für den Deutschen Bundestag kandidieren. Am 22. September ist Bundestagswahl. Jedem steht es frei, dort anzutreten und zu kandidieren", wetterte der damalige CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich gegen den Sozialdemokraten an der Spitze des höchsten Gerichts. Mehr als es einem traditionellen Richterbild entsprach, verstand Voßkuhle sich auch als Akteur in einer modernen Medienöffentlichkeit. "Ich glaube an etwas, was ich die Kultur des guten Arguments nennen möchte, dass man das Gespräch suchen muss und das Klarheit und ein gutes Argument dann schließlich auch zu einem guten Ergebnis führen", so Voßkuhle. Ein Gericht der Bürger Hatte der damals 44-Jährige nach seiner Wahl zum Verfassungsrichter im April 2008 erklärt. Das spannungsreichste, am Ende brachiale Ringen um bessere Argumente und überlegene Macht lieferte sich Voßkuhle nicht mit der Politik in Berlin, sondern mit den Kollegen am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Voßkuhle bei Urteilsverkündung: "Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung werden mit der Maßgabe abgelehnt, dass die Ratifikation des Vertrages zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus nur erfolgen darf, wenn zugleich völkerrechtlich sichergestellt wird, dass sämtliche Zahlungsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ..." Anleihen-Urteil des EuGH - "Regelverstoß" des BundesverfassungsgerichtsDie Tonalität, die das Bundesverfassungsgericht in Richtung des Europäischen Gerichtshofs angeschlagen habe, sei "wirklich schlimm", sagte der Europarechtler Franz Mayer bezüglich des EZB-Urteils. Mit zunehmender Vehemenz stemmte sich der Zweite Senat unter Voßkuhles Vorsitz gegen eine in den Augen der Richter ausufernde Erweiterung europäischer Kompetenzen. In den Verfahren über die Euro-Rettungspolitik stellte das Gericht immer wieder Stopp-Schilder auf, verschob sie nach hinten bis schließlich der Hammer fiel: "Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können", sagte Voßkuhle bei der Urteilsverkündung des EZB-Urteils. In den letzten Tagen seiner Amtszeit beendete Andreas Voßkuhle den ebenbürtigen Dialog auf Augenhöhe, den er mit dem Europäischen Gerichtshof gesucht hatte. In barschem Ton aus Voßkuhles Mund kanzelte das Bundesverfassungsgericht die Vorgaben des Europäischen Gerichtshof als willkürlich und nicht nachvollziehbar ab. Sein Nachfolger muss es richten Nach Voßkuhles Überzeugung, die er in Vorträgen, Interviews und Gesprächen ausdrückt, wirkt das Bundesverfassungsgericht auch im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof als Gericht der Bürger, des Volkes, in dessen Namen es spricht und dessen Anliegen als Rentner, Sparer und Mieter es auch in seinem EZB-Urteil besonders in den Blick nimmt. Der europäische Gerichtshof erscheint dagegen als unnahbare Verkörperung einer abstrakten Rechtsidee. In einem gestern veröffentlichten Interview mit der "Zeit" macht er die "liberale Elite" mitverantwortlich für den Aufstieg von Populisten und Skepsis gegenüber der Demokratie. In dem jetzt eskalierten Machtkampf geht es nicht nur um europarechtliche Verfassungsideen und richterliche Vormacht, sondern auch um Bürgernähe, Vertrauen und öffentliche Wirkung. "Ob es klug ist, dass dann am Ende der EuGH darüber entscheidet, ob er alles richtig gemacht hat und ob dass das Vertrauen in die Europäischen Institutionen stärkt – da wäre ich eher etwas skeptisch", warnt Voßkuhle im Südwestrundfunk gestern mit Blick auf die EU Kommission vor einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen seines letzten Urteils im obersten Richteramt. Mit Voßkuhles Ausscheiden wechselt das Präsidentenamt zum Vorsitzenden des Ersten Senats, Stephan Harbarth. Der erste Senat hatte in seinen Entscheidungen zuletzt eine europarechtsfreundlichere Haltung eingenommen. Harbarth wird deshalb auch vor der Aufgabe stehen, die Verwerfungen innerhalb des Bundesverfassungsgerichts aufzulösen, die Voßkuhle am Ende seiner Amtszeit hinterlässt.
Von Stephan Detjen
Nach zwölf Jahren verlässt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle das Bundesverfassungsgericht und hinterlässt einen Konflikt mit dem EuGH. Nun wird es an seinem Nachfolger Stephan Harbarth sein, die Verwerfungen aufzulösen.
"2020-05-15T05:05:00+02:00"
"2020-05-16T09:13:32.536000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesverfassungsgericht-aera-vosskuhle-endet-mit-einem-100.html
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Längere Fahrtzeiten, höhere Preise
Vor allem Bahn-Kunden, die ohne Zugbindung reisen, werden ab Dezember stärker zur Kasse gebeten. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch) Das Versprechen der Deutschen Bahn, mit der diesjährigen Preiserhöhung unter der Inflationsrate zu bleiben, wird weitgehend eingehalten. Zum Fahrplanwechsel am 9. Dezember erhöhen sich die Ticketpreise um durchschnittlich 0,9 Prozent. Wer vorher bucht, möglich ist dies ab Mitte Oktober, fährt noch zu den alten Preisen. Die Steigerung um knapp ein Prozent ist ein Durchschnittswert: Im Detail heißt dies beispielsweise für Besitzer der Bahncard 100 - hier kann pauschal jeder Zug für ein Jahr lang genutzt werden - eine Erhöhung um 2,9 Prozent. Ein Wert über der gegenwärtigen Inflationsrate. Preiserhöhung trifft die treuen Kunden Kritik daran kommt von Karl Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn: "Die Preiserhöhung geht im Großen und Ganzen schon in Ordnung. Wir sehen aber die deutlich stärkere Preiserhöhung bei der Bahncard 100 und bei den Streckenzeitkarten kritisch. Das trifft nämlich genau die treuen Kunden. Das sind auch jene Kunden, die besonders stark an den Qualitätsmängeln leiden, sprich an den Verspätungen." Und die Verspätungen nahmen in den vergangenen Sommermonaten sogar noch zu: Im Fernverkehr kommen inzwischen nur noch rund drei von vier Zügen pünktlich an, das heißt, sie haben weniger als 6 Minuten Verspätung. Die Deutsche Bahn sagt, dass die Preiserhöhungen für Bahncard-Kunden dennoch moderat seien. Konzernsprecher Achim Stauß: "Die meisten Stammkunden haben ja die Bahncard 25 und auch 50. Diese bleiben im Preis stabil. Die Deutsche Bahn ist ja größter Energieabnehmer in Deutschland. Und da gehen Strompreiserhöhungen natürlich nicht an uns vorbei. Wir müssen das schon umsetzen. Aber: Insgesamt ist es eine maßvolle Preiserhöhung unter der Inflationsrate." Flexpreise steigen um 1,9 Prozent Der Preis für eine Platzreservierung bleibt mit 4,50 Euro unverändert. Reguläre Fahrscheine zum vollen Preis, in der Fachsprache Flexpreis-Tickets genannt, kosten in der ersten und zweiten Klasse ab Dezember jeweils 1,9 Prozent mehr. Laut früheren Angaben der Bahn nutzen 90 Prozent der Kunden ohnehin eine Bahncard oder kaufen sich weit im Voraus einen verbilligten Fahrschein. Diese sogenannten Sparpreise werden auch weiterhin angeboten, inklusive dem erst im August eingeführten "Supersparpreis" ab 19,90 Euro. Kunden-Entschädigung für Sanierungsarbeiten Erst vor wenigen Tagen hat der Bahnkonzern zudem ab dem kommenden Jahr längerfristige und umfangreiche Sanierungsarbeiten an mehreren Fernverkehrsstrecken angekündigt. Betroffen ist beispielsweise auch der vielbefahrene Streckenabschnitt Hannover - Kassel. Die Folge werden längere Fahrzeiten sein. Passt da überhaupt eine Fahrpreiserhöhung? Bahnsprecher Achim Stauß: "Wir werden die Inhaber von Zeitkarten und auch der Bahncard 100 für diese Strecken, die nun saniert werden müssen, finanziell entschädigen. Wie das genau aussehen wird, da bitte ich noch um etwas Geduld. Aber wir kommen den Nutzern, die diese Strecken besonders häufig fahren, auch entgegen." Parallel zu den Preiserhöhungen zum Fahrplanwechsel verweist die Bahn auch auf Verbesserungen. Auf nachfragestarken Routen - etwa zwischen Düsseldorf und Stuttgart und auch zwischen Berlin und München - wird es mehr Direktverbindungen geben. Und auch der neue Paradezug, der ICE 4, soll öfter zum Einsatz kommen.
Von Dieter Nürnberger
Züge der Deutschen Bahn werden in den kommenden Jahren auf verschiedenen Strecken baustellen-bedingt unpünktlich bleiben. Pünktlich kommt jedoch Anfang Dezember die Fahrpreis-Erhöhung, die vor allem Bahncard100-Kunden trifft und diejenigen, die flexibel reisen wollen.
"2018-10-04T17:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:59.105000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-bahn-laengere-fahrtzeiten-hoehere-preise-100.html
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Immer mehr prekäre Jobs
Die betrieblichen Abläufe in allen Bereichen sind von Leiharbeit und anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen durchdrungen, wenn das so weiter geht, könnte sogar das Rentensystem in Deutschland kollabieren. Die IG Metall warnt und scheut nicht vor Horrorszenarien zurück, denn die zunehmende Unordnung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass sich der Niedriglohnsektor rasant ausbreitet. Knapp sieben Millionen Beschäftigte müssen nach einer Studie der Gewerkschaft Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro hinnehmen. Selbst Löhne von unter fünf Euro gehören zur Realität. Dies ist umso schwerwiegender, als wir uns eigentlich in einem Boom befinden. Es wäre nicht nur möglich, Leiharbeit in reguläre Beschäftigung umzuwandeln. Die Arbeitgeber haben das auch zugesagt, als die Zeiten schlechter waren und so erreicht, dass Gewerkschaften stillhielten. Das waren offenbar nur Lippenbekenntnisse sagt IG-Metall-Vize-Chef Detlev Wetzel, denn die Rate schlecht bezahlter und schlecht abgesicherter Jobs ist unverändert hoch."Geht es konjunkturell wieder bergab, werden wir erleben, dass diese schutzlosen Beschäftigten die ersten sein werden, die unter dieser Entwicklung zu leiden haben. Stammbelegschaften werden immer mehr auf das unbedingt Notwendige begrenzt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des viel diskutierten Fachkräftemangels ist diese Beschäftigungspolitik des "hire" und "fire" natürlich ganz fatal."Und die Verhältnisse werden sich verfestigen, wenn nichts getan wird. Die Streiks von Flugbegleitern aber auch von Krankenhauspersonal haben einer weiten Öffentlichkeit klar gemacht: Leiharbeit ist nicht nur ein Problem schlecht Ausgebildeter, die prekäre Beschäftigung hat längst Akademiker und Ingenieure erreicht."Auch in allen anderen Bereichen wird eben Leiharbeit eingesetzt. Die Behauptung, Leiharbeit werde vor allem für einfache Tätigkeiten eingesetzt, wird damit nun endgültig ins Reich der Fabel verwiesen. Es ist nicht eine Beschäftigung für einfache Tätigkeiten oder für Menschen, die wenig können oder eine schlechte Schulausbildung haben."Detlev Wetzel will nun die Parteien im Bundestagswahlkampf daran messen, ob und wie sie den Arbeitsmarkt grundlegend neu ordnen. Unabdingbar ist nach den Vorstellungen der Metaller ein neues Leitbild von guter Arbeit. Zwar wäre es wünschenswert, dass die Sozialpartner unter sich vereinbarten, die Leiharbeit einzudämmen – das aber ist nicht absehbar, weshalb Staatseingriffe unerlässlich sind. Außerdem wird eine Qualifizierungsoffensive gefordert, außerdem ein gesetzlicher Mindestlohn; und für Leiharbeit müssen gleiche Bezahlung und gleiche Arbeitsbedingungen gesetzlich garantiert werden."Wir wissen, dass wir mit Billiger-Strategien im internationalen Wettbewerb keine Chance haben. Mir persönlich ist es wichtig, aufzugreifen, dass wir sehr nötig ein Verbandsklagerecht bei Gesetzes- und Tarifvertragsverstößen brauchen. Das gibt's im Umweltrecht. Das gibt's im Verbraucherrecht. Das wäre schon sehr interessant, wenn Verbände klagen könnten, dass Tarifverträge nicht eingehalten werden."Für zwei Drittel aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor gibt es keine Betriebsräte, Gewerkschaften sind fern. Gerade dort erhofft sich die IG Metall durch ein Verbandsklagerecht, Verstöße gegen Tarifverträge, Mindestlöhne, Arbeitszeitbestimmungen und vieles mehr eindämmen zu können.
Von Andreas Baum
Eigentlich ist der deutsche Arbeitsmarkt immer noch vergleichsweise robust. Die Qualität der Arbeit lässt nach Ansicht der IG Metall jedoch zu wünschen übrig. Lohndumping sei in immer mehr Varianten auf dem Vormarsch.
"2012-09-28T17:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:27:08.070000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/immer-mehr-prekaere-jobs-100.html
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"Ein Alptraum für den Sport"
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. (picture alliance / dpa - Fredrik Von Erichsen) Clemens Prokop sagte, die Zusammenarbeit zwischen Kontrolleuren und kontrollierten Sportlern sei ein Alptraum für den Sport. Damit sei die Glaubwürdigkeit insgesamt gefährdet. Das internationale Doping-Kontrollsystem müsse kritisch überprüft werden. Die Aufklärung der aktuellen Vorwürfe sei aber nicht einfach. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF ist mit ihrem Schatzmeister Balachnitschew, dem Vorsitzenden des russischen Leichtathletikverbandes, selbst involviert. Die geeignete Institution zur Aufklärung, so Prokop, sei die Welt-Anti-Doping Agentur WADA. Der deutsche Sport müsse klare Zeichen setzen, dass hier alle Möglichkeiten für einen Sauberkeit ausgeschöpft werden und sich zum Anti-Doping-Gesetz bekennen. Die deutsche Anti-Doping-Agentur sei aber frei vom Anschein eines Verdachts, in unsaubere Praktiken verwickelt zu sein. Die russische Anti-Doping-Agentur soll geholfen haben, positive Tests zu vertuschen. Das Gespräch können Sie als Audio-on-Demand nachhören.
Clemens Prokop im Gespräch mit Matthias Friebe
Die ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping" beinhalte sehr beunruhigende Dinge, sagte Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, im DLF. Die Fairness gebiete, auch die Beschuldigten zu Wort kommen zu lassen. Das internationale Doping-Kontroll-System müsse aber kritisch überprüft werden.
"2014-12-06T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T14:17:33.463000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doping-und-leichtathletik-ein-alptraum-fuer-den-sport-100.html
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Bilanz nach zehn Jahren Afghanistan
Es ist ein Abschied ohne Wehmut. Fast niemand in Deutschland wird eine Träne darüber vergießen, dass sich die Bundeswehr nach einem Jahrzehnt aus der nordafghanischen Provinz Kundus zurückzieht. Dafür sind in den vergangenen zehn Jahren viel zu viele Tränen geflossen. Kundus ist in dieser Zeit ein deutsches Reizwort geworden. Das große Kofferpacken ist in vollem Gang. Die Bundeswehr wird sich noch vor dem ersten Schneefall aus Kundus zurückziehen. Nirgendwo sonst war die Bundeswehr in schwerere Gefechte verwickelt. Nirgendwo sonst sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr deutsche Soldaten gefallen."Und insofern kommen wir auch anders wieder zurück. Mit dem, was wir dort durchgeführt haben, was wir geleistet haben. Mit unseren Gefallenen und Verwundeten. Aber wir sind auch selbstbewusst geworden, dass wir nämlich den Auftrag, den eine Armee erfüllen können muss, wenn es sein muss, nämlich kämpfen können, das haben wir erfolgreich dort bewiesen. Also, insofern kommen wir da mit einem Selbstbewusstsein nach Hause, das uns sagt, ja, wir können unseren Auftrag erfüllen." Generalmajor Jörg Vollmer dient im deutschen Kundus-Jahrzehnt zwei Mal als sogenannter Regionalkommandeur Nord der Internationalen Afghanistan-Schutztruppe. Das heißt, er befehligt aus dem deutschen Hauptquartier in Mazar-i-Sharif alle ISAF-Soldaten im Norden des Landes. Vollmer ist stolz auf die Bundeswehr. "Das erreicht zu haben, einfach zehn Jahre Luft zu schaffen einer neuen Generation, die da heranwächst, das ist schon ein Verdienst. Und die ganzen Aufbauprojekte, die durchgeführt worden sind, die ja auch etwas sind, was wir jetzt übergeben, ist etwas, wo ich immer sage, jetzt haben sie relativ gute Bedingungen, auf die sie aufbauen können."Für Frieden, das ist dem 55-jährigen Kommandeur klar, haben seine Soldaten nicht gesorgt."Wir haben unverändert Problembereiche. Und die sind über all die Jahre identisch geblieben. Und diese Probleme haben wir auch nicht abschließend lösen können. Wozu wir beigetragen haben, ist, dass die Möglichkeiten derjenigen, die für Unruhe sorgen und die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerung gefährden, deren Fähigkeiten haben wir deutlich reduziert. Das Niveau der Gewalt ist abgesunken. Und in diesem Zustand übergeben wir es und haben es ja auch schon übergeben an die afghanischen Partner."Rückblende: Als die Bundeswehr im Herbst 2003 das regionale Wiederaufbauteam in Kundus von den Amerikanern übernimmt, gehört die nördliche Provinz zu den sichersten im ganzen Land. Hier leben vor allem Menschen, die zur tadschikischen und usbekischen Bevölkerungsgruppe gehören. Paschtunen, auf die sich die Taliban-Bewegung stützt, sind in Kundus in der Minderheit. Die Bundeswehr geht am Anfang zu Fuß und in offenen Jeeps auf Patrouille. Die Soldaten lächeln und winken. Sie bauen Brunnen, Straßen, Krankenhäuser und Schulen. Sie präsentieren sich als Helfer in Uniform – ein Bild, das die Bundesregierung im fernen Berlin um jeden Preis aufrechterhalten will. Im Mai 2007 sprengt sich ein Selbstmordattentäter auf einem Marktplatz in der gleichnamigen Provinzhauptstadt Kundus in die Luft. Er reißt zehn Menschen mit in den Tod, darunter drei deutsche Soldaten. Je mehr die Taliban und ihre Verbündeten im Siedlungsgebiet der Paschtunen im Süden und Osten Afghanistans an Boden gewinnen, desto mehr verschlechtert sich auch die Sicherheitslage im Norden. Der mit einem UN-Mandat versehene Stabilisierungseinsatz verwandelt sich auch für die Bundeswehr endgültig in einen Kampfeinsatz. Offene Jeeps weichen Panzern. Das Feldlager Kundus wird zur Festung ausgebaut. Oberstleutnant Olav Hinkelmann hat das alles hautnah miterlebt. Er ist der Kommandeur des Fallschirmjägerbataillons in Seedorf."Jedes Mal, wenn eine Patrouille oder eine Teileinheit das Lager verlassen hat, musste sie damit rechnen, und in der Regel war das auch so, dass sie in Gefechtshandlungen verstrickt wurde. Das hat uns alle geprägt. Und das hat auch das Gefühl vor Ort bei den Soldaten bestärkt, dass man sich hier im Krieg befinde."Zwei Entscheidungen sorgen dafür, dass die Taliban in Kundus ab 2010 langsam wieder an Boden verlieren. Die USA schicken Spezialkräfte nach Kundus. Die Kommandos lassen sich vor allem nachts von Helikoptern in ausgespähten Zielgebieten absetzen. Ihr Auftrag: Capture or kill! Festnehmen oder töten! Die Spezialkräfte töten und verhaften zahlreiche Anführer der radikalen Islamisten. Außerdem macht die NATO-geführte, internationale Afghanistan-Schutztruppe das sogenannte "Partnering" zum neuen Kernelement der Aufstandsbekämpfung. Das bedeutet auch für die Bundeswehr in Kundus, Schulter an Schulter mit afghanischen Soldaten und Polizisten auf Patrouille zu gehen, ins Gefecht zu ziehen. Mit ihnen in Außenposten zusammenzuleben. Es geht darum, spürbare Präsenz in der Fläche zu zeigen. Und es geht darum, die afghanischen Sicherheitskräfte im laufenden Einsatz auszubilden. Für Oberstleutnant Olav Hinkelmann ist die "Partnering"-Strategie aufgegangen."Die afghanische Armee hat enorm viel dazugelernt und ist in der Lage, die Gefechtsführung selbst zu planen und dann auch im Feld umzusetzen – ohne unsere Hilfe und ohne unser "Mentoring" auf der Bataillonsebene. Al Kaida oder andere Organisationen werden es im Raum Kundus schwer haben, hier offen zu agieren, um sich auf Anschläge im Westen vorzubereiten."Doch die Strategie ist risikoreich. Immer wieder richten einzelne Afghanen in Uniform ihre Waffen auf ausländische Kameraden. Auch deutsche Soldaten sterben durch einen Angriff aus den eigenen Reihen.In Kundus überlässt die Bundeswehr heute das Kämpfen in der ersten Reihe den Afghanen. Hauptmann Martin verbringt jeden Tag viele Stunden im operativen Hauptquartier der afghanischen Sicherheitskräfte als Berater und als Bindeglied zu den internationalen Truppen. Es ist sein dritter Einsatz in Afghanistan."Als Zivilist würde ich sagen: Ja, ich verstehe, dass wir rausgehen. Ich verstehe, dass es in der Bevölkerung viele gibt, die das nicht unbedingt verstehen oder unterstützen, dass wir uns hier befinden. Als Soldat sage ich, ein paar Jahre mehr wären vielleicht nicht schlecht gewesen."Hauptmann Martin weiß, dass zu Hause in Deutschland viele der Meinung sind, dass der Afghanistaneinsatz gescheitert ist. "Die Wahrnehmung ist falsch. Das kann man so einfach nicht sagen. Es hat sich viel bewegt. Die Frage ist: Welchen Anspruch erhebe ich, welchen Maßstab lege ich an? Wenn ich den Maßstab anlege, ich bringe hier die Demokratie nach deutschem Vorbild her, dann haben wir sicherlich unsere Ziele nicht erreicht. Aber wenn wir sagen, okay, wir müssen ein Land auf einem gewissen Niveau stabilisieren, wir müssen dafür sorgen, dass sich Institutionen entwickeln können, wir müssen dafür sorgen, dass die nächsten Generationen auf eine Bahn gebracht werden, die es ihnen ermöglicht, durch Ausbildung und eine friedliche Umgebung voranzukommen. Dann sind da die ersten Schritte getan."Major Frank ist skeptischer. Er berät zwei Bataillone der afghanischen Armee. "Ich glaube, das Problem der organisierten Kriminalität, des Terrors und der Insurgency wird man hier nie vollkommen lösen können. Hier geht es auch darum, dass die Stammesfürsten ihre Machtbereiche abstecken. Das ist für uns Westeuropäer nicht nachvollziehbar. Die Geschichte hier ist eine ganz andere, das werden wir nie verstehen können." Hat das deutsche Jahrzehnt die Provinz Kundus wirklich verändert oder ist der Einsatz eine Zeitverschwendung gewesen? Major Frank ist sich nicht sicher. "Verschwendete Zeit ist generell ein negativer Begriff. In vielen Bereichen bin ich mir nicht sicher, ob wir das erreicht haben, was wir erreichen wollten und ob es nicht doch verschwendet war. Andererseits sage ich mir aber auch: Wenn wir vielleicht schon früher rausgegangen wären, mit weniger erreicht zu haben. Dann müsste man bewusst die Frage stellen: War es das wirklich wert, war es das wert, dass wir hier Kameraden verloren haben, war es das wert, dass wir hier Geld und Material reingesteckt haben? Insofern sage ich: Wir sind jetzt an dem Punkt, wo man wirklich sagen muss - jawohl, jetzt müssen sie es selber übernehmen. Früher wäre aus meiner Sicht falsch gewesen, verschwendete Zeit würde ich so generell nicht unterschreiben."Aber was bleibt? Was ist nachhaltig? Die Führung und die Ausbildungscamps von Al Kaida sind aus Afghanistan verschwunden. Aber wie im ganzen Land gehören die Taliban, andere extremistische Gruppen und bewaffnete Milizen auch in Kundus weiter zur gesellschaftlichen Realität. Der Name Kundus ist für immer verbunden mit dem verheerendsten Luftangriff, den ein Bundeswehrsoldat bisher angeordnet hat. Für den 35-jährigen Bauern Abdul Hanan ist der Fall klar: Die Bundesrepublik ist schuldig, weil ein deutscher Befehl das Leben seiner Familie zerstört hat. "Ich habe in dieser Nacht meine beiden ältesten Söhne und einen Neffen verloren. Ich kann das einfach nicht vergessen. Wir erinnern uns immer noch täglich daran, wie die Kinder gespielt haben und wie sie zur Schule gegangen sind. Unsere Seelen sind krank. Sie haben uns bombardiert und unsere Kinder für ein paar Fässer Diesel getötet. Warum? Warum haben die Deutschen die Gegend nicht einfach mit Bodentruppen abgeriegelt? Wo war die afghanische Regierung?"Vor fast vier Jahren, in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009, ordnet der damals für Kundus verantwortliche deutsche Kommandeur Georg Klein einen nächtlichen Luftangriff auf zwei entführte Dieseltanker an, die in einem Flussbett feststecken. Der inzwischen zum General beförderte Klein befürchtet, dass die Taliban die Laster als rollende Waffen einsetzen könnten. Doch als die Bomben fallen, sind neben Taliban-Kämpfern auch viele Dorfbewohner vor Ort, um Diesel abzuzapfen. Die Gegend ist arm, Treibstoff ist für die meisten unbezahlbar. Nach Angaben der NATO sterben bis zu 142 Menschen, darunter viele Zivilisten. Nach den Zivilisten zahlt die Polizei den höchsten Blutzoll im Afghanistankrieg. Mir Alam hat den Dienstausweis seines ältesten Sohnes immer dabei. Er hält die kleine Plastikkarte mit Passfoto wie einen Schatz in seinen Händen. "Es macht mich sehr stolz, dass mein Sohn für sein Land gestorben ist. Natürlich wusste ich immer, dass seine Arbeit lebensgefährlich ist. Ich habe im heiligen Krieg gegen die Russen für die Unabhängigkeit meines Landes gekämpft, ich kenne die Gefahr."Mir Alams ältester Sohn stirbt mit 27 Jahren. Ein Selbstmordattentäter reißt den Polizisten im Januar 2013 mit in den Tod. Er sprengt sich auf einem Basar in Kundus-Stadt in die Luft. Insgesamt verlieren bei diesem Selbstmordanschlag zehn Polizisten ihr Leben. "Mein Sohn ist als Märtyrer für Afghanistan gestorben, aber von offizieller Seite hat uns niemand sein Beileid ausgesprochen. Uns hat auch niemand bei der Beerdigung geholfen. Mein Sohn hat diesem Land sieben Jahre lang gedient. Und wir erhalten nichts vom Staat – noch nicht mal ein Wort des Bedauerns."Der 57-Jährige ist ein einfacher Tagelöhner. Die Wut des verzweifelten Polizistenvaters richtet sich gegen die afghanische Regierung und ihre westlichen Verbündeten."Welche Regierung meinen Sie? Für mich existiert keine afghanische Regierung mehr. Wenn es eine gäbe, würde sie meiner Familie helfen, den Tod unseres Sohnes zu verkraften. Die internationalen Truppen helfen einer korrupten Regierung, die unsere Kinder im Krieg verbrennt."Viele afghanische Polizisten sind schlecht ausgebildet und schlecht ausgerüstet. Viel schlechter als afghanische Soldaten oder die NATO-Truppen. Doch sie sind die erste Verteidigungslinie im Kampf gegen die Feinde des afghanischen Staates. Allein im vergangenen Jahr haben fast 2000 Polizisten ihr Leben verloren. Deswegen macht Shukria aus ihrem Beruf ein großes Geheimnis. Sie verdankt es auch den Deutschen, dass sie als Frau einen Job hat. "Meine engsten Verwandten wissen, was ich mache. Sie wissen, dass ich die Arbeit bei der Polizei brauche, um meine drei Kinder durchzubringen. Aber meine entfernten Verwandten und meine Nachbarn wissen nicht, wo ich arbeite. Wir sind im Krieg, ich will mich nicht angreifbar machen." Die Unsicherheit nagt, obwohl sich die Sicherheitslage in den vergangenen Monaten auf dem Papier verbessert hat. Trotzdem kriecht auch in Nazir eine lähmende Angst hoch. Der 25-jährige Übersetzer arbeitet seit 2008 für die Bundeswehr in Kundus. "Bis jetzt hat mich noch niemand bedroht. Aber was passiert, wenn die ISAF hier abzieht? Dann ist unser Leben in Gefahr. Und uns droht der soziale und wirtschaftliche Abstieg. Unsere Gesellschaft ist sehr religiös und traditionell. Für viele hier sind wir Übersetzer Ungläubige wie die Ausländer. Andere halten uns für Spione. Es geht nicht nur um die Aufständischen, es geht um die Gesellschaft als Ganzes."Nazir hofft wie die meisten Übersetzer, dass die Bundeswehr ihn außerhalb Afghanistans in Sicherheit bringt oder wenigstens mitnimmt ins nördliche Hauptquartier nach Mazar-i-Sharif, wo es auch nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen aus Afghanistan Ende 2014 weitergehen soll. "Keiner weiß genau, was hier passieren wird. Aber wenn die Lage hier in Kundus so unsicher bleibt, wie jetzt, dann muss ich das Land verlassen. Dann bin ich in Lebensgefahr. Für mich gibt es dann keinen sicheren Platz mehr in dieser Gesellschaft. Und keine Arbeit. Was soll ich denn machen?"Das Vertrauen in den eigenen Staat ist auch nach mehr als einem Jahrzehnt immer noch sehr schwach. Ebadullah Talwar, der stellvertretende Polizeichef von Kundus, weiß, dass viele Bürger in Angst leben. Und sich nichts sehnlicher wünschen als Sicherheit. "Unsere Sicherheitskräfte sind stark. Sie werden in Zukunft in ganz Kundus für Sicherheit sorgen. Natürlich drohen die Aufständischen mit Gewalt, aber schauen sie sich die Situation doch an. Wir erleben hier nur noch ein paar Explosionen und Selbstmordanschläge. Und die können auch in den sichersten Ländern der Welt passieren - wie den USA oder Deutschland. Vollständige Sicherheit gibt es nicht."Talwar ist seit 32 Jahren Polizist. Er hat fast sein ganzes Leben im Krieg verbracht und glaubt, dass er die Lage besser einschätzen kann als die meisten anderen."Gut, es mag schon sein, dass es nach dem deutschen Rückzug wieder mehr Anschläge in Kundus gibt. Aber wir werden damit klarkommen. Wir haben in den vergangenen Jahren mit eurer Hilfe hart gearbeitet. Wir kennen das Gelände und die Kultur und die Tradition besser als ihr. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen. Und wenn wir das gleiche Geld hätten, das ihr hier ausgeben könnt, dann würden wir den ganzen Norden sichern. Ich hoffe nur, dass ihr uns finanziell nicht vergesst, wenn ihr geht." Gouverneur Mohammad Anwar Jegdalek vertritt die Regierung von Präsident Hamid Karsai in der Provinz Kundus. Der Politiker lobt den deutschen Einsatz – aber zweifelt an der Nachhaltigkeit. "Ich fürchte, dass der Feind wieder verstärkt in Kundus einsickern wird, wenn die internationalen Truppen abziehen. Meine Angst wäre nur dann unbegründet, wenn die internationale Gemeinschaft unseren Feind an der Grenze stoppen würde. Unsere afghanischen Sicherheitskräfte sind dazu nicht in der Lage. Aber hier sind 50 Nationen im Land. Und jeder kann sehen, dass der Feind aus Pakistan einsickert. Die Deutschen haben hier gute Arbeit geleistet. Deutschland hat hier das Geld seiner Steuerzahler investiert und das Blut seiner Jugend vergossen. Aber die Deutschen haben auch Fehler gemacht und Geld unnötig verschwendet. Die internationale Gemeinschaft ist nicht mit dem richtigen Ziel nach Afghanistan gekommen. Es gab keine klare Vision, sondern täglich neue Zielvorgaben. Und das hat den Fortschritt behindert."Am Sichtbarsten ist der Fortschritt im Straßenverkehr. Aus Buckelpisten sind geteerte Straßen geworden. Autos haben Pferdekutschen und Eselskarren verdrängt. In Kundus-Stadt gibt es eine Rushhour. Die Märkte sind voll, neue Geschäfte sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Doch viele Betriebe und Arbeitsplätze hängen von den internationalen Truppen ab. "Ich habe zwei Bitten an die Deutschen. Sie sollten ihre Verbündeten davon überzeugen, dass es falsch wäre, Afghanistan ganz zu verlassen. Es wäre falsch, uns wieder zu vergessen. Die Deutschen müssen ihren Verbündeten klar machen, dass es darum geht, dem Feind zu verbieten, sich in Afghanistan einzumischen. Wir sind weiter auf internationale Hilfe angewiesen, wenn wir das Leben der Menschen hier schützen und verbessern wollen. Die Unterstützer der Taliban sind Teil der internationalen Gemeinschaft. Pakistan hat gute Beziehungen zu den USA, zu Großbritannien und auch zu Deutschland. Ihr müsst Pakistan verbieten, sich in unser Land einzumischen."Kundus hat sich durch die Präsenz der Bundeswehr sichtbar entwickelt, aber keinen Frieden gewonnen. An den gesellschaftlichen Rissen und politischen Feindschaften, die zum afghanischen Bürgerkrieg geführt haben, hat sich nichts geändert. Das deutsche Jahrzehnt in Kundus geht zu Ende, aber die Zukunft der Provinz ist ungewiss. Und das ist symbolisch für das ganze Land. Deutsche ISAF-Soldaten in Afghanistan (AP) Afghanische Sicherheitskräfte stehen vor einem ausgebrannten Tanklaster in Kundus. (AP)
Von Sandra Petersmann
Nachdem vor einigen Jahren Taliban-Kämpfer in die nordafghanische Provinz Kundus einsickerten, begann für die deutschen Soldaten der gefährliche Kampfeinsatz. Mittlerweile gilt die Lage wieder als halbwegs sicher. Die Gesamtbilanz des Bundeswehreinsatzes ist aber durchwachsen.
"2013-05-27T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:19:51.208000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bilanz-nach-zehn-jahren-afghanistan-100.html
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"Tiefer Eingriff in das Selbstverfügungsrecht"
Peter Dabrock hat selbst einen Organspendeausweis - ist aber gegen die Widerspruchslösung (imago) Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon begrüße ich jetzt den Sozialethiker Professor Peter Dabrock. Er ist Professor für systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem ist er Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Schönen guten Morgen, Herr Dabrock. Peter Dabrock: Guten Morgen, Herr Heckmann. Heckmann: Sie sprechen ja heute nicht als Vorsitzender des Ethikrats, sondern für sich persönlich, weil der Ethikrat da noch keine abschließende Stellungnahme gefunden und eingenommen hat. Sie selber sind aber gegen die Widerspruchslösung. Weshalb? Dabrock: Zunächst sage ich vielleicht vorweg, dass ich für die Organtransplantation bin, auch für die Erhöhung der Spendezahlen bin und seit vielen, vielen Jahren einen Organspendeausweis mit mir herumtrage, und auch viel Mitleid mit denjenigen habe, die so schwer leiden. Ich glaube, das muss man in der Debatte am Anfang sagen, damit nicht deutlich wird, wenn man kritisch gegenüber der Widerspruchslösung ist, dann ist man automatisch gegen Organtransplantation. Ich habe mit der Widerspruchslösung eine doppelte Schwierigkeit. Zum einen sehe ich die Widerspruchslösung als einen – das hat auch Minister Spahn gestern ja immer wieder gesagt – wirklich tiefen Eingriff in das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper. So wird das Schweigen ausgelegt als eine Zustimmung in einen Bereich, der als höchst persönlich gilt. Das zweite ist: Wir wissen trotz der Berichte, die Sie gerade auch aus den anderen Ländern gesendet haben, dass es primär gar nicht die Widerspruchslösung ist, sondern die Organisationsverfahren, die dafür sorgen, dass die Spendezahlen in einem Lande hochgehen. Wenn das der Fall ist, dann begreife ich einfach nicht, warum man nicht zunächst an die Organisation geht, schaut, ob sich da etwas signifikant in Deutschland ändert. Und nur, wenn sich dann nichts ändert, dann mag man vielleicht noch über diesen, wie gesagt aus meiner Sicht schwerwiegenden Eingriff in das Freiheitsrecht diskutieren, aber das nicht zu einem Paket verschnüren. "Absolut kontraproduktiv, das in ein Paket zusammenzuschnüren" Heckmann: Pardon, Herr Dabrock, wenn ich da einhake. Da ist man ja auch schon lange dran, und Jens Spahn hat ja auch einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Strukturen vorgelegt und der wird jetzt umgesetzt. In der Tat: Es ist ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Das hat der Minister ja auch eingeräumt. Aber müssen wir nicht feststellen, Herr Dabrock, dass die Zustimmungslösung einfach nicht funktioniert, und ist es nicht auch unethisch, tausenden Menschen eine Zukunft zu verbauen auf diese Weise? Dabrock: Sie sagen gerade, dass die Zustimmungslösung nicht funktioniert, aber ich darf Ihnen noch einmal sagen: Erst das eine tun und dann das andere. Was hier zum Paket geschnürt wird, was Minister Spahn auch gestern immer wieder gesagt hat – er macht doch die organisatorischen Verbesserungen -, das gehört nicht in ein Paket, sondern das muss nacheinander abgearbeitet werden. Und es ist absolut kontraproduktiv, um das Vertrauen in dieses angeschlagene System wieder zu erlangen, wenn man das in ein Paket zusammenschnürt. Ich halte das für ein ganz falsches Argument, wenn man sagt, wir machen das eine und das andere. Nein, es muss hintereinander gemacht werden. Heckmann: Und Sie sagen, dass aus der Organspende im Prinzip eine Spendepflicht werde? Dabrock: Der Grundsatz ist ja derjenige, dass jetzt derjenige, der sagt, nein, ich möchte mich zunächst mit dem Thema beschäftigen, oder auch sagt – wie gesagt, das ist nicht meine Position -, ich möchte nicht an der Stelle Hilfe leisten, dass der in der Beweislast ist. Und ich glaube, das tun wir sonst in keinem anderen Bereich. Wir haben gerade die Datenschutz-Grundverordnung eingeführt und jeder, der im Internet arbeitet, muss bei jeder neuen Seite anklicken, dass er der Datenweitergabe zustimmt. Hier drehen wir das genau um, obwohl es sich doch um einen viel höchst persönlicheren Eingriff handelt. Heckmann: Herr Dabrock, meine Kollegen von Deutschlandfunk Kultur, die haben gestern mit Gerhard Kruip gesprochen. Er ist Professor für christliche Anthropologie und Sozialethik an der Universität Mainz. Er hat Bezug genommen auf Ihre Einschätzung, dass aus der Organspende eine Spendepflicht werde. Hören wir mal kurz rein: O-Ton Gerhard Kruip: "Ich schätze Peter Dabrock als Ethiker sehr. Wir kennen uns aus verschiedenen Zusammenhängen. Aber er scheint, irgendwie nicht genügend zu unterscheiden zwischen der Zumutung, einen solchen Widerspruch einzulegen, wenn man keine Organe spenden will, und der Zumutung, Organe zu spenden. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Die erste Zumutung, eine Erklärung abzugeben, finde ich, ist minimal. Das kann man vertreten. Natürlich kann man niemanden zwingen, seine Organe zu spenden, aber man kann ihn, finde ich, zwingen, sich dazu zu erklären." Heckmann: Soweit Gerhard Kruip. Er hat noch mal klargemacht, es geht nicht um eine Spendepflicht, sondern um eine Pflicht, sich zu erklären. Ist das nicht zumutbar? Dabrock: Man kann letztlich sagen, natürlich ist das zumutbar. Ich wäre ja jetzt unrealistisch, wenn ich das verneinen würde. Aber wir müssen schon auch überlegen, was wir hier für eine grundsätzliche Änderung durchführen in einem verfassungsrechtlich zentralen Bereich. Wenn wir das an der Stelle tun, dann haben wir einen Paradigmenwechsel eingeführt, den wir so in dieser Art bei einem solchen Grundrecht der Integrität von Leib und Leben noch nie durchgeführt haben. Uns Deutschen wird heute oft vorgeworfen, dass wir in diesen bioethischen Fragen allzu oft die Menschenwürde oder Grundsätzliches bedenken würden und nicht wie andere Länder ganz pragmatisch da herangehen. Ja, vielleicht ist das eine deutsche Eigenart. Aber ich finde, wenn das System selber seine Hausaufgaben noch überhaupt nicht gemacht hat und da noch so viel Potenzial ist, dass man dann im selben Atemzug die Frage der Zustimmung in ein hoch kritisiertes System, in ein System, das in den letzten Jahren so wenig getan hat, um Vertrauen aufzubauen, zu erfordern, das, finde ich, ist einfach die falsche Reihenfolge. Lassen Sie uns doch die Dinge Widerspruchslösung/Zustimmungslösung dann debattieren, wenn tatsächlich die Hausaufgaben in dem einen Bereich gemacht worden sind. "Aus Akt der Solidarität keinen Pflichtakt machen" Heckmann: Kommen wir gleich noch mal zu, was da noch offen ist. Trotzdem will ich noch mal nachfragen wollen. Sie haben auch gesagt, es muss möglich sein für die einzelnen Menschen, sich mit dieser Frage "ja, ich will spenden", "nein, ich möchte nicht spenden" nicht beschäftigen zu wollen. Weshalb sehen Sie das so? Dabrock: Man denkt ja möglicherweise, das ist kurios, dass ausgerechnet ein Ethiker aus einem christlichen Hause so etwas vertritt. Aber mir ist nichts desto trotz, obwohl ich selbst für Solidarität und, religiös gesprochen, Nächstenliebe werbe, wichtig, dass wir aus diesem Akt der Freiwilligkeit und der Solidarität keinen Pflichtakt machen, bei dem man aktiv widersprechen muss. Wir kommen in Deutschland von einer Geschichte her, wo das Transplantationssystem hochgradig an Vertrauen verloren hat, und deswegen müssen wir das Vertrauen aufbauen. Wir haben Wege, wo wir aus anderen Ländern wissen, dass es viel besser läuft, wenn man zunächst erst mal die Strukturen verbessert. Heckmann: Was müsste da in Deutschland passieren? Dabrock: Es sind vor allen Dingen drei Dinge. Es ist zum einen, dass der Transplantationsbeauftragte, der eigentlich gesetzlich vorgesehen ist, tatsächlich für diese Aufgaben freigestellt wird, dass er unabhängig ist. Es ist zweitens, dass die finanzielle Entschädigung für die Krankenhäuser, eine Organtransplantation zu melden und durchzuführen, und auch das dahinter liegende Organisationsmanagement unbedingt verbessert wird. Und drittens, dass tatsächlich die Kommunikation auch zu den Dingen, die zweifelhaft bleiben – es haben einfach viele Menschen auch Fragen mit Blick auf den Hirntod -, dass auch das noch deutlich verbessert wird, dass einfach auch Zweifel und Uneindeutigkeiten zugelassen werden. Heckmann: Zugelassen werden - aber ist das nicht auch in den letzten Jahren schon immer Thema gewesen? Und was die ersten beiden Punkte angeht, die hat Minister Spahn ja auf den Weg gebracht, die Vergütung für die Krankenhäuser beispielsweise. Dabrock: Ja. Noch mal: Das begrüße ich ausdrücklich. Aber ich glaube nicht, dass das in ein Paket zusammengeschnürt werden muss. Es stimmt einfach nicht, wenn der Bundesgesundheitsminister gestern gesagt hat, dass man bereits alles getan hat. Die Dinge hat er auf den Weg gebracht, aber er hat noch überhaupt nicht gesehen, ob diese Dinge nun tatsächlich von Erfolg gezeitigt sind oder nicht. Erst wenn das der Fall ist, wird man doch daran gehen, oder sollte man erst daran gehen, tatsächlich die Frage, ob Menschen dazu gezwungen werden, wenn sie nicht widersprechen, Organspender zu sein, anzugehen. Ich glaube, dass dieses hohe Gut der Integrität des menschlichen Körpers, der Selbstverfügung über den eigenen Körper an dieser einen Stelle nicht aufgegeben werden sollte, bevor man die anderen Dinge nicht getan hat. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Dabrock im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der Sozialethiker und Theologe Peter Dabrock hat sich gegen den Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn ausgesprochen, zukünftig gegen einen Organspendeausweis widersprechen zu müssen. Dies sei ein "schwerwiegender Eingriff in das Freiheitsrecht", sagte er im Dlf.
"2018-09-04T06:50:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:15.985000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/widerspruchsloesung-bei-organspende-tiefer-eingriff-in-das-100.html
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Integration hakt bereits am Anfang
Um Angela Merkels "Wir schaffen das" auch wirklich umzusetzen, brauchen Flüchtlinge eine wirkliche Chance auf Integration. Eine eigene Arbeitsstelle ist dafür eine wichtige Voraussetzung. (dpa / Felix Kästle) Die Elektrha Gmbh in Alfeld, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Hildesheim. Yasser Kalif hat die Schutzbrille aufgesetzt, spannt die Metallplatte ein und setzt die Stanze an, korrigiert noch einmal, dann passt es. Yasser ist 28 Jahre alt, klein und drahtig, das jungenhafte Gesicht von kurzen, schwarzen Haaren eingerahmt. Seit vier Wochen arbeitet er in der Elektrowerkstatt von Firmenchef Uwe Hagel, macht ein Praktikum, sammelt erste Berufserfahrungen in Deutschland. Vor einem Jahr ist Yasser Kalif vor Krieg und Terror in Syrien nach Deutschland geflüchtet, zu Fuß, per Schiff, im Bus. Eine lange gefährliche Flucht, die ihn über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Österreich nach Deutschland geführt hat. Die Route, über die Hunderttausende gekommen sind. Hier, im beschaulichen Alfeld, will er neu anfangen, eine Ausbildung machen: "Das ist wichtig für mich. Ohne Ausbildung ich kann nicht arbeiten oder ich kann arbeiten, aber nicht richtig, alles falsch, weil Ausbildung, lernen und arbeiten zusammen, helfen." In seiner Heimat hat Yasser zwei Jahre als Elektriker gearbeitet, er kennt den Job und doch ist vieles neu für ihn. Vor allem die Verständigung bereitet noch Schwierigkeiten, Firmenchef Uwe Hagel ist dennoch ganz begeistert von seinem syrischen Praktikanten: "Hat sich bewährt, ja. Er sieht die Arbeit, man muss ihm nicht alles sagen, wenn er es ein- oder zweimal gesehen hat, dann macht er das von ganz allein, ist auch sehr gewissenhaft in seiner Arbeit, weil ein Schaltschrank muss aussehen wie der andere. Also wir sind sehr mit ihm zufrieden." Zuwenig Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt Hagel baut Schaltschränke und Alarmanlangen, installiert Netzwerke und Elektroanlagen, in Wohnhäusern und Industriebetrieben. Die Geschäfte laufen gut, sagt er. Einziges Problem: Er findet nicht ausreichend Fachkräfte: "Wir suchen händeringend Nachwuchs, sprich Auszubildende und Gesellen, aber der deutsche Arbeitsmarkt gibt das nicht her." Deshalb wurde Hagel hellhörig, als ihm sein Nachbar Rüdiger Paulat, der ehrenamtliche Bürgermeister von Freden und Vorsitzende der örtlichen Flüchtlingsinitiative, fragte, ob er es nicht mal mit einem Flüchtling probieren wolle. "Erst war es nur für drei Wochen gedacht, dass er bei uns mal reinschnuppert, jetzt ist es schon die vierte Woche. Und wir sind jetzt auch soweit, wenn er dann seinen Deutsch-Kurs beendet hat, dass wir ihm dann die Chance geben, dass er im nächsten Jahr eine Ausbildungsstelle anfangen kann." So mag sich das auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgestellt haben, als sie vor einem Jahr die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ins Land ließ und ihren berühmt gewordenen Leitspruch formulierte: "Wir schaffen das". Und vielleicht hatte sie Geschichten wie die des syrischen Elektrikers Yasser im Kopf, als sie ihr Credo vor vier Wochen in Berlin noch einmal bekräftigte: "Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen, unserer historischen Aufgabe gerecht zu werden. Wir schaffen das, und wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel bereits geschafft." Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte vor vier Wochen in Berlin ihr Credo "Wir schaffen das". (AFP / John Macdougall) "Die Herausforderung ist, Talente zu erkennen" Gut eine Million Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen, in diesem Jahr werden es noch einmal 300.000 sein, so die jüngste Prognose des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die meisten von ihnen werden bleiben und das heißt zunächst: hohe Ausgaben für Unterkünfte und Verpflegung, Kindergärten und Schulen, Sprachkurse und Qualifizierungsmaßnahmen. Eine gewaltige Aufgabe, für die sich die Bundesagentur für Arbeit inzwischen aber ganz gut gerüstet sieht. Zusätzliches Personal wurde eingestellt, neue Konzepte entwickelt, sagt Vorstandsmitglied Rainer Becker: "Wir gehen mit unserer Organisation in die Landeserstaufnahmestelle, also sehr, sehr früh, wo die Menschen ihren Asylantrag stellen, versuchen wir, heraus zu bekommen, welche Schule haben sie denn besucht, welchen Abschluss haben sie denn, welche Tätigkeit haben sie verrichtet. Keiner kommt hierher mit einem IHK-Zeugnis aus Aleppo. Aber die bringen natürlich Kompetenzen und Talente mit, sodass die Herausforderung ist, diese Talente zu erkennen." Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. 70 Prozent können keine abgeschlossene Berufsausbildung nachweisen, 25 Prozent sind gar nicht oder nur kurz zur Schule gegangen. Das macht die Integration schwierig, aber nicht unmöglich, sagt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. In der Gastronomie und der Hotelbranche, am Bau und in der Gebäudereinigung würden ungelernte Arbeitskräfte gesucht, sagt er. Das eröffne auch vielen Flüchtlingen Chancen: "Glücklicherweise hat der Arbeitsmarkt da eine sehr hohe Nachfrage. Also wir haben in den vergangenen fünf Jahren 1,1 Millionen zusätzliche Jobs geschaffen für ausländische Beschäftigte und davon vielleicht 80, 90 Prozent in diesen Arbeitsmarktsegmenten. Die Wirtschafte entwickelt sich da sehr dynamisch, also es ist nicht so, dass wir nur im Bereich der hoch- und mittelqualifizierten Jobs schaffen, sondern auch in den anderen Bereichen, deshalb sind die Chancen auf Arbeitsmarktintegration nicht so schlecht." Das Lernen der deutschen Sprache ist eine Grundvoraussetzung für gelungene Integration - doch es gibt zu wenig Sprachkurse für Flüchtlinge. (dpa / picture-alliance / Jens Wolf) Zu wenig Sprachkurse für Flüchtlinge Vorausgesetzt, die Flüchtlinge lernen schnell deutsch. Das Problem ist nur: Es gibt zu wenig Sprachkurse. Eine halbe Milliarde Euro hat die Bundesregierung bereitgestellt, um 300.000 Flüchtlingen den Spracherwerb zu finanzieren. "Wir brauchen doppelt so viele Plätze", kritisiert Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linkspartei: "Frau Merkel stellt sich hin und sagt: 'Wir schaffen das'. Und wenn wir nicht einmal die einfachste Aufgabe schaffen, dass wir den Menschen die deutsche Sprache beibringen, dann ist das schon eine Fehlleistung." "Hier müssen wir mehr tun", sagt auch der Integrationsexperte Brücker. Sprachkurse, betriebliche Qualifizierungen müssten viel schneller greifen: "Wir haben es viel zu spät begonnen. Und diese Zeitverzögerung spielt natürlich eine große Rolle. Also ein Mensch, der ein Jahr untätig war, ist nicht mehr der gleiche. Wir wissen, dass das Langzeitfolgen für die Arbeitsmarktintegration hat, das ist wie bei anderen Arbeitslosen auch, wenn die Menschen zu lange aus ihren Tätigkeiten draußen sind, wird die Integration schwieriger." Was Arbeitsmarktexperten wie Herbert Brücker optimistisch stimmt, ist die günstige Altersstruktur der Ankommenden. Die meisten Flüchtlinge sind jung - 75 Prozent nicht älter als 35, 55 Prozent sogar jünger als 25 Jahre und kommen daher für eine Ausbildung in Frage. Das Problem sei nur, dass viele daran gar kein Interesse hätten, sagt Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes: "Wir wissen, dass viele, die hierhin kommen, direkt Geld verdienen wollen und müssen, weil sie ihre Familien unterstützen müssen, weil sie noch Schleuser bezahlen müssen. Und deshalb ist es für sie eine schwierige Entscheidung zu sagen, 'Wir gehen jetzt in drei Jahre Ausbildung zu normalen Ausbildungsvergütung', das können sich viele gar nicht leisten." Die sächsische Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann ist arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linkspartei. (Jan Woitas/dpa ) "Über Praktika erste Türen öffnen" Buntenbach plädiert für finanzielle Anreize, zum Beispiel Eingliederungszuschüsse, um mehr Flüchtlinge zu einer Ausbildung zu bewegen. Arbeitsagentur-Manager Becker setzt hingegen auf Überzeugungsarbeit: "Jetzt geht’s darum, diesen Menschen zu sagen: 'Wir wollen in dich investieren' und zum Beispiel über Sprachkurse oder Einstiegsqualifizierungen bei Arbeitgebern, über Praktika eröffnen wir die ersten Türen, wo die jungen Menschen sagen: 'Das gefällt mir', sodass oft nach Einstiegsqualifizierungen Ausbildungsmöglichkeiten sich eröffnen." Kling gut, klappt in der Praxis aber nur bedingt. In den Betrieben sind bislang nur wenige Flüchtlinge angekommen, die Arbeitgeber müssen mehr tun, fordert die Gewerkschafterin Annelie Buntenbach: "Das, was wir bislang sehen, reicht nicht aus. Die Arbeitgeber müssen sich bewegen, müssen mehr Angebote machen. Und können nicht darauf warten, dass dann die Geflüchteten mit entsprechend gutem Sprachniveau kommen und alle Voraussetzungen schon mitbringen, weil wenn man darauf wartet, heißt das, dass man sehr lange warten muss, bis man diesen Ausbildungsplatz besetzen kann." Viele Flüchtlinge hätten gar kein Interesse an einer Ausbildung, sagt Annelie Buntenbach vom Deutschen Gewerkschaftbund. (imago/Müller-Stauffenberg) Verantwortliche sind den Integrationsaufgaben nicht immer gewachsen Eric Schweitzer widerspricht. Die Unternehmen seien bereit, Flüchtlinge einzustellen, aber Integration brauche nun mal Zeit, sagt der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Im Schnitt dauere es 22 Monate, bis ein Flüchtling für eine betriebliche Einstiegsqualifizierung überhaupt in Frage komme, die dann später in eine Ausbildung münden könne, sagt Schweitzer. Mit schnellen Erfolgen sei also nicht zu rechnen, sagt er: "Diese Entwicklung des Fachkräftemangels wird nicht durch die Flüchtlinge kurz- oder mittelfristig geändert werden können." Viele Flüchtlinge sind traumatisiert von den Erlebnissen auf der Flucht, von Gewalt und Terror in ihrer Heimat, sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, stehen dem Arbeitsmarkt also zumindest vorerst gar nicht zur Verfügung. Vielen fehlt es auch an grundlegenden Kompetenzen, sie können nicht lesen und schreiben. Auch hier sollte man nicht mit schnellen Erfolgen rechnen, warnt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Rechnet nicht mit schnellen Erfolgen bei der Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt: DIHK-Präsident Eric Schweitzer (imago/Gerhard Leber) Hinzukommt, dass Ausländerbehörden, Jobcenter und Arbeitsagenturen den Integrationsaufgaben nicht immer gewachsen sind. So riet der örtliche Betreuer im niedersächsischen Alfeld Yasser Kalif, dem syrische Elektriker, ausdrücklich von einer Ausbildung ab. Begründung: Mit 28 sei er dafür schon zu alt: "Jobcenter hat mir gesagt, du bist alt für Ausbildung, Ausbildung ist drei, vier Jahre. Das ist: Ich kann nicht machen Ausbildung." Integrationscenter soll monatelanges Warten auf Kurse für Flüchtlinge verhindern Seit einem Jahr ist Yasser in Deutschland, seit sechs Monaten als Asylberechtigter anerkannt. Damit ist eigentlich der Weg frei für weitere Integrationsschritte, für Intensivsprachkurse oder berufliche Qualifizierungen. Doch es geschah erst mal nichts, sechs Monate lang, Ausweispapiere gingen verloren, Jobcenter und Ausländerbehörde schoben sich gegenseitig Akten und Verantwortung zu. Ein Behördenchaos sondergleichen, schimpft Flüchtlingsbetreuer Rüdiger Paulat: "Es gibt keine durchgehende Zuständigkeit. Mal ist die Ausländerbehörde zuständig, mal der Landkreis, mal das Jobcenter, mal das BAMF. Und ich denke, es wäre deutlich einfacher, wenn es eine Behörde gibt, die durchgängig alles bearbeiten würde. Und das gibt es leider nicht und dadurch haben wir sehr, sehr viel Leerlauf." Jetzt gerät sogar Yassers geplante Ausbildung im nächsten Jahr in Gefahr, fürchtet der Flüchtlingsbetreuer. Denn die kann er nur antreten, wenn er einen achtmonatigen Integrationskurs absolviert hat. Ausländerbehörden, Jobcenter und Arbeitsagenturen sind den Integrationsaufgaben nicht immer gewachsen. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch) "Insofern steht er unter Zeitdruck. Also wenn wir die Leute in Arbeit bringen wollen, dann müssen wir uns auch von Behördenseite anstrengen. Und ich habe von vielen Behörden den Eindruck, es ist keiner da, der sagt: 'Wir müssen euch unterstützen, wir müssen euch helfen'." Walter Prigge verspricht Besserung. Er ist der Leiter des Integrationscenters, das Arbeitsagentur und Jobcenter in Hildesheim vor vier Monaten gegründet haben. Das Ziel ist, die Betreuung der rund 1.000 Flüchtlinge in Hildesheim und den umliegenden Gemeinden zu verbessern. Monatelanges Warten auf Sprach- oder Weiterbildungskurse soll es nicht mehr geben, sagt Prigge: "Zeitnah heißt, dass wir keinen länger als zwei bis vier Wochen warten lassen wollen, dass wir dann schon ein konkretes Angebot machen." Defizite in schulischer und beruflicher Bildung ausgleichen Die Renatec Gmbh in Düsseldorf, eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft der Diakonie, gefördert von Arbeitsagentur und Jobcenter. Seit 30 Jahren werden hier Langzeitarbeitslose und Jugendliche fit für den Arbeitsmarkt gemacht. Seit vier Monaten auch Flüchtlinge: "Ich bin Hamed." Hamed ist 26 Jahre alt, kommt aus Afghanistan, hat dort als Maurer gearbeitet. Verfügt aber über keinerlei Nachweise. Jetzt soll er zeigen, was er kann. Kompetenzerfassung nennt sich das in der Fachsprache. Hamed nimmt einen Ziegel in die Hand, trägt Mörtel rauf, klopft den Stein mit der Kelle fest. Nimmt Wasserwaage, Zollstock und Winkel, blickt auf die Bauskizze, überprüft die Maße. Passt alles, die Mauer ist fertig. Der junge Afghane strahlt, auch Dzevad Baralija, der 34-jährige Ausbildungsleiter, ist zufrieden: "Das ist schon echt sehr, sehr anspruchsvoll. Ich wollte gucken, was der kann, demnächst werden die Aufgaben für den noch anspruchsvoller. Ich glaube, wenn der noch die deutsche Sprache ein wenig dazu lernt, dann nimmt den jede Firma mit Handkuss." Hamed floh vor einem Jahr mit seiner Frau und den zwei Kindern aus Afghanistan nach Deutschland. Sein Vater, der dort als Übersetzer für die deutschen Truppen gearbeitet hatte, war von den Taliban ermordet worden. Auch Hamed geriet ins Fadenkreuz der radikalen Islamisten. Und floh. "Sein Problem ist halt die schulische Bildung. Er hat Schwierigkeiten in Mathematik, er hat auch Schwierigkeiten in der Rechtschreibung. Das versuchen wir hier ein bisschen zu kompensieren. Fachlich fehlt ihm nichts, was das Mauern angeht." Schnell Deutsch lernen, schnell Defizite in der beruflichen Bildung ausgleichen, wenn möglich gleichzeitig, in einem Kurs – das ist der Ansatz, um junge Flüchtlinge erfolgreich und schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Die brennen darauf zu arbeiten, da kann man nicht einmal von Motivation sprechen, die brennen wirklich darauf, sich ins Arbeitsleben zu stürzen." Oft müssen Flüchtlinge monatelang auf eine berufliche Qualifizierung warten. (dpa / picture-alliance / Felix Zahn) Bürokratische Blockaden lösen - Integration beschleunigen "Diese Energie müssen wir nutzen", sagt Roland Schüssler, der Chef der Düsseldorfer Arbeitsagentur. Seine Einrichtung will den jungen Flüchtlingen helfen, sich schnell zurechtzufinden. Deshalb hat Schüssler die Düsseldorfer Arbeitsagentur schon vor einem Jahr grundlegend umgebaut. Schluss mit dem Behördenmarathon, lautet sein Ansatz: "Alle Kompetenzen unter einem Dach heißt: Du läufst nur zur Agentur Düsseldorf und hier sind alle Kompetenzen da. Wir sprechen immer von der warmen Übergabe, wir nehmen dich an die Hand, und wenn wir eine aufenthaltsrechtliche Frage haben, klären wir das mit der Ausländerbehörde. Wenn es darum geht, dass eine Zuständigkeit von der Agentur zum Jobcenter wechselt: kein Problem, der Kollege sitze eine Tür weiter." Das Ziel war, bürokratische Blockaden zu lösen und die Integration zu beschleunigen. Zum Beispiel durch Kurse, die berufliche Qualifizierung mit Spracherwerb kombinieren, morgens die Schulbank drücken, nachmittags an der Werkbank arbeiten, lautet der Ansatz: "Wenn wir das hintereinander schalten, dann ist die Integration vielleicht in vier oder fünf Jahren zielführend. So gelingt das, die Dauer zu verkürzen. Und hat den weiteren Vorteil, er hat einen Ansprechpartner, ist in einer Maßnahme drin, wer morgens den Sprachkurs gemacht hat, der ist auch am Abend da, wenn der Meister ihm an der Werkbank erklärt, wie die Maschine funktioniert, dann ist auch der Sprachlehrer noch dabei. Er muss auch da nicht zu verschiedenen Institutionen, sondern hat‘s gebündelt und kompakt." Doch mit schnellen Erfolgen rechnet auch der Agenturchef Schüssler nicht. Viele Asylverfahren werden erst in nächster Zeit abgeschlossen, Sprach- und Eingliederungskurse beendet. Viele Flüchtlinge stehen dann erstmals dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Und das bedeutet: Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Das ist seit Langem absehbar, sagt der Arbeitsmarktexperte Herbert Brücker, sieht darin aber keinen Grund zur Beunruhigung: "Das ist eigentlich relativ überschaubar, wenn wir davon reden, dass wir 200.000 bis 240.000 zusätzliche arbeitslose Flüchtlinge in einem Jahr haben werden. Wir haben insgesamt eine günstige Konjunkturlage, wir werden das makroökonomisch in den Zahlen kaum sehen, weil wir auf der anderen Seite einen Beschäftigungsaufbau in anderen Bereichen haben." Die Düsseldorfer Arbeitsagentur will in Kursen für Flüchtlinge berufliche Qualifizierung mit Spracherwerb kombinieren. (picture alliance / Carsten Rehder) "Viele dieser Menschen können die Fachkräfte von übermorgen sein" Nur zehn Prozent der Flüchtlinge werden im ersten Jahr einen Job oder eine Ausbildung finden, nach fünf Jahren 50 Prozent, kalkuliert Rainer Becker, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit: "Aber wenn wir es gut machen, in die Menschen investieren, die notwendige Zeit und personelle Unterstützung bringen, dann können viele dieser Menschen die Fachkräfte von übermorgen sein. Ich betone bewusst übermorgen, weil Sprache lernen, Kultur begreifen, Ausbildung absolvieren, das bedeutet ja, dass mehrere Jahre ins Land gehen, dessen muss man sich bewusst sein." Eine lange Wegstrecke liegt noch vor uns, räumt auch Katja Mast ein, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD. Aber mit dem Integrationsgesetz habe die Bundesregierung die Weichen in die richtige Richtung gestellt, sagt die Sozialdemokratin: "Ich erachte es als ganz wesentlich, dass die Botschaft ist: 'Lass dich hier ausbilden, dann kannst du erst mal hierbleiben, drei Jahre für die Ausbildung, zwei Jahre für die Weiterbeschäftigung'. Das ist schon ein starkes Signal, weil es sagt: 'Es ist attraktiv, bei uns eine duale Ausbildung zu machen'. Und da wir ja einen Riesenfachkräftemangel in Deutschland haben, hoffen wir, dass wir dadurch natürlich zur Deckung des Fachkräftemangels beitragen." Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles spricht beim Integrationsgesetz von einem Paradigmenwechsel (pa/dpa/Jensen) Integrationsleistungen nur für Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive Fördern und fordern heißt die Grundidee des Integrationsgesetzes, angelehnt an die Hartz-Reformen. Soll heißen: Mehr Unterstützung für Flüchtlinge, aber auch Leistungskürzungen, wenn die Angebote nicht angenommen werden. Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherinder Grünen, hält das für den falschen Weg: "Das erweckt den Eindruck, als hätten wir lauter Flüchtlinge, die viele Angebote kriegen und dann diese Angebote nicht annehmen. Das Gegenteil ist der Fall. In meinem Wahlkreis habe ich mich gerade mit drei syrischen Flüchtlingen getroffen, die seit anderthalb Jahren hier sind und nun schon seit drei Monaten auf einen Bescheid des BAMF warten, damit sie überhaupt den Zugang zu einem Integrationskurs kriegen." Arbeitsministerin Andrea Nahles spricht gleichwohl von einem Paradigmenwechsel. Erstmals haben Flüchtlinge Anspruch auf Integrationsleistungen, sagt die Sozialdemokratin. Das Problem ist nur: Viele Flüchtlinge sind davon ausgeschlossen. Schnellen Zugang zu Integrationsleistungen sollen nach dem neuen Gesetz nur Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive haben, das sind laut Gesetz Menschen aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea: "Über die Hälfte der Flüchtlinge, die in Deutschland sind, kommen aber aus anderen Ländern, afghanische Flüchtlinge, von denen wir wissen, dass über 70 Prozent am Ende hier bleiben werden, die werden durch dieses Integrationsgesetz in keiner Weise gefördert. Und ich finde, das ist für ein Integrationsgesetz schlicht zu wenig." Kinder in einem Lager für Binnenflüchtlinge in Nigeria halten Schilder mit Angela Merkels Credo "Wir schaffen das" hoch. (picture alliance / dpa /Wolfgang Kumm) Kritik an Wohnsitzauflage für Flüchtlinge Kritisch bewerten Arbeitsmarktexperten auch die sogenannte Wohnsitzauflage, mit der die Bundesregierung die Verteilung der Flüchtlinge steuern will. Sie schadet mehr als dass sie nutzt, warnt der Ökonom Herbert Brücker: "Ich kann Ihnen Beispiele aufzählen, wo wir jetzt in Bayern einen IT-Spezialisten auf dem Land haben, der hat einen Job in München, kann den aber nicht antreten wegen der Wohnsitzauflage. Das ist paradox, der hatte ein gutes Jobangebot und kann nicht weg. Auf der anderen Seite gibt es Landwirte in München, die auf dem Land viel bessere Chancen hätten." Haben wir uns also übernommen, scheitern wir bei dem Versuch, die vielen Flüchtlinge zu integrieren? "Schaffen tun wir das selbstverständlich. Es geht darum, dass wir es effizient machen, dass es nicht zu teuer wird. Und da würde ich sagen, ist das Glas halbvoll und nicht halbleer."
