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Verteidigungsminister sorgt für Chaos
Kehrt mit dem Stahlbesen: Kaczynski-Vertrauter Antoni Macierewicz vergrätzt alle altgedienten Generäle Polens - die Geheimdienste Russlands und Chinas sollen davon profitieren. (Radek Pietruszka) Die polnische Armee erlebt einen ungewöhnlichen Aderlass: Etwa 30 Generäle und 250 Soldaten im Rang eines Oberst haben ihren Hut genommen, seit die rechtskonservative Regierungspartei PiS an der Macht ist. Also in nicht einmal anderthalb Jahren. Meist geben die hochrangigen Militärs persönliche Gründe für ihr Ausscheiden an. Aber das halten Experten für vorgeschoben, so Waldemar Skrzypczak, General im Ruhestand: "Wir wissen ja, was in der Armee los ist im Moment. Dort herrscht eine Atmosphäre, die alle vertreiben soll, die eine andere Meinung haben als die Regierung. Diese behandelt die Generäle herablassend. Sie wirft diejenigen aus der Armee, die ihre eigene Meinung vertreten und ersetzt mit denen, die ein eher weiches Rückgrat haben." "Sind wir für die NATO noch glaubwürdig?" General Skrzypczak zeichnet ein erschreckendes Bild vom Verhältnis zwischen Verteidigungsminister Antoni Macierewicz und dem Militär. Er spricht von Säuberungen, die an das Vorgehen des türkischen Präsidenten Erdogan in dessen Land erinnerten. Die Regierung suche keinen Kontakt zu erfahrenen Generälen, auch der Präsident als Oberbefehlshaber nicht. Das werde nicht ohne Folgen bleiben: "Die Führung der NATO verhält sich politisch korrekt, sie wird sich nicht einmischen. Aber die Amerikaner, Briten und Franzosen beobachten das genau. Sie sehen, dass die Erfahrensten gehen, die etwa in Afghanistan oder im Irak gedient haben - und dass an ihre Stelle Soldaten kommen, die bisher nichts dergleichen geleistet haben. Die Frage ist doch, ob wir da für die NATO noch glaubwürdig sind." Protegé des Ministers: 27-jähriger Student wird zum Abteilungschef Für besonders großen Verdruss sorgt bei Armeeangehörigen, wie Minister Macierewicz seinen politischen Ziehsohn Bartlomiej Misiewicz fördert. Misiewicz ist erst 27 Jahre alt und studiert noch. Trotzdem machte ihn der Minister zum Sprecher des Ressorts und zum Chef einer wichtigen Abteilung im Ministerium. Nach Medienberichten wurden Soldaten angehalten, vor dem jungen Mann zu salutieren, als wäre er ihr Vorgesetzter. Das führte auch zu Kritik aus den Reihen der Regierungspartei PiS. Verteidigungsminister sieht in seinen Truppen Spitzel am Werk Verteidigungsminister Macierewicz sieht jedoch andere Gründe für den Aderlass bei der Armee. Viele Generäle und Obersten gingen wegen ihrer Vergangenheit. Der Minister erwähnte deren sogenannte "Lustrationserklärungen" - also die Angaben zu einer möglichen früheren Zusammenarbeit mit ausländischen oder polnischen Geheimdiensten: "Als ich das Ministerium übernommen habe, hat sich gezeigt, dass über 700 Lustrationserklärungen nicht dem Institut für das nationale Gedächtnis übergeben worden waren. Darunter waren auch die Erklärungen von Obersten. Daraus mussten Konsequenzen gezogen werden. Nur deshalb sind im vergangenen Jahr etwas mehr, aber nicht viel mehr, Obersten ausgeschieden als 2015." Staatsdiener fühlen sich schlecht behandelt In den Augen der Opposition eine skandalöse Aussage: Macierewicz habe damit verdiente Offiziere in die Nähe von Spitzeln gerückt, so der Vorwurf. Vielmehr helfe Macierewicz selber, wenn auch ungewollt, ausländischen Geheimdiensten, sagt Krzszysztof Boruc, Militärexperte am Collegium Civitas, einer privaten Hochschule in Warschau: "Jeder Offizier, der geht, wird zu einem interessanten Objekt für fremde Geheimdienste. Vor allem, wenn diese Offiziere das ganze Leben ihrem Staat gedient haben und dieser Staat sie dann plötzlich so schlecht behandelt. Es ist bekannt, dass zum Beispiel der russische Militärgeheimdienst sehr aktiv ist in Polen." Staatsgeheimnisse vermutlich zu Russen und Chinesen durchgesickert Das sei ein weiterer Grund, warum die Personalpolitik der Regierung die Zusammenarbeit mit anderen NATO-Staaten erschwere, so Boruc: "Seit die PiS regiert, bekommt Polen von den Partnern viel weniger Informationen - von den Nachrichtendiensten und auch von der Militäraufklärung, auf taktischer und auf strategischer Ebene. Denn Polen ist zu einem wenig vertrauenswürdigen Land geworden. Nicht nur einmal sind geheime Informationen bei uns durchgesickert und bei den Russen oder Chinesen gelandet." Zumindest leise regt sich nun auch im Regierungslager Widerstand gegen Verteidigungsminister Macierewicz. Staatspräsident Andrzej Duda hat dem Minister zwei kritische Briefe geschrieben. Er erbittet Auskunft über einige Vorgänge beim Militär.
Von Florian Kellermann
Verteidigungsminister Antoni Macierewicz ist das laut Umfragen unbeliebteste Regierungsmitglied. Aber als enger Vertrauter von Jaroslaw Kaczynski - dem Vorsitzenden der Regierungspartei PiS - sitzt er fest im Sattel. Seine Politik schadet aber der Armee immer mehr: Zahlreiche hoch angesehene Generäle haben deshalb den Dienst quittiert.
"2017-03-27T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:20:47.850000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polnisches-militaer-verteidigungsminister-sorgt-fuer-chaos-100.html
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Positive Leistungsbilanz von Grundschulen
Grundschüler zu Beginn eines neuen Schuljahres (dpa / Matthias Hiekel) Den Grundschulen geht es besser. Ihre finanzielle Ausstattung ist seit dem Jahr 2000 sogar schneller gestiegen als die der Gymnasien, von 3.600 Euro pro Kind auf 5.600 Euro – also um gut 55 Prozent. Die Gymnasien kamen bis 2013 auf einen Ausgabenzuwachs von gut 44 Prozent. Dabei weisen die Bundesländer große Spannweiten auf: Nordrhein-Westfalen leistet sich die geringsten Ausgaben, Hamburg, dann Bayern, Berlin, Sachsen-Anhalt und Thüringen die höchsten. Ein Grund: Unterschiedliche lange Unterrichtszeiten. In Bayern stehen für die vier Jahrgangsstufen einer Grundschule wöchentlich 104 Pflichtsunden auf dem Plan, in Berlin sind es nur 92. Das summiert sich: "Also, die Bayern gehen viereinhalb Jahre in die Grundschule und die Berliner vier Jahre, wenn man es etwas platt formuliert." So Klaus Klemm, der emeritierte Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Für den Grundschulverband hat er auch recherchiert, wie die deutschen Grundschulausgaben im internationalen Vergleich aussehen: Ganz gut, wenn man Deutschland mit allen OECD-Staaten vergleiche, also auch die Türkei, Mexiko und Tschechien einbeziehe. Im Vergleich zu Industrienationen hinken deutsche Grundschulen hinterher "Wenn wir uns aber an den wichtigen Industrienationen oder an einzelnen wichtigen Industrienationen messen, dann sind wir im Grundschulbereich deutlich hinterher." Immerhin – die deutlich gestiegenen Mehrausgaben seit dem Jahr 2000 seien in den Schulen angekommen, sagt Maresi Lassek, die lange in einer sozialen Brennpunktschule in Bremen unterrichtet hat: "Es ist sicher die Sachmittelausstattung punktuell höher geworden. Das andere ist, dass auch durch die demografische Rendite, also weniger Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen geblieben sind und es von daher Verbesserungen in den Klassenfrequenzen eindeutig gab, ja." Musste sich im Jahr 2000 ein Lehrer um rechnerisch 22,4 Schüler kümmern, waren es 2014 noch 20,7. Wobei auch bei dieser Kennziffer Nordrhein-Westfalen deutlich schlechter lag als der Bundesdurchschnitt, bei mehr als 23 Kindern pro Lehrerstelle, während es Rheinland-Pfalz nur 18,3 Kinder waren. Solche niedrigen Relationen schaffen Raum, den die Grundschule auch zunehmend brauche, sagt Professor Hans Brügelmann, der im Grundschulverband für die Qualitätsentwicklung zuständig ist. Kontakte zu Jugendamt, Kinderärzten und zur Polizei halten "Wenn wir Inklusion ernst nehmen, und zwar nicht nur in dem Sinne, behinderte Kinder mit aufzunehmen, sondern zu sagen, es kommt drauf an, jedem Kind gerecht zu werden mit seinen besonderen Bedürfnissen, dann ist es schon so, dass wir dafür auch mehr Personal brauchen. Das ist gar keine Frage. Ganz abgesehen davon, dass eben doch der Schule heute mehr abverlangt wird auch von den Eltern. Die erwarten, dass dort Dinge passieren, die früher vielleicht in Familien passiert sind. Und das bedeutet, dass viele Kolleginnen nachmittags damit beschäftigt sind, Kontakte zu halten zu Jugendamt, zu Kinderärzten bis hin zur Polizei sogar. Und das zeigt, dass sich das Berufsbild selber verändert hat. Und das verlangt auch ein neues Verständnis in der Ausbildung einerseits, aber auch in der Berechnung der Arbeitszeit." Der Wunsch nach noch besserer Finanzausstattung der Grundschulen bleibt also trotz aller Verbesserungen wach. Wobei die Fachleute des Verbandes wissen: Zusätzliches Personal, vor allem solches, das die neuen Anforderungen beherrscht, ist knapp.
Von Michael Braun
Die deutschen Grundschulen stehen im internationalen Vergleich gut da. Das geht aus der Leistungsbilanz des Grundschulverbandes hervor. Aber - es gibt noch Luft nach vorne. Denn die Lehrer müssen heute deutlich mehr leisten als früher. Das sollte sich in der Ausbildung, aber auch in der Berechnung der Arbeitszeit niederschlagen.
"2016-07-12T14:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:40:39.712000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grundschulverband-positive-leistungsbilanz-von-grundschulen-100.html
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Was passiert nach #MeToo?
Stella Donnelly nutzt Einflüsse verschiedener Genres: Ihr gelingt der Schritt vom reduzierten Songwriter-Folk zum Band-Sound (George Foster) Der Song "Boys will be Boys". Die Geschichte einer Vergewaltigung, die eine Freundin von Stella Donnelly erleben musste. Als wäre das noch nicht genug, wurde das Opfer im Nachhinein selbst in die Täterrolle gedrängt. "Warum hat sie sich auch so aufreizend angezogen?", und so weiter. "Victim Blaming" ist dafür der Fachbegriff. Geschrieben hat Donnelly den Song noch vor der #MeToo-Bewegung, zu hören war er schon auf einer ersten EP. Die meisten Lieder auf dem Debüt "Beware of the Dogs" fragen allerdings: Was passiert nach #MeToo? Der Song "Old Man" zum Beispiel. Stella Donnelly: "Ich wollte das Gefühl festhalten, dass sich für mich Dinge verändert haben: Wenn ein Mann mich schlecht behandelt, dann kann ich ihn jetzt dafür zur Rechenschaft ziehen." Intime Tagebuchnotizen Weibliche Selbstermächtigung als zentrales Thema. Die Australierin, Mitte 20 von kleiner Statur, besingt ihre Beobachtungen und Erfahrungen aus der Ich-Perspektive. Die 13 Songs ihres Albums lesen sich wie ein intimes Tagebuch. Mit zuckersüßen und eingängigen Melodien täuschen ihre Einträge häufig über das hinweg, was Donnelly eigentlich besingt. Vermeintliche Tabus werden in charmante Pop-Songs verpackt. Dabei helfen auch zarte Synthie-Klänge, die auf der sparsam instrumentierten EP noch nicht zu hören waren. "Warum darf ich keine eigenen Entscheidungen für meinen Körper treffen?", fragt sie im Song "Watching Telly" - ein Song, der einen Schwangerschaftsabbruch thematisiert, etwas, womit sich auch Donnelly mit Anfang 20 konfrontiert sah. In New South Wales, einem von sieben australischen Bundesstaaten, ist Abtreibung nach wie vor strafbar: "Wir müssen das Recht bekommen, unsere eigene Entscheidung treffen zu dürfen. Es ist verrückt, dass 50 Prozent der Bevölkerung für die andere Hälfte mitentscheiden und Religion als Entschuldigung anbringen dürfen. Wir ruinieren unser Land Stella Donnelly greift aktuelle Debatten auf und verpackt sie in eingängige Pop-Songs. Häufig erzählen ihre Songs von unangenehmen Typen. Insbesondere ein Typus Mann taucht auf "Beware of the Dogs" gleich mehrfach auf: der australische Redneck, einer, der ein "Southern-Cross-Tattoo trägt", wie Donnelly es besingt, einen Ausschnitt der australischen Nationalflagge, nach Meinung von Donnelly symbolhaft für die Verleugnung der problematischen australischen Geschichte: "Wir ruinieren unser Land, wir betreiben Bergbau an heiligen Orten, das Great Barrier Reef ist tot. Das alles passiert, weil wir nie auf die Leute gehört haben, die dort schon seit tausenden Jahren leben. Deswegen singe ich im Chorus: 'Es gab Pläne, aber wir haben alles falsch herum aufgebaut.' Damit will ich sagen: Wir sind gekommen und haben alles falsch gemacht." Kein meckernder Millenial: Die Musikerin Stella Donnelly (George Foster) Wer in Donnelly nur einen meckernden Millenial sieht, liegt falsch. Auch sich selbst reflektiert die Musikerin auf "Beware of the Dogs" kritisch: Die Beziehung, die sie aufgrund ihres neuen Lebens als aufstrebende junge Musikerin nicht halten konnte, das Heimweh und die Distanz, mit der sie nun lernen muss umzugehen. Immerhin: Alleine auf Tour ist die Musikerin nun nicht mehr - eine Bassistin, eine Schlagzeugerin und ein weiterer Gitarrist sind mit von der Partie. Ihrem Sound hat das nur gut getan. Von sonnigen Indie-Akkorden, über Synth-Pop bis zur reduzierten Songwriter-Ballade: Stella Donnelly nutzt Einflüsse verschiedener Genres. Dabei gelingt ihr der Schritt vom reduzierten Songwriter-Folk zum Bandsound. Bei so viel verträumtem Indie-Pop, kann man über den Text durchaus mal hinweghören, genau zuzuhören lohnt sich aber.
Von Jessica Hughes
Die Australierin Stella Donnelly nimmt kein Blatt vor den Mund: Alltagssexismus und sexuelle Gewalt beschäftigten die Newcomerin bereits vor zwei Jahren auf einer EP. Nun, auf ihrem ersten Album "Beware of the Dogs", greift sie aktuelle Debatten auf - und plädiert für weibliche Selbstermächtigung.
"2019-03-09T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:41:13.440000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stella-donnellys-beware-of-the-dogs-was-passiert-nach-metoo-100.html
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Katalanische Separatisten machen gegen Spanien mobil
Schon früh passt kein Strohhalm mehr zwischen die Kundgebungsteilnehmer in Barcelona. In der sengenden Sonne geben katalanische Politiker Erklärungen über die Konsequenzen des Urteils des spanischen Verfassungsgerichts ab. So auch Nationalistenchef Artur Mas, dem Umfragen gute Chancen einräumen, nächster katalanischer Ministerpräsident zu werden:"Wir setzen seit 30 Jahren auf eine Lösung innerhalb der spanischen Verfassung, auf einen Staat mit unterschiedlichen Nationen. Diese Tür hat das Verfassungsgericht nun zugeschlagen. Es war nicht bereit, die Ziele der katalanischen Nation innerhalb Spaniens mit einer flexiblen Interpretation der Verfassung zu ermöglichen."Das Urteil hat auch im spanischen Parlament Folgen. Dort stützen die katalanischen Nationalisten derzeit den spanischen Ministerpräsidenten Zapatero. Doch auch die Konservativen haben schon mit ihrer Unterstützung regiert und hoffen, nach Neuwahlen könnte sich diese Koalition wiederholen. Antoni Duran y Lleida, Sprecher der Katalanen im spanischen Parlament, strebt jetzt jedoch ganz andere Allianzen an:" Ich hoffe, dass alle im spanischen Parlament vertretenen katalanischen Gruppierungen jetzt vereint zusammenstehen, zur Verteidigung unserer Nation, unserer Kultur, unserer Sprache. Wir wollen Katalanen sein, nicht besser oder schlechter als andere, einfach Katalanen. Wenn das akzeptiert wird, könnten wir wieder nach einem gemeinsamen Projekt für den gesamten spanischen Staat suchen." Der nationalistisch gesinnte Politiker zielt damit auf eine Spaltung der spanischen Sozialisten ab, bei denen die katalanischen Abgeordneten schon eine eigene Landesgruppe gebildet haben. Er hofft, auf diese Weise die beiden großen spanischen Parteien zu einem neuen Konsens zwingen zu können, der auch das nun beschnittene Autonomiestatut wieder möglich machen würde. Dies ist das Mindeste, was die Kundgebungsteilnehmer erwarten:"Das Statut ist ein Gesetz, das das katalanische und spanische Parlament verabschiedet und die Katalanen in einem Referendum gebilligt haben. Und dann kommt so ein politisches Tribunal und urteilt darüber. Ein Verfassungsgericht, über dessen Zusammensetzung die beiden großen spanischen Parteien entscheiden. Das Gericht hat diesen Konflikt bewusst gesucht."Nur 14 von mehr als 200 Artikeln des Autonomiestatuts hat das Gericht bemängelt. Doch nicht einmal ein Komma darf das Verfassungsgericht an einem Text ändern, über den das katalanische Volk entschieden hat, argumentieren die Organisatoren der Großdemonstration. Diese Teilnehmerin etwa fürchtet Folgen des Verfassungsgerichtsurteils für den Gebrauch der katalanischen Sprache, die zu Francos Zeiten verboten war, inzwischen aber häufig zu hören ist."Katalanisch ist unsere Sprache. Sie soll darum auch die Sprache in der Verwaltung sein. Aber das Verfassungsgericht sagt jetzt, dass es nicht die bevorzugte Sprache sein darf, wie es in unserem Statut steht, sondern nur gleichberechtigt neben dem Spanischen. Es wird zu einer Sprache zweiten Ranges. Das akzeptieren wir nicht. Sie diskriminieren die Kultur unseres Volks." Während einige Kundgebungsteilnehmer sich noch für das Autonomiestatut aussprechen, also für Katalonien als autonomen Teil Spaniens, geht die übergroße Mehrheit deutlich weiter: "Unabhängigkeit" ist das am häufigsten gerufene Wort, die Spanier seien als Ausländer zu behandeln, wird von einem Lautsprecherwagen aus gefordert. Dabei waren Separatisten in Katalonien bislang eine kleine Minderheit. Doch diese Frau meint:"Die Schweiz wäre doch ein Beispiel dafür, wie unterschiedliche Nationen in einem Staat zusammenleben. Eine Konföderation wäre eine gute Lösung. Und wenn das nicht klappt, dann eben: Tschüss Spanien!"Katalonien wird wieder groß und reich sein, seine Feinde sollen zittern, wenn die katalanische Fahne weht. So heißt es in der Hymne, die von den Demonstranten in Barcelona zum Schluss ihrer Kundgebung gesungen wird. Wie sehr das Verfassungsgerichtsurteil die Separatisten wirklich stärkt, werden erst die katalanischen Wahlen im Herbst zeigen. Dass noch nicht alle Katalanen mit Spanien gebrochen haben, berichten die Verkäufer in den Fußballsouvenirläden in Barcelona. Dort sind die Fahnen Spaniens seit Tagen ausverkauft. Immerhin eint die Fußballnationalmannschaft das Land – eine Mannschaft, in der neben Basken, Andalusiern, Manchegos oder Madridern auch zahlreiche Katalanen sehr erfolgreich zusammenspielen.Weitere Berichte bei dradio.de:Spanien: Die ETA und die Distanzierung von der GewaltUrteil: Autonomie ja, Unabhängigkeit nein
Von Hans-Günter Kellner
Die Benachteiligung der katalanischen Sprache bemängeln die Separatisten unter anderem an dem Urteil der spanischen Verfassungsrichter zum Autonomiestatut. Und sie punkten mit ihren Ansichten auch immer mehr bei gemäßigten Wählern.
"2010-07-12T09:10:00+02:00"
"2020-02-03T17:37:32.077000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katalanische-separatisten-machen-gegen-spanien-mobil-100.html
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Gauland und Höcke sieben Abweichler aus
Bundesvorsitzender Alexander Gauland (r.) und Landeschef Björn Höcke beim Landesparteitag der AfD in Thüringen (picture alliance / dpa / Arifoto Ug / Michael Reichel) Alexander Gauland: "Wer Nazi-Schweinkram teilt, hat in der Partei nichts verloren! Ich sage das auch als Alexander Gauland." Der AfD-Bundessprecher auf dem Landesparteitag der Thüringer AfD. In der Tat hat die AfD-Spitze allen Grund, sich vom äußersten rechten Rand ihrer Partei zu distanzieren: Die Verfassungsschutzämter der meisten Bundesländer haben Dossiers zur AfD verfasst, und darin findet sich viel Unappetitliches: rassistische Kommentare, Mord- und Umsturzphantasien, Holocaust-Leugnung, Drohungen gegen Journalisten für die Zeit, "wenn es mal anders kommt". Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz aber will die AfD unbedingt verhindern. Denn die könnte Mitglieder und Wählerstimmen kosten. Auch Björn Höcke, der Vorsitzende des Thüringer Landesverbands, hat Kreide gefressen: "Wir sind demokratieverliebte Bürger." Fast 20 Minuten arbeitet sich Höcke an den wenigen ab, die ihm in der Thüringer AfD noch widersprechen. Um sie noch kleiner erscheinen zu lassen, nennt er nicht mal ihre Namen. "Ich weiß nicht, in wessen Sold Herr K steht!" Oder so: "Da ist eine Dame, die ist nicht auf der Bundestagsliste gelandet. Und nicht nur ich vermute, dass sie deswegen motiviert war, ein einzigartiges Zerstörungswerk in Gang zu setzen." Der neue Sound des Björn Höcke Die "Dame", Steffi Brönner, einst Höckes Stellvertreterin, hatte im vergangenen Jahr kritisiert, dass ein anderes Thüringer AfD-Mitglied sein Grundstück für ein Nazi-Rockfestival zur Verfügung gestellt hat, dass die Fraktion Rechtsextreme beschäftigt. Inzwischen läuft ein Parteiausschlussverfahren gegen Brönner. Die "Alternative Mitte", die Versammlung der liberaleren Mitglieder der AfD, nennt Höcke beim Parteitag nur "die bunte Kleinsttruppe mit den zwei Buchstaben". "Meine Geduld, unsere Geduld ist am Ende! Und ich rufe dieser Gruppe abschließend zu: Ordnet euch ein, werdet konstruktiv! Oder haut endlich ab!" Ein Vertreter der Alternativen Mitte, Jens Sprenger, tritt darauf ans Mikrophon: "Ich denke, das braucht natürlich ein Widerwort! Ich beantrage, dazu eine Gegenrede halten zu dürfen." Sein Ansinnen wird mit massiver Mehrheit abgelehnt. Björn Höcke wird ohne Gegenkandidat mit 80 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Listenplatz 1 gewählt. Und fährt nun fort mit seinem Angriff. Jetzt aber persönlich: "Lieber Ron, ich bitte dich, auf eine Kandidatur zur Landesliste zu verzichten! Ich tue das im Interesse des Landesverbandes! –, ein NPD-Post, selbst, wenn er zwei Jahre alt ist, geht in diesem Landesverband nicht! Wir haben mit der NPD nichts zu tun, aber auch rein gar nichts!" Der Angegriffene stapft wütend aus dem Saal Das sagt der Björn Höcke, der zulässt, dass in Erfurt NPD-Kader auf AfD-Demonstrationen mitmarschieren, der in Chemnitz mit Rechtsextremen auf die Straße geht, dem selbst seine Parteifreunde zutrauen, dass er unter Pseudonym für NPD-Postillen geschrieben hat. der Björn Höcke, der die bundesdeutsche Elite im Falle einer Machtübernahme "entsorgen" will, der von einem 'groß angelegten Remigrationsprojekt' träumt, auch wenn das "menschliche Härten und unschöne Szenen" mit sich bringen würde. Der Angegriffene, Ronny Poppner, ein untersetzter Mann mit kurzen Haaren, ist erregt aufgesprungen und tritt ans Saalmikrofon: "Aber ein Gerhard Siebold, der die Parteikasse bestohlen hat, der darf bleiben!? Danke!" Poppner stapft wütend aus dem Saal, etwa 20 seiner Freunde folgen ihm. Draußen vor der Tür steht Poppner mit bebender Brust. Das sei das erste Interview, das er in seinem Leben gebe. Auf seiner Visitenkarte steht "pro patria". Er, der Heimatverbundene, sei ein Parteisoldat, der den scharf rechten "Flügel" mit aufgebaut habe, der viel eigenes Geld in die Partei gesteckt habe, der Höcke gegenüber immer loyal gewesen, aber persönlich eher ein Fan von Alice Weidel sei. Die Sache mit dem NPD-Post sei zwei Jahre her. "Das stimmt! Ich habe einen Post geliked, der war nicht als NPD-Post im ersten Moment zu erkennen. Also, der Inhalt war: Wenn ein Asylbewerber in und um Asylbewerberheime Straftaten begeht, so gehört er in das nächste Flugzeug gesetzt und mit lebenslanger Einreisesperre belegt. Das war der Post. Und mit einmal tauchte auf: "NPD – die soziale Heimatpartei". Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich es nicht gepostet, auch wenn der Spruch nicht schlecht ist." Ein Hin und Her der Vorwürfe Poppner hält einen Packen Papier in der Hand. Darunter Kontoauszüge aus dem Jahr 2014. Er macht dem Büroleiter und engen Vertrauten von Björn Höcke, Gerhard Siebold, massive Vorwürfe: "Der hat bei uns in die Kasse gegriffen, ich habe hier die Kontoauszüge. Herr Siebold fährt das Auto eines Großindustriellen umsonst, ist also bestechlich. Dagegen gehe ich vor. Und das ist mein Vergehen." Der Angegriffene, Gerhard Siebold, lehnt jeden Kommentar ab und kündigt "juristische Schritte" gegen Poppner an. Poppner wiederum geht nach dem Interview wieder in den Saal und tritt drei Mal an, um einen Listenplatz bei der Landtagswahl zu ergattern. Denn bei der Gelegenheit kann er öffentlich reden. Zum Beispiel darüber, dass der Björn Höcke, der ihn nun in die rechtsextreme Ecke rückt, selbst bei einer Nazi-Demo gefilmt wurde und in NPD-Postillen geschrieben habe. Er selbst sei: "ein Bauernopfer, weil ich seit zweieinhalb Jahren kriminelle Machenschaften anprangere. Das kann ich alles beweisen. Und deswegen stehe ich hier. Und dann stehe ich hier und werde genötigt zu Rücktritt, zu dies, das und jenem. Das war das Finale einer seit Wochen anhaltenden Schmutzkampagne gegen mich." Beide Abweichler kommen nicht auf die Landesliste Ronny Poppner schafft es in drei Anläufen nicht, auf die Wahlliste zu kommen. Einzig Jens Sprenger von der Alternativen Mitte springt Poppner bei: "Es wurde hier gerade einer der Kritiker öffentlich hingerichtet. Das charakterisiert die Situation, die wir in diesem Landesverband haben." Auch Sprenger wird nicht gewählt. Die Alternative Mitte der AfD erklärt Björn Höcke nach dem Parteitag in einer Pressemitteilung für "größenwahnsinnig" und fordert, ihn endlich aus der Partei zu werfen: Er sei es, der die AfD für viele Bürger unwählbar mache.
Von Henry Bernhard
Die AfD ist unter Druck: Es droht die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Entsprechend neu tönt es aus der Partei. "Rechten Schweinkram" will etwa AfD-Chef Alexander Gauland nicht dulden. Rechtsaußen Björn Höcke wiederum geht auf Distanz zur NPD - und wird so parteiinterne Kritiker los.
"2018-10-18T19:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:11.828000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thueringer-afd-gauland-und-hoecke-sieben-abweichler-aus-100.html
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Bald Schluss mit dem NPD-Boykott in Schwerin?
Noch läuft das NPD-Verbotsverfahren, das Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Caffier (CDU) mitangestrengt hat - doch Karlsruhe hat noch nicht entschieden. (Jens Büttner dpa/lmv) Seit ihrem Einzug ins Landesparlament 2006 haben sich NPD-Abgeordnete rund 750 Ordnungsrufe eingehandelt. Redner der anderen Parteien zusammen nur rund 100. Spitzenreiter: NPD-Fraktionschef Udo Pastörs. Vor allem in der ersten fünfjährigen Legislaturperiode wurde er 27 Mal des Saales verwiesen. 34 Mal wurde ihm das Rederecht entzogen, weil er sich faschistoid oder rassistisch äußerte. Dazu kamen 202 Ordnungsrufe. Zuletzt etwas ruhiger geworden, reichte es für Sprüche wie diesen immer mal wieder: "Der neueste Traum von dem Altkommunisten Holter - haben wir gehört - ist, dass die ganze Welt ständig in einer Party lebend miteinander Freude hat. Was sind Sie für ein Dummkopf? Sie müssten es doch besser wissen." "Herr Abgeordneter ...(Unruhe im Saal)...Herr Abgeordneter Pastörs, Sie haben nicht das Recht, hier andere Abgeordnete zu beleidigen. Ich erteile Ihnen für die Beleidigung des Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE einen Ordnungsruf." Landtagspräsidentin Silvia Bretschneider (SPD) ging stets besonders rasch dazwischen, mitunter zu forsch. Wann immer die NPD-Abgeordneten einen Eingriff in ihre parlamentarischen Rechte juristisch beklagten, gab das Landesverfassungsgericht Greifswald ihnen Recht. Derweil ist Bretschneiders Vorgehen nur Teil einer Verabredung, die seit zehn Jahren gilt, und die LINKE-Chef Helmut Holter mitinitiiert hat: "Also wir haben ja jetzt seit zwei Wahlperioden die NPD im Landtag. Dazu hatten wir uns mit den demokratischen Fraktionen immer verabredet, keinen Wahlvorschlag und auch keinen Antrag der NPD zu unterstützen. Das ist der sogenannten 'Schweriner Weg'." Veranstaltungen mit NPD-Beteiligung werden boykottiert. Auf einen NPD-Antrag antwortet stets nur ein Redner, der für alle Fraktionen spricht und sich mit der Ablehnung in der Regel kurz hält. Landesparteichef und Parlamentsmitglied Stefan Köster winkt ab. NPD-Chef Köster: "Knallhart politische Arbeit für unser Volk tätigen" "Nach außen gerichtet macht es uns die Arbeit einfacher als NPD, weil die Fronten - in Anführungsstrichen - "geklärt" werden. Und auch die politischen Ansichten werden noch deutlicher herausgearbeitet. Und ansonsten spielt es für uns keine große Rolle. Wir sind nicht im Landtag als NPD, um irgendwie Freundschaften zu finden oder zu binden, sondern um knallhart politische Arbeit für unser Volk zu tätigen." Die NPD-Fraktion konzentriere sich vor allem darauf, das Handeln der SPD-CDU-Landesregierung sowie der Verwaltung zu kontrollieren, sagt Köster. Das Mittel der Wahl: Große und Kleine Anfragen, die die Regierung grundsätzlich wahrheitsgemäß beantworten muss. NPD-Routine sind die Anfragen zu Polizei- und Feuerwehreinsätzen in Asylbewerberheimen, aber auch zu Straftaten im Zusammenhang mit rechten Musikveranstaltungen und zum Linksextremismus in Mecklenburg-Vorpommern. Hauptempfänger der NPD-Fragen: Innenminister Lorenz Caffier. Genauso lange im Amt wie die NPD im Schweriner Landtag, ist der CDU-Mann erkennbar genervt. Man nehme den Blick auf das vorige Jahr: Innenminister Lorenz Caffier: NPD schürt Hass und Angst "Schauen Sie, wenn ich 156 Kleine Anfragen kriege, zu genau dem gleichen Thema mit dem gleichen Sachverhalt auf jeden Ort des Landes bezogen, dann zeigt das, dass die NPD überhaupt kein Interesse an der fachlichen Auseinandersetzung hat, sondern dass sie nur Material sammeln will, um Unzufriedenheit, um Hass, um Angst zu schüren." Damit die NPD künftig weder an parlamentarische Instrumente noch an eine staatliche Parteienfinanzierung kommen kann, hatte Innenminister Caffier das jetzt laufende, zweite NPD-Verbotsverfahren mitangestrengt. Noch hat Karlsruhe nicht entschieden, ebenso wenig die Wähler in Mecklenburg-Vorpommern. Doch sollte es die NPD am Sonntag abermals in den Landtag von MV schaffen und legal bleiben, wird der "Schweriner Weg" als einheitliches Projekt zu Ende sein. "Wir sind der Meinung, wenn man die NPD offen angegangen wäre in einem vernünftigen Diskurs, hätte man sie viel schneller weghaben können." Sagt Thomas de Jesus Fernandes. Er ist AfD-Kreisvorsitzender für Schwerin-Westmecklenburg und tritt am Sonntag als Direktkandidat an. Er hat bereits Erfahrungen mit der NPD gesammelt - im Kreistag von Ludwigslust-Parchim. Keine Zusammenarbeit der AfD mit der NPD "Jeder Redebeitrag, auch wenn er erst mal vernünftig anfängt, ufert dermaßen aus ins extrem Völkische. Die wollen den Nationalsozialismus zurück. Wir haben das im Kreistag immer so gemacht, dass wir das argumentativ zerlegen konnten, und haben das in entsprechenden Redebeiträgen dann auch kundgetan, anstatt - wie die anderen Parteien - nicht darauf einzugehen und nur irgendeine Rede zu halten. Und ich denke, wir werden uns, wenn sie reinkommen sollten, genauso im Landtag verhalten." Und auch dies war - zumindest für diesen AfD-Politiker - bislang klar. "Wir haben mit der NPD wirklich nichts gemeinsam. Es gibt keine Zusammenarbeit. Gab's nicht. Gibt's nicht und wird es nicht geben."
Von Silke Hasselmann
Seit zwei Wahlperioden sitzt die NPD im Landtag in Mecklenburg-Vorpommern. Und erfährt dabei einen Beinahe-Boykott durch alle anderen Landtagsfraktionen. Doch die AfD hat bereits angekündigt, sich mit den NPD-Anträgen auseinandersetzen zu wollen - sollte sie ins Schweriner Schloss einziehen.
"2016-09-01T06:43:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:46.641000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mecklenburg-vorpommern-bald-schluss-mit-dem-npd-boykott-in-100.html
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Was Frauen wollen
Blickt man nur auf die Teilnehmerzahlen, ist der Girls' Day ein Erfolg. Beim ersten Girls' Day öffneten gerade einmal 39 technische Unternehmen ihre Türen für Mädchen. Heute sind es mehr als 9500 Veranstaltungen. Insgesamt haben an den bisherigen Girls' Days schätzungsweise mehr als eine Million Mädchen teilgenommen. Umfrageergebnissen zufolge zeigt sich bei den Teilnehmerinnen auch ein Effekt. Sie nehmen technisch-naturwissenschaftliche Berufe heute als abwechslungsreicher wahr, als noch vor fünf Jahren. Und sie entscheiden sich auch danach. Ingenieursstudiengänge werden immer öfter von Frauen belegt.Doch diese Erfolgsbilanz ist zwiespältig. Beispiel Metallberufe: Zwischen 2006 und 2008 ist der Anteil der weiblichen Auszubildenden nur um einen halben Prozentpunkt gestiegen. Immer noch sind nicht einmal drei von 100 Auszubildenden in der Metallbranche Frauen. Eine Ausnahme bildet der Kölner Autobauer Ford. Birigt Kendziora ist dort zuständig für das Projekt FIT, Frauen in technischen Berufen. "Wir haben unsere Zahlen tatsächlich steigern können. Wir haben früher auch so drei bis fünf Prozent Frauen in technischen Berufen bei uns gehabt und Mädchen in der technischen Berufsausbildung und sind jetzt bei 18 Prozent. Das ist überdurchschnittlich viel, weil sonst, bundesweit gesehen, es ungefähr fünf Prozent sind."Den Girls' Day bezeichnet Kendziora als guten Einstieg, aber den Erfolg haben bei Ford nur kontinuierliche Bemühungen gebracht. Das Engagement lohnt sich, denn Mädchen machen die besseren Schulabschlüsse, schränken sich aber bei der Berufswahl selbst stark ein. Mädchen, die eine Berufsausbildung beginnen, wählen in den meisten Fällen immer aus denselben zehn Berufen: Kauffrau, Verkäuferin, Friseurin stehen an der Spitze. Ein technischer Beruf findet sich nicht in den Top Ten. Angelika Puhlmann vom Bundesinstitut für Berufsbildung will das ändern. Sie sieht das Hauptproblem darin, dass Vorbilder fehlen. Junge Mädchen wollen keine Exotinnen sein, wenn sie sich für technische Berufe entscheiden, sagt sie."Man möchte in diesem Alter nicht immer im Rampenlicht stehen, alleine. Man möchte mit seinen Freundinnen und Freunden das Terrain erobern, man möchte auch mit denen in eine Ausbildung gehen, auf dieselbe Berufsschule. Und insofern ist es auch mein Traum, dass man eine ganz große Gruppe von IT-Systemelektronikerinnen zum Beispiel mal ausbildet. Damit man an einer Ecke mal anfängt, damit man auch eben viele Vorbilder hat an der Ecke."Vorbilder schaffen, das ist auch das Rezept von Fraunhofer-Forscher Thomas Christaller. Der Informatiker versucht seit mehreren Jahren, Mädchen mit dem Roboterprojekt Roberta für Technik zu begeistern, als Institutsleiter lag ihm die Frauenförderung stets am Herzen. Sein Fazit:"Mühselig, absolut mühselig."Insbesondere, wenn es darum geht, Frauen für die sogenannten MINT-Fächer zu begeistern: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Selbst wenn das gelänge, würden sich viele gut ausgebildete Frauen lieber um ihre Familie als um ihre Karriere kümmern. Thomas Christaller kennt aber noch einen anderen Grund, der Frauen vor MINT-Studiengängen zurückschrecken lässt. Sein Fachgebiet, die Informatik, beispielsweise sei in den vergangenen Jahren immer weiter formalisiert worden. Der fehlende Praxisbezug sorge für Frust bei den Studenten."Offensichtlich liegt es Männern eher, durch diesen Frust durchzugehen. Und für Frauen wirkt es offensichtlich total abschreckend, dass man einfach viel zu lange braucht, um zu verstehen: Wofür brauche ich den Kram eigentlich?"Die Aussicht auf solchen Frust schreckt Elsa Steinfath nicht ab. Die Schülerin eines Mädchengymnasiums hat schon bei vier Girls' Days mitgemacht. Jetzt will sie in den neurotechnisch-medizinischen oder Ingenieursbereich gehen. Dass sie damit eine Ausnahme bildet, stört sie überhaupt nicht."Man fühlt sich tatsächlich als Exot, aber ich frage mich, ob das nicht gerade die schöne Sache daran ist. Also ich mag das gerne, wenn ich als Mädchen unter vielen Männern bin und dann auch angeguckt werde: ""Oh, das ist eine Besondere, die macht mal was anderes.” Allerdings kenne ich das auch viel - ich gehe ja auf eine Mädchenschule, dass die Mädchen sehr in diesem Rollenbild immer noch festhängen und das auch von den Familien stark geprägt wird."Es ist ein Anliegen des Girls' Days auch an diesem Rollenbild etwas zu ändern. Nach zehn Jahren ist aber klar: Der sogenannte Mädchenzukunftstag kann nur Anstöße liefern. Ähnliche, kontinuierliche Aktivitäten sind genauso wichtig, um für mehr Ingenieurinnen zu sorgen.
Von Thomas Reintjes
Beim Girls' Day können Mädchen in technische Berufe hineinschnuppern. Dies soll helfen, Frauen für sogenannte Männerdomänen - wie Ingenieurberufe - zu gewinnen. Seit zehn Jahren gibt es den Girls' Day, doch die Zahl der Frauen in technischen Berufen hat sich nur wenig erhöht.