Von Gerhard Schröder
Ein Jahr ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ins Land ließ und ihren berühmt gewordenen Leitspruch formulierte: "Wir schaffen das". Doch bei dem Versuch, die neu Ankommenden auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren, hakt es oft bereits am Anfang - bei einem schnellen Zugang zu Sprach- und Weiterbildungskursen.
"2016-08-30T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:32.467000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-und-arbeitsmarkt-integration-hakt-bereits-am-100.html
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"Brüssel ist dringend abzuraten, sich hier einzumischen"
Joachim Fritz-Vannahme, Bertelsmann-Stiftung, Direktor des Programms "Europas Zukunft" (Bertelsmann-Stiftung / Katrin Christiansen) Jasper Barenberg: Wann es geschieht, ist noch nicht klar, ob Katalonien am Freitag, am kommenden Wochenende oder Anfang nächster Woche seine Abspaltung von Spanien erklärt. Dass die Regionalregierung diesen Schritt gehen wird und gehen will, daran lässt der Regierungschef in Barcelona keinen Zweifel, obwohl das Referendum gerichtlich untersagt wurde, obwohl es Madrid für illegal hält, obwohl es grundlegende Regeln für solche Abstimmungen missachtet hat. Joachim Fritz-Vannahme leitet bei der Bertelsmann-Stiftung das Europaprogramm. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag. Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag. Barenberg: Herr Fritz-Vannahme, wie ernst schätzen Sie die Situation ein? Fritz-Vannahme: Die Situation ist sehr ernst. Aber das ist ja nicht neu und auch nicht überraschend. Da rasen doch seit Jahren zwei Züge aufeinander zu und keiner findet im Stellwerk irgendwo den richtigen Knopf, um diese Raserei noch rechtzeitig zu beenden. Madrid beharrt darauf, dass alles mit rechten Dingen, vor allem mit rechtsstaatlichen Dingen zugeht. Die Katalanen beharren darauf, dass sie gerne Rechte hätten, die andere in Spanien, Baskenland beispielsweise, haben, oder vielleicht auch das Recht wirklich erringen, eine unabhängige Nation zu werden. Barenberg: Würden Sie sagen, die Verantwortung für diese Entwicklung liegt zu gleichen Teilen in Madrid und in Barcelona? "Der Vergleich mit den Schotten ist nicht ganz statthaft" Fritz-Vannahme: Ich glaube, wenn man es über die Jahre hin anschaut, ja. Denn egal wer in Madrid regiert hat, ob das dann der Sozialist Zapatero war, oder jetzt der Christkonservative Rajoy, man hat sich gegenüber Katalonien immer ähnlich verhalten. Der Justizapparat bis hoch zum Verfassungsgericht hat ebenfalls immer in einer Richtung Recht gesprochen. Da mussten sich katalanische Nationalisten schon berufen fühlen, auch mal ernst zu machen und den nächsten Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu tun. Umgekehrt kann man sich natürlich fragen: Wenn man in einem Rechtsstaat und in einem befriedeten Europa, in einer Europäischen Union lebt, ist eigentlich die Abspaltung noch der wirklich adäquate Schritt. Ich finde den Vergleich, den man hier und da ja auch hört, mit den Schotten nicht ganz statthaft, denn die Schotten stehen nach dem Brexit ja vor einer ganz anderen Situation. Als Schotten wollten sie ganz gerne weiterhin zur EU gehören, als Briten werden sie jetzt hinauskomplimentiert. Das ist in Katalonien ganz, ganz anders gelagert. Barenberg: Dem Ministerpräsidenten in Madrid, Rajoy, wird ja oft jetzt der Vorwurf gemacht, er hätte die Dinge zu lange einfach laufen lassen und zu spät reagiert, und jetzt hätte er das große Problem, dass dieser Polizeieinsatz, dieser massive Polizeieinsatz ganz gewaltig auf ihn selbst zurückschlägt. Teilen Sie diese Kritik an dem Ministerpräsidenten speziell? "Rajoy ist politisch zu kritisieren, rechtlich nicht" Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, da ist einiges richtig dran. Man muss einfach sehen: Er hat sich auf Gesetz und die Buchstaben des Gesetzes immer wieder berufen, bis hin zu den Urteilen, die von unabhängigen Gerichten ja gefällt worden sind, gegen die katalanischen Separatismuspläne. Ich glaube, er war politisch kritikabel und politisch zu kritisieren, rechtlich nicht. Ich meine, rechtlich ist die Position, die er einnimmt und eingenommen hat, kaum angreifbar. Aber ob dann der politische Verstand sich einfach nur an die Rechtsprechung halten sollte, ist noch mal eine ganz andere Frage. Da wären mit Sicherheit Spielräume drin gewesen, übrigens auch Spielräume für den König, der hier natürlich auch nicht kritisierbar ist, weil er sagt, Recht muss Recht bleiben, aber vielleicht kritisierbar ist, weil er die Geste, die im Augenblick politisch-psychologisch nötig gewesen wäre, nicht gemacht hat. Barenberg: Heißt das alles zusammen genommen, Herr Fritz-Vannahme, auch, dass im Moment eine Lösung unter den Beteiligten - wir sprechen über den Ministerpräsidenten in Madrid, den Regionalregierungschef in Barcelona und den König -, dass unter diesen Beteiligten eine Lösung nicht möglich ist oder nicht gangbar scheint? "Es wird keine rein spanische Lösung geben" Fritz-Vannahme: Von außen betrachtet zweifelsohne. Es wird keine rein spanische Lösung geben. Deswegen ist der Ruf nach der Europäischen Union, nach der Europäischen Kommission oder dem europäischen Ratspräsidenten durchaus verständlich. Ich würde allerdings den Brüsselern dringend abraten, sich hier einzumischen, denn der Vertrag, in dem Fall der Europäischen Union ist absolut eindeutig. Die Kommission, genau wie die Ratspräsidentschaft ist aufgerufen, die wirtschaftliche, soziale und territoriale Einheit der Union zu bewahren. Das heißt, sie haben im Grunde genommen von dem Vertrag her einen eindeutigen Auftrag bekommen und können jetzt nicht bei einer Bewegung, die ja letztlich zu einer Trennung Kataloniens von Spanien führt, sich einmischen. Das ist leider jenseits der Möglichkeiten der Europäischen Union, hier als neutraler Mittler aufzutreten. Ob das psychologisch-politisch überhaupt machbar wäre, ist auch ganz, ganz schwer zu entscheiden, denn wie gesagt: Der Konflikt datiert ja nicht vom letzten Wochenende, sondern er zieht sich über Jahre, Jahrzehnte mittlerweile hin, und ist unter ganz unterschiedlichen Umständen schon an einem toten Punkt angekommen und jetzt erneut an einem völlig toten Punkt angekommen, und ich denke, es hier sehr, sehr schwierig, mit den innerspanischen Instanzen eine Lösung zu finden. Ich würde dringend davor warnen, dass die Europäische Union sich einmischt. Ich könnte mir eher vorstellen, dass man seitens der OSZE oder der UNO eine Mittlerposition irgendwo einnimmt, weil man dort rechtlich einfach nicht so stark eingebunden ist, wie das die Europäische Union wäre. Barenberg: Um da noch mal nachzufragen, weil Sie das so kategorisch sagen, dass Sie der EU abraten würden, sich dort einzuschalten. Wenn Sie aus den Verträgen zitieren, dass dort auch von der territorialen Einheit die Rede ist, wäre das nicht ein Grund geradezu, sich einzuschalten, weil genau das jetzt ja auf dem Spiel steht und in Gefahr zu geraten scheint? "Bei der Abspaltung dürfen wir euch eigentlich nicht helfen" Fritz-Vannahme: Aber dann würde ja die Europäische Union, dann würde ja Brüssel denselben Standpunkt einnehmen wie Madrid, und das wird wiederum in Barcelona und in Katalonien auf taube Ohren stoßen. Das ist genau das Verfahrene an der Situation. Natürlich könnte die Europäische Union sagen, ich mache mir Sorgen um den territorialen Zusammenhalt, der Vertrag gibt mir eigentlich sogar die Pflicht auf, dafür zu sorgen, dass dieser gewahrt bleibt. Aber in dem Augenblick würde sie in den Augen der Katalanen zur Partei werden und im Grunde genommen den Einheitsstaat Spanien verteidigen müssen. Barenberg: Aber nun hat ja Barcelona ausdrücklich eine Vermittlerrolle seitens der EU sich gewünscht, und das wurde dann abschlägig aus Brüssel entschieden, eben aus diesem Grund, dass man nicht Partei sein möchte. Fritz-Vannahme: Ja, ja, genau das. Aber das ist natürlich auch die Schwierigkeit. Wenn man sich diesen Auftrag zu Herzen nimmt und ihn wirklich ausführt, bliebe einem Jean-Claude Juncker oder auch einem Donald Tusk als Verhandlungsführer gar nichts anderes übrig, als den Katalanen zu sagen, wir können euch bei eurem Verlangen nach mehr Autonomie vielleicht helfen und gucken, dass wir mit Madrid vielleicht in ein Einvernehmen kommen, aber bei der Abspaltung dürfen wir euch eigentlich überhaupt nicht helfen, weil das natürlich gegen den territorialen Zusammenhalt und damit gegen unseren eigenen Auftrag verstößt. Barenberg: Insofern wäre das auch genau richtig, was wir jetzt von der Bundeskanzlerin an diesem Vormittag aus der Regierungspressekonferenz gehört haben, gefragt, ob sie denn eine Vermittlungsmission sich vorstellen könnte: Nein, das strebe sie nicht an, hat ihr Sprecher gesagt. Und: Alle notwendigen Diskussionen werden in Spanien geführt. Damit allerdings nimmt sich die EU raus, nehmen sich auch die politisch Verantwortlichen in den Beitrittsländern raus und lassen alles einfach so laufen? "An dem Zustand sind zwei Parteien beteiligt und auch schuld" Fritz-Vannahme: Ja das ist natürlich das Verfahrene daran. Aber noch mal: Der Zustand ist nicht neu. An dem Zustand sind zwei Parteien gleichermaßen, wie ich eingangs erklärt habe, beteiligt und auch schuld. Jeder trägt da sein Päckchen für sich selbst auch an Verantwortung mit. Ich könnte mir wie gesagt einen ganz neutralen Mittler unter Umständen noch vorstellen. Ein Mittler, der selbst gebunden ist durch seine eigenen Mandate und durch sein eigenes Selbstverständnis, der wird nicht schrecklich viel zu vermitteln haben, sondern er wird ganz, ganz schnell entweder bei der einen Partei, oder bei der anderen Partei landen und deswegen für das jeweilige Gegenüber unglaubwürdig. Barenberg: … sagt Joachim Fritz-Vannahme, der bei der Bertelsmann-Stiftung das Europaprogramm leitet. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Mittag und das Gespräch, Herr Fritz-Vannahme. Fritz-Vannahme: Gerne geschehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Konflikt zwischen Katalonien und der spanischen Zentralregierung sei an einem toten Punkt angelangt, sagte Joachim Fritz-Vannahme von der Bertelsmann-Stiftung im Dlf. Die Europäische Union könne hier aber nicht als neutraler Mittler aufzutreten. Das könnten vielleicht andere internationale Organisationen.
"2017-10-04T12:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:16.602000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-eu-und-katalonien-bruessel-ist-dringend-abzuraten-sich-100.html
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Richtiges Krafttraining ist gut für den Blutdruck
"Ich hab mich grade aufgewärmt, beziehungsweise hab das Ausdauertraining mit absolviert, hat 30 Minuten gedauert und ich beginne jetzt mit dem Krafttraining. Das erste Gerät ist der Beinstrecker ... das hab ich jetzt auf 18 kg eingestellt und ich werde jetzt 10 Bewegungen mit meinen Beinen machen."Ulla Lachmann hat einen beginnenden Bluthochdruck: 140 zu 90. Sie nimmt an der Studie an der Deutschen Sporthochschule in Köln teil und treibt zwölf Wochen lang regelmäßig Sport."Ich hab gelernt, dass ich bei der Bewegung, die ich ausführe, immer ausatmen soll, also kräftig ausatmen soll und ich merke auch, dass das mir gut tut, dass das ein Unterschied ist, wenn ich das nicht mache."Sie ist in einer Gruppe, in der Ausdauer- und Krafttraining unter Anleitung kombiniert wird. Diplomsportwissenschaftlerin Anna Bickenbach, Mitautorin der Studie:"Wir wollten herausfinden, welche Form von Sport sich positiv auf den Blutdruck auswirkt, zum einen das Ausdauertraining, das Krafttraining oder eine Kombination von beidem. Was ist am effektivsten in der Lage, den Blutdruck zu senken?"Beim "modifizierten" Krafttraining für Bluthochdruckpatienten gilt es, einiges zu beachten:"Man sollte darauf achten, dass es zu keiner Pressatmung kommt während der Belastung, also gleichmäßig weiteratmen und dass man die Belastungsumfänge relativ gering hält. Also nicht zu lange Wiederholungszahlen und nicht zu hohe Gewichte."Professor Hans-Georg Predel, Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule in Köln, ergänzt:"Intensives klassisches Krafttraining war und bleibt ungeeignet für Bluthochdruckpatienten, ganz einfach, weil der Blutdruck während der Kraftbelastung zu hoch ansteigt. Wir haben gezeigt, dass ein verändertes, angepasstes Kräftigungstraining, wie ich es nennen möchte, sehr wohl für Hypertoniker geeignet ist, aber die Betonung liegt auf ärztlich eingeleitet und von Therapeuten überwacht."Ein Großteil der Teilnehmer hatte nach dem Training optimale Blutdruckwerte."Im Ergebnis: In allen drei Gruppen eben blutdrucksenkende Effekte mit leichten Vorteilen insbesondere was die übrigen Kreislaufrisikoparameter angeht, die wir ja mituntersucht haben, leichte Vorteile in der Kombinationsgruppe Ausdauer und Kräftigung."Mittelfristig und langfristig sinkt der Ruheblutdruck, aber auch der Belastungsblutdruck sinkt. Wir haben das in unserer Studie auch gemessen und untersucht und wir konnten zeigen, dass gerade der durch die sportlichen Aktivitäten ausgelöste Anstieg des Blutdrucks auch wesentlich und signifikant abgesenkt werden können: ein sehr wichtiger positiver Effekt."Durch die regelmäßige Bewegung verbesserte sich die Elastizität der Gefäße, die Herzfrequenz senkte sich und der Bauchumfang verringerte sich."Wir wissen, dass das Bauchfett zusätzlich zu der Tatsache, dass Übergewicht generell blutdrucksteigernd wirkt, dass das Bauchfett speziell hormonähnliche Substanzen produziert, die auch blutdrucksteigernd wirken. Indem dieses Bauchfett reduziert wird, haben wir auf doppelte Weise noch ergänzende drucksenkende Effekte und das Paket aus allen Mechanismen führt zu dieser schönen Gesamtblutdrucksenkung."Professor Predel schätzt die Ergebnisse sehr positiv ein."Wir haben in allen drei Trainingsgruppen blutdrucksenkende Effekte gesehen, und diese konnten wir dokumentieren mittels der 24-Stunden-Blutdruckmessung, und deren Datenergebnisse sind sehr viel belastbarer als die sogenannte Gelegenheitsmessung, wo ja nur ein Blutdruckwert zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen wird. Also: positive und signifikante blutdrucksenkende Effekte durch Sport."Ein Effekt, der ankommt: Die Studienteilnehmer wollen weitermachen mit dem Sport."Ich hab den Eindruck, es tut mir sehr gut. Es ist schon aufwendig, aber ich bin motiviert, weil mir das gut tut, weiterzumachen nach den zwölf Wochen."
Von Renate Rutta
Sport für Bluthochdruckpatienten? Ja. Von reinem Krafttraining wurde allerdings über viele Jahre abgeraten. Inzwischen belegt eine Untersuchung an der Deutschen Sporthochschule in Köln positive Effekte.
"2009-08-04T10:10:00+02:00"
"2020-02-03T10:07:31.243000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/richtiges-krafttraining-ist-gut-fuer-den-blutdruck-100.html
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"Die Unsicherheit bei Dieselkäufern bleibt"
Verbraucherschützer haben die erste Musterfeststellungsklage auf den Weg gebracht und wollen den VW-Konzern wegen des Abgasskandals zur Verantwortung ziehen (dpa-Bildfunk / AP / Martin Meissner) Jürgen Zurheide: Das Wort ist sperrig: Musterfeststellungsklage. Sperrig ist es auf jeden Fall, allerdings dahinter verbirgt sich etwas, wo man auf juristischem Wege nämlich versucht, das zu tun, was die Politiker bisher nicht geschafft haben: diejenigen, die Autos in gutem Glauben gekauft haben, Dieselautos, und jetzt feststellen, dass sie möglicherweise nicht mehr in Städte fahren dürfen, sollten und müssten entschädigt werden. Das ist jedenfalls ein erster Versuch, und heute ist ein wichtiger Tag. Bei VW wird man den sich sicher angestrichen haben. Wir wollen beim Thema bleiben, wollen fragen, was denn das bringt, ob das etwas bringt, was wir da heute gehört haben. Reden wollen wir mit Stefan Bratzel, dem Experten für Automobilwirtschaft, der jetzt am Telefon ist. Schönen guten Abend, Herr Bratzel! Stefan Bratzel: Schönen guten Abend! Zurheide: Erst mal diese Musterfeststellungsklage, hilft das den Kunden wirklich? Bratzel: Das muss man noch sehen, ob es den Kunden jetzt hilft. Es ist zumindest erst mal ein Mittel, das ja jetzt neu existiert, das helfen könnte, wenn denn die Richter tatsächlich im Sinne der klagenden Kunden oder in dem Fall erst mal der klagenden Verbraucherzentrale des ADACs gewinnen. Zurheide: Raten Sie denn den Menschen, die betroffen sind oder möglicherweise betroffen sind, mitzumachen? Gibt es da Risiken aus Ihrer Sicht? Bratzel: Ich glaube, Risiken gibt es erst mal nicht. Man muss ja erst mal abwarten. Klagen tut ja Verbraucherzentrale und der ADAC, und die übernehmen die Risiken, aber selbst wenn sie gewinnen sollten, dann müssen ja die potenziell Geschädigten auch noch mal selber klagen, allerdings dann mit einer sehr viel positiveren Aussicht. Wenn Konzerne unterliegen, werden sie Vergleich anbieten Zurheide: Die Frage ist ja, viele analysieren jetzt - so haben wir es auch gerade in dem Beitrag gehört -, dass die Konzerne irgendwann dann möglicherweise einen Vergleich anbieten, dass man vielleicht gar nicht in diese Prozedur gehen muss. Ist das eine Überlegung, von der Sie sagen, ja, die hat was? Bratzel: Ja, die hat sicherlich was. Also das wird sicherlich der Punkt dann sein, dass die Konzerne, wenn sie das Gefühl haben, dass sie ihr wahrscheinlich unterliegen werden, dann werden sie einen Vergleich anbieten, der dann so attraktiv ist, dass die meisten hier zustimmen, und das wird die wahrscheinliche Entwicklung der Dinge dann sein. Zurheide: Auf der anderen Seite gibt es ja auch von Seiten der Politik immer wieder neue Anläufe. Ich weiß gar nicht den wievielten Gipfel es jetzt geben soll. Heute ist dann bekannt geworden, am 8. November will man wieder mit der Automobilindustrie zusammensitzen. Könnte sein, dass da sozusagen eine Scherenbewegung auf die Automobilindustrie zuläuft. Sehen Sie, dass die Politik endlich irgendetwas tut, was die Menschen ja übrigens längst erwarten? Bratzel: Ja, was Sie sagen, ist völlig richtig. Die Politik hat sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Es ist, wenn man so will, ich nenne es gerne eine nachlaufende Untersteuerung, was die Politik macht. Zurheide: Das ist aber sehr freundlich ausgedrückt! "Hardwarenachrüstungen das kleinere Übel" Bratzel: Ja, es war viel Symbolpolitik dabei. Man hat wirklich jetzt drei Jahre, nachdem der Dieselskandal aufgedeckt wurde, noch nicht vernünftig gehandelt, oder wir sind immer noch mitten in der Dieselkrise. Die potenziellen Entschädigungen kommen eigentlich nicht voran. Die Unsicherheit bei den Dieselkäufern bleibt, und das Wichtigste: Fahrverbote, das eigentliche Ziel der Bundesregierung, Fahrverbote zu verhindern, auch das ist nicht gelungen. Also es ist, wenn man so will, ein politischer Totalschaden im Hinblick auf das Thema Diesel. Zurheide: Wie sehen Sie das: Viele sagen ja, es geht nur mit Hardwarenachrüstung und Punkt, wie sehen Sie das? Bratzel: Nun, es ist wirklich keine ganz einfache Thematik. Das Kind ist wirklich in den Brunnen gefallen, das Dieselkind, wenn man es salopp formuliert, und man kriegt es nicht mehr hoch. Hardwarenachrüstungen, muss man sagen, sind natürlich teuer, und sie wirken erst nach einer gewissen Zeit. Diese Hardwarenachrüstungen müssen jetzt mal entwickelt und genehmigt werden, und dann müssen sie in die jeweiligen Fahrzeuge eingebaut werden. Das wird aller Voraussicht nach, wenn das denn dazu kommt, noch ein, zwei Jahre dauern, und erst dann treten die Maßnahmen ein, aber in der Abwägung des riesigen Vertrauensverlustes sowohl der Politik als auch zu allererst der Autoindustrie glaube ich, dass Hardwarenachrüstungen das kleinere Übel sind. Zurheide: Es sind ja viele Menschen, die sagen, bei allen attraktiven Angeboten, die da möglicherweise sind, ich kann oder will mir jetzt kein neues Auto kaufen, und wenn es dann um, was weiß ich, 2- oder 3.000 Euro geht, und da muss die Industrie sich beteiligen, der Gedanke ist ja nicht ganz fernliegend, oder? Bratzel: Ja, ich meine, das ist tatsächlich so. Der Frust ist sehr, sehr groß, und man muss auch sagen, der, der den Schaden angerichtet hat, muss auch den wieder begleichen. Also der Ball liegt schon bei der Autoindustrie. Man muss sagen, einiges ist schon passiert, es gibt Pakete, die angeboten werden. Man kann sich drüber streiten, ob das genug ist, ob nicht den Kunden noch mehr hätte entgegengekommen müssen. Ich glaube auch, dass von Anfang an es sinnhaft gewesen wäre, dass man zumindest eine symbolische Entschädigung gibt, und zwar von Anfang an, insbesondere durch Volkswagen. Das wäre sozusagen zumindest ein gewisses Entgegenkommen gewesen, und daran hat es in Deutschland oder in Europa auch gefehlt. Ich glaube, das war ein Fehler, und die Autoindustrie hat diesen Dominoeffekt, die dieser Dieselskandal ausgelöst hat, wohl nicht richtig gesehen. Fahrverbote kommen "höchstwahrscheinlich" Zurheide: Der entscheidende Punkt ist, man muss den Menschen am Ende überlassen, ob sie ein neues Auto kaufen wollen. Da kann die Industrie was tun, wenn sie quasi Verkaufsförderung betreibt oder ob man sagt, nein, ich möchte, dass mein Ding da vernünftig funktioniert, also muss ich es umrüsten können, Punkt. Bratzel: Ja, das kann man so fordern. Natürlich muss man sehen, gewisse Softwareumrüstungen hat die Industrie jetzt ja zugesagt, und mit diesen Umrüstungen wird eine Verbesserung erreicht. Die ist freilich noch nicht so gut, dass Fahrverbote dann dadurch verhindert werden können und dass die Gerichte sagen, ja, das reicht. Also da hätte schneller noch mehr passieren müssen, und in der Tat, man kann sich die Frage tatsächlich stellen, ob jetzt die Dieselfahrer das ausbaden müssen. Da sehe ich aber tatsächlich auch den Ball auch noch bei der Politik. Die hätte viel früher viel massiver reagieren müssen, und was jetzt passiert, ist sozusagen kleine Aufräumarbeiten, wie man jetzt noch mal versucht, das Problem zu lösen. Man darf ja nicht vergessen, es wird höchstwahrscheinlich zu Fahrverboten kommen. Es gibt enorme Wertverluste, die die Dieselfahrer selber tragen müssen, und all das ist sicherlich nicht dazu angetan, Vertrauen in Politik und Autoindustrie zurückzugewinnen. Zurheide: Danke schön! Das war der Automobilexperte Stefan Bratzel. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Bratzel im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Mit der Musterfeststellungsklage gegen VW gebe es ein neues Mittel, das Kunden helfen könne, sagte Automobilexperte Stefan Bratzel im Dlf. Doch drei Jahre nach der Aufdeckung des Abgasskandales habe die Politik immer noch nicht vernünftig gehandelt - das sei ein Totalschaden beim Thema Diesel.
"2018-11-01T23:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:33.020000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musterfeststellungsklage-gegen-vw-die-unsicherheit-bei-100.html
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Minister wollen Gesichter sehen
So wie diese Afghanin in Herat sollen Menschen in bestimmten Situationen in Deutschland nicht auftreten dürfen. (picture alliance / dpa / Jalil Rezayee) Die Vollverschleierung passe nicht zu einem Deutschland mit einer weltoffenen Gesellschaft, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei der Vorstellung des Papiers. Gesicht zu zeigen sei für das Zusammenleben und den Zusammenhalt konstituiv. Rechtlich umgesetzt werden soll das Burka-Verbot in allen Bereichen, in denen Gesicht zu zeigen eine Funktion oder eine bestimmte Aufgabe erfülle. Als Beispiele nannte er, dass Autofahrerinnen unverhüllt sein sollten. Auch bei Behördengängen zum Einwohnermelde- oder dem Standesamt, im öffentlichen Dienst, an Universitäten und vor Gericht sei eine Verschleierung nicht hinzunehmen. Beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft soll es vorerst bei der bestehenden Regelung bleiben. Allerdings soll diese im Jahr 2019 auf den Prüfstand gestellt werden: "Wir fordern, zu evaluieren, wie sich diese Ausnahmeregelung auf die Integration der betroffenen Personen auswirkt." Im Kampf gegen Terror und Kriminalität fordern die Unions-Innenminister mehr Polizeibeamte, eine bessere Ausstattung der Sicherheitskräfte und mehr Befugnisse für Nachrichtendienste. Bis 2020 sollen Bund und Länder insgesamt 15.000 neue Polizisten einstellen. (rm/sf)
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Die Innenminister der Union wollen Burkas aus bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens verbannen. Stattdessen soll es dort, wo es drauf ankommt, ein rechtlich verankertes "Gebot zum Gesicht zeigen" geben. So steht es in der Berliner Erklärung zur Inneren Sicherheit.
"2016-08-19T10:19:00+02:00"
"2020-01-29T18:48:17.641000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forderung-nach-teilweisem-burka-verbot-minister-wollen-100.html
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Dem INF-Vertrag droht das Ende
Es droht ein neues atomares Wettrüsten - Trump und Putin finden offenbar keine Lösung (dpa-Bildfunk / AP / Evan Vucci) Seit über fünf Jahren wirft die US-Regierung Russland vor, eine neue landgestützte, atomar bestückbare Mittelstreckenrakete entwickelt zu haben. Der neue russische Marschflugkörper hat nach Erkenntnissen von US-Geheimdiensten eine Reichweite von etwa 2.500 Kilometern. Schon die Obama-Regierung sah darin einen Verstoß Russlands gegen den Abrüstungsvertrag. Obama hielt dennoch am INF-Abkommen fest, weil die europäischen Verbündeten ein neues atomares Wettrüsten in Europa befürchteten. Anders Donald Trump: Er kündigte Ende Oktober ohne Abstimmung mit den Europäern den Ausstieg aus dem Abrüstungsvertrag an: "Russland hat gegen das Abkommen verstoßen, und das seit vielen Jahren. Ich weiß nicht, warum Präsident Obama nicht ausgestiegen ist oder nachverhandelt hat. Wir werden jedenfalls nicht zulassen, dass Russland ein Nuklearabkommen verletzt." Gespräche ohne Fortschritte Auch wenn die europäischen Nato-Verbündeten ebenfalls überzeugt sind, dass Russlands neue Rakete gegen den Vertrag verstößt, so fühlten sie sich doch von der nicht abgestimmten Vertragskündigung überfahren. So kam es auch auf Initiative der Bundesregierung hin zu einer letzten 60-Tage-Frist an Russland. Doch Russland behauptet immer noch, die neue Rakete fliege nur 480 Kilometer weit - 20 Kilometer weniger als die Untergrenze für Mittelstrecken-Raketen. Eine Untersuchung der neuen Rakete durch unabhängige Experten lehnt Russland bislang ab. Auch die Gespräche in den letzten Wochen verliefen ohne Fortschritte, so das ernüchternde Fazit von Andrea Thompson, der im US-Außenministerium für Rüstungskontrolle zuständigen Staatssekretärin. "Rüstungskontroll-Verträge funktionieren nur, wenn sich alle Beteiligten daran halten und Verstöße Konsequenzen haben. Wenn wir Verstöße weiter zulassen, dann unterminieren wir alle Abrüstungsverträge." Thompson sagte, die US-Regierung sei zwar weiter für Gespräche offen. Wenn sich Russland aber bis zum Ablauf der Frist am Samstag weiter nicht bewege, werde die US-Regierung den INF-Vertrag kündigen. Dann könnten die USA nach einer Übergangszeit von sechs Monaten ebenfalls neue Mittelstrecken-Raketen in Europa stationieren. Weil dies jedoch auf großen Widerstand der Bevölkerung in Europa stoßen würde, plant das Pentagon bereits den Einsatz see-gestützter atomarer Marschflugkörper. USA sehen sich benachteiligt Ohnehin hält sich in der Trump-Regierung die Trauer über das Ende des INF-Vertrages in Grenzen. Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton kritisiert seit langem, das über 30 Jahre alte Abkommen benachteilige Amerika gegenüber den neuen Atommächten: "China, Iran, Nordkorea - sie alle sind nicht an den INF-Vertrag gebunden. Sonst würde fast die Hälfte der chinesischen Raketen gegen das Verbot von Mittelstrecken-Raketen verstoßen." Tatsächlich hat China zwar die USA und Russland aufgefordert, sich weiter an das Verbot von Mittelstrecken-Raketen zu halten. China selbst lehnt es aber ab, dem INF-Vertrag beizutreten oder - was aus europäischer Sicht die beste Lösung wäre - sich einem neuen weltweiten Abrüstungsvertrag anzuschließen. Wenn den Europäern nicht doch noch ein diplomatischer Coup gelingt, dann sieht alles nach einem neuen atomaren Wettrüsten zwischen Amerika, Russland und China aus. Auch deshalb kündigte US-Präsident Trump kürzlich bereits die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems im Weltraum an.
Von Martin Ganslmeier
Am Samstag endet das Ultimatum der US-Regierung an Russland, sich an den INF-Vertrag zu halten. Weil beide Seiten nicht aufeinanderzugehen, könnte Washington das Papier aufkündigen. Die Trauer darüber hält sich bei der Trump-Regierung in Grenzen.
"2019-02-01T06:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:35:55.582000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ruestungskontrolle-dem-inf-vertrag-droht-das-ende-100.html
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Westphal: Fall Nawalny hat mit Nord Stream 2 nichts zu tun
Das Projekt Nord Stream 2 ist hoch umstritten und spielt vor allem geopolitisch eine große Rolle (picture alliance/Stefan Sauer/dpa) Das EU-Parlament will wegen der Verhaftung des prominenten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny in Russland einen Baustopp für die deutsch-russische Gas-Pipeline Nord Stream 2 fordern. Die EU müsse die Fertigstellung der Ostsee-Pipeline sofort aufhalten, heißt es in einem Entschließungsentwurf. Die Bundesregierung stellte sich erneut hinter das umstrittene Projekt. Nord Stream 2 - Wie abhängig ist Deutschland von Erdgas aus Russland?Seit Jahren tobt ein politischer Streit um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Der Fall Nawalny befeuerte die Diskussionen. Aber ist das Projekt überhaupt zu stoppen? Und wie abhängig ist Deutschland? Nord Stream 2 sei kein deutsches Projekt, denn es seien viele andere europäische Firmen beteiligt, sagte SPD-Energiepolitiker Bernd Westphal im Dlf. Ein Stopp würde deswegen auch europäischen Unternehmen schaden. Es gehe bei der Pipeline ausschließlich um die Energieversorgungssicherheit Europas. Auch zu Zeiten des Kalten Krieges habe man Erdgas aus Russland bekommen und Deutschland habe seine Rechnung bezahlt, sagte Westphal. Der SPD-Abgeordnete Bernd Westphal (imago / Metodi Popow) "Wir brauchen eine Brückentechnologie in das erneuerbare Zeitalter. Und das können wir nur mit Erdgas erzeugen. Wenn wir das russische Erdgas nicht nehmen, müssen wir Fracking-Erdgas aus den USA nehmen", machte Westphal deutlich. "Wir werden sicher für den Übergang Erdgas daraus beziehen, aber für die Zukunft wird es auch möglich sein beispielsweise Wasserstoff über diese Pipeline zu beziehen", sagte der Energiepolitiker. "Ich kann da den Sinn nicht sehen" Wie Russland gegen den Regimekritiker Nawalny vorgehe, sei nicht zu tolerieren, betonte Westphal. Wenn man damit jedoch das Aus von Nord Stream 2 verknüpfe, hätte man im Fall des ermordeten saudischen Journalisten Jamal Khashoggi, auch sofort die Erdöllieferungen aus dem Nahen Osten stoppen müssen, so der der SPD-Politiker. Die Sanktionen und ihre Folgen für ostdeutsche UnternehmenZwar ist mit den jüngsten Sanktionen gegen Russland das Aus für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 ausgeblieben, worunter auch deutsche Firmen gelitten hätten. Doch für Entwarnung an der Ostseeküste ist es zu früh. Sanktionen schadeten oft erst einmal demjenigen, der sie verhänge. "Ich kann da den Sinn nicht sehen", sagte Westphal. "Wir müssen im Fall Nawalny andere Instrumente verwenden, um weiter zu kommen. Das hat mit Nord Stream 2 nichts zu tun." Lesen Sie hier das vollständige Interview. Jörg Münchenberg: Herr Westphal, die SPD bekennt sich gerne und ausdrücklich zu Europa. Bei Nord Stream 2, da wischt man aber alle Bedenken und jegliche Kritik bei Seite. Warum? Bernd Westphal: Nein, wir sind glasklare Europäer, und das ist auch eine Idee für die Zukunft, die wir auf jeden Fall immer unterstützen. Von daher: Stärkung der europäischen Gemeinschaft. Und wir haben ja auch einen Kompromiss auf europäischer Ebene, was den Bau von Nord Stream 2 angeht, von daher überhaupt gar keinen Dissens. Sie meinen wahrscheinlich jetzt die Initiative aus dem Europaparlament, aber das ist noch mal eine ganz andere Sache. Münchenberg: Genau. Das EU-Parlament wird heute erneut eine scharfe Resolution gegen die Pipeline verabschieden, getragen von allen großen Parteien, auch von anderen Sozialdemokraten. Haben die alle die Notwendigkeit von Nord Stream 2 nicht verstanden? Westphal: Nein, die haben eine andere Auffassung. Das kann ja sein, dass auf europäischer Ebene ein anderer Blickwinkel und eine andere Meinungsbildung jetzt vonstatten kommt. Ich kann nur sagen, dass wir hier ein Projekt haben, was ein europäisches Projekt ist. Es sind nicht nur deutsche Unternehmen, es sind französische, österreichische Unternehmen, holländische, britische Unternehmen beteiligt. Von daher ist dieses Projekt privatwirtschaftlich, nicht staatlich gelenkt, sondern es schadet dann auch europäischen Unternehmen, und es erhöht die Versorgungssicherheit der Europäischen Union. Von daher: Das Interesse müsste eigentlich auch die Europäische Union, auch das Europaparlament haben, dass dieses Projekt beendet wird. "Wir haben mit Russland eine lange Energiepartnerschaft" Münchenberg: Sie sagen, es ist ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen. Die Pipeline, sagen viele Kritiker, muss aber auch geopolitisch betrachtet werden. Es geht hier um Energie und damit um Macht und Einfluss, und da sagen auch die Kritiker und halten der Bundesregierung, halten der SPD vor, das spielt in der Analyse überhaupt keine Rolle. Westphal: Na ja. Es ist zumindest erst mal ein energiepolitisches Projekt und natürlich wird das immer politisch aufgewertet und in Verbindung gebracht mit anderen Dingen, die vorherrschen. Aber ich sehe das wirklich als reine Energieversorgungssicherheit für Europa und wir haben mit Russland eine lange Energiepartnerschaft, die beide Seiten nie ausgenutzt haben, sondern wir haben immer auch zu tiefsten Zeiten des Kalten Krieges das Erdgas von Russland bekommen und wir haben unsere Rechnungen bezahlt. Das heißt, von beiden Seiten eine Co-Abhängigkeit, und das ist etwas, was wir in Zukunft auch für die Gasversorgung Europas, nicht nur für Deutschland sicherlich auch brauchen. Sanktionen wegen Nord Stream 2 - Ungebetene EinmischungDass die Bundesregierung zum US-Vorgehen gegen die Ostsee-Pipeline North Stream 2 lange geschwiegen habe, sei schon ärgerlich gewesen, kommentiert Silke Hasselmann. Jetzt brauche das Projekt Unterstützung. Münchenberg: Ich habe es trotzdem immer noch nicht ganz verstanden. Sie sagen, das sei ein europäisches Projekt. Das EU-Parlament lehnt das ab. Es gibt auch Kritik aus vielen anderen Ländern, der Ukraine, Polen, Estland, Litauen. Wie ist das zu verstehen, dass das ein europäisches Projekt sein soll? Westphal: Es ist deswegen ein europäisches Projekt, weil Unternehmen aus verschiedenen europäischen Ländern daran beteiligt sind. Und ja, es gab Kritik auch in der Vergangenheit, und das ist auch nicht ganz aufgelöst. Aber wo ist denn die Alternative? Die Frage ist doch, wie wir die Energieversorgung in Europa sicherstellen. Viele Länder machen sich auf den Weg, wie Deutschland auch, aus der Kohle auszusteigen und wir brauchen eine Brückentechnologie in das erneuerbare Zeitalter. Das können wir nur mit Erdgas erzeugen. Wenn wir das russische Erdgas nicht nehmen, müssen wir Fracking-Erdgas aus den USA nehmen. Ich finde, die Grünen sind da ein Stück weit auch nicht konsistent in der Argumentation. "Was da mit Nawalny passiert, ist nicht zu tolerieren" Münchenberg: Da gibt es aber auch andere Argumente. Zum Beispiel ein Argument lautet, auch Nord Stream 1 sei nicht mal richtig ausgelastet. Und die Frage ist ja: Europa will ja weg von den fossilen Brennstoffen, den fossilen Energieträgern. Warum, dass man dann noch jetzt zusätzlich auf Erdgas setzt? Westphal: Erst mal ist das ja eine Infrastruktur. Es ist eine Gaspipeline. Wir werden sicherlich für den Übergang Erdgas daraus beziehen. Aber für die langfristige Zukunft wird das auch möglich sein, dass wir zum Beispiel Wasserstoff über diese Pipeline aus Russland beziehen. Wenn dort mit erneuerbaren Energien Wasserstoff erzeugt wird, können wir diese Pipeline hervorragend nutzen. Also eine Infrastruktur-Investition, die dort getätigt wird. Wir brauchen Wasserstoff im erheblichen Maße auch als Importware. Wir werden bestimmt drei Viertel unseres Wasserstoffverbrauchs in der Zukunft auch aus dem Ausland beziehen. Münchenberg: Aber erst mal geht es hier um Erdgas, Herr Westphal. Westphal: Ja, natürlich! Es ist eine Infrastruktur, die aufgebaut wird, und deshalb sage ich ja, die wird mittelfristig für Erdgas genutzt, aber langfristig kann man auch Wasserstoff dort durchtransportieren. Wie der Fall Nawalny internationale Beziehungen verändertDie Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny ist eine Belastungsprobe für die deutsch-russischen Beziehungen, eine von mittlerweile zahlreichen. Vieles steht auf dem Prüfstand. Münchenberg: Sie haben vorhin auf die guten Handelsbeziehungen zu Russland verwiesen. Nun hat die Verhaftung des Kreml-Kritikers Nawalny gezeigt, dass der russische Staat kein Pardon kennt, wenn es darum geht, Kritiker auch wegzusperren. Hat das auf Ihre Partei, die SPD, eigentlich überhaupt keinen Eindruck gemacht, dass Sie hier trotzdem sagen, Russland ist am Ende ein verlässlicher Partner? Westphal: Ja, natürlich macht das Eindruck. Das sind ja auch zwei unterschiedliche Themen. Die Frage ist nicht, Nord Stream ja oder nein mit dem Fall Nawalny zu verknüpfen. Das, was da mit Nawalny passiert, ist nicht zu tolerieren. Das, wie Russland sich dort verhält, auch in anderen internationalen Fragen, findet von uns keine Unterstützung und auch keine Sympathien. Aber wenn wir soweit an Politik herangehen, dann hätten wir in dem Fall Kashoggi auch sofort die Erdöl-Lieferungen aus dem Nahen Osten stoppen müssen. Münchenberg: Aber die Frage ist ja trotzdem: Wenn es um Sanktionen geht, Herr Westphal, dann ist man ganz schnell auch im Bereich Energie. Westphal: Ja, natürlich. Aber man muss sich mal insgesamt angucken, welche Wirkung denn Sanktionen entfalten. Meistens schaden sie einem selber und in dem Fall wird das genauso sein. Es wären privatwirtschaftliche Unternehmen, die entschädigt werden müssten von staatlicher Seite, weil dieses Projekt gestoppt wird. Ich kann da den Sinn nicht sehen und ich finde, wir müssen, gerade was Russland angeht und das Verhalten gegenüber Nawalny, andere Instrumente diplomatischer Art verwenden, um hier noch weiterzukommen. Das ist nicht zu tolerieren, was Russland da macht, aber mit Nord Stream 2 in der Verbindung, glaube ich, ist das eher schräg. Münchenberg: Trotzdem: Wie glaubwürdig ist die Kritik jetzt an der russischen Umgangsweise mit Nawalny, wenn man gleichzeitig an einem Projekt festhält, das die Abhängigkeit von Russland eher noch vertieft? Westphal: Nein, das war schon immer so. Ich hatte es ja vorhin erwähnt. Auch zu tiefsten Kalten-Krieg-Zeiten haben wir immer auch die Energielieferungen parallel ungestört aufrechterhalten. Deshalb, glaube ich, ist das auch sinnvoll zu sagen, wir sind hier ein verlässlicher Partner, auch der russischen Seite und auf europäischer Seite, und deshalb, glaube ich, hat diese Vermengung dieser beiden Themen nichts miteinander zu tun. Das wird immer wieder versucht, vorgeschoben, aber ich kann nur sagen, dass Sanktionen – und wir sehen das ja in der Vergangenheit auch – oft ihre Wirkung nicht entfalten. "Die Amerikaner haben auch Interesse, ihr Fracking-Gas in Europa los zu werden" Münchenberg: Nun hat die SPD-geführte Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern eine umstrittene Stiftung gegründet, mit der notfalls Sanktionen durch die USA ausgehebelt werden sollen. Wird jetzt in Schwerin plötzlich Weltpolitik betrieben? Westphal: Das ist ein Versuch der Regierung, der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern, dieses Projekt, weil es ja oben anlandet, in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern, zu unterstützen, was ich auch richtig finde. Das Sanktionsrecht der USA ist so organisiert, dass es nicht gegen Stiftungen wirkt, und das ist jetzt ein Weg, mit dem man versucht, diese Sanktionen dort abzuwehren. Was die USA da machen, ist ja klares Vermischen außenpolitischer Interessen, die sie haben, mit solchen Sanktionen. Das finde ich jetzt auch nicht unbedingt fair. Vielleicht kriegen wir mit der Administration Biden da ein bisschen mehr Bewegung rein. Nawalny-Anwalt: "Nawalny ist politischer Gefangener Nummer eins in Russland"Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist bei seiner Rückkehr nach Russland verhaftet worden. Sein Anwalt sprach im Dlf von politischer Verfolgung. Die Vorwürfe gegen Nawalny seien konstruiert. Münchenberg: Trotzdem hat sich selbst Außenminister Heiko Maas, auch von der SPD, von diesem Stiftungsprojekt indirekt distanziert. Hat man eigentlich Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, nicht darauf hingewiesen, welche Konsequenzen ihre Vorgehensweise auch haben könnte, gerade was die bilateralen Beziehungen zwischen Berlin und Washington angeht? Westphal: Ich sage mal, wenn man im Bereich der Sanktionen ist, ist natürlich auf beiden Seiten, was Fairness angeht, dann irgendwann auch das Spielfeld verlassen. Von daher muss man jetzt mal gucken, ob man mit der neuen Administration vielleicht auch auf Augenhöhe mit den Amerikanern noch mal reden kann. Die haben Interesse, ihr Fracking-Gas in Europa, ihr LNG los zu werden, haben aber auch Interesse, mit Deutschland und mit Europa eine Partnerschaft wieder auf Augenhöhe zu führen, und deshalb kann ich mir vorstellen, dass man über solche Fragen auch wesentlich konstruktiver reden kann als in der Vergangenheit. Münchenberg: Trotzdem werden ja hier Fakten geschaffen, jetzt auch durch diese Stiftung. Wie soll da ein Kompromiss-Signal auch jetzt von Berlin in Richtung Washington, oder wie kann das überhaupt aussehen, wenn man jetzt einfach Fakten schafft, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern? Westphal: Inwieweit da Fakten geschaffen werden jetzt mit der Stiftung, das ist zumindest eine Abwehrmaßnahme. Ich glaube, das kann man keinem vorwerfen, weil wie gesagt das Sanktionsrecht der USA nicht gegen Stiftungen geht. Deshalb muss man gucken, inwieweit man dann auch diese Sanktionen, die von amerikanischer Seite versucht werden, dieses Projekt Nord Stream 2 zu verhindern, ob man die nicht ein Stück weit entschärft damit. Aber das ist, denke ich, mal etwas, was man jetzt wirklich in engem Dialog noch mal bereden muss. Ich finde es nur von USA-Seite her schon befremdlich, wenn man im Weißen Haus meint, zumindest zu Trump-Zeiten, man könnte in Brüssel und Berlin Energiepolitik bestimmen. Das finde ich sehr befremdlich. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bernd Westphal im Gespräch mit Jörg Münchenberg
Der Umgang Russlands mit Kreml-Kritiker Alexej Nawalny sei nicht zu tolerieren, sagte SPD-Energiepolitiker Bernd Westphal im Dlf. Es sei aber keine Lösung, Politik zu stark mit Nord Stream 2 zu verknüpfen. Ein Baustopp der Ostsee-Pipeline würde erst einmal den beteiligten Firmen schaden.