"2010-04-22T14:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:04:09.711000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-frauen-wollen-100.html
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Der kluge Roboter gibt nach
Zwei robotische Oktopusarme. Auch diese Entwicklung könnte in der Industrie eingesetzt werden. (AFP - Fabio Muzzi ) "Du, wir haben hier jemand vom Radio, der sich für Soft Robotics interessiert." Das Institut für Robotik und Mechatronik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt befindet sich in Oberpfaffenhofen, vor den Toren Münchens. Professor Alin Albu-Schäffer ist der Chef hier. "Also das ist jetzt die Serienversion des Roboters." Der gebürtige Rumäne steht vor einem der neuesten Industrieroboter. Er hat die Abmessungen eines menschlichen Armes und kann Lasten bis zu sieben Kilogramm beliebig im Raum positionieren. Auffällig ist, dass der kräftige Helfer keine Ecken und Kanten hat: Er besteht durchweg aus sanft geschwungenen, abgerundeten Elementen. Der eigentliche Clou ist aber unsichtbar. Der Roboterarm ist feinfühliger und nachgiebiger als normale Industrieroboter - und soll künftig direkt mit Menschen zusammen arbeiten. "Die Roboter kommen sozusagen aus ihren Käfigen heraus. Sie werden uns im Alltag begleiten." Herkömmliche Industrieroboter in der Autoproduktion (AP Archiv) Wenn es wirklich so kommt, wäre das eine Revolution, an der Alin Albu-Schäffer maßgeblich beteiligt war. "Bis vor kurzem war allein schon über die rechtlichen Vorgaben eine Mensch-Roboter-Interaktion vollständig untersagt. Das heißt, man ging davon aus, dass Roboter gefährlich sind. Sie mussten hinter Gitterzäune oder Absperrungen mit Lichtschranken. Und sobald ein Mensch den Arbeitsraum des Roboters betreten hat, hatte der Roboter sofort stehen zu bleiben." In den Fabriken der Zukunft wird diese strikte Trennung der Arbeitsbereiche aufgehoben sein. Denn Firmen, die trotz immer kürzerer Produktzyklen konkurrenzfähig bleiben wollen, benötigen das Beste beider Welten: Die Intelligenz und Flexibilität ihrer Mitarbeiter, kombiniert mit der Produktivität von Robotern. Über kurz oder lang werden Mensch und Maschine deshalb vielerorts Hand in Hand arbeiten. "Und da ist es zum einen nötig, dass der Roboter den Menschen erkennt, mögliche Kollisionen erkennt. Und in keinem Fall darf ein Roboter einen Menschen verletzen. Das heißt, sie müssen letztlich auch sicherheitstechnisch nachweisen, den TÜV überzeugen, dass der Roboter auch in einem Fehlerfall für den Menschen nicht gefährlich werden kann." "Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit gestatten, dass ein menschliches Wesen zu Schaden kommt." Erstes Gesetz der Robotik, formuliert von Isaac Asimov, im Jahr 1950. Der Roboterarm, den Alin Albu-Schäffer mit entwickelt hat, kommt der Vision des berühmten Science-Fiction-Autors schon recht nahe. Das Serienmodell vom Augsburger Unternehmen KUKA besteht aus sieben oberarmdicken Elementen, die mit Gelenken verbunden sind. In jedem davon stecken ein Elektromotor und empfindliche Drehmoment-Sensoren, die genau spüren, welche Kräfte gerade wirken. Die ausgefeilte Sensorik macht den Roboterarm besonders feinfühlig. Berührt er ein Glas Wasser, das im Weg steht, stoppt er die laufende Bewegung so schnell, dass nichts verschüttet wird. Und weil sich über die Motoren regeln lässt, wie steif seine Gelenke sind, kann man einstellen, wie viel Kraft nötig ist, um ihn manuell in eine bestimmte Richtung zu bugsieren. Je nach Programmierung genügt mal ein Anstupsen mit dem Finger, damit der Arm zurückweicht, mal muss man kräftig drücken oder ziehen, damit er nachgibt. "Große Unternehmen wie Google haben plötzlich ein Interesse an diesen neuen Robotertypen, die nicht im klassischen Industrieumfeld operieren, sondern mit Menschen interagieren, sich frei bewegen. Und da braucht man einfach nachgiebige Roboter - Soft Robotics." Nachgiebige Roboter besonders für komplexe Aufgagen geeignet Flexibilität und Feinfühligkeit: das verspricht mehr Sicherheit im direkten Umgang mit dem Menschen. Es hilft aber auch, Aufgaben zu lösen, an denen normale Industrieroboter scheitern. "Je enger die Fassungen sind, je enger die Toleranzen bei den Bauteilen, je komplexer die Montage, umso mehr lohnt es sich, einen Roboter einzusetzen, der nachgiebig ist, der die Umgebung abtasten kann und der dann auch entsprechend die Kontaktkräfte minimiert. Man sieht auch, dass man wesentlich schnellere Fügezeiten hat, präzisere Fügevorgänge hat, einfach die Qualität und Geschwindigkeit des Prozesses steigt. Und manche Prozesse sind überhaupt nur durch diese Technologie möglich." Höherer Präzision dank Nachgiebigkeit? Das klingt nach einem Widerspruch. Zumal sich Roboterentwickler jahrzehntelang bemüht haben, ihre Maschinen möglichst starr und ohne Spiel zu bauen, damit sie die vorprogrammierten Bahnen millimetergenau einhalten. "Es ist in der Tat ein Paradigmenwechsel. Natürlich ist es einfacher, positionsgeregelte Roboter zu programmieren. Das Ganze ist viel vorhersehbarer. Allerdings hat man einfach Aufgaben, die sich damit nicht lösen lassen. Und da muss man auch eine ganz neue Art der Programmierung entwickeln. Man muss sich darauf einstellen, dass man sich situationsabhängig anpassen muss. Das heißt, das ist nicht eine lineare Abfolge von Griffen oder Bahnen, sondern es ist ein ständiges Beobachten und Reagieren auf die Umfeldsituation." Wie gut das schon funktioniert, zeigen Videos des feinfühligen Roboterarms: In einem greift er eine Metallbuchse, die vor ihm auf dem Tisch liegt und schiebt sie auf einen passenden Stift - Millimeterarbeit, die mit Kamerainformationen allein mühsam wäre. Deshalb nutzt die Maschine neben visuellen auch taktile Informationen. Sobald die Buchse den Stift berührt, wird der Arm etwas lockerer – und spürt dadurch, wie er die Teile ausrichten muss, damit sie zusammen passen. Diese Strategie wurde beim Menschen abgeschaut und hat sich bereits in der Praxis bewährt. "Daimler hat als einer der ersten Automobilhersteller schon 2009 zum Beispiel den Zusammenbau eines Differenzialgetriebes demonstriert. Das sind ganz enge Passungen, auch schwere Bauteile, 20 bis 25 Kilogramm, die für die Werker sehr unergonomisch waren. Das war einer der unbeliebtesten Arbeitsplätze dort in der Montage. Man hat früher mit klassischer Technologie versucht, den Prozess zu automatisieren, ist daran gescheitert, dass die Komplexität so hoch war und die Zuverlässigkeit zu gering, dass sich die Lösung wirtschaftlich nicht gelohnt hat. Jetzt wurden mehr als eine halbe Million solcher Differenzialgetriebe gebaut und mittlerweile ist man dabei, die Technologie sehr viel breiter in der Endmontage auch am Fließband einzusetzen." Wo genau Automobilkonzerne auf nachgiebige Roboter setzen, darf Alin Albu-Schäffer nicht verraten - die Projekte sind vertraulich. Aber dass es viele gibt, ist ein offenes Geheimnis. Die Branche ist im Umbruch und 'Soft Robotics' der Motor des Wandels. Und während die weichen Roboter der ersten Generation gerade Einzug in die Fabrikhallen halten, entwickeln Grundlagenforscher bereits Technologien für die nächste Generation. Sie tüfteln an Maschinen, die sich nicht nur nachgiebig verhalten, weil sie so programmiert wurden, sondern weil sie es von Natur aus sind – dank flexibler Materialien und elastischer Komponenten. Der Startschuss für das boomende Forschungsfeld fiel 2011 an der Universität Harvard. Wissenschaftler um Professor George Whitesides präsentierten damals eine neuartige Laufmaschine. Das handtellergroße, x-förmige Gebilde aus Silikon ist dehnbar wie Gummi. Es hat weder Achsen, Gelenke noch Motoren und kann sich dennoch bewegen – dank kleiner Luftkammern, die sich ausdehnen, wenn man Druckluft einbläst. Es sind pneumatische Muskeln, die die Glieder des Roboters krümmen, erklärte der Chemiker Dr. Stephen Morin 2012 bei einem Laborbesuch. "Wir haben hier eine Reihe computergesteuerter Ventile, verbunden mit einem Drucklufttank. Von fünf davon führt jeweils ein Schlauch zu den Muskeln des Roboters. Er hat einen für jedes Bein und einen fürs Rückgrat" Stephen Morin tippt ein paar Befehle in den Rechner. Die Magnetschalter der Ventile klackern und erwecken die wabblige Struktur zum Leben. "Zunächst krümmt sich der Rücken nach oben. Dann strecken sich die vier Glieder reihum ein Stück nach vorn und bewegen den Silikon-Vierbeiner im Schneckentempo vorwärts. Stößt er an ein Hindernis, lässt sich seine Gangart so anpassen, dass er flach wie eine Flunder wird. Mit einer wellenförmigen Bewegung zwängt er sich durch einen zentimeterhohen Spalt. Für normale Roboter ähnlicher Größe wäre die Reise an dieser Stelle zu Ende gewesen." "Das ist der große Vorteil unseres Ansatzes. Wir benutzen sehr simple Aktoren, um komplexe Bewegungen zu erzeugen. So können sich unser Soft Robots flexibel an ihre Umgebung anpassen." Verformbare Erkundungsroboter Mitte September präsentierten die Harvard-Forscher eine einen halben Meter lange Version ihres y-förmigen Vierbeiners. Neben Elektronik, Batterien- und Druckluftversorgung hat dieser auch eine Kamera an Bord und kann die Umgebung autark erkunden. Stephen Morin führt die Arbeiten heute als Professor an der University of Nebraska fort. Als eine denkbare Anwendung sieht er verformbare Erkundungsroboter, die kein Hindernis davon abhält, einen havarierten Atommeiler zu inspizieren. Oder elastische Greifer, die fragile Objekte anheben, ohne sie zu zerstören. Mit rohen Eiern ist ihm dieses Experiment bereits zu seiner Zeit in Harvard gelungen. "Weil die Materialen, die wir verwenden, so weich sind, können wir selbst so fragile Dinge wie eine narkotisierte Maus hochheben, ohne sie zu verletzen. Die Elastizität des Materials begrenzt die Kraft unseres Greifers. Selbst wenn wir die Luft mit so hohem Druck einpressen, dass die pneumatischen Muskeln zu platzen drohen, würde er keinem weh tun. Das ist der Vorteil weicher Roboter und macht sie sehr interessant für Einsatzbereiche, wo mit empfindlichen Objekten hantiert werden muss. " Die Italienerin Cecilia Laschi sieht das genauso. Für die Professorin am Institut für Biorobotik der Schuola Superiore Sant'Anna in Pisa sind weiche Strukturen der Schlüssel, um sensibel mit der Umwelt interagieren zu können. "Beim Greifen von Gegenständen spielt weiches Gewebe eine zentrale Rolle. Dennoch wurden Roboterhände jahrelang aus starren Strukturen mit glatten Oberflächen gebaut. Wenn wir Menschen Finger mit festen, glatten Oberflächen hätten, fiele es uns auch schwer, Objekte festzuhalten. Weiche Materialien werden uns hier einen entscheidenden Schritt weiter bringen." Handschlag zwischen Mensch und Maschine (dpa picture alliance / Christian Charisius) Cecilia Laschi hat das millionenschwere EU-Forschungsprojekt 'Octopus' koordiniert, das den Weg bereiten sollte. Im Juni 2014 präsentierte sie die Ergebnisse auf einem 'Soft Robotics'-Symposium in Stuttgart. "Unser Ziel war es, die Entwicklung von Robotern aus flexiblen Materialien voran zu treiben. Als Inspiration dienten uns Tintenfische. Diese Tiere besitzen kein Skelett und können sich dennoch fortbewegen, Dinge greifen und manipulieren. Mich hat beeindruckt, wie Oktopusse ihren Körper verändern können. Sie können fast jede Form annehmen und sich durch zentimeterbreite Öffnungen zwängen. Heutige Roboter können sowas nicht." Cecilia Laschis Vision sind wandlungsfähige Maschinen, die situations-abhängig ihre Form verändern, um bestimmte Aufgaben zu meistern. "Natürlich sind wir noch sehr weit davon entfernt, Roboter zu bauen, die sich wie ein Krake durch den Hals einer Flasche zwängen können. Aber wir haben einen schwimmenden Roboter gebaut, der Gegenstände am Meeresboden berühren kann, ohne sie zu beschädigen. Vielleicht werden solche weichen Maschinen künftig Schiffswracks oder ähnliches erkunden." Die Videos aus dem Labor zeigen, einen handtellergroßen Plastikkörper, der auf sechs Silikon-Tentakeln gemächlich über den Boden eines Wasserbeckens krabbelt. Vorne dran befinden sich zusätzlich zwei etwas längere und dickere Fangarme. Mit ihrer Hilfe kann der Robo-Octopus Gegenstände ertasten und festhalten. "Bewegt werden diese Manipulationsarme von Federn aus Formgedächtnislegierungen. Das sind Drähte, die ihre ursprüngliche Form annehmen, sobald man sie aufheizt. Wir müssen bloß einen Strom hindurch schicken – schon ziehen sie sich zusammen. Wir haben ringförmige Muskeln, die den Durchmesser des Armes verringern und ihn so verlängern. Und wir haben längs angeordnete Federn, die den Arm wieder verkürzen. " Die flexiblen Muskeln können die Greifarme in jede gewünschte Richtung biegen. Ihre Bewegung im Wasser wirkt ähnlich geschmeidig wie die echter Tentakel. Auch den Wasserstrahlantrieb, mit dem Tintenfische schwimmen, konnten die Forscher erfolgreich imitieren. Die Steuerelektronik des Robo-Octopus ist aber noch nicht biegsam, genauso wenig die Batterien für die Stromversorgung. Momentan erfolgt die noch über Kabel. "Wir haben unseren Roboter in einem Hafenbecken ins Wasser geworfen. Er ist geschwommen und dann über die Felsen am Grund gekrabbelt, ohne die Muscheln, die dort wachsen, zu beschädigen." Ob die Nachfolger des Weichlings künftig einmal Korallenriffe kartieren, Unterwasser-Turbinen inspizieren oder Militärhäfen auf Minen absuchen? Denkbar wäre vieles. Im Folgeprojekt PoseiDrone entwickeln Forscher die Technologie jetzt weiter. Doch die elastischen Tentakel mit ihren flexiblen Muskeln und Sensoren werden auch auf dem Trockenen Anwendung finden, ist Cecilia Laschi überzeugt. "In einem EU-Folgeprojekt entwickeln wir ein Endoskop, dessen Steifigkeit der Arzt während einer Untersuchung verändern kann. Damit ließe sich verhindern, dass bei minimal-invasiven Operationen empfindliches Gewebe verletzt wird. Außerdem sind wir dabei, unsere Erkenntnisse auf Industrieroboter zu übertragen. Wir wollen einen Greifer entwickeln, mit dem die Lebensmittelindustrie Obst und Gemüse sortieren kann. Oder Helfer für die Luftfahrtindustrie. Bei Flugzeugen sind kritische Bauteile – etwa in einem Triebwerk - oft schwer zugänglich. Ein Wartungsroboter, den man zusammen quetschen kann wie einen Oktopus, wäre da sehr praktisch." Noch ist das Zukunftsmusik. Doch viele der Komponenten, die nötig sind, um die kühne Vision von verformbaren Maschinen zu verwirklichen, werden schon erprobt: Flexible Elektronik aus Plastik wird immer leistungsfähiger; elastische Sensoren, die dehnbar wie Gummi sind, werden ständig robuster und vielseitiger; künstliche Haut, die Maschinen ein Gespür für ihre Umgebung verleiht, wird immer sensibler; und alle paar Wochen veröffentlichen Forscher neue Arbeiten über noch kräftigere künstliche Muskeln auf der Basis von elektroaktiven Polymeren, Formgedächtnislegierungen oder Kohlenstoffnanoröhren. Im August 2014 zum Beispiel präsentierten Harvard-Forscher eine Art Origami-Roboter: Eine millimeterdünne Folie, die sich wie von Geisterhand bewegt zu einem vierbeinigen Gebilde faltet und davon krabbelt. Allerdings wirken die Bewegungen noch so unbeholfen, dass diese Art weicher Roboter in den nächsten Jahren sicher keinem konventionellen Blechkameraden Konkurrenz macht. "Die Roboter kommen sozusagen aus ihren Käfigen heraus. Sie werden uns im Alltag begleiten." "Sie kennen ja sicher die Robotik-Gesetze von Asimov. Im Grunde besagen die, dass ein Roboter nie einem Menschen einen Schaden zufügen darf." Maschinen aus weichen Materialien, die so feinfühlig und geschmeidig agieren, wie biologische Vorbilder – das ist das Fernziel der Entwickler. Die ersten Schritte auf dem Weg dorthin sind derzeit in dutzenden Labors zu bestaunen. Bis die Grundlagenforschung in serienreife Produkte mündet, werden aber noch Jahre vergehen. Die Robotik-Experten beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen arbeiten deshalb an einer Zwischenlösung. "Jetzt sind wir hier bei der neuesten Entwicklung" Alin Albu-Schäffer steht vor 'HASI', dem Hand-Arm-System: Ein mannshoher Torso, bestückt mit zwei Armen, deren Funktionalität dem menschlichen Vorbild ähnelt – inklusive Hand mit fünf Fingern. "Was sie sehen: Ich kann mit dem Roboter immer interagieren. Ich kann ihn an der Hand fassen, ich kann ihm Bewegungen vorführen." Der Ingenieur schiebt und zieht die rechte Hand des Roboters in immer neue Positionen. Der Roboter leistet je nach Programmierung mal mehr, mal weniger Widerstand gegen bestimmte Bewegungen und verharrt dann automatisch in der Endposition. All das können die neuesten kommerziellen Assistenzroboter auch schon. Doch HASI kann noch mehr. "Der Unterschied ist jetzt bei diesem neuen Roboterkonzept, dass der Roboter nachgiebig ist, auch wenn die Motoren komplett ausgeschaltet sind. Jetzt sind die Motoren komplett ausgeschaltet. Und sie sehen: Das ist praktisch die intrinsische Steifigkeit des Systems. Sie sehen: Das ist sehr sehr nachgiebig." Drückt man HASIs Hand jetzt nach hinten, gibt der Arm ein paar Zentimeter nach und federt dann wie ein träges Pendel zurück. Mechanische Federn in jedem Gelenk machen's möglich, erklärt Projektleiter Sebastian Wolf. "Wir können die Nachgiebigkeit auch verstellen. Also ähnlich wie der Mensch: Wir können die Muskeln anspannen oder locker lassen. Das sehen wir jetzt hier aktuell. Sie sehen: Der Roboter hebt sich ein Bisschen aus der Gravitation heraus und spannt seine Muskeln an. Dadurch ändert sich dann die Frequenz mit der er schwingt. Und je nachdem, was man mit dem Roboter gerade machen will, ist es eben vorteilhaft, die Muskeln anzuspannen oder locker zu lassen. Ähnlich wie der Mensch auch: Je nachdem, was man gerade in die Hand nehmen will, hat man's lieber leicht uns soft in der Hand oder eben angespannt, damit's einem nicht aus der Hand fällt." Die eingebaute Elastizität hat ihren Preis. Die Zahl der Antriebe pro Gelenk verdoppelt sich. 52 Elektromotoren stecken in jedem Arm. Sie samt Steuerelektronik darin unterzubringen, war knifflig, sagt Sebastian Wolf. "Diese Technologie, dass wir diese echten mechanischen Federn in dem System haben, das bietet ganz neue Möglichkeiten in unserem robotischen Umfeld. Eben, dass wir einen robusteren Roboter erhalten, und dass wir diese Energien auch nutzen können, um Bälle zu werfen oder schnelle Bewegungen auszuführen – ähnlich wie der Mensch." Weil HASIs Gelenkfedern potenzielle Energie speichern, kann er seine Muskeln vorspannen und dann zurück schnellen lassen - wie ein Handballspieler, der mit Wucht aufs Tor wirft. Auf diese Weise lassen sich kraftvolle und schnelle Bewegungen erzielen, die ähnlich kompakte Roboterarme bislang nicht schaffen. Ein weiterer Vorteil der eingebauten Elastizität: Sie schützt bei Kollisionen. Und zwar auch dann, wenn das Steuerungsprogramm, das die Maschine zähmt, einmal abstürzen sollte. Für künftige Mensch-Maschine-Interaktionen am Fließband oder im Haushalt ein Sicherheitsvorteil, betont Alin Albu-Schäffer. "Wenn man diese Nachgiebigkeit physikalisch realisiert, ist die auch beim vollständigen Versagen der Software immer noch da. Sie haben eine Restsicherheit, zum einen. Zum andern haben sie eine Nachgiebigkeit, die ihrer Software die Zeit gibt, auch auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Sie müssen sich vorstellen: Wenn sie mit einem starren Roboter gegen einen Tisch fahren oder einen Menschen berühren, dann bauen sich innerhalb kürzester Zeit sehr große Kräfte auf. Durch diese elastische Aktuierung haben sie einfach eine gewisse Zeit, die notwendig ist, um diese Feder zu spannen. Und in dieser Zeit baut sich die Kraft nur recht langsam auf. Dadurch haben sie Zeit, entsprechend zu regieren, zum Beispiel den zu stoppen, die Richtung zu ändern oder über Software noch nachgiebiger zu machen. " "Es muss ein Roboter sein, der für Menschen nicht gefährlich ist" Der klügere Roboter gibt nach. Genau wie wir Menschen, wenn wir bei einem Sturz instinktiv unsere Muskeln lockern, um den Aufprall zu dämpfen. Weichheit macht robuster und hilft unerwartete Ereignisse heil zu überstehen. Das gilt für Menschen und Maschinen. "Ich bin mir sicher, dass Roboter, die sich zwischen Menschen bewegen – sagen wir mal die Fernvision eines Haushaltsroboters, der Ihnen hilft den Frühstückstisch abzuräumen – dass dieser Roboter kein starrer, stur vorgegebenen Bahnen folgender Roboter sein wird, sondern ein nachgiebiger. Es muss ein Roboter sein, der für Menschen nicht gefährlich ist, der auch mal Fehler machen kann, irgendwo dagegen stoßen kann, ohne kaputt zu gehen oder irgendwas zu zerstören. Das heißt, in unbekannten Umgebungen, in schwer modellierbaren, veränderlichen Umgebungen werden wir diese Nachgiebigkeit brauchen. Definitiv." Diese Erkenntnis hat sich vielerorts durchgesetzt. Der schwäbische Maschinenbauer FESTO aus Esslingen zum Beispiel präsentierte 2010 den Prototypen eines 'bionischen Handlingassistenten', dessen Form und Funktionsweise einem Elefantenrüssel nachempfunden ist. Der armlange Rüssel, dessen Entwickler 2010 den Deutschen Zukunftspreis erhielten, besteht fast komplett aus Plastikbauteilen aus dem 3D-Drucker. Seine balgförmigen Muskeln werden von Druckluft angetrieben, genau wie der sensible dreifingrige Greifer an seiner Spitze. Weil der bionische Arm nur zwei Kilogramm wiegt und seine pneumatischen Muskeln nachgiebig sind, ist er für Menschen ungefährlich. Der Ingenieur Dr. Peter Post, bei FESTO für die Technologieentwicklung zuständig, formulierte es damals so. "Es passiert nichts, wenn dieser Handling-Assistent gegen mich, meinen Arm oder selbst mein Gesicht, dagegen kommt. Das ist ein nachgiebiges elastisches System. Ich sag' spaßeshalber immer: Ich könnte mich in einen ganzen Wald solcher Handling-Assistenten hineinsetzen, ohne dass mir etwas passieren würde. Diese Nachgiebigkeit ist eigentlich auch das Alleinstellungsmerkmal von unserem System. Und dadurch haben wir die Sicherheitsfunktion von vornherein integriert." Und das, schwärmten die Entwickler damals, mache völlig neue Anwendungen denkbar. So könnte der flexible Rüssel einmal beim Äpfelpflücken helfen oder einem Automechaniker unter der Hebebühne Werkzeuge reichen. Er könnte Kranken das Kissen aufschütteln oder einem Rollstuhlfahrer im Supermarkt die Cornflakes aus dem Regal angeln. Fünf Jahre später ist noch keine dieser Visionen Wirklichkeit, doch bei FESTO arbeitet man daran. Dank eingebauter Kamera kann der Rüssel Objekte inzwischen eigenständig erkennen und greifen. Er reagiert auf Sprachbefehle und rollt auf einer fahrbaren Plattform durch den Raum. "Und das hat insgesamt das Feld voran gebracht, auch die Aufmerksamkeit auf das Feld gerichtet. Ich weiß, dass das System noch im Entwicklungsstadium ist. Wir werden auf jeden Fall in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Ansätzen auf dem Markt sehen. Und da werden bestimmt unterschiedliche Nischen für unterschiedliche Produkte sein." Die erste Generation nachgiebiger Roboter sind mittels Elektronik und Software 'verweichlichte' Blechkameraden und gerade auf dem Vormarsch an die Werkbänke. Ihre Ankunft wird eine neue Ära der Mensch-Maschine-Interaktion einläuten. Alin Albu-Schäffer: "Man ist jetzt gerade in dem Übergangsprozess, in dem die Zulassungsprozeduren ausgearbeitet werden. Der Gesetzgeber bewegt sich jetzt auch nach und nach und passt sich dieser neuen Situation an. Man muss tatsächlich auch ein Bisschen herausfinden: Wo sind die Grenzen des Machbaren? Man fängt vielleicht ein Bisschen konservativ an, weil man ja auf keinen Fall Unfälle verursachen will, um das Feld nicht in einen schlechten Ruf zu bringen. Das heißt, man fängt jetzt mit konservativen Grenzwerten an und wird sich über die Jahre, wenn immer mehr Arbeitsplätze mit solchen Robotern ausgestattet sind, da hintasten, wo das Optimum liegt." Die 'Soft Robots' der zweiten Generation, die zumindest zum Teil aus weichen Materialien bestehen, benötigen noch Jahre der Entwicklung. Um sie voranzutreiben, sagt Cecilia Laschi, komme es jetzt vor allem auf eines an: Zu demonstrieren, dass Maschinen aus Silikon, Gummi und Co. bestimmte Aufgaben tatsächlich effektiver lösen als heutige Roboter. "Die vielen Prototypen, die entwickelt wurden, beweisen: Weiche Roboter sind prinzipiell machbar. Was wir jetzt brauchen, sind richtige Anwendungen."
Von Ralf Krauter
In Fabrikhallen bahnt sich eine Revolution an: Industrieroboter verlassen allmählich ihre Käfige und sollen Hand in Hand mit Menschen arbeiten. Damit es dabei nicht zu Unfällen kommt, ist ein neuer Typus intelligenter Maschinen gefragt.
"2014-12-21T16:30:00+01:00"
"2020-01-31T14:13:36.344000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/robotik-der-kluge-roboter-gibt-nach-100.html
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"Er hätte sich ein Beispiel an Gündogan nehmen sollen"
Ex-"Kicker"-Chefredakteur Rainer Holzschuh gibt Mezut Özil die Hauptschuld an der jetzigen Diskussion um seine Person (dpa/ picture alliance/ Ina Fassbender) Dirk Müller: Mesut Özil ist seit Jahren umstritten im DFB-Team, auch in der Öffentlichkeit – oft wegen seiner sportlichen Haltung, seiner sportlichen Einstellung. "Jammerlappen" heißt es da häufig. "Wo ist der Kampfgeist auf dem Platz", wurde häufig gefragt. Jetzt hat der Weltmeister von 2014, wir haben es gehört, selbst die Konsequenzen gezogen und er spielt nicht mehr für Deutschland. – Am Telefon ist nun Rainer Holzschuh, viele Jahre lang Pressesprecher des Deutschen Fußballbundes, für viele Jahren Chefredakteur und dann anschließend Herausgeber des "Kicker", und das ist er immer noch. Guten Tag. Rainer Holzschuh: Schönen guten Tag. Müller: Sind Sie froh, dass er geht? Holzschuh: Jein! Auf der einen Seite ist er ein wunderbarer Fußballer, technisch einer der besten, die wir je in der deutschen Nationalmannschaft hatten, der auch viel für die Weltmeisterschaft 2014 zum Beispiel, dass wir Weltmeister geworden sind, getan hat. Auf der anderen Seite ist er einer, wenn wir das rein Sportliche sehen, der in dem Moment, wo die Mannschaft nicht mehr gut spielt, wo die Mannschaft droht unterzugehen, als erster mit die Segel streckt, und insofern ist er kein Häuptling, sondern ein Indianer. In guten Momenten sensationell, in schlechten eigentlich ein Versager. Aber was mich mehr stört ist die Art und Weise, wie er die gesamte Geschichte jetzt um Erdogan aufarbeitet. Das ist wirklich ein Rundumschlag, der mich sehr, sehr stört. "Es ist alles schiefgelaufen, was mit diesen Erdogan-Fotos zusammenhängt" Müller: Das heißt, er geht da in die falsche Stoßrichtung aus Ihrer Sicht? Holzschuh: Es ist alles schiefgelaufen, was mit diesen Erdogan-Fotos zusammenhängt. Dass man die Sensibilität nicht hatte, im Wahlkampf der Türken sich mit Erdogan zur Verfügung zu stellen, ist die eine Sache. Dass man aber, nachdem es zu einem quasi Ausgleichsgespräch mit sogar dem Bundespräsidenten Steinmeier gekommen ist, dann immer noch schweigt und den Medien nicht Rede und Antwort steht und damit auch die gesamte Öffentlichkeit, die ja eigentlich den Fußballer Özil, hoch bezahlt, mit Millionen und Abermillionen bezahlt, dann vor den Kopf stößt, das ist die andere Seite. Das missfällt mir am meisten und natürlich dieser Rundumschlag. Müller: Aber das wusste der DFB, das wusste die Öffentlichkeit ja auch im Vorfeld. Trotzdem hat er gespielt, trotzdem hat der DFB ja nicht viel dazu gesagt. Warum nicht? Holzschuh: Weil man sich aus dem Sportlichen rausgehalten hat und bekanntermaßen Jogi Löw als Bundestrainer einer der ganz großen Verfechter von Mesut Özils Leistungen ist. Er hat ja auch nicht nur schlecht gespielt bei der Weltmeisterschaft in diesem Jahr, sondern er hat gute Sachen gemacht, aber nicht eine dominante Rolle gespielt. Deswegen hat der DFB sich eigentlich auch zurecht rausgehalten, weil er dem Bundestrainer nicht reinreden wollte. Dass man auch beim DFB Fehler gemacht hat, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Müller: Welche denn? Wenn Sie sagen, es war zurecht so gehandelt worden, was hat der DFB falsch gemacht? Holzschuh: Der DFB hätte zwischendurch ihm wirklich ganz klipp und klar sagen müssen und ihn auch wirklich dazu bringen müssen, überzeugend dazu bringen müssen, dass er sich der Öffentlichkeit stellt. Sehen Sie das Beispiel Gündogan. Gündogan hat genau wie Özil mit Erdogan auf dem Foto posiert. Beide haben diese Tat auch mit Hintergrund hinter sich gebracht. Gündogan ist in die Öffentlichkeit gegangen, über den redet niemand mehr. Über Özil, der sich immer verweigert hat, Özil, der immer seinen eigenen Weg gegangen ist, Özil, der auch ein sehr großes Beraterteam hinter sich weiß, dem er blind vertraut hat, ist den anderen Weg gegangen, und dieses Vertrauen in sein Beraterteam ist eigentlich, wenn man es jetzt sieht, schmählich hintergangen worden. Grindel vs. Özil Müller: Aber dann ist das auch eine Kritik an Jogi Löw, wie Sie eben argumentiert haben, Herr Holzschuh, wenn ich Sie richtig verstanden habe? Der hat es im Grunde nicht zugelassen, dass man ihn mehr oder weniger dann "gezwungen" hat, doch in die Öffentlichkeit zu gehen? Holzschuh: Nein! Jogi Löw hat sich eigentlich sportlich hinter ihn gestellt. Wie Jogi Löw in diese Öffentlichkeitsaffäre mit hineingekommen ist, ob er ihn hätte vielleicht auch bereden müssen, ist eine ganz andere Frage. Es geht hier um den DFB. Grindel hat versucht, ihn dazu zu bewegen, in die Öffentlichkeit zu gehen, und Özil hat sich verweigert. Das sind die beiden Antipoden, die dann aufeinandergestoßen sind und die jetzt in Özils Aussagen ganz kräftig sich gegenseitig abwatschen. Müller: Und dann war es damals, kurz vor der WM, die richtige Konsequenz, trotzdem zu sagen, Du darfst dennoch spielen? Holzschuh: Von DFB-Seite konnte man nichts anderes tun, weil man sich ja nicht sportlich hineinmischen wollte. Wenn der Bundestrainer sagt, ich will den haben, kann der DFB aus meiner Sicht heraus schlecht sagen, nein, Du darfst ihn trotzdem nicht mitnehmen. Es war ja keine Staatsaffäre in dem Sinne, wenn sich ein Spieler mit einem ausländischen Staatspräsidenten, auch wenn der als Autokrat auftritt und viele, viele Dinge verkehrt macht, zur Verfügung stellt. Da kann der DFB für meinen Begriff nicht eingreifen. Insofern sehe ich das schon richtig. Müller: Jetzt kam, Herr Holzschuh, die desaströse Leistung der deutschen Nationalmannschaft dazu, und dann hat der DFB nach dem Ausscheiden vor allem einen sportlichen Schuldigen gefunden - so haben das jedenfalls viele verstanden -, nämlich Mesut Özil. Wir haben eben ein Statement von Oliver Bierhoff eingespielt, wo er gesagt hat, so war das eigentlich gar nicht gemeint, ich wollte ihm da nicht die Hauptschuld geben. Und dann kommt der Punkt Respektlosigkeit dazu, wie Özil das jetzt ausdrückt, und vor allem Rassismus. Es hat einen großen Shitstorm, wie man das heutzutage ja nennt, im Internet gegeben, wo er angefeindet wurde, wo er beleidigt wurde, diskriminiert wurde, und ab diesem Zeitpunkt spätestens vermisst Mesut Özil eine klare Stellungnahme des DFB dagegen von Reinhard Grindel. Warum hat der DFB-Chef das nicht gemacht? Holzschuh: Das weiß ich nicht, warum er das nicht getan hat. In der Tat hätte ich dann auch erwartet, dass vom DFB eine Aussage kommt, die Mesut Özil zumindest nicht als Rassisten darstellt. Dass der Shitstorm, dass die sozialen Medien heutzutage eine Plattform bilden für unsägliche Kommentare und unsägliche Anschuldigungen, das ist uns allen bewusst und das ist eigentlich das Negative an diesem gesamten wunderbaren Internet, dass da Meinungen breitgetreten werden, die nichts, aber auch gar nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Da hätte der DFB Özil in der Tat verteidigen müssen … Özils Äußerungen sind "völlig einseitig" Müller: Auch Oliver Bierhoff, den Sie so gut kennen und schätzen? Warum hat Oliver Bierhoff nichts gesagt? Der sagt doch viel sonst. Holzschuh: Das weiß ich nicht. Da muss man Oliver Bierhoff selber fragen, warum er sich da nicht geäußert hat. Wir kennen alle, Sie und ich nicht und auch alle, die in den Medien schreiben, nicht die wirklichen Hintergründe, was im Kopf von Bierhoff, was im Kopf von Grindel, was im Kopf von Özil und was im Kopf auch von Löw passiert. Ich weiß nur, dass Özil unheimlich schlecht beraten ist, auf diese Art und Weise eine Situation daraus zu machen, die jetzt wirklich eine staatspolitische Dimension aufgeworfen hat, und das halte ich für absolut überzogen. Zumindest sage ich aber auch, Özil hat sich jetzt in einer Art und Weise geäußert, die völlig einseitig ist und nichts mit dem zu tun hat, was eigentlich ursprünglich dahinter gesteckt hat. Müller: Aber trotzdem, wenn wir da noch einmal bleiben. Das ist jetzt zumindest groß in der politischen Diskussion, auch in der gesellschaftlichen Diskussion. Wir haben mit dem Sport begonnen, jetzt sind wir bei der politischen Dimension, Rassismus, Respektlosigkeit, Despektierlichkeit, wie auch immer. Sie sagen, das haben die beiden klipp und klar versäumt, sich da hinter ihn zu stellen und zu sagen, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, so was geht nicht. Wie schädlich ist das für den DFB? Wie schädlich ist das für den deutschen Fußball? Holzschuh: Leider vergisst man, was der DFB in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für die Integration getan hat, wie viele Nationalspieler er hervorgebracht hat, die ausländische Abstammung haben, die aus allen Kreisen dieser Welt stammen. Ob das nun Podolski oder Klose ist, ob das Mustafi, auch ein Weltmeister von 2014, Boateng, ein Weltmeister von 2014, Khedira ebenso ist, ob das Owomoyela oder Cacau ist, das sind alles Leute, die beim DFB ein Zuhause gefunden haben. Der einzige und erste, der jetzt eigentlich dieses alles negiert, ist Mesut Özil, und das werfe ich ihm persönlich vor. Ich kenne viele, viele Projekte vom DFB, die eigentlich wirklich wunderbar diese Integration unterstützen und wo jeder Präsident des DFB in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sich dafür eingesetzt hat. "Die Hauptschuld sehe ich bei Mesut Özil" Müller: Herr Holzschuh, ich muss da jetzt noch mal einhaken und nachfragen bei Ihnen. Sie sagen, das werfen Sie Mesut Özil vor. Ist das denn Ursache und Wirkung vertauscht? Özil hat ja gesagt, warum hat sich keiner schützend vor mich gestellt beim DFB. Da haben Sie gesagt, das ist ein Defizit gewesen. Also hat der DFB doch eine Mitverantwortung! Holzschuh: Natürlich hat er eine Mitschuld und eine Mitverantwortung. Aber die Hauptschuld sehe ich bei Mesut Özil, der das alles großgetreten hat, der sich sechs Wochen lang nicht geäußert hat und jetzt, nach der Weltmeisterschaft, nach sechs Wochen plötzlich ankommt und sagt, alles böse vom DFB und wir sind die Guten. Müller: Er ist rassistisch beschimpft worden. Das haben Sie ja auch mitbekommen. Das haben Sie ja auch kritisiert. Darüber haben Sie auch geschrieben. Holzschuh: Das habe ich genauso kritisiert in der Öffentlichkeit. Aber dieser Shitstorm in den sozialen Medien hat ja nichts mit Politikern zu tun, hat ja nichts mit dem DFB zu tun, hat ja nichts mit den Medien zu tun. Das sind Einzelmeinungen und wir alle verurteilen ja diesen Shitstorm in den öffentlichen sozialen Medien aufs Schärfste. Das darf aber den Mesut Özil nicht dazu bringen, dass er jetzt auch einen Rundumschlag gegen alle macht, gegen die Medien genauso wie gegen den DFB. Müller: Können Sie das nicht nachvollziehen, dass er total enttäuscht ist, gerade von Reinhard Grindel oder auch vor allem von Oliver Bierhoff? Holzschuh: Ich könnte es dann nachvollziehen, wenn Mesut Özil sich in der Zwischenzeit mal bekannt hätte zu irgendwelchen Ideen von ihm, zu irgendwelchen Statements geäußert hätte. Das hat er ja nicht getan. Er hat geschwiegen, und sechs Wochen lang oder sieben Wochen lang schweigen und nichts dazu zu sagen und eigentlich jede Vermutung wieder ins Uferlose springen zu lassen, das ist für mich der Fehler. Und er hätte sich ein Beispiel an Gündogan nehmen sollen. Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Rainer Holzschuh, der Herausgeber des Fußball-Magazins "Kicker". Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben, Ihnen noch einen schönen Tag. Holzschuh: Danke. Und tschüss! Müller: Tschüss. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rainer Holzschuh im Gespräch mit Dirk Müller
Nach dem Ausscheiden aus der Fußballnationalmannschaft hat "Kicker"-Herausgeber Rainer Holzschuh Mesut Özils Verhalten kritisiert. Ihn treffe die Hauptschuld in dieser Angelegenheit, sagte er im Dlf. Özil habe nach den Fotos mit dem türkischen Präsidenten Erdogan viel zu spät Stellung bezogen.
"2018-07-23T12:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:02:56.832000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kicker-herausgeber-zur-causa-mesut-oezil-er-haette-sich-ein-100.html
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Ramelow kritisiert Kurs seiner Partei
Viele politische Akteure, zahllose Milizen im Land, die Lage in Libyen ist verworren. Seit wenigen Tagen erst ist eine Übergangsregierung im Amt, ob sie zu einer dauerhaften Stabilisierung führt, ist noch nicht abzusehen. Und doch strebt Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, mit Libyen eine ähnliche Lösung wie mit der Türkei an. Das sagte die CDU-Chefin gestern vor Delegierten der Berliner Landes-CDU. Um EU-Außengrenzen zu schützen gebe es keinen anderen Weg als Verabredungen mit Nachbarstaaten zu treffen. Innenminister Thomas de Maiziere, CDU, hatte zuvor gesagt, dass er mit einem großen Andrang von Flüchtlingen aus Afrika rechne. Die Zahl von bis 200.000 Menschen, die in Libyen auf ihre Überfahrt warten, die de Maiziere gestern in Berlin nannte, kursiert schon länger aus Sicherheitskreisen. Opposition skeptisch zu möglichem EU-Libyen-Deal Professor Andreas Dittmann von der Universität Gießen kennt als Konfliktforscher die Lage in Libyen und sieht das Land als Sprungbrett auf der Flucht nach Europa. Dittmann im Deutschlandfunk: "Das ist eine realistische Gefahr. Das ist auch nichts, was neu erscheinen würde. Der kürzeste Weg von den Armenhäusern Subsahara Afrikas Weg durch die Sahara ans Mittelmeer ist der Weg durch Libyen. Das ist ein Faktor, der diese Route quasi vorgibt. Der andere die schon erwähnte Schwäche des libyischen Staates, keine Zollkontrollen, wo Schlepper Menschen aus Eritrea, aus Niger ins Land bringen können." Die politische Opposition blickt mit den Erfahrungen im östlichen Mittelmeer skeptisch auf das Ansinnen eines EU-Libyen-Deals. Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, kritisiert im Deutschlandfunk dass weder in Griechenland noch der Türkei die Menschenrechte gewahrt werden und befürchtet, dass dies wegen des Flüchtlings-Deals hingenommen werde. Amtsberg bezweifelt Erfolg des EU-Türkei-Abkommens Luise Amtsberg: "Der Punkt ist, dass wir das menschenrechtlich vertretbar gestalten müssen. Und da hätte ich mir gewünscht, dass die Bundesregierung statt einer Einigung mit der Türkei einfach zuzustimmen, ohne das menschenrechtlich zu kontingentieren, dafür zu sorgen, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention umsetzt, das wären richtige Schritte gewesen." Sie glaube nicht, dass das EU-Türkei-Abkommen wirklich dauerhaft funktionieren werde. Derzeit kommen nach dem Ende der Balkanroute deutlich weniger Flüchtlinge in Deutschland an. Das teilte Bundesinnenminister Thomas de Maizière gestern in Berlin mit. Trotzdem übt die Bundesregierung Druck auf die Länder aus: Sie sollten laut Kanzleramtsminister Peter Altmaier die Zahl der Abschiebungen verdoppeln. "Wir hatten im letzten Jahr 37.220 freiwillige Rückkehrer und 22.200 Abgeschobene", sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Ein realistischer Maßstab für 2016 wäre eine Verdoppelung dieser Zahlen. Da sind die Länder gefordert." Auch die parteiinternen Debatten um die Flüchtlings- sowie Integrationspolitik gehen weiter, es bleibt das dominierende innenpolitische Thema: Ramelow: Die Ängste der Menschen ernstnehmen Angesichts des Anstiegs der Umfragewerte der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland hat Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow scharfe Kritik am Kurs seiner Partei geäußert. "Wir müssen endlich die Ängste der Menschen ernst nehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, statt sie zu bekämpfen", sagte Ramelow der "Thüringer Allgemeinen". Der Thüringer Regierungschef kritisierte Vertreter seiner Partei, die versuchten, "die Tonlage der AfD zu imitieren". Dabei griff er auch die Bundestagsfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht an. Die Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peter forderte nach dem Rückgang der Flüchtlingszahlen in Deutschland in der Neuen Osnabrücker Zeitung, freie Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen zur Entlastung Griechenlands zu nutzen. Die Grünen treffen sich heute in Berlin zu einem sogenannten Länderrat, der wie ein kleiner Parteitag ausgelegt ist.
Von Nadine Lindner
Auf die gestiegenen Umfragewerte der AfD reagiert Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow mit Kritik an der Flüchtlingspolitik seiner eigenen Partei. Die Linke müsse endlich die Ängste der Menschen ernst nehmen. Ramelow kritisierte Vertreter seiner Partei, die versuchten, die Tonlage der AfD zu imitieren. Dabei machte er auch vor Bundes-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht nicht Halt.