"2021-01-21T08:10:00+01:00"
"2021-01-22T12:07:43.276000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/diskussion-um-pipeline-projekt-westphal-fall-nawalny-hat-100.html
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Müller: Es geht nicht nur um fiskalpolitische Diskussion
Peter Kapern: Ende der Sommerpause für die Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU. Heute Abend sind sie zu einer Sondersitzung der Fraktion eingeladen. Das Thema: die Wirtschaftskrise, die Schuldenkrise und die Rettung des Euro. Der Unmut in den vergangenen Wochen ist größer geworden, der Unmut darüber, dass einzelne Abgeordnete der Union mit dem Gedanken spielen, Euro-Bonds doch nicht für Teufelszeug zu halten, oder darüber, dass die EZB ihre Unabhängigkeit aufs Spiel setzt und Staatsanleihen aufkauft. Kurzum: die neuesten Windungen der Schuldenkrise den Wählern zu erklären, das fällt immer mehr Abgeordneten der Union schwer. Heute wird Angela Merkel, die Kanzlerin, Rede und Antwort stehen und bei uns am Telefon ist nun Stefan Müller, der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe. Guten Morgen, Herr Müller.Stefan Müller: Guten Morgen, Herr Kapern.Kapern: Was erwarten Sie vom Auftritt der Kanzlerin?Müller: Nun, zunächst einmal haben wir es für richtig gehalten, dass heute diese Sondersitzung stattfindet, damit die Kanzlerin und auch der Bundesfinanzminister noch vor Ende der Sommerpause über die Vereinbarungen zwischen Deutschland und Frankreich informieren und sicher auch auf das eingeht, was an Bedenken von einigen Kollegen in den letzten Wochen dann geäußert worden ist.Kapern: Wie groß ist die Zahl der Unions-Abgeordneten, die mit einer Mischung aus Wut, Unverständnis und Ratlosigkeit aus der Sommerpause zurückkehren?Müller: Ich will jetzt hier nicht über Zahlen spekulieren. Ich habe da auch keine Erhebung gemacht. Aber ich bin mir sicher, dass natürlich viele in ihren Wahlkreisen und bei den verschiedensten Veranstaltungen jetzt während der Sommerpause auch mit zahlreichen Fragen von Bürgerinnen und Bürgern konfrontiert worden sind, und natürlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen der Eindruck entstanden ist, dass man jedenfalls was die Euro-Rettung angeht eine ganze Reihe von Fragen beantworten muss, und da soll die Sitzung heute Nachmittag und heute Abend natürlich auch Möglichkeiten geben, diese Fragen dann hier deutlich werden zu lassen und auch Antworten zu bekommen.Kapern: Was ist es denn, Herr Müller, genau, was die Bauchschmerzen bereitet bei den Abgeordneten?Müller: Nun, der Eindruck ist natürlich schon entstanden, dass wir von einem Krisengipfel zum anderen eilen, ohne dass es die Finanzmärkte, die Investoren in irgendeiner Art und Weise beeindruckt, und ich glaube schon, dass bei vielen Kolleginnen und Kollegen der Eindruck entstanden ist, dass wir uns zu sehr von den Finanzmärkten treiben lassen. Gleichwohl bleibt: wir müssen als Deutschland natürlich uns auch schon darüber im klaren sein, was wir wollen, und es ist im ureigensten deutschen Interesse, dass der Euro stabil ist und dass wir den Euro auch erhalten, und auch darum wird es heute Nachmittag gehen. Es geht eben nicht nur um eine rein fiskalpolitische Diskussion, sondern es geht eben auch um eine wirtschaftliche Dimension, die Bedeutung des Euro für die deutsche Volkswirtschaft, aber es geht eben auch um eine europapolitische Dimension. Der Euro ist das zentrale Projekt der europäischen Integration und da haben wir als Deutsche auch ein Interesse daran, dass das so bleibt.Kapern: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach hat ja gesagt, er könne gegebenenfalls ohne Nachbesserung dem jüngsten Rettungspaket gar nicht zustimmen im Bundestag. Wie viele CSU-Abgeordnete sehen das auch so?Müller: Bei mir jedenfalls haben sich in den letzten Tagen keine CSU-Abgeordneten in der Form gemeldet, wie es Herr Bosbach tut. Ich weiß auch nicht, ob es gut ist, jetzt schon solche Vorfestlegungen zu treffen, zu einem Zeitpunkt, wo die Texte ja noch gar nicht vorliegen, also die Texte dessen, was im Juli vereinbart worden ist. Es wird das Kabinett sich in der nächsten Woche damit erstmals befassen und wir werden dann in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause am 5. September uns in einer weiteren, der regulären Fraktionssitzung dann auch mit dem Gesetzentwurf befassen und dann in ein reguläres parlamentarisches Verfahren einsteigen, wo dann auch noch offene Fragen geklärt werden können. Deswegen, glaube ich, ist es klüger, im Augenblick sich mit derlei Wortmeldungen und auch schon Ankündigungen, nicht zustimmen zu wollen, etwas zurückzuhalten.Kapern: Wenn ein so gestandener Abgeordneter wie Wolfgang Bosbach mit Nichtzustimmung droht, hat das Signalwirkung für die Fraktion?Müller: In jedem Fall ist es ernst zu nehmen. Aber das ist unabhängig davon, welche Funktion ein Abgeordneter, ein Kollege bekleidet, sondern natürlich sind derlei Bedenken immer ernst zu nehmen und darauf muss auch eingegangen werden. Auch dazu dient die Sondersitzung des heutigen Abends, um jedenfalls die Eckpunkte dessen zu besprechen, was im Juli beschlossen worden ist, aber auch darüber zu reden, was insgesamt im Euro und in der Eurozone verändert werden muss. Wir haben ja nun mehrere Probleme, die den Euro betreffen: wir haben eine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik beispielsweise, es ist ein Problem, dass vor allem die wirtschaftlich schwachen Länder in den Euro eingetreten sind, aber einige starke Länder in Europa außen vor geblieben sind, und auch die Stabilitätskriterien, die wir uns seinerzeit gegeben haben, sind ausgerechnet von Deutschland vor etlichen Jahren als erstes gebrochen worden. Das sind alles Schwierigkeiten, über die zu reden sein wird und die auch verändert werden müssen, und deswegen, finde ich, sollten wir eben nicht nur über Ertüchtigung von Rettungsschirmen reden, sondern auch über das, was im Anschluss daran noch passieren muss im Herbst. Wir werden ja auch noch über die weiteren Rettungsschirme dann ab 2013 reden und über Mechanismen, die dann in Gang gesetzt werden, wenn tatsächlich auch in Zukunft ein Land in eine Schieflage gerät.Kapern: Aber irgendwann, Herr Müller, kommt der Tag der Abstimmung im Bundestag. Wird die Koalition eine eigene Mehrheit zu Stande bekommen?Müller: Davon bin ich überzeugt.Kapern: Was macht Sie so sicher?Müller: Wir haben jetzt heute eine erstmalige Beratung, wir haben noch einige Fragen, die geklärt werden, wir werden dann in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause im Rahmen der Haushaltsberatungen erstmals auch darüber, über diesen Gesetzentwurf beraten, und dazwischen auch noch ausreichend Zeit haben, dann alle offenen Fragen zu klären, die noch anstehen, die auch von Kolleginnen und Kollegen formuliert worden sind, und dann bin ich mir am Ende auch sicher, dass viele überzeugt sein werden, dass es der richtige Weg ist.Kapern: Stefan Müller war das, der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Herr Müller, danke für das Gespräch und auf Wiederhören.Müller: Vielen Dank, Herr Kapern.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Müller im Gespräch mit Peter Kapern
Stefan Müller, parlamentarischer Geschäftsführer der CSU im Bundestag, sagt, dass bei seinen Kollegen der Eindruck entstanden sei, man lasse sich von den Finanzmärkten treiben. Daher müsse beim Treffen der Union zur Schuldenkrise nicht nur über Rettungsschirme gesprochen werden.
"2011-08-23T08:20:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:39.413000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mueller-es-geht-nicht-nur-um-fiskalpolitische-diskussion-100.html
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EU als Konflikt-Vermittler
So klingt Mugham, die traditionelle aserbaidschanische Improvisationsmusik. Die Aserbaidschaner sind stolz auf sie, und wenn es nach dem Dirigenten Dzherbrael Abasaliyev geht, dann hat die Musik weltbekannte Komponisten inspiriert. Zum Beispiel Johann Sebastian Bach."Diese Melodie gibt es auch im Mugham. Das hat Bach in Deutschland geschrieben, und wir haben auch so etwas. Unser aserbaidschanischer Mugham ist wirklich eine große Sache."Die Aserbaidschaner geben sich selbstbewusst gegenüber den Europäern - auch im Hinblick auf die "Östliche Partnerschaft" der EU. Das Land exportiert seit einigen Jahren Öl und Gas aus dem Kaspischen Raum nach Europa, an Russland vorbei; und Samad Seyidov, Vorsitzender des Außenausschusses im Parlament von Aserbaidschan, lässt keinen Zweifel daran, wer hier von wem etwas lernen kann."Was wir von der 'Östlichen Partnerschaft' erwarten, ist Verständnis, Verständnis und noch mal Verständnis. Wir wollen Europa nicht anbeten. Wir wollen ein echter, starker, demokratischer und akzeptierter Partner für Europa sein. Wir wollen Europa nicht, weil Europa so großartig und attraktiv für den Rest der Welt ist. Nein! Wir haben selbst genug Werte. Die wollen wir mit Europa teilen. Und wenn wir unsere Werte teilen, werden Sie sehen, dass Aserbaidschan wirklich attraktiv, interessant und wichtig für Europa ist. Die romantische Periode, in der Europa seine Werte und seinen Einfluss einfach so verbreiten konnte, ist vorbei."Anders als das Nachbarland Georgien, das dringend EU-Mitglied werden will, verknüpft Aserbaidschan mit dem Partnerschaftsprogramm keine Hoffnungen auf einen schnellen Beitritt zu der Staatenfamilie. Die Aserbaidschaner betreiben eine ausgewogene Außenpolitik und bemühen sich um gute Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu Russland; unter anderem, weil es dort eine sehr große aserbaidschanische Exil-Gemeinde gibt. Und auch der dritte Südkaukasusstaat, Armenien, will es sich nicht mit Russland verderben. Armenien gilt als der engste Verbündete Russlands in der Region und hat sogar freiwillig russische Truppen auf seinem Gebiet. Avet Adonts, Vorsitzender des Ausschusses für Europäische Integration im Parlament von Armenien, betont:"Wir hatten immer gute Beziehungen zu Russland. Die sind uns sehr wichtig, und wir werden sie nicht aufs Spiel setzen, nur um die Beziehungen zu irgendeinem anderen Land zu verbessern."Die Armenier hoffen vor allem auf intensivere Wirtschaftsbeziehungen zur EU sowie auf leichtere Visabestimmungen. Die neue Ostpartnerschaft der EU sieht auch vor, dass die beteiligten osteuropäischen Länder ihre Zusammenarbeit untereinander verstärken. Im Fall von Armenien und Aserbaidschan dürfte das schwierig werden. Beide Länder streiten seit bald 20 Jahren um die Konfliktregion Berg-Karabach. Das überwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet befindet sich innerhalb der Grenzen Aserbaidschans, hat sich aber Anfang der 90er-Jahre für unabhängig erklärt. Es kam zum Krieg, den die Armenier gewannen. Sie halten seitdem nicht nur Karabach, sondern auch eine Pufferzone um das Konfliktgebiet herum besetzt: Insgesamt etwa ein Fünftel der Fläche Aserbaidschans. Aserbaidschan blockiert deshalb regelmäßig alle Projekte, an denen Armenien beteiligt ist. Der armenische Parlamentarier Avet Adonts hofft, dass die EU die Aserbaidschaner nun umstimmt."Das Blockade-Verhalten von Aserbaidschan entspricht nicht den Spielregeln der Europäischen Union. Die EU darf davor nicht die Augen verschließen, nur weil sie sich bestimmte Vorteile im Ölhandel verspricht."Der aserbaidschanische Abgeordnete Samad Seyidov weist diese Forderung als absurd zurück. Schließlich sei Armenien der Aggressor."Wir würden nur zu gern mit Armenien kooperieren. Aber leider sind die aserbaidschanischen Gebiete nach wie vor besetzt. Alle Staaten dieser Welt haben anerkannt, dass diese Gebiete zu Aserbaidschan gehören. Das soll bitte auch Armenien respektieren. Wir wollen regionale Kooperation. Aber erst müssen die Besatzungskräfte abziehen."
Von Gesine Dornblüth
Die neuen Mitglieder des Ostpartnerschaft-Abkommens mit der EU, Aserbaidschan und Armenien, geben sich selbstbewusst. Beide hoffen nicht auf einen EU-Beitritt, sondern wünschen sich lediglich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit - sowie eine Vermittlung der EU im Streit um die Grenzregion Berg-Karabach.
"2009-05-08T09:10:00+02:00"
"2020-02-03T09:38:07.658000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-als-konflikt-vermittler-100.html
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Der halbherzige Kampf ums Klima
Forschende prognostizieren eine Heißzeit (imago stock&people / blickwinkel M. Schaef) Auch nach der angekündigten Verschärfung sind die Klimaschutzziele der EU nicht so ehrgeizig wie die der Bundesrepublik. Allerdings nur auf dem Papier, erklärt Gerorg Ehring, Leiter der Deutschlandfunk-Umweltredaktion. Vor allem für Deutschland gelte jetzt: Wenn es seine Klimaschutzziele bis 2030 erreichen wolle, dann müsse die Bunderepublik vor allem mal anfangen. Der Textilunternehmer Wolfgang Grupp hat 36 Flüchtlinge in seinem Betrieb eingestellt. Merkels Flüchtlingspolitik von 2015 hält er dennoch für einen Fehler. Im Umgang mit den Migranten wünscht er sich von der Polititk nun aber etwas mehr Pragmatismus. Kaum ein Markt wächst so rasant wie der Markt der Computerspiele. Die weltgrößte Messe findet jährlich in Köln statt. DLF-Reporter Martin Schütz erklärt die neusten Trends der Gaming-Industrie, und warum in der Computerspiele-Szene derzeit keine großen Moraldebatten geführt werden.
Von Philipp May
Die EU will ihre Klimaschutzziele verschärfen, doch reicht das um das Klima zu retten. Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung aus Sicht eines Familienunternehmers. Und: Warum die Computerspielemesse Gamescom Millionen Menschen in ihren Bann zieht.
"2018-08-21T17:00:00+02:00"
"2020-01-27T18:07:10.459000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-der-halbherzige-kampf-ums-klima-100.html
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Warten auf das große Beben
Christiane Knoll
Rund 40 Meilen hinter Los Angeles, dort wo die pazifische und die nordamerikanische Platte aufeinanderstoßen, zieht sich der San Andreas Graben durch die Hügellandschaft Kaliforniens. Fast schnurgerade, über 1100 Kilometer. Immer noch schieben sich hier die beiden Platten aneinander vorbei. Nicht ohne Folgen, denn zwangsläufig hakt es an einigen Stellen gewaltig. Früher oder später, so die Überzeugung der Experten, wird sich die Spannung in einem großen Erdbeben entladen, und den Großraum Los Angeles kräftig erschüttern. Die Frage ist nur 'wann' und 'wie stark'. Einen Tag lang ist Christiane Knoll mit Geophysikern am Graben entlanggefahren - auf den Spuren vergangener Beben, und auf der Suche nach Forschungsprojekten, die es den Forschern erlauben sollen, die künftigen Beben oder zumindest deren Folgen abzuschätzen.
"1999-04-18T16:30:00+02:00"
"2020-02-04T11:15:21.990000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/warten-auf-das-grosse-beben-100.html
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US-Notenbank erhöht Zinsen deutlich
Die US--Notenbank Fed hat wegen der hohen Inflation die Zinsen zum dritten Mal angehoben. (picture alliance / dpa / Silas Stein)
Kindermann, Klemens
Die US-Notenbank hat den Leitzins in kürzester Zeit zum dritten Mal angehoben. Damit will Notenbankchef Jerome Powell die hohe Inflation im Land bekämpfen. Klemens Kindermann erklärt, was das für die Wirtschaft bedeutet und wie die Lage in Europa ist.
"2022-09-22T07:35:42+02:00"
"2022-09-22T07:49:51.694000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-wirtschaftsgespraech-us-notenbank-erhoeht-zinsen-deutlich-dlf-73b98374-100.html
91,492
"Die Blamage geht weiter"
Das Urteil der Stiftung Warentest ist hier recht eindeutig - "die Blamage geht weiter" - so hieß es heute wörtlich bei der Berliner Verbraucherinstitution. Das Gesamtergebnis ist in der Tat alles andere als erfreulich für die Banken, die nach der Finanzmarktkrise ja auch Besserung versprochen hatten. Geblieben davon scheint wenig – die Stiftung Warentest hat fast 150 Gespräche in Bankfilialen von 21 Kreditinstituten geführt. Sechsmal gab es die Note mangelhaft, 12 Mal ausreichend und lediglich in drei Fällen konnte noch ein befriedigend vergeben werden. Aber: Kein einziges Kreditinstitut hat gut beraten – das sei schon enttäuschend.Genau gesagt, verstoßen die Banken damit oft sogar gegen das Wertpapierhandelsgesetz. Denn verantwortlich für die schlechten Noten sind fast flächendeckend fehlende Beratungsprotokolle, die die Banken eigentlich führen müssten. Stefanie Pallasch vom Bereich Dienstleistungen bei der Stiftung Warentest:"In 126 von 146 Fällen waren Wertpapiere Gegenstand des Beratungsprotokolls. Nur an 61 Kunden, also noch nicht einmal die Hälfte, wurde das Beratungsprotokoll ausgehändigt. 65 Kunden wurde die Aushändigung des Protokolls verweigert, obwohl sie ausdrücklich darum baten. Als Begründung gab es verschiedene Argumente. In 44 Fällen wollten die Bankmitarbeiter das Beratungsprotokoll nur aushändigen, wenn es tatsächlich zum Geschäftsabschluss kommt. Gesetzlich vorgeschrieben ist aber, dass die Aushändigung unmittelbar nach der Beratung erfolgen soll." Dabei ist das Führen und Aushändigen eines solchen Beratungsprotokolls seit dem 1. Januar Pflicht – von gesetzlicher Seite war dies als eine Konsequenz aus der unzureichenden Beratungsqualität der Banken gedacht gewesen.Und auch direkt im Gespräch zwischen Anlageberater und Bankkunden laufe weiterhin zu viel schief. Hermann Josef-Tenhagen, Chefredakteur der Zeitschrift "finanztest", macht dies schon anhand von Grundvoraussetzungen eines Beratungsgespräches deutlich:"Rund ein Drittel unserer Kunden wurde nicht nach ihrem Einkommen, ihren Vermögensverhältnissen und ihrer Ausbildung gefragt. Dabei sind auch diese Fragen gesetzlich vorgeschrieben. Vor allem aber sind sie wichtig, weil der Berater ohne diese Kenntnis vom Kunden nicht gut und anlegergerecht beraten kann. Der Berater könnte zum Beispiel zu einer mittelfristigen Geldanlage raten, obwohl der Kunde sein Girokonto mit Tausenden Euro überzogen hat – eine wirtschaftlich völlig unsinnige Empfehlung." Dabei waren die Vorgaben der Stiftung Warentest für das Beratungsgespräch nicht außergewöhnlich. Die Testkunden wollten 35.000 Euro für zehn Jahre anlegen. Am Ende sollte das Kapital auf jeden Fall sicher vorhanden sein. Und der Zugriff sollte auch während der Anlagedauer zwischenzeitlich möglich sein. Man hätte also einen Großteil des Geldes sicher anlegen können, einen Teilbetrag sogar mit einem gewissen, überschaubaren Risiko. Doch auch hier konnten die wenigsten Banken überzeugen."In den meisten Fällen haben die Berater allerdings ein zu riskantes Konzept empfohlen. Ein Viertel der Berater hielt den Anlagewunsch sogar für nicht erfüllbar. Fünf der sieben Berater der 'Targobank' behaupteten, die Aufgabe sei nicht lösbar, Berater der 'SEB' wollten das Geld zu riskant in Aktienfonds oder in einem Expresszertifikat anlegen. Bei der 'Targobank' und einigen 'Sparda'-Banken gab es zudem die Empfehlung zu teuren und unflexiblen Rentenversicherungen. Und einige Berater der Deutschen Bank rieten zu Bausparverträgen – attraktiv sind hier vor allem die hohen Provisionen." Somit sei die Beratungsqualität der Banken in Deutschland in den vergangenen Monaten nicht viel besser geworden, so das Fazit der Stiftung Warentest. Allenfalls in Einzelfällen seien Besserungen wahrnehmbar. Hermann-Josef Tenhagen über mögliche Konsequenzen:"Das Erlassen von Gesetzen hilft dem Verbraucher nur zum Teil. Die Einhaltung der Gesetze muss auch bei Banken kontrolliert werden und bei Verstößen muss es Sanktionen geben. Tempo 80 auf der Landstraße wird einfach besser eingehalten, wenn vor der Kurve ein Blitzgerät steht und ein Bußgeld oder gar der Führerscheinentzug droht."Zum wiederholten Mal also kann die Stiftung Warentest kein gutes Gesamturteil über die Anlageberatungsqualität in Deutschland abgeben. Einen Testsieger gab es nicht. Drei Sparkassen immerhin konnten noch mit der Note befriedigend davonkommen. Es sind dies die Hamburger Sparkasse, die Sparkasse Hannover und die Kreissparkasse Köln. Alle anderen hätten bei der Beratung zu viele Mängel, so die Stiftung Warentest.
Von Dieter Nürnberger
Zum wiederholten Mal bewertet die Stiftung Warentest die Anlageberatungsqualität der Banken als miserabel. Nur drei Sparkassen kamen mit der Note befriedigend davon - die meisten Gespräche endeten mit noch schlechteren Zensuren.
"2010-07-20T11:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:11:56.604000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-blamage-geht-weiter-100.html
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Braindrain hält in Polen an
Viele junge Polen studieren in Warschau und gehen dann ins Ausland. (imago / BE&W) Antonina sitzt vor dem Biologie-Gebäude und ruht sich aus. Der Campus der Naturwissenschaften im Warschauer Süden ist modern, ein neues Gebäude neben dem anderen, und auch das Studium sei auf höchstem Niveau, sagt Antonina. Die 22-Jährige studiert Biotechnologie - eine Zukunftswissenschaft. Sie kann sich einmal aussuchen, wo sie arbeiten will. Wird es Polen sein? Sie gibt die Frage an ihre Freundinnen weiter, die ein paar Meter abseits stehen. "Nein", sagte eine spontan, die andere: "Ich weiß noch nicht". Auch Antonina ist unschlüssig. Mit dem polnischen Abschluss ins Ausland "Wir waren vor Kurzem in Berlin und haben mal die Preise verglichen. Eine Wohnung zu mieten ist dort billiger als hier in Warschau. Dann war da in der U-Bahn ein Aushang: Leute werden für den Direktverkauf am Telefon gesucht - 13 Euro pro Stunde. Ich weiß nicht, ob ich in der Biotechnologie hier so viel verdienen werde. Da frage ich mich schon, ob es sich lohnt, mit einer solchen Qualifikation hier zu bleiben." Viele polnische Studenten denken so. Fast jeder zweite erwägt, nach dem Abschluss das Land Richtung Westen zu verlassen, hat gerade eine Umfrage ergeben. Dabei locken nicht alleine die höheren Gehälter. Westliche Firmen böten mehr Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln, gaben die Befragten an. Außerdem kritisierten sie die Unternehmenskultur in Polen: Sie erwarteten ein eher partnerschaftliches Verhältnis zwischen ihnen und den Arbeitgebern. Ein alarmierender Befund, sagt Piotr Palikowski von der Arbeitgeber-Organisation, die die Umfrage in Auftrag gab. "Mich hat das Ergebnis traurig gemacht, wir dürfen das nicht einfach hinnehmen. Nicht nur die Politik sollte auf diese Stimmung reagieren, sondern auch die Firmen. Unsere Mitglieder sind vor allem große Unternehmen, aber immer mehr Mittelständler kommen zu uns. Sie sagen, sie wollen ihre Mitarbeiter anders betreuen und suchen nach Spezialisten auf diesem Gebiet. Ihnen fehlt es an Fachkräften, bei manchen ist dadurch schon die Existenz bedroht." Emigrationswelle hält weiter an Polen gelten als besonders mobil. Nach dem EU-Beitritt 2004 wanderten sie in Scharen aus. Etwa 2,2 Millionen leben heute in anderen EU-Ländern. Am meisten gingen nach Großbritannien, gefolgt von Deutschland. Die jüngste Umfrage sorgte deshalb für so großes Echo, weil viele Forscher annahmen, die große Auswanderungsbewegung sei vorbei. So verließen 2013 nur noch etwa 70.000 Menschen das Land. Manche kommen sogar wieder zurück, so Agnieszka. Nach ihrem Studium im Fach Public Relations ging die 25-Jährige für ein halbes Jahr nach London. Sie hielt sich dort mit einem Job in einer Küche über Wasser. "Aber ich will eigentlich nicht bis an mein Lebensende Pommes frites braten, ich habe höhere Ambitionen. Deshalb bin ich wieder hier, ich will in meinem Beruf arbeiten. Leider habe ich bisher keine Stelle gefunden, noch nicht mal ein Praktikum. Wenn sich das nicht ändert, gehe ich zurück nach England. Denn bevor ich hier in der Küche stehe, tue ich es lieber dort, da trainiere ich wenigstens mein Englisch." Die Emigration ist natürlich auch ein Thema im laufenden Wahlkampf vor der Parlamentswahl im Oktober. Die Opposition hält der Regierung vor, dass sie nichts unternommen hat. Vor allem hätte sie für höhere Gehälter sorgen müssen, so der Vorwurf. Tatsächlich stieg das durchschnittliche Gehalt in den vergangenen Jahren schrittweise auf umgerechnet etwa 1.000 Euro brutto im Monat. Für viele Menschen geht der Anstieg aber nicht schnell genug - zumal die Unternehmensgewinne deutlich rascher zunahmen. So liegt der Anteil der Gehälter am Bruttoinlandsprodukt bei nur 45 Prozent. In Deutschland sind es zehn Prozentpunkte mehr. Aber nicht alle jungen Leute halten das Thema für so wichtig, wie es im Wahlkampf dargestellt wird. Piotr, der ebenfalls Biotechnologie studiert: "Ich fahre viel durch Polen und sehe, wie viele Autobahnen gebaut werden. Es geht doch voran bei uns. Wenn jemand ins Ausland geht, dann heißt das doch nicht, dass er nie mehr zurückkommt. Vielleicht kommt er mit ganz neuen, wertvollen Erfahrungen zurück und gründet selber eine Firma." Darüber denkt auch Antonina nach. Im nächsten Semester wird sie erst einmal bei einem Auslandsaufenthalt in Italien sein.
Von Florian Kellermann
1.000 Euro brutto ist das Durchschnittsgehalt in Polen. Dazu kommen hohe Mieten und Lebenshaltungskosten in den Metropolen. Kein Wunder, dass die Polen als auswanderfreudiges Völkchen gelten. Die Emigration von Fachkräften ist auch Thema im aktuellen Parlamentswahlkampf.
"2015-08-08T14:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:35.733000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fachkraefteabwanderung-braindrain-haelt-in-polen-an-100.html
91,494
Proteste von Aktionären wegen Monsanto-Übernahme
Teilnehmer einer Protestaktion vor der Hauptversammlung der Bayer AG am 25.05.2018 demonstrieren gegen die Fusion von Bayer und Monsanto mit einem Wellenbrecher und Fahnen. (dpa) Stefan Römermann: Frau Reimer, es sind ja viele Proteste und Demos rund um die Bayer-Hauptversammlung angekündigt gewesen. Was ist es denn die Hauptkritik? Jule Reimer: Die Fraktion der bäuerlichen Familienbetriebe sieht sich durch die Fusion der Agrarriesen in ihrer Existenz bedroht, weil die Patentgesetzgebung mittlerweile weltweit sehr Agrarindustrie-freundlich ausgestaltet ist. Patente heißt: Für die Verwendung dieses Saatguts muss gezahlt werden. Das heißt, die Landwirte müssen das Saatgut kaufen und Teile der Ernte dürfen nicht ohne zusätzliche Lizenzabgaben bei der erneuten Aussaat verwendet werden. Aus Sicht von Bayer oder Monsanto ist das die notwendige und angemessene Vergütung für deren Forschungsaufwand. Aus Sicht der kleineren Landwirte gefährlich, weil damit der Zugang zu wichtigen Lebensmitteln in der Hand von wenigen Agrarkonzernen liegen könnte. Stefan Römermann: Was sagen die Umweltschützer? Jule Reimer: Den Umweltschützern geht es ebenfalls um Saatgut-Patente, aber auch um den Erhalt der Biodiversität allgemein. Bayer will mit dem Kauf von Monsanto zum Weltmarktführer für Agrarchemie und Saatgut aufsteigen. Beide Unternehmen stellen umstrittene synthetische Pestizide her. Am Mittwoch hat zum Beispiel die Kommission der deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina verheerende Schäden in der Natur durch den Einsatz chemischer Pestizide konstatiert. Stefan Römermann: Wie erfolgreich ist Bayern denn bisher mit seiner Produktpalette? Jule Reimer: Der Konzern - und auch Monsanto – hat bisher mit Pflanzenschutz, wie Bayer das Marktsegment der Pestizide nennt, gutes Geld verdient. Aber der Wind dreht sich. In Europa wurden gerade drei Insektizide aus der Gruppe der Neonicotinoide weitgehend verboten, da es als erwiesen gilt, dass sie für Honigbienen und Wildinsekten gefährlich sind. Andere Neonicotinoide bleiben weiter erlaubt. Die Zulassung für Glyphosat wurde zwar prinzipiell auf EU-Ebene für weitere fünf Jahre verlängert. Aber insgesamt ist ein Ende absehbar. Meines Erachtens sehen Bayer und Monsanto das auch so. Denn es mehren sich in den USA und Lateinamerika Meldungen über Resistenzen gegen Glyphosat, da diese Produkte dort großflächig und in großen Mengen eingesetzt wurden und werden. Europageschäft von Agrokonzernen wie Bayer bedroht Zukünftig könnten sich auch die Rahmenbedingungen für den Einsatz synthetischer Pestizide verschlechtern. Die EU-Gesetzgebung verpflichtet die Agrarbranche auf die Entwicklung biologischer Schädlingsbekämpfung. In Brüssel tobt gerade der Kampf um die künftige Ausrichtung der EU-Agrarpolitik ab 2021. Rund 50 Milliarden werden da bisher verteilt. Und die Frage ist, ob dies weiter mehrheitlich nach dem Gießkannenprinzip geschieht oder nur, wenn Landwirte und Agrarunternehmen umweltschonende Verfahren anwenden. Ein weiteres Thema ist Gentechnik. Der Europäische Gerichtshof (EuGh) wird in den nächsten Wochen entscheiden, ob neuartige gentechnische Verfahren wie Crispr/Cas Gentechnik im Sinne des EU-Rechts sind. Wenn sie so bewertet werden, dann wäre der Anbau solcher Pflanzen streng reguliert und die Produkte darauf müssten gekennzeichnet werden. All das könnte das Europageschäft von Agrokonzernen wie Bayer erheblich beeinträchtigen. Andererseits: Trump dereguliert gerade in den USA Umweltauflagen, auch in der Landwirtschaft. In Lateinamerika hat Monsanto sich mit seinem Gentec-Saatgut durchgesetzt. China setzt auf die Agro-Industrie. Will heißen, das internationale Umfeld ist für so einen Global Player möglicherweise viel wichtiger als Europa. Stefan Römermann: Die EU hat der Fusion ja inzwischen unter Auflagen zugestimmt. Die Zustimmung aus den USA steht noch aus. Kann die Übernahme noch platzen? Jule Reimer: Eine beeindruckende Reihe von Kartellbehörden muss hier zustimmen. Die EU, Indien, Brasilien, China und Russland haben die Übernahme von Monsanto durch Bayer unter Auflagen genehmigt. Der Konzern muss dafür weite Teile seines bisherigen Saatgut- und Herbizid-Geschäfts abstoßen – was übrigens auch nicht alle Aktionäre gut finden. Die Entscheidung der US-Behörden steht noch aus. Das Wall Street Journal hatte berichtet, das Justizministerium habe die Prüfung weitgehend positiv abgeschlossen. Aber US-Präsident Trump mit seinem "America-First"-Credo gilt als unberechenbar. Und wer weiß, ob er nicht in der Übernahme eines US-Agrarunternehmens durch einen deutschen Konzern plötzlich eine Gefährdung der US-Landwirtschaft und der nationalen Sicherheit entdeckt.
Stefan Römermann im Gespräch mit Jule Reimer
Die EU hat der Fusion der Agrarkonzerne Bayer und Monsanto unter Auflagen zugestimmt. Die Einwilligung der USA steht noch aus. Bäuerliche Kleinbetriebe kritisieren die Übernahme, berichtet Umwelt-Redakteurin Jule Reimer im Dlf. Die Landwirte sähen sich durch den Preis des konzerneigenen Saatguts in ihrer Existenz bedroht.
"2018-05-25T11:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:53:51.385000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bayer-hauptversammlung-proteste-von-aktionaeren-wegen-100.html
91,495
Ringen mit EU-Abhängigkeiten
Für Portugal ist es enorm wichtig, dass der Streit um den EU-Haushalt so schnell wie möglich beigelegt wird (dpa / picture-alliance / Peter Zimmermann) In einer Gärtnerei in Sintra, rund 20 Kilometer westlich von Lissabon, stehen am Mittag bereits die letzten Kunden vor der Kasse. Am Wochenende und an Feiertagen müssen die Geschäfte in Portugal bereits so früh schließen – danach herrscht eine Ausgangssperre. Mit diesen Maßnahmen will die Regierung die zweite Coronawelle ausbremsen. Tiago Veloso, leitender Angestellter in der Gärtnerei, kann die Einschränkungen zwar nachvollziehen. Er hofft jedoch, dass er die Weihnachtsbäume und den bunten Schmuck noch verkaufen kann. Denn die Gärtnerei, so Veloso, leide bereits unter der Krise in der Tourismusbranche: "Wir beschäftigen Gärtner, die sich eigentlich um die Pflege der Hotel-Anlagen kümmern. Und diese Aufträge haben wir jetzt verloren. Unsere Leute haben viel weniger zu tun. Wir müssen sehen, wie es weitergeht. Ich hoffe, wir können die Angestellten behalten. Aber in dieser Pandemie ist die Zukunft ungewiss." Portugals Migrationspolitik in Coronakrise - Bleiberecht gilt nicht für alleDie Maßnahme hat internationales Lob hervorgerufen: Auf dem Höhepunkt des Corona-Ausbruchs hatte Portugal ein vorläufiges Bleiberecht für Immigranten angekündigt, damit sie Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen erhalten. Doch nicht für alle Immigranten gilt diese Regelung. Der Gärtnerei ging es in diesem Jahr so wie der ganzen portugiesischen Wirtschaft: es war eine Berg- und Talfahrt. Im Lockdown im April schlitterte Portugal in die Krise; doch in den Sommermonaten konnte die Wirtschaft um über 13 Prozent im Vergleich zum Frühjahrsquartal zulegen. Jetzt droht wieder eine lange Durststrecke. Bereits im Oktober lag die Arbeitslosenquote bei 7,5 Prozent und damit um einen Prozentpunkt höher als im Vorjahr. Gute Zeiten, schlechte Zeiten Das hat auch mit der Abhängigkeit der portugiesischen Wirtschaft vom Tourismus zu tun. Vor der Pandemie ein boomender Bereich, der dem Land ein starkes Wirtschaftswachstum bescherte. Doch diesen Aufschwung habe die sozialistische Regierung nicht richtig genützt, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Pedro Braz Teixeira: "Vor der Pandemie haben die Linksparteien zwar darüber gesprochen, dass sie mehr öffentliche Investitionen tätigen wollen. Aber dann haben sie genau das Gegenteil getan. Sie haben trotz des Wirtschaftsbooms immer weniger investiert. Ihre Prioritäten lagen woanders: Sie haben die Löhne der Staatsbediensteten erhöht und die 35-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst eingeführt." Die Folgen sind auch im staatlichen Gesundheitssystem zu spüren, wo nun ein höherer Bedarf an Personal herrscht, Fachkräfte aber händeringend gesucht werden. Die verhaltene öffentliche Investitionspolitik scheint die Regierung nun auch in der Corona-Pandemie beizubehalten. Abhängigkeit von Brüssel wächst Laut EU-Kommission ist Portugal nach Irland das EU-Land, das am wenigsten öffentliche Gelder im Haushalt bereit stellt, um die Wirtschaftskrise in diesem und im kommenden Jahr zu bekämpfen. Die portugiesische Regierung setzt vor allem auf Gelder und billige Kredite aus dem EU-Corona-Hilfspaket, um Unternehmen zu unterstützen oder Kurzarbeit zu bezahlen. Das bringe die Regierung in eine hohe Abhängigkeit, sagt Pedro Braz Teixeira: "Portugal braucht die EU-Gelder viel dringender als die meisten EU-Länder; und deshalb ist es für Portugal auch enorm wichtig, dass der Streit um den EU-Haushalt so schnell wie möglich beigelegt wird. Denn aus eigenen Stücken hat das Land fast keinen Spielraum, um die Wirtschaft zu stützen." Diese Abhängigkeit von den Brüsseler Geldtöpfen mag auch die Haltung Portugals im jüngsten EU-Finanzstreit mit Polen und Ungarn erklären. Die Tageszeitung "Público" zitiert in einem Artikel aus den Akten nicht öffentlicher EU-Ratssitzungen: Demnach habe sich die portugiesische Regierung bereits im Jahr 2018 für die Position der beiden osteuropäischen Staaten stark gemacht, die die Frage der Rechtsstaatlichkeit getrennt von den EU-Geldern behandeln wollen. Ähnlich hatte sich in jüngster Zeit auch schon Premierminister António Costa geäußert. Doch jetzt rudert Costa in einem Interview mit der Online-Zeitung Observador zurück und betont, dass sich Portugal und die anderen EU-Länder von Polen und Ungarn nicht erpressen lassen werden. Sollte beim bevorstehenden EU-Gipfel keine Lösung gefunden werden, wird der Streit um den EU-Haushalt den Portugiesen in die Hände fallen: Denn Portugal übernimmt im Januar den Ratsvorsitz der EU.
Von Tilo Wagner
Portugal übernimmt am 1. Januar die EU-Ratspräsidentschaft. Sollte der Streit mit Ungarn und Polen über Haushalt, Corona-Hilfen und Rechtsstaatlichkeit nicht gelöst sein, tritt Portugal ein schweres Erbe an. Dabei ist es selbst schwer belastet und rutscht in wachsende Abhängigkeit von Brüssel.
"2020-12-03T09:10:00+01:00"
"2020-12-04T11:23:36.984000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugal-ringen-mit-eu-abhaengigkeiten-100.html
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Rock'n'Roll als Antwort
Larkin Poe: Die beiden Schwestern Rebecca Lovell (l.) und Megan Lovell im Deutschlandfunk. (Deutschlandradio / Adalbert Siniawski) Fabian Elsäßer: Rebecca und Megan Lovell, der erste Titel des Albums, "Sucker Puncher", attackiert den Hörer regelrecht mit einer Rohheit, die man so bisher nicht von Ihnen kannte – gibt es eine Erklärung für diesen neuen Härtegrad in Ihrer Musik? Rebecca Lovell: "Ach Du meine Güte! Ganz einfach gesagt: Ich habe Anfang des vergangenen Jahres eine üble Trennung durchgemacht. Und als wir neue Musik geschrieben haben, gab es da wohl einige emotionale Anspannung, die wir loswerden mussten. Es war, glaube ich, wirklich wichtig, im Text etwas von dieser Existenzangst und Wut zu vermitteln. Und die Musik musste dem folgen." Megan Lovell: "Rock‘n‘Roll ist eine großartige Antwort auf so etwas!" Fabian Elsäßer: "Es war also keine bewusste Entscheidung, rocklastiger zu werden, wobei Ihre Musik dieses Element ja schon immer hatte, sondern rein biografisch bedingt?" Rebecca Lovell: "Absolut. Außerdem waren wir jetzt sechs Jahre lang fast ununterbrochen auf Tour und für uns hat das irgendwie Sinn ergeben, immer heftiger zu spielen. Wir haben die Verstärker immer noch ein bisschen weiter aufgedreht und mehr Verzerrung eingebaut. Und die Bühnen, auf denen wir mittlerweile spielen, verlangen fast schon von selbst nach mehr Rock’n‘Roll." Fabian Elsäßer: "Hat sich auch an Ihrer Arbeitsweise etwas verändert?" Megan Lovell: "Der größte Unterschied war wohl die Zeit. Für das erste Album hatten wir viel mehr Zeit, diesmal war alles viel konzentrierter. Das mag ich eigentlich lieber, denn man ist dann zwar nicht so perfektionistisch, dafür aber Ehrlicher. Die Solos haben wir zum Beispiel viel öfter am Stück aufgenommen, statt sie irgendwie aus Einzelteilen zusammen zu setzen." Existenzangst und Wut in Songs verarbeitet Rebecca Lovell: "Beim Gesang ist das genauso. Wir haben oft nur einen einzigen Durchgang dafür gebraucht. Und es fühlt sich dadurch mehr wie eine Live-Aufnahme an, viel authentischer, viel näher an dem, was wir auf der Bühne machen. Und ich würde auch sagen, dass wir inzwischen mit zunehmendem Alter genaue Vorstellungen davon haben, was im Studio passieren soll. Wir sind bei diesen fünf neuen Songs penibler gewesen als früher." Fabian Elsäßer: "Haben Sie schon immer zusammengeschrieben oder gab es da auch einen Unterschied?" Megan Lovell: "Das wechselt von Song zu Song. Manchmal ist sie dran, manchmal ich, oder wir schreiben auch mal von Anfang an zusammen. Aber in jedem Stück steckt Arbeit von uns beiden. Das ändert sich nicht." Rebecca Lovell: "Wir sind lebenslange kreative Partner!" Fabian Elsäßer: "Trotzdem wirkt es auf Videos von Ihren Konzerten so, als wären die Rollen fest verteilt, mit Rebecca als Lead – und Megan als Background-Sängerin. War das schon von Anfang an so oder mussten Sie darum kämpfen?" Rebecca Lovell: "Oh nein. Wir haben uns eher darum gestritten, wer den Leadgesang übernehmen muss! Das wollte eigentlich keine von uns machen." Gesang steht nur an zweiter Stelle Megan Lovell: "Wir lieben es, Instrumentalisten zu sein, der Gesang steht meist an zweiter Stelle. Aber sie hat die stärkere Stimme, deswegen habe ich da gerne klein beigegeben." Fabian Elsäßer: Es gibt also keine Rivalität zwischen Ihnen beiden? Rebecca Lovell: "Was das betrifft, nicht. Wenn wir so etwas überhaupt mal haben, dann meist, wenn Megan ein verboten gutes Lap-Steel-Solo spielt, bei dem den Leuten die Kinnlade runterklappt. Dann versuche ich irgendwie, auf meiner Gitarre mitzuhalten." Fabian Elsäßer: Megan, wie kamen Sie überhaupt zur Lap-Steel, oder ist es eine Lap-Slide-Gitarre? Megan Lovell: "Eine Lap-Steel-Gitarre. Ich weiß auch nicht. Ich habe es mit der elektrischen, der akustischen Gitarre und mit der Mandoline versucht, aber nichts davon hat so recht zu mir gepasst. Ich bin wohl dazu bestimmt, Slide zu spielen. Als ich das zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich sofort zum singenden Ton dieses Instruments hingezogen gefühlt. Ich glaube, das ist meine wahre Stimme, viel mehr als meine Singstimme. Ich singe gerne die Zweitstimmen, aber am liebsten singe ich mit der Lap-Steel-Gitarre!" Fabian Elsäßer: Es sieht aber ziemlich unbequem aus, denn Sie haben sie sich waagerecht vor die Hüfte geschnallt. Ich hätte, glaube ich, nach fünf Minuten Rückenschmerzen. Rebecca Lovell: "Sie glauben nicht, wie schwer das Ding ist!" Megan Lovell: "Das komfortabelste Instrument ist es nicht. Die meisten spielen es ja auch im Sitzen auf dem Schoß. Das habe ich vielleicht sogar erfunden, vermute ich mal, diese kleine Halterung, mit der ich im Stehen spielen kann." Fabian Elsäßer: Sie haben vor Larkin Poe schon Karriere als Musikerinnen gemacht, mit Ihrer großen Schwester Jessica zusammen. Da waren Sie doch noch unglaublich jung? Rebecca Lovell: "Sehr jung. Als wir angefangen haben zu touren, muss ich so um die 15 und Megan 16 Jahre gewesen sein. Wir hatten viel Glück, dass wir schon in so jungem Alter so viele Erfahrungen sammeln konnten. Zu wissen, wie man auf Tour geht oder im Studio aufnimmt und die ganzen Einzelheiten des Alltags in einer Vollzeit-Rockband kennenzulernen." Fabian Elsäßer: Haben Sie sich denn damals, mit 15, 16 wie Stars gefühlt? Rebecca Lovell: "Oh nein. Es hat sich total normal angefühlt. Wir haben einfach den Minivan beladen und unterwegs unsere Hausaufgaben gemacht. Wir wurden nämlich zu Hause beschult. Wir sind einfach umhergefahren. Wenn man so jung ist, wird alles, was man tut, irgendwann zum Alltag." Megan Lovell: "Wir lieben, was wir tun, aber es ist kein leichtes Leben. Das haben wir schon von Anfang verstanden. Den glamourösen Aspekt gibt es da eigentlich nicht." Fabian Elsäßer: Journalisten suchen ja gerne nach Vergleichen. Sie wurden mal als die kleinen Schwestern der Allman Brothers bezeichnet. Hat Sie das geärgert oder fanden Sie das sogar respektlos? Rebecca Lovell: "Ich finde solche Vergleiche sehr menschlich. Manchmal engt das einen ein, wenn man Kunst vergleicht. Aber mit den Allman Brothers in Verbindung gebracht zu werden, war in vielerlei Hinsicht ein großes Kompliment für uns – wir sind ja mit ihrer Musik aufgewachsen und bewundern sie." Fabian Elsäßer: Southern Rock ist also wirklich ein Einfluss für Sie? Rebecca Lovell: "Ja und nein. Wenn man sich echten Southern Rock anhört." Fabian Elsäßer: … Molly Hatchet, .38 Special… Rebecca Lovell: "Ganz genau! Davon höre ich nicht sehr viel in unserer Musik. Aber das südliche Element im Southern Rock, also Delta Blues, Bluegrass, Americana, Soul Music - das ist bei uns schon sehr ausgeprägt." Fabian Elsäßer: Denn wenn man über das Weltbild nachdenkt, bedeutet Südstaatenrock mit Ausnahme der Allman Brothers, die immer liberal waren, ja meist etwas Konservatives, eine gewisse Engstirnigkeit. Rebecca Lovell: "Viele Leute würden sogar reaktionäre Hinterwäldler sagen." Fabian Elsäßer: Aber das sind Sie nicht. Rebecca Lovell: "Würde ich auch so sehen. Wir sind schon sehr früh um die Welt gereist und das hat unseren politischen, gesellschaftlichen und religiösen Horizont erweitert. Wir haben einen ziemlich offenen Blick auf viele Themen, und das hilft uns auch beim Texten." Fabian Elsäßer: Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern ist ein wichtiger Aspekt Ihrer Karriere. Besonders erwähnenswert ist da Elvis Costello. Wie haben Sie ihn kennengelernt? Offener Blick auf viele Themen Megan Lovell: "Wir haben vor sieben Jahren bei einem Americana-Festival im Süden gespielt. Ganz am Anfang von Larkin Poe. Da gab es eine große Jam-Session auf der Bühne, wir stellten uns hinter ihn und fingen an, Harmonien zu singen. Das hat ihm offenbar gut gefallen. Seitdem hat er den Kontakt gehalten, uns zu Konzerten als Vorgruppe eingeladen und auch jetzt spielen wir noch oft mit ihm, als eine Art Begleitband." Fabian Elsäßer: In ihrer eigenen Band stehen Sie im Vordergrund. Ist es schwierig oder sogar manchmal erleichternd, zwischendurch mal wieder in die zweite Reihe zurückzutreten? Rebecca Lovell: "Es ist von allem etwas. Wir hatten das Glück, mit Elvis Costello zu spielen, aber auch mit Connor Oberst von Bright Eyes. Und wenn man mit Künstlern dieses Kalibers auftritt, sich mit ihrem Material beschäftigen muss – wir spielen ja bis zu 25 Songs von ihnen auf der Bühne – das bildet einen ungemein." Megan Lovell: "Vor allem mit jemandem wie Elvis Costello. Die Songs können sich verändern, manche werden sogar jeden Abend anders gespielt. Das liebe ich. Das ist wie eine musikalische Sprache, und inzwischen sind wir so weit, dass wir seine Sprache fließend sprechen können." Fabian Elsäßer: Megan und Rebecca, vielen Dank für das Gespräch.
Megan und Rebecca Lovell im Gespräch mit Fabian Elsässer
Was macht man, um heftigen Trennungsschmerz zu bekämpfen? Man holt die E-Gitarre raus und dreht den Verstärker auf Anschlag. So haben es Larkin Poe für ihr Album "Reskinned" gemacht. Was mit Country und Folk und dem Geschwistertrio The Lovell Sisters begann, wird beim Geschwisterduo Larkin Poe zum rifflastigen Südstaatenrock – inklusive Lap-Steel-Gitarre.
"2016-03-12T15:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:18:23.764000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-schwesternduo-larkin-poe-rock-n-roll-als-antwort-100.html
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Präsident François Duvalier tritt auf Haiti sein Amt an
Francois Duvalier wurde 1957 zum Präsidenten von Haiti gewählt und erklärte sich 1964 zum Präsidenten auf Lebenszeit (picture-alliance / dpa / AFP) "Meine Regierung, die am 22. Oktober 1957 angetreten ist, hat eine harte Politik der moralischen Strenge in Angriff genommen. Wir müssen die haitianische Mentalität ändern, wir müssen sie verbessern. Wir brauchen eine neue Moral, eine Revolution der haitianischen Mentalität." Verkündete François Duvalier, der im September 1957 mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden war. Zunächst ein Hoffnungsträger für den kleinen Inselstaat. Denn zwei Jahrzehnte lang hatten US-Marines Haiti besetzt, die bei ihrem Abzug zwar geordnete Staatsfinanzen, Straßen, Brücken, Schulen und Hospitäler hinterließen, aber auch Hass auf die rassistisch auftretende Besatzungsmacht. Renaissance des Voodoo-Kults Ein ungewollter Effekt der US-Okkupation war die Rückbesinnung haitianischer Intellektueller auf ihre afrikanischen Wurzeln und die Renaissance des Voodoo-Kults. In dieser Zeit trat François Duvalier mit wirren Reden und Artikeln hervor, in denen er der hellhäutigen Oberschicht den Kampf ansagte, bevor er mit einem Stipendium der verhassten Besatzungsmacht in Michigan Medizin studierte. Er lernte gebrochen Englisch, fiel im Examen durch und stieg nach dem Krieg zum Staatssekretär und Gesundheitsminister auf. Wahlbeobachter gaben dem Außenseiter keine Chance, denn seine Mitbewerber stammten aus einflussreichen Familien, waren glänzende Redner und kannten die Fallstricke der haitianischen Politik. Aber sie hatten sich geirrt. Duvalier spielte die Konkurrenten geschickt gegeneinander aus, indem er seine Anhänger mobilisierte und streikenden Geschäftsleuten die Läden plündern ließ. Aus diesen Schlägertrupps ging später, nachdem er die Armee entmachtet hatte, die der SA nachempfundene Miliz des Duvalier-Regimes hervor, besser bekannt unter dem Namen Tonton Macoute, zu deutsch Knecht Ruprecht oder Knüppel aus dem Sack. Die "Freiwilligen der nationalen Sicherheit", wie sie offiziell hießen, in der Mehrzahl Slumbewohner und landlose Bauern, durften ungestraft stehlen, morden und vergewaltigen. Dazu der haitianische Intellektuelle und Religionssoziologe Laennec Hurbon: "Wir hatten eine Diktatur, die ihre vermeintlichen Gegner bereits im Voraus verfolgte - brutal, erbarmungslos und ohne jede Erklärung. Das zentrale Foltergefängnis Fort Dimanche war ein Ort der Entmenschlichung. Tausende sind dort verschwunden. Es genügte, verdächtig zu sein, oder mit einem Verdächtigen in irgendeiner Verbindung zu stehen, um gewalttätig verfolgt, erschossen oder lebenslang eingekerkert zu werden." Präsident auf Lebenszeit Auf den Exodus der Opposition folgte die Abwanderung der Ärzte, Anwälte, Architekten und Ingenieure - von 750 in Haiti ausgebildeten Ärzten blieben nur 250 im Land. Als Kennedy ihm die Militärhilfe strich, wies "Papa Doc", wie Duvalier genannt wurde, den US-Botschafter aus und ließ sich 1964 von auf Lastwagen herangekarrten Bauern zum Staatschef auf Lebenszeit ausrufen. Laennec Hurbon: "Auch Voodoo-Priester waren Teil der Tonton Macoute-Miliz. Sie kannten Leute, die Informationen darüber sammeln konnten, wie wer über den Präsidenten sprach, und zwar bis in den letzten Winkel des Landes. Neben Duvalier konnte keine staatliche Institution, ob Armee oder Kirche, bestehen, es gab keinerlei Zivilgesellschaft." Als die Kirche Duvalier ausstieß, schloss er ein Konkordat mit dem Vatikan und erhielt so das Recht, Bischöfe und Priester zu ernennen, die bis heute an Haitis Schulen unterrichten. "Die Republik Haiti wurde seit der Unabhängigkeit 1804 kritisiert. Warum? Das hat mit unserer Rasse zu tun. … Heute wird das haitianische Volk von einem Intellektuellen regiert, der die Ziele und Bedürfnisse dieser Rasse kennt. Diese Führung hat viel Zeit darauf verwendet, eine nationale und rassische Doktrin zu erarbeiten, die wir den Duvalierismus nennen." "Papa Doc" starb 1971, nachdem er seinen Sohn Jean-Claude zum Nachfolger ernannt hatte. "Baby Doc" regierte Haiti bis zu seinem Sturz 1986 ebenso diktatorisch wie der Vater. Vom Weggang qualifizierter Kader, der Knebelung der Opposition und der Ermordung Zehntausender hat sich das heruntergewirtschaftete Land nach der Herrschaft des Duvalier-Clans nie mehr erholt.
Von Hans Christoph Buch
Als François Duvalier im September 1957 zum Präsidenten Haitis gewählt wurde, war dies ein Moment der Hoffnung für den bitterarmen Karibikstaat. Doch der Landarzt und Voodoo-Anhänger etablierte bald eine beispiellose Schreckensherrschaft. Bis heute hat sich das Land vom Aderlass der Diktatur nicht erholt.