"2016-04-09T12:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:23:03.233000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-linke-ramelow-kritisiert-kurs-seiner-partei-100.html
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Graben zwischen Reformern und Traditionalisten
Walter Kasper und Gianfranco Ravasi - der Reformkurs der beiden Bischöfe wurde bei der Synode mehr als kritisch beäugt. (picture alliance / dpa / Fabio Frustaci / Eidon) "Zweifelsfrei muss die Kirche, was diese heiklen Punkte angeht, wie Homosexualität und die Zulassung geschiedener Wiederverheirateter zur Kommunion, für alle Menschen offen sein, ein Haus mit offenen Türen sein. Sie muss offen sein, zuzuhören. Sie muss bereit sein, die Veränderungen der Gesellschaft wahrzunehmen." Gianfranco Ravasi, Kardinal, vatikanischer Kulturminister, Papstvertrauter und Mitglied der außerordentlichen Familiensynode, scheint sich Mut machen zu wollen. Der von Ravasi mitgetragene Reformkurs ging nicht siegreich aus der Synode hervor. Die 191 Synodalväter haben, Paragraf für Paragraf, über jeden einzelnen Punkt des Abschlussdokuments per Knopfdruck abgestimmt. Als von der Synode angenommen galt ein Paragraf, wenn er eine Zweidrittelmehrheit erhielt. Und diese Mehrheit erhielten die beiden wichtigsten Streitpunkte der Synode nicht; und zwar die Forderung nach einer vorsichtigen Öffnung gegenüber homosexuellen Menschen und Lebensgemeinschaften sowie die Zulassung geschiedener Wiederverheirateter zur Kommunion. Zwei Punkte, die gerade den Reformern unter den Synodalvätern, vor allem dem deutschen Kurienkardinal Walter Kasper, ein enger Vertrauter von Papst Franziskus, besonders am Herzen liegen. "Eine Veränderung des Blickes" Auch der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn gehört zu den Reformern: "Die Lehre ist unveränderlich. Aber es gibt eine Veränderung des Blickes. Eine Veränderung nicht nur darüber zu reden, sondern damit umzugehen." In diesem Sinn fielen auch die Synodalbotschaft und der Abschlussbericht der außerordentlichen Familiensynode aus. "Christus hat gewollt", heißt es in der Synodalbotschaft, "dass seine Kirche ein Haus ist, das immer eine offene Tür hat, ohne jemanden auszuschließen". Die katholische Kirche, so das offizielle Fazit des Abschlussberichts, heißt jeden willkommen. Heikle Themen spricht der Bericht allerdings nicht an. Die Botschaft wie auch der Abschlussbericht enthielten keine Hinweise auf die zum Teil scharfen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fraktionen, die sich während der Synode gegenüberstanden – zwischen den Befürwortern einer Reform und den Traditionalisten, zu denen unter anderem Gerhard Ludwig Müller gehört, oberster Glaubenswächter der katholischen Kirche. Er hatte immer wieder betonte, dass "weder die Kardinäle noch die Bischöfe und auch nicht der Papst die Doktrinen der Kirche verändern können". Aussagen des Zwischenberichtes fehlen Der mit großer Spannung erwartete Abschlussbericht der Synode enthielt nicht mehr die erstaunlich offenen Aussagen des synodalen Zwischenberichts von vergangenem Montag. Darin war zum Beispiel die Rede von den "Gaben und Eigenschaften" Homosexueller, die die "Kirche bereichern können". Aussagen dieser Art sorgten bei den traditionell orientierten Synodalvätern nicht nur für scharfe Reaktionen. Wie die italienische Tageszeitung "Corriere della sera" am Sonntag enthüllte, scheinen sich einige der Traditionalisten während der Synode an den emeritierten Papst Benedikt XVI. gewandt zu haben. Mit der Bitte, Position gegen die Reformwilligen zu beziehen. Benedikt XVI. soll sie aber ohne viele Worte an seinen Nachfolger verwiesen haben, denn, so wird Ratzinger zitiert, der Papst sei Franziskus. Auch wenn der Abschlussbericht gemäßigter ausfiel als der eher reformorientierte Zwischenbericht, bezeichnete Kardinal Kasper die außerordentliche Synode als "gewaltigen Schritt nach vorn". Vor allem weil zum ersten Mal überhaupt bei einer Synode ganz offen auch heikle Themen diskutiert wurden. Christian Weisner von der Laienorganisation "Wir sind Kirche" ist, jedenfalls auf den ersten Blick, mit dem Abschlussbericht zufrieden: "Es kommt jetzt darauf an, dass wir auch in den einzelnen Ländern, wie in Deutschland, dass wir diese Debatte weiter führen, dass wir konkrete Lösungen anbieten, wie soll es mit geschiedenen Wiederverheirateten weitergehen, wie sollen Homosexuelle in der Kirche nicht nur anerkannt, sondern auch integriert werden." Traditionalisten gegen Reformer Die Synode machte deutlich, dass zwischen Traditionalisten und Reformen ein tiefer Graben besteht. Es liege jetzt, so der römische Vatikanexperte Sandro Magister vom Wochenmagazin "L'Espresso", "beim Papst, die beiden Seiten zusammenzubringen, um den zukünftigen Kurs der Kirche zu bestimmen." Der Abschlussbericht dient als Arbeitsgrundlage der ordentlichen Synode im kommenden Jahr. Nach diesem Treffen wird der Papst Entscheidungen treffen. Ob er diese gegen die, wie bei dieser Synode klar wurde, Mehrheit der Synodalväter treffen wird, die die traditionellen Werte der Kirche verteidigen, ist noch unklar. Verschiedene italienische Tageszeitungen gingen am gestrigen Montag der Frage nach, wer denn nun die Verlierer und Gewinner der Synode sind. Eine nicht unberechtigte Frage, so Vatikanexperte Marco Politi, "denn die von Franziskus eingeforderte offene Diskussion zeigt ganz offensichtlich, dass die Kirche zwei Seelen in ihrer Brust trägt". Traditionalisten und Reformer stehen sich, auch das wurde auf der Synode deutlich, nicht gerade freundlich gegenüber. Immer wieder, so Politi, dessen neuestes Buch mit dem Titel "Franziskus unter Wölfen" in Italien für Aufsehen sorgt – mit den "Wölfen" meint der Vatikanexperte die kircheninternen Papstkritiker – greifen diese besonders hart den Kardinal Kasper an. Marco Politi erklärt auch warum das so ist: "Offiziell ist das Ziel der Attacken Kardinal Kasper, aber, wie Kardinal Kasper selbst gesagt hat, das ist nur ein Vorwand; wer unter Beschuss ist, das ist Papst Franziskus. Dass eben fünf Kardinäle gegen die päpstliche Linie so eklatant auftreten, ist etwas, was man seit den Zeiten des Konzils nicht mehr gesehen hat."
Von Thomas Migge
Geschiedene und Homosexuelle haben in der katholischen Kirche einen schweren Stand. Ob sich das ändern lässt, sollten die Bischöfe nun auf einer von Papst Franziskus einberufenen Synode klären. Trotz des Grabens zwischen progressiven und konservativen Katholiken – die Synode zeigte, dass öffentliche und offene Diskussionen möglich sind.
"2014-10-21T00:00:00+02:00"
"2020-01-31T14:09:28.277000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bischofssynode-graben-zwischen-reformern-und-100.html
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Frankreich will Kurden mit Waffen versorgen
Frankreich will die kurdischen Perschmerga-Kämpfer mit Waffen versorgen. (AFP / SAFIN HAMED) "Um die dringenden Bedürfnisse der lokalen kurdischen Behörden zu erfüllen, hat sich die Staatsspitze entschieden, in Zusammenarbeit mit Bagdad in den kommenden Stunden Waffen zu liefern", heißt es in einer Stellungnahme der französischen Regierung. Frankreich werde jede nötige Unterstützung angesichts der katastrophalen Lage für die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten im Irak zur Verfügung stellen. Zur Art der gelieferten Waffen gab es zunächst keine Angaben. Keine europäische Einigung Frankreich hatte in den vergangenen Tagen erfolglos versucht, eine europäische Einigung zum Thema auf den Weg zu bringen. Zuerst hatten am vergangenen Montag die USA Waffenlieferungen auf den Weg gebracht. Der Elysée-Palast hob auch hervor, dass die verheerende Lage der Bevölkerung im Nordirak "die Fortsetzung und Ausweitung" des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft erfordere. Frankreich wolle dabei "eine aktive Rolle" spielen und in Abstimmung mit seinen Partnern und der neuen irakischen Regierung "jede nötige Unterstützung" leisten. Die Lieferung humanitärer Hilfsgüter werde fortgesetzt. Zugleich rief Paris erneut zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Bagdad auf. Debatte in Berlin geht weiter In Deutschland sind Waffenlieferungen an den Irak noch umstritten. Vor allem innerhalb der CDU gibt es hitzige Diskussion, ob und wie der Kampf der Kurden gegen die Dschihadisten im Norden des Landes unterstützt werden kann. Die Debatte in Berlin geht auch nach der Entscheidung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die Ausfuhr "nicht-tödlicher" Rüstungsprodukte zu prüfen, weiter. Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, ist gegen eine solche Lieferung in den Norden des Irak: In einer "derart unübersichtlichen Situation", in der es keine wirkliche Kontrolle gelieferter Waffen gebe, "sollte von Rüstungsexporten abgesehen werden", sagte der Politiker in verschiedenen Interviews. Eine Abkehr vom Prinzip, keine Waffen in Krisenregionen zu liefern, "würde einen grundlegenden Wandel der deutschen Außenpolitik darstellen", der nicht einfach ohne Einbeziehung des Parlaments beschlossen werden dürfe. Deutschland könne sich nicht aus Konflikt heraushalten Röttgens Parteikollege Elmar Brok widersprach dem. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament unterstützt Waffenlieferungen an die Kurden. Es müsse jetzt schnell gehandelt werden, um Menschenleben zu retten und den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen, sagte Brok im Deutschlandfunk. "Es geht hier um Stunden und Tage", fügte er hinzu. Deutschland und Europa könnten sich nicht aus dem Konflikt heraushalten. (tzi/bor)
null
Frankreich will den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit Waffenlieferungen unterstützen. Die ersten Rüstungsgüter sollen sofort auf den Weg in den Irak gebracht werden. In Berlin geht der Streit über mögliche Rüstungsexporte weiter.
"2014-08-13T13:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:58:20.238000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/irak-frankreich-will-kurden-mit-waffen-versorgen-100.html
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Coronatests für die Welt
Firmenchef Olfert Landt: In Krisenzeiten packt die Familie mit an (imago / Kitty Kleist-Heinrich / TSP) Olfert Landt ist Geschäftsführer der kleinen Berliner Biotech-Firma TIB Molbiol Syntheselabor GmbH, und er hat im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun. "Das ist in kleinen Firmen so, da packt der Chef auch selber an. Fertige Test-Kits. Hier für Bratislava, ich habe viele für Spanien, für Polen. Heute nur für Europa und Deutschland." Mehr als 3 Millionen Corona-Testpakete oder auch Test-Kits genannt, wurden seit Januar produziert. Sie gehen in alle Welt. Ein kleines Unternehmen mit lediglich rund 40 Mitarbeitern, gearbeitet wird derzeit auch an Wochenenden und Feiertagen. "Wir machen alles, was Kunden von uns erwarten. Das sind vor allem Infektionserreger wie Influenza, Noro-Virus oder Salmonella. Auch sexuell übertragbare Krankheiten, wir haben ein paar Sachen, die Richtung Krebs gehen. Und wir machen Mutationsanalyse, zum Beispiel Blutgerinnungsstörungen, die man mit unseren Produkten untersuchen kann." Pandemien als Umsatztreiber Mit dieser Geschäftsstrategie hat das Unternehmen 30 Jahre lang schwarze Zahlen geschrieben, und nun, wie übrigens schon 2010, geht der Umsatz durch die Decke. Vor rund 10 Jahren war es die Schweinegrippe und diesmal das Corona-Virus. Olfert Landt hat in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrere Virus-Ausbrüche beruflich begleitet. Dadurch sind langjährige Geschäftsbeziehungen besonders nach Asien gewachsen. In den meisten Fällen waren es eher kleine und lokale begrenzte Ereignisse, Virus-Ausbrüche, über die nicht immer in der internationalen Presse berichtet wurde. Kommerziell nicht interessant, sagt Landt, er hat dennoch Tests angeboten und auch geliefert. Sein Unternehmen hat kein Patent auf die Technologie der Untersuchungen. Im Fall der Fälle könnten viele Testlabors entsprechend agieren: "Die grundlegende Technologie, die wir nutzen - die Polymerase-Kettenreaktion - hat sowohl den Nobelpreis bekommen und hatte auch ein Patent. Das ist inzwischen abgelaufen, das ist schon zu alt. Das heißt, die grundlegende Technologie kann jeder benutzen." Im Januar schon alarmiert In der Lokalpresse wurde TIB Molbiol bereits als Berlins derzeit gefragtestes Unternehmen tituliert. Und in der Tat: Olfert Landt scheint ein besonderes Gespür dafür zu haben, welcher Virustest unmittelbar gebraucht wird. Er hat, wie die meisten Experten, im Januar zum ersten Mal über das neue Corona-Virus gehört und dann schnell gehandelt: "Das werden Sie immer bei kleinen Unternehmen feststellen, dass diese flexibler sind. Weniger Verwaltung, kurze Entscheidungsprozesse." Das Unternehmen sitzt in einem Gewerbegebiet in Berlin-Tempelhof, ein alter Backsteinbau. Hier sind das Lager, die Poststation und natürlich die Labore untergebracht. "Das hier ist ein Reinraum. Das merkt man, es herrscht ein wenig Überdruck. Das heißt, da kommt kein Dreck rein. Das ist kein Ebola-Schutz-Labor, da wäre nämlich Unterdruck, damit Ebola nicht rauskommt. Wir wollen keinen Dreck reinbekommen." Alle Mitarbeiter, der Chef inklusive, müssen sich derzeit zwei bis dreimal die Woche selbst auf das Corona-Virus testen lassen. Auch Besucher müssen vor Betreten des Betriebsgeländes den inzwischen berühmten Rachenabstrich über sich ergehen lassen und dann ein paar Stunden auf die hoffentlich gute Nachricht warten. "Bei Ihnen ist das Virus nicht nachweisbar." Start-up der frühen Jahre Olfert Landt hat vor 30 Jahren TIB Molbiol gegründet. Aus einem Universitätsprojekt heraus, in einer Zeit als es das Wort Start-up noch gar nicht gab: "Ich war Doktorand in der Bio-Chemie - also Protein-Engineering. Und wir brauchten diese Oligonukleotide um Proteine zu verändern. Und dann haben wir im Institut so eine Maschine besorgt, und dann hatten wir plötzlich sehr viele Freunde. In der Medizin, im Max-Plack-Institut, die wir einfach mit versorgt haben. Da schien so etwas wie ein Markt zu sein. Dann haben wir eine Firma aufgemacht und haben eben diese Produkte angeboten." Und seitdem läuft das Geschäft. Seit Jahresbeginn jedoch mehr denn je. Vor allem die Logistik ist aktuell eine Herausforderung. Geschäftsführer Landt hetzt regelrecht durch die Gänge. Tür auf, Tür zu. In einem Raum wird es lauter, hier sitzt sein Sohn, der derzeit, wie der Rest der Familie auch, aushilft. An der Labelmaschine werden Mini-Etiketten direkt auf die Teströhrchen geklebt. Bis vor kurzen noch Handarbeit, nun vollautomatisch. Test-Kit ist eine einfache Sache Das Corona-Test-Kit ist recht unspektakulär: Ein kleiner Plastikbeutel, 14 Gramm schwer, 2 kleine Ampullen darin, eine davon lichtdicht verpackt. Ein kleiner Beipack-Zettel. In mehr als 60 Länder wurde bereits geliefert. Im Februar kam sogar der Botschafter von Ruanda persönlich vorbei, um Tausende von Test-Kits für sein Land abzuholen. "Sie alle wollen ihr Land mit Test-Kits versorgt wissen, und viele wollen von uns auch eine Supply-Garantie. Ich kann aber nicht jedem Land garantieren, dass eine bestimmte Anzahl dorthin abgegeben wird. Das ist unmöglich, die Volumen übersteigen das. Das haben wir früher nicht erlebt, dass Botschafter hier anrufen oder sogar persönlich vorbeikommen." Olfert Landt geht davon aus, dass das Geschäft mit dem Corona-Virus-Test seinen Betrieb zumindest noch in diesem Jahr weiterhin voll auslasten wird. 18 Millionen Euro Umsatz machte TIB Molbiol im vergangenen Jahr, 2020 wird es wohl ein Vielfaches sein. Der Geschäftsführer sieht müde aus: Trotz einer 100-Stunden-Woche versucht er derzeit, ausreichend Schlaf zu bekommen. Nicht einfach, sagt er, aber: "Was soll ich sonst machen? Verreisen? Geht gerade nicht. In die Oper gehen? Geht gerade nicht. Also die meisten Dinge könnte man ohnehin nicht machen. Das ist tragbar."
Von Dieter Nürnberger
Der Berliner Unternehmer Olfert Landt ist seit 30 Jahren Experte im Aufspüren von Viren. Vor der Corona-Pandemie hatte er es mit Sars, Mers und der Schweinegrippe zu tun. In der Coronakrise läuft seine Firma erneut auf Hochtouren.
"2020-05-22T13:35:00+02:00"
"2020-05-23T09:15:23.986000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coronakrise-virentester-tib-molbiol-coronatests-fuer-die-100.html
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Gaulands Gedanken
Bebt die schmucke Wampe? AfD-Chef Alexander Gauland (dpa/ Karl-Josef Hildenbrand) Offenbar besitzen wir hellseherische Fähigkeiten. Denn es ist so: Immer, wenn wir an Alexander Gauland denken, sehen wir in unserer Phantasie präzise Bilder aus seinem Privatleben. Sie zeigen den AfD-Vorsitzenden, wie er sich in seiner Potsdamer Villa in einen geriatrietauglichen Relax-Sessel fläzt, die Hände auf die schmucke Wampe legt und kichert wie ein kleiner Junge nach dem Mäusepingeln. Denn, bitte schön! Sobald Gauland per Smartphone das Stichwort "Gastbeitrag" googelt, verlinkt Google nicht etwa zu 'ner schlauen Erklärung, was das eigentlich ist, so ein Gastbeitrag, journalistisch und juristisch gesehen. Nein, der User erfährt als erstes, zweites, drittes und viertes: Gauland... jawohl, dieser Gauland!... hat in der "FAZ" einen Gastbeitrag schreiben dürfen, Zeter und Mordio! Netztheoretisch gesprochen, hat der AfD-Vorsitzende also mit einem einzigen Text den einst neutralen Such-Begriff "Gastbeitrag" im kompletten deutschsprachigen Google-versum kolonisiert. Aber das ist gar nicht die Pointe, die Gaulands Wampe erbeben lässt. Zu Diensten wie Pawlowsche Hunde Die Pointe ist... denkt sich der Alte..., dass mir meine lieben Feinde wie Pawlowsche Hunde zu Diensten sind, nur halt voll auf 180 und mit dem Schaum der Selbstgerechtigkeit vor dem Mund. Gauland sieht ja, was zum Beispiel Christian Jakubetz - Dozent, Berater, Journalist, früher unter anderem beim ZDF - auf Facebook hinausposaunt... Von Sinnen darüber, dass ein Gauland in der "FAZ" schreiben darf. "Mir fällt kein einziger Kommentar ein, wie ich straffrei ausdrücken kann, was ich darüber denke", macht Jakubetz spätpubertär auf dicke Hose. Und erst Jutta Ditfurth, die linke Antirassistin mit dem Pegida-Temperament. Sie postet: "Die alten rechtsradikalen Netzwerke der 'FAZ' funktionieren noch." Da schwillt dem Mann im Relax-Sessel die Brust. Zwar ist ihm klar, dass Ditfurth den Gastbeitrag womöglich gar nicht gelesen hat. Sie verurteilt ja nicht die message, sie verurteilt das Medium. So ähnlich wie früher, als die Überbringer schlechter Nachrichten abgemurkst wurden, grübelt Gauland... Aber hey, Alexander, du bist groß! Ein einziger Artikel von dir, und der "Zeitung für Deutschland" wird ein Braunstich nachgesagt. Missbehagen verursacht die "taz" Gauland gießt sich kräftig ein, immer noch Ditfurth im Sinn.... Jetzt mal im Ernst, Jutta, wie leicht wollt ihr Linken es uns denn noch machen? Unterwirft euch andauernd dem Klischee, das wir in die Welt gesetzt haben – dass ihr illiberalen Hochmut pflegt und intolerant gegenüber Andersdenkenden seid. Aber heult dann rum, wenn die AfD bei den Leuten super ankommt? Bescheuert, echt! Missbehagen verursacht Gauland dagegen die "taz". Er spürt: Die hat seinen pro-populistischen Erguss studiert und kommt ihm mit einem fiesen Trick. Die TAZ räumt nämlich ein, dass er sich in der "FAZ" "harmlos und überlegt" präsentiert – unterstellt aber, er sei ein "Wolf im FAZ-Pelz" und ein "Rassist", insgesamt also ein vulgärer Heuchler. Und da fällt Gauland ein, was kürzlich in "Fremde Federn" stand. "Der Anstieg des Rechtsradikalismus und der institutionelle Rassismus sind heute die größten Gefahren für die freiheitlich-demokratische Ordnung der Europäischen Union und ihr Ideal des friedlichen Zusammenlebens von unterschiedlichen Kulturen und Religionen." Schreibe ich etwa genauso wie der Erdogan? Jau, das war mal ein politisch korrekter Satz! feixt Gauland. Voll Martin Schulz. Oder Sahra Wagenknecht. Oder Antifa. Aber, hihi: Der Autor hieß Recep Tayyip Erdogan! Gauland schenkt wieder nach, der Kognak macht ihn nun weichherzig. Habe ich selbst auch so gefrömmelt in der "FAZ"? Schreibe ich etwa genauso wie der Erdogan, dieser Türke? Bin ich sein Bruder im Geiste? Er würde das gern mit Alice Weidel besprechen, schläft aber ein. Und dann wird es Morgen, heute Morgen. Und siehe da! Niemand unterstellt, Gauland schreibe wie Erdogan, beileibe nicht! Der Historiker Wolfgang Benz behauptet, Gauland schreibe so, wie Adolf Hitler 1933 geredet hat. Nicht wörtlich, aber inhaltlich. Ich, wie Hitler!... Gauland wird es ganz braun vor den Augen. Einen solchen Vergleich lehnt er ab! Das wäre dann doch zu viel..., na ja..., er überlegt..., der Ehre vielleicht? Junge, Junge, er muss sich das jetzt wirklich genau überlegen. Aber erst mal lässt er ausrichten: Bis auf Widerruf kann ich die Rolle als Hitler light beim besten Willen nicht annehmen. Leute, tut mir leid!
Von Arno Orzessek
Ein Gastbeitrag von Alexander Gauland - Kritiker beklagen lautstark, dass die FAZ dem AfD-Vorsitzenden einen prominenten Platz bietet. Sie reagieren damit allerdings wie Pawlowsche Hunde, meint Arno Orzessek in seiner Glosse. Und das dürfte vor allem in einer Potsdamer Villa für stimmungsvolle Momente sorgen.
"2018-10-10T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:14:52.701000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-faz-gastbeitrag-gaulands-gedanken-100.html
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"Presseähnlichkeit" auf dem Prüfstand
Besonders die Tagesschau-App wird von den Verlegern immer wieder als zu "presseähnlich" kritisiert. (dpa/picture alliance/Rolf Vennenbernd) Was darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Netz? Der Streit um diese Frage ist nicht neu. So befand 2011 nach jahrelangem Rechtsstreit das Oberlandesgericht Köln, die Tagesschau-App sei "presseähnlich". Geklagt hatten damals acht Zeitungsverlage. Auch jetzt, sechs Jahre später, sind es wieder die Verlage, die das Thema mit Macht in die Diskussion tragen. Mathias Döpfner, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, wiederholte an diesem Mittwoch in der F.A.Z. seine zuletzt immer wieder vorgetragene Kritik am derzeitigen Stand des Telemedienauftrags. "Wir fordern, dass presseähnliche Angebote generell untersagt werden", sagte der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer im Interview. Er hoffe, "dass die Politik die Weichen richtig stellt", andernfalls zerstöre sie das duale System. Presseähnlichkeit auf dem Prüfstand Die Rundfunkkommission der Länder arbeitet aktuell an einer Novellierung des Telemedienauftrags. Heike Raab, die dieser ständigen Vermittlungsinstanz der Bundesländer vorsitzt, bestätigte gegenüber @mediasres, dass die Medienpolitiker aktuell einen vorliegenden Passus überprüften, "der noch mal eine textliche, redaktionelle Änderung beinhaltet". Es geht um die Frage, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Internet darf und was nicht. Dazu gehört auch die Frage, ob die Sieben-Tage-Regelung für die Mediatheken noch zeitgemäß ist. Heike Raab: Staatssekretärin und Bevollmächtigte beim Bund und in Europa, für Medien und Digitales. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka) Sie erkenne einen Reformbedarf, fügte die SPD-Politikerin hinzu. Und es sei der Rundfunkkommission wichtig, "dass in einem dualen System alle Wettbewerber ihre Entwicklungsmöglichkeiten haben". Doch dazu gehöre eben auch das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem. Die ARD-Vorsitzende Karola Wille hatte bereits vergangene Woche bei der Hauptversammlung des Senderverbunds die Forderung nach einer Ausweitung des Verbots der Presseähnlichkeit angedeutet. Nächste Beratung Mitte Oktober Für sie sei es "fraglich", betonte Heike Raab nun, "ob ein Telemedienauftrag die wettbewerbliche Situation der Verlage tatsächlich so tangiert, dass diese wirtschaftliche Beeinträchtigungen erfahren". Angesichts der Entwicklung von Zeitungsverlage hin zu "fernsehähnlichen Angebote" sehe sie beispielsweise eine Lösung darin, "in einem System des Gebens und Nehmens allen Wettbewerbern Entwicklungsmöglichkeiten" zu eröffnen. Hören Sie hier Staatssekretärin Heike Raab und @mediasres-Redakteur Stefan Koldehoff im Gespräch mit Christoph Sterz zur Debatte um die Frage, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Internet berichten darf. Mitte Oktober findet die nächste planmäßige Sitzung der Rundfunkkommission statt. Dann werde man die Gespräche zum zeitgemäßen Telemedienauftrag fortsetzen, so Raab. "Und dann schauen wir mal, wie weit wir kommen." Text von Michael Borgers
Heike Raab und Stefan Koldehoff im Gespräch mit Christoph Sterz
Öffentlich-rechtliche Redaktionen dürfen online nicht schreiben, worüber sie wollen. Ausschließlich "presseähnlich" berichten – das geht nicht, so sieht es der Rundfunkstaatsvertrag vor. Erlaubt sind nur Texte, die Sendungen begleiten. Und die Vorgaben könnten sogar noch restriktiver werden.
"2017-09-27T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:08.370000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-duerfen-die-oeffentlich-rechtlichen-im-netz-100.html
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Die Rolle des Sports in der Protestbewegung im Iran
Iranerinnen und Iraner protestieren im türkischen Izmir für mehr Frauenrechte. (IMAGO / Pacific Press Agency / IMAGO / Idil Toffolo) Seit Mitte September 2022 die Iranerin Mahsa Amini von der Sittenpolizei festgenommen wurde und in Polizeigewahrsam gestorben ist, protestieren die Menschen im Iran für mehr Frauenrechte und den Sturz des Regimes. Doch welche Rolle spielt der Sport in der Protestbewegung im Iran? Zu diesem Thema hat das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine Podiumsdiskussion veranstaltet. Im Sportgespräch sendet der Dlf eine gekürzte Fassung dieser Podiumsdiskussion, moderiert von Dlf-Sportredakteurin Marina Schweizer. "Wissen von Sportlerinnen und Sportlern, die hingerichtet wurden" Aus Sicht von Katja Müller-Fahlbusch von Amnesty International ist es etwas Besonders, dass Sportlerinnen und Sportler in der Öffentlichkeit gesehen würden und Identifikationsfiguren und Vorbilder seien. „Gleichzeitig ist es aber auch so, dass iranische Sportlerinnen und Sportler genau das erleben und erleiden, was Millionen Menschen im Iran erleben und erleiden. Wir wissen von Sportlerinnen und Sportlern, die sich kritisch gegenüber der Regierung und dem System geäußert haben und dafür hingerichtet wurden.“ Als Beispiel nennt sie etwa den Ringer Navid Afkari, der 2020 exekutiert wurde. Ihm war angelastet worden, bei einer Demonstration einen Sicherheitsbeamten getötet zu haben. Video-Botschaft von Ali Karimi Irans Fußball-Ikone Ali Karimi hatte eine Videobotschaft aus dem Exil gesendet, in der er von Morddrohungen berichtete, die er nach seiner öffentlichen Solidarisierung mit der Protestbewegung erhalten habe. Deshalb sei er von seinem Wohnort im Ausland noch weiter weg vom Iran in die USA gezogen. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Karimis Berater saß in Dortmund mit auf dem Podium. Der Deutsch-Iraner Reza Fazeli betreut viele Menschen des öffentlichen Lebens mit iranischen Wurzeln. Er sagt, das öffentliche Engagement dieser prominenten Persönlichkeiten sei kein parteipolitisches: „Es geht jetzt nicht mehr um die Politik, es geht um die Menschlichkeit. Es geht um die Werte. Diese Menschen sehen sich in der Verantwortung, ein Zeichen zu setzen.“ "Wer sich nicht äußert, verhält sich politisch" Dies werde von Personen des öffentlichen Lebens auch erwartet, so Fazeli. „Wer sich in der aktuellen Situation nicht äußert, der verhält sich politisch.“ Es gehe schlicht darum, den Menschen im Iran ein normales Leben zu ermöglichen „dass die Menschen ein Mal in Ruhe atmen können und das Gefühl haben wir als Iraner weder im Iran, noch außerhalb des Irans leider nicht.“ Für ihn ist die Protestbewegung eine Bewegung der Liebe und Zivilisation, gegen Barbarei „und ich bin sehr sicher, dass am Ende die Liebe gewinnen wird“. Mariam Claren hat mit anderen Aktivistinnen ein Programm für politische Patenschaften in Deutschland gegründet für Menschen, die im Iran inhaftiert worden sind. Sie glaubt, dass öffentlicher Druck sehr viel bringen kann: „Als meine Mutter (die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi, Anm. d. Red.) im Oktober 2020 festgenommen worden ist, wurde mir hier und da empfohlen, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen und auf stille Diplomatie zu hoffen. Ich bin aber sechs Tage nach der Inhaftierung an die Öffentlichkeit gegangen und habe eine breit angelegte Kampagne gestartet und habe relativ schnell festgestellt, dass diese Öffentlichkeit sie schützen kann. Das heißt nicht, dass eine Person sofort frei kommt, aber dass sie bessere Haftbedingungen bekommt.“  "Eine Verpflichtung, die Sportler haben" Sie kann sich auch Patenschaften von Sportlerinnen und Sportlern vorstellen: „Es ist auch eine Verpflichtung, die da Sportler haben, zu sagen: Ok, ich nutze meine Reichweite, ich nutze meine Stimme, in dem ich sie einsetze für meine Kollegen im Iran, die ihre Stimme nicht so einsetzen können, wie es vielleicht ein Ali Karimi, der jetzt im Ausland ist, kann.“ Und Amnesty-Expertin Müller-Fahlbusch sagte „Im Fall von Iran ist der Hebel Öffentlichkeit zentral." Die Runde diskutierte zudem über die Möglichkeit eines Ausschlusses iranischer Mannschaften von Sportveranstaltungen und welche Wirkung dies beim Regime haben könnte.
Katja Müller-Fahlbusch, Reza Fazeli und Mariam Claren im Gespräch mit Marina Schweizer
Seit mehr als sieben Monaten protestieren die Menschen im Iran für mehr Frauenrechte und den Sturz des Regimes. Welche Rolle spielt dabei der Sport? Zu diesem Thema hatte das Deutsche Fußballmuseum zu einer Podiumsdiskussion geladen.
"2023-04-30T23:30:00+02:00"
"2023-04-30T22:33:51.486000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/iran-proteste-rolle-sport-100.html
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Basketballstar und Botschafterin beendet Karriere
Sue Bird hat ihre Basketball-Karriere beendet. Mit Seattle Storm wurde sie vier Mal WNBA-Champion. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Lindsey Wasson) Um die Frage zu beantworten, worauf sie während ihrer Karriere besonders stolz sei, musste Sue Bird bei ihrer Abschluss-Konferenz nicht lange überlegen. Man habe einen Senator zu seinem Amt verholfen - das sei kaum zu fassen, so Bird. Und das die WNBA das geschafft habe, das steche für sie außerhalb des Basketballfeldes hervor. Der erwähnte Senator ist Demokrat Raphael Warnock. Der afro-amerikanische Herausforderer hatte sich im Januar 2021 im Wahlkampf im US-Bundesstaat Georgia gegen die republikanische Amtsinhaberin Kelly Loeffler durchgesetzt. Auch dank der Unterstützung von Sue Bird und den anderen Spielerinnen der WNBA. Unter ihnen auch die Profis von Atlanta Dream, einem Team, dessen Miteigentümerin Loeffler damals war. Fünfmal Olympia-Gold gewonnen Es sagt einiges über Sue Bird aus, dass ihr dieses Kapitel als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie auf ihre 21-jährige Basketball-Karriere zurückblickt. Immerhin ist sie mit Seattle Storm viermal Meister geworden, hat mit den USA fünfmal Olympia-Gold gewonnen, im Vorjahr bei der Eröffnungsfeier die US-Flagge getragen und gilt als beste Spielmacherin in der Geschichte der WNBA. Für all das bekam Bird nach ihrem letzten Spiel Standing Ovations. Bird war nie eine Frau, die sich nur auf ihren Sport fokussiert hat, sondern die ihre Bühne und Bekanntheit nutzte, wichtige soziale Themen anzusprechen. Sie outete sich im US-Fernsehen als lesbisch, machte ihre Beziehung zu Soccer-Star Megan Rapinoe öffentlich - und ist seitdem eines der bekanntesten Gesichter der LGBTQ-Community. Eine der lautesten Stimmen im Fall Brittney Griner Als die unschuldige Breonna Taylor, eine Schwarze, 2020 von Polizisten daheim erschossen wurde, weigerte sich Bird nach ihren Spielen, über Basketball zu sprechen, sondern rückte den Fakt in den Vordergrund, dass Taylors Mörder noch immer nicht verurteilt seien. Und sie ist auch eine der lautesten Stimmen, die die Freilassung der in Russland in Gefangenschaft geratenen Basketballerin Brittney Griner fordern.
Von Heiko Oldörp
Im amerikanischen Frauen-Basketball hat eine ganz Große des Sports ihre Karriere beendet. Sue Bird gewann allein fünfmal Gold bei Olympischen Spielen. Doch Bird hat sich nicht nur auf ihren Sport konzentriert, sondern ihre Bekanntheit auch für soziale und gesellschaftliche Themen genutzt.
"2022-09-09T22:50:00+02:00"
"2022-09-10T22:05:55.807000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sue-bird-karriereende-100.html
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Verfolgte Kinder in der NS-Zeit
Das Versteck der Anne Frank befindet sich mitten im Foyer des Deutschen Bundestages im Paul–Löbe Haus. Der Gedankenraum – vielleicht drei mal drei Meter groß. Auf Kunststoffplanen ist außen das Hinterhaus in Amsterdam abgebildet, in dem sich die Familie vor den Nazis versteckt hat – Innen ist nichts – außer Platz für Gedanken und der Stimme, die aus Anne Franks Tagebuch liest:"Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinausdürfen. Und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden. Das ist natürlich eine weniger angenehme Aussicht. Nichts als traurige und deprimierende Nachrichten habe ich heute. Unserer jüdischen Bekannten werden gleich gruppenweise festgenommne. Die Gestapo geht nicht im Geringsten zart mit diesen Menschen um. Sie werden in Viehwagen nach Westerbork gebracht."Deine Anne - Ein Mädchen schreibt Geschichte – heißt die Ausstellung – und darum geht es – um das Mädchen und die Geschichte. Ein Glücksfall sind die vielen erhalten gebliebenen Fotos. Annes Vater war Hobbyfotograf. Die Bilder zeigen eine glückliche Familie vor dem Krieg, aber auch die Zerstörung und die Zeit im Versteck. Beklemmende Fotos aus dem historischen Kontext ordnen die Lebensgeschichte ein. Helfer, Zuschauer, Opfer und Täter kommen in Zitataten zu Wort. Stolz ist die Projektleiterin Larissa Weber vom Anne Frank Zentrum Berlin auf die Idee der sogenannten Peer Education. Besonders geschulte Jugendliche sollen anderen Jugendlichen die Ausstellung erklären:"Der Vorteil ist, wenn das Jugendliche für Jugendliche machen, dann ist das auf Augenhöhe, das ist nicht der Geschichtslehrer, der etwas erzählt, Jugendliche unter sich finden viel eher die Sprache oder auch die Themen, die für sie interessant sind."Einen Bezug zur Gegenwart zu schaffen war den Ausstellungsmachern wichtig. Dieser Bezug nimmt einen wichtigen Teil der Ausstellung ein – und er regt zum Nachdenken an. Denn hier geht es nicht nur um längst vergangenes Unrecht. Damals waren es die Juden – aber wer wird heute ausgeschlossen? Vielleicht Dicke, vielleicht Schwule vielleicht Ausländer. Jeder Mensch ist anders – damals wie heute:"Der Constantin ist ein Mensch, der braucht ganz viel Bewegung – viele Partys. Immer mit Freuden unterwegs – er macht immer das, was er für richtig hält – ich glaube, dass die Liebe für den Constantin ein ganz wichtiges Gefühl ist." "In diesem Film geht es einfach darum darzustellen, was denken andere über mich, was denke ich über mich selber, was hat das für Auswirkungen auf mich, von Fremd- und selbstbildfern ist da immer die Rede und das ist auch wichtig für unsere eigene Identität. Auch Anne Frank hat sich sehr mit der Frage auseinandergesetzt, wer bin ich eigentlich, da merkt man, auch damals hat sich Anne mit diesen Identitätsfragen auseinandergesetzt, genauso wie das Jugendliche heute tun."Ein wenig umständlich - nicht nur für Jugendliche - ist der Zugang zum Deutschen Bundestag. Besucher müssen sich mindestens einen Tag vorher namentlich anmelden – Spontanbesuche, zum Beispiel von Touristen sind nicht möglich. Das ist in der neuen Ausstellung in der Topografie des Terrors anders. Im Gedenken der Kinder - Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit ist eine Sonderschau auf 200 Quadratmetern. Thomas Beddies, Medizinhistoriker an der Charité Berlin hat sie zusammengestellt. "Wir haben versucht, Geschichten zu erzählen und die Geschichten nachzuvollziehen anhand von den originalen Dokumenten. Das ist uns auch wichtig gewesen. Das ist eine Ausstellung, die ein bisschen Zeit braucht. Die Kinderbilder rühren natürlich in besonderer Weise an."Zu sehen sind wenige, aber emotional anrührende Fotos von behinderten und offenbar fröhlichen Kindern. Daneben vor allem Dokumente, Krankenakten, Briefe und Protokolle, deren grausamer Inhalt sich oft erst bei genauerem Hinsehen und nach intensivem Lesen erschließt. Wenn bei einem Kind, das 7,5 kg wiegt von 2,5 Liter Eiter nach einer experimentellen Tuberkulose Impfung die Rede ist oder von der Zwangssterilisationen bei einer 16jährigen, die nach einer Infektion ertaubt war, dann läuft es einem kalt den Rücken herunter. Mehr als 10.00 Kinder wurden während der Nazizeit in Gaskammern getötet, sinnlos gequält oder für Experimente missbraucht – von Ärzten, Psychiatern und ihren Helfern. Die Kinder-und Jugendärzte und ihre Berufsverbände haben lange gebraucht, bis sie ihre Rolle während der NS Zeit aufgearbeitet haben. Die Ausstellung soll nun möglichst durch ganz Deutschland wandern.
Von Anja Nehls
Kinder wurden nicht nur Opfer der Ausrottungsstrategie der Nazis, sie wurden auch mitleidlos gequält. Gleich zwei Ausstellungen in Berlin zeigen Schicksale von Kindern im Dritten Reich. In einer davon sollen Jugendliche ihren Altersgenossen die Geschichte von Anne Frank näher zu bringen.
"2012-01-19T17:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:42:02.346000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verfolgte-kinder-in-der-ns-zeit-100.html
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1918, 1938, 1989 - Steinmeier erinnert an 9. November
Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 auf einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus. (imag o/ United Archives International) Es ist ein Tag, an den in Deutschland nicht oft erinnert wird. Sozialdemokrat Philipp Scheidemann steht am 9. November 1918 an einem Fenster des Reichstages und ruft die Republik aus. Scheidemann: "Der Kaiser hat abgedankt. Arbeiter und Soldaten! Seid Euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewusst: Unerhörtes ist geschehen!" Eine Zeitenwende, die vom Scheitern überschattet wird Viel Hoffnung stand am Beginn der Weimarer Jahre, doch der Weg führte von der Demokratie in die Diktatur. Der 9. November 1918, eine Zeitenwende, die vom Scheitern überschattet wird, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will das nicht so stehen lassen. Zum 100. Jahrestag wird er heute im Bundestag die Erinnerung an die Kämpfer für die Demokratie in den Mittelpunkt stellen. Steinmeier: "Ich wünsche mir, dass der 9. November ein Tag wird, an dem Demokraten in unserem Land ihre Kräfte sammeln und an dem wir alle miteinander mit Stolz sagen: Es lebe die Republik. Es lebe die Demokratie!" Per Videobotschaft weist Steinmeier auf seine Rede im Reichstag hin. Demokratie! Das ist nicht Selbstverständliches, für sie muss immer wieder gekämpft werden. Das hat er zum zentralen Anliegen gemacht und auf seiner Reise durch Deutschland im ersten Amtsjahr immer wieder betont. Er spricht nicht direkt über Rechtspopulismus, nicht über das, was die AfD in Bewegung gesetzt hat, seine Sorge aber über die Zukunft der Demokratie ist nicht zu überhören Steinmeier: "Wir erinnern uns auch, in welche Abgründe es führt, wenn die Gegner der Demokratie die Mehrheit erringen!" Gedenken auch an Novemberpogrome Natürlich will er bei der Gedenkstunde im Bundestag den Bogen spannen zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938, die sich in diesem Jahr zum 80. Mal jährt. Gemeinsam mit Kanzlerin Merkel wird Steinmeier am Mittag in der Berliner Synagoge an die Gräuel der Nationalsozialisten erinnern. Auch über den 9.November 1989, an dem sich mit dem Mauerfall die friedliche Revolution in der DDR vollendete, wird er sprechen. Und dabei immer wieder zurückkommen auf das Jahr 1918 - auf Philipp Scheidemann. Scheidemann: "Das Alte und Morsche - die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!"
Von Frank Capellan
Der 9. November ist ein komplexer Gedenktag in der deutschen Geschichte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird heute im Bundestag an die November-Revolution 1918, die antisemitischen Pogrome 1938 in Nazi-Deutschland und an den Fall der Mauer 1989 erinnern.