"2017-10-22T09:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:57:07.784000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-60-jahren-praesident-francois-duvalier-tritt-auf-haiti-100.html
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"Was Trump sich vorstellt, ist Illusion"
Test eines Geschosses des US-Raketenabwehrsystems THAAD in Südkorea (imago / UPI Photo) Christiane Knoll: Die Noten für die US-amerikanische Raketenabwehr sind miserabel und etwas anderes haben Kenner physikalischer Gesetzmäßigkeiten auch nicht erwartet. Bei den Tests konnte angeblich nur jede zweite Rakete abgefangen werden, im Ernstfall dürfte die Bilanz noch schlechter ausfallen. US-Präsident Donald Trump hatte also allen Grund, das nationale Raketenabwehrprogramm auf den Prüfstand zu stellen. Nur zieht er jetzt andere Schlussfolgerungen als die Kritiker sich das gewünscht hätten. Gestern hat das Weiße Haus die Pläne online gestellt und gelesen hat sie für uns Jürgen Altmann, Physiker und Abrüstungsexperte an der TU Dortmund. Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn gefragt, wie er das Modernisierungsprojekt einschätzt. Jürgen Altmann: Das folgt der uralten Illusion, die schon vor 30 Jahren, 1983, der frühere US-Präsident Reagan gehabt hat, man könnte sich vor Raketen dadurch schützen, dass man dicht macht, dass man ein Schild errichtet. Das ist falsch und eine weitergehende Einsicht ist eigentlich nötig, wie damals nach dem Gespräch mit Gorbatschow bei Herrn Reagan sich auch ergeben hat. Raketenatrappen erkennt das Abwehrsystem nicht Knoll: Lassen Sie uns mit einem konkreten Beispiel und dem Ist-Zustand anfangen. Sagen wir Russland. Was könnten die USA mit dem heutigen System einer russischen Rakete entgegensetzen? Altmann: Naja, sie haben in Alaska über 20 Abfangraketen stationiert. Und wenn eine einzelne Rakete aus Russland käme, was ein völlig hypothetischer Fall ist, und sie alle 20 Abfangraketen dagegen schießen würden, dann hätten sie vielleicht zehn Prozent Chance, die zu treffen. Es gibt eben eine Menge von Gegenmaßnahmen, die ein Raketenland machen kann, die auch die USA auf ihren Raketen drin haben, um Raketenabwehr zu erschweren oder unmöglich zu machen. Und das hat Russland seit Jahrzehnten, insbesondere seitdem 2002 der Raketenabwehrbegrenzungsvertrag gekündigt worden ist von den USA und die angefangen haben, kleine Raketenabwehrsysteme aufzubauen - nicht nur in Alaska sondern auch in Europa - hatten die russischen Militärplaner natürlich jede Menge Grund, sich noch mehr darum zu kümmern, Raketenabwehrsysteme der USA zu überwinden. Knoll: Mit Hyperschallflugkörpern, die schneller sind als die Raketen? Altmann: Nein. Zunächst einmal einfach mit sogenannten Attrappen: mit kleinen leichten, aber aufblasbaren Ballons, die im Weltraum so aussehen, als ob es auch Raketengefechtsköpfe sind. Und eine Raketenabwehr hat eben normalerweise nur einen Kopf, den sie gegen einen anderen Kopf schießen kann. Die müssen sich treffen, um den zu zerstören. Und wenn da 100 solcher Attrappen ankommen und einer davon ist ein echter Gefechtskopf - wie soll das Raketenabwehrsystem wissen, welches der richtige ist. Das ist eine der möglichen Gegenmaßnahmen. Trump hätte gerne eine Weltraumstreitkraft Knoll: Jetzt soll dieses System modernisiert werden. Sie haben sich das Papier gerade mal durchgelesen. Was genau ist angedacht, wie kann jetzt ergänzt werden? Altmann: Eine Idee ist, die auf 64 zu erweitern, die in Alaska stationierten Abfangraketen. Und das mag sein, dass das gegen kleine Angriffe von Ländern wie Iran oder Nordkorea gewisse Effekte hätte. Iran hat ja noch gar keine ballistischen Raketen, die so weit reichen - und erst recht keine Nuklearsprengköpfe. Also selbst mit 60 oder 64 Abfangflugkörpern gibt's natürlich keinerlei Chance, gegen einen massiven Angriff aus Russland irgendetwas auszurichten. Ansonsten sollen im Weltraum vor allen Dingen zusätzliche Sensoren aufgestellt werden, um noch besser mitzukriegen, ob irgendwo Raketen gestartet werden oder vielleicht auch diese etwas neuere Art Hyperschallmarschflugkörper und so etwas. Das ist das, was im Wesentlichen passiert. Wenn man Trump folgen würde - das klingt aber in dem Bericht des Verteidigungsministeriums sehr viel vorsichtiger - wenn man Trump folgen würde, dann würde der gerne auch im Weltraum Abwehrwaffen stationieren, die dann vielleicht auch Satelliten abschießen könnten von irgendeinem anderen Staat und so weiter. Also das ist dann die uralte und eigentlich damals auch schon gescheiterte Idee einer Weltraumstreitkraft, die im Weltraum die Dominanz hat und die Raketensprengköpfe gar nicht erst durchlassen würde und feindliche Satelliten bekämpfen könnte. Das wird sich eine andere große Weltraummacht wie zum Beispiel Russland nicht einfach so bieten lassen. Und das Schlimmste was dabei rauskommen kann ist, dass wir eben zwei Systeme von Weltraumstreitkräften haben, die sich auf relativ kurze Distanz - einige hundert Kilometer - immer wieder begegnen und dann relativ schnell - in Sekunden vielleicht sogar - sich gegenseitig beschießen könnten - was dann zu allen möglichen unklaren, automatisch sich hochschaukeln Ereignisse führen könnte. Es könnte also sein, dass man durch irgendeinen Computerfehler dann plötzlich in den Weltraumkrieg kommt. Und weil die Weltraumobjekte sehr wichtig sind auch für die Nuklearwaffen und überhaupt die Streitkräfte auf Erden, dass es dann in einen großen Krieg hineinrutschen könnte. Also Weltraumstreitkräfte sind sehr destabilisierend und deshalb war es eigentlich sehr vernünftig, da bisher ganz zurückhaltend zu sein. Und zum Glück ist das, was Trump sich da vorstellt - man weiß ja schon, dass der immer wieder mal vorprescht und Sachen sagt, die dann von seinen eigenen Militärs nicht unbedingt umgesetzt werden - also was Trump da sich vorstellt, das ist Illusion und mit Glück schafften es ja auch die Leute in seiner Administration, das wieder ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Knoll: Sie sagen: Illusion. Ist es technisch nicht machbar? Ist es nicht finanzierbar? Altmann: Es würde sehr teuer und es wäre eben erst über Jahrzehnte aufzubauen. Aber technisch ist es denkbar. Es hat ja auch schon Satellitenwaffen gegeben und einige Tests zum Abschießen von Satelliten, so eine Handvoll. Aber die Idee, sich damit zu schützen vor Angriffen eines potenten anderen Staates, das ist die Illusion dabei. Die Langfassung der Sendung können Sie hier nachhören.
Jürgen Altmann im Gespräch mit Christiane Knoll
Präsident Trump plant, die US-Raketenabwehr zur modernsten der Welt zu machen. Dafür will er auch Drohnen im Weltall stationieren. Dass die USA sich so vor der atomaren Bedrohung schützen könnten, hält Abrüstungsexperte Jürgen Altmann aber für eine Illusion.
"2019-01-18T16:36:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:04.979000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/modernisierung-der-us-raketenabwehr-was-trump-sich-100.html
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Höhere City-Maut statt Fahrverbote
Nur Black Cabs dürfen weiterhin kostenlos in der Londoner City fahren (picture alliance / dpa / Daniel Kalker) Eine Grundschule im Ostlondoner Stadtteil Eltham. Die Kinder hüpfen in blau-grauen Schuluniformen über den Schulhof, aber eigentlich, findet die Schulleiterin Kate Barnes, dürften sie gar nicht so viel rausgehen hier, denn die Luft sei schlecht: "Viele der Kinder hier haben Asthma, und einige der Lehrerinnen hier haben über die Jahre Asthma entwickelt. Wir sind an drei Seiten von sehr belebten Straßen umgeben. Und wir sind einfach oft draußen, im Sportunterricht, in den Pausen, beim Mittagessen. Und das ist die Luft, die wir einatmen." Einige Schüler gesellen sich hinzu: "Wenn ich mit meiner Mama die Straße runtergehe, und da steht ein Auto, das den Motor laufen hat, dann fange ich an zu husten und kann nicht mehr aufhören." "Wir versuchen, möglichst viele Pflanzen um die Schule herum zu haben, damit die Luft ein bisschen besser wird." Die Schule hat aber auch eine Art Auto-Bann für Eltern verhängt: Die dürfen ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto zur Schule bringen und auch nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad abholen. Londoner Bürgermeister: "Luft in London ist ein Killer" Was diese Grundschule ihren Eltern abverlangt, könnte bald viele Eltern in London treffen – wie überhaupt alle, die mit dem Auto in die Stadt wollen. Bürgermeister Sadiq Kahn von der Labour Party spricht Klartext: "Wir haben in London einen Gesundheitsnotstand. Tausende von Leuten sterben hier wegen der schlechten Luftqualität. Als direkte Konsequenz daraus erleben wir hier Kinder, deren Lungen unterentwickelt sind. Erwachsene mit Asthma, Demenz, Herzerkrankungen, die unmittelbar auf die Luftverschmutzung zurückzuführen sind. Die Luft in unserer Stadt ist ein Killer." Londons Luft gilt als so belastet wie in keiner anderen europäischen Großstadt. Deshalb hatte die Stadt bereits vor 13 Jahren die "Congestion Charge" eingeführt, die jeder Autofahrer entrichten muss, der an Werktagen in die City will. Sie liegt bei umgerechnet rund 14 Euro. Wer in die Stadt reinfährt, dessen Nummernschild wird von Kameras fotografiert, und anschließend erhält er eine Zahlungsaufforderung. Mehr als zwei Millionen Fahrzeuge betroffen Jetzt legt die Stadt noch eins drauf. Sie führt nun eine so genannte "Ultra Low Emission Zone" für die City ein. Alle Fahrzeuge mit höheren Emissionen müssen zusätzlich rund 14 Euro pro Tag drauflegen – auch samstags und sonntags sowie rund um die Uhr. Grob gesagt, müssen alle blechen, die mit einem Diesel nach London reinfahren, der älter als Baujahr 2015 ist. Dabei wird die Euro 6 Norm zugrunde gelegt. Auch wer einen Benziner fährt, der vor 2006 gebaut wurde, zahlt. "Transport for London", die Londoner Verkehrsbetriebe, glauben, dass insgesamt 1,5 Millionen Diesel Autos und eine halbe Million Benziner betroffen sein werden, außerdem 400.000 Kleintransporter und 10.000 Busse. Ausgenommen davon sind die 21.000 "Black Cabs", die berühmten Londoner Taxis. Deren Interessenvertreter haben offenbar erfolgreich Druck gemacht beim Bürgermeister, dabei gelten sie als besonders große Dreckschleudern. Kritik: City-Maut belastet die Ärmsten und Kleinbetriebe Die Londoner-Umwelt-Maut könnte gerade die besonders hart treffen, die sich kein neues, emissionsärmeres Auto kaufen können. Auch dieser Kleinunternehmer, der in New Cross südöstlich von London Kleintransporter vermietet, sieht schwarz: "Als Folge davon hat sich der Wert meiner Autos jetzt halbiert. Ich brauche jetzt neue Autos, kann mir die alten nicht mehr leisten. Das ist eine Steuer für die Ärmsten, sie belastet Kleinbetriebe. Das wurde alles heimtückisch eingefädelt, die Beratungen darüber sind ganz im Verborgenen abgelaufen." Die Stadt London hat 23 Millionen Euro als Verschrottungsprämien für Kleinunternehmer wie ihn ausgelobt, die auf ihre Transporter angewiesen sind. Der Londoner Bürgermeister Khan hält seinen Kritikern außerdem das entgegen: "In den ärmsten Teilen Londons ist die Luft am schlechtesten, zugleich sind aber auch die ärmeren Londoner diejenigen, die eher keine Autos besitzen. Es gibt Beweise, dass diese neuen Regeln insbesondere die Luft in den ärmeren Stadtteilen verbessern wird." In zweieinhalb Jahren übrigens, ab Oktober 2021, wird die Londoner "Niedrigemissionszone" dann noch mal deutlich erweitert, so dass sie auch die äußeren Stadtbezirke umfasst – und damit 18 Mal so groß ist wie jetzt.
Von Sandra Pfister
London hat sich im Kampf gegen die Luftverschmutzung für eine Gebühr entschieden. Autofahrer, die unter der Woche in die Innenstadt fahren wollen, müssen pro Tag rund 14 Euro bezahlen. Jetzt hat der Bürgermeister eine "Ultra Low Emission Zone" ausgerufen. Ab kommender Woche soll es noch teurer werden.
"2019-04-05T11:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:53.957000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/luftverschmutzung-in-london-hoehere-city-maut-statt-100.html
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Von falschen und enttäuschten Hoffnungen
Großrazzia in Berlin-Neukölln: Polizisten gingen im April 2016 gezielt gegen kriminelle Mitglieder aus arabischen Großfamilien vor. (dpa/ picture-alliance/ Gregor Fischer) In den Restaurants und Imbissstuben der Neuköllner Sonnenallee sprechen fast alle Menschen arabisch. Über die Theke gehen nicht Boulette und Currywurst, stattdessen Schawarma, Halloumi und Falafel. Die Dichte an Shisha-Bars und Handy-Läden ist in dieser Straße Berlins in etwa gleich hoch, die meisten Geschäften haben arabische Beschriftungen, es gibt Supermärkte mit Spezialitäten aus dem Libanon, aus Syrien oder Palästina. Bassam und Abed lieben die Sonnenallee, in ihren Tüten sind Hummus, Couscous, Kichererbsen und arabische Bohnen. Die beiden sind Flüchtlinge und seit einem halben Jahr in Berlin: "Ich komme aus Beirut im Libanon, nachdem die Situation dort so schlimm geworden ist, durch die ISIS im Nordlibanon, das war nicht mehr sicher dort. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen auf der Suche nach Frieden und einer Zukunft, und um ein neues Leben zu beginnen." 45.000 Flüchtlinge sind zurzeit in Berlin, die meisten davon aus arabischen Ländern wie zum Beispiel Syrien, dem Irak, Libanon. Für viele dieser Flüchtlinge ist die Sonnenallee ein Anlaufpunkt, ein Treffpunkt. So war es auch für Yeyha. Aber der ist heute nicht hier. Yeyha sitzt im Gefängnis, schon das zweite Mal. Auch Yeyha kam als Flüchtling aus dem Libanon, schon 1990. Er ist Palästinenser, er wurde in einem libanesischen Flüchtlingslager geboren. Als vier Wochen altes Baby kam er mit seinen Eltern nach Berlin. Jetzt ist er 25. Mit 13 hatte er bereits mehr als 50 Straftaten begangen. "In den Gangs von Neukölln ist das so, desto skrupelloser man ist, desto verrückter man ist, desto hemmungsloser man ist, desto weiter steigt man auf. Ich meine Erfolg heißt für viele Menschen Erfolg in der Karriere oder in der Familie oder so. Aber in Neukölln heißt Erfolg, dass so viele Menschen wie möglich deinen Namen kennen." Jeder in Neukölln kennt Yeyha. Er ist der Boss von der Sonnenallee. Kopf einer Bande, die einen Juwelier überfallen hat, Jugendliche erpresst und verprügelt hat, Tresore geknackt und Einbrüche verübt hat. Auch Yeyhas Eltern flohen damals vor Krieg und Gewalt nach Deutschland, wollten sich hier ein neues Leben aufbauen, für sich und die Kinder. In der Heimat waren sie wohlhabend und erfolgreich. Hier ist der Plan nicht aufgegangen. Die Familie lebt von Hartz IV, drei der fünf Kinder haben bereits Knasterfahrung. Knast als Auszeichnung Warum es so kam, hat der Berliner Filmemacher und Journalist Christian Stahl versucht, herauszufinden. Er hat Yeyha über zehn Jahre mit der Kamera begleitet, sie wohnten im selben Haus in der Sonnenallee. Stahl ist Yeyha sehr nahe gekommen: "Das ist eine Geschichte von einem, der immer der beste sein wollte, der immer ganz die Nummer 1 sein wollte, und der hat es dann eben und der hat es dann eben in dieser Parallelwelt von Neukölln auch geschafft, mit 14 der jüngste Intensivstraftäter Neuköllns zu sein -, "isch gehör zu den Top Ten von Neukölln, hab 'nen eigenen Staatsanwalt" - und drei Jahre Knast sind in der Sonnenalle sowas wie ein summa cum laude, das ist eine Ehre, eine Auszeichnung." In der Sonnenallee sind alte Männer unterwegs, die auf Arabisch diskutieren, verschleierte Frauen, Kinder und Jugendliche, meistens in Gruppen. Die Straße wirkt etwas heruntergekommen, aber ab und an halten in zweiter Spur Autos, die für Neukölln eigentlich zu groß und zu teuer sind. Hinter dem Steuer arabisch sprechende Männer, die für solche Autos eigentlich noch zu jung sind. Die meisten Menschen hier leben von Sozialhilfe und Hartz IV - ein paar von krummen Geschäften. "Wenn einige Deutsche etwas Schlechtes tun, würde ich niemals sagen, alle Deutschen sind schlecht. Das sind Teile der arabischen Gesellschaft. Aber nicht alle Araber sind gleich, natürlich nicht. Ich bin arabisch und ich bin nicht kriminell." Mohamed Awad aus Palästina ist seit zwei Jahren hier, zurecht wehrt er sich gegen Verallgemeinerungen. Aber die arabischstämmigen Familien, die schon lange hier leben, sind überdurchschnittlich häufig auffällig, besonders wenn um schwere und organisierte Kriminalität geht. 18 bis 20 arabische Großfamilien gibt es in Berlin, mit jeweils 50 bis 500 Mitgliedern. Namen wie der Abou Chaker Clan oder die Familie von Mahmud Al-Zein sind bundesweit bekannt. Im Jahr 2014 gab es in Berlin 44 Ermittlungskomplexe im Bereich der organisierten Kriminalität, ein Viertel davon gegen arabischstämmige Gruppierungen, sagt Dirk Jakob vom Landeskriminalamt. "Arabischstämmige Straftäter fallen bei uns im Rahmen der schweren und organisierten Kriminalität vornehmlich auf durch Eigentumsdelikte, hier auch besonders herausragende Fälle, allerdings auch Delikte im Bereich von Bankeinbrüchen, das heißt also das Aufbrechen von Schließfächern und das Sprengen und Öffnen von Geldausgabeautomaten. Da gehören auch die Blitzeinbrüche dazu, insbesondere mit hoher Beute im Bereich teurer Unterhaltungselektronik." Außerdem geht es um Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Prostitution. Erst im April hat das Spezialeinsatzkommandos im Rahmen einer Großrazzia Schmuck, Bargeld, eine Schusswaffe und einen Porsche sichergestellt und acht Haftbefehle vollstreckt - allesamt gegen Mitglieder einer arabischen Familie aus Berlin. Die neuen Flüchtlinge in Berlin haben damit nichts zu tun, sagt Jacob. Er sieht jedoch eine Gefahr: "Allerdings könnte das natürlich mit entsprechender zeitlicher Verzögerung noch eintreten. Wir müssen eben sehen, dass mit den Flüchtlingsströmen gerade eben alleinstehende Männer im Bereich zwischen 18, 25 bis 30 Jahren kommen, und die müssen wir eben so schnell wie möglich integrationspolitisch natürlich hier einbinden, um hier eben nicht - aus Langeweile, aus Gewinnsucht, aus Neid oder Ähnliches - die Neigung zu Straftaten zu fördern." Ablesbare Fehler der Vergangenheit Denn am Beispiel der ansässigen Familien ließen sich die Fehler ablesen, die vor 20 bis 30 Jahren gemacht wurden, sagt Arnold Mengelkoch, der Neuköllner Integrationsbeauftragte. Mengelkoch ist ein erfahrener und engagierter Mann, der bisher weder die Hoffnung, noch die Distanz verloren hat. Seit Jahren bemüht er sich darum, die arabischen Familien bestmöglich mit Ämtern, Schule, Polizei und Jugendhilfe zu vernetzen. Eine schwierige Aufgabe, denn das Misstrauen gegenüber Behörden ist groß - und das hat eine Geschichte. In den 1980er und 90er-Jahren flohen 800.000 Menschen vor dem libanesischen Bürgerkrieg. Nach Berlin kamen besonders viele kurdisch-libanesische Großfamilien, die ursprünglich aus der aus Südosttürkei stammten, sich aber nicht türkisch fühlten und über den Libanon einreisten. Sie waren nie irgendwo heimisch, sagt Arnold Mengelkoch: "Und hier ging das jetzt genauso weiter, also auch mit einer großen Portion Misstrauen, was der Staat denn so macht, bis ich dann verstanden habe, dass das eine Historie hat in diesen Familien. Weil es eben schon in den 20er-Jahren und auch noch früher in der Türkei nicht geklappt hat mit der Anpassung, auch da war man auch nicht Teil des Ganzen, war im Libanon schon wieder nicht Teil des Ganzen, und ist in Deutschland am Anfang auch erst einmal nicht Teil des Ganzen. Will aber viel Geld verdienen, will also auch ein Auto haben und Wohnung haben und und und. Und dann haben sie eben nicht in der Integration, sondern geguckt, wo kriegen sie ihr Geld her, und das ging eben im kriminellen schneller als im legalen Bereich." Fehlende Arbeitserlaubnis als Kriminalitätsfaktor SEK-Einsatz in Berlin-Neukölln gegen arabische Familienclans. (picture alliance / dpa / Gregor Fischer) Weil es eben häufig im legalen Bereich auch gar nicht geht. Neben denen, die nicht legal arbeiten wollen, gibt es die, die nicht dürfen. Yeyha und seine Familie sind ein Beispiel. Sein Vater bekam viele Jahre in Deutschland keine Arbeitserlaubnis, ein Blumengeschäft musste er wieder schließen. Yeyha hat bis heute hier nur eine Duldung. Das heißt, seine Abschiebung ist lediglich aufgeschoben. Weil solche Menschen in Deutschland sowieso keine Zukunft haben und Yeyha zudem früh kriminell wurde, durfte er hier als Einser-Schüler kein Abitur machen, keinen Führerschein, als Berliner Meister im Boxen die Stadt nicht mal zu Wettkämpfen verlassen. Was dabei herauskommt, sind Frust und Enttäuschung. "Das war der Antrieb, diese Wut, dieser Hass, dieses 'ich schaff das nicht, ich werde nicht akzeptiert in der Gesellschaft, ich kann tun was ich will, ich werde immer in einer Schublade liegen'. Ich werfe Deutschland eins vor, auf der einen Seite verbietet man mir, Berlin zu verlassen, auf der anderen Seite sagt man, du bist hier nicht willkommen, was ist denn das für ein widersprüchlicher Satz." Bis heute ist der einzige Ort, wo Yeyha legal arbeiten darf, der Knast. Immer noch haben mehrere tausend Menschen aus Familien, die in den 1990er-Jahren nach Berlin kamen, nur eine Duldung. Auch bei vielen der Neuankömmlinge wird es lange dauern, bis der Aufenthaltsstatus geklärt ist, bis sie arbeiten dürfen. Arnold Mengelkoch hat schon erste Anzeichen, dass einige von ihnen in die Kriminalität abrutschen. Denn die etablierten arabischen Clans nutzen die Situation für ihre Revierkämpfe und den Drogenhandel aus: "Die Neuen, die jetzt kommen, mit denen wird experimentierend ausprobiert, die sind dann schon mal zum Haschischhandel unterwegs, sie handeln auch nicht mit den teuren Sachen, mit Kokain oder mit Heroin, sondern erst einmal mit den preiswerten Sachen, und man guckt, wie vertrauensvoll sind sie denn. Weil die eigenen Jungs aus der eigenen Familie sich auch nicht mehr damit die Finger schmutzig machen wollen und hinterher im Knast landen." Flüchtlinge aus arabischen Ländern werden dabei zum Teil gezielt angesprochen, hat auch Thomas Spaniel von der Gewerkschaft der Polizei beobachtet: "Es gibt Hinweise darüber, dass arabische Großfamilien mit ihren Luxuskarossen vor dem Flüchtlingsheim stehen und Abwerbeversuche machen von groß und kräftig gebauten jungen Männern, für die Drecksarbeit, Drogenverkauf und, und, und, also das ist ja auch die Drecksarbeit. In der Notunterkunft am Flughafen Tempelhof spielen ein paar junge Männer Fußball, andere hängen herum. Ab und zu sind sie unterwegs zu Ämtern, mehr ist nicht zu tun. Neben über 1.000 Erwachsenen leben hier auch rund 80 16- bis 18jährige. Davon haben nicht mal zehn einen Schulplatz. Für Angebote, die die Langeweile vertreiben und zudem noch Geld bringen, sind solche Flüchtlinge empfänglich, sagt Maria Kipp von "Tamaja", dem Betreiber der Unterkunft: "Natürlich, wenn ich ein Jahr in Deutschland bin, ein Jahr in einer Notunterkunft wohne, ein Jahr Druck verspüre, ein Jahr keine Strukturen habe, die mich da irgendwie integrieren oder auffangen, dann bin ich wahrscheinlich gefährdeter als ein Jugendlicher, der zur Schule geht und Deutsch lernt und Perspektive sieht. Wir haben Jugendliche, die 18 sind und hier alleine sind, also die haben nicht mal irgendeinen Halt aus der Verwandtschaft, und bei dieser Gruppe ist die Situation natürlich noch mal schwieriger." Dabei wollen die jungen Flüchtlinge eigentlich schnell hier ankommen, dazugehören, anerkannt werden und Erfolg haben. "We love learning." - "Ich möchte in die Schule gehen. Keine Schule. Langweilig, ja. Hier ist nicht gut, nicht gut." - "Every time they told me, no place, no place." Druck aus der Heimat Auf den jungen Männern lastet oft besonderer Druck von den Angehörigen in der Heimat: Sie sind dann die Hoffnungsträger, die dafür sorgen sollen, dass möglichst schnell die ganze Familie nachziehen kann, sagt Maria Kipp: "Das ist eine Gruppe, die in den Familien eine hohe Verantwortung trägt, also früh bekomme die zum Beispiel auch große Verantwortung für Geschwisterkinder, ist aber auch eine Gruppe, die hier mit einer großen Hoffnung hergekommen ist. Also es gibt ganz viele, die sich sehr motiviert zeigen, arbeiten zu wollen, was lernen zu wollen, studieren zu wollen, und da irgendwie sehr schnell auch in eine hohe Frustration geraten, und dann aber auch wieder unter dem Druck stehen teilweise, dann doch den Eltern Geld zu schicken, also arbeiten zu gehen. Man läuft also Risiko, dass die sich dann andere Wege suchen, was wir natürlich nicht möchten." Illegale Makler Es gibt also viele behördliche Instanzen, die mit Sorge auf den Weg und das Schicksal der jüngeren Neuankömmlinge blicken – und auf die Verbindungen, die sich zu den Geschäftspraktiken der alteingesessenen arabischen Clans zeigen. So betätigen sich einige dieser Alteingesessenen als illegale Makler, die wohlhabenden Flüchtlingen bis zu 4.000 Euro für die Vermittlung einer Wohnung abknöpfen. Andere treten selber als Vermieter auf. Halbe Mietshäuser befinden sich inzwischen im Besitz behördlich bekannter arabischer Familien, die offenbar seit kurzem sogar Flüchtlingsunterkünfte betreiben. Dass das Geld für die Immobilien aus kriminellen Geschäften stammt, ist selten nachzuweisen. 50 Euro zahlt das Land Berlin pro Tag und Flüchtling an die Nachkommen der Flüchtlinge von damals. Neuköllns Integrationsbeauftragter Arnold Mengelkoch: "Mittlerweile gehen schon die ersten Erfolgreichen unter diesen Familien hin, ersteigern Häuser oder kaufen Häuser, kaufen Eigentumswohnungen, also sie sind ja schon auf dem besten Weg in die Legalität." Schwierige Ermittlungssituation für die Polizei Erst kürzlich ist eine arabische Bande beim Klauen von Möbeln erwischt worden, die für ein selbstbetriebenes Flüchtlingsheim bestimmt waren. Weil normalerweise aus diesen Kreisen niemand eine Aussage macht, sind die Ermittlungen für die Polizei besonders schwer. Arabische Familien bilden nicht selten ein gegenüber der deutschen Gesellschaft abgeschottetes System. Abed Chabaan hat damit Erfahrung. Er kam selbst vor über 30 Jahren aus dem Libanon. Im deutsch- arabischen Zentrum in Berlin Neukölln berät er jetzt arabische Familien, wenn es Probleme gibt. Den ganz besonderen Familienzusammenhalt müsse man dabei immer beachten: "Wir leben anders. Also dieser Unterschied zwischen Menschen, das ist Fakt, also die stehen miteinander und für einander, also ob das mit Kultur oder Tradition oder Religion, also wenn einer Probleme hat, dann sind die ganze Familie da." Natürlich kennt Abed Chabaan auch Yeyha und seine Familie. Den Vater, der immer noch dankbar ist, dass Deutschland die Familie aufgenommen hat und der selber nie auch nur eine Ordnungswidrigkeit begangen hat, der unglücklich ist über die kriminelle Karriere seiner Söhne, aber immer zu ihnen hält, die Mutter und die Geschwister, die alle einen anderen Aufenthaltsstatus haben. Yeyha ist kein Deutscher: "Ich bin Deutscher, natürlich bin ich Deutscher, ich fühle mich so und ich bin so und bin hier großgeworden. Das ist ne Frage als ob man mich fragt, bist du ein Mensch. Für mich ist das schon provokant, die Frage." Yeyha gilt als staatenlos, und aufgrund seines Strafregisters will Deutschland auch nicht, dass er einen deutschen Pass bekommt. Wunsch nach Anerkennung Über die Hälfte der jungen Intensivstraftäter in Neukölln sind arabischstämmig, ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt aber nur knapp zehn Prozent. Fast allen gemeinsam ist der Wunsch nach Anerkennung, der Stolz, die Vorstellung, auch in der Schule immer ein bisschen schlechter behandelt zu werden als deutschstämmige, die Idee, dass jemand wertlos ist, dem nicht genügend Respekt entgegengebracht wird, und das Gefühl, hier nicht so richtig dazuzugehören - so beschreibt es Chabaan: "Die sind keine dummen Jugendlichen, die sind alle hochintelligent, aber dieser falsche Stolz - oder schauen Sie mal an, was die Muslime machen, wenn die deutschen Fußball spielen, die werden sauer, wenn Deutschland verliert, die haben also irgendwas im Blut, ich bin ein Teil dieses Landes, ich will was für dieses Land machen, ich mag dieses Volk, die sind menschlich, aber die lassen für mich nicht diese Tür offen." Mitleid ist fehl am Platz Ein Wärter schließt eine Gefängniszelle auf. (dpa / Arne Dedert) Alles also einfach nur Opfer? Nein, Mitleid sei fehl am Platze sagt Christian Stahl, der über Yeyha einen Dokumentarfilm gedreht und ein Buch geschrieben hat. Kriminelle wie Yeyha könne man nicht entschuldigen. Aber Deutschland müsse endlich vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Karrieren wie die von Yeyha nicht mit den vielen tausend neuen Flüchtlingen und ihren Kindern wiederholen: "Du musst nicht kriminell werden, nur weil du Flüchtling bist, so, Punkt. Nicht der Staat ist schuld an Yeyhas Taten, sondern Yeyha. Man muss das nicht tun. Niemand muss verhungern, niemand muss wirklich leiden in Deutschland, es geht allen gut. Auch Flüchtlingen aus den 90er-Jahren. Aber es gibt einen Grund, warum sie Täter geworden sind. Wenn wir verhindern wollen, dass die jüngeren Brüder und die Kinder dieser Intensivstraftäter, dieser Gangster von Neukölln die nächste Generation von Gangstern werden, die noch mal viel schlimmer sein werden, dann haben wir richtig Probleme in Deutschland, da müssen wir verdammt viel ändern. Ganz klar auch sagen stopp, hier sind die Grenzen, du bist in Deutschland, benimm dich, aber auch: Du bist ein Deutscher." Mohamed Awad, der Flüchtling aus Palästina, hatte bereits ein Jobangebot, das er ablehnen musste, weil er keine Arbeitserlaubnis hat. Als Journalist für ein arabisches Medium hätte er keinem Deutschen den Job weggenommen. Egal. Dass von den vielen tausend neuen Flüchtlingen jetzt immerhin zum Beispiel die Syrer relativ schnell anerkannt werden und dann in Deutschland arbeiten dürfen, findet er gut: "Für mich ist das der erste Schritt in die Integration, die Menschen arbeiten zu lassen, das ist der erste Schritt, weil wenn ich arbeiten darf und nicht deutsch spreche, werde ich zusehen, das möglichst schnell zu lernen, weil ich das zum Arbeiten brauche." Bisher keine wirksamen Konsequenzen Die Große Koalition hat jüngst das "Integrationspaket" beschlossen. Bisher scheint es jedoch in Berlin keine wirksamen Konzepte für eine schnelle Integration zu geben. Die Verfahren bis zur Anerkennung oder Abschiebung dauern lange, es gibt zu wenig Plätze in Sprach- oder Integrationskursen, zu wenig Wohnungen, zu wenig Schulen, zu wenig Arbeit, zu wenig Qualifizierungen – für die Betroffenen zu viel Frust und zu wenig Hoffnung. Yeyha, der in Neukölln aufgewachsene Intensivtäter, kommt voraussichtlich 2018 frei. Im Knast hat er eine Lehre als Koch gemacht, auch dabei wollte er der Beste sein, wie immer. Er hat bereits ein Jobangebot von einem Restaurant. Er wird es nicht annehmen dürfen. Man wird ihn nicht abschieben können. Der Libanon nimmt ihn nicht zurück. Er war bereits kriminell, er wird deshalb kein Deutscher werden können und weiterhin nicht arbeiten dürfen. Und dann? "Und ich weiß, dass ich nicht garantieren kann, dass ich nie wieder kriminell werde, wenn ich in die gleiche Scheiße geschmissen werde, wie vorher. Man steckt dich in die Scheiße und sagt, wage nicht zu stinken."
Von Anja Nehls
Im April haben Sondereinsatzkommandos der Polizei bei Razzien in Berliner Wohnungen acht Männer festgenommen. Sie gehörten zu kurdisch-arabischen Clans, die speziell im Berliner Stadtteil Neukölln für schwere und organisierte Kriminalität bekannt sind. Wer sich auf die Suche nach Gründen dafür macht, stößt auf Geschichten von Entwurzelung und enttäuschten Hoffnungen. Für den deutschen Staat wird es Zeit, aus Fehlern zu lernen.
"2016-06-28T18:33:00+02:00"
"2020-01-29T18:37:58.947000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arabische-clans-in-berlin-neukoelln-von-falschen-und-100.html
91,501
Wissenschaftler sehen kaum Chancen, 1,5 Grad-Ziel noch zu erreichen
Viele Zugvögel, wie die Kraniche, benötigen feuchte Rastplätze auf ihre Flugreise. Die verbreitete Dürre macht ihnen zu schaffen. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Bernd Wüstneck)
Ehring, Georg
19 der 20 bisher gemessenen wärmsten Jahre fielen in die Zeit seit der Jahrtausendwende. Ab dem 6. November beraten 200 Staaten in Ägypten, was man gegen den Klimawandel tun kann. Die Wissenschaft hat klare Beweise, dass dieser menschengemacht ist.
"2022-11-04T06:45:00+01:00"
"2022-11-04T07:19:04.905000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-weltklimakonferenz-in-sharm-el-sheikh-ringen-um-1-5-grad-ziel-dlf-44453e0e-100.html
91,502
Wohnboxen für Obdachlose
Zum Schluss werden die Boxen mit Graffiti besprüht. (Sven Lüdecke) Sven Lüdecke sägt einen Dachbalken zurecht. Das grobe Gerüst für sein neuestes Mini-Haus steht schon. "Das ist der Boden, drei miteinander zusammen genagelte Europaletten. Genau, oben drauf kommen noch Platten, da kommen zwölf Rollen drunter. Die Wände werden verkleidet, die werden gegen Brandschutz gestrichen und bekommen Blauschimmelschutz. Und dann bekommt es eine Außenfarbe und fertig." Wohnboxen nennt Lüdecke seine kleinen, mobilen Hütten. Sie sind etwa zweieinhalb Meter lang, so breit wie ein kleines Doppelbett und gerade einmal ein Meter und Sechzig hoch. In jeder fertigen Box gibt es eine Matratze, einen kleinen Tisch und eine Ablage. "Der Vorteil von den Hütten ist: Es ist geschützt vor Wind und Wetter. Die Einflüsse von draußen kühlen mich als Mensch nicht so schnell aus. Dann hab ich eine Matratze, da lieg ich eh weicher. Von unten kann die Kälte nicht so schnell nach oben ziehen, da ist ja Schaumstoff dazwischen." Ein Häuschen kostet rund 500 Euro. Die zahlt Lüdecke selbst. Gebrauchte Matratzen sponsort eine Hotelkette. Das ehrenamtliche Projekt ist durch die sozialen und klassischen Medien bekannt geworden. Mittlerweile melden sich freiwillige Helfer aus ganz Deutschland. Lüdeckes Vorbild ist der Innenarchitekt Gregory Kloehn. Der kalifornische Künstler baut kleine Häuser aus Sperrmüll und verschenkt sie. Zuerst als Kunstprojekt gedacht, wurde daraus soziale Architektur: bezahlbares Wohnen im urbanen Raum einer vielschichtigen Gesellschaft. In London gibt es bereits eine ähnliche Initiative, in Deutschland nun Sven Lüdecke, dem ist der architektur-theoretische Ansatz allerdings egal: "Das Bauen mache ich gerne, weil ich so einen Ausgleich habe zu meinem Job als Fotograf. So habe ich was Nachhaltiges und mache jemanden mit glücklich, der weniger hat als ich." Etwa 500 Euro kostet der Bau einer Wohnbox. Sven Lüdecke verschenkt sie. (Sven Lüdecke) Drei fertige Boxen stehen schon auf Privatgelände. Abschleppfirmen transportieren sie zum Wunschplatz der Bewohner - auf Sven Lüdeckes Kosten. Er geht auf der Straße auf Obdachlose zu und erzählt von seiner Idee. Wer eine Wohnbox bei ihm bestellt, darf mit planen. Gerade sucht Lüdecke seinen zukünftigen Abnehmer am Bahnhof um über die Ausstattung zu sprechen. Da klingelt das Telefon. "Ja, das war jetzt der Leiter vom Bauamt. Mit dem habe ich gerade gesprochen und der hat mich nochmal darauf hingewiesen: Brandschutz, Isolierung. Dass ich doch eine Baugenehmigung dafür brauchen werde, wenn der länger als drei Monate irgendwo steht." Bedenken, die Häuser könnten dem Stadtbild schaden und Fragen zur Sicherheit nimmt Sven Lüdecke ernst. Er bleibt mit der Stadt im Gespräch. In einem Park trifft er den Tschechen Peter. Der 33-Jährige lebt seit 17 Jahren auf der Straße. Das Häuschen soll ihm und seinem 13 Jahre alten Hund in diesem Winter Schutz bieten. "Komm am Samstag. Dann bauen wir zusammen. - Samstag, super. Machen wir. Das ist bombastisch. Ich bin starke, junge Mann. Ich kann richtig anpacken. Ich kenne Leute und Menschen und diese Mensch hat richtig gute Herz." Seinem ebenfalls obdachlosen Freund Patrick, Ende zwanzig, macht Sven Lüdecke spontan ein Angebot. Er zeigt ihm Fotos auf seinem Handy. "Das ist jetzt deins. Wir können am Samstag Graffiti-Dosen besorgen und dann könnt ihr den besprühen." - "Danke." - "Ich bin ein bisschen überwältigt. Das ist super, dass er sich so heftig dafür engagiert." Die Stadt argumentiert zwar, niemand müsse in Köln auf der Straße schlafen, doch die Realität sieht oft anders aus: "Die Notschlafsstellen in Köln, die sind sehr asozial. Die Leute haben neben mir komische Drogen geraucht, einer hat mit seinem Messer rumgespielt." Gebrauchte Matratzen sponsort eine Hotelkette. (Sven Lüdecke) Längst gibt es eine Warteliste für die Wohnboxen. Vorwürfe, er wolle mit seinem Projekt Geld verdienen, quittiert Sven Lüdecke mit einem Lächeln. Er ist kein Architekt und kein Stadtplaner, verfolgt keine eigenen Interessen: "Ich verschenke diese Häuser, ich nehme gar nichts dafür. Es wird weiter so gehen. Die bekommen ein Schloss, die bekommen einen Schlüssel und dann bin ich weg. Und dann habe ich damit nichts mehr zu tun." Architektur mit sozialem Anspruch scheint auf dem Vormarsch zu sein. Das Vorbild aus Amerika findet gerade immer mehr Nachahmer. In Köln wird eine Schulklasse im Unterricht eine Wohnbox bauen.
Von Julia Batist
Es begann in New York – dort hat der Innenarchitekt Gregory Kloehn ein Zeichen gesetzt, gegen Ignoranz und Armut. Aus Materialien, die er auf dem Sperrmüll findet, baut er kleine Miniatur-Häuser für Menschen, die sonst auf Pappe oder eingehüllt in Schlafsäcken schlafen. Der Hobby-Schreiner Sven Lüdecke war so begeistert, dass er die Idee nach Köln geholt hat.
"2016-11-22T15:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:18.787000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/soziale-architektur-wohnboxen-fuer-obdachlose-100.html
91,503
Pelosi treibt Verfahren gegen Trump voran
Die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, rief am Donnerstag in Washington offiziell den Justizausschuss auf, Anklagepunkte gegen Trump zu entwerfen. (ALEX WONG / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / AFP) Fünf Minuten und 50 Sekunden dauerte die Erklärung von Nancy Pelosi. Die Mehrheitsführerin des Repräsentantenhauses beauftragte den Justizausschuss offiziell damit, die Anklagepunkte gegen Präsident Trump zusammenzutragen und auszuarbeiten. Damit tat Nancy Pelosi einen weiteren Schritt in Richtung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Trump - es wäre das dritte in der Geschichte der US-amerikanischen Demokratie. Pelosi sagte, sie bedauere diese Entwicklung - der Präsident lasse jedoch keine andere Wahl als so zu handeln. Die Demokratie stehe auf dem Spiel. Die Fakten seien unbestritten, sagt Pelosi Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses begründete die Entscheidung mit dem Amtsmissbrauch des Präsidenten. Die Fakten seien unbestritten, sagte Pelosi. Donald Trump habe die nationale Sicherheit und die Integrität der Wahlen untergraben. Gestützt auf die Expertise von Verfassungsrechtlern, die gestern mehrheitlich für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump plädiert hatten, hielt Nancy Pelosi dem Präsidenten Verfassungsbruch vor: Konkret geht es dabei um den Vorwurf, Donald Trump habe in einem Telefonat den ukrainischen Präsidenten unter Druck gesetzt, um Ermittlungen gegen seinen innenpolitischen Rivalen Joe Biden zu erzwingen. Damit habe er seine persönlichen Interessen über die nationalen Interessen gestellt. Trump habe versucht, ein weiteres Mal die Wahlen zu seinem Vorteil zu korrumpieren, sagte Nancy Pelosi in Anspielung auf die russische Intervention im Wahlkampf von 2016. Das Weiße Haus reagierte umgehend auf die Erklärung der demokratischen Mehrheitsführerin im Haus: Sie und ihre Partei sollten sich schämen, schrieb zunächst Trumps Sprecherin Stephanie Grisham im Nachrichtendienst Twitter. Der Präsident freue sich auf ein faires Verfahren im Senat. Wenig später äußerte sich Trump selbst in einem Tweet und erklärte, dass das Amtsenthebungsverfahren gegen ihn zur Routine für künftige Präsidenten zu werden drohe. Abstimmung noch vor Weihnachten möglich Zum konkreten Zeitplan wollte sich Nancy Pelosi auch wenig später in einer Pressekonferenz nicht äußern. Denkbar ist jedoch, dass das Repräsentantenhaus noch vor Weihnachten über die offizielle Eröffnung des Impeachment-Verfahrens abstimmt. Anschließend wird das Verfahren an den Senat weitergereicht, in dem die Republikaner die Mehrheit haben. Sie werden das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump aller Voraussicht nach zu Fall bringen. Die Republikaner werfen unterdessen den Demokraten immer lauter vor, dass ihr Motiv nicht die Sorge um die Verfassung sei, sondern ihr Hass auf Donald Trump. Ein Vorwurf, den Nancy Pelosi energisch zurückwies - sie hasse als Christin niemanden, sondern bete für den Präsidenten, sagte sie.
Von Thilo Kößler
Das US-Repräsentantenhaus beginnt mit der Vorbereitung von Anklagepunkten für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Donald Trump. Die Vorsitzende der von Demokraten dominierten Kongresskammer, Nancy Pelosi, erklärte am Donnerstag, Trump habe schwere Verfassungsverstöße begangen.
"2019-12-05T18:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:22:32.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/amtsmissbrauchs-vorwuerfe-gegen-us-praesident-pelosi-treibt-100.html
91,504
Mit Rekordverträgen in die neue Saison
Top-Verdiener in der Major League Baseball: Mike Trout kassiert bei den Los Angeles Angels 430 Millionen Dollar für einen Elfjahres-Kontrakt (dpa/MAXPPP) In keiner anderen Profiliga Nordamerikas werden so hoch dotierte Verträge unterschrieben wie in der Major League Baseball. Da war zunächst der Deal von Bryce Harper. Anfang März unterschrieb Harper bei den Philadelphia Phillies einen 13-Jahres-Vertrag. Noch nie hatte sich in der Geschichte des nordamerikanischen Profisports jemand so lange an einen Verein gebunden - und noch nie so viel Geld verdient: 330 Millionen Dollar. Die US-Medien reagierten entsprechend: "Three hundred and thirty mill over 13 years." – "The biggest contract in Major League history." – "Not just Major League history but North American sports." Von einem Superlativ zum nächsten Doch nur knapp zwei Wochen später wurde dieser XXL-Vertrag eingeholt - von Mike Trout von den Los Angeles Angels. Der Center Fielder verlängerte beim kalifornischen Klub bis 2030 - und verdient bis dahin 430 Millionen Dollar. Tagelang wurde in der Presse nur über Trout und seinen Rekordvertrag geredet: "Four hundred and thirty million." – "The largest contract in sports history." - "Four hundred and thirty million - it’s gonna knock you out of your chair." Der Vertrag ist der größte der bisherigen Sportgeschichte - und für Trout ein echter Homerun. Der 27-Jährige sprach von einem großen Schritt für sich und seine Familie: "It’s a big moment in my life, big moment in my families life. I am excited." Weniger Verletzungen - längere Vertragslaufzeiten Derartige Summen wie die von Trout sind nur wegen der langen Laufzeiten im Baseball möglich. Denn an sein Jahresgehalt von rund 36 Millionen Dollar kommt der bestbezahlte Quarterbacks der National Football League, Aaron Rodgers von den Green Bay Packers, in etwa heran. Und Steph Curry, Topverdiener der Basketball-Liga NBA, streicht sogar 37,5 Millionen Dollar ein. Allerdings läuft sein Vertrag nur über fünf Jahre und der von Rodgers nur über vier. Im Vergleich zum American Football gibt es im Baseball weniger schwere Verletzungen, somit dauert die Karriere länger und die Topstars erhalten langfristige Verträge. Auch in der NBA wäre ein Kontrakt über zwölf Jahre viel zu riskant. Eines garantieren großen Verträge diese jedoch nicht: Erfolg. Mike Trout ist zwar der beste Spieler seiner Generation, Los Angeles jedoch nur ein mittelmäßiges Team. Seit 2010 erreichten die Angels nur einmal die Playoffs - und schieden sofort aus.
Von Heiko Oldörp
In der neuen Saison der Major League Baseball ist auch Max Kepler dabei. Einer der bestbezahlten deutschen Sportler, die je in den USA gespielt haben. Sein Fünfjahres-Vertrag ist mit 35 Millionen US-Dollar dotiert – und liegt damit weit hinter den Rekordverträgen in seiner Liga.
"2019-03-27T22:50:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:27.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/major-league-baseball-mit-rekordvertraegen-in-die-neue-100.html
91,505
"Es wird eine Welle von Flüchtlingen geben"
Qoja sagte im Deutschlandfunk, schon jetzt gebe es in der Region zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien. Wenn jetzt - wie erwartet - 700.000 weitere hinzukämen, müssten die internationalen Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten im Kurdengebiet verstärken. Nur die Unterstützung vor Ort verhindere, dass die Menschen sich auf den Weg nach Europa machten, so Qoja. Weiter betonte er, die IS-Miliz werde Mossul nicht kampflos aufgeben. Die Beteiligung der türkischen Truppen an der Offensive halte er für hilfreich. Mit Blick auf die politische Zukunft seines Landes plädierte Qoja dafür, die sunnitische Bevölkerung im Irak stärker an der Macht zu beteiligen. Der IS sei nur deshalb so stark geworden, weil die Zentralregierung in Bagdad die Sunniten als Menschen zweiter Klasse behandele. Das Interview in voller Länge: Martin Zagatta: Wird die Terrororganisation, die sich Islamischer Staat nennt, jetzt endlich aus Mossul, aus ihrem Hauptquartier im Irak vertrieben? Der Sturm auf die zweitgrößte Stadt des Landes soll unmittelbar bevorstehen, was im nahegelegenen Kurdengebiet natürlich mit großer Spannung verfolgt wird. Erbil, die Hauptstadt des autonomen Kurdengebiets im Nordirak liegt nur wenige Kilometer von der Front entfernt, und bis Mossul sind es etwa 80 Kilometer. Nihad Qoja ist der Bürgermeister von Erbil, er hat einst nach seiner Flucht aus dem Irak lange Jahre in Bonn gelebt und ist im Moment dort auch auf Besuch bei seiner Familie. Dort erreichen wir ihn jetzt auch. Guten Morgen, Herr Qoja! Nihad Qoja: Guten Morgen! Zagatta: Herr Qoja, dass der Sturm auf Mossul, dass die Vertreibung des Islamischen Staats dort unmittelbar bevorsteht, das haben wir schon mehrfach gehört. Wie sind denn da Ihre Informationen jetzt an diesem Wochenende? Ist es jetzt soweit? Qoja: Es ist so weit, die Vorbereitungen laufen seit Monaten. Diese Offensive oder Befreiungsaktion in Mossul ist eigentlich nicht so einfach, weil Mossul die zweitgrößte Stadt des Irak ist, dort leben circa 2,5 Millionen Menschen. Daher wird dieser Sturm nicht so einfach laufen. Wir hoffen natürlich, dass diese Stadt mit wenigen Opfern wieder befreit wird. Außerdem es wird es eine Welle von Flüchtlingen Richtung kurdischem Gebiet geben. Peschmerga-Kämpfer in der Nähe von Mossul. (dpa/ picture alliance/ Ahmed Jalil) Zagatta: Sind denn die Peschmerga, die kurdischen Truppen, gemeinsam mit der irakischen Armee und auch mit internationaler Unterstützung, sind die jetzt denn stark genug, glauben Sie das, den Islamischen Staat da aus Mossul zu vertreiben? Qoja: Ja, wenn man in den letzten Monaten den Verlauf des Krieges beobachtet hat, die Peschmerga haben viele Gebiete wieder zurückerobert, und der sogenannte Islamische Staat ist zurückgedrängt worden. Sie haben viele große Städte wie Ramadi, Salah ad-Din, Tikrit und andere Gebiete verloren. Zurzeit ist der IS nur in Mossul, da ist es die letzte Bastion, die er verlieren wird. Zagatta: Gehen Sie denn davon aus, dass der Islamische Staat, wenn die Kräfteverhältnisse sich so gewandelt haben, dass der Islamische Staat Mossul dann noch ernsthaft verteidigen kann, denn wenn das passiert – Sie haben es ja angedeutet, das ist eine Großstadt –, dann würden das ja vermutlich doch sehr blutige Kämpfe? Qoja: Ich glaube, wir gehen davon aus, dass es blutige Kämpfe geben wird, vor allem, das ist die letzte Bastion des IS. Andersrum haben die irakischen Truppen und Peschmerga und Alliierten den Westteil der Stadt offengelassen, damit es die Möglichkeit gibt, dass sie sich zurückziehen ohne Kämpfe, aber ich glaube nicht, dass der IS so einfach dort aufgibt, weil die wissen, dass es die letzte Chance für sie ist und die letzte Stadt, die sie noch unter Kontrolle haben. Irakische Flüchtlinge fliehen aus Mossul nach dessen Eroberung durch den IS. (picture alliance / dpa / Foto: Emrah Yorulmaz/Anadolu Agency) Zagatta: Im Irak. Wenn dieser Angriff beginnt, dann rechnet die UNO mit mindestens 700.000 neuen Flüchtlingen, von denen ja sehr viele auch zu Ihnen dann in das Kurdengebiet kommen werden. Ist das für Sie zu bewältigen, oder droht dann erst einmal eine Katastrophe? Qoja: Das ist eine große Belastung, da wir seit mehr als zwei Jahren noch viele Binnenflüchtlinge hatten, syrische Flüchtlinge, circa zwei Millionen Flüchtlinge, und dazu kommt jetzt, wie Sie gesagt haben, zwischen einer halben Million und vielleicht 700.000 zusätzliche Flüchtlinge. Wir haben zwischen Mossul und Erbil – das sind Gebiete, die in letzten Monaten befreit worden sind – neue Flüchtlingslager aufgebaut, und vielleicht werden wir diese Flüchtlinge dort auffangen, bis die Stadt befreit wird, damit die Leute wieder so schnell wie möglich in ihre Häuser zurückkommen. Zagatta: Kann man denn so viele Menschen, also hunderttausende weiterer Flüchtlinge, dort unterbringen? Der Winter steht bevor, und es wird ja auch schon kühl in dieser Region. Wie wollen Sie das schaffen? Qoja: Wir wissen nicht, ob wir das schaffen oder nicht. Das ist Krieg, und gehen wir davon aus, dass so viele Flüchtlinge diese Gebiete aufsuchen. Wie gesagt, die Vorbereitungen laufen seit Monaten, und das ist eine gute Gelegenheit, um einen Appell hier zu verbreiten, dass die Hilfsorganisationen ihre Hilfe Richtung irakisches Kurdistan mobilisieren. Man sagt immer, bevor die Leute nach Europa sich bewegen, es ist besser, wenn man diesen Leuten vor Ort Hilfe leistet, damit die Leute die Möglichkeit haben und Perspektive haben für die Zukunft, um dort zu bleiben. Zagatta: Hilft Ihnen denn auch die irakische Regierung, die Regierung in Bagdad? Zu der haben Sie oder haben die Kurden ja kein besonders gutes Verhältnis. Qoja: Das ist richtig. Also in den letzten zwei, drei Jahren, hat die irakische Regierung gegen Kurdistan, also die kurdische Regionalregierung, eine Blockade eingerichtet. Die hatten unseren Teil am Haushaltsbudget gestoppt, und auch die Hilfsgüter, die aus Bagdad kommen sollten, haben die auch blockiert. Aber jetzt seit einem Monat, nachdem der Präsident Bassani Bagdad besucht hat, gibt es neue Abkommen zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung unter der Vermittlung der USA und der Westalliierten. Jetzt läuft die Zusammenarbeit zwischen beiden Regierungen wieder, und Bagdad wird diese Hilfe nicht mehr blockieren. Zagatta: Die Regierung in Bagdad, so hört man, ist auch besonders verärgert, weil türkische Truppen im Nordirak, also in Ihrem Kurdengebiet sind, und sich an dieser Offensive beteiligen sollen oder wollen. Bagdad will die Türken aus dem Land weisen. Belastet das diese Offensive? Vom Krieg gezeichnet: Zerstörungen in Mossul (dpa / Mohammed Al-Mosuli) Qoja: Ich glaube nicht, dass diese Offensive dadurch belastet wird. Man muss auch eins sagen: Damals, als der IS Mossul eroberte, hat die irakische Regierung selbst die türkische Regierung um Hilfe gebeten, um Polizisten auszubilden. Dieses Abkommen wird jetzt natürlich vom Irak abgestritten. Ich glaube nicht, dass es zu großen Problemen kommt, da diese türkische Einheit, meine ich, eine sehr, sehr kleine Einheit um die Stadt Bashiqa ist, eine naheliegende Stadt um Mossul. Dort haben die in den letzten zwei Jahren arabisch-sunnitische Milizen ausgebildet. Zagatta: Herr Qoja, wenn es gelingt, den IS, den Islamischen Staat, da jetzt aus Mossul zu vertreiben, ist das dann das Ende dieser Terrororganisation im Irak oder ist das dann nur ein Rückschlag für den IS? Qoja: Ich glaube nicht, dass durch militärische Aktionen überhaupt diese Ideologie bekämpft wird. Man muss auch nach dem Krieg damit rechnen, dass der IS noch Kräfte hat, Menschen zu mobilisieren. Man muss auch mit anderen Mitteln gegen den IS kämpfen. Vor allem die Beteiligung der sunnitischen Bevölkerung im Irak an der Macht und auch die Teilnahme dieser Gesellschaft an der Macht im Irak. So kann man den IS bekämpfen. Der IS hat Boden gewonnen, weil die Zentralregierung im Irak die Mehrheit der sunnitischen Bevölkerung als Menschen zweiter Klasse behandelt hat. Zagatta: Nihad Qoja war das, der Bürgermeister von Erbil im Kurdengebiet im Nordirak, der Hauptstadt des Kurdengebietes dort im Nordirak. Herr Qoja, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch! Qoja: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Nihad Qoja im Gespräch mit Martin Zagatta
Die IS-Terrormiliz soll aus der irakischen Stadt Mossul vertrieben werden, eine Militäroffensive steht bevor. Eine neue Flüchtlingswelle nach Europa könne nur mit Hilfe vor Ort verhindert werden, meint Nihad Qoja, der Bürgermeister der benachbarten Stadt Erbil. Ein endgültiges Aus des IS sieht er auch nach einer Vertreibung aus Mossul nicht.