"2018-11-09T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:19:40.585000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gedenken-im-bundestag-1918-1938-1989-steinmeier-erinnert-an-100.html
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Zweiter Frühling für den Verbrenner
Umweltfreundliche synthetische Kraftstoffe: Längst arbeitet die Branche an alternativen Kraftstoffen, die dem Verbrennungsmotor ein langes Leben bescheren sollen. (Picture Alliance / MAXPPP / Alexandre Marchi) "Wir stehen jetzt hier vor dem Motor Nummer eins der Geschichte. Das heißt, das ist der Vorläufer des Viertaktmotors, den wir heute alle kennen in den verschiedensten Variationen. Bevor es dazu kam, hatte der Herr Otto den Gedanken gefasst, eine Maschine zu entwickeln, die wirtschaftlicher war als die zur damaligen Zeit übliche Dampfmaschine. Das, was wir hier vor uns sehen, ist eine Einzylindermaschine mit einem großen Schwungrad und wenn man eine Flamme an dieser Zündleitung entzündet, dann kann man damit die Maschine in Betrieb nehmen." Holger Friedrich führt durch das Motorenmuseum beim Kölner Motorenhersteller Deutz. Die Maschine hinter ihm rattert. Ein Kolben schießt hoch, ein großes und ein kleines Rad drehen sich. Holger Friedrich hat 32 Jahre lang bei Deutz gearbeitet und ist inzwischen Rentner. Jetzt zeigt er Besuchern ehrenamtlich einen der ersten Motoren der Welt. Gleich daneben: noch eine riesige Maschine. Sie wächst in die Breite nicht in die Höhe. Der erste Viertaktmotor, den Deutz-Firmengründer Nicolaus August Otto 1876 entwickelt hat. Der Viertakter gilt als Meilenstein der Mobilität – bis heute. Ein Mechaniker repariert den Motor eines roten Oldtimers. (picture-alliance / dpa / Ingo Wagner) "Man konnte mit einem Viertaktmotor in den Anfängen auch Automobile antreiben. Das haben ja einige Herren aus der damaligen Zeit mit sehr großem Erfolg betrieben, das meine ich, ist hier der Punkt, dass wir uns freuen können, dass wir nicht herreiten müssen, sondern ein Automobil nutzen können. Aber die Anfänge waren gelegt mit dem Viertaktprinzip." Auf einem bunten Glasfenster im Museum steht der Satz: "Köln -Keimzelle der Weltmotorisierung". Kurze Zeit nach Entwicklung der ersten Motoren baut Carl Friedrich Benz in Mannheim eines der ersten Automobile, das auch praxistauglich ist. Der Siegeszug des Verbrennungsmotors nimmt seinen Lauf. Seitdem sind Autos, LKWs und Schiffe vor allem mit dieser Technik unterwegs. Nur ein Prozent der Autos fahren halb- und elektrisch oder mit Gas In Deutschland waren im vergangenen Jahr mehr als 61 Millionen Fahrzeuge zugelassen, 700.000 davon sind laut Kraftfahrtbundesamt mit einem anderen Antrieb als einem Verbrenner unterwegs. Gerade mal gut ein Prozent der Autos fahren also elektrisch, halbelektrisch oder mit Gas. Ein verschwindend geringer Anteil. Benziner und Diesel bestimmen den Markt. Doch spätestens seit der Affäre um manipulierte Abgaswerte ist vor allem der Diesel unter Druck. Blaue Plakette, Fahrverbote, endgültiges Aus – Politik und Umweltverbände suchen noch im Instrumentenkasten, klar ist aber: Für den Diesel – und wohl auch für den Benziner - wird es über kurz oder lang enger. Der Grünenparteitag im November in Münster. Die Partei verständigt sich auf die Forderung: Ab 2030 sollen nur noch Autos zugelassen werden, die emissionsfrei unterwegs sind. Wagen mit fossil betriebenem Verbrennungsmotor hätten damit keine Chance mehr. Vorfahrt sollen alternative Antriebe haben, die Grünen nennen vor allem den Elektromotor. Bereits im Herbst hat der Umweltausschuss des Bundesrats mit grüner Mehrheit - aber auch mit den Stimmen anderer Parteien - die Forderung formuliert: Die EU-Kommission müsse Vorschläge erarbeiten, wie Abgaben und Steuern eingesetzt werden können, damit... Zitat: "... spätestens ab dem Jahr 2030 unionsweit nur noch emissionsfreie PKW zugelassen werden." Daimlerchef Dieter Zetsche: "Das Tempo beschleunigen" Elektromotor statt Verbrenner. So soll der Verkehr bis 2050 emissionsfrei werden. Allerdings: Die Automobilindustrie ist mit dieser Formel so nicht einverstanden. Daimlerchef Dieter Zetsche, Gastredner auf dem Grünen-Parteitag. "Wer glaubt, Mobilität werde dadurch nachhaltig, dass wir eine Antriebsform zu einem Stichtag X verbieten, der springt entschieden zu kurz. Heute kann doch niemand mit Gewissheit sagen, wann Elektroautos inklusive Plug-in-Hybriden bei den Neuwagen die absolute Mehrheit haben werden. Einige Studien erwarten das für 2025, andere erst für 2040. Aber das ist nebensächlich! Anstatt lange zu diskutieren, wann genau wir ankommen, geht es darum, das Tempo zu beschleunigen." Daimler-Konzernchef Dieter Zetsche hält die Abschaffung des Verbrennungsmotors am Stichtag X nicht für zielführend. (Imago/Jan Huebner) Also: alternative Antriebsarten ja, ein Verbot des Verbrenners nein. Es geht bei der Diskussion auch um Arbeitsplätze. Nicht nur bei den Autobauern. Zulieferer, Werkstätten mit Abgasuntersuchungen, Tankstellen - Tausende Jobs hängen am Verbrenner. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der ZDF-Sendung Maybritt Illner: "Was ich fahrlässig finde, ist, dass wir immer, sagen wir, lax gesagt, 'ne große Klappe haben bei der Zielsetzung und uns nicht eine Sekunde über die Frage Gedanken machen, wo arbeiten eigentlich die, die jetzt in Salzgitter bei VW Motoren bauen. Und was die Politik nicht machen kann, ist, sich immer hehre Klimaschutzziele setzen und nicht eine Sekunde darüber nachzudenken, wie die Facharbeiter in der Automobilindustrie, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik oder im Stahl morgen noch Arbeit und Einkommen finden. Das finde ich unfair." Bosch hat in Deutschland Tausende Arbeitsplätze in der Dieseltechnologie Stefan Bratzel, Autoprofessor an der Fachhochschule Bergisch-Gladbach, warnt ebenfalls: "Denken sie nur dran, dass allein Bosch in Deutschland 15.000 Arbeitsplätze (*) nur in der Dieseltechnologie hat, die dann überflüssig werden und so geht es einem Großteil der Industrie. Deutschland ist eine starke hardwareorientierte Industrie, die stark am Verbrennungsmotor hängt." Und doch, meint Bratzel, ist der Wandel nicht aufzuhalten. "Die Anteile des Verbrennungsmotors werden zurückgehen und darauf muss sich die Industrie einstellen. Ob das Ende des Verbrennungsmotors 2030 kommt oder 2040, ist dann weniger relevant." Die Autoindustrie habe mit der Dieselaffäre Vertrauen verspielt, sagt Bratzel. Jetzt kämen VW, Daimler und BMW an der Elektromobilität nicht mehr vorbei. Noch aber lässt der große Durchbruch auf sich warten. Seit Juli bekommt jeder, der in Deutschland ein Elektroauto oder einen Plug-in-Hybrid kauft, 4000 Euro Prämie. Das war im vergangenen Jahr gut 9.000 Mal der Fall. Von den Autos, die zwischen Juli und November 2016 neu zugelassen wurden, waren gerade mal ein Prozent Elektroautos oder Plug-in-Hybride, also Autos, die sowohl mit Verbrenner fahren als auch mit einer Batterie, die an der Steckdose lädt. Die Prämie floppt. Denn: E-Autos laden lange, es gibt zu wenig Ladestellen und die meisten Autos schaffen nur wenige Kilometer. Auch die Umweltbilanz der E-Fahrzeuge ist umstritten. Sie sind nur dann umweltfreundlich unterwegs, wenn sie mit erneuerbarem Strom aufgeladen werden. Für Skepsis sorgt zudem die Ökobilanz bei der Herstellung der Autos. Die Autobranche beteuert immer wieder: Am Angebot liege es nicht. Es gebe viele Modelle. Aber für die wird kaum geworben. Anders als bei der sogenannten Abwrackprämie im Jahr 2009 spielt die Kaufprämie in Werbespots kaum eine Rolle. Das Symbol eines Autos mit Kabel auf dem Asphalt - ein Parkplatz für Elektroautos. (picture-alliance / dpa / Jan Woitas) "E-Mobilität hält schon Einzug in die Werbung, man sieht die Botschaften, allerdings wenn man sich die Zahlen anguckt, sind wir doch noch nicht da, dass E-Mobilität ein großes Thema ist." Dietmar Kruse arbeitet beim Beratungsunternehmen Ebiquity. Er hat die Ausgaben der Autobauer für Werbung untersucht. "Insgesamt wird im Werbemarkt ca. eine Milliarde für Automobilwerbung ausgegeben – und in diesem Werbemarkt sind in E-Mobilität in der Spitze zwischen 60 und 70 Millionen Euro gegangen, also gut fünf Prozent. Diese Spitze war 2014, seitdem sehen wir wieder einen Rückgang." Klimaschutz mit der Dieseltechnologie Die Autobauer setzen weiter auf den Verbrennungsmotor, vor allem auf den zuletzt so viel kritisierten Diesel. Sie brauchen ihn – um die CO2-Grenzwerte ab 2020 einzuhalten. Ab diesem Zeitpunkt darf ein Neuwagen maximal 95 Gramm CO2 je Kilometer ausstoßen. Zuletzt waren es bei Neuzulassungen noch 126 Gramm. Klimaschutz mit der Dieseltechnologie? Eckehard Rotter vom Verband der Automobilindustrie VDA. "Der Diesel, der ja auch ziemlich gescholten wurde, ist zentral wichtig, um bei den CO2-Senkungen voranzukommen, weil er gegenüber dem Benziner zehn bis fünfzehn Prozent bessere CO2-Werte hat. Es geht uns generell um diesen Ansatz der Verbotspolitik, weil hier unterstellt wird, dass Bürokraten, Politiker, wer auch immer, die Fähigkeit hätten den technologischen Fortschritt vorherzusehen." Die Automobilindustrie will sich nach mehr als 100 Jahren nicht vom Verbrenner trennen. Ein Aus ab 2030 oder auch später hält kaum ein Vertreter der Autobranche für wahrscheinlich und auch nicht für machbar. Vor wenigen Tagen etwa sagte der scheidende Daimler- Entwicklungschef Thomas Weber der Deutschen Presse-Agentur: Die Verbrennungsmotoren zu früh als alt und schlecht zu bezeichnen, sei zu kurz gesprungen. Argumente dafür serviert die Branche einige. Eckehard Rotter vom Verband der Automobilindustrie (VDA): "Was in der ganzen Debatte ausgeblendet wird, ist die Frage, mit welchem Antrieb fahren denn eigentlich unsere Nutzfahrzeuge in Deutschland, in Europa in den nächsten 10, 20, 30 Jahren? Die Vorstellung, dass ein 40-Tonner auf der Autobahn München- Lissabon morgen mit Batterie unterwegs sein wird, diese Erwartung hat niemand. Wir werden einen Mix erleben. Wir halten nicht am Verbrenner fest, weil es ihn gibt und weil wir ihn irgendwann einmal erfunden haben, sondern weil er seine Vorteile hat und es Unsinn wäre, apodiktisch zu sagen, ab einem bestimmten Tag oder einem Jahr X muss diese Antriebsart verboten werden." Synthetische Kraftstoffe: CO-2 neutral und ohne Erdöl hergestellt Interessenvertreter wie Eckehard Rotter glauben sogar an einen zweiten Frühling des Verbrenners. Selbst dann, wenn fossile Kraftstoffe irgendwann einmal Mangelware sein werden. Die Motoren könnten weiterlaufen – und mit synthetischen Kraftstoffen angetrieben werden, so die Idee. Sogenannte E-Fuels als Hoffnungsträger für eine Technik, die viele als Auslaufmodell sehen. "Man könnte auch ein Szenario sich vorstellen, dass der Verbrenner einen zweiten Frühling erlebt." Das Betanken von Elektrofahrzeugen in Norwegen. Der Autoindustrie will die Infrastruktur der Branche mit ihren Tankstellen beibehalten. (imago/Ludwig Heimrath) Autolobbyisten jubeln – damit würden die Karten neu gemischt. Die Autos blieben die gleichen, die gesamte Infrastruktur mit Tankstellen auch – nur der Kraftstoff wäre ein anderer. Daimlerchef Zetsche über E-Fuels: "Sie könnten helfen, den heutigen Fahrzeugbestand sogar nachträglich sauberer machen, lange bevor eine global flächendeckende Ladeinfrastruktur realistisch ist." Befürworter werben vor allem damit, dass die Kraftstoffe CO2-neutral sind. Um sie herzustellen, braucht es kein Erdöl. Bei dem Verfahren wird – vereinfacht gesagt - CO2 aus der Luft entnommen und verflüssigt - und zwar genau so viel, wie man zur Verbrennung braucht, erklärt Peter Müller-Baum vom Verband der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. Allerdings: Wirklich klimafreundlich sind synthetische Kraftstoffe nur dann, wenn sie mit Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellt werden. Hinzu kommt, die Herstellung solcher Kraftstoffe ist im Moment noch sehr teuer, sagt Peter Müller-Baum. "Wir haben zwei Kraftstoffstudien durchgeführt, in denen genau das untersucht wurde und in denen dann hochgerechnet wurde: Wenn das Ganze in einem industriellen Maßstab hergestellt wird, lande ich bei einem Preis pro Liter Kraftstoff von 2 Euro bis 2 Euro 50 Euro, den man nicht mit dem 1 Euro vergleichen muss, sondern mit 30 bis 40 Cent, die der Kraftstoff kostet, bevor die Steuer draufkommt. Das heißt, ich habe schon noch einen eklatanten Unterschied im Preis." Elektromotor kann mit Stärke des Verbrenners nicht mithalten Längst arbeiten Wissenschaftler an synthetischen Kraftstoffen. Aber ist es möglich, dass ein Auto heute mit Diesel fährt und morgen mit synthetischem Diesel? Ganz so einfach ist die Rechnung nicht, sagt Stefan Pischinger vom Lehrstuhl für Verbrennungskraftmaschinen an der RWTH Aachen. Es sei zwar möglich, einen synthetisch hergestellten Kraftstoff in einem heutigen Dieselmotor einzusetzen, dafür müsse der Kraftstoff aber auch sehr passgenau je nach Automodell hergestellt werden, was wiederum schwierig sei. Langfristig gehe es eher darum, den Verbrennungsmotor umzubauen – so habe er eine Zukunft. Audi tastet sich bereits vor und kooperiert seit 2014 mit einem Unternehmen in Dresden, das Benzin und Diesel aus Ökostrom synthetisch herstellt. Ein Pilotprojekt. Die neuen Kraftstoffe könnten aber auch ein Geschäftsfeld für Mineralölkonzerne oder auch klassische Energiekonzerne werden, sagt Peter-Müller Baum vom Verband der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. "Natürlich gibt es im Automobilbereich einen Trend zur Elektromobilität, aber auch der hat seine Grenzen irgendwo, weil sie eine viel geringere Reichweite haben. Bei anderen Anwendungen – denken sie an Schiffe, hört das irgendwann auf. Ein Containerschiff, was Motoren mit über 100.000 PS hat, wird es einfach auf absehbare Zeit batterieelektrisch nicht funktionieren." Containerschiff auf dem Suezkanal. (imago/Xinhua) Suche nach energieeffizienteren Varianten Die Verkehrsforscherin Wiebke Zimmer vom Berliner Ökoinstitut hat ein Szenario entworfen, wie der Verkehr bis 2050 dennoch emissionsfrei werden könnte. Synthetische Kraftstoffe gehören auch für sie dazu, aber nur für den Luft- und Seeverkehr. Wenn Deutschland auf strombasierte Kraftstoffe setze und weniger auf E-Mobilität, würde der Strombedarf massiv ansteigen, sagt Wiebke Zimmer. Diesen Weg lehnt sie deshalb ab. Sie plädiert dafür, E-Mobilität zur tragenden Säule zu machen und aus dem Verbrenner weitestgehend auszusteigen. "Strombasierte Kraftstoffe, das bedeutet ja, dass man aus erneuerbaren Energien Flüssigkraftstoffe herstellt, die man dann wiederum in den klassischen Verbrennungsmotor gibt. Man hat Umwandlungsverluste bei der Herstellung, man hat einen Motor, der nicht so energieeffizient ist wie der Elektromotor, das heißt man benötigt sehr viel erneuerbaren Energiestrom. Die deutlich effizientere Variante ist, diesen Strom direkt zu nutzen in batterieelektrischen Fahrzeugen." Mit einem Elektrofahrzeug komme man mit einer Kilowattstunde Strom sechs bis zehnmal weiter als mit einem Verbrenner, der mit einem strombasierten Kraftstoff angetrieben werde, sagt Wiebke Zimmer. Für den Güterverkehr auf der Straße schlägt die Verkehrsforscherin statt E-Motor oder Verbrenner eine weitere Antriebsform vor. "Da gibt es auch diese Option, strombasierte Kraftstoffe einzusetzen, aber auch, die Fahrzeuge zu elektrifizieren wie den Oberleitungs-LKW – da gibt es die ersten Projekte, um das zu erproben. Das ist sicherlich die energieeffizientere Variante. Da muss man sich aber die Rahmenbedingungen angucken, das macht nur Sinn, wenn es eine europaweite Einigung darüber gibt, dass man mit Oberleitungs-LKW fährt oder dass man das als Entkarbonisierungstechnologie einsetzt, denn wenn man das nur auf Deutschland bezieht, dann ist an der Grenze Schluss und der LKW kommt nicht weiter." Die Debatte über die Antriebsform der Zukunft hat gerade erst begonnen. Bemerkenswert daran: Auch die IG Metall, für die die Automobilbranche traditionell große Bedeutung hat, fordert eine Abkehr vom Verbrenner. Auch die Brennstoffzelle ist noch im Rennen. Allerdings gibt es für die Wasserstoffautos kaum Tankstellen. Antriebspezialist Stefan Pischinger von der RWTH Aachen betont: Ein Wasserstoffauto lasse sich zuhause nur schwer laden, beim Elektroauto dagegen sei das kein Problem. Ob aber der Elektromotor tatsächlich den Verbrenner irgendwann ablösen wird? Die Automobilindustrie hat gerade erst damit angefangen, gegenzusteuern. Der Verkauf von Fahrzeugen, die Identifikation mit dem Auto Stefan Bratzel von der Fachhochschule Bergisch-Gladbach sieht aber noch ein ganz anderes Problem als die Antriebsfrage: Seiner Meinung nach müssten die Autobauer ganz grundsätzlich umdenken, es brauche eine Mobilitätswende. BMW, Daimler und Co. sollten zu "Mobilitätsdienstleistern" werden. "Die Umsetzung von einer Industrie, die seit 100 Jahren auf dem Verbrennungsmotor basierte, eine Industrie, die seit 100 Jahren auf dem Muster des Verkaufens von Fahrzeugen basierte, deren Besitzer sich mit dem Statussymbol Auto identifizieren - wenn sich diese Themen ändern, dann ändern sich die Grundpfeiler der Automobilindustrie! Aus Freude am Fahren wird Freude am Gefahren werden. Das Thema Besitzen wird zum Thema Nutzen. Und das ist eine enorme Veränderung, auf die die Automobilhersteller noch nicht die Antworten haben." Soll heißen: In Zukunft wollen viele Menschen ein Auto wohl gar nicht mehr unbedingt selbst besitzen. Zwar versuchen sich die Autobauer auch auf diesen Trend einzustellen – etwa mit Carsharing-Angeboten. Doch die Konkurrenz auf diesem Gebiet ist größer als im klassischen KFZ-Bereich: Ein Werbespot von Google. Das Unternehmen wirbt für das sogenannte Carpooling, was im Grunde nichts anderes ist als eine Fahrgemeinschaft. Ein Fahrer sammelt die Mitfahrer auf der Strecke ein. Der Geograf und Stadtplaner Heiner Monheim findet das eine gute Idee. Das Grundproblem sei weniger die Art des Antriebs, als dass es zu viele Autos gebe, meinen Verkehrsexperten. (imago stock&people) "160 Millionen leere Autositze werden täglich durch die Republik kutschiert. Das Auto ist extrem ineffizient! Da fahren immer vier leere Sitze rum. Jetzt können sie daraus ein Geschäft machen. Da gibt es Ansätze dazu, da gibt es internetbasiert Apps. Wenn das Millionen von Menschen machen, die als Anbieter registriert sind, und da gibt es Menschen, die sagen, nee, ich brauche kein Auto mehr, aber ich gehe in eine solche Gemeinschaft rein, in der ich dann signalisiere, ich will von da nach da, wer nimmt mich gerade mit?" "Wir haben zu viele Autos" Die Konzentration auf die Frage des Autoantriebs, ob Verbrenner oder E-Auto, sieht er kritisch. Monheim fordert eine Verkehrswende – parallel zur Energiewende. Sein Ziel: Weniger Autos auf den Straßen. Darüber sollte die Gesellschaft seiner Meinung nach diskutieren. "Der Blick auf die Schadstoffe ist schön und gut, die sind natürlich schlimm. Aber selbst wenn unsere 44 Millionen PKWs alle Tretautos wären, also überhaupt nichts verbrauchen würden, hätten wir das gleiche Problem: Nämlich Stau und die Autos würden überall rumstehen. Die Antriebsfrage ist wichtig, aber viel wichtiger ist die Mengenfrage. Wir haben zu viele Autos. Das ist das Grundproblem deutscher Verkehrspolitik, dass sie da immer wieder an neuen Motoren und Katalysatoren tüftelt. Und ich seh das Grundproblem, dass es einfach zu viele Autos sind." Eine Meinung, mit der Heiner Monheim derzeit allerdings eher in der Minderheit ist. Im Kern bleibt es also vorerst bei der Frage, mit welchem Antrieb der Verkehr in Zukunft sauberer werden kann. (* Anmerkung der Online-Redaktion: Der Bosch-Konzern hat uns darauf hingewiesen, dass in Deutschland im Dieselbereich des Unternehmens 15.000 beschäftigt sind. Im Audio und einer vorherigen Text-Version wurde die Zahl 50.000 genannt.)