"2016-10-15T06:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:38.300000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lage-in-mossul-es-wird-eine-welle-von-fluechtlingen-geben-100.html
91,506
Bertelsmann übernimmt Gruner + Jahr
Der Eingang zur Konzernzentrale der Bertelsmann AG in Gütersloh. (dpa / picture-alliance / Marius Becker) Der Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr gehört künftig komplett zu Bertelsmann. Europas größter Medienkonzern kauft der Familie Jahr zum 1. November ihre Minderheitsbeteiligung von 25,1 Prozent ab, wie die Partner am Montag mitteilten. Über die Höhe des Kaufpreises sei von beiden Seiten Stillschweigen vereinbart worden. "Strategischer Meilenstein" "Die vollständige Übernahme von Gruner + Jahr ist ein strategischer Meilenstein zur Stärkung unserer Kerngeschäfte", teilte Bertelsmann-Chef Thomas Rabe mit. "Wir unterstützen die vom Gruner + Jahr-Vorstand auf den Weg gebrachte Transformation von Gruner + Jahr uneingeschränkt und werden auch in Zukunft die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen." Angesichts schrumpfender Zeitschriftengeschäfte hatte Gruner + Jahr zuletzt einen Ausbau der Internetaktivitäten und einen Stellenabbau angekündigt. Schon seit Jahren strebt Bertelsmann eine Komplettübernahme der Verlagstochter an. 2012 war der Plan aber vorerst gescheitert. Zu Gruner + Jahr gehören Zeitschriften wie "Stern", "Brigitte" und "Geo". Auch am Spiegel-Verlag ist das Haus mit rund 25 Prozent beteiligt. (tzi/tk)
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Der Medienkonzern Bertelsmann übernimmt den Hamburger Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr vollständig. Die Übertragung der von der "Jahr Holding" gehaltenen Anteile von 25,1 Prozent werde zum 1. November erfolgen, teilte Bertelsmann mit. Die Verlegerfamilie Jahr zieht sich zurück.
"2014-10-06T10:07:00+02:00"
"2020-01-31T14:07:01.133000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/medienkonzerne-bertelsmann-uebernimmt-gruner-jahr-100.html
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"Wir werden weiter Opfer in Kauf nehmen müssen"
Der Katastrophenforscher Martin Voss (picture alliance / dpa / Privat) Die heutige Technik mache es möglich, die "Menschen auch gezielt mit Informationen zu versorgen". Fast jeder trage seinen mobilen Computer mit sich herum und könne auf dem Display "ständig in Echtzeit" sehen, was da passiere, sagte der Katastrophenforscher Martin Voss im Deutschlandfunk. "Die Frage ist immer, wer nutzt es und wie wird das dann bespielt und welche Nebenwirkungen hat das auch wiederum." Im Forschungsprojekt "WEXICOM" gehe es konkret darum, Menschen mit Informationen zu versorgen, die "nicht wirklich dezidiert vorhersagen, an welcher Stelle nun welches Ereignis auftritt, sondern mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten". Denn gerade die Unwetter der vergangenen Tage hätten gezeigt, dass es für die Meteorologen "sehr schwer beziehungsweise erst sehr kurzfristig möglich" sei zu sagen, "an welcher Stelle nun welche Niederschläge, welcher Hagel und welche Wassermengen runterkommen werden". Da sei es durchaus sinnvoll, mit "Wahrscheinlichkeiten" zu arbeiten, erläuterte Voss. So könne man etwa sagen, in welchen Bereichen sich das Risiko innerhalb der nächsten Stunden deutlich erhöhe. "Die Frage ist nur: Was passiert, wenn man Menschen ständig mit diesen Wahrscheinlichkeiten versorgt?" Es bestehe das Risiko, dass diese dann irgendwann nicht mehr hinhörten. Absolute Sicherheit gibt es nicht Der Katastrophenforscher betonte, absolute Sicherheit gebe es nicht. "Wir können uns schlicht nicht auf jedes Risiko vorbereiten. Wir können nicht jedes Opfer vermeiden." Solche Ereignisse seien in der Regel punktuell und damit unvorhersehbar. "Und da muss man vielleicht auch ein gewisses Risiko einfach akzeptieren." Wichtiger noch als der Katastrophenschutz sei die Prävention. Denn wenn man die Unwetter der vergangenen Tage anschaue, sehe man, "dass es im Grunde genommen weniger der Schutzcharakter ist, dass wir irgendwie Deiche hochziehen müssen". Vielmehr gehe es im Vorfeld darum, "Abläufe zu schaffen, Siedlungsgebiete nicht in Hochwassergebieten auszuweisen". Oft werde nämlich aus "ökonomischen Gründen" auch dort investiert, "wo es gefährlich ist". Das Interview in voller Länge: Birgid Becker: Meteorologen nennen die Unwetter in Niederbayern und am Niederrhein absolut außergewöhnlich. Ökologen vermessen, ob, und in welchem Ausmaß die Flutmengen selbst verschuldet sind. Deutschland, normalerweise ein Idyll an Katastrophenferne, stellt fest, dass sich doch nicht alles regeln, doch nicht alles organisieren, doch nicht alles planen lässt. Vieles lässt sich aber besser machen, meint der Katastrophenforscher Martin Voss, mit dem ich vor der Sendung gesprochen habe, und zum Bessermachen gehört es auch, bessere Wege zu finden, um Menschen zu warnen. Wie nämlich? Martin Voss: Ja, die gibt es natürlich, heute allemal. Wir sind technisch ja ganz anders in der Lage, Menschen auch gezielt mit Informationen zu versorgen, und zwar nicht mehr wieder pauschal alle Menschen gleichermaßen, sondern die, die auch bestimmte Informationen brauchen, wie das noch vor fünf oder vor zehn Jahren der Fall war. Heute trägt jeder seinen im Grunde genommen mobilen Computer mit sich herum. Man ist ständig in Echtzeit auf seinem Display und sieht eigentlich, was da passiert. Die Möglichkeiten sind längst da, es gibt auch zahllose Apps wiederum, die ganz verschiedene Bedarfe in dieser Richtung bedienen. Die Frage ist immer, wer nutzt es und wer hat es und wie wird das dann auch bespielt und welche Nebenwirkungen hat das auch wiederum. Becker: Sagen Sie uns, welche Nebenwirkungen und woran fehlt es. Sie sind aktiv in einem Projekt namens "WEXICOM". Da geht es konkret darum, Wettervorhersagen, Unwetterwarnungen besser nutzbar zu machen. Voss: Ja. In diesem Forschungsprojekt geht es konkret darum, Menschen mit Informationen zu versorgen, die erst einmal nicht wirklich dezidiert vorhersagen, an welcher Stelle nun welches Ereignis auftritt, sondern mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Gerade bei solchen Ereignissen, wie wir sie jetzt in den vergangenen Tagen hatten, sogenannten konvektiven Ereignissen, ist es auch für die Meteorologie sehr schwer beziehungsweise erst sehr kurzfristig möglich, zu sagen, an welcher Stelle nun welche Niederschläge, welcher Hagel und welche Wassermengen runterkommen werden. Da kann man aber mit Wahrscheinlichkeiten durchaus arbeiten und sagen, in diesen Bereichen erhöht sich das Risiko innerhalb der nächsten Stunden deutlich. Die Frage ist nur: Was passiert, wenn man Menschen ständig mit diesen Wahrscheinlichkeiten versorgt? Werden die dann irgendwann gar nicht mehr hinhören, weil sie eigentlich immer selber wiederum für sich abwägen müssen, ist das jetzt eigentlich ein Risiko, hatte ich ja die letzten Tage dreimal, also muss ich noch was machen? Und solche Effekte stellen sich dann auch ein. "Wir können nicht jedes Opfer vermeiden" Becker: Nun sind Warnungen ja das eine, tatsächlich zu schützen ist das andere. Die Politiker im Freistaat Bayern sagen ja, man könne die Menschen vor Jahrhundertereignissen schützen, nicht aber vor Jahrtausendereignissen, also nicht vor solch wild gewordenen Flüssen, wie es sie jetzt in Niederbayern gab, die ja zuvor meist ganz unauffällige Gewässerchen waren. Hätte Warnen denn da geholfen? Voss: Ja ich denke, wir müssen bei solchen Ereignissen immer ein bisschen auch den kühlen Kopf bewahren und schauen, wie groß ist denn jetzt das Schadensausmaß, wie hoch ist die Opferzahl. Wir können uns schlicht - das wissen wir aus ganz anderen Debatten - nicht auf jedes Risiko vorbereiten. Wir können nicht jedes Opfer vermeiden. Am Ende sind solche Ereignisse doch immer punktuell und quasi unvorhersehbar, und da muss man vielleicht auch ein gewisses Risiko einfach akzeptieren. Becker: Auf der anderen Seite wäre es nicht akzeptabel, Warnmöglichkeiten, die vorhanden sind, nicht zu nutzen. Voss: Ja, das ist natürlich richtig. Wenn man wirklich wüsste, an dieser Stelle hat man eine Information, die mit einer - und das ist ja nun schon die Frage - hohen Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Schaden führen wird, dann darf man sie selbstverständlich nicht zurückhalten. Auf der anderen Seite: Wann ist dieser Zeitpunkt erreicht, an dem Sie so genau vorhersagen können, dass dieser Schaden auch wirklich eintritt? In der Regel sind wir in solch einer Warnsituation immer in diesem Dilemma. Zu früh warnen heißt nicht unbedingt Unruhe auslösen, aber doch eine Art Abstumpfung zu erzeugen, dass man einfach beim nächsten Mal nicht mehr hinhört. "Panik ist ein Mythos" Becker: Oder Menschen unbegründet in Panik zu versetzen. Voss: Ja, das wollte ich gerade vermeiden, denn diese Panik, die beobachten wir empirisch so gut wie nie. Das ist ein Mythos, wie wir sagen. Das ist überhaupt nicht das Problem. Becker: Wie erklären Sie sich das? Wir haben ja immer noch diesen Satz auch des Bundesinnenministers im Ohr, ganz anderer Zusammenhang, ein Terrorkontext, dass er nicht alle Informationen habe weitergeben können, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Da hatte man ja den Eindruck, dass wir alle ausgesprochen panikgeneigt sind. Voss: Na ja, und die Reaktion darauf zeigt ganz genau, dass wir das nicht sind, denn eigentlich hat er uns damit ja massiv beunruhigt. Er hat auch damit im Grunde genommen gesagt, da ist eine Gefahrenlage, aber ich werde niemandem sagen, was wirklich der Fall ist. Und ich habe nicht erlebt, dass irgendjemand irgendwo in Panik geraten ist. Es gibt dies in seltenen Ausnahmefällen, in denen man das sehr wohl abwägen muss. Wenn man meinetwegen Menschen in einer Gefahrensituation hat, wo es im Grunde genommen nur einen einzigen Ausgang gibt, den berühmten Flaschenhals. Wenn Sie denen jetzt sagen, in drei Minuten passiert hier etwas Furchtbares, dann müssen Sie sicherlich damit rechnen, dass Menschen sich nicht mehr koordiniert oder auch nicht mehr einfach nur prosozial verhalten. In fast allen anderen Fällen - und da haben wir wirklich eine endlose Menge an Beispielen - agieren Menschen ganz sozial, kümmern sich um ihresgleichen, rennen noch einmal zurück in die Gefahrenlage, um sich um andere zu kümmern. Sie tragen selbst aus einem brennenden Hochhaus in New York einen Rollstuhlfahrer noch raus. Insofern diese Panikgeschichte ist wirklich überhaupt nicht unser Problem. Darauf sollten wir gerade keine Ressourcen verschwenden, denn das tun wir dann. Wir fangen dann an, viel zu informieren, in der vermeintlichen Einstellung, damit Schlimmeres zu vermeiden, aber genau das produzieren wir damit. "Sozialwissenschaftler gehen vom menschlichen Leid aus" Becker: Nun nähern Sie sich - wir sind genau in diesem Bereich - Ihrem Spezialgebiet, der Katastrophe, ja nicht als Naturwissenschaftler oder als Ingenieur, also von der technischen Seite her, sondern als Sozialwissenschaftler. Erklären Sie: Was ist der Blickwinkel des Sozialwissenschaftlers auf Katastrophen? Voss: Wir fangen an, Katastrophen gerade nicht über Opferzahlen und über Schäden zu definieren, sondern gehen vom menschlichen Leid aus. Wir fragen danach, was ist eigentlich für Menschen, die von extremen Prozessen betroffen sind, das, was sie da an Dramatischem erleben, und was macht das für sie aus, wie nehmen sie das wahr, was fürchten sind, und was sind nun die adäquaten Maßnahmen, ihnen bei der Bewältigung dieses Geschehens zu helfen. Da kommt etwas durchaus ganz anderes heraus als dieser reine Schutzgedanke, der auch ein Stück weit ein Mythos ist, wie wir auch hier wieder sehen. Ich sagte es eben schon: Wir werden niemals es schaffen, die Opferzahlen auch bei solchen Hochwasser- und Regen-, Extremniederschlagsereignissen auf null zu bringen. Wir werden immer weiter Opfer in Kauf nehmen müssen. Wir sehen also, es geht gar nicht darum, koste es was es, wolle Menschenleben zu retten, sondern es ist immer ein Abwägen innerhalb einer Gesellschaft: Wo wollen wir unsere immer knappen Ressourcen hingeben? Die Frage ist: Warum sind sie überhaupt erst mal knapp im Bevölkerungsschutz und im Hochwasserschutz? Ist das überhaupt nicht schon ein Resultat eines solchen Abwägungsprozesses? Wir wollen das Geld offenbar als Gesamtgesellschaft lieber woanders haben. Wie kommt solch eine Risikokalkulation erst einmal zustande? Und dann zu schauen, was bedeutet das jetzt für die Betroffenen selbst? Wie gehen die damit um, was ist deren Erwartungshaltung? Wenn man selbst Opfer wird von so etwas, wird man immer sagen, da ist nicht genug im Vorfeld getan worden. Auf sich selber bezogen will man selbstverständlich immer alles da reininvestiert gesehen haben. Auf der anderen Seite macht man aber im Alltag auch wiederum ständig solche Entscheidungen, wo man sagt, man geht eigentlich Risiken ein, die sind wesentlich höher. Wir setzen uns jeden Tag im Straßenverkehr einem viel, viel höheren Risiko aus als bei, sagen wir mal, einer starken oder extremen Wetterlage. Das ist eine Alltagsabwägung, die wir machen, und auf dieser Grundlage passieren dann natürlich auch immer wieder Unfälle oder Katastrophen. "Im Vorfeld laufen die Ressourcen suboptimal" Becker: Sie haben das ein bisschen im Raum stehen lassen mit einem Halbsatz. Offensichtlich wollen wir Geld woanders hingeben. Hat das ein bisschen impliziert, dass wir vielleicht das Geld dann doch hätten besser in Katastrophenschutz investieren sollen statt in, weiß ich nicht, Autobahnausbau? Voss: Ja, wobei der Katastrophenschutz, da würde ich viel mehr noch die Katastrophenprävention in den Blick nehmen wollen. Das ist dort mit drin angelegt, aber doch noch mal ein besonderer Bereich. Denn im Grunde genommen das, was wir an Ereignissen erleben, vielleicht jetzt weniger diese Extremniederschläge der letzten Tage in ihren Konsequenzen als vielmehr die Hochwasserereignisse 2002 und 2013, da sehen wir doch, dass es im Grunde genommen weniger der Schutzcharakter ist, dass wir irgendwie Deiche hochziehen müssen oder Schutzinfrastrukturen bauen, um Menschen bei Starkniederschlägen zu sichern, sondern vielmehr im Vorfeld darum geht, Abläufe zu schaffen, Siedlungsgebiete nicht in Hochwassergebieten auszuweisen. Da laufen die Ressourcen offenbar suboptimal, sage ich einmal. Es wird dort investiert, wo es gefährlich ist, und das hat natürlich auch seine ökonomischen Gründe. Becker: Nun sind Sie auch engagiert in einem gemeinnützigen Verein. "Katastrophennetz" nennt der sich. Und Sie haben ganz anders dimensionierte Katastrophenfolgen schon persönlich in Augenschein genommen, in Japan zum Beispiel oder auf den Philippinen. Menschen unterschiedlicher Kulturkreise gehen auch unterschiedlich mit Katastrophen um. Ist das so? Voss: Ja, und es ist gerade dieser Blick, der es mir dann immer schwer macht, auf unsere nationalen Ereignisse zu gucken, weil man ganz unterschiedliche Katastrophendimensionen vor seinem inneren Auge hat. Wenn man auf Haiti auf 300.000 - keiner weiß die Zahlen so ganz wirklich genau - Todesopfer schaut und vielleicht etliche, vier, fünf Millionen wenigstens indirekt Betroffene und dann unsere Ereignisse hier damit in Vergleich setzt, dann sieht man: Na ja, offenbar ist Katastrophe dort doch etwas vollkommen anderes als das, was wir hier mit diesem Begriff bezeichnen. Becker: Jetzt hilft uns die rein nummerische Betrachtung ja nicht, wenn es darum geht, individuelles Leid zu bemessen. Voss: Nein, völlig richtig. Deshalb ist es so wahnsinnig schwer, auch in diesen Zusammenhängen das richtige Augenmaß zu bewahren. Jedes einzelne individuelle Schicksal ist ein absoluter Verlust und es sind eigentlich im Grunde genommen weniger die Toten, die wir beklagen müssten, sondern vielmehr die Angehörigen, die Hinterbliebenen. Die tragen das Leid noch weiter und werden vielleicht ihr Leben lang damit zu tun haben. Vielleicht geht es sogar noch in die nächste Generation. Das ist auf diesem Niveau natürlich genau immer hundert Prozent Schicksal oder Leid. Und doch müssen wir als Gesamtgesellschaft ja schauen, welche Art von Sicherheitsniveau haben wir schon erreicht, und da müssen wir einfach sagen, da passiert bei uns hierzulande im Vergleich zu anderen Regionen sehr viel weniger. Wir sind da auf einem sehr hohen Niveau und müssen dann auch jeweils immer wieder abwägen, ob wir die Aufmerksamkeit, die wir jetzt auf bestimmte Ereignisse geben, nicht unverhältnismäßig verteilen, wenn wir anderswo eigentlich hinschauen müssten, wo wir es gerade nicht tun. Becker: Hätten Sie ein Beispiel für blinde Flecken? Voss: Na ja. Wir sehen schon an dieser Art der Berichterstattung, und das haben wir bei jedem Ereignis eigentlich: Die Medien wenden sich nach einem bestimmten Zeitraum sowieso von einem Ereignis wieder ab, die öffentliche Wahrnehmung, will ich damit verallgemeinernd sagen. Aber wenn zwischendurch etwas anderes passiert, dann geht das schneller. Sprich: Wir haben die letzten Tage wieder unglaubliche Opferzahlen an den Küsten Europas zu beklagen, während wir hier über unsere Hochwasserlage viel mehr jetzt berichten, als dies in den Blick zu nehmen. Das sind die Wahrnehmungsverschiebungen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Voss im Gespräch mit Birgid Becker
Die Unwetter der vergangenen Tage zeigten, dass man sich nicht auf jedes Risiko vorbereiten könne. Meteorologen könnten oft nur schwer oder erst sehr kurzfristig sagen, welche Region genau betroffen sei, sagte der Katastrophenforscher Martin Voss im DLF. Werde aber zu früh und zu häufig gewarnt, könne das zu einer Abstumpfung führen.
"2016-06-05T07:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:33:19.660000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umgang-mit-katastrophen-wir-werden-weiter-opfer-in-kauf-100.html
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Wenig Förderung für Schüler mit Rechenschwäche
Nach jüngsten Untersuchungen der Charité Berlin sind 6,6 Prozent der Grundschüler in Deutschland von Dyskalkulie betroffen. (picture alliance / ZB - Thomas Eisenhuth) Matheunterricht war für die 13-jährige Norma Janke früher eine Qual. Addieren, subtrahieren, multiplizieren, einfachste Rechenaufgaben fielen der Schülerin schon in der zweiten Klasse schwer. In allen anderen Fächer aber war sie dagegen überdurchschnittlich gut. Ihre Grundschullehrer konnten sich keinen Reim darauf machen, ihre Mutter dagegen schon. Sie vermutete, dass ihre Tochter Dyskalkulie hat. Eine Teilleistungsstörung, die umgangssprachlich auch Zahlenblindheit genannt wird. Die Mitarbeiter eines Therapiezentrums diagnostizierten Normas tatsächlich eine Rechenschwäche. Nicht so die zuständige Schulpsychologin. Nach einigen Tests stellte sie fest, es gebe keine Anzeichen für Dyskalkulie. Andrea Janke, Normas Mutter, glaubt, dass viele Lehrer, aber auch Schulpsychologen von Dyskalkulie zu wenig Ahnung haben. "Das habe ich mir nicht erklären können. Ich bin auch immer noch emotional sehr wütend darüber, dass so eine Person an so einer Stelle sitzt, weil ich das unfassbar finde. Letztlich müsste man mehr auch auf die Erfahrung der Eltern hören, also einfach eine bessere Zusammenarbeit zwischen Schülern, Lehrern, Eltern und den offiziellen Stellen finden." Wegen der Diagnose der Schulpsychologin erhielt ihre Tochter keinen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Die Mathelehrerin durfte ihr also weder mehr Zeit für die Rechenaufgaben einräumen, noch sie mit einem Schmierzettel arbeiten lassen. Zumindest nicht offiziell. Als Norma in die siebte Klasse aufs Gymnasium wechselte, wurde ihre Rechenschwäche immer offensichtlicher. Zum einen, weil der Leistungsdruck immens zunahm, aber auch, weil die neue Mathelehrerin kein Verständnis für ihre Dyskalkulie hatte, erzählt Norma. "Ganz oft wollte ich eigentlich gar nicht mehr in die Schule, um einfach mal einen Tag Auszeit zu haben. Einfach nur ein Tag irgendwie im Bett liegen, einfach nichts machen, einfach nur schlafen. Und ich konnte mich auch nachmittags total wenig mit meinen Freunden verabreden, weil ich halt lernen musste oder nacharbeiten oder Hausaufgaben und da blieb halt nicht so viel Zeit für Spaß." In Berlin ab Klasse 7 kein Anspruch auf Nachteilsausgleich Objektiv gesehen muss die Lehrerin auch kein Verständnis für Normas Rechenschwäche zeigen. Denn ab der siebten Klasse haben Jugendliche mit Dyskalkulie in Berlin kein Anspruch mehr auf einen Nachteilsausgleich. Dies sehen die Fördervorschriften der Senatsverwaltung für Bildung nicht vor. Das Verhalten der Mathelehrerin und der Schulleitung findet Normas Vater, Ulrich Krampe, trotzdem ignorant. "Ich bin der Meinung, dass Schule einen Erziehungsauftrag hat neben dem Bildungsauftrag und auch den Auftrag, erwachsene Menschen heranzubilden und nicht irgendwelche Leute mit Störungen. Die Schule hat da meines Erachtens eben versagt, indem sie sagt, wir sind hier nur eine Bildungsanstalt und wir können ja jetzt nicht ein Kind bevorteilen und die anderen alle benachteiligen." Wäre Norma dagegen Legasthenikerin, dann bekäme sie einen Nachteilsausgleich, und das sogar bis zur zehnten Klasse. Ihre Deutschnote würde im Zeugnis kaum berücksichtigt und bis zur sechsten Klasse würde sie ganz wegfallen. Selbst in der Abi-Prüfung würden ihr die Lehrer mehr Zeit einräumen. Volksinitiative Chancengleichheit des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie Obwohl laut wissenschaftlicher Forschung beide Teilleistungsstörungen ähnlich weit verbreitet seien, fördere der Staat die Betroffenen sehr unterschiedlich, ärgert sich auch Jaqueline Wißmann. Die Psychologin und Lerntherapeutin unterstützt darum die Volksinitiative Chancengleichheit des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie. Ziel ist es, für beide Gruppen dieselben staatlichen Hilfen zu erhalten. Die einseitige Förderung von Legasthenikern habe mehrere Gründe, sagt Wißmann. "Zum einen ist halt der Kenntnisstand noch nicht so hoch und zum anderen ist vielleicht die Motivation auf politischer Seite vielleicht auch nicht so wahnsinnig groß, da für die rechenschwachen Kinder in ähnlicher Weise diesen Apparat hochzufahren, wie es für die Legasthenie getan wurde. Weil es auch Kosten verursacht, weil es Aufwand bedeutet, weil es Personal erfordert. Ich sage jetzt mal ganz sarkastisch: Wenn ich keine Kinder finde, die Dyskalkulie haben, dann muss ich ja auch nichts dagegen tun." Die Eltern von Norma sind hartnäckig geblieben. Sie haben schließlich eine Gesamtschule gefunden, die auf Normas Schwächen eingeht. Die Lehrer unterstützen sie bei ihrer Rechentherapie und die Noten der 13-Jährigen sind wieder viel besser geworden. Es spricht also nichts dagegen, dass Norma eines Tages dort ihr Abi machen wird.
Von Susanne Arlt
In fast jeder Schulklasse sitzen Kinder mit einer Dyskalkulie, einer Rechenstörung. Anders als bei einer Lese-Rechtschreibschwäche werden bei der Rechenschwäche Diagnose- und Fördermethoden an Schulen immer noch selten eingesetzt. Auch der Berliner Schülerin Norma fiel Mathe außerordentlich schwer.
"2015-07-16T14:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:16.940000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dyskalkulie-wenig-foerderung-fuer-schueler-mit-100.html
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"Ein Siegeszug der Technologie"
"Unser Ziel ist es, diese Anlagen in Serienreife zu bauen und überall dort hinzustellen, wo erneuerbare Energie erzeugt und wo sie auch gespeichert werden muss", sagt Ingenieur Tim Böltken. (Imago/Chromorange) Ralf Krauter: Es klingt ein bisschen wie Alchemie: Man nehme eine Prise Solarstrom, etwas Wasser und Luft und erzeuge daraus einen zu 100 Prozent regenerativen Kraftstoff. Mit einer Pilotanlage in Finnland, entwickelt im Projekt Soletär, ist dieses Kunststück jetzt gelungen. Zentraler Bestandteil der dezentralen Flüssigkraftstoffproduktion ist ein kompakter Fischer-Tropsch-Reaktor im Containerformat, den das Startup-Unternehmen IneraTec aus Karlsruhe beigesteuert hat. Firmengründer Dr.-Ing. Tim Böltken erklärte Ralf Krauter die Hintergründe - und wie die ersten 200 Liter Sprit aussahen, die aus der Anlage kamen. Tim Böltken: Das war natürlich schon ein schönes Gefühl, als dort wirklich eine sehr klare Flüssigkeit einfach aus der Anlage gekommen ist, die nur aus CO2 und Wasserstoff erzeugt wurde. Man muss sich das so ein bisschen vorstellen wie Wasser, also nicht so eingefärbt wie konventioneller, auf Rohöl basierender Kraftstoff, sondern es ist wirklich farblos. Es riecht anders, es ist sehr paraffinreich. Das liegt daran, dass in diesem Kraftstoff keine Aromaten drin sind. Das fördert auch dann wieder die Verbrennungsfähigkeit des Kraftstoffs. Das Schöne ist, er ist auch nicht giftig. Man kann ihn anfassen und muss keine Angst haben, Krebs zu bekommen. "Eine Art Rohdiesel" Krauter: Also das ist ein Kohlenwasserstoff, den man in einem Verbrennungsmotor verbrennen könnte, der schon durchaus Ähnlichkeit mit Benzin auch hat? Böltken: Er ist destillierbar, der Kraftstoff, das heißt, man kann unterschiedliche Routen einschlagen. Man kann aus diesem Rohkraftstoff Benzin machen, man kann Kerosin machen, man kann auch Diesel machen. Der Kraftstoff, der so aus der Anlage kommt, ist eine Art Rohdiesel. Das heißt, im Sommer, wenn es nicht kalt ist, kann ich den auch sofort in meinem Verbrennungsmotor verfahren. "Das Herzstück ist unser kompaktes Fischer-Tropsch-Verfahren" Krauter: Sprechen wir über diese bemerkenswerte Anlage, die das möglich gemacht hat. Was sind die zentralen Komponenten dieser "Soletär" getauften Anlage, die in Finnland steht? Böltken: Das Herzstück dieser Anlage ist zunächst mal unser wirklich kompaktes Fischer-Tropsch-Verfahren. Dort wird aus Gasen ein flüssiger Kraftstoff gemacht, der dann auch bei Umgebungstemperatur und Umgebungsdruck flüssig ist. Zusätzlich zu diesem Fischer-Tropsch-Verfahren, welches wir in einen Container integriert haben, ist noch die eine oder andere Komponente notwendig. In diesem Soletär-Projekt gab es zum Beispiel eine Elektrolyse, die aus Solarstrom Wasserstoff gewonnen hat aus Wasser. Und es gab eine sogenannte CO2-Direct-Air-Capture, das heißt, das CO2 wurde mit einem großen Filter aus der Luft gezogen. Und so hatten wir dann Wasserstoff und CO2, und dieses wurde dann in unsere Anlage eingeführt, und daraus wurde dann Kraftstoff erzeugt. Krauter: Das Fischer-Tropsch-Verfahren, das kennt man vielleicht noch aus der Schule. Es wird ja auch zum Verflüssigen von Kohle zum Beispiel eingesetzt. Sie haben das jetzt modifiziert und technisch eben kompakter gemacht. Wie lange hat es gedauert, diese ersten 200 Liter dann damit herzustellen? Böltken: Die Entwicklung wurde hauptsächlich vom Karlsruher Institut für Technologie durchgeführt, natürlich noch in unserer Zeit, als wir noch Studenten waren und Doktoranden. Wir haben dort natürlich fleißig mitgeforscht bis zum Jahr 2013, 2014 sind dann schon mal sechs, sieben Jahre an Forschung vergangen, und dann haben wir uns gesagt, das ist eine coole Technologie, wir können die jetzt zur Marktreife bringen. Dadurch haben wir dann die Firma IneraTec gegründet und haben dann einen Reaktor und ein Verfahren entwickelt, in welchem wir dieses Verfahren dann dezentral anwenden können. Und Sie haben es richtig gesagt, Fischer-Tropsch, das kennt man aus recht großen Anlagen, die zentral betrieben werden. Wir können jetzt diesen Reaktor dezentral einsetzen und waren dann natürlich sehr glücklich, als dann im Jahr 2016 zunächst mal die Anlage aufgebaut wurde und auch zugelassen wurde, und in diesem Jahr, in diesem Sommer, ist jetzt diese Kampagne gefahren, und es sind dann innerhalb von einer Woche die ersten 200 Liter an Kraftstoff rausgetropft, und insofern war das schon ein Siegeszug dieser Technologie. "Dezentrale Anlagen brauchen dezentrale Anlagentechnik" Krauter: Das ist ja ein perfekt regenerativer Kraftstoff, wenn man so will. Sie brauchen nur Sonnenstrom, Sie brauchen nur Wasser, und Sie fischen sich CO2 aus der Luft, also alles reichlich kostengünstig verfügbare Rohstoffe. Was ist der limitierende Faktor dieser Methode in puncto Kapazität und Tempo der Herstellung? Böltken: Wir reden hier von unterschiedlichen Aspekten mit Kapazität und Tempo. Wenn man chemische Anlagen anschaut, denkt man immer sofort in einer Großtechnologie. Wir reden hier von großen Industrieparks, zum Beispiel einer BASF in Ludwigshafen oder auch großer Raffinerien. Allerdings ist es so, dass erneuerbare Energie oftmals einfach dezentral zur Verfügung steht. Wir haben Windparks, wir haben Solarparks, wir haben aber auch Biogasanlagen. Diese dezentralen Anlagen, die die Energie bereitstellen, bedürfen auch einer dezentralen chemischen Anlagentechnik, um die Gase dann auch dezentral vor Ort umzuwandeln und zum Beispiel in einem flüssigen Produkt zu speichern. Unser Ziel ist es, diese Anlagen in Serienreife zu bauen und dann überall dort hinzustellen, wo erneuerbare Energie erzeugt wird und wo sie auch gespeichert werden muss. Und in puncto Kapazität haben wir ja auch eigentlich keine Grenzen. Wir sind gerade beim Engineering einer Anlage im Megawattbereich, die könnte dann auch angepasst werden an größere Windparks, an größere Solarparks, an Wasserkraftwerke, überall dort, wo zum Beispiel Strom erzeugt werden könnte. "Ein wirklich wichtiger Baustein im Bereich der Energiewende" Krauter: Das heißt, die Technologie ist im Prinzip skalierbar, und sie könnte durchaus eine wichtige Rolle spielen bei der Umsetzung der Energiewende, weil man überflüssigen Strom nutzen könnte, um Sprit herzustellen. Böltken: Ganz genau. Sie ist skalierbar im dezentralen Bereich. Deswegen sehen wir das auch nicht als eine Übergangstechnologie, sondern als wirklich wichtigen Baustein im Bereich der Energiewende, und zwar, das ist die Speicherung der Energie, die wir zukünftig erneuerbar erzeugen werden. Das ist wirklich eine effiziente Alternative zum Beispiel auch gegenüber einer Batteriespeicherung. Wir reden immer von Kraftstoffen, aber eigentlich sind es Kohlenwasserstoffe. Die haben eine sehr viel höhere Energiedichte als zum Beispiel eine Batterie. Und sie haben auch noch die Vorteile, sie sind einfach lagerbar, ich brauche keinen hohen Druck, ich brauche keine tiefen Temperaturen, sondern ich kann sie einfach in einen Tank einfüllen und kann sie dann in einer bestehenden Infrastruktur verwenden. Man muss sie jetzt nicht unbedingt gleich wieder verbrennen in einem Motor. Man kann sie auch als Rohstoff in die chemische Industrie einbringen, um dort erdölbasierende Komponenten zu ersetzen. Ich kann daraus Kunststoffe machen, ich kann sie für Lackierungen, aber selbst auch für die Kosmetikindustrie verwenden. Also die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig, und es wäre ja schon schön, wenn wir hier als Industriestandort auch unsere gesamte Industrie auf eine Art erneuerbares Standbein stellen könnten. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Tim Böltken im Gespräch mit Ralf Krauter
Keine Farbe, kein Gift, kein Gestank: Einen regenerativen Kraftstoff hat eine Pilotanlage des Start-up-Unternehmens IneraTec erzeugt. "Wir sehen das nicht als eine Übergangstechnologie, sondern als wirklich wichtigen Baustein im Bereich der Energiewende", sagte Firmengründer Tim Böltken im Dlf.
"2017-07-25T16:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:38:44.861000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sprit-aus-solarstrom-ein-siegeszug-der-technologie-100.html
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Metropolen auf dem Trockenen
"You put together rapid population growth, urbanization, and throw in climate change. And you have a recipe for a really dramatically changed world."Rapides Bevölkerungswachstum, ein anhaltender Trend zur Stadtflucht und obendrein noch der Klimawandel – das, sagt Paul Reiter, sei das Rezept für eine dramatisch verändert Welt. Der US-Amerikaner ist der Chef der IWA, der Internationalen Wasser-Vereinigung. Einer Organisation mit rund 10.000 Mitgliedern in über 120 Ländern der Erde, darunter unzählige Ingenieure und Hydrologen. Auf der Welt-Wasser-Woche in Stockholm leitete Reiter jetzt ein Experten-Seminar über die "Städte der Zukunft". Die IWA hat soeben ein Programm mit diesem Namen gestartet. Reiter:"Mit dem Programm wollen wir Stadtplaner dazu bringen, sich möglichst schnell auf die Herausforderungen der kommenden, sagen wir, 20 Jahre einzustellen. Es geht darum, Leckagen im Leitungssystem zu beheben, Meerwasser zu entsalzen, wo es möglich ist, Wasser wiederzuverwerten und auch Regen aufzufangen und zu nutzen. Es ist ein ganzes Maßnahmen-Paket."Schon in 15 Jahren werden sich zwei Drittel der Megastädte dieser Welt in Regionen befinden, in denen Wasser knapp ist. Diese Zahl wurde in Stockholm genannt. Metropolen in China, Indien oder Südafrika werde es genauso treffen wie Großstädte in den USA, etwa Colorado oder Los Angeles. Es drohe eine immer stärkere Nutzungskonkurrenz zwischen den Bewohnern, der Industrie und der Landwirtschaft.Es gibt eine Millionenstadt, die ist den anderen in der Entwicklung weit voraus. Sie gilt in vielem als Modell für die "Stadt der Zukunft". Es ist Perth im Südwesten Australiens. Ein boomendes Bergbauzentrum, in dem vieles aus der Erde geholt wird: Öl, Gas, Kohle, Gold, Zinn, Nickel und so weiter. Rund zwei Millionen Einwohner hat Perth inzwischen – nur kein Wasser mehr. Der Klimawandel beschert der Stadt ein Dürre-Jahr nach dem anderen, nur selten fällt noch Regen. Aufgestautes Flusswasser und Grundwasser können den Bedarf nicht mehr decken. Die australische Geologin und Umweltingenieurin Emma Rose:"Perth hat inzwischen eine Anlage zur Meerwasser-Entsalzung. Eine zweite ist in Planung. 15 Prozent des Abwassers, das aus den städtischen Kläranlagen kommt, wird industriell wiederverwertet. Es fließt in eine Metallschmelze und wird dort zu Reinigungszwecken genutzt. Und was es in Perth schon länger gibt: Hausbesitzer fangen Regenwasser auf. Auf ihren Grundstücken haben sie Sickergruben, durch die der Niederschlag abläuft und das Grundwasser auffüllt, das dann wieder über Brunnen genutzt werden kann."Die australische Küstenstadt hat dabei noch das Glück, auf einem salinen Aquifer zu sitzen, einem Grundwasserleiter in einer porösen Sandstein-Formation. Das brachte die Hydrologen und Stadtplaner in Perth jetzt auf eine neue, ausgeklügelte Idee. Emma Rose:"Perth arbeitet an einem Aquifer-Speicher, den man immer wieder aufladen kann. Man nimmt Abwasser, bereitet es bestmöglich auf und leitet es in den unterirdischen Grundwasser-Leiter. Das ist sinnvoller, als weitere Dämme zu bauen und Flusswasser aufzustauen. Im Untergrund gibt es auch keine Verluste durch Verdunstung. Bei anhaltender Dürre kann man diesen Aquifer-Speicher dann anzapfen."Wie Paul Reiter sagt, werden viele Städte gezwungen sein, ihr Wasser-Management auf neue Beine zu stellen. Das Ziel müsse sein, wesentlich sparsamer mit der überbeanspruchten Ressource umzugehen:"If we play out the demands for water, for energy, for food, we’ve got demands that equal three planets. And we’ve got about one planet with the ressources."Wenn unser Bedarf an Wasser, Energie und Nahrung weiter so steigt, dann bräuchten wir drei Planeten, um ihn zu decken. Wir haben aber nur einen ...
Von Volker Mrasek
Die wachsende Verstädterung führt zu gewaltigen Umweltproblemen. Bald schon werden die Megastädte genannten Riesenagglomerationen in ernste Wasserprobleme geraten - und das nicht nur in Entwicklungsländern. Auf der Weltwasserwoche wurden Konzepte gegen die drohende Austrocknung diskutiert.
"2009-08-20T16:35:00+02:00"
"2020-02-03T09:58:32.652000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/metropolen-auf-dem-trockenen-100.html
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"Ich war immer da"
"Ich will Kanzler werden. Ich will die Wahl gewinnen und will Kanzler werden.""Ich glaube, dass das, was auf uns zukommt, eine geistig-moralische Herausforderung ist.""Ich war immer da, ich habe mitgearbeitet, weil dies doch meine Partei ist, weil das ein Stück meines Lebens ist." In der Tat - Helmut Kohl war immer da - über 25 Jahre als Parteichef der CDU – und 16 Jahre lang als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Wie konnte er sich so lange an der Spitze halten? Eine ganze Generation von Kabarettisten hat sich an dieser Frage abgearbeitet. Thomas Freitag, Kohl-Parodist:"Es gehören immer zwei dazu, zu einer bestimmten Politik. Man kann auch nicht alles an diesem Dicken abwälzen, das war der Bundeskanzler und wahrscheinlich auch für das Volk, das ihn verdient hat."Kohl hat die Deutschen polarisiert, besonders zu Beginn seiner Amtszeit. Nun, zu seinem 80. Geburtstag, blicken viele mit Respekt oder auch milde gestimmt auf ihn zurück. "Ein Mann, wie ein Baum.""Politiker-Urgestein, ja, kennt ihn jeder.""Er war schon ein richtiger Staatsmann, ich glaub schon, überall, wo der aufgetreten ist, haben die Leute Respekt gehabt.""Er hat relativ wenig für die einfachen Leute gemacht, und ziemlich viele Tricks haben da stattgefunden.""Ich habe immer noch Hochachtung vor ihm, jeder kann mal daneben treten.""Er war patriarchisch."Ohne Zweifel. Das bescheinigen ihm politische Beobachter aller Couleur. Sein Regierungsstil bleibt beispiellos. Friedrich Nowottny, Journalist, der bis Mitte der 80er Jahre den "Bericht aus Bonn" moderierte:"Das System Helmut Kohl war Helmut Kohl. Er war der große Parteiführer, ein ausgeprägter Individualist und einer, der ganz allein über gewisse Dinge zu entscheiden wusste.""Das System Kohl war in aller erster Linie die absolute Beherrschung der Partei, der CDU, und von dieser Quelle aus hat er seine ganze Macht geschöpft."In den 70er-Jahren, sagt Hans Peter Schütz, politischer Autor beim "stern", soll die Partei Kohl zur Macht in Bonn verhelfen. Als er dann Kanzler wird, nutzt er die CDU, um seine Stellung abzusichern. Er ist immer schon ein Machtmensch, ein Anführer-Typ gewesen, meint Gerd Langguth, Bonner Politikwissenschaftler und Kohl-Biograph."Meines Erachtens ist herausragend, dass er bei allen seinen politischen Weggefährten von früh an so etwas wie eine Partizipationserwartung geweckt hat unter dem Motto: Wenn ich, Kohl, was werde, wenn ich Kanzler werde, wenn ich Kanzler bleibe, dann ist es auch zu deinem Vorteil. Jedem anderen klarzumachen, dass man Teil einer Art Schicksalsgemeinschaft ist, vielleicht sogar Teil eines gemeinsamen, historischen Auftrages. Das hat die Stärke von Kohl ausgemacht.""Deshalb war ja auch dieses schwarze Notizbüchlein so legendär, von dem aus er eigentlich seine Regierungsgeschäfte geführt hat, auch im Kanzleramt hat er das unentwegt benutzt."Was "stern"-Autor Hans Peter Schütz beschreibt, kennt auch Kohls früherer Regierungssprecher Friedhelm Ost nur zu gut."Das war eigentlich ein Taschenkalender, der jährliche Taschenkalender der BASF, und dort trug er sich die Termine selbst ein. Da kam kein anderer ran, und dort hatte er auch die wichtigen Telefonnummern vom Kreisvorsitzenden.""Wenn er von seinem Büro aus die Leute irgendwo im Lande anrief und herzlich zum Geburtstag gratulierte, wenn einer anstand, und die Leute glaubten nicht, dass der Parteivorsitzende, der Bundeskanzler sie anruft. Sie hielten ihn für einen Stimmenimitator. Nein, er achtete schon darauf, dass ein Kreisvorsitzender, von dem er wusste, so und so viele Delegierte gehen zum Parteitag, den rief er an, dem gratulierte er, und der hat seine Delegierten begeistert darüber unterrichtet, dass der Bundeskanzler angerufen hat. So was half."erinnert sich Friedrich Nowottny. Ein dichtes Geflecht an Kontakten baut Helmut Kohl bereits auf, als er noch Fraktionsvorsitzender und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz ist. Biograf Gerd Langguth:"Zu seinem System gehört eben auch, dass es ihm gelungen ist, sehr intelligente und sehr solide Leute mit intellektueller Ausstrahlung um sich zu scharen. Er hat z.B. Richard von Weizsäcker in die Politik geholt oder auch so jemanden wie Heiner Geißler. Also, das System hatte durchaus auch sehr produktive Seiten.""Die Partei hat außerordentlich davon profitiert. Er hat die Partei über schwierige Zeiten gerettet, zusammengehalten, und er hat ja, wie man weiß, bemerkenswerte Wahlergebnisse zustande gebracht. Er hätte ja um ein Haar 1976 die absolute Mehrheit erreicht. Das war ganz knapp, und wenn Helmut Schmidt nicht die FDP an seiner Seite gehabt hätte, wäre es für ihn gelaufen gewesen."So Friedrich Nowottny. Weitere Grundlage für den Erfolg: Zu Kohls Netzwerk gehören nicht nur Parteimitglieder. Kohl knüpft Kontakte zur Wirtschaft – zu allen Teilen der Gesellschaft, auch zu Film und Presse. Kabarettist Thomas Freitag:"Er hat eine unglaubliche Bauernschläue immer schon gehabt, und er ist ausdauernd, er hat ja auch Verbindungsleute gehabt, so seine Verbindungen zu Kirch und diesen ganzen Leuten, auch was die Medien anbelangt, und die ganze Springerpresse natürlich, ich mein, wer die Springerpresse hat politisch, der hat in diesem Land sowieso gewonnen.""Wenn Sie Bundeskanzler sind, müssen Sie auch Kritik ertragen können.""Für mich ganz und gar unerträglich.""Wenn da der eine oder andere, auch aus unserem Lager, glaubt, das sei wieder die Stunde, sich selbst zu profilieren, so finde ich, richtet sich solches Tun von selbst. Ich finde es ziemlich armselig, um es deutlich zu sagen.""Der Helmut Kohl war wirklich gnadenlos in der Machtausübung in der Partei, wenn ihm jemand nicht gepasst hat, wenn jemand nicht auf seinem Kurs genau lag, dann hat er gnadenlos durchgegriffen und sich von diesen Leuten getrennt. Sie müssen nur mal die wichtigsten Figuren nehmen, die da unter die Räder gekommen sind, das fing ja schon an mit Herrn Biedenkopf, das ging dann weiter mit Herrn Geißler.""stern"-Autor Hans Peter Schütz verweist auf den Bremer CDU-Parteitag 1989. Für die CDU läuft es gerade nicht so gut, noch deutet sich kein Mauerfall an. Generalsekretär Heiner Geißler und einige andere wollen die Partei reformieren - gegen den Willen des Vorsitzenden. Geißler erklärt: "Der Generalsekretär der CDU ist nicht der Generalsekretär der Regierung. Wehe der CDU als Volkspartei, wenn die Vielfalt der Persönlichkeiten ihres Könnens und ihrer Ideen in der Bevölkerung nicht mehr sichtbar werden würden. Was wir brauchen ist, Teamarbeit und Teamgeist, das Wachsen vieler Begabungen und Ideen."Kohl wittert den Aufstand und serviert seinen langjährigen Vertrauten ab. Querschüsse duldet er nicht. Wer zu eigenständig wird, muss gehen."Ja, Entschuldigung. Wir haben uns getrennt, weil wir in entscheidenden Fragen unterschiedlicher Meinung waren. Und die Partei hat nur einen Vorsitzenden und nicht einen Nebenvorsitzenden, und die Regel ist völlig eindeutig.""Denken Sie an seine Beziehung zu Strauß, Strauß wollte ihn umbringen, er ist so lange gegen ihn angerannt, gegen Kohl angerannt, bis er erschöpft am Wegesrand liegen blieb. Kohl hat ihn Kanzlerkandidat werden lassen in der sicheren Überzeugung, dieser Mann wird sich an mir die Zähne ausbeißen und die Wähler werden es mir danken, und so geschah es also 1980.""Das Ganze ist eine Flegelei, eine ausgemachte Flegelei."Dabei galt Franz Josef Strauß lange als der Stärkere, erinnert sich Friedrich Nowottny. Der ehemalige Regierungssprecher Friedhelm Ost beschreibt Kohls Umgang mit Kritik so:"Man konnte mit ihm offen diskutieren mit offenem Visier, das liebte er, und das akzeptierte er. Er mochte nicht, wenn Leute ihm sozusagen nicht direkt gegenüber die Meinung offen bekundeten, sondern in die Öffentlichkeit gingen mit Interviews oder mit anderen Äußerungen, die ihn dann sozusagen in eine kontroverse Stellung brachten."Kohl verlangt jedem unbedingte Loyalität ab. Andererseits sorgt er bei denjenigen, die sein Vertrauen genießen, auch persönlich dafür, dass ihre Karriere vorankommt. Und mehr noch: Kohl hilft sogar bei privaten Problemen. Sein Biograf Gerd Langguth: "Das ist das Grundproblem von mächtigen Menschen, die umstritten sind, die, wenn sie die Zeitung aufschlagen, häufig was Negatives über sich lesen. Sie brauchen dann eine engere Umgebung und wollen eine, die dann möglichst wenig widerspricht, sondern auch einen emotional mit trägt."Dieses Emotionale, die familiäre Atmosphäre also, beim Arbeiten und Regieren hat Helmut Kohl nicht nur zu Hause in Bonn gepflegt und geschätzt. Friedrich Nowottny:"In der Außenpolitik hat Helmut Kohl sehr darauf geachtet, dass er sehr persönliche Beziehungen zu den großen der westlichen Welt geknüpft hat, mit dem Osten hatte er seine Schwierigkeiten, wie man weiß, gab es das schreckliche Gorbatschow-Interview, 3.24 das er dann repariert hat. Nein, also er hat die westlichen Staatsmänner sehr persönlich für sich gewonnen, indem er sehr persönlich von sich als Deutscher nach diesem schrecklichen Krieg, der seinen Bruder verloren hatte und und und erzählt hat.""Ronald Reagan, der in Deutschland ja verlacht worden ist, der Schauspieler. Helmut Kohl hat ihn sehr schnell als Freund gewonnen, über alle Maßen, und damit auch George Bush, den damaligen Vizepräsidenten, den späteren Präsidenten der USA, und 8.30 das war natürlich entscheidend für den Weg in die Wiedervereinigung."Dass neben dem Beziehungsgeflecht des Pfälzers offenbar noch eine weitere Komponente zum System gehört, wird Ende 1999 offenkundig, als der Spendenskandal die CDU erschüttert und in eine ihrer schwersten Krisen stürzt. Dabei fliegt auf, dass die CDU über lange Jahre systematisch schwarze Kassen geführt hat. Heiner Geißler, der von Kohl einst geschasste Generalsekretär, gibt zu:"Es ist so, neben dem Etat der Bundesgeschäftsstelle gab es auch andere Konten, das ist wahr."Kurz darauf muss auch Helmut Kohl einräumen:"Ich habe Spenden angenommen zwischen 1993 und 1998 in der Größenordnung zwischen anderthalb und zwei Millionen Mark. Die Spender haben mir ausdrücklich erklärt, dass ich diese Spende, die ich dringend brauchte angesichts der Finanzlage der CDU in den neuen Ländern, sie geben dieses Geld nur, wenn es nicht in die Spendenliste kommt. Das ist der Fehler, den ich gemacht habe, zu dem ich mich bekenne und den ich auch bedauere."Helmut Kohl, der Einheits-Kanzler, muss sich als Bimbes-Kanzler verspotten lassen. Bimbes ist der pfälzische Ausdruck für Geld."Jeder, der mich kennt, weiß, ich bin weder bestechlich, noch nehme ich Geld an. Ich bin in meinen privaten Verhältnissen der geblieben, der ich war: Bescheiden. Das weiß jeder, und deswegen brauche ich mir auch hier Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit jetzt nicht anhören zu lassen, die ich nicht akzeptiere.""Das ist natürlich ein Skandal ohnegleichen, ich meine, diese Ehrenwort-Geschichte, das ist natürlich nur eine Schutzbehauptung, da dürfen halt bestimmte Quellen nicht genannt werden, woher die Kohle kommt, und deswegen spricht man vom Ehrenwort." 4.24 Und dass das auch nicht geht, sagt auch jeder, sogar aus seinem eigenen Laden. Das geht einfach nicht." Hochkonjunktur für deutsche Kabarettisten wie Thomas Freitag, Alarmstimmung bei den Christdemokraten. Angela Merkel, damals noch Generalsekretärin:"Jetzt kommt es darauf an, ob Helmut Kohl mehr wusste, mehr Details kannte, und dann kann man nur sagen, wäre es gut, er sagt es, weil für uns eine Menge auf dem Spiel steht…Ich kann nur sagen, wer der CDU helfen will, wer ihr dienen will, der muss jetzt dazu übergehen, wirklich alles, was er weiß, zu sagen, denn sonst kommen wir in eine unglaubliche Schwierigkeit, und ich glaube, alle, die es gut mit der CDU meinen, dürfen das nicht zulassen."Kohl muss auf Drängen der eigenen Partei den Ehrenvorsitz abgeben. Er will die Namen der vermeintlichen Spender nicht nennen. Dazu Heiner Geißler:"Es ist auch ein Schaden für die gesamte Demokratie, nicht nur der materielle und ideelle Schaden, der dadurch für die christlich-demokratische Union eintritt, und deswegen war dieser Trennungsstrich dringend notwendig, weil wir nicht akzeptieren können, dass dieses Schweigen höher bewertet wird als das Gebot der Verfassung."Schäuble, der 1998 von Kohl den Parteivorsitz übernommen hat, gerät in den Strudel der Affäre und muss zurücktreten. Für den Mann, der eigentlich Kohls Nachfolger werden sollte, demütigend. Kohl weigert sich zu reden, und Schäuble muss mit der CDU versuchen zu retten, was zu retten ist. Daran zerbricht ihre langjährige Freundschaft. Der treue Weggefährte von einst gegenüber dem ZDF:"Das Menschliche, Persönliche ist beendet, und das Politische bleibt. Unsere Beziehung ist beendet, das war eine wichtige Beziehung, jedenfalls für mich, vielleicht für ihn nicht, aber das ist sein Problem. Aber ich habe nicht die Absicht, mich dazu öffentlich zu äußern."Was den Altkanzler bewogen hat, sich so ins Abseits zu manövrieren, ist auch für seinen Biographen Gerd Langguth nur schwer verständlich. "Das Ganze ist deswegen mir eigentlich um so unverständlicher, als es auch die sogenannte Flick-Affäre gab, wo ja Kohl gerade noch einmal mit dem blauen Auge raus gekommen ist, dass er das dann nicht begradigt hat, das Ganze, das ist schon ein Rätsel."Mit Bimbes soll Kohl z.B. ergebene Kreisvorsitzende mit neuen Computern oder Dienstwagen unterstützt haben. Gerd Langguth:"Er, der ja immer so was wie ein Geschichtsdeuter war, der in historischen Dimensionen dachte, der wusste, dass ein Mann wie Bismarck – der hatte ja 3.43 Reptilienfonds (im weitesten Sinne schwarze Kasse) zur Verfügung – oder auch sein Freund Mitterrand, der französische Präsident. Dort in Frankreich hat ein französischer Präsident genügend Geld in seiner Spezialschatulle, und wahrscheinlich hat er sich das schön geredet, hat er sich selber gesagt, was Bismarck und Mitterrand hatten, das kann ich – Kohl – mir auch erlauben." Kein anderer deutscher Spitzenpolitiker hat sich so intensiv um die Parteikasse gekümmert wie Helmut Kohl. Friedrich Nowottny:"Man sagt heute so leicht, von Geld, von Wirtschaft verstand er nichts, das ist ein großer Irrtum, glaube ich. Er hat schon dafür gesorgt, dass die Sache gut lief, was die Parteifinanzen anging, dass es am Ende aus dem Ruder lief, das ist eine andere Frage.""Natürlich ist es misslich, wenn jemand als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gegen Gesetze, geltende Gesetze verstößt, das wiegt besonders schwer. Aber in der historischen Dimension, der Mann, der Europa geeinigt hat, der Mann, der die deutsche Einheit geschafft hat, der Mann, der das deutsche Verhältnis auch zu den USA hervorragend gepflegt hat, was ja politisch ganz wichtig war für uns, das ist sozusagen ein ganz kleiner schwarzer Fleck auf der weißen Weste."Kohls früherer Regierungssprecher Friedhelm Ost glaubt aus heutiger Sicht, dass damals viele auch in der CDU die Affäre hochgespielt hätten und sich alte Widersacher an Kohl rächen wollten. Das unrühmliche Ende Helmut Kohls hat Angela Merkel hingegen zu unerwarteter Karriere verholfen. Thomas Freitag:"Dass dann ausgerechnet sein Mädchen, ‚mein Mädschen’, dass die ihn dann auch über einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wegbeißt, da muss man sagen, gut gelernt, Mädel, ha, ha."Angela Merkel ist diejenige, die den Schlussstrich zieht. Im selbstverfassten Zeitungsbeitrag empfiehlt sie der CDU, sich von Kohl freizuschwimmen. Gerd Langguth, der auch eine Biographie über Angela Merkel geschrieben hat, meint, dass sie das System Kohl beerdigt hat. Allerdings sei auch sie eine Politikerin mit ausgeprägtem Machtbewusstsein, die man lange unterschätzt habe."Denken Sie mal daran, ihren Weg hoch zur Kanzlerin, manche Skalps pflastern da ihren Weg, der eine wurde den Ehrenvorsitz los, nämlich Helmut Kohl, und der andere wurde den Parteivorsitz los, und das war Wolfgang Schäuble. Sie hat auch letztlich dafür gesorgt, dass die Rolle von Merz als Fraktionsvorsitzender beendet wurde, das ist ein weiterer Skalp, und ich könnte vielleicht noch weitere nennen bis hin vielleicht sogar zu Stoiber."Hans Peter Schütz vom stern meint aber, dass ihre Machtposition mit der Kohls nicht zu vergleichen sei."Angela Merkel hat halt sozusagen das Girls’ Camp und noch zwei, drei ihr sehr ergebene jüngere CDU-Politiker. Das ist schon richtig, aber sie hat die Verankerung draußen in der Partei, wie sie Kohl hatte und die intensiven Kontakte, das hat sie nicht.""Sie entwickelt ihr eigenes System und hat einige Elemente von Helmut Kohls Taktik mit übernommen. ….Züge des Abwartens, des Vorsichherschiebens, der Geduld gegenüber dem Koalitionspartner, die an Kohl erinnern, aber wenn Sie vom System Kohl sprechen, kann ich sagen, das hat er original für sich reserviert, da kommt keiner ran, auch wenn es immer wieder Plagiate in der Politik gibt.""Der Helmut Kohl wird bleiben wie er ist mit meinem ganzen unwiderstehlichen Charme, den Sie in vielen Jahren erlebt haben."
Von Susanne Grüter
Helmut Kohl feiert seinen 80. Geburtstag und blickt auf eine lange politische Karriere zurück. 25 Jahre Parteichef der CDU und 16 Jahre Kanzlerschaft, das braucht vor allem eines: Den Willen zur Macht.
"2010-04-02T18:40:00+02:00"
"2020-02-03T18:15:48.855000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ich-war-immer-da-100.html
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"Jeder andere Staat in Europa würde genauso handeln"
"Im Moment ist es so, dass viele Menschen diese Maßnahmen nicht nur nicht tragen, sondern sie auch vehement fordern", sagte der AKP-Politiker Mustafa Yeneroğlu. (Imago / Müller-Stauffenberg) Als Reaktion auf den Putschversuch sei die Gesellschaft in der Türkei seit mehreren Jahren erstmals vereint gewesen, sagte Yeneroğlu, der dem Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments vorsitzt. Millionen von Menschen seien auf die Straße gegangen und hätten sich gegen den Putsch gewendet. Die staatlichen Gegenmaßnahmen hätten viele Menschen vehement gefordert. Seit dem gescheiterten Militärputsch hat die türkische Regierung mehr als 60.000 Soldaten, Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Lehrer festgenommen oder suspendiert, die Anhänger des Predigers und Erdogan-Widersachers Fetullah Gülens sein sollen. Zum Ausreiseverbot für verbeamtete Akademiker sagte Yeneroğlu, die Türkei müsse sicherstellen, dass keine weiteren Gülen-Anhänger das Land verließen, die an dem Putsch beteiligt waren, und sich damit der Strafverfolgung entzögen. Das Interview in voller Länge: Ann-Kathrin Büüsker: Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung sagt, dass es in der Türkei gerade nicht nach rechtsstaatlichen Maßstäben zugeht, darüber möchte ich nun sprechen mit Mustafa Yeneroğlu, Mitglied der AKP und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Guten Morgen, Herr Yeneroğlu! Mustafa Yeneroğlu: Hallo, guten Morgen! Büüsker: Herr Yeneroğlu. was erwidern Sie Frau Kofler, wie steht es in der Türkei um die Rechtsstaatlichkeit? Yeneroğlu: Die Türkei hat in den letzten Jahren trotz seiner Situation in einer sehr, sehr schwierigen geografischen Lage, trotz zerfallener Staaten in der Umgebung über drei Millionen Menschen aufgenommen und sie nach wie vor ohne die Unterstützung aus Europa versorgt. Jetzt haben wir seit zwei Jahren eine gewisse Unterstützung aus Europa, und dass aus dem Zusammenhang eben solche Absolutierungen wie, es gebe in der Türkei keine Rechtsstaatlichkeit und ähnliche Kritik erfolgt, entspricht nicht den Tatsachen in der Türkei. Das weiß auch, glaube ich, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Aber es ist leider inzwischen so, dass solche Äußerungen gehäuft fallen und man sich da nicht ernsthaft darüber Gedanken macht, ob diese noch sachlich und rational die Situation in der Türkei richtig darstellen. "Die Türkei befand sich insgesamt in einer Notsituation" Büüsker: Aber Herr Yeneroğlu, die Pressefreiheit in der Türkei ist eingeschränkt, die Regierung nimmt Einfluss auf die Judikative, indem sie Richter entlässt, zahlreiche Akademiker dürfen das Land nicht mehr verlassen, es herrscht de facto ein Ausreiseverbot – ist das rechtsstaatlich? Yeneroğlu: Stellen Sie sich mal vor, dass der Deutsche Bundestag von Soldaten aus der Bundeswehr beschossen werden würde, bombardiert werden würde, wenn eben Menschen auf offener Straße von Kampfhubschraubern erschossen werden würden, Panzer auf der Straße Menschen überrollen würden. Die Türkei befindet sich insgesamt beziehungsweise befand sich insgesamt in einer Notsituation, und dass aus der Situation zur Existenzsicherung des Rechtsstaates, der Rechtsstaat natürlich mit allen seinen Möglichkeiten zurückschlägt und die Putschisten sowie ihre Helfer und Helfershelfer aus dem Amt jagt, ist wohl selbstverständlich. Ich glaube, jeder andere Staat in Europa würde mindestens genauso handeln und würde erst mal auch in Umkehrung des Ausnahme-Regel-Verhältnisses Menschen, von denen man ausgeht beziehungsweise die beschuldigt werden, den Putsch mit unterstützt zu haben, erst mal vom Dienst suspendieren und dann ernsthaft prüfen, ob diese Maßnahmen nach wie vor verhältnismäßig sind. Das wird in der Türkei geschehen, die Verhältnismäßigkeit wird geprüft. Und wie in den letzten Tagen wird es auch dann dazu führen, dass manche zurück zu ihrem Amt beordert werden und andere eben komplett entlassen werden müssen. Büüsker: Aber Herr Yeneroğlu, mir erschließt sich immer noch nicht, Stichwort Ausreiseverbot für Akademiker, warum braucht es das? Yeneroğlu: Das stimmt so in der Form nicht, es gibt kein umfassendes Ausreiseverbot für Akademiker. Büüsker: Sondern? Yeneroğlu: Grundsätzlich sind Akademiker, die zugleich Beamte sind, vom Ausreiseverbot insoweit betroffen, dass die Türkei sichern muss, dass keine weiteren Unterstützer des Gülen-Netzwerkes, die eben an diesem Putsch beteiligt gewesen sind, ins Ausland ausreisen und damit sich der Strafverfolgung entziehen können. Und das ist dann auch insoweit legitim, soweit bald auch dieses Ausreiseverbot auch sicherlich wieder beendet werden wird. Büüsker: Aber das heißt, Sie brauchen nur sagen, jemand ist Anhänger der Gülen-Bewegung, und dann können Sie ihm alle Rechte wegnehmen? Yeneroğlu: Nein, natürlich nicht, es muss sich schon um Führungskader der Gülen-Bewegung handeln, und dann wird das zutreffen. Ich meine, man muss das doch eben vor der Situation, in der die Türkei sich befindet, auch erörtern. Der Staat kann nur eben in einer Normalität Freiheit sichern, ansonsten kann der Rechtsstaat nicht seine Funktionen ausüben. Und wenn der Staat in dieser Form massiv angegriffen wird und seine Institution in der Form beschädigt wird, dann muss man eben Vorsorge treffen, damit die Menschenrechte, damit die Bürgerrechte im Land gewahrt werden können. "Die Gesellschaft ist zum ersten Mal in dieser Form vereint gewesen" Büüsker: Herr Yeneroğlu, Sie sagen, die Türkei braucht Normalität. Jetzt sind mehr als 10.000 Menschen in Haft, weitere Zehntausende sind entlassen oder suspendiert, wie kann das zu Normalität beitragen, spaltet das nicht eher die Gesellschaft? Yeneroğlu: Die Gesellschaft wird es nicht spalten, im Gegenteil. Wir haben gegenwärtig in der Türkei eine Situation, wo die Türkei beziehungsweise die Gesellschaft in der Türkei wahrscheinlich seit mehreren Jahren zum ersten Mal in dieser Form vereint gewesen ist. Sämtliche Oppositionsparteien unterstützen die Linien der Regierung, und sämtliche Millionen von Menschen sind auf den Straßen und haben sich gegen den Militärputsch gewendet, und im Moment ist es so, dass viele Menschen diese Maßnahmen nicht nur nicht tragen, sondern sie auch vehement fordern. Büüsker: Und trotzdem gibt es auch viele, die das kritisieren. Wie sichern Sie denn unter diesen Voraussetzungen, die derzeit im Land herrschen, den Schutz von Minderheiten? Yeneroğlu: Es ist doch gut so, dass eben Menschen auch da sind, die kritisieren. Zum einen wird behauptet, dass in der Türkei die Opposition unmöglich gemacht wird, zum anderen heißt es eben, es gebe die Kritik. Natürlich gibt es die Kritiker, natürlich gibt es noch in der Türkei eine starke Opposition, und es ist auch gut so. Für eine freiheitliche Demokratie gehört Kritik dazu, gehört die offene Meinungsäußerung dazu, und das wird dann auch geäußert, und entsprechend gibt es auch sicherlich Maßnahmen, die kritikwürdig sind, die dann eben von der Regierung zurückgenommen beziehungsweise berichtigt werden müssen. Büüsker: Amnesty International sagt an diesem Morgen, dass der Verbleib vieler Putschisten im Moment überhaupt nicht klar ist. Wie können Sie sicherstellen, dass alle Gefangenen – wir reden hier über mehr als 10.000 Menschen – tatsächlich angemessen behandelt werden? Yeneroğlu: Zum einen, von diesen 10.000 Menschen sind wahrscheinlich über 80 Prozent Soldaten, die direkt auf Grundlage eines dringenden Tatverdachts meistens auf frischer Tat ertappt wurden und insoweit festgenommen gewesen sind. Amnesty International und viele andere Organisationen, denen ist es offensichtlich egal, dass in der Putschnacht eben Hunderte von Menschen gestorben sind, mehrere Tausend verletzt wurden und der Staat quasi in einer Notsituation sich befand und deswegen auch in aller Deutlichkeit, in aller Härte umfassend zurückschlagen musste … "Viele Inhaftierte sind auch wieder freigelassen worden" Büüsker: Herr Yeneroğlu, ich glaube, niemand wird infrage stellen, dass diese Menschen ein Verbrechen begangen haben, indem sie geputscht haben, aber die Frage war ja, wie stellen Sie sicher, dass diese Menschen angemessen behandelt werden? Yeneroğlu: Insoweit, dass in der Türkei nach wie vor Rechtsstaatlichkeit gilt. Sie können sich gegen diese Maßnahmen wehren vor Gericht, und in letzter Zeit sind auch viele Inhaftierte wieder freigelassen worden, weil die Gerichte die Vorwürfe für nicht stichhaltig empfunden haben und deswegen die Menschen wieder auf freiem Fuß sind. Bei anderen ist das bestätigt worden, und das ist nach wie vor so wie in jedem anderen europäischen Land auch. Büüsker: Nun wird aber der türkische Wirtschaftsminister mit den Worten zitiert: Sie werden sterben wie Kanalratten. Damit meint er die festgenommenen Soldaten. Machen Sie sich als Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses da nicht Sorgen? Yeneroğlu: Ich kenne diese Äußerung nicht, kann das auch nicht bestätigen. Es wäre ein Skandal, wenn eine solche Äußerung zusammenhanglos gefallen wäre, und ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen. Büüsker: Sagt Mustafa Yeneroğlu, Abgeordneter der AKP und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Herr Yeneroğlu, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk! Yeneroğlu: Danke, tschüss, schönen Tag noch! Büüsker: Ihnen auch, danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mustafa Yeneroğlu im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
Der AKP-Politiker Mustafa Yeneroğlu hat das Vorgehen der Türkei gegen mutmaßliche Unterstützer des gescheiterten Putsches verteidigt. In der Türkei gebe es nach wie vor Rechtsstaatlichkeit, sagte Yeneroğlu im DLF. Der Staat habe sich aber nach dem Umsturzversuch in einer Notsituation befunden und "in aller Härte zurückschlagen" müssen.
"2016-08-03T06:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:44:53.508000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-putsch-in-der-tuerkei-jeder-andere-staat-in-europa-100.html
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"Zerstörung der politischen Kultur"
Der Schriftsteller Robert Menasse über Österreich, Rechtspopulismus und Europa (dpa / Andreas Arnold) "Meine erste Reaktion war: warum wundert mich das nicht?", sagt Robert Menasse zur sogenannten Ibiza-Affäre um das Strache-Video, und ergänzt: "Weil es genau das ist, was man in der politischen Praxis dieser Partei tagaus, tagein sehen konnte. Es war ja nicht so, dass wirkliche Saubermänner plötzlich als kleine Gauner entlarvt worden wären. Wir haben das ja jeden Tag gesehen." Erstaunlich sei für ihn, dass sich die überwältigende Mehrheit in Österreich offenbar aber in einer Frage einig sei: "Sebastian Kurz ist der Heilige, der Arme, der betrogen wurde von seinem Koalitionspartner. Und er ist der Garant für Stabilität. Und in meinen Augen - und in den Augen einiger Intellektuellen und Künstler in Österreich, die ja doch auch eine Stimme haben - ist er eigentlich der Schuldige, denn er hat das Ganze erst ermöglicht." Dass Kanzler Sebastian Kurz jetzt seine Hände in Unschuld wasche und mutmaße, die Sozialdemokraten hätten etwas mit dem Video zu tun, gewürzt mit einer Portion Antisemitismus - "Das ist die Silberstein-Methode" steht für Robert Menasse dabei als Chiffre für "Der Jud' ist schuld" - hält der Schriftsteller für den eigentlichen Skandal. "Es ist viel mehr als eine Regierungskoalition zerstört worden, wir erleben den schleichenden Prozess der Zerstörung der politischen Kultur in Österreich." Austrofaschismus als Synonym für Patriotismus Die historische Begründung dafür liegt laut Menasse darin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich der Austrofaschismus nicht aufgearbeitet wurde, unter anderem, weil dessen Führer und Kanzler Dollfuß ein Gegner Hitlers war. "Als wäre ein konkurrierender Faschismus nicht auch Faschismus." So konnte nach 1945 gesagt werden, der Austrofaschismus sei in Wirklichkeit Patriotismus: "Patriotismus heute in Österreich ist das Synonym für austrofaschistische Sehnsucht nach einer bestimmten Form von schlampiger, autoritärer Politik." Zur Rolle von Künstlern und Intellektuellen in dieser Situation sagt der Schriftsteller: "Ich habe manchmal das Gefühl, dass Künstler, Künstlerinnen, Intellektuelle eine größere und bedeutendere Aufgabe heute haben als je zuvor in meiner Lebenszeit. Weil sie die Letzten sind, die immer wieder an die Grundlagen einer liberalen und zivilen Demokratie erinnern. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Künstler die einzigen sind, die in dieser getriebenen, immer repressiveren, immer größeren Druck ausübenden Welt die einzigen sind, die noch Zeit haben nachzudenken. Die einen halben Tag im Kaffeehaus sitzen können zum Beispiel, vielleicht kommt man da eben auf bessere Gedanken." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Robert Menasse im Gespräch mit Karin Fischer
Die Staatskrise in Österreich wirft neu die Frage auf: Wie gefährlich ist der Rechtspopulismus? Robert Menasse hält dagegen Sebastian Kurz für den Schuldigen: "Was der Kanzler an Zerstörung politischer Kultur produziert hat, gehört von Grund an aufgearbeitet", sagte der österreichische Schriftsteller im Dlf.
"2019-05-26T17:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:53:47.180000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schriftsteller-robert-menasse-ueber-oesterreich-zerstoerung-100.html
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Gespannte Nachbarschaft in Jordanien
Syrische Flüchtlinge in Jordanien (picture alliance / dpa/ Jamal Nasrallah) Eine Halle so groß wie ein Sportplatz, bis auf den letzten Platz besetzt. Dicht an dicht sitzen sie hier, junge Männer, alte Frauen, Großfamilien, Kleinkinder krabbeln unter den Stühlen. Das Registrierungszentrum des UN-Flüchtlingshilfswerks. Hier erst kann man begreifen, wie viele syrische Flüchtlinge mittlerweile in Jordanien leben. Alle Syrer müssen sich hier offiziell melden, um Anspruch auf Hilfe zu erhalten - hunderte Familien warten stundenlang darauf, aufgerufen zu werden, einen Stempel zu bekommen: Flüchtlingsstatus. 40 Container-Büros fertigen täglich tausende Syrer ab - und alle diese Menschen, die hier nicht mehr als eine Nummer sind, müssen irgendwo in Jordanien wohnen, essen, leben … "Es sind einfach zu viele: Der Wohnraum ist knapp, die Krankenhäuser sind überfüllt, die Schulen auch und unser Trinkwasser reicht nicht für alle." Der Jordanier Nidal ist alles andere als fremdenfeindlich. Seine kleine Stadt im Norden liegt unmittelbar neben dem riesigen Flüchtlingslager Zaatari. Nidal ist so etwas wie der inoffizielle Bürgermeister seine Kleinstadt, der 50-Jährige trägt Hemd und Anzug, hat Gel in den Haaren, begrüßt Fremde mit Handschlag im Namen der Gemeinde. Er will zeigen, dass etwas schiefläuft in seiner Stadt, er macht sich Sorgen. Die Einwohnerzahl seiner Stadt hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt: "Das schafft unsere Infrastruktur nicht. Müll, Elektrizität, und vor allem Wasser, da hat es schon Auseinandersetzungen gegeben im Sommer. Wir fühlen uns vergessen: Alle reden immer über die Flüchtlingslager, aber wir in Städten haben das Hauptproblem." Viele leben in Zelten am Straßenrand Nur 20 Prozent der Syrer wohnen in den offiziellen Flüchtlingscamps der Vereinten Nationen. Die Mehrheit der Flüchtlinge versucht, außerhalb unterzukommen: Die, die noch Ersparnisse hatten, haben sich in kleinen Wohnungen einquartiert. Viele aber leben in Zelten am Straßenrand, in Bretterbuden, auf ungenutzten Grundstücken, im Niemandsland. Und in den Gärten der Anwohner. Der Jordanier Nidal nimmt uns mit zu sich nach Hause. Auch in seinem Garten hat eine Flüchtlingsfamilie ein Zelt aufgeschlagen. Entfernte Verwandtschaft aus Syrien, er konnte ihre Bitte doch nicht ausschlagen, sagt er. Und ist froh, selbst einen jordanischen Pass zu haben. Jetzt versucht er zu helfen, sieht aber die Probleme: Anwohner schließen sich schon zusammen und beraten, was sie gegen die vielen Syrer unternehmen können. Auch Nidals Frau Nounjouk fühlt sich in der eigenen Stadt nicht mehr wohl, sagt sie. Schulen sind überfüllt "Ich habe ja Mitleid mit den Syrern, aber wir Jordanier sind völlig überfremdet. Die Kinder in den Schulen lernen nichts mehr, weil die Klassen so groß sind. 50 Kinder! Im Doppelschicht-Betrieb: Morgens wird eine Klasse unterrichtet, nachmittags vom gleichen Lehrer die nächste. Das kann so nicht weitergehen. Dazu kommt die gestiegene Kriminalität. Das hier ist unsere Heimat und jetzt haben wir Angst vor die Tür zu gehen. Wir fühlen uns nicht mehr sicher." Auch in Nidals Garage lebt mittlerweile eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien. Sie haben sich notdürftig eingerichtet, sechs Personen schlafen in einem Raum. Sie sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben - und vor allem: In Sicherheit zu sein, sagt die Mutter. Syrer als billige Schwarzarbeiter "In Syrien wurde plötzlich unser Haus beschossen. Wir haben unsere Kinder gepackt und sind losgerannt. Tagelang sind wir in Syrien umhergeirrt, haben uns in Höhlen versteckt. Ich war schwanger und habe mein Kind verloren. Jetzt versuchen wir hier in Jordanien neu anzufangen." Mit Sorgen beobachtet sie die wachsenden Spannungen zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen. Sie weiß: In den anderen Nachbarländern, vor allem in Libanon, ist die Stimmung noch viel aufgeheizter als hier. Doch auch in Jordanien sind die Flüchtlinge nicht mehr gern gesehen: Viele Einheimische fürchten, dass ihnen die Syrer als billige Schwarzarbeiter die Arbeitsplätze wegnehmen. Bei dem Jordanier Nidal klingelt schon wieder das Handy. Noch eine syrische Familie bittet um Asyl in seinem Garten, wieder entfernte Verwandtschaft. Wo sollen sie denn hin? Fragt er ratlos. Der Krieg ist nebenan. Und die Nachbarn können nicht mehr.
Von Anna Osius
Ein Großteil der Syrer lebt nicht im jordanischen Flüchtlingslager, sondern haust über das Land verteilt in kleinen Wohnungen, Garagen, Zelten. Viele Jordanier fürchten, dass ihnen die Syrer als billige Schwarzarbeiter die Arbeitsplätze wegnehmen. Die Spannungen nehmen zu.
"2014-03-22T13:30:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:16.538000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrische-fluechtlinge-gespannte-nachbarschaft-in-jordanien-100.html
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Ein skrupellos agierender Konzern
Vor wenigen Monaten lief ihr Dokumentarfilm über den größten Agrarchemiekonzern der Welt im Fernsehen. Nun hat die französische Journalistin Marie-Monique Robin das Material ihrer vierjährigen Recherche in einem lesenswerten Buch zusammengefasst: "Mit Gift und Genen. Wie der Biotech-Konzern Monsanto unsere Welt verändert."Monsanto hat seinen Sitz in St. Louis, USA. Dependancen gibt es auf der ganzen Welt, die deutsche Firmenzentrale residiert in Düsseldorf. Heute arbeiten für Monsanto 170.000 Menschen in über 100 Ländern. Sie erwirtschafteten im Jahre 2007 für die Aktionäre des Konzerns über acht Milliarden Dollar Umsatz. Eine Milliarde wurden im selben Jahr als Gewinn ausgewiesen. Monsanto schreibt über Monsanto: "Ziel ist es, unter gleichzeitiger Schonung natürlicher Ressourcen, die Erträge und die Qualität der Agrarproduktion deutlich zu verbessern." Nach der Lektüre von Marie-Monique Robins Buch fällt es jedoch schwer, in dieser Selbstdarstellung keine zynische Verdrehung der Realität zu sehen. Denn auf 600 Seiten präsentiert die Autorin zahlreiche Skandale, die Monsanto verursacht hat. Sie belegt ihre Vorwürfe auf das Genaueste mit Dokumenten, darunter vielen Urteilen, die Gerichte gegen Monsanto gefällt haben.Robin reiht in ihrem Buch nicht einfach trockene Fakten aneinander. Sie erzählt, nimmt den Leser an die Hand und fährt mit ihm zum Beispiel nach Anniston, in ein kleines Städtchen in Alabama, USA, dorthin, wo Monsanto groß wurde. Die Firma produzierte in diesem Provinznest zwischen 1929 und 1971 insgesamt 300.000 Tonnen PCBs, polychlorierte Biphenyle. Ein Stoff, von dem die Firmenleitung schon früh wusste, dass er schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Tieren hervorruft. "Am 11. Oktober 1937 konstatiert ein interner Bericht von Monsanto lakonisch: 'Experimentelle Studien an Tieren zeigen, dass längerer Kontakt mit den Dämpfen toxische Effekte im ganzen Organismus auslöst."Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen zahlreiche weitere Untersuchungen, zum Beispiel eine von 1957. "Die Aufbringung auf der Haut hat den Tod aller getesteten Kaninchen zur Folge gehabt."Die Firma verfolgte auch die gesundheitliche Situation ihrer Arbeiter recht genau. Robin zitiert den verantwortlichen Berichterstatter:"Das Endergebnis lautet, dass unsere Arbeiter erwiesenermaßen durch PCB geschädigt worden sind."Monsanto hielt diese Dokumente unter Verschluss und warnte weder seine Beschäftigen noch die Bewohner in der Umgebung. In der Region wurden in diesen Jahren Hunderte missgebildete Kinder geboren und Dutzende starben an Vergiftung. Einer breiten Bürgerbewegung gelang es 2002, so berichtet Robin, vom Konzern 700 Millionen Dollar Schadensersatz zu erklagen, da er, wie das Gericht feststellt, die Bewohner von Anniston mutwillig gesundheitlich geschädigt hat.Ähnliche Skandale wiederholten sich bei Dioxinen und DDT, Stoffen, die bis zu ihrem Verbot in den 70er-Jahren ebenfalls die Produktpalette des Konzerns bereicherten. Denn ihre positiven Wirkungen, so Robin, waren ja nicht zu übersehen. Als potente Kühl-, Lösungs- und Schmiermittel und als Gift gegen unerwünschte Kleintiere und Pflanzen in der Landwirtschaft bescherten sie dem Konzern hohe Gewinne. Nach dem Verbot der ersten Generation profitabler chemischer Pflanzengifte, deren eines als Agent Orange auch in Vietnam eingesetzt wurde, entwickelt Monsanto die Nachfolgegeneration. Roundup heißt das neue Zaubermittel, das 1974 auf den Markt kommt. Roundup lässt den Konzern zum weltgrößten Verkäufer von Unkrautvernichtungsmitteln aufsteigen. Monsanto bewarb sein Mittel bis vor kurzem als biologisch abbaubar. Diese Werbestrategie verbot 2007 ein Gericht in Frankreich, wo der Konzern jährlich 100.000 Tonnen Roundup verkauft. Denn das Mittel, zitiert Robin das Gericht:" … verbleibt im Gegenteil dauerhaft im Boden und kann ins Grundwasser eindringen."Verboten ist das vermutlich krebserregende Herbizid bislang nicht. Im Gegenteil: Der Agrarchemiekonzern erhöht den Umsatz weiter. Robin erklärt wie: Mit Hilfe der agrarischen Gentechnik, die Monsanto in der Saatgutzucht einsetzt. Denn der Konzern ist Anfang dieses Jahrhunderts durch milliardenschwere Aufkäufe auch zum weltgrößten Saatgutkonzern aufgestiegen. Mithilfe der Gentechnik werden Gene von überlebenden Bakterien, die Monsanto-Forscher in Entsorgungsschlämmen des hochgiftigen Herbizids Roundup fanden, in Soja und andere Nahrungsmittelpflanzen eingeschleust. Sie verändern deren Erbstruktur und machen die Kunst-Pflanzen unempfindlich gegen den Einsatz von Roundup. Nun können Landwirte das Gift ausbringen, ohne Wachstumsschäden ihrer genveränderten Pflanzen befürchten zu müssen. Die gesundheitlichen Folgen für Umwelt, Mensch und Tier sind ungeklärt.An dieser Stelle ihrer umfangreichen Klageschrift gegen Monsanto kommt Marie-Monique Robin auf die Politik zu sprechen. Sie schildert, wie es der Monsanto-Lobby in den 90er-Jahren gelang, die genveränderten Pflanzen durch die zuständigen Behörden für weitgehend identisch mit natürlichen Pflanzen erklären zu lassen. Sie werden vor ihrer Zulassung bis heute keiner spezifischen toxischen Prüfung unterzogen. Und das weltweit. Obwohl die Behauptung von der sogenannten "substanziellen Gleichheit" von genveränderten und natürlichen Pflanzen wissenschaftlich niemals überprüft wurde.Robin zeigt an vielen Beispielen: Monsanto beherrscht als Big Player nicht nur die Wandelgänge der Lobby vor Parlamenten, Ministerien und Zulassungsbehörden. Sein Personal wechselt auch regelmäßig zwischen der Vorstandsetage des Konzerns und den Führungsebenen von Politik und Verwaltung. Die Autorin nennt das den Drehtüren-Effekt. "Vier wichtige Ministerien der Regierung Bush wurden von Monsanto nahestehenden Personen geleitet: John Ashcroft, der Justizminister und Gesundheitsminister Tommy Thompson, beide Spendenempfänger von Monsanto; Landwirtschaftsministerin Ann Venneman, früher Chefin eines Monsanto-Unternehmens, genauso wie Donald Rumsfeld( ... ) Unter Bill Clinton wechselte dessen Assistentin Marcia Hale ins Monsanto-Direktorium, ebenso wie Josh King, Veranstaltungsmanager des Weißen Hauses, und Michael Kantor, Handelsminister von 1996 bis 1997. Linda Fisher war Leiterin der Umweltschutzbehörde und ging danach zu Monsanto, ebenso wie ihr Stellvertreter Michael Friedman. Dafür ging Margaret Miller von Monsanto zur FDA, der Genehmigungsbehörde für gentechnisch veränderte Pflanzen."Wer die Weltmachtstellung von Monsanto begreifen will, dem sei das gut lesbare Buch von Marie-Monique Robin empfohlen. Nicht zuletzt zeigt die Autorin, wie gefährdet die Welternährung auch deshalb ist, weil sie zu immer größeren Teilen in die Hände dieses skrupellos agierenden Konzerns geraten ist.Albrecht Kieser über Marie-Monique Robin: Mit Gift und Genen. Wie der Biotech-Konzern Monsanto unsere Welt verändert. Veröffentlicht in der Deutschen Verlags Anstalt, 646 Seiten zum Preis von 19 Euro und 95 Cent.
Von Albrecht Kieser
Marie-Monique Robin kommt vom Land, der Landwirtschaft ist die Autorin, wie sie selber sagt, immer verbunden geblieben. Ihr Buch "Mit Gift und Genen" wurden angeregt von Bauern aus Indien, über deren Schicksal sie vier Jahre lang recherchierte. Sie zeigt die Konfrontation zwischen Landwirten und Monsanto, dem größten Agrarchemiekonzern der Welt.
"2009-03-30T19:15:00+02:00"
"2020-02-03T09:55:29.883000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-skrupellos-agierender-konzern-100.html
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Vom Klima-Killer zum wertvollen Rohstoff
Bislang wird CO2 aus dem Abgas von Chemiefabriken, Stahl- und Zementwerken überwiegend ungenutzt in die Luft geblasen (picture alliance / Imagebroker) Der Pionier der neuen Chemie mit Kohlendioxid sitzt auf Island: die Firma Carbon Recycling International. Seit 2015 stellt sie jährlich 4.000 Tonnen Methanol her. Die Massenchemikalie wird normalerweise fossil erzeugt, aus Erdgas – in diesem Fall aber aus CO2 und Wasserstoff. Das Kohlendioxid stammt dabei aus einem benachbarten Geothermie-Kraftwerk. Dort steigt CO2-reicher Dampf aus der Erdkruste auf. Der Wasserstoff wird durch elektrolytische Spaltung von Wasser gewonnen. Das geschieht allein mit Öko-Strom, denn die Vulkaninsel Island versorgt sich komplett aus Erdwärme und Wasserkraft. Inzwischen bereitet die Firma viel größere Projekte zur Nutzung des Klimagases Kohlendioxid vor, wie Benedikt Stefánsson jetzt in Aachen schilderte, einer ihrer Direktoren und so etwas wie der Stargast der "International Conference on Carbon Dioxide Utilization - ICCDU 2019":"Wir haben den Prozess weiterentwickelt. Er läuft jetzt auch mit CO2 aus dem Abgas von Chemiefabriken, Stahl- und Zementwerken. Unsere nächsten Anlagen werden mindestens zehn- bis zwanzigmal größer sein und bis zu hunderttausend Tonnen Methanol im Jahr produzieren." Methanol für Taxis in China Die erste Großanlage dieser Art wird jetzt in China gebaut. In zwei Jahren soll sie ihren Betrieb aufnehmen. Stefánsson:"Wir haben in China noch mehr Projekte in der Pipeline. Wir arbeiten dort mit Unternehmen zusammen, bei denen Wasserstoff als Nebenprodukt anfällt, quasi frei Haus. Das nehmen wir zusammen mit Kohlendioxid aus Abgasen der Anlagen und machen daraus einen Kraftstoff mit niedrigem CO2-Fußabdruck. Einer unserer Teilhaber ist Geely. Die Firma hat schon 30.000 Taxis mit Methanol-Motor gebaut, die in China herumfahren. Und sie beginnt jetzt damit, solche Autos auch an chinesische Verbraucher zu verkaufen." Polyurethan-Schaumstoffe auf CO2-Basis Großes Interesse an der Technologie bestehe im Übrigen auch bei verschiedenen Industriebetrieben in Norwegen. Tagungsleiter Walter Leitner, Professor für Technische Chemie an der RWTH Aachen, spricht von einer "extrem interessanten Entwicklung":"Eines der Leuchtturmprojekte, wenn es um CO2-Nutzung und CO2-Chemie geht. Weil es etwas ist, was sich schon am Markt behauptet. Die CO2-Nutzung nimmt in den letzten Jahren von der Wissenschaft kommend enorm Fahrt auf. Ein Beispiel ist die Herstellung von Polyurethan-Schaumstoffen bei der Firma Covestro, wo eben Bausteine für diese Schaumstoffe, die zum Beispiel in Matratzen benötigt werden, auf Basis von CO2 hergestellt werden. Und wo wir an der RWTH Aachen auch stolz sind, dass wir zu dieser Entwicklung beitragen durften." Projektleiter bei Covestro in Leverkusen ist der Chemiker Christoph Gürtler. Auch er rechnet damit, dass Alt-CO2 als Rohstoff jetzt stärker Karriere macht, gerade in der Herstellung von Kunststoffen:"Perspektive für die nächsten zehn Jahre: Wir werden ein Vielfaches von zehntausend Tonnen von Produkten, Materialien im Markt sehen. Davon bin ich felsenfest überzeugt." Klimasünder Baustoff-Industrie Ein besonders großer Klimasünder ist die Baustoff-Industrie, durch die Herstellung von zig Milliarden Tonnen Zement und Beton jedes Jahr. Dabei entsteht enorm viel Kohlendioxid. Volker Sick, Direktor der noch jungen Globalen CO2-Initiative und Professor für Energieforschung in den USA:"Das ist also in der Größenordnung von sieben bis acht Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes." Auch hier werde inzwischen versucht, das Kohlendioxid einzufangen und wieder zu verwerten. Als Beispiel nennt Sick die riesigen Drehrohröfen für die Zementherstellung:"Sie produzieren ja den Zement, indem sie letztendlich eine Mischung aus verschiedenen Mineralien erhitzen, unter anderem Kalkstein. Aus diesem Kalkstein wird das Kohlendioxid ausgetrieben. Ich kann es aber genauso gut wieder zurückführen und den Klebestoff im Beton damit letztendlich wieder als Kalkstein herstellen. Das ist eine Rückführung in den Prozess. Und da ist natürlich eine Menge Potenzial, um CO2 zu nutzen." Zement und Beton mit recyceltem CO2 Es gebe US-amerikanische und kanadische Firmen, die Zement und Beton bereits auf diese Weise produzierten. Auf Hawaii sei vor kurzem eine Straße mit einem solchen Fahrbahnbelag ausgerüstet worden. Auch CO2 aus Industrieabgasen lasse sich in Baustoffe einarbeiten. Sick: "Man hat also zum Beispiel Olivin-Mineralien kleingemahlen, und setzt die unter Druck mit CO2 um, um ein Kalkstein-Äquivalent herzustellen, das dann dauerhaft das CO2 entfernt, und das wird dann in den Beton eingegossen. Am Flughafen in San Francisco ist ein Teil des Betons mit solchen Mineralien beaufschlagt worden." Die Isländer nennen ihren Kraftstoff aus CO2 und Wasserstoff übrigens Vulcanol – weil er von der Vulkaninsel kommt. Vorstellbar wäre er aber auch in Deutschland: als Beimischung in Benzin, dass schon heute drei Prozent Methanol enthalten darf. Oder eines Tages vielleicht sogar als reiner Kraftstoff - so stark unterscheiden sich Benzin- und Methanol-Motor nämlich gar nicht.
Von Volker Mrasek
CO2 könnte sich zum Rohstoff für industrielle Produktionsprozesse entwickeln, sagen Experten. Zum Beispiel bei der Herstellung von Zement oder als Methanol-Beimischung in Benzin. In China entsteht bereits die erste Großanlage zur Produktion von Methanol.
"2019-06-26T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:59:18.952000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kohlendioxid-vom-klima-killer-zum-wertvollen-rohstoff-100.html
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"Sportler sollten ihren Sport ausüben dürfen"
FDP-Obfrau im Sportausschuss des Bundestages, Britta Dassler. (Sven Hoppe/dpa) Trotz Corona-Pandemie sollen die Olympischen Spiele in Tokio im Sommer stattfinden. Aktuell laufen die Qualifikationswettbewerbe. Vor dem Hintergrund von steigenden Infektionszahlen stellt sich nun die Frage, ob diese überhaupt stattfinden sollten. "Sport sollte stattfinden können, aber nur unter der Voraussetzung, dass es kein Risiko birgt", sagte Britta Dassler, sportpolitische Sprecherin der DFP und Mitglied im Sportausschuss, im Dlf. "Genauso wie man gesagt hat: 'Olympia 2021 findet statt, aber ohne ausländische Zuschauer'. Das finde ich richtig und wichtig. Sportler sollten schon ihren Sport ausüben dürfen." "Von Fairness kann man da nicht mehr sprechen"Der deutsche Badmintonspieler Mark Lamsfuß musste in der Olympia-Qualifikation einen Rückschlag hinnehmen. Aufgrund eines positiven Corona-Tests eines anderen Sportlers wurde er von einem Turnier ausgeschlossen. Die vergangenen Wochen haben jedoch gezeigt, dass die bestehenden Hygienekonzepte nicht immer greifen. So haben sich bei der Leichtathletik-EM in Torun mehr als 50 Teilnehmende mit dem Coronavirus infiziert. "Wenn es jetzt neue Mutanten gibt, müssen auch die Hygienekonzepte dementsprechend angepasst werden. Aber was wollen wir denn machen? Die Sportler brauchen doch eine Perspektive. Natürlich dürfen wir kein Risiko eingehen, aber wenn die Hygienekonzepte passen und vom Gesundheitsamt zertifiziert sind, kann man das stattfinden lassen." "Da müssen wir schon hinschauen" Auf Hygienekonzepte bei Events im Ausland habe die deutsche Politik jedoch keinen Einfluss, so Dassler. "Wir können nur dafür sorgen, dass es bei uns passt. Auf internationaler Ebene muss das über den entsprechenden Verband laufen. Da müssen wir schon hinschauen." Die Politik könne jedoch nur begrenz einschreiten. "Der Sport ist autonom und wird autonom bleiben. Wobei Sport immer verflochten ist mit Wirtschaft und Menschenrechten. Die deutsche Politik kann vielleicht über die Europäische Union gesammelt in Europa Einfluss nehmen. Aber nicht in anderen Ländern." "Würde ohne Impfung nicht nach Tokio fahren"Para-Athletinnen und -Athleten seien bei einer möglichen Impf-Priorisierung "schlichtweg vergessen worden", sagte Para-Sportlerin und Athletensprecherin Manuela Schmermund im Dlf. Noch vor einem Jahr, als die Olympischen Spiele verschoben wurden, hatte Dassler in einem Statement geschrieben, dass die Spiele ein Aufbruchssignal an alle Länder schicken könnten. Ein Statement, dass sie aus heutiger Sicht als "vielleicht zu blauäugig" bezeichnet. Der Grund dafür sei die zu langsam voranschreitende Impfkampagne in Deutschland. "Die Bundesregierung hat das bislang nicht auf die Reihe bekommen. Ich hoffe, dass wir bis Mai oder Juni so weit mit dem Impfen sind, dass wir sagen können: 'Jetzt ist das Ganze ein bisschen sicherer'. Und dann hoffe ich auf ein Aufbruchsignal." Dassler könne jeden Athleten verstehen, der ohne eine Impfung nicht nach Tokio reisen möchte. "Wenn ich Athletin wäre, würde ich nirgendwo hinfahren, wenn ich nicht geimpft bin." "Das reicht nicht, das ist ein kleines Zeichen" Ein weiteres großes Thema im Sport ist mit Blick auf die Fußball-WM 2022 in Katar das Thema Menschenrechte. Die deutsche Nationalmannschaft hat sich etwa durch eine T-Shirt-Aktion für das Menschenrechte stark gemacht. "Das reicht nicht, das ist ein kleines Zeichen", sagte Dassler. "Meiner Meinung nach dürfen Spiele, egal welche, nicht an Länder vergeben werden, die Menschenrechte mit Füßen treten."
Britta Dassler im Gespräch mit Raphael Späth
Mehere Sportveranstaltungen sind in den vergangenen Wochen zu Superspreading-Events geworden. Dennoch sollten Sport-Events wie Olympia-Qualifikationswettbewerbe weiter stattfinden, sagte FDP-Politikerin Britta Dassler im Dlf. Vorraussetzung sei ein passendes Hygienekonzept.
"2021-03-28T19:40:00+02:00"
"2021-03-29T13:34:50.297000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sport-events-in-corona-zeiten-sportler-sollten-ihren-sport-100.html
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Von der Idee, mit Grund und Boden reich zu werden
Protestplakat gegen die Spekulation mit Wohneigentum in Berlin (picture alliance / dpa/ Wolfram Steinberg) Wer auf dem Parkplatz eines Supermarktes sein Auto abstellt ohne einzukaufen, darf abgeschleppt werden, denn der Parkplatz gehört jemandem. In Bahnhöfen und Shopping-Malls, auf Friedhöfen und Wiesen gelten Benimmregeln und Verbote, die im Wesentlichen derjenige festlegt, der sich Eigentümer nennt. Weder exorbitante Mietforderungen bei Wohnungen und Gewerberäumen noch Industriebrachen und verfallene Wohnhäuser können bisher das Dogma vom Eigentum an Grund und Boden erschüttern. Zwar haben Ökonomen, Architekten und Philosophen ganze Bibliotheken mit ihrer Kritik am Grundeigentum gefüllt, doch ist kein Ende der Landnahme in Sicht. Anstelle von Soldaten bestimmen heute vor allem Investoren, wem was gehört - und wer wem Geld für sein Dasein zu zahlen hat. Denn ob wir im Büro unsere Brötchen verdienen oder im Supermarkt die Brötchen kaufen, stets hält einer die Hand auf und fordert seine Bodenrente: der Grundbesitzer. Das geht auch anders, ohne dass die Welt dabei zusammenbricht. Timo Rieg, Jahrgang 1970, hat Biologie und Journalistik studiert und beschäftigt sich unter anderem mit politischer Partizipation. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Demokratie für Deutschland" und das Tucholsky-Remake "Deutschland, Deutschland über alles". Da muss ein Politiker erst 93 Jahre alt werden, um mit einer banalen Erkenntnis die älteste Partei Deutschlands auf Trab zu bringen! Zugegeben, ein wenig Unrecht tut man Hans-Jochen Vogel schon, wenn man seinen Kampf gegen Mietwucher und Baukostenexplosion allein dem Alter zuschreibt. Denn tatsächlich setzte sich der ehemalige SPD-Vorsitzende und langjährige Münchener Oberbürgermeister bereits vor 50 Jahren dafür ein, Grund und Boden nicht wie eine normale Handelsware zu betrachten. Anfang der 1970er-Jahre forderte eine von Vogel auf den Weg gebrachte Kommission vom Bundesgesetzgeber unter anderem eine "Beschleunigung des Enteignungsverfahrens", eine "Ausweitung des gemeindlichen Vorkaufsrechts" sowie die Einführung eines "Planungswertausgleichs" und – hört, hört! – einer "Bodengewinnsteuer". Denn Miet- und Baupreise waren schon damals rapide gestiegen und die Politik sah, dass davon nur private Eigentümer und Immobilienfirmen profitierten, nicht aber die Allgemeinheit. Dabei stand schon seit 1949 im Grundgesetz: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Aus der sozialistischen Revolution von der Isar her wurde allerdings nichts, wie man heute deutlicher denn je merkt. Der ehemalige OB Vogel räumt ein, in seiner weiteren politischen Karriere, unter anderem als Bundesbau- und Bundesjustizminister, die Bodenreform aus dem Blick verloren zu haben. Wobei ja nicht nur er, sondern die SPD insgesamt immer weniger Interesse für die irdene Grundlage des Lebens zeigte: Inzwischen verliert die Partei in ihrem Grundsatzprogramm zu Grund und Boden kein einziges Wort mehr. Vor wenigen Monaten also, mit 93 Jahren im zwölften Stock eines Seniorenstifts lebend, veröffentlichte Hans-Jochen Vogel ein Plädoyer für eine "neue Bodenordnung". Titel: "Mehr Gerechtigkeit!" – mit Ausrufezeichen. Und darin formuliert er eine "Grundeinsicht": "Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden, sondern muss mehr noch als alle anderen Vermögensgüter in den Dienst der Interessen der Allgemeinheit gestellt werden." Neu ist diese Einsicht nun wirklich nicht. Von der Bibel über Platon, die französischen Aufklärer und die Ökonomen der Industrialisierung bis hin zu Nobelpreisträgern der Gegenwart haben Denker sich über den Privatbesitz der Erde höchst verwundert gezeigt. Im Folgenden sollen acht Aspekte genügen, um eine Sehnsucht nach grundlegender Veränderung zu nähren, ja vielleicht sogar einen Glaubenswandel der Eigentumsreligion hervorzurufen. Erster Aspekt: Wie kann Boden zu Geld werden? Betrachten wir zunächst nur den Handel mit unbebautem Boden. Was kann die Leistung dessen sein, der sich "Eigentümer" nennt? Zwischen Erwerb und Weiterverkauf tut ein Grundstücksbesitzer nicht viel für Werterhalt oder gar Wertsteigerung. Eine Wiese ist eine Wiese, ohne massive Krafteinwirkung bleibt ihre Nutzbarkeit über Jahrhunderte hinweg unverändert. Es gibt keine Leistung, die später den Verkauf mit einer Rendite rechtfertigen könnte. Bleibt also bei Ankauf wie Verkauf etwas, das man den "natürlichen Wert" des Bodens nennen könnte. Nehmen wir an, das Grundstück sei so groß, um eine Mehr-Generationen-Familie mit Ackerbau und Viehzucht zu ernähren. Wie viel ist dann dieses Grundstück wert? – Die verblüffende Antwort zeigt die ganze Verrücktheit der Idee vom Eigentum. Denn der Boden ist entweder völlig wertlos … oder unbezahlbar! Warum ist er wertlos? Stehen alternative Felder zur Verfügung, gibt es keine Notwendigkeit, auch nur eine Ähre an irgendwen als Pacht, Rente, Miete oder Zins zu zahlen. Dem entspricht die Situation der Erstbesiedler: Sie nehmen sich ein Stück Boden, bauen in die Mitte ihr Haus, bewirtschaften den Rest für ihre Ernährung und ein wenig Tauschhandel – und gedenken, dies bis ans Ende aller Tage so zu halten. Wieviel aber ist das Grundstück wert, wenn kein anderes mehr frei ist und jemand es kaufen möchte? Ohne ihren Boden haben die bisherigen Benutzer nichts zu essen, nichts zum Wohnen, nichts zum Handeln. Sie müssten sich also vom Erlös alles Lebensnotwendige kaufen - und zwar bis ans Ende aller Tage. Der Wert eines Grundstückes ist in diesem Fall unermesslich: Er ist nicht zu bezahlen. Dies ist übrigens keineswegs nur ein philosophisches Gedankenspiel. Es ist die zentrale Gedankenfigur bei der sogenannten "Ablösung aller Staatsleistungen" an die Kirchen. Bislang erhalten sie jährlich – und wegen der Unbezahlbarkeit des Bodens auch potenziell bis in alle Ewigkeit – Entschädigungszahlungen für erfolgte Enteignungen unter Napoleon. Man könnte argumentieren, die Kirchen hätten längst genug erhalten. Doch welcher Bauer kann so gegenüber demjenigen auftreten, dem er jedes Jahr aufs Neue eine Pacht für seine Wiesen und Felder zu überweisen hat? Bleibt die Frage, wie der erste Mensch zu Wald und Acker kam, den er nicht brauchte und verpachten konnte. Überspitzt erklärt das der Kabarettist Wilfried Schmickler so: "Wenn sich da jemand zu Höherem als Ackerbau und Viehzucht berufen fühlte, dann ist der einfach mit einem dicken Knüppel zu seinen Nachbarn gegangen und hat gesagt: ‚Hört mal zu, Freunde, ich bin ab sofort euer König, und entweder ihr gebt mir euer Land oder ich schlag euch tot!‘ Ja, und dieses so erworbene Land hat König Knüppel der Erste dann an seine Nachkommen vererbt, die es auf die gleiche Art und Weise vermehrt haben." Weil aber ein ambitionierter Immobilienkönig nicht jeden persönlich mit dem Knüppel besuchen konnte, bestand eine zweite Gewaltstrategie in der Erfindung von Recht. Herrscher behaupteten einfach, ihnen gehöre alles, und nur, wer das zu bestreiten versuchte, musste mit dem Knüppel unterworfen werden. Jean-Jacques Rousseau meinte mit einem berühmt gewordenen Satzanfang: "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: 'dies ist mein' und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben...." … dieser erste Zaunaufsteller, meinte Rousseau, habe zugleich die Grundlage für Not und Elend, Krieg und Schrecken geschaffen. Doch das wahre Problem begann mit der Eigentumsbehauptung, alles gehöre nicht vielen kleinen Bodenumzäunern, sondern nur ganz wenigen, und wer fortan leben wolle, müsse nach deren Pfeife tanzen. Zweiter Aspekt: Die Akkumulation von Reichtum Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Eigentumsverhältnisse im Einzelnen zwar immer wieder geändert. Im Ergebnis aber gehörte das Land nie allen gemeinsam. Die Geschichte der Sesshaftwerdung des Menschen ist die Geschichte von Herrschern und Beherrschten, Masters and Servants, von Vermietern und Mietern. Es ist auch eine Geschichte von Kleptokratie, wie es der amerikanische Anthropologe Jared Diamond ausdrückt: "Im besten Falle tun solche Gesellschaften ..." ... gemeint sind die ersten größeren Menschengruppen, in denen sich Hierarchien ausbildeten... "Im besten Falle tun solche Gesellschaften Gutes, indem sie aufwendige Dienstleistungen erbringen, die sich der Einzelne nicht leisten kann. Im schlimmsten Fall handelt es sich um schamlose Kleptokratien, die das Volk ausplündern und den von ihm erarbeiteten Reichtum nach oben umverteilen. [...] Zwischen Kleptokrat und weisem Staatsmann, zwischen Räuberbaron und dem Hüter der Armen besteht nur ein gradueller Unterschied, der davon abhängt, wie hoch der Prozentsatz des Tributs ist, der in den Taschen der Elite verschwindet, und wie sehr dem einfachen Volk mit dem, wozu der umverteilte Tributanteil verwendet wird, gedient ist." Die Eigentumsreligion machte es möglich, von jedem Menschen, der nicht zu den privilegierten Priestern und Häuptlingen gehörte, für das Leben auf diesem Erdball Pacht zu fordern und mit Land zu handeln. Konzerne kaufen Boden auf der ganzen Welt – obwohl er doch unbezahlbar teuer sein müsste. Und sie können mit schneller Rendite rechnen. Da Boden immer gebraucht wird und das weltweite Nutzungsinteresse weiter steigen statt sinken wird, ist Bodenspekulation fast risikolos. Nach einer Studie des Thünen-Instituts waren vor drei Jahren bereits bei jedem dritten Agrarbetrieb in Ostdeutschland ortsfremde Investoren die Mehrheitseigentümer. EU-weit kontrollieren nur 3,3% aller Betriebe mehr als die Hälfte der Fläche. Afrikanische Länder werden ebenso aufgekauft wie osteuropäische. In Liberia sind 100 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in ausländischem Besitz. Und so akkumuliert der Bodenreichtum bei wenigen, während die meisten nichts haben. Oder wie der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill vor 150 Jahren schrieb: Es sei eine Bedrückung … " …auf Erden geboren zu werden, und alle Gaben der Natur schon vorher in ausschließlichen Besitz genommen und keinen Raum für den neuen Ankömmling freigelassen zu finden." Der Besitz von Boden teilt die Menschheit nicht nur in arm und reich, er schafft auch jede Menge Abhängigkeiten. Dritter Aspekt: Die Abhängigkeit vom Grundstückseigner. Ein Drittel seines Einkommens für die Miete aufbringen zu müssen, gilt als normal. Nach einer Studie der Berliner Humboldt-Universität mit Daten des Mikrozensus von 2014 verbleibt etwa 1,3 Millionen Haushalten nach Abzug der Bruttokaltmiete ein Resteinkommen, das unterhalb der Hartz-IV-Regelsätze liegt. Auch Freiberufler und Gewerbetreibende müssen sich in Sorge um ihre Existenz als erstes darum kümmern, ihren Vermieter zufrieden zu stellen. Die reiche Zahnärztin und der arme Pizzabäcker sitzen so als Mietschuldner im selben Boot. Mit jedem Einkauf, beim Strompreis und mit dem Krankenkassenbeitrag füllen wir stets auch die gierigen Hände der Bodenbesitzer. Und doch vernimmt man gegenwärtig selten Kritik, die in ihrer Deutlichkeit an den französischen, sozialrevolutionären wie gleichermaßen katholisch-reaktionären Schriftsteller Léon Bloy aus dem Jahre 1909 heranreicht: "Man muss selbst ein Armer gewesen sein, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn man unaufhörlich die schönsten Früchte seiner Arbeit und seiner Mühen [...] hingeben muss, um einen großen oder kleinen nichtstuenden Parasiten zu füttern, einen Verdammten vor Gott und den Menschen, der nicht einmal die Barmherzigkeit der Verdauung eines Hundes aufbringt für diejenigen Wesen, [...] die ihm den Bauch füllen. Denn sie sind unzählbar, diese armen Menschen, die arbeiten und fasten, um den Hausherren zu bezahlen." Bloy beklagt unwürdige Unterkünfte, die Pflicht zur Vorkasse und Verträge, in denen die Mieter zusichern, keine Kinder zu bekommen – also durchaus noch gegenwärtige Probleme. Und wem es heute an Bloys Erfahrung fehlt, "selbst ein Armer gewesen" zu sein, sehe sich einfach mal die Übernachtungspreise in Herbergen der untersten Kategorie an: Für eine Nacht im Schlafsaal verlangen Berliner Hostels je nach Termin 80 Euro, in München werden zum Oktoberfest auch 135 Euro aufgerufen – was bei einem 8-Bett-Zimmer einer Monatsmiete von 32.400 Euro entspricht – ohne Frühstück, aber wenigstens inklusive Bettwäsche. In manchen Dörfern kann man für diesen Preis ein bis zwei Häuser mit großem Garten kaufen. Doch die Abhängigkeit geht viel weiter. Man darf seine gemietete Wohnung nicht bei Abwesenheit anderen zur Verfügung stellen. Das steht im Mietvertrag. Wie der Balkon genutzt werden darf, welche Tiere man halten darf, wie das Treppenhaus zu säubern ist, all das entscheiden nicht die Menschen, die in Mietshäusern wohnen, sondern die Eigentümer. Vierter Aspekt: Eigentum als Grenze für Stadt- und Raumplanung Auf ganz andere Weise erleben Stadtplaner, Architekten, Verwaltungen und Kommunalpolitiker die privatisierte Erde: Eigentum begrenzt nämlich erheblich ihren Gestaltungsraum. "Mit dem Grund und Boden scheint da etwas nicht in Ordnung zu sein; und aus irgendwelchen dunklen Gründen vermeidet alles, dieser Peinlichkeit nachzugehen." So leitet der Schweizer Architekt Hans Bernoulli sein erstmals 1946 erschienenes Buch "Die Stadt und ihr Boden" ein, nachdem er kurz drei "Hauptwerke über Stadtbaukunst" gestreift hat, die seiner Ansicht nach alle das Hauptproblem ausklammern: Bevor Architekten eine Stadt planen können, müssen die privaten Bodenbesitzer enteignet werden. Mit den vorgefundenen Verhältnissen sei keine Stadt zu machen: "Die neue Stadt, die neuen Quartiere, müssen angelegt werden auf einem Gebiet, das schon seit Jahrzehnten vom Pflug durchfurcht, in hundert und aberhundert Felder aufgeteilt ist. Felder, schmal und lang, wie es der Bewirtschaftung am besten dient, und durch Erbteilung nur noch weiter geteilt, ziehen in ganzen Lagen über Höhen und Senken schnurgerade hinweg; [...] in solch ein verzweifeltes Liniengewirr wächst jede Stadt hinein. [...] Jeder Fußbreit Boden, der überbaut werden will, gerät in diese Schlingen, muss sich mit Advokatenlist dieses Gestricks erwehren." Kommunen klagen über ungenutzte Industriebrachen und verfallende Häuser, über leere Baugrundstücke und überzogene Preise, die ein gesetzlich bestehendes Vorkaufsrecht aushebeln. Das private Grundeigentum schränkt die kommunale Gestaltung erheblich ein. Bahnhöfe zum Beispiel sind längst nicht mehr nur Verteilpunkte für Zugreisende, sie sind Begegnungsorte, Einkaufs- und Dienstleistungszentren – und doch gehören sie der Aktiengesellschaft Deutsche Bahn. Die Auseinandersetzungen um den neuen Tiefbahnhof in Stuttgart haben daher – durchaus nicht überraschend! – eine neue Epoche der Bürgerbeteiligung eingeleitet, in der zumindest Teile des Souveräns nicht mehr nur Zuschauer sind, wenn Großgrundbesitzer unser Land gestalten. Fünfter Aspekt: Chancenungleichheit Die sich aus dem Privateigentum ergebende Preisspirale sorgt für eine Wettbewerbsverzerrung. Bei Wohnungen nennt sich das Resultat Gentrifizierung. Derselbe Mechanismus wirkt auch bei Büro- und Gewerbeflächen: Arbeiten darf an einem bestimmten Ort der Meistbietende. Große Ketten eröffnen Filialen im Zweifelsfall nur, um Wettbewerber vom Markt zu drängen. Es ist ja kein Zufall, dass jede Fußgängerzone in Deutschland gleich aussieht. Der freie Markt kann weder Vielfalt noch Grundversorgung sichern. Der Markt fragt nicht, ob es im Kiez einen Gemüseladen oder eine Anwaltskanzlei braucht – er entscheidet nach der Rendite. Sechster Aspekt: Kosten des Eigentums für die Allgemeinheit Neben all den bisher skizzierten Problemen muss die Allgemeinheit auch über Steuern, Abgaben und sozialisierte Verbrauchskosten für Grundbesitzer aufkommen. Dabei erweist sich, genauer betrachtet, ein zunächst nach Allgemeinwohl klingender Umstand als problematisch. Wir alle kennen die gebetsmühlenartig verlautbarte Politikphrase: "Der ländliche Raum darf nicht abgehängt werden!" Der ländliche Raum, in dem keine U-Bahn fährt und das Internet ruckelt, wo der nächste Autobahnanschluss 20 Kilometer entfernt ist, Bäckerei und Gastwirtschaft längst geschlossen haben; der ländliche Raum, der dem Güllegestank der Schnitzel- und Hamburgerproduktion für die Städter ausgesetzt ist und dem die ganze Last der Windenergiegewinnung aufgebürdet wird. Ist dieser ländliche Raum ein Opfer der zivilisatorischen Entwicklung? Nein, der ländliche Raum war nie abgehängt, sondern eben Dorf und nicht Stadt. Beide hatten grundverschiedene Funktionen. Abgehängt fühlt sich, wer heute auf dem Dorf wohnt, weil er sich nur dort ein Leben leisten kann, wie es ein großer Zeitschriftenmarkt mit "Landlust", "Country Style" und "Das Einfamilienhaus" imaginiert. Doch diesen Eigentums-Luxus bezahlt die Allgemeinheit. Auf dem Land ist alles kostspielig – nur der Boden nicht! Beides liegt an Angebot und Nachfrage. Jedes Abwasserrohr, jede Stromleitung, jede Paketzustellung ist auf den Dörfern pro Wohnung unglaublich viel teurer als in der Stadt mit ihrer effektiven Besiedelungsdichte und den kurzen Wegen. Würde man Großstädte, bezogen auf die Einwohnerzahl, so mit Freiwilligen Feuerwehren bestücken wie den ländlichen Raum, müsste an jeder zweiten Kreuzung eine Feuerwache stehen, deren Löschfahrzeuge nur einmal pro Jahr ausrücken. Jeder Häuserblock hätte seinen eigenen hauptamtlichen Bürgermeister mit Verwaltung, ein die allermeiste Zeit des Jahres ungenutztes "Dorfgemeinschaftshaus", eine denkmalgeschützte, ganzjährig leere Kirche und so weiter. Wo liegt der Wert für die Allgemeinheit, wenn die Kleinstfamilie aus ihrer 70-Quadratmeter-Wohnung in der Stadt zieht und auf einer Wiese 500 Quadratmeter absteckt, um sich ihr Eigenheim zu errichten? Die Allgemeinheit zahlt für Erschließung und Infrastruktur mit "Wohn-Riester", "Baukindergeld" oder Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau; sie subventioniert fortan die Autofahrten zwischen Einfamilienhaus und Arbeitsplatz. Die Allgemeinheit fördert eine Landnahme, deren Anachronismus im samstäglichen Ritual gipfelt, mit Rasenmäher, Laubbläser oder Hochdruckreiniger lautstark ein Revier zu markieren. Siebter Aspekt: Fehlende demokratische Kontrolle Alle Probleme, Kosten und Absurditäten des Grundeigentums lassen sich in einem Missstand bündeln: über die neben der Luft wichtigste Ressource überhaupt herrscht kein demokratischer Prozess, sondern die Religion des Privateigentums. Der Souverän hat nie entschieden, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land nur dann ein Dach über dem Kopf haben soll, wenn sie Immobilienbesitzer finanziell ruhigstellt. Es gab keine demokratische Konsultation über die Verwüstung des Landes mit Straßen, Gewerbeflächen und Neubaugebieten, keine Zustimmung zum Verkauf der Äcker an internationale Konsortien und in Geldüberfluss ertrinkenden VIPs. Nochmal zur Erinnerung: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Doch was hat die Allgemeinheit davon, wenn die Villa am See den Zugang zum Wasser versperrt, wenn der nach Geschäftsschluss völlig leere Parkplatz des Supermarktes gegen Skater oder spielende Kinder verrammelt wird? Wo ist das Gemeinwohl, wenn der Besitzer eines Shoppingcenters grundherrlich bestimmen darf, wann, wie und von wem dieser Teil der Stadt betreten werden darf? Wie äußert sich die Gemeinwohlbindung in immer höheren Mietforderungen? Zweieinhalb Jahre vor dem Grundgesetz wurde im Freistaat Bayern eine Verfassung beschlossen, in der es bis heute heißt: "Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen überwacht. Missbräuche sind abzustellen. Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen." Doch diese sehr soziale Formulierung, die sich ähnlich auch in anderen Landesverfassungen findet, blieb ein unerfülltes Versprechen. In München sind die Baulandpreise von umgerechnet 3 Euro pro Quadratmeter im Jahr 1950 auf 1.876 Euro im Jahr 2017 gestiegen. Münchens Alt-OB Hans-Jochen Vogel resümiert: "Es erstaunt mich [...] noch immer, dass diese Baulandpreiszahlen so gut wie keine öffentlichen Protestbewegungen und bisher auch keinen Medienaufruhr verursacht haben." Für den Medienaufruhr sorgen wir hier gerade. Und fragen uns: Was muss anders werden? Achter und letzter Aspekt: Eine Welt ohne Grundeigentum Die aus dem Privatbesitz von Boden und den darauf errichteten Bauwerken entstehenden Probleme sind gigantisch – das dürfte unbestreitbar sein. Entsprechend radikal wird jede Lösung sein müssen. "Sapere aude!" – wage zu denken! Der erste Schritt muss eine völlig offene Konsultation der gesamten Gesellschaft sein: Jedes einzelne Problem des Grundbesitzes muss benannt werden! Erst danach lohnt es, über Problemlösungen nachzudenken. Es braucht eine offene, faire, freie Debatte, in der jeder zu neuen Erkenntnissen kommen könnte. Eine Konsultation, bei der selbst der prominente Politiker nur so viel Einfluss hat wie sein Chauffeur. Selbstverständlich könnte am Ende eines langen, an die Moderation höchste Anforderungen stellenden Prozesses das demokratische Votum lauten: "Und siehe, es war sehr gut! Es ist zu unser aller Bestem, wenn die Welt eine Handelsware bleibt." Doch nehmen wir einmal an, das neue Credo lautete: "Der Boden gehört allen oder niemandem. Man kann ihn individuell nutzen, in begrenztem Umfang auch zu ganz egoistischen Zwecken ohne Gewinn für die Allgemeinheit – aber eben nur auf Zeit beziehungsweise nur als Leihgabe." Wie sähe die Welt dann aus? Ohne die Behauptung von privatem Grundeigentum entfiele logischerweise jede zuvor darauf beruhende Zahlung. Natürlich müssen weiterhin Bau und Unterhaltung der Gebäude von den Nutzern bezahlt werden. Keiner soll ehrenamtlich Hausmeister oder Handwerker sein. Doch aus Eigentümern mit beliebiger Verfügungsgewalt würden Projektmanager, Dienstleister – und sie würden ausschließlich mit ihrer Arbeit im Auftrag der Mieter Geld verdienen können. Es gäbe keine spekulativen Modernisierungen mehr, keine Luxussanierung gegen den Willen der Bewohner. Die Mietpreise würden überall fallen, denn jede positive Differenz zwischen Mieterträgen und Immobilienkosten würde bei der Einkommensteuererklärung kassiert. Damit passiert dann natürlich, was alle vernehmbaren Vermieter am Berliner Mietendeckel ungerecht finden: Es profitiert am stärksten die Mittel- und Oberschicht, die bisher eben die teuersten Mieten bezahlt. Doch wo der Boden wieder der Allgemeinheit gehört, kann diese ganz anders steuernd eingreifen. Bisher stützt der Staat hohe Mieten und sogar Eigentum durch ein Wohngeld. Was spräche dagegen, im Gegenzug Gutverdienende für die Nutzung einer begehrten Wohnung an die Gesellschaft zahlen zu lassen? Hans-Jochen Vogels Wohnung im Seniorenstift kostet deutlich über 4.000 Euro pro Monat, inklusive Mittagessen und Wohnungsputz zwar, aber doch rund 40 Euro Miete nur für den Quadratmeter. Ein Bundesminister a.D. darf diesen Preis gerne an die Gesellschaft zahlen, für Lieschen Müller hingegen wäre Gerechtigkeit, wenn sie nur die Kosten tragen müsste und nicht auch noch die Renditeforderungen eines Konzerns. In diese Richtung gehen viele Bodenreform-Ideen: Die Nutzung der Erde wird zum Beispiel versteigert, der Erlös unter allen aufgeteilt – oder nur unter Müttern, wie es die Idee des Freiwirtschaftlers Silvio Gesell war. Wer so viel beansprucht wie der Durchschnitt, zahlt unterm Strich nichts, wer weniger beansprucht, bekommt etwas ausgezahlt, wer mehr beansprucht, muss die Allgemeinheit dafür entschädigen. Eine Welt ohne Grundeigentum wäre eine Welt ohne Feudalherrschaft, ohne Land-Grabbing, ohne willkürliche Mietforderungen. Eine Welt, in der Donald Trumps Angebot, Grönland zu kaufen, tatsächlich absurd wäre – allerdings ebenso absurd wie die Behauptung, die größte Insel der Erde unterstehe der dänischen Krone. Das Eigentum an Boden einmal gedanklich ausgelöscht, folgt die Demokratisierung der darauf errichteten Gebäude fast zwingend. Gebaut, abgerissen und verändert werden kann nur, was und wie es die Gesellschaft will. Die heutigen Grundherren malen dazu Schreckgespenster sozialistischer Verwaltung à la solcher Klagen: "Nichts würde mehr funktionieren, gäbe es keine Möglichkeiten mehr, mit Bodenhandel reich zu werden. Niemand würde bauen, niemand irgendetwas in Schuss halten – man hat's ja in der DDR gesehen!" Gingen mit dem Eigentum also tatsächlich kapitalistische Wohltäter verloren? Nein, denn kein Investor setzt auch nur einen Stein auf den anderen. Seine ganze Leistung ist die Behauptung, Geld vermehren zu können. Dafür bekommt er es geliehen, dafür kassiert er später bei Käufern oder Mietern. Doch bei realistischen Mietpreisen ohne Bodenspekulation wäre jede noch so arme Hausgemeinschaft kreditwürdig genug, um Bau oder Erhalt eines Gebäudes zu stemmen. Es würde den Bewohnern halt nie gehören, sie dürften es aber zum Leben nutzen. Dafür sind eine Vielzahl von Modellen denkbar und im Kleinen auch erprobt. Es wird jedenfalls nicht darum gehen, den privaten AG- oder GmbH-Grundherren durch einen staatlichen Funktionär auszutauschen. Die Gesellschaft kann demokratisch entscheiden, wie sie das Land gestalten möchte. Sie kann über Siedlungsflächen, Landwirtschaft und Naturschutzgebiete verfügen. Sie kann die Zusammensetzung von Dörfern und Wohngebieten steuern, sie kann sich bewusst für Unterschiede aussprechen und damit statt kapitalistischer Konsumwüsten vielfältige Lebensgestaltungen zulassen. Demokratie kann sogar dem Wachstum Grenzen setzen, wenn sie möchte, denn bitte: Es gibt kein Menschenrecht darauf, in die Mitte Hamburgs oder Münchens ziehen zu dürfen! Eine Gesellschaft, die ihr Zusammenleben demokratisch gestalten kann, anstatt von den Gewinnlüsten einzelner Grundherren und ihres Gesindes abhängig zu sein, wird ganz andere Wege beschreiten, als sie heute überhaupt denkbar sind. Die Abschaffung des privaten Grundeigentums wird rückblickend einmal so selbstverständlich und überfällig erscheinen wie das Ende der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Frau.