Von Sina Fröhndrich
Auch wenn der Umweltausschuss im Bundesrat de facto das Aus für den Verbrennungsmotor ab 2030 gefordert hat, ist sein Abschied noch längst nicht beschlossene Sache. An synthetischen Kraftstoffen, C0-2-frei und ohne Erdöl hergestellt, wird daher eifrig geforscht.
"2017-01-05T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T09:26:10.129000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/automobilindustrie-zweiter-fruehling-fuer-den-verbrenner-100.html
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Selbstfahrende Straßenbahn
Noch von Hand gesteuert quietscht und rattert Tram Nummer 400 aus der Wendeschleife des Betriebsgeländes. Dann schaltet Straßenbahnfahrer Manfred Kienitz auf autonomes Fahren. Nun muss die neue Technik allein bewerten, ob die beiden jungen Frauen an der Haltestelle zu nahe an den Schienen stehen, oder nicht. Schließlich soll autonomes Fahren die Sicherheit erhöhen. Das System zögert kurz, verlangsamt, fährt dann wieder an und verzichtet auch auf ein warnendes Bimmeln. Manfred Kienitz, 68 Jahre alt, sitzt wie in der Fahrschule auf dem Beifahrersitz: Noch ist es nicht soweit, dass die Tram gänzlich ohne Fahrer auskommt. Noch wird nur getestet "Ich sitze da ganz entspannt daneben und weiß ja, wo ungefähr die kribbeligen Situationen während der Fahrt auftreten könnten und da bin ich auch wieder 100 Prozent fokussiert, um zu beobachten, was im Umfeld der Straßenbahn passiert oder nicht passiert, dass wir heil über die Strecke kommen." Hinter dem Fahrer sitzt ein Siemens-Mitarbeiter mit Laptop und prüft, ob die Algorithmen greifen, ob die Antriebs- und Bremstechnik auf die Situationen an der Teststrecke richtig reagiert: Auf ein Auto, das aus einer Seitenstraße kommt, auf den älteren Herrn, der noch schnell über die Schienen läuft, auf die Frau mit den Kinderwagen an der Haltestelle. In der Mitte des Waggons steht Projektleiter Christian Klier von Siemens vor einem großen Bildschirm und erklärt die Technik, die dafür nötig ist. "Wir haben verschiedene Sensorik installiert, ähnliche Sensorik, wie man das auch aus Automotive kennt, aber natürlich adaptiert an unsere Anwendungsfälle. Wir haben Kameras, wir haben Lidar-Systeme, wir haben Radarscanner installiert." "Fürs System sind Menschen das Schwierigste" Lidar ist die Abkürzung für "Light detection and ranging": Eine dem Radar verwandte Methode zur optischen Abstands- und Geschwindigkeitsmessung mit Laserstrahlen. Die Tram erfasst die Frau mit Kinderwagen mit ihren Kameras, die 250 Meter voraus schauen können, und hält an. Es ist eine Siemens-Mitarbeiterin, der Kinderwagen ist leer, die Technik hat die Prüfung bestanden. "Für das System sind natürlich die Menschen schon das Schwierigste. Die lassen sich am wenigsten vorhersagen. Die machen, was sie wollen. Da gibt es sicherlich noch viele Situationen, die auch unser System heute noch nicht kennt, die noch beigebracht werden müssen." Dafür beobachten die Tüftler, wie erfahrene Straßenbahnfahrer wie Manfred Kienitz das machen. Siemens beliefert auch den öffentlichen Nahverkehr und will den Anschluss ans autonome Fahren nicht verpassen. Der Konzern hat nach eigenen Angaben einen höheren einstelligen Millionenbetrag in das Forschungs-Projekt gesteckt, das regulären Fahrgästen nicht zur Verfügung steht. In dem einen Testjahr sei schon viel erreicht worden, sagt Fahrer Kienitz. "Ich bin da sehr zufrieden. Einwandfrei alles ordentlich gelaufen oder gut gefahren." (Noch) keine Sorge um Arbeitsplätze Angst um die Arbeitsplätze der Tramfahrer hat Kienitz nicht. Es werde noch viel Wasser die Havel runter fließen, bis die Technik serienmäßig funktioniert und Straßenbahnen ganz autonom unterwegs sind, meint er. Die Verkehrsbetriebe Potsdam stellen den seinerzeit von Siemens hergestellten Testwaggon zur Verfügung, Platz in der Werkstatt und die Teststrecke. "Es geht in erster Linie um die Sicherheit des ganzen Systems Straßenbahn." Sagt der technische Geschäftsführer Oliver Glaser. "Wir sehen zunehmend aus dem Pkw- und LKW-Bereich kommend Assistenzsysteme, die den Straßenverkehr sicherer machen. Da wir als Straßenbahn ja eben im Straßenraum mitfahren, ist es von großen Interesse: Wie können solche Assistenzsysteme auch auf die Straßenbahn übertragen werden, die eine viel komplexere Systematik mitbringt als der Pkw?" Das gänzlich autonome Fahren stecke noch in den Kinderschuhen, sagt Glaser. Doch für die nächste Generation an Bahnen, die ab 2023 durch Potsdam fahren sollen, werde es schon einiges an neuer Technik geben.
Von Vanja Budde
In Brandenburg wird gerade die erste selbstfahrende Straßenbahn getestet. Noch ist der Fahrer mit dabei - auf dem Beifahrersitz. Doch künftig sollen allein Sensoren das Kommando übernehmen.
"2018-09-18T14:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:30.488000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/potsdam-selbstfahrende-strassenbahn-100.html
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"Ein großer Poet, ein Romantiker"
"Ein sehr warmer, herzlicher und sehr witziger Mensch": Der kanadische Sänger und Rock-Poet Leonard Cohen am 1976 in Frankfurt am Main (dpa / Istvan Bajzat) Adalbert Siniawski: Wie hat Cohen bei seinem letzten öffentlichen Auftritt auf Sie gewirkt? Marcel Anders: Also ich muss sagen: Er war sehr gebrechlich, ein älterer, schwacher Herr, grauer Drei-Tage-Bart, Anzug: sehr schick - wie ein älterer Gentleman. Aber ich war wirklich erschrocken, wie schwach er bei diesem Anlass, bei dieser Pressekonferenz in Los Angeles in der Botschaft des kanadischen Konsuls, gewirkt hat. Es war nicht mehr der Mann, den ich vor zwei Jahren getroffen habe bei "Popular Problems" von 2014, sondern da konnte man wirklich sehen: Es hat wirklich der Zahn der Zeit an ihm genagt - und zwar auf eine sehr erschreckende Art und Weise. Das Ganze hat nur 20 Minuten gedauert und es ging natürlich um "You Want It Darker", das neue Album. Und das Album, es hat eine sehr starke Todessehnsucht. Also man konnte, wenn man das Album gehört hat, sich schon sehr, sehr viele Sorgen um Leonard Cohen machen. Aber er hat natürlich diese Pressekonferenz genutzt, um diese Gedanken wegzuwischen: Leonard Cohen: "Ich habe gesagt, ich wäre bereit zu sterben. Aber ich habe wohl übertrieben – was auch mal sein muss. Im Grunde habe ich vor, für immer zu leben. Ich will mindestens 120 werden." Anders: Ja, das ist natürlich ein schöner Witz, aber Tatsache ist: Bei Cohen ist natürlich auch in den letzten Jahren das Gefühl aufgekommen - viele seiner Freunde und Weggefährten sind gestorben, als letzte Marianne Ihlen, das ist die Dame aus "Goodbye, Marianne" [der Song heißt: "So Long, Marianne" - Anm. d. Red.], und das muss ihn also auch über die Jahre auch sehr, sehr mitgenommen haben. Siniawski: Dann hören wir rein: "You Want It Darker". Ein sehr melancholisches, trauiges Lied. Das erinnert mich ein bisschen an "Lazarus" von David Bowie, mit dem er sich kurz vor seinem Tod von seinen Fans verabschiedet hat. Auch Leonard Cohen war nach seinem Rückzug und späteren Comeback 2008 wieder musikalisch schwer aktiv, ähnlich wie Bowie. Hat er wohl schon gemerkt, dass ihm wenig Zeit bleibt? Wie sehen Sie das, Herr Anders? Anders: Ja, es ist wirklich diese Parallele zwischen den beiden Künstlern, dass sich beide bewusst gewesen sein müssen, dass ihnen so ein bisschen die Zeit wegläuft und dass sie die letzten Jahre, die sie haben, konsequent nutzen müssen. Und Cohen war in den letzten Jahren unglaublich aktiv. Der hat drei Alben in fünf Jahren aufgenommen - für seine Verhältnisse ist das Wahnsinn. Und er war auch auf Welttournee. Der hat also wirklich eine Mission in den letzten jahren verfolgt, nämlich: Gegen den ganzen Wahnsinn in der Welt anzusingen und sich auch ein bisschen nochmal nachhaltig in Erinnerung der Leute einzuprägen. Und das ganze mit Humor und, ganz wichtig, mit viel rotem Wein, Kaffee und Nikotin. Leonard Cohen: "Hat jemand eine Zigarette für mich? Es gibt heute nur noch wenige Orte, an denen man rauchen darf. Und ich habe das fast 50 Jahre lang getan – ehe ich vor 10 oder 15 Jahren aufgehört habe. Nur: Ich mag es. Und ich denke oft daran. Wie jetzt gerade." Anders: Er hat also mit 80 wieder angefangen, und er macht so ein bisschen ... die Situation in der Welt, sagt er, kann man daran ablesen, wie verrückt sie ist: Man darf nicht mal mehr rauchen. Siniawski: Auch da haben Sie uns einen passenden Song herasugesucht. Anders: Ja, "It Seemed The Better Way" vom neuen Album. Siniawski: Er hat sich ja erst ab 1967 mit seinem Debüt-Album "Songs of Leonard Cohen" dem Song-Schreiben zugewandt. Zuvor war er als Schriftsteller aktiv, hat Romane und Gedichte geschrieben - etwa sein Debütwerk "Let Us Compare Mythologies". War dies das Einzigartige an ihm, seine Art an Worten zu feilen? Anders: Ja, er war ein kritischer Kommentator unserer Zeit, ohne sich direkt, platt und offensichtlich zu äußern, sondern: Der Mann hat immer biblische Metaphern benutzt, schöne kunstvolle Worte, Bibelzitate. Es war wirklich Wortkunst, daran hat er bis zu 30 Jahre geschliffen, damals an "Hallelujah", aber er hat sich wirklich Mühe gegeben, Worte bis auf den Kern zurechtzustutzen und zu wählen. Leonard Cohen: "Die Tatsache, dass ich so lange an meinen Songs schreibe, ist leider keine Garantie dafür, dass sie auch besonders gut sind. Es ist eher die Art, wie ich arbeite. Und ich bin sehr langsam. Sprich: Bei mir passiert alles Tröpfchen für Tröpfchen." Anders: So, und es ist der Pferdefuß oder das Manko eines großen Poetes, eines Romantikers gewesen. Und deshalb hat er in 50 Jahren auch "nur" 14 Alben aufgenommen. Siniawski: Ja, Tröpfchen für Tröpfchen, so ist auch "Suzanne" entstanden, der Song, der ihn berühmt gemacht hat, mit dem er den Durchbruch schaffte – gewidmet seiner Freundin Suzanne Verdal. "Der Mann mit der knorrigen Stimme, der die Frauen besingt" - ein Mythos, der um Cohen herumgeistert. Wer war der Typ hinter diesem Image? Anders: Wie gesagt, dieses Images des "Ladies' Man" hat ihm natürlich mit Sicherheit auch geschmeichelt, aber es war ein sehr warmer, herzlicher und auch sehr, sehr witziger Mensch, der unglaublich humorvoll war. Natürlich immer mit dieser tiefen Bariton-Stimme, die einen auch sofort einnimmt. Er war ein tief religiöser Mensch. Hat auch in der israelischen Armee seinen Wehrdienst absolviert als Field Commander, also Feldkommandant, der "Field Commander Cohen". Hat aber auch gleichzeitig, was kaum einer wusste, an starken Depressionen gelitten, hat dann versucht, in einem Mönchskloster in Mount Baldy bei Los Angeles sich selbst zu kurieren, ist also auch zum Buddhismus übergetreten. Und diese ganze Diskussion mit Bob Dylan um den Nobelpreis hat bei mir eigentlich den Gedanken ausgelöst, und auch bei anderen Kollegen, die auf dieser Pressekonferenz waren: Warum wurde Leonard Cohen in all den Jahren nie für einen Friedensnobelpreis oder für den Literaturpreis nominiert? Siniawski: Wer weiß, vielleicht kommt das ja noch. Leonard Cohen: "Das ist sehr großzügig und nett. Ich will zwar nicht kommentieren, was er gesagt hat, aber ich kommentiere gerne, dass er den Nobelpreis erhält. Das ist, als ob man dem Mount Everest eine Medaille als höchstem Berg der Welt verleiht." Anders: Weil nämlich auch Bob Dylan mittlerweile erklärt hat, dass Leonard Cohen eigentlich diesen Preis verdient. Siniawski: Ja, Bob Dylan, immer für eine Pointe gut. Marcel Anders erinnerte an Leonard Cohen. Und welchen Song hören wir zum Abschluss? Anders: "Travelling Light" vom neuen Album. Und "Travelling Light" ist eine Anspielung auf seinen buddhistischen Glauben, das heißt: Er verlässt diese Welt mit wenig und lässt sich überraschen, was im nächsten Leben passiert.
Musikjournalist Marcel Anders im Gespräch mit Adalbert Siniawski
Leonard Cohen ist im Alter von 82 Jahren verstorben. Erst Mitte Oktober hatte er sein neues Album "You Want It Darker" in den USA vorgestellt - eine besonders düstere Platte mit Anspielungen auf das Ende. Musikkritiker Marcel Anders war bei dem letzten Auftritt Cohens in L.A. dabei und würdigt den verstorbenen Song-Poeten.
"2016-11-11T15:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:47.485000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zum-tod-von-leonard-cohen-ein-grosser-poet-ein-romantiker-100.html
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Wie ein starkes Klima-Paket aussehen sollte
Umweltverbände der Klima-Allianz kritisieren vor allem zwei Punkte, mit denen sich Angela Merkel zuletzt auf die Seite der Industrie geschlagen hatte. Erster Punkt: CO2-Grenzwerte für Autos. Eigentlich hatte die EU geplant: Ab 2012 sollen Neuwagen eines Herstellers im Schnitt nicht mehr als 120 Gramm CO2 je Kilometer in die Luft blasen. Vor allem deutsche Autos liegen deutlich über diesem Grenzwert. Um BMW und Daimler zu schonen müssen jetzt wohl alle Autos eines Herstellers 120 Gramm nicht 2012, sondern erst 2015 erreichen. Drei Jahre Schonfrist, die dem Klima schaden, sagt Brick Medak vom WWF:"Diese drei Jahre bedeuteten sehr, sehr viel. Denn in diesen drei Jahren werden Autos gebaut, die dann in den nächsten zehn, zwanzig Jahren gefahren werden und die entsprechen dann nicht den neuen Werten. Diese Grenzwerte werden nicht dazu führen, dass die Autoindustrie ihre CO2-Emissionen massiv wird senken können. So wie die Grenzwerte jetzt angelegt sind, können sie quasi weiter machen wie bisher. "Zweiter Kritik-Punkt: Emissionshandel. Bisher hatte die EU geplant, so genannte CO2-Zertifikate, also CO2-Verschmutzungsrechte ab 2013 komplett zu versteigern. Wer also CO2 in die Atmosphäre blasen will, hätte dafür in Euro zahlen müssen. Das, so die Idee, würde dazu führen, dass der CO2-Ausstoß reduziert wird. Gegen diesen Plan ist zunächst die Industrie und dann auch die Kanzlerin Sturm gelaufen. Denn, so die Befürchtung, wenn der Ausstoß von Kohlendioxyd Geld kostet, steigen die Strompreise, die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen leidet, Arbeitsplätze gehen verloren. Der Sachverständigenrat für Klimaschutz bei der Kanzlerin und das Ökoinstitut bezweifeln das. Dennoch: Angela Merkel hat in Brüssel durchgesetzt, dass große Teile des produzierenden Gewerbes in Deutschland ihre Verschmutzungsrechte wohl auch weiterhin geschenkt bekommen. Brick Medak vom WWF:"Es gibt eine Reihe von Industrien, die fast alle Emissionsrechte geschenkt bekommen sollen. Unter denen gibt es vier bis fünf Branchen, von denen man sagen kann: Okay, das ist berechtigt. Die könnten abwandern, da sind Arbeitsplätze gefährdet, das sehen wir ein. Aber es sind nur vier bis fünf Branchen. Es sollen aber 94 Prozent aller Branchen ausgenommen werden. Das ist viel zu viel."Selbst die Stromkonzerne, so deutet sich an, könnten zumindest einen Teil der Verschmutzungsrechte geschenkt bekommen. All diese Zugeständnisse schreibt die Klima-Allianz der Bundeskanzlerin zu. Die rund 100 Sozial- und Umweltverbände fordern Angela Merkel daher auf, beim EU-Gipfel Ende der Woche ein Zeichen für den Klimaschutz zu setzen. Deutschland und Europa müssten Vorbild sein, damit die Welt sich im nächsten Jahr auf ehrgeizige Klimaziele einigt, Stichwort: Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll. Die Bundeskanzlerin stelle jedoch Wirtschaftsinteressen vor den Klimaschutz, sagt Thomas Antkowiak, Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Miserior:"Der zentrale Kritikpunkt ist, dass die Bundeskanzlerin angetreten ist als Vertreterin einer anderen Klimapolitik. Wir haben sie dabei unterstützt, wir haben uns gefreut, dass sie das propagiert hat. Sie ist jetzt aber in Gefahr einzuknicken und den wirtschaftlichen Interessen nachzugeben. Deswegen fordern wir sie auf, bei ihrer ursprünglichen Linie zu bleiben."Danach sieht es aber nicht aus. Finanzkrise, Rezession - die Lage habe sich grundlegend verändert, argumentiert Angela Merkel. Der "Bild-Zeitung" sagte sie, beim EU-Gipfel würden keine Beschlüsse gefasst, die in Deutschland Arbeitsplätze gefährden könnten. Dann müsse die Kanzlerin für forcierten Klimaschutz eintreten, so Hubert Weiger, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz. Denn Investitionen in den Klimaschutz seien Investitionen in Arbeitsplätze, "Von daher ist die Aussage der Bundeskanzlerin, dass durch den Klimaschutz Arbeitsplätze verloren gehen, absurd und absolut falsch. Denn gerade der unterlassene Klimaschutz gefährdet Arbeitsplätze, " sagt BUND-Chef Weiger mit Blick auf die quasi bankrotte US-Automobil-Industrie.
Von Philip Banse
Umweltverbände befürchten, das EU-Klimapaket könnte angesichts der wirtschaftlichen Entwicklungen und der uneinheitlichen Reaktion darauf von Seiten der europäischen Staaten nur noch ein Schatten seiner selbst werden. Um das zu verhindern und um aufzuzeigen, was ein schwaches Klimaschutzpaket für die deutsche Wirtschaft bedeuten könnte, hat die Allianz aus verschiedenen umweltpolitischen Organisationen heute ihre Sicht der Dinge in Berlin vorgestellt.
"2008-12-09T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T13:50:36.341000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-ein-starkes-klima-paket-aussehen-sollte-100.html
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Konservative, systemtreue Aktivisten
Proteste der "Letzten Generation" für Klimaschutz in Berlin (picture alliance / dpa / Hannes P Albert) Extremisten sind sie laut CDU-Generalsekretär Mario Czaja. Straßenschlachtartige Zustände wie in den 1920er- und 30erJ-ahren fürchtet FDP-Justizminister Marco Buschmann und Alexander Dobrindt von der CSU warnte schon vor Monaten vor einer „Klima-RAF“. Czaja, Buschmann und alle anderen, die verbal derart aufrüsten, sollten es besser wissen. Vor allem für Marco Buschmann, der als Bundesminister ein Regierungsamt bekleidet, gilt: Verantwortungsvolle Kommunikation sieht anders aus. Gefährlicher historischer Vergleich Den geschichtlichen Vergleich zog Buschmann im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: In den 1920er- und 30er-Jahren habe es straßenschlachtartige Zustände gegeben, bei denen sich Menschen am rechten und linken politischen Rand ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen, so der Minister. Dieser Vergleich ist gefährlich. Klimaaktivisten Die umstrittenen Proteste der „Letzten Generation“ Klimaaktivisten Die umstrittenen Proteste der „Letzten Generation“ Die Aktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ fordern von der Bundesregierung mehr Klimaschutz. Sie kleben sich auf Straßen oder bewerfen Gemälde mit Lebensmitteln. Mehr und mehr geraten sie in das Visier der Strafverfolgungsbehörden. Einerseits, weil er nicht stimmt. Denn die damaligen Straßenschlachten führten paramilitärische Gruppen, die verlängerte Arme von Parteien waren. Auf der einen Seite beispielsweise der Rote Frontkämpferbund, den die KPD gegründet hatte. Auf der anderen Seite die SA, gegründet von der NSDAP. Buschmann suggeriert also Parallelen zwischen dem Protest der letzten Generation und paramilitärischen Gruppen, die von Parteien gezielt auf die Straße geschickt wurden, um Tote in Kauf zu nehmen. Wer also kämpft, um in diesem Bild zu bleiben, für die FDP auf der Straße? Wütende Autofahrer gegen Klimakleber? Sicher nicht. Was der Justizminister mit solchen historischen Vergleichen aber tut, ist, die Polarisierung weiter voranzutreiben. Stattdessen sollte er – ebenso wie alle anderen, die verbal derart aufrüsten – die eigene Aufregung drosseln. Die Forderungen der "Letzten Generation" sind konservativ Die inhaltlichen Forderungen der Gruppe sind nämlich harmlos, man könnte fast schon sagen konservativ, denn