Von Timo Rieg
Die einen erben Immobilien, die anderen zahlen exorbitante Mieten. Gerechtfertigt wird das gerne mit dem freien Markt oder mit dem Grundrecht auf Eigentum. Aber muss die Gesellschaft unbedingt so funktionieren? Wie sähe sie ohne die "Eigentumsreligion" aus?
"2020-03-29T09:30:00+02:00"
"2020-03-17T08:42:22.719000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eigentumsreligion-von-der-idee-mit-grund-und-boden-reich-zu-100.html
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Apps bieten Banken die Stirn
Mobiles Bezahlen soll in Zukunft vor allem mit dem Smartphone passieren. (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler) Die Deutschen sind wahre Plastikmuffel. Sie greifen im Schnitt nur etwa 50 Mal im Jahr zur Karte, wenn es ums Bezahlen geht. Die Portugiesen machen das doppelt so oft, und in Skandinavien gilt Bargeld fast schon als verpönt. Wer in Stockholm mit Bus oder Bahn fahren will, kann zum Beispiel gar nicht mehr mit Scheinen oder Münzen zahlen. Dennoch arbeiten Banken, Kartenanbieter und der Handel fieberhaft daran, den Deutschen das mobile Bezahlen schmackhaft zu machen. "Payment 4.0" heißt das im Fachjargon und bedeutet schlicht und ergreifend, dass Zahlen berührungslos erfolgt. Zum Beispiel per Funk. Die Kassiererin gibt den Betrag ein, schaltet die Bezahlfunktion frei, der Kunde hält die Karte vor ein Lesegerät und "piep" ist der Kauf erledigt. Die berührungslose Kreditkarte ist nur der erste Schritt Viele Handelsketten akzeptieren das berührungslose Zahlen, die Discounter Lidl und Aldi beispielsweise, aber das reicht noch nicht, sagt Maike Strudthoff, Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens MSIC for Mobile Innovation: "Die verfügbaren Verfahren sind oft nur für wenige Nutzer relevant, viele Händler akzeptieren es noch nicht. Es gibt kaum Mehrwerte, die Verfahren sind meist kompliziert. Ich bin mir aber sicher, eines Tages wird der "mobile payment"-Knoten platzen, wenn die Angebote dann die notwendige Reife haben." Dabei ist die berührungslose Kreditkarte nur der erste Schritt. Mobiles Bezahlen soll in Zukunft vor allem mit dem Smartphone passieren. Der Kunde aktiviert eine App, lädt einen Bezahlcode. Das Lesegerät an der Kasse erfasst den Code und - "piep" ist der Kauf erledigt. Angesichts der Möglichkeiten gerät die Fachwelt ins Schwärmen: "Wir alle sind mobil und der Handel kann das verwenden. Jetzt das erste Mal, die physische Welt, also im Laden zu sein mit der digitalen Welt, so ein Handy in der Hand zu haben. Da sind ganz neue Services, die sich daraus ergeben können", erklärt Florian Wolfframm, Marketingleiter beim Bonusanbieter Payback. Mobiles Punktesammeln und Bezahlen bei Payback Seit einiger Zeit hat Payback seine App um eine Bezahlfunktion erweitert, bietet damit mobiles Punktesammeln und mobiles Bezahlen an. Neun Millionen Kunden haben die App bereits heruntergeladen, wie viele damit auch zahlen, ist Betriebsgeheimnis. Payback wird zugetraut, das Eis in Sachen Payment 4.0 zu brechen. Marketingchef Wolfframm gibt sich betont gelassen: "Mobile Payment Wettbewerber, die interessieren uns nicht. Die Zahlungsfunktion ist für uns nur eine Kirsche on Top. Die kann man essen, die muss man aber nicht essen." Denn wer sich für das Zahlen per App entscheidet, dem geht es in erster Linie nicht ums Bezahlen. Und hier kommen viele kleine App-Anbieter ins Spiel, die den Markt langsam aber sicher aufräumen. Wie zum Beispiel "MyTaxi". Mit der App lässt sich das Taxi zahlen, aber eben auch rufen. Oder "Lieferheld". Mit der App kann das Essen bezahlt, aber eben auch ausgesucht und bestellt werden. Maike Strudthoff: "Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Mobile Technologien sind ein wesentlicher Treiber. Dabei versteht die Technologie dann immer besser, welche Antworten an bestimmten Orten für welche Kunden relevant sind." Kritiker befürchten Missbrauch von Zahlungsdaten Das heißt konkret, wer keinen Fisch mag, dem wird sein Smartphone keine Sushi-Bar empfehlen, eher die Pizzeria nebenan. Das zeigt aber auch: Wer mobil zahlen will, muss auch viel von sich preisgeben. Kritiker befürchten auch, dass sich die Zahlungsdaten manipulieren lassen. Allerdings ist es zu so einem Datenklau noch nicht gekommen. Die Einkaufs- und Bezahlgewohnheiten ändern sich langsam. Das wird vor allem für Banken und Sparkassen zu einer großen Herausforderung werden, urteilt Maike Strudthoff: "Bei jeder Kartenzahlung schaut der Kunde typischerweise auf das Logo seiner Bank. Das ist auf der Karte aufgedruckt. Ob nun Apple Pay, Samsung Pay, Payback Pay oder ein anderes Pay, der Kunde schaut dann auf das Logo des neuen Anbieters. Somit übernimmt der neue Anbieter einen Teil der Kundenbeziehung und davor sollte eine Bank sich fürchten. Denn damit knabbern die Anbieter langsam aber stetig am Kuchen der Banken." Die Banken haben bereits reagiert und setzen der neuen Konkurrenz mit Giro-Pay ein mobiles Angebot entgegen. Der nächste Schritt dürfte die mobile Bankkarte sein.
Von Stefan Wolff
Nur etwa 50 Mal im Jahr bezahlen deutsche Kunden mit ihrer Karte. Deshalb arbeiten Banken, Kartenanbieter und der Handel fieberhaft daran, den Deutschen das mobile Bezahlen schmackhaft zu machen - vor allem mit dem Smartphone. Doch das "Payment 4.0" birgt gerade für die Banken auch Risiken.
"2016-08-23T17:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:49:14.599000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bezahlen-4-0-apps-bieten-banken-die-stirn-100.html
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Baum-Gene verraten Herkunft
Lasse Schindler, Biochemiker beim Thünen-Institut für Forstgenetik in Großhansdorf bei Hamburg, steht im Extraktionslabor zwischen lauter brummenden Geräten, in der Hand ein kleines Glasröhrchen mit Eichenholzspänen. "Hier haben wir eine Parkettholzprobe – wir sollen überprüfen ob dieses Holz wirklich aus den USA stammt. In diesem Reaktionsgefäß sind kleine Keramikkugeln, etwa 1,4mm groß, etwa 100 Stück, und das wird gleich in einer Maschine eingespannt, die die Probe sehr schnell schüttelt und dadurch die Holzspäne zu sehr feinem Material zermahlt." Die Schwingmühle erledigt ihren Job – der erste Schritt eines genetischen Bestimmungsverfahrens, das insgesamt eineinhalb Tage dauert. "Dabei wird erst einmal die mechanische Phase beendet, und anschließend in einer chemischen Lösung wird die DNA aus den Zellen gelöst, das heißt, wir trennen die DNA von dem Holzmaterial ab." Bäume einer Gegend sind verwandt Schließlich ist der 'DNA-Pellet' im Röhrchen zu sehen und muss dann nun 'nur' noch gereinigt werden. Die isolierte DNA wird im letzten Schritt mit so genannten 'DNA-Landkarten' abgeglichen, die für sämtliche von Holzeinschlag betroffenen Regionen rund um den Globus erstellt wurden. Denn: Die Bäume einer Gegend sind stets miteinander verwandt – besitzen also übereinstimmende genetische Merkmale – so genannte Marker: "Wir haben bei dieser Eichen-Parkettholzprobe nun einen Genmarker genutzt, der Amerika und Eurasien voneinander auftrennt. Das war als USA deklariert, und wir konnten die Angaben bestätigen." Also alles in Ordnung. Für das laufende Jahr sind bereits mehr als 1.000 solcher Proben im Thünen-Institut angemeldet worden – eine Umstellung für die Einrichtung, die bislang nur gelegentlich Anfragen von Umweltschutzorganisationen erhalten hatte. Dr. Bernd Degen, Leiter des Instituts für Forstgenetik, erklärt die steigende Nachfrage: "Verantwortlich nach der Holzhandelsverordnung ist diejenige, der das Holz erstmalig in die EU einführt als Marktteilnehmer..." Bei 20 Prozent falsche Angaben Nun reichen immer mehr Holzhandelsfirmen Proben ein – außerdem die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurz BLE, die für die Überwachung der neuen EU-Holzhandelsverordnung zuständig ist. Und die verstärkte Kontrolle macht offensichtlich Sinn: Bei immerhin 20 Prozent aller Proben finden sich Falschdeklarationen, sagt Institutsleiter Dr. Bernd Degen – auch beim Eichen- und Lärchenholz. Da komme es nämlich vor, dass... "...Eichen als europäische oder nordamerikanische Eiche deklariert waren, und es dann am Ende mongolische Eiche war. Es ist bekannt, dass um die 50 Prozent der eingeschlagenen Lärchen aus Regionen stammen, die gar nicht autorisiert sind, Lärche in dem Umfang einzuschlagen." Die Situation beim Tropenholz sei ganz ähnlich. Hier stehe beispielsweise gelegentlich Malaysia drauf, wo Indonesien drin ist – um den illegalen Einschlag in Indonesien zu vertuschen, das inzwischen über verhältnismäßig strenge Einschlag- und Exportrichtlinien verfügt. Auch bei mit 'Mahagoni' bezeichneten Holzproben stelle sich häufig eine andere Holzsorte heraus – eine Falschdeklaration zum Zwecke der Wertsteigerung, vermutet Degen. Während die Holzimporteure bei falschen Ursprungsbezeichnungen mit empfindlichen Geldstrafen rechnen müssen, hat illegaler Einschlag für die betroffenen Ökosysteme langfristige Folgen – noch einmal Institutsleiter Degen: "Innerhalb eines Landes werden ja Einschlagkonzessionen vergeben. Entnimmt man aber zu viele Bäume, dann ist diese Regenerationsfähigkeit nicht mehr gegeben, das heißt, diese Baumart kommt dort zukünftig nicht mehr vor." Genetische Landkarten müssen erweitert werden Besonders kritisch sei dies natürlich bei bedrohten Bäumen – gemäß Liste des Washingtoner Artenschutzabkommens rund 350 Arten. Da die Erstellung der 'genetischen Landkarten' mit einem hohen Aufwand verbunden ist, kann das Thünen-Institut bislang nur zehn Baumarten rückverfolgen – es ist aber geplant, das Spektrum jährlich um mehrere Arten zu erweitern. Ob die neue EU-Verordnung dauerhaft zum Schutz der Bäume beiträgt, bleibt dennoch fraglich. "Die Frage ist, kann es sein, dass wir damit am Ende nur einen Substitutionseffekt auslösen. Was wir wollen ist ja, dass das Holz erst gar nicht eingeschlagen wird – wenn es dann aber in andere Kanäle fließt, dann ist der Effekt für die Wälder gleich null."
Von Maike Strietholt
Die Rodung tropischer Regenwälder bleibt ein Problem. Mithilfe der Genetik ist es aber mittlerweile möglich, illegale Rodungen aufzudecken und so vielleicht zu verhindern. Aber nicht nur beim Tropenholz wird gepfuscht. Auch Eichenholz ist nicht gleich Eichenholz.
"2014-03-21T11:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:04.924000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/illegaler-holzhandel-baum-gene-verraten-herkunft-100.html
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Retten bis zum Umfallen
Der Gewinner kommt aus Südkorea und heißt Humanoider Roboter, kurz HUBO. (MARK RALSTON / AFP) Eines steht auf jeden Fall fest: Dass Roboter die Weltherrschaft an sich reißen, damit ist so bald nicht zu rechnen. Am Wochenende konnte man bei der DARPA Robotics Challenge jedenfalls 24 hoch entwickelten Robotern beim Versagen zusehen. Best-of-Videos finden sich im Internet, zum Beispiel von Robotern, die beim Laufen, beim Aussteigen aus einem Auto oder auch im Stehen einfach umfallen. "Als er gerade durch die Tür gehen wollte, hat er sich abgeschaltet und ist umgefallen." Oskar von Stryk lässt den Wettbewerb von seinem Hotelzimmer aus via Skype Revue passieren. Er hatte gleich zwei Roboter im Rennen: Hector von der Universität Darmstadt und Vigir aus einem internationalen Kooperationsprojekt mit Beteiligung der Darmstädter. Beide fielen hin. Es reichte nur für enttäuschend wenige Punkte. Zu Beginn des Parcours saßen die Roboter in einem Fahrzeug und mussten dies über eine Piste steuern. Hector bewältigte die Strecke in knapp drei Minuten – und zählt damit zu den Schnellsten. "Dann muss man aussteigen, das ist für einen Menschen sehr einfach. Das Aussteigen ist mit die schwierigste Aufgabe gewesen für die Roboter. Deshalb war es auch erlaubt, dass man passive Hilfsmittel benutzen darf. Also das Siegerteam hatte den Roboter auf dem Fahrersitz sitzen, aber die Füße nach draußen hängen und hat über einen speziellen Mechanismus das Gaspedal bedient, so dass sie halt schnell rausrutschen konnten aus dem Fahrzeug." DARPA hat die Anforderungen nachträglich reduziert Der Gewinner kommt aus Südkorea und heißt Humanoider Roboter, kurz HUBO. Er läuft also wie ein Mensch auf zwei Beinen - eine besondere Herausforderung. Auf Platz zwei und drei folgten weitere Humanoide aus Florida und Pennsylvania. Knapp dahinter der Roboter der Universität Bonn, Momaro, den einige zunächst unterschätzt hatten. Momaro war einer der kleinsten und leichtesten Wettbewerber und sieht wenig elegant aus: wie eine flache Kiste mit vier Beinen, auf der ein menschenähnlicher Torso mit Kopf und Armen steckt. Gemacht ist Momaro für Katastrophen-Szenarien, um die es ja eigentlich auch ging, bei dem Wettbewerb in Kalifornien. Doch letztlich war nur ein kleiner Schutthaufen zu bewältigen. Die anderen Aufgaben - etwa das Zudrehen eines Ventils oder Treppensteigen, müsste auch ein Haushaltsroboter erledigen können. Sven Behnke von der Universität Bonn zieht deshalb die Bilanz, dass der Roboter seines Teams unterfordert war. Kurz vor dem Rückflug nach Deutschland sagt er am Flughafen im Telefongespräch: "Die DARPA hat eben gesehen, dass insgesamt der Stand der Technik noch nicht so weit ist..." Die DARPA habe die Anforderungen nach den Vorrunden an den Stand der Technik angepasst. Auch das Gewinnerteam konnte nicht das zeigen, was sie vorbereitet hatten. Schwieriges Gelände mussten die Roboter praktisch gar nicht bewältigen. Auch wenn die deutschen Teams die Preisgeld-Millionen nicht mit nach Hause nehmen, scheint sich der Wettbewerb für alle gelohnt zu haben. Oskar von Stryk beeindruckte unter anderem die Atmosphäre während der Vorbereitungswoche, die alle Teams mit ihren Robotern in einer großen Messehalle verbrachten. "Man hat sich gegenseitig geholfen, und einige Teams haben auch Software untereinander ausgetauscht. Wir haben das auch gemacht, um sich gegenseitig zu unterstützen. Weil: Unser Ziel ist eigentlich, das Feld voranzubringen und nicht allein quasi einen Wettbewerb zu gewinnen." Den Wettbewerb hält der Darmstädter Forscher aber für zukunftsweisend. Er vergleicht ihn mit der Urban Challenge, die die DARPA zuletzt ausgeschrieben hatte. Dabei ging es um die Entwicklung autonom fahrender Autos. "Wo wir jetzt acht Jahre nach diesem Wettbewerb viele der Technologien aus diesem Wettbewerb in der Nähe des praktischen Einsatzes sehen. Und das wird bei der Robotik jetzt genauso sein, das wird auch 10 bis 15 Jahre dauern." Das Publikum in Kalifornien war jedenfalls schon jetzt begeistert von den Rettungsrobotern. Es jubelte, wenn ein Roboter es schaffte, die Tür zu öffnen oder eine der vier Treppenstufen zu erklimmen. Und es erkundigte sich nach dem Wohlbefinden der Roboter, wenn mal wieder einer gestürzt war.
Von Thomas Reintjes
Am Wochenende hatte die Technik- und Entwicklungsagentur des US-Verteidigungsministeriums (DARPA) zur Robotics Challenge nahe Los Angeles geladen. Inspiriert war der Wettbewerb von der Idee, dass Roboter in Katastrophensituationen eingesetzt werden könnten. 24 Roboter traten gegeneinander an - ein Ereignis, das auch als "Das große Stolpern" bezeichnet werden könnte.
"2015-06-08T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:04.348000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/finale-der-darpa-robotics-challenge-retten-bis-zum-umfallen-100.html
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Der stille Kampf um Identität
Nur mit Musik können tibetische Künstler ihren Glauben und die Zugehörigkeit zu ihrer Kultur und Heimat ausdrücken. (dpa picture alliance / Michael Reynolds) Sie sind jung, hübsch und talentiert. Die drei Schwestern der Band Acha Tsendep, die gleichermaßen Stars in Tibet und China sind. Sie singen über Buddhismus, ihren Glauben, über den Dalai Lama und von der Besonderheit Tibets. Sie drücken ihr Heimweh in der Sprache Tibets aus und machen die Ausrottung ihrer Kultur zum Thema. Tibetische Popmusik als Ausdruck bedrohter Identität. Die Mitglieder der Gruppe Acha Tsendep leben heute in Peking. Aber die Schwestern stammen aus der Kham Region in Ost-Tibet – dem heutigen Sichuan. Sie gehören zu den jungen tibetischen Musikern und Bands, die als Schulkinder nach chinesischem System erzogen werden, sich jetzt aber wieder zu ihrem buddhistischen Glauben und zu ihrer eigenen Kultur und Sprache bekennen. Donatella Rossi, Fachfrau für buddhistische Kultur an der La Sapienza Universität in Rom, hält diesen Trend für eine neue Bewegung: "Das ist wirklich ein sehr cleverer und behutsamer Weg. Es ist eine sehr friedliche Art, auf sich aufmerksam zu machen. Und dieser Weg sagt: Wir sind hier, also respektiert uns und unsere Kultur. Die chinesische Regierung toleriert es, weil sie nicht die Bedeutung dieser Bewegung versteht. Denn es ist eine Bewegung und die ist sehr wertvoll. Wir müssen mit der jungen Generation arbeiten. Wir können nicht mit Leuten arbeiten, die total festgefahrene Ideen haben. Außerdem sind die meisten an die chinesische Propaganda gewöhnt." Friedliche Art des Protestes Es ist dunkel und langsam füllt sich der Raum in einem Lokal im Zentrum von Lhasa. Lhasa ist die bekannteste Stadt Tibets und liegt mitten im Autonomiegebiet im Südwesten des Landes. Auf knapp 3.700 Meter Höhe leben hier rund eine halbe Million Menschen. Besonders die Jüngeren unter ihnen gehen gerne tanzen. So finden sich junge Tibeter, gemischt mit Chinesen, aber auch mit Reisenden aus aller Welt, im Tanzlokal ein. Es passen rund 60 Leute rein. Unter ihnen ist Sean Read. Er ist Australier, lebt und arbeitet als Ingenieur in Peking. "Ich bin ein Riesenfan tibetischer Popmusik. Außerdem mag ich die kulturellen Aussagen in den Songtexten der Künstler. Es ist wirklich wichtig, dass die jüngere Generation verbreitet, wie bedeutsam die tibetische Kultur ist und dass die Unterdrückung dieser Kultur durch die Chinesen ein Problem ist." Die Texte mögen in westlichen Ohren etwas kitschig klingen - aber ihre Aussage ist klar: "Tibeter aus dem Land des Schnees, haltet zusammen!" Und an anderer Stelle: "Oh, ihr rotgesichtigen Tibeter, wir haben die gleiche Herkunft, wir sind die Erben einer Nation!" Die tibetanische Sängerin und Autorin Soname Yangchen singt über ihren ungebrochenen Glauben und ihre Heimat Tibet. (dpa picture alliance / Frank May) Die Liste der jungen tibetischen Popmusiker ist lang. Und es kommen immer mehr dazu. Soname ist eine davon. Auch sie singt über ihren ungebrochenen Glauben und ihre Heimat. Soname ist jetzt Mitte vierzig. Aber schon als Kind spürte sie ihre Leidenschaft für Musik. Um sich als freie Sängerin verwirklichen zu können, musste sie aus Tibet fliehen – zu Fuß über das Himalaja Gebirge. "Tibeter aus dem Land des Schnees, haltet zusammen!" Denn Soname stammt aus einer adeligen Familie aus dem Yarlung Tal in Süd-Tibet. Im Zuge der Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China wurde ihre Familie enteignet. Adeligen wie ihnen ging es daraufhin schlechter als anderen. Sie kämpften ums Überleben. Denn Tibetische Aristokraten gelten als Feinde im besetzten Gebiet und damit in der Volksrepublik China. Soname erinnert sich noch gut an diese Zeit: "Mit sieben Jahren wurde ich von meinen Eltern nach Lhasa verkauft. Ich habe dort als Sklavin in einem Polizeihaushalt gedient. Als meine Mutter starb, hatte ich keine Hoffnung mehr, jemals aus der Sklaverei rauszukommen. Deshalb habe ich mich mit 15 zur Flucht aus Tibet entschlossen." Sie kam zunächst im Sera Kloster in Lhasa unter. Dort traf sie einen Mönch, der nach Indien zum Dalai Lama fliehen wollte und sie mitnahm. Das Sera Kloster liegt nördlich außerhalb von Lhasa und gehört zu den berühmtesten in Tibet. Es steht allen Tibetern offen, die dort beten oder Opfergaben darbringen wollen. Vorwiegend werden dort junge Mönche in tibetisch-buddhistischer Philosophie ausgebildet. Singen über Glauben und Kultur "Der Mönch hat immer wieder gesagt, dass ich schnell laufen soll, weil nach dem nächsten Berg der Dalai Lama mit Tee auf uns wartet. Ich war fast noch ein Kind, ich war 15. Ich habe ihm geglaubt und ich bin weiter gelaufen, obwohl ich mit meinen Kräften am Ende war. Ich war so aufgeregt und jedes Mal so enttäuscht, wenn der Dalai Lama doch nicht hinter dem nächsten Berg wartete. Der Mönch hat dann immer wieder zu mir gesagt, dass er sich wohl mit dem Berg vertan hat. So hat er mich am Laufen gehalten und dafür gesorgt, dass ich die Flucht schaffe. Sechs Wochen lang." Die Flucht über den Himalaja nach Nepal ist jetzt über 25 Jahre her. Es war der Aufbruch in ein anderes Leben, über den sie - wie auch über ihre Zeit als leibeigenes Dienstmädchen in Tibet - ein Buch geschrieben hat. Es heißt "Wolkenkind" und hat ihr geholfen, das Trauma zu überwinden. Heute tritt sie mit ihren tibetischen Liedern in ganz Europa auf, mit Erfolg. Allein in den letzten fünf Jahren sind einem Bericht der International Campaign for Tibet zufolge rund 3.500 Tibeter über den Himalaja geflohen, die meisten ins Nachbarland Nepal. Die chinesische Regierung setzt auf Zuckerbrot und Peitsche, auf einseitige Wirtschaftsentwicklung, um die Bevölkerung ruhig zu halten und auf Repression, insbesondere in Bezug auf die Verbreitung und öffentliche Ausübung tibetisch-buddhistischer Religion. Vor allem das löst immer wieder Widerstand und Demonstrationen aus, die von der lokalen chinesischen Polizei gewaltsam niedergeschlagen werden. So wurden in der Gemeinde Biru im Osten der Autonomen Region Tibet im letzten Herbst bei Auseinandersetzungen mit der Polizei mindestens 60 Menschen verletzt und Dutzende verhaftet, nur weil Tibeter ihre Flagge gehisst hatten. Die zu zeigen ist sowohl in Tibet als auch in China verboten. Schon der Besitz wird mit strengen Strafen geahndet. Demonstrationen werden gewaltsam niedergeschlagen "Paradoxerweise hat dennoch genau das, was heute in Tibet passiert, dafür gesorgt, dass über Tibetische Identität überhaupt erst diskutiert wird. Das zu verstehen, ist wichtig: Solange man nicht direkt mit einer Gefahr konfrontiert ist, weiß man nicht, dass man bedroht ist. Jetzt ist Gefahr da, jeder kann sie sehen." Und doch tragen heute Frauen und Männer in Tibet stolz die traditionelle Chupa – einen Wickelrock oder ein Kleid, in vorwiegend dunklen Farben. Die Haare vieler Männer sind lang, verziert mit buntem Tibetischen Haarschmuck – eine Jahrtausend alte Tradition. Dieses Bild zeigt sich überall im Land, besonders oft aber in den Städten. Ein kleines Café, direkt an der Hauptstraße im Zentrum von Lhasa. Es ist Samstagnachmittag. Der Laden ist voll. Junge Tibeter und Chinesen gönnen sich dort einen Kaffee. Das gilt hier als Trendgetränk. Auch, weil er fünf Mal so teuer ist wie ein Milchtee. Das Café gehört Deleg Langmarzang. Zwölf Jahre hat er in der Schweiz gelebt. Aus Heimweh ging er zurück nach Lhasa. Er trinkt schon seinen dritten Cappuccino. Dabei redet er über die Lage in Tibet, aber auch nur, weil er sich in seinem Café sicher fühlt und auf Deutsch spricht, eine Sprache, die kaum jemand in Tibet versteht. Sonst will sich keiner öffentlich über Tibet äußern. "Ja, was soll ich sagen. Es ist schwer. Mit Gewalt geht sowieso gar nichts. Meinungsfreiheit gibt es hier nicht." Deleg geht es gut, auch wenn ihm die Meinungsfreiheit fehlt und ihn die Lage, in der sich Tibet befindet, traurig macht. Er hat ein eigenes Café mit zwei Mitarbeitern und der Laden läuft gut. Er lebt bei seiner Familie in einfachen Verhältnissen und ist glücklich darüber. Heimweh hat er jetzt nicht mehr, nun ist er von seinen Landsleuten umgeben. "Sehr viele im Ausland sagen ja 'Ich bin mit euch'. Aber mit euch sein im Ausland geht nicht. Du kannst nur mit uns sein, wenn du hier bist." Genau das war auch der Grund, warum er sich vor drei Jahren entschlossen hat, sein sicheres Leben mit gutem Job in der Schweiz aufzugeben und zurück nach Lhasa zu gehen. Lhasa: Das spirituelle Zentrum des Tibetischen Buddhismus Die chinesischen Behörden verschärften zum 50. Jahrestag des tibetischen Aufstands gegen China die Sicherheitsvorkehrungen rund um den Potala-Palast in Lhasa. (AP) Lhasa bedeutet auf tibetisch Götterort. Es liegt mitten im Himalaja Gebirge und ist auf dem Landweg nur schwer zu erreichen. Es ist sprichwörtlich das "Dach der Welt". Die Geschichte der Stadt geht bis zum 7. Jahrhundert zurück. Sie gilt seither als spirituelles Zentrum für den Tibetischen Buddhismus. Lhasa ist die Hauptstadt im Autonomiegebiet und bedeutsamer religiöser Pilgerort. Der Potala Palast, der ehemalige Palast des Dalai Lama, dem geistlichen tibetischen Oberhaupt, ist die Sehenswürdigkeit Nummer Eins. Auf fast 4.000 Meter Höhe leben hier Tibeter mit einem immer größer werdenden Anteil Chinesen zusammen. "90 Prozent der Besitzer hier sind Chinesen. Ich bin auf dieser Straße hier der einzige Tibeter, der was macht. Selbständig", sagt Deleg. "Ich unterstütze hier sehr viele Tibeter. Ich kaufe nur von den Tibetern. Anders geht es nicht. Du kannst gegen die Regeln nicht kämpfen. Also sehr wichtig sind zum Beispiel Touristen, die hierher kommen, schauen, Informationen weitergeben, erleben. Denn wenn keine Touristen hier wären, dann könnten die Chinesen machen was sie wollen." Touristen gibt es, aber fast alle kommen aus China. Für westliche Touristen ist die Einreise ins Land schwierig und teuer. Auf ein Visum für die autonome Region Tibet müssen sie manchmal monatelang warten. Gibt es dort wieder Unruhen, werden die Grenzen geschlossen und niemand kommt rein. Egal ob auf Straßenmärkten oder in Einkaufsstraßen, überall an den Ständen und Geschäften stehen chinesische Schriftzeichen doppelt so groß über den Tibetischen. Zeitungen und Magazine wie zum Beispiel "Chinas Tibet" werden auf Chinesisch und sogar auf Englisch veröffentlicht. Nur sehr wenige Medien dürfen dagegen auf Tibetisch heraus kommen. Was geschrieben und worüber berichtet wird, das entscheidet und kontrolliert die strenge chinesische Zensur. China übt strenge Zensur in Tibet Auch an Ticketschaltern wird ausschließlich Mandarin gesprochen. Die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China hat zwar der Bevölkerung durchaus mehr Wohlstand und Bildung gebracht. Die ist allerdings stark chinesisch gefärbt und systemkonform. Wer studieren und einen Job haben will, muss chinesisch lernen. Der Amerikaner Ronny Harper ist als Tourist nach Lhasa gekommen: "Ich mag Lhasa. Aber es ist schon erstaunlich, wie sehr die Stadt zwischen alt und neu aufgeteilt ist. Das neue Lhasa könnte auch irgendeine beliebige Stadt in China sein, wie Peking. Es fällt auf, dass viel Geld in den neuen Teil der Stadt geht und nicht in die Altstadt, den Tibetischen Teil von Lhasa." Ein schwieriger Zustand für die rund 80.000 Tibeter, die vorwiegend in der Altstadt leben, in Häusern, die zerfallen. Und wenn doch Geld in die Altstadt fließt, dann nicht für die behutsame Restaurierung traditioneller tibetischer Häuser, sondern in den Neubau von Gebäuden nach chinesischem Vorbild. Ganz Tibet ist reich an natürlichen Ressourcen. Von hohem Interesse sind vor allem die Möglichkeiten, natürliche Wasserenergie und Erdwärmereserven zu nutzen. Außerdem verfügt Tibet über eines der größten Waldgebiete der Volksrepublik mit viel kostbarem Holz. Daneben gibt es Bodenschätze wie Salz, Kristalle, Chromeisenerz und Kupfer. Zwangsumsiedlungen für tibetische Nomaden und Dorfbewohner Um die Rohstoffe zu nutzen, werden Zwangsumsiedlungen von Dorfbewohnern durchgeführt. Allein im Autonomiegebiet sind laut Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über eineinhalb Millionen Menschen davon betroffen, das ist mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Nomaden sollen sesshaft gemacht und in chinesische Strukturen eingegliedert werden. So kann ungestört nach heißen Quellen und Gold gegraben werden. Eine eigene Stimme, wenn es um politische Entscheidungen geht, haben Tibeter nicht. Direkter verbaler Protest gegen die chinesische Regierung und deren Besetzung ist nicht möglich. Wer sich trotzdem lautstark zur Wehr setzt, landet im Gefängnis oder wird umerzogen. Als kürzlich Tibeter im Bezirk Driru im Norden der Autonomen Region Tibet sich weigerten, ihre Loyalität gegenüber China zu bekunden, feuerte die lokale Polizei tödliche Schüsse auf eine unbewaffnete Menge ab. Statt chinesische Flaggen auf ihren Hausdächern aufzuziehen, hatten die Menschen die Flaggen in einen Fluss geworfen. In Folge hat die chinesische Regierung Driru als politisch instabilen Bezirk identifiziert. Dort wird nun ein so genanntes "intensives und durchgreifendes" politisches Umerziehungsprogramm durchgeführt, was ständige Meetings mit chinesischer Polizei und Behörden in Dörfern und Klöstern bei Tag und Nacht umfasst. Überall in Tibet werden die Menschen streng überwacht. In der ganzen Stadt sind Kameras installiert. Jeder wird beobachtet. Das merkt auch Cafébesitzer Deleg Langmarzang, denn vor seiner Tür auf der Haupteinkaufsstraße in Lhasa sind ebenfalls Kameras zu sehen. In Tibet herrscht strenge Überwachung "Es ist ein sehr schönes Land. Und die Tibeter sind recht zufrieden. Eigentlich. Auch mit sehr wenig. Nur das einzige Problem ist, es ist politisch ein bisschen zu streng, viel Polizei und Kontrollen. Das ist der einzige Grund, der nervt." "Wir müssen jetzt vorsichtig sein, ich glaube die Räume in dieser Gegend sind verwanzt." ...sagt der ehemalige Mönch Dorje, bevor er das Gespräch abbricht und das Hotelzimmer verlässt. Er möchte nicht mehr über Politik reden. Wie eigentlich alle in Tibet. Aus gutem Grund, denn ein befreundeter ehemaliger Mönch wurde aufgrund anti-chinesischer Aussagen verhaftet und in eine so genannte Umerziehungsanstalt gesteckt. Dorje hat seitdem nichts mehr von ihm gehört. Er hat Angst. Selbst um den tibetisch buddhistischen Jokhang Tempel sind keine Mönche in ihren roten Roben zu sehen. Es ist zu gefährlich für sie, sich in der traditionellen Ordenskleidung zu zeigen. Mönche haben Angst, eingesperrt zu werden. Erst im Dezember haben chinesische Behörden drei Klöster in Driru geschlossen. Der Grund: kritische Mönche und fehlende Loyalitätsbeweise gegenüber China. Die Polizei kontrolliert die Straßen und beobachtet sie außerhalb des Klosters. Selbstverbrennung: Verzweifeltes Zeichen des Protestes In den vergangenen fünf Jahren haben sich rund 120 Tibeter aus Protest gegen die chinesische Führung selbst in Brand gesetzt. (picture alliance / dpa) Die Bevölkerung fürchtet Unruhen und Übergriffe der Polizei, aber auch, dass sich öffentliche Selbstverbrennungen wiederholen könnten. Allein in den vergangenen fünf Jahren haben sich rund 120 Tibeter selbst in Brand gesetzt. Ein verzweifeltes Zeichen des Protests gegen das Vorgehen der chinesischen Führung. Die einzige Möglichkeit, öffentlich die tibetische Kultur zu feiern und das Tibetische Oberhaupt, den Dalai Lama zu verehren, liegt in der Popmusik. Nur mit Musik können sich tibetische Künstler zu ihrem Glauben, ihrer Kultur und Heimat bekennen. Mit Umschreibungen und Codewörtern. Sänger Yadong macht es vor. Ama heißt Mutter und steht hier auch für seine Heimat Tibet. Yadong drückt so seine Liebe zum Land aus. Eine künstlerische Freiheit, die bis jetzt in Tibet nicht verboten ist. Und genau diese Freiheit nehmen sich immer mehr tibetische Künstler, um mit Popmusik für die Erhaltung ihrer bedrohten Kultur zu kämpfen.
Von Diana Frankovic
In Tibet bekennen sich immer mehr junge Musiker und Bands mit ihrer Kunst zum buddhistischen Glauben und zur tibetischen Kultur und Sprache. Die Popmusik wird zu einem Ausdruck bedrohter Identität - ein friedlicher Protest gegen die oft gewaltsamen Repressionen der chinesischen Regierung.
"2014-04-18T18:40:00+02:00"
"2020-01-31T13:36:35.742000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tibet-der-stille-kampf-um-identitaet-100.html
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Provokante Mauer-Thesen empören Opferverbände
Der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, gedenkt der Opfer des Mauerbaus am 55. Jahrestag. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen) Diskussion Polizei - Demonstrant: – "Ich müsste Sie bitten, diesen Veranstaltungsbereich zu verlassen." – "Handeln Sie jetzt aus eigener Initiative, oder hat sich der Veranstalter beschwert?"– "Der Veranstalter hat sich beschwert…" Der Mann, den die Polizistin bittet, sich zu entfernen, ist Karl-Wolfgang Holzapfel, Vorsitzender der "Vereinigung 17. Juni 1953". Er hält ein Schwarz-Weiß-Foto hoch, auf dem ein toter Mann hinter einem Stacheldraht zu sehen ist. "Das ist ein Foto von der Ermordung Peter Fechters, der am 17. August 1962 an der Mauer nahe dem Checkpoint Charlie erschossen wurde und verblutet ist. Und wir gehen spontan mit diesem Foto hierher zu der Demo, weil wir kritisieren, dass hier behauptet wird: Die Mauer ist gefallen, nur damit wieder Kriege geführt werden. Und das ist eine Unverschämtheit angesichts der vielen Toten an der Mauer. Dagegen wehren wir uns." Holzapfel und einige andere, die ähnliche Fotos mitgebracht haben, protestieren am Brandenburger Tor gegen eine Kundgebung des Vereins "Unentdecktes Land". Die These, die Holzapfel unverschämt findet, steht auf einem etwa 50 Meter langen Transparent, das die Mitglieder des Vereins im Halbkreis hochhalten. Darauf steht: "Diese Grenze wurde aufgehoben, damit wir gemeinsam wieder in den Krieg ziehen." Der Sprecher des Vereins, Ringo Ehlert, nennt die Kundgebung eine "antimilitaristische Aktion". Deutschland sei seit dem Mauerfall wieder eine Kriegsnation. Dagegen richte sich diese Kundgebung. Das bedeute aber nicht, dass sich sein Verein die Mauer zurück wünsche, so Ehlert: "Die DDR wollte diese Mauer nicht. Es war eine Notlösung. Die DDR wollte ja eine Lösung haben, ein einheitliches, demokratisches, entmilitarisiertes Deutschland. Diese Notlösung musste ja sein, weil der Westen praktisch mit einer separaten Währungsunion und mit massiven Sabotageakten, auch mit massivem Abzug von Arbeitskräften den Staat DDR dazu gebracht hat, dass er ausblutet. Und er musste aus ökonomischen Gründen diese Mauer errichten." Zynische Worte in den Ohren der Protestierenden, die nur hundert Meter weiter der Menschen gedenken, die bei ihrem Fluchtversuch an der Mauer erschossen wurden. Unmittelbar vor dem Brandenburger Tor stehen zwei graue Kastenwagen der Stasi. Darin wurden Gefangene transportiert. Heute am Jahrestag des Mauerbaus stehen sie hier zur Besichtigung. Dombrowksi: "Das macht mich traurig" Mehrere Opfervereine erinnern an den 13. August 1961 und die Folgen der deutschen Teilung. Der Vorsitzende der "Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft" und Vizepräsident des Brandenburgischen Landtags, Dieter Dombrowski, kann es nicht fassen, dass 27 Jahre nach dem Fall der Mauer einige immer noch die DDR-Diktatur verteidigen: "Das macht mich nicht wütend, das macht mich traurig, dass es Menschen gibt, die auch heute das Schießen auf Menschen als deren eigenes Verschulden letztendlich karikieren und nicht die Schuld sehen bei dem Staat, der die Menschen daran gehindert hat, ihre bürgerlichen Rechte wahrzunehmen und zum Beispiel zu reisen." Dombrowski erinnert nicht nur an die Toten an der Mauer. Er setzt sich auch für eine Entschädigung und Rehabilitation von Opfern des DDR-Regimes ein. So gebe es nach wie vor Nachteile bei der Rente. Auch solle sich der Staat nicht nur auf das Gedenken beschränken, sagt Dombrowski. "Gedenken ist wichtig, aber es müssen auch die berechtigten Belange von Opfern nicht als unerfüllbar hingenommen werden, sondern man muss sich damit beschäftigen. Die Politik ist im Moment dazu nicht bereit. Nehmen wir das Thema Zwangsarbeit zum Beispiel; hier ist null Bereitschaft bei der Politik, sich damit zu beschäftigen, das Thema Zwangsarbeit auch sei es ideell oder materiell abzugelten." In Berlin wurde heute mit zahlreichen Veranstaltungen an den Beginn des Mauerbaus vor 55 Jahren erinnert. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller legte an der Gedenkstätte Bernauer Straße in Erinnerung an die 138 Opfer der Mauer einen Kranz nieder: "Der 13. August ist für viele Berlinerinnen und Berliner, für viele Deutsche doch nach wie vor sehr wichtig, an diesen schlimmen Einschnitt in unserem Zusammenleben auch zu erinnern und deutlich zu machen, was da passiert ist. Auch deutlich zu machen, dass es gelungen ist, diese Teilung zu überwinden und das Ganze natürlich auch jenseits des persönlichen, des privaten Schicksals vielleicht auch politisch einzuordnen."
Von Kemal Hür
Am 55. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer haben heute Bürger, Politiker und Opferverbände der Mauertoten gedacht. Für Empörung sorgte der Verein "Unentdecktes Land", der ebenfalls eine Kundgebung abhielt und den Bau der Mauer als "Notlösung" der DDR verteidigte.
"2016-08-13T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:16.351000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/55-jahre-mauerbau-provokante-mauer-thesen-empoeren-100.html
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"Flüchtlinge aus dem Westbalkan sind auch keine schlechten Menschen"
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) lobt den Asylkompromiss der Bundesregierung. (picture alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen) Spätestens Anfang kommenden Jahres müssten Fortschritte bei der Beschleunigung von Asylverfahren zu sehen sein, fordert die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im DLF. Denn, so die SPD-Politikerin: "Integrieren oder abschieben kann man nur dann, wenn eine Entscheidung gefallen ist." Erleichtert zeigt sich Dreyer vor allem darüber, dass der Streit zwischen den Parteien endlich beigelegt sei – und zwar ohne Transit- oder Haftzonen. Die Länder jedenfalls hätten sich schon seit langem spezielle Aufnahmeeinrichtungen für all jene Ankömmlinge gewünscht, die keine sichere Bleibeperspektive haben, ebenso wie beschleunigte Asylverfahren. Zurzeit seien die Bedingungen vielerorts unhaltbar, betont die SPD-Politikerin. So könnten viele Asylbewerber, die heute ankämen, erst im Juni mit einer ersten Anhörung rechnen. Das Interview in voller Länge: Jasper Barenberg: In den sozialen Netzwerken war einiges los gestern Abend nach der Einigung. "Schärfstes Asylrecht aller Zeiten in Deutschland", "Rückführungszentren für schnellere Abschiebung", "Familiennachzug ausgesetzt" - so twitterte gestern Abend die CSU. Aber auch die SPD reklamiert auf Twitter einen politischen Punktsieg: "Haben uns durchgesetzt! Keine Landgrenzenverfahren, keine Haftlager, kein Zaun, stattdessen geregelte Registrierung." So unterschiedlich können die Kommentare ausfallen.Am Telefon ist die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Guten Morgen, Malu Dreyer! Malu Dreyer: Einen schönen guten Morgen, Herr Barenberg. Barenberg: Auch zu Beginn die Frage an Sie: Wie viel ist eigentlich gewonnen nach der Einigung gestern Abend im Kanzleramt? Dreyer: Gewonnen ist auf jeden Fall, dass wir diese Debatte endlich beigelegt haben, denn ich war schon lange darüber verärgert, dass zwischen den Parteien dieser Streit existiert hat, der für mich von Anfang an ein Streit war von großer Symbolpolitik, aber nicht wirklich ein Streit, der uns in der Sache großartig voranbringen würde. Insofern ist das sicherlich ein Punkt, den ich mit großer Erleichterung entgegengenommen habe, dass der Streit jetzt endlich beigelegt ist und dass eben keine Transitzonen eingerichtet werden, keine Landgrenzverfahren oder Haftzonen eingerichtet werden. Das habe ich und die SPD von Anfang an abgelehnt. "Legale Zuwanderungsmöglichkeit für Menschen aus dem Westbalkan" Barenberg: Nun haben wir alle viel geredet über den Theaterdonner und auch den Machtpoker, der mit dieser Auseinandersetzung verbunden war. Sie haben gesagt, in der Sache hat uns dieser Streit nicht sehr viel weitergebracht. Aber ging es nicht auch immer um die zentrale und damit eben auch wichtige Frage, ob die Tür weiter offen bleibt für Flüchtlinge, oder ob wir die Tür so langsam zumachen oder jedenfalls ein Stück weit? Dreyer: Na ja, in der Lesweise der CSU ganz bestimmt. Aber ich glaube, was uns alle vereint, das ist doch wirklich die Tatsache, dass wir mehr Ordnung in unseren Verfahren wollen. Es war ja teilweise wirklich ein sehr schwieriger Zustand. Ich bin allerdings sicher, dass wir schon auf einem guten Weg waren, mehr Ordnung in die Verfahren zu bringen. Dass jetzt spezielle Einreise- oder Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet werden für die Westbalkan-Flüchtlinge oder für die, die keine sichere Bleibeperspektive haben, dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, denn dort sollen die Verfahren einfach optimiert werden und schneller und beschleunigt werden. Das ist allerdings ein Punkt, den wünschen wir uns schon sehr, sehr lange eigentlich für alle Verfahren. Die Länder, wir Ministerpräsidenten haben immer deutlich gesagt, wir brauchen schnellere Verfahren, denn dann hätten wir sehr schnell mehr Ordnung in den Verfahren. Barenberg: Und wenn Kanzleramtschef Peter Altmaier jetzt ebenfalls twittert, "Das ist ein guter Tag! Wer nicht verfolgt wird und aus einem sicheren Land kommt, wird künftig schneller unser Land verlassen müssen.", dann stimmen Sie ihm hundert Prozent zu? Dreyer: Nein, weil ich das natürlich nicht als einen guten Tag sehe, denn die Flüchtlinge, die aus dem Westbalkan kommen, das sind auch keine schlechten Menschen. Sie kommen aus Armutsgründen oder anderen Gründen, aber sie haben natürlich keinen Anspruch auf Asyl. Und deshalb muss man sie menschlich behandeln, aber auch deutlich machen, dass sie hier nicht bleiben können in unserem Land. Deshalb hat die SPD ja auch durchgesetzt in dem ursprünglichen Kompromiss vor einiger Zeit, dass es eine legale Zuwanderungsmöglichkeit gibt für Menschen aus dem Westbalkan, und das ist auch genau der richtige Weg, das den Menschen dort deutlich zu machen: Nicht Asyl ist der Weg, sondern tatsächlich eine ganz normale Einwanderung in unser Land. Das ist die Möglichkeit, die sie haben. Aber Asyl ist eben nicht möglich. Deshalb bin ich auch dafür, dass diese Verfahren wirklich beschleunigt abgearbeitet werden, damit Klarheit für die Flüchtlinge besteht, aber auch für die Helfer und Helferinnen. Das muss man schon deutlich sagen. Denn es ist eine große Unzufriedenheit. Wenn Menschen erst mal in die Kommunen geschickt werden und nach Monaten erst erfahren, dass sie gar nicht bleiben dürfen, dann empfinden viele Menschen auch ihre Arbeit im Bereich der Integration als irgendwo verschwendete Zeit, und das ist auch ein Problem. "Das A und O wird daran liegen, dass wir schneller werden" Barenberg: Beschleunigung, schnellere Verfahren ist aus Ihrer Sicht wichtig. Das haben Sie gesagt. Sie haben auch gesagt, dass für mehr Ordnung schon gesorgt worden ist. Ich nehme an, Sie meinen das erste Gesetzespaket, das auf den Weg gebracht wurde. Nun ist aber genau da vorgesehen gewesen, dass die ankommenden Flüchtlinge bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben sollen, um das zu erreichen, und der Vorwurf an Sie in Rheinland-Pfalz ist, dass Sie weiter die Flüchtlinge in die Kommunen schicken und damit das Problem verlängern. Dreyer: Wir waren wie fast alle Länder ab September schon in der schwierigen Situation, dass es nicht möglich war, die Menschen länger in unseren Erstaufnahmeeinrichtungen zu halten. Heute ist es so, dass die Menschen aus dem Westbalkan, was ja nur noch eine kleine Gruppe ist, auch in unseren Aufnahmeeinrichtungen bleiben, drei Monate, manchmal auch länger. Im Übrigen werden alle Menschen, die länger bleiben und integriert werden in unsere Gesellschaft, dann doch schnell in die Kommunen verteilt und dort auch integriert. Das heißt, der Vorwurf stimmt einfach nicht. Auch wir mussten schnell Erstaufnahmekapazitäten aufbauen. Das haben wir inzwischen in großer, großer Zahl getan. Und wir können heute sagen, bei uns sind alle Asylbewerber, die ankommen, registriert. Bei uns werden diejenigen, von denen wir wissen, dass sie zurückgeführt werden, in Erstaufnahmeeinrichtungen gehalten und wir führen diese Menschen in großem Stil freiwillig zurück und darauf sind wir auch stolz, denn sie gehen dann auch zurück, sie gehen freiwillig, sie gehen wirklich menschlich begleitet zurück, aber sie bleiben deswegen auch nicht länger in unserem Land. Barenberg: Der Grünen-Politiker Robert Habeck meldet sich zu Wort mit der Einschätzung, dass in den Ländern die Menschen weiterhin ein halbes Jahr darauf warten müssen, bis sie ihren Asylantrag überhaupt stellen können. Wie ist das in Rheinland-Pfalz? Gibt es schon so etwas wie eine Beschleunigung zu beobachten, die jetzt noch mal vielleicht unterstützt wird von den jüngsten Beschlüssen? Dreyer: Nein. Das Gespräch bei der Bundeskanzlerin war ja dafür da, dass wir einen Blick darauf werfen, wie sieht es eigentlich aus mit unseren Beschlüssen aus dem September, und da ist nun mal einfach auch festzustellen, auch bei uns in Rheinland-Pfalz, dass die Verfahren natürlich noch nicht wirklich beschleunigt sind. Auch wir haben noch nicht mehr Entscheider, als wir das vor einiger Zeit hatten. Allerdings haben Herr de Maizière und Herr Weise dargestellt und sind optimistisch, dass es in den nächsten Monaten wirklich da auch einen Schub gibt. Darauf warten wir, denn wir können nur Menschen zurückführen und wir können sie auch nur besonders gut integrieren, die Angebote sind nur offen für sie, wenn Asylverfahren wirklich abgeschlossen sind. Deshalb: Das A und O wird daran liegen, dass wir tatsächlich dort schneller werden und dazu sind viele Arbeiten auf dem Weg, wie wir gestern gehört haben, und ich hoffe doch sehr und erwarte auch, dass Ende des Jahres wir deutliche Fortschritte sehen, spätestens Anfang des nächsten Jahres. Barenberg: Wie lange dauert es im Moment noch, bis ein Antrag gestellt, bearbeitet und entschieden ist in Rheinland-Pfalz? Dreyer: Wir haben heute noch Syrer, die bei uns ankommen und die frühestens im Juni einen Anhörungstermin bekommen. Das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand. Barenberg: Heute Morgen hier live im Deutschlandfunk Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, im Gespräch. Vielen Dank dafür. Dreyer: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Malu Dreyer im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Asylkompromiss der Regierungskoalition schaffe Klarheit für Asylbewerber, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im DLF. Gerade für Menschen vom Balkan sei nicht Asyl der Weg, sondern die Einwanderung. Diese Klarheit sei auch für Helfer wichtig, damit sie ihre Integrationsarbeit nicht "als verschwendete Zeit" empfinden.
"2015-11-06T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:50.248000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/asylkompromiss-fluechtlinge-aus-dem-westbalkan-sind-auch-100.html
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BND beschuldigt Separatisten
Die Absturzstelle im Osten der Ukraine - der BND gibt prorussischen Separatisten die Verantwortung für den Absturz (afp / Alexander Khudoteply) Das Magazin beruft sich auf umfangreiche Belege, die BND-Präsident Gerhard Schindler dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags präsentiert haben soll. Darunter seien eine Auswertung von Satellitenaufnahmen und verschiedenen Fotos. Laut SPIEGEL legt der #BND sich darauf fest, dass die Separatisten für den #MH17 Absturz verantwortlich sind http://t.co/c58Zon5uFB (red)— SPIEGEL ONLINE (@SPIEGELONLINE) 19. Oktober 2014 Separatisten sollen Flugabwehrsystem erbeutet haben Demnach erbeuteten prorussische Separatisten ein russisches Buk-Luftabwehrsystem von einem ukrainischen Stützpunkt und feuerten damit am 17. Juli eine Rakete ab, die direkt neben Flug MH17 von Malaysia Airlines explodierte. Der BND kam laut "Spiegel" zu eindeutigen Ergebnissen. Russische Darstellungen, wonach die Rakete von ukrainischen Soldaten abgefeuert wurde und ein ukrainischer Jagdbomber in der Nähe der Passagiermaschine geflogen sei, seien falsch. "Es waren prorussische Separatisten", zitierte der "Spiegel" aus dem Vortrag des BND-Chefs. Die prorussischen Separatisten wiesen die Vorwürfe zurück. Das Luftabwehrsystem Buk sei höchst kompliziert, und die Aufständischen hätten in ihren Reihen nicht die nötigen Militärexperten, sagte Separatistenführer Andrej Purgin am Sonntag der Agentur Interfax zufolge in Donezk. Die Anschuldigungen seien Folgen einer allgemeinen "Hysterie". Purgin gab der Führung in Kiew die Schuld an dem Absturz. Es sei unverständlich, dass die Regierung den Luftraum über dem Konfliktgebiet nicht gesperrt habe. Bislang gegenseitige Beschuldigungen An Bord der Boeing waren 298 Menschen, die alle ums Leben kamen. Schon unmittelbar nach der Tragödie gab es Mutmaßungen über einen Abschuss durch prorussische Milizen. Seitdem beschuldigen sich die russische und die ukrainische Regierung gegenseitig, für den Absturz verantwortlich zu sein. Eine niederländische Untersuchungskommission kam im September in einem Zwischenbericht zu dem Schluss, dass die Boeing von zahlreichen "Objekten" durchsiebt wurde, bevor sie auseinanderbrach. Nach der Auswertung des Flugschreibers vermieden die Niederländer jedoch jede Schuldzuweisung. Bei dem Absturz kamen auch vier Deutsche ums Leben. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe habe Ermittlungen gegen unbekannt eingeleitet, da es sich bei dem Absturz um ein Kriegsverbrechen handeln könnte, schrieb der "Spiegel" unter Berufung auf einen Behördensprecher.
null
Der Bundesnachrichtendienst hält prorussische Rebellen für den Absturz der malaysischen Passagiermaschine in der Ostukraine verantwortlich. Das berichtet der "Spiegel". Die Separatisten weisen die Vorwürfe zurück.
"2014-10-19T12:14:00+02:00"
"2020-01-31T14:09:08.891000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/absturz-von-flug-mh17-bnd-beschuldigt-separatisten-100.html
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"Dementi von Schröder ist relativ schwach"
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder soll Lobbyarbeit für Kasachstan betrieben haben. (picture-alliance / dpa) Vier mal im Jahr haben sich sogenannte Elder Statesmen unter der Leitung des ehemaligen österreichischen Kanzlers Alfred Gusenbauer (SPÖ) getroffen, um für Kasachstan den Weg in die EU zu ebnen, sagte Schmitt. Lobbyarbeit dieser Art sei nicht verboten, betonte Schmitt. Jedoch stelle sich die Frage, "wenn man Geld nimmt für diese Lobbyarbeit, ob man als ehemaliger Politiker - demokratischer Politiker - solch eine Aufgabe übernimmt. " 300.000 Euro Honorar pro Jahr Die Geldzahlungen beliefen sich um die 300.000 Euro pro Jahr, Gusenbauer habe als Organisator 400.000 Euro pro Jahr erhalten, sagte Schmitt. Auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler habe ein Angebot bekommen, dieses aber nach seiner Arbeitsaufnahme bei den Vereinten Nationen nicht mehr angenommen. Schily und Schröder dementieren Vorwürfe Sowohl Schily als auch Schröder dementieren die Vorwürfe des Nachrichtenmagazins. Die Geschichte basiert auf einem "Datenkonvolut von 700.000 Dokumente, das durch ein Datenleck bei einer Wiener Kanzlei aufgetaucht ist", sagte Schmitt. Die Dementis von Altkanzler Schröder seien relativ schwach, ergänzte er. "Schröder war durchaus bereit, an diesem Beraterkreis teilzunehmen, das belegen Mails", so Schmitt weiter. Das Interview können Sie hier in voller Länge nachlesen. Dirk-Oliver Heckmann: "Die Verführung", so lautet der Titel des aktuellen "Spiegel", darunter die Schlagzeile "Das Kasachstan-Komplott. Wie sich deutsche Politiker von den Millionen eines Diktators und seiner Diener locken ließen". Das Cover ziert drei Fotos, die an Fahndungsbilder erinnern, darauf niemand geringeres als Ex-Kanzler Gerhard Schröder, Ex-Innenminister Otto Schily und Bundespräsident a.D. Horst Köhler. Die Veröffentlichung hat teils wütende Dementis ausgelöst, die Opposition fordert Aufklärung, und am Telefon können wir jetzt sprechen mit Jörg Schmitt. Er ist einer der fünf "Spiegel"-Autoren, die diese Geschichte geschrieben haben. Guten Morgen, Herr Schmitt! Jörg Schmitt: Guten Morgen. Heckmann: "Kasachstan-Connection" - die soll ja aus zwei Teilen bestanden haben, in deren Zentrum ein Wiener Rechtsanwalt stehen soll, Rechtsanwalt Gabriel Lansky, und auf der einen Seite soll stehen ein Team namens "Team Operette". Verbunden sind dort hochmögende Politiker ganz offensichtlich. Wer soll daran beteiligt gewesen sein und was ist überhaupt ihre Aufgabe gewesen? Schmitt: Wir haben das "Team Operette" genannt, weil es ein Team ist aus Elder Statesman, anerkannten Politikern wie dem ehemaligen österreichischen Kanzler Gusenbauer, dem ehemaligen spanischen Außenminister Orilla, dem Herrn Kwasniewski aus Polen und auch dem italienischen ehemaligen EU-Kommissar Prodi, also lauter Elder-Statesman-Leute, die einen guten Ruf haben da draußen, und offensichtlich versuchte man, vonseiten Kasachstans sich mit diesen Elder Statesman zu schmücken. Die trafen sich viermal im Jahr zu Gesprächen in Astana oder in Wien und haben über die hohe Politik philosophiert und darüber, wie man Kasachstan sozusagen den Weg nach Europa öffnen kann, wie man ein so wichtiges diktatorisches System schmücken und mit Lorbeeren umgeben kann. Heckmann: Das alleine ist doch noch nicht verboten. Schmitt: Das alleine ist nicht verboten. Die Frage ist, wenn man dafür Geld nimmt und für diese Art der Lobbyarbeit sich fürstlich entlohnen lässt, ob man sich tatsächlich als ehemaliger Politiker in die Fänge eines solchen Machthabers begibt und ob man tatsächlich Lobbyarbeit für so ein Land leisten will. Das ist eine demokratische Frage, ob man als demokratischer Politiker und Elder Statesman tatsächlich eine solche Aufgabe übernehmen will. Heckmann: Und eine besondere Rolle soll dabei gespielt haben Bundespräsident a.D. Horst Köhler? Schmitt: Der war auch mit dabei, jawohl. Horst Köhler zeigte Interesse an Angebot Heckmann: Wie hat der sich denn geriert in dieser Angelegenheit nach Ihren Recherchen? Schmitt: Horst Köhler hat sich geziert. Er ist angesprochen worden im Jahr 2011, nachdem Gerhard Schröder letztlich final abgesagt hat. Er war dann auch im Mai 2012 bei einem Treffen dabei in Astana dieses internationalen Beraterkreises. Man hat ihm immer wieder versucht, Verträge vorzulegen. Er hat die offensichtlich immer wieder versucht abzulehnen, nachdem er vorher offensichtlich dem Herrn Gusenbauer, der den Kreis organisiert hat, eine mündliche Zusage gegeben hat. Köhler hat - und das macht die Sache für uns mit einem sehr großen Geschmäckle verbunden - immer wieder versucht, die Sache zu camouflieren. Er wollte auf keinen Fall, dass das an seine Büroadresse geschickt wird, der Vertrag. Er wollte den Vertrag nicht ausdrücklich mit dem Staatsfonds Kasachstans, der sonst die Verträge abschließt, sondern mit der Kanzlei Gusenbauer. Er wollte ausdrücklich bestimmte Vertragsbestandteile nicht haben, die sonst da sind. Er wollte nur als Special Guest auftauchen, er wollte keine öffentlichen Auftritte haben im Zuge des Beraterkreises. Aber das Geld, das wollte er offensichtlich gerne nehmen. Es gibt eine E-Mail, die darauf hindeutet, dass Köhler eigentlich, obwohl er erst in der zweiten Hälfte 2012 angefangen hat oder anfangen sollte, tatsächlich das Geld nehmen wollte für das ganze Jahr. Das wären 300.000 gewesen. Letztlich ist der Vertrag nicht zustande gekommen und Köhler hat kein Geld bekommen, weil er im Juni einen Job bei der UNO bekommen hat. Heckmann: Und Sie haben bei Ihren Recherchen den Eindruck gewonnen, dass es den beteiligten Politikern oder Ex-Politikern vor allem um die Geldzahlungen ging? Es könnte ja auch sein, dass es ihnen darum ging, in der Tat eine Brücke zu bauen und eine demokratische Entwicklung Kasachstans sicherzustellen. Schmitt: Na ja. Ich sage mal, eine Aufwandsentschädigung von 300.000 beziehungsweise bei Gusenbauer als Organisator von 400.000 Euro im Jahr, das ist ja nun was, ich sage mal, so was kann man ja auch pro Bono machen. Offensichtlich - und das geht aus den E-Mails hervor - spielte das Thema Geld bei allen Beteiligten immer wieder eine Rolle. Heckmann: Das ist jetzt die eine Seite. Sie haben es genannt "Team Operette", dieser Kreis hochmögender Politiker, die da in diesen Beirat eingetreten sind oder überlegt hatten, in ihn einzutreten, und dann kurz vorher wieder abgesprungen sind. Auf der anderen Seite ein anderes Team, Sie nennen es "Team Operation". Dort vertreten sind ehemalige Strafverfolger gewesen und aber auch Politiker, die international Druck machen sollten zur Festnahme des ehemaligen Schwiegersohns von Nasarbajew, dem Diktator von Kasachstan, nämlich Herrn Alijew. Schmitt: Ja. Das war ein illustrer Kreis, dem wie gesagt auch Otto Schily angehört hat. Die Herrn reden sich heute alle damit raus, dass sie reine anwaltschaftliche Tätigkeit vollbracht haben, aber auch da kann man ja mal fragen, wie es denn mit der Anwaltsehre aussieht. Otto Schily ist ein intelligenter Mensch. So zumindest habe ich ihn kennengelernt. Dass der nicht die Frage sich stellt, wo eigentlich das Geld für all diese Berater (und da waren ja einige unterwegs) herkommt, dass das tatsächlich zwei Witwen der angeblich von Alijew ermordeten Banker aufgebracht haben, also Millionenbeträge, ist eigentlich wenig glaubhaft, zumal heute man weiß, dass diese Organisation, diese angebliche Opferorganisation aus Sicht österreichischer Sicherheitskreise eindeutig eine Tarnorganisation des kasachischen Geheimdienstes war. Schily wollte "Spiegel" instrumentalisieren Heckmann: Man muss dazu sagen, dass Herr Alijew lange Zeit Teil des Nasarbajew-Clans gewesen ist. Da liegt es ja auch nicht unbedingt fern, dass die Ermittlungsbehörden sich für ihn interessieren, oder? Schmitt: Das auf keinen Fall. Wir haben auch in unserer Geschichte in keiner Weise für Herrn Alijew Position bezogen. Das war ein Kampf, ich sage mal, zwischen zwei Menschen, mit denen man sich eigentlich im Westen überhaupt nicht gerne einlässt, weil man auch ganz schlecht irgendwie sagen kann, wer da wirklich im Recht war und was tatsächlich geheimdienstlich dort passiert ist und welche Taten auch vom Geheimdienst vielleicht vollbracht worden sind und welche Alijew wirklich zur Last gelegt werden konnten. Diese ganze Geschichte im Hintergrund ist ein riesiges Thema Information in Desinformation, wie ich es selten erlebt habe. Heckmann: Otto Schily weist es zurück. Sie aber behaupten, er habe versucht, auch den "Spiegel" zu instrumentalisieren. Auf welche Weise? Schmitt: Na ja. Er hat versucht, bei einem früheren "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo vorstellig zu werden. So zumindest legt das der interne Mail-Verkehr zwischen Schily und der Kanzlei Lansky nahe. Er hat versucht, zu überlegen, er hat gesagt, er stelle sich an die Speerspitze oder der "Spiegel" soll die Speerspitze einer Berichterstattung sein, die dann in Deutschland die Jagd auf Alijew eröffnen sollte. Es gab hier ein kleines Verfahren in Sachen Geldwäsche in Krefeld und das wollte man ordentlich aufpumpen, und wenn man ihm zumindest schon in Österreich nicht habhaft werden konnte, sollte er zumindest hier in Haft gehen. Heckmann: Auf welche Belege insgesamt stützen sich überhaupt Ihre Behauptungen? Schmitt: Wir stützen uns im Prinzip auf ein riesiges Daten-Konvolut von mehr als 700.000 Dokumenten, die durch ein Datenleck in der Kanzlei Lansky letztlich bei uns gelandet sind und die wir über Wochen ausgewertet haben. Heckmann: Gerhard Schröder dementiert deutlich. Ganz kurz zum Schluss noch. Wie glaubhaft sind diese Dementis, die jetzt auch von anderen Seiten kommen? Schmitt: Na ja. Ich meine, was man schwarz auf weiß besitzt. Die Dementis von Schröder halte ich für relativ schwach, weil er hat bereits einmal dementiert gegenüber uns und hat gesagt vor zwei Jahren, im Jahr 2012, er sei nie für Kasachstan tätig gewesen. Er musste dann seine Position räumen und sagte, ja, er war bei Treffen als Special Guest zumindest Zugange. Nach den Dokumenten, die wir kennen und die wir gesehen haben, die aus seiner Feder stammen, aus seiner Mail-Adresse stammen, geht eindeutig hervor, dass er durchaus bereit war, an diesem Beraterkreis teilzunehmen. Wenn er seinem Freund Gusenbauer schreibt, ich freue mich auf die Arbeit, oder wenn er schreibt, gerne bin ich bereit, zu den von Ihnen besprochenen Bedingungen Mitglied im internationalen Beraterkreis zu werden, so denke ich ist das relativ eindeutig. Heckmann: Jörg Schmitt ist einer von fünf "Spiegel"-Autoren, die die aktuelle Titelgeschichte des "Spiegel" geschrieben haben mit dem Titel "Die Verführung. Das Kasachstan-Komplott". Herr Schmitt, danke Ihnen für Ihre Erläuterungen. Schmitt: Danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jörg Schmitt im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) habe gegen hohe Geldzahlungen Lobbyarbeit für Kasachstans Staatschef Nursultan Nasarbajew übernommen, sagte "Spiegel"-Autor Jörg Schmitt im DLF. In der Titelgeschichte des Magazins erhebt Schmitt auch gegen den früheren Innenminister Otto Schily (SPD) den Vorwurf der bezahlten Lobbyarbeit.
"2015-06-15T07:40:00+02:00"
"2020-01-30T12:42:09.908000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kasachstan-lobbyismus-dementi-von-schroeder-ist-relativ-100.html
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"Hunger ist Mord"
"Es besteht die Möglichkeit, alle Menschen auf dem Planeten sattzumachen", so Gerd Müller (CSU) (Valentin Wolf / imago stock&people) Jürgen Zurheide: Es gibt immer noch Menschen in dieser Welt, die hungern. 800 Millionen sind es, in der Tat 200 Millionen weniger als in den Jahren davor. Aber 800 Millionen, das sind immer noch zu viele. Die Frage ist, was kann man denn dagegen tun? Eigentlich ist es ein Skandal, dass immer noch so viele Menschen hungern müssen, über dieses Thema wollen wir reden. Dazu begrüße ich am Telefon Gerd Müller, den Entwicklungshilfeminister, der jetzt da ist. Guten Morgen, Herr Müller! Gerd Müller: Ja, guten Morgen! Zurheide: Herr Müller, der Befund, 800 Millionen Menschen, die hungern, etwas weniger als früher, aber die Zahl bleibt stabil. Wie zufrieden sind Sie? Müller: Also, wir hatten einen Erfolg weltweit, die letzten 20 Jahre ging die Zahl um 200 Millionen zurück, aber nun gibt es ein Alarmsignal: Seit 2015 steigen die Zahlen wieder. Das kann uns nicht ruhig schlafen lassen, denn Hunger ist Mord. Wir haben und hätten die Möglichkeiten, diese Herausforderung gemeinsam in der Welt zu lösen. "Hunger ist besiegbar" Zurheide: Was müsste passieren? Auf der einen Seite ist es sicher das Geld. Wir haben uns ja kürzlich getroffen, da haben Sie die Zahl noch mal genannt. Und ehrlich gesagt, mich haben Sie irritiert, weil es natürlich eine Menge Geld ist, aber nicht so viel, wie man immer denkt. Was müsste zunächst an Geld bereitgestellt werden? Müller: Hunger ist besiegbar, das Potenzial des Planeten ist vorhanden. Es hängt an verschiedenen Punkten. Erst mal müssen wir feststellen, dass die Lage in den Kriegsregionen natürlich am brutalsten ist. Denken wir heute an Idlib, wo wieder die letzten drei Wochen bis zu 200.000 Menschen auf der Flucht sind. Wovon sollen die Menschen überleben, auch im Jemen und in anderen Kriegsgebieten. Das sind natürlich Regionen, wo Soforthilfe notwendig ist. Deutschland und die EU sind in der Pflicht, sagt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Aber er sagt auch: "Es ist immer das Wichtigste, dass vor Ort das Signal gegeben wird, wir gehen das Problem an." (imago/Uwe Steinert) Dann haben wir die Situation in Ländern, wo die Landwirtschaft einfach nicht die Bedeutung hat. Aber Sie haben nach der Zahl gefragt. Die G7 hat ein Versprechen abgegeben, also diese sieben großen Industriestaaten, als in Elmau die Tagung war, bis 2030 500 Millionen Menschen aus dem Hunger herauszuführen. Und um den Hunger zu besiegen wären nach wissenschaftlichen Berechnungen zusätzlich circa 25 Milliarden Investitionen notwendig bis 2030. Das ist eine hohe, große Zahl, aber ich stelle sie mal in Relation. Die USA haben dieses Jahr allein – allein den Rüstungsetat und allein die USA – um 55 Milliarden erhöht. Also: Es fehlt der politische Wille, diese Ziele gemeinsam in der Welt umzusetzen. "Wir können alle Menschen auf der Erde sattmachen" Zurheide: Ich habe mir noch mal die Zahlen angeguckt. In der Tat, die Rüstungsausgaben sind 1,8 Billionen. Wenn man das gegenüberstellt zur Entwicklungshilfe, da passiert einiges, aber wir wissen, es ist nur ein Bruchteil. Wie entmutigend ist es eigentlich, wenn man diese Zahlen immer wieder wiederholt? Ich erinnere mich, schon während meines Studiums, ich habe Entwicklungstheorie und Politik studiert, haben wir solche Zahlen gehabt. Wir kommen ein bisschen voran, aber wir kommen nicht wirklich voran. Herr Müller, was muss passieren? Müller: Ich will noch mal sagen, die Möglichkeit besteht, alle Menschen auf dem Planeten sattzumachen. Kulturwandel in der Entwicklungshilfe - Keine weißen RetterDer Schwarze als willenloses Hilfsobjekt, der Weiße als Retter in der Not: Gegen dieses Stereotyp formiert sich in Afrika Widerstand. Unter dem Motto "Keine weißen Retter" setzt sich eine ugandische Initiative für einen Wandel in der Entwicklungshilfe ein. Zurheide: Ich glaube, wenn ich dazwischengehen darf, das ist, glaube ich, eine wichtige Erkenntnis, denn Wissenschaftler sagen, wir kriegen auch zehn oder elf Milliarden Menschen satt, es geht technisch. Müller: Ja, es geht technisch. Ich sage mal Folgendes: Wir brauchen Investitionen in die Landwirtschaft. In Indien, aber auch in afrikanischen Ländern beispielsweise, geht bis zu 50 Prozent der Ernte nach der Ernte einfach verloren. Mann muss sich das so vorstellen. Ich war in afrikanischen Ländern, es wird Mais, Reis oder andere Früchte geerntet und einfach auf dem Feld im Freien gelagert. Es regnet und durch Schädlingsbefall ist die Hälfte der Ernte nicht mehr zu gebrauchen. Deshalb brauchen wir in diesen Ländern, das erste Signal muss aus den Ländern selber kommen, das sage ich den afrikanischen Staatspräsidenten immer wieder, 80 Prozent der Hungernden sind Kleinbauern, das muss man sich vorstellen. Auf dem Land, Investitionen in die Landwirtschaft, das sind zum Teil ganz einfache Dinge, die Ernte nicht im Freien zu lagern, sondern in Silos. Die effektive Rolle von Innovationszentren Wir brauchen dann Verarbeitungskapazitäten, also die Ernte, das Getreide zu verarbeiten. Dazu ist auch Innovation nötig. Den Innovationstransfer leisten wir, die Industriestaaten, beispielsweise Deutschland, wir, das Deutsche Entwicklungshilfeministerium. Ich habe sofort, als ich vor sechs Jahren begonnen habe, gesagt, wir müssen 15 Innovationszentren in diesen Ländern aufbauen und den Menschen vor Ort zeigen, wie man diese Ernteverluste vermeiden kann, aber auch, wie man die Produktion steigern kann, das Wissen ist ja vorhanden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Benin, einem westafrikanischen Land, dorthin haben wir nach einem Screening eine Reissorte aus Asien gebracht. Allein diese Reissorte in diesem afrikanischen Land führt jetzt dazu, dass der Ertrag sich von einer auf die andere Ernte verdreifacht hat, von 1,5 Tonnen auf 4,5 Tonnen. Also es ist möglich, mit Wissenstransfer, mit Ausbildung, mit Investitionen in die Landwirtschaft, diese Themen und Probleme in den Griff zu bekommen. Zurheide: Sie haben es gerade schon angesprochen, es braucht auf der einen Seite mehr Geld von unserer Seite, da werde ich nachher noch mal drauf kommen, aber es braucht natürlich auch Veränderung der Strukturen in den Ländern selbst. Da sind so viele Dinge, gerade haben Sie einige technische angesprochen, aber natürlich: Kriegerische Auseinandersetzungen sind das eine, möglicherweise auch eine Bevölkerungspolitik sind das andere. Was erwarten Sie von den Ländern selbst oder was können die vor allen Dingen tun? Regierungen vor Ort müssen handlungsbereit sein Müller: Es ist immer das Wichtigste, dass vor Ort das Signal gegeben wird, wir gehen das Problem an. Es ist ja nicht so, dass die Potenziale nicht da wären. Ich nehme mal Äthiopien, wo ich vor Kurzem war. Äthiopien war vor Jahrzehnten die Kornkammer Afrikas. Und auch heute ist es so, die Potenziale am Boden, am Wasser sind vorhanden. Die Regierungen müssen das Signal geben, wir investieren in Landwirtschaft und lösen das Problem Hunger. In Äthiopien ist das der Fall, in anderen Ländern nicht, wenn ich zum Beispiel an den Tschad denke. Also, das entscheidende Signal müssen die Afrikaner oder Indien, wo die Hauptschwerpunkte des Hungers sind, selbst geben. Dann brauchen sie unsere Unterstützung, und dazu gehört nicht nur Technikausbildung, Technologietransfer, es gehört auch eine aktive Familienplanung mit dazu. Denn die Frage stellt sich diesen Ländern überall: Gewinnt der Storch oder der Pflug? Was meine ich damit? Täglich, auch heute, wächst die Weltbevölkerung um 230.000 Menschen. Das heißt, im Jahr jetzt, im vergangen Jahr 2019, ist die Weltbevölkerung einmal um Deutschland, um sage und schreibe 83 Millionen, gewachsen. Und 90 Prozent des Wachstums erfolgt in afrikanischen Ländern, in Indien, in Entwicklungsländern. Diese Menschen müssen jedes Jahr zusätzlich ernährt werden. Gewinnt der Storch oder der Pflug? Familienplanung ist wichtig. In einem Land wie dem Niger werden pro Frau immer noch sieben Kinder geboren, das bedeutet meistens Elend, Not und Hunger. Wir haben aber auch andere Länder, ich nenne Bangladesch. In Bangladesch gab es vor 30 Jahren noch fünf Kinder pro Frau, heute zwei Kinder. Also, Familienplanung wird dort durch eine weibliche Staatspräsidentin massiv vorangebracht, und das führt auch dazu, dass Armut und Hunger begrenzt wird. Mit 25 Milliarden Euro den Hunger besiegen Zurheide: Das heißt, in den Ländern sehen wir, dass hier und da eben was passiert. Jetzt kommen wir zurück zu der Frage, die ich vorhin schon mal hatte: Wo nehmen Sie noch die Hoffnung her, dass wir vielleicht in 2020 etwas deutlichere Signale haben und dass wir die Trends verändern, nicht nur mehr bei Rüstung, sondern eben auch mehr an Verantwortung bei uns, dass wir es tun müssen, das Wort Klimawandel haben wir jetzt noch nicht behandelt, liegt, glaube ich, auf der Hand. Müller: Hunger ist begrenzbar und lösbar. Es gibt doch kein größeres Ziel, als diesen Skandal zu beenden, dass beispielsweise am heutigen Tag 10.000 Kinder sterben. Deshalb werden und müssen wir im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Mitte des Jahres beginnt, dieses G7-Ziel aufgreifen, diese Vorgaben der Politik dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, bis 2030 500 Millionen aus absoluter Armut zu führen. Ja, ich gehe sogar einen Schritt weiter, es ist eine großartige nicht Vision, sondern Möglichkeit, mit relativ wenig Geld, 25 Milliarden zusätzlich, von der G7 eingesetzt, den Hunger auf der Welt zu besiegen. Das muss das Ziel, das gemeinsame EU-Ratsziel für die nächsten zehn Jahre sein, Hungerbekämpfung und Klimaschutz in Entwicklungsländern zum Schwerpunkt der europäischen Entwicklungspolitik zu machen. Und das muss im Siebenjahresprogramm der europäischen Finanzplanung natürlich niedergelegt sein. Wir brauchen eine eigene Förderlinie, wir brauchen auch neue Handelsabkommen, einen neuen EU-Afrika-Vertrag. Und das muss man auch dann ernst meinen, nicht nur aufs Papier schreiben, dann können wir durch ein großartiges Ziel der Weltgemeinschaft in zehn Jahren den Hunger besiegen. Zurheide: Herr Müller, ich bedanke mich für das Gespräch! Müller: Herzlichen Dank! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerd Müller im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Es sei ein "Alarmsignal", dass die Zahl der Hungernden seit 2015 wieder steige, sagte Gerd Müller (CSU). Dabei sei Hunger besiegbar, so der Bundesentwicklungsminister. Hungerbekämpfung und Klimaschutz müssten Schwerpunkt der europäischen Entwicklungspolitik werden.
"2019-12-28T08:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:25:38.560000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesentwicklungsminister-mueller-hunger-ist-mord-100.html
91,529
Comeback unter belgischer Flagge
Ein Bild aus früheren Zeiten: 2010 ging der Biathlet Michael Rösch noch für den DSV an den Start. (dpa/Stefan Matzke/dsv) Der 26. Platz im Massenstart zum Abschluss der Biathlon-WM in Finnland klingt an sich eher unspektakulär - Michael Rösch dagegen ist zufrieden. Schließlich habe er drei Jahre ohne Rennen hinter sich, betont der Biathlet im Interview mit dem Deutschlandfunk. Denn Rösch wurde 2012 vom Deutschen Skiverband (DSV) ausgemustert und musste mühsam einen anderen Weg finden, um seinen Sport weiter ausüben zu können. Heute läuft der EX-DSV-Athlet für Belgien. Mit den Sponsoren, die weiter zu ihm gehalten haben, komme er gerade so über die Runden, erzählt Michael Rösch in der Sendung "Sport am Sonntag" - trotzdem sei er optimistisch und vor allem "stolz, dass wir es bis hierher geschafft haben". Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 15. September 2015 nachhören.
Biathlet Michael Rösch im Gespräch mit Philipp May
2006 war er mit der deutschen Biathlon-Staffel Olympiasieger, 2012 wurde er vom Deutschen Skiverband ausgemustert - jetzt ist er zurück: Bei der Biathlon-WM in Finnland ging Michael Rösch für Belgien an den Start. Auf dieses Comeback sei er "sehr stolz", sagte Rösch im DLF.
"2015-03-15T19:20:00+01:00"
"2020-01-30T12:26:37.833000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/biathlon-wm-comeback-unter-belgischer-flagge-100.html
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Debatte um Vorrats-Datenspeicherung geht weiter
Gegen die soeben beschlossene neue Vorratsdatenspeicherung gibt es erheblichen Widerstand. (AFP / JONATHAN NACKSTRAND) Gestern verabschiedete das Bundeskabinett den Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. FDP, Grüne und Linke kündigten bereits den Gang vor das Bundesverfassungsgericht an, und selbst die aus der CDU stammende Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff kritisierte mit ungewohnt deutlichen Worten die Wiedereinführung: Die Neuregelung erfülle die Vorgaben von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof nicht, so Voßhoff. "Es gibt keinen einzigen, der die Vorratsdatenspeicherung befürwortet" Heute nun macht sich auch Kritik in der SPD an dem Vorhaben deutlich bemerkbar: Über 100 Anträge für den Kleinen Parteitag der SPD in vier Wochen richten sich gegen die Wiedereinführung der umstrittenen Speicherung von Telekommunikationsverbindungs- und Standortdaten. Lars Klingbeil, Mitglied im Fraktionsvorstand der SPD und netzpolitischer Sprecher sagte gegenüber dem Deutschlandradio Hauptstadtstudio: "Das zeigt auch, dass ein Thema, das immer nur als Nischenthema, oder nur als Thema der Netzpolitiker, dass das in der Breite der Partei Zuspruch findet, die Anträge sind übrigens alle kritisch, es gibt keinen einzigen der die Vorratsdatenspeicherung befürwortet." Die Fristen für die Speicherung wurden gegenüber der vom Verfassungsgericht 2009 für nichtig erklärten alten Vorratsdatenspeicherungsregelung verkürzt, Justizminister Heiko Maas, der selbst noch Anfang des Jahres die Vorratsdatenspeicherung vehement ablehnte, verwies gestern darauf, dass es sich bei der neuen nicht um die alte Vorratsdatenspeicherung handele, wie sie sich viele Sicherheitspolitiker gewünscht hätten. Der SPD-Netzpolitiker Klingbeil will das heute jedoch nicht gelten lassen: "Es gibt bisher keine empirischen Belege dafür, wir hatten die Vorratsdatenspeicherung ja schon einmal, in anderen Ländern gibt es sie auch. Und wir sehen keinen signifikanten Anstieg der Aufklärungsergebnisse, also ich mach ein großes Fragezeichen dran, dass es wirklich in der Kriminalitätsbekämpfung hilft." Kritik zieht sich durch SPD-Fraktion Kritik an dem Vorhaben insgesamt und dem konkreten Gesetzentwurf zieht sich dabei quer durch die SPD-Fraktion und durch verschiedenste Parteigliederungen.Vorratsdatenspeicherungsgegner und –Befürworter sind dabei keineswegs klar einem politischen Flügel der Partei zuzuordnen. Auch wenn die Bundesregierung das Gesetz im Eilverfahren noch vor der Sommerpause durch das Parlament bringen will, ist es fast ausgeschlossen, dass das vor dem kleinen SPD-Parteitag am 20. Juni gelingt. Es dürfte also eine muntere Debatte auf SPD-Parteichef Sigmar Gabriel warten, der per Deutschlandfunk-Interview im März seinen Justizminister Heiko Maas instruierte, den Widerstand gegen eine Wiedereinführung aufzugeben – sehr zur Freude des Koalitionspartners und vor allem des Bundesinnenministers, die auch nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichtes auf eine schnelle Wiedereinführung drängte.
Von Falk Steiner
In der Opposition bewegt sich die Begeisterung über die beschlossene Vorratsdatenspeicherung erwartungsgemäß in engen Grenzen. Doch nun wettern auch ranghohe Sozialdemokraten gegen den Gesetzentwurf ihres Justizministers. SPD-Chef Gabriel dürfte eine muntere Debatte ins Haus stehen.
"2015-05-28T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:39:10.808000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-kabinettsbeschluss-debatte-um-vorrats-datenspeicherung-100.html
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Und wo bleiben die Frauen?
Christiane Florin: Wird die weibliche Seite der Reformation übersehen oder ist es altmodisch sowas überhaupt zu fragen? Um darauf Antworten zu finden haben wir zwei Gäste eingeladen. Bei mir im Studio ist Bettina Bab, sie ist Historikerin und hat an der Ausstellung über die Geschichte der weiblichen Reforamtion im Bonner Frauenmuseum mitgewirkt. Herzlich Willkommen Frau Bab. Bettina Bab: Vielen Dank für die Einladung. Florin: Und ich begrüße, aus Hannover zugeschaltet, Hanna Jacobs, sie ist Vikarin in Selsingen in Niedersachsen und schreibt über ihren Alltag als Fast-Pfarrerin in der ZEIT Beilage Christ und Welt regelmäßig Kolumnen. Guten Tag, Frau Jacobs. Hanna Jacobs: Guten Tag. Florin: Frau Jacobs, fehlt Ihnen die weibliche Seite im Reformations-Jubeljahr oder reißt die Reformations-Botschafterin Margot Käßmann alles raus? Jacobs: Mir fehlt vor allen Dingen die Frage, was die Reformation für mich heute bedeuten kann, unabhängig davon ob ich Mann oder Frau bin. Ich muss immer an diesen Spruch "Erlöst, vergnügt, befreit" denken, was ein schöner Slogan ist, der auch so ein bisschen die Feierlaune wiedergibt, in der wir Protestantinnen und Protestanten jetzt plötzlich sind. Wovon muss ich heute erlöst werden, wovon kann ich befreit werden und wie geschieht das reformatorisch - nur durch die Gnade, nur durch den Glauben, nur durch Christus? Das fehlt mir am meisten. Aber auch die Frauenperspektive. Es gibt für mich nicht so ein richtiges Vorbild als junge Frau – wie möchte ich als Frau in meiner Kirche sein? Argula von Grumbach ermächtigte sich selbt Florin: Frau Bab, was ist die weibliche Seite der Reformation? Nach welchen Kriterien haben Sie die vorgestellten Frauen ausgewählt? Bab: Ich als theologischer Laie hatte von der Reformation nicht so viel Ahnung und erst recht nicht von den Frauen. Die Kirche ist schon eine männlich geprägte Institution und hat die Frauen meistens nicht so zu Wort kommen lassen. Insofern war ich einfach überrascht, dass es eine ganze Menge Frauen gibt. Wir stellen zum Beispiel Argula von Grumbach vor, die Protestschriften geschrieben hat zugunsten der neuen Theologie, und zwar an Bischöfe, an Universitätsprofessoren. Sie hat aufgerufen, dass die mit ihr diskutieren und hat sich selber auch ermächtigt, das Wort Gottes zu reden. Das fand ich schon sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit und sehr spannend. Florin: Also die disputierende Frau war sozusagen ein Beuteschema. Die Frau, die sich streitet. Bab: Einmal diese Frau, ja. Und dann Katharina Zell, eine Pfarrfrau aus Straßburg, die ihren Mann sehr unterstützt hat in seinen Tätigkeiten als Seelsorger und die selber in Ausnahmesituationen auch wie ein Mann gepredigt hat. Florin: Was mir auffällt, wenn es Ausstellungen oder auch Bücher zu einer weiblichen Seite irgendeines bedeutenden historischen Themas gibt: immer lautet die Formulierung "starke Frau". Warum muss es immer eine starke Frau sein? Bab: Ich denke nicht, dass es immer eine starke Frau sein muss. Florin: Aber es wird schon so etwas klischeehaft verwendet, das Wort. Bab: Wir im Frauenmuseum haben den Anspruch, die Leistung von Frauen zu zeigen und auch Vorbilder für junge Frauen, Mädchen oder überhaupt für alle Interessierte. Das waren, denke ich, vielfach starke Frauen. Aber natürlich ist es genauso wichtig den Durchschnitt oder den Alltag zu zeigen. Und ich denke, beides kommt vor. Prinzessinnen, die kämpfen Florin: Frau Jacobs, Sie haben vorhin das Wort Vorbild benutzt. Was lernen Sie von starken Frauen aus der Geschichte? Jacobs: Zum einen, dass man als Frau überhaupt nur durch Bildung eine Chance hatte, lange Zeit. Frauen, die in der Reformation Lieder gedichtet haben, Streitschriften verfasst haben, waren alles sehr gebildete Frauen. Ich lerne daraus, den Mut und die Leidenschaft für die Sache sich zu bewahren und zu sagen, was man denkt. Als ich mich damit beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, dass es hauptsächlich adelige Frauen waren oder Frauen von einem gewissen Stand. Ich finde das ganz lustig, viele Mädchen träumen davon Prinzessin zu werden. Und das waren ja teilweise Prinzessinnen, aber welche, die ihre Ressourcen und ihre Macht eingesetzt haben für diesen neuen Glauben und die Menschen, die sich dem zugehörig fühlten, zu unterstützen. Florin: "Vergnügt, erlöst, befreit", den Spruch haben wir vorhin schon gehört. Befreit – inwiefern war die Reformation ein emanzipatorisches Ereignis für Frauen? Bab: Das Priestertum aller Getauften ist ein Kennzeichen der Protestantischen Theologie und das schließt natürlich Frauen mit ein. Und die neue Bewegung, die entstand, war nur möglich dadurch, dass viele Laien sie unterstützt haben. Dadurch, dass die Bibel auf Deutsch übersetzt wurde, war sie auch Frauen sehr viel zugänglicher als vorher und Frauen haben diese Chance ergriffen, genauso aber auch wie männliche Laien. Florin: Aber es hat ja noch sehr lange gedauert von der Reformation bis zur ersten Frauenordination in der evangelischen Kirche, von der katholischen wollen wir mal ganz schweigen. Bab: Mit der Etablierung der evangelischen Kirche war es Voraussetzung, dass ein Pfarrer studiert hatte, und da die Frauen erst im 20. Jahrhundert bei uns in Deutschland Zutritt zu Universitäten bekamen, ist es insofern logisch, dass die Frauen auch nicht Pfarrerinnen werden konnten. Ein neuer Feminismus? Florin: Frau Jacobs, Sie haben in einem Zeitungsartikel vor einigen Wochen geschrieben, es sei ein neuer Feminismus nötig in der evangelischen Kirche. Nun haben Sie doch schon so viel: Sie sind Vikarin, sie können Pfarrerin werden, Sie können Bischöfin werden, Sie können Präsidentin des Lutherischen Weltbundes werden – was wollen Sie denn noch? Jacobs: Nach der letzten Bundestagswahl, nachdem nur 31 Prozent der Abgeordneten Frauen sind, habe ich mich gefragt, ob wir nicht erst einmal mit dem alten Feminismus etwas weiter kommen müssen, bevor wir einen neuen brauchen, weil ja anscheinend doch noch nicht so viel erreicht ist. Und ich glaube, dass es für die evangelische Kirche große Parallelen gibt zwischen dem, was wir in der Politik und Gesellschaft erleben und den Strukturen und Ämtern. Weil uns theoretisch als Frauen alle Ämter offen stehen und praktisch sie dann eben doch zu einem viel geringeren Grad von Frauen besetzt werden. Ich habe an drei Universitäten studiert, und meistens war es so, dass es eine Professorin gab auf fünf, sechs, sieben, acht, neun, zwölf männliche Professoren. Ich glaube, dass da zum einen Frauen besser gefördert werden müssen und zum anderen wir auch unsere Wahrnehmung hinterfragen müssen, sowohl gesellschaftlich als auch kirchlich, weil ich den Eindruck habe, dass viele junge Männer oft selbstverständlich denken: "ich kann das, ich bin dafür geeignet, ich bin in zehn Jahren eh Superintendent", und Frauen mehr sich fragen: "kann ich das wirklich und vielleicht wird mir das zu viel und bin ich dafür so geeignet", also da mehr mit sich hadern. Florin: Was kann Argula von Grumbach, nehmen wir die jetzt mal als Beispiel, was kann die bei diesen jungen Männern, die so selbstgewiss sind, ausrichten? Interessieren die sich überhaupt dafür, Frau Bab? Bab: In Museen gehen ja eh mehr Frauen als Männer und in ein Frauenmuseum erst recht. Natürlich sind Männer eingeladen. Die Mutti-Typen und der neue Karl Barth Florin: Ich habe auch ein paar Männer gesehen als ich da war. Bab: Wir haben auch Männertoiletten. Das war nämlich immer die große Frage. – Also das kann ich ehrlich gesagt nicht beurteilen, ob sich junge Männer und Theologiestudenten dafür interessieren. Florin: Es gibt den Grundgedanken: Wir blicken in die Geschichte und finden dort Frauengestalten, die lange übersehen worden sind, wir lesen deren Schriften und zeigen wie klug die waren, was sie bewirkt haben, auch wie streitbar sie waren und daraus lernen wir etwas für die Frauen von heute. Ist das Ihr Ansatz? Bab: Ich finde es in jedem Fall immer wichtig, dass wir von der Geschichte zur Gegenwart gucken. Wir sind bei unserer Ausstellung zur Reformation eben nicht im 16. Jahrhundert stehen geblieben, sondern haben geschaut, wann die ersten Frauen in der evangelischen Kirche Ämter hatten, also die Vikarin, die Pfarrerin, die Bischöfin, und (wir haben geschaut), wo es auch Rückschritte gab. Denn es ist ja auch nicht selbstverständlich, dass die Entwicklung immer weiter geht. In Lettland wurde letztes Jahr beschlossen, dass die Frauenordination wieder aufgehoben wurde. Florin: Frau Jacobs, der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat gelästert, es gebe viel zu viele "Mutti-Typen" oder -Typinnen in der evangelischen Kirche. Die würden viel Segen spenden, hätten aber wenig intellektuelle Schärfe. Wenn Sie Katharina Zell oder Argula von Grumbach wären, was würden Sie ihm schreiben? Jacobs: Ich würde sagen, dass man den Segen nicht so gering schätzen darf, dass wir eigentlich noch viel mehr Segenshandlungen in unserer Kirche brauchen. Aber eigentlich würde ich ihm entgegenhalten, dass es natürlich solche Studentinnen gibt, es gibt verschiedene Begabungen. Aber die gibt ja nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei den Studenten. Da gibt es auch viele, die garantiert nicht der nächste Karl Barth werden, aber denen das natürlich leichter gemacht wird, wenn sie von solchen Professoren mehr gefördert werden und anders gesehen und behandelt werden, weil man ihnen per se mehr zutraut als Frauen. Und ich würde ihn bitten, einen Beitrag dazu zu leisten, dass er die Mutti-Typen dafür begeistern kann, leidenschaftlich über Theologie zu diskutieren, und zum anderen sie auch mal als HiWi einzustellen und ihnen dadurch die Möglichkeit zu geben, sich weiter zu entwickeln. "Die Kirche, das ist eine andere Welt" Florin: Frau Bab hat vorhin daran erinnert, dass es immer wieder Rückschritte gab in der Geschichte der Frauenemanzipation in der Kirche. Sehen Sie das im Moment so, dass eine Phase des Rückschritts erreicht ist, Frau Jacobs? Jacobs: Ich habe vor einigen Tagen ein Bild auf Twitter gesehen, das kam allerdings aus Österreich, da waren alle wichtigen Religionsvertreter ins Präsidialamt eingeladen und da waren 18 Männer. Auch die evangelische Kirche hatte da keine Frauen hingeschickt. Ich würde nicht von Rückschritt sprechen, aber ich würde sagen, dass man weiterhin darauf achten muss und dass das weiterhin ein Thema bleiben muss und dass sich nur weil Ämter für Frauen geöffnet sind, sich noch nicht alles geregelt hat. Florin: Frau Bab, Sie sind allgemeine Historikerin, Sie sind keine Kirchenhistorikerin, auch keine Theologin – wenn Sie so ganz unbefangen draufschauen auf so ein Objekt wie in diesem Fall die evangelische Kirche – gibt es da irgendwas was Ihnen auffällt, wo Sie sagen das ist so ganz anders als in weltlichen Zusammenhängen? Bab: Es ist eine andere Welt, aber mir fällt das jetzt schwer so spontan zu sagen was mir fehlt. Florin: Hätten Sie sich auch ohne das Reformationsjubiläum mit diesem Thema beschäftigt? Bab: Wahrscheinlich nicht. Ich finde, dass sich da sehr spannende Aspekte finden lassen und dass ich da einiges gelernt habe, aber es ist doch ein Thema, was den meisten nicht so unter den Nägeln brennt. Florin: Wird sich eines Tages ein Frauenmuseum überflüssig machen, weil es einfach selbstverständlich ist auf Männer und Frauen zu schauen? "Der Blick auf unsere Kultur ist immer noch ein männlicher" Bab: Vielleicht wird das irgendwann so sein, aber da sind wir noch weit entfernt. Florin: Warum? Bab: Das Bonner Frauenmuseum, ebenso wie die anderen, die es in vielen Ländern gibt, haben sich ja deswegen gegründet, weil in Kunst, Kultur, Darstellung in Museen normalerweise die Frauen kaum vorkamen. Also vor 36 Jahren wurde das Bonner Museum gegründet und so schrecklich viel hat sich nicht getan. Es gibt zwar eine ganze Menge Sonderausstellungen, in denen, sei es Geschichte oder Kunst von Frauen thematisiert wird, aber in Dauerausstellungen ist das immer noch eine Ausnahme. Florin: Warum ist das so? Bab: Der Blick auf unsere Kultur ist immer noch ein männlicher. Die Männer waren mehr geschichtlich im Bewusstsein und sind es heute vielfach auch noch und deshalb versteht sich das Frauenmuseum auch als Korrektiv. Und so lange das nicht erreicht ist, dass klar ist, die Kultur wurde von Frauen genauso geprägt wie von Männern, solange haben die Frauenmuseen auf jeden Fall eine Berechtigung. Florin: Wurde sie denn genauso geprägt? Das ist ja die Frage. Also die Thesen hat ja – ob mit Hammer oder nicht – die Thesen hat ja nun ein Mann angeschlagen. Bab: Die einzelnen Akteure können ja mehr Männer gewesen sein, aber die Kultur, die Reformation hatte viele Anhängerinnen unter Frauen, und sie wäre wahrscheinlich auch nicht so erfolgreich gewesen, wenn die Frauen nicht auch sei es was geschrieben haben, das Wort weitererzählt haben oder als Herrscherinnen entsprechende Pfarrordnungen erlassen hätten. Jacobs: Und es gab ja dann mit der Reformation die evangelische Pfarrfrau, die für die Kultur des Protestantismus in Deutschland über Jahrhunderte sehr prägend gewesen ist. Die es im Katholizismus so ja nicht gab. Es so ein bisschen wie die First Lady, die im Hintergrund zwar oft agiert, aber doch mehr Einfluss nimmt, als man das nach außen hin sehen kann.
Bettina Bab und Hanna Jacobs im Gespräch mit Christiane Florin
Luther, Melanchton, Calvin, Zwingli - alles Männer. Okay, es gab Katharina von Bora, aber die ist die Gattin von ... Nur am Rande wird im Jubiläumsjahr an Predigerinnen und Flugschriftenverfasserinnen erinnert. Die Historikerin Bettina Bab und die Vikarin Hanna Jacobs erzählen, was noch zu tun ist.
"2017-10-13T09:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:55:30.267000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reformation-quergedacht-und-wo-bleiben-die-frauen-100.html
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Microsoft streicht Stellen und strukturiert um
Der Software-Riese Microsoft will sich von 18.000 Mitarbeitern trennen. 12.500 der Entlassenen sollen ehemalige Nokia-Angestellte sein. Der Microsoft-Vorstandschef Satya Nadella erklärte in einer E-Mail an die Beschäftigten, dies sei nötig, damit der Konzern agiler und schneller werde. Microsoft steckt in einer Phase der Umorientierung, so der Bloomberg Analyst Corey Johnson. "Ihr Cloud-basiertes Angebot wird immer erfolgreicher, das ist das Angebot von Software im sogenannten Microsoft 365 Paket. Und um dieses Cloud-basierte Angebot herum wird jetzt der Konzern reorganisiert. Das Geschäftsmodell des einmaligen Softwareverkaufs und des dreijährigen Neuauslieferungszyklus läuft aus." Cloud-Modell Das sogenannte Cloud-Modell sieht so aus: Der Kunde mietet ein Softwarepaket für seinen PC und sein Mobilgerät, egal ob iPad oder Mobiltelefon. Seine Daten sind in der Cloud abgespeichert und werden automatisch auf beiden Geräten synchronisiert. Und die Software wird laufend aktualisiert, darum muss sich der Kunde nicht mehr kümmern. Microsoft, der Vorzeigekonzern der PC-Ära steht zwar bei der Softwareeentwicklung und beim Verkauf nach wie vor ganz vorne, ringt aber um Erfolge im Mobilgeschäft. Microsoft rechnet damit, dass die Umstrukturierung und der Stellenabbau zwischen 1,1 und 1,6 Milliarden Dollar über das kommende Jahr kosten werden. Davon sind 800 Million Dollar für Abfindungen veranschlagt. Mit der Fusion mit Nokia war die Mitarbeiterzahl von Microsoft von 99.000 auf 127.000 gestiegen. "Microsoft muss sich gegenüber Wettbewerbern behaupten, die einen viel kleineren Mitarbeiterstamm haben. Firmen wie Google, Facebook oder Salesforce. Anders als die traditionellen Konkurrenten wie Oracle. Das sind Firmen wie Apple mit viel weniger Angestellten, aber viel höheren Gewinnen pro Angestelltem." Microsoft stelle sich jetzt neu auf, um gegen diese Wettbewerber erfolgreich zu sein. Weitere Konzerne bauen stellen ab Microsoft ist nicht der einzige Konzern der Branche, der als Pionier des PC-Zeitalters in der nun vom Internet und der sogenannten Cloud dominierten Umgebung Personal abbaut. Auch IBM, Hewlett-Packard, Intel und Cisco bauen massiv Stellen ab. Die Börse reagierte positiv und bewertete Microsoft Aktien um die drei Prozent höher. Damit ist der Börsenwert des Softwarekonzerns seit Anfang des Jahres um 18 Prozent gestiegen.
Von Marcus Pindur
Microsoft steckt in einer großangelegten Umstrukturierung. Der Software-Riese will dafür 18.000 Mitarbeiter entlassen und sich um das Cloud-basierte Angebot reorganisieren.
"2014-07-17T17:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:53:17.469000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/software-konzern-microsoft-streicht-stellen-und-100.html
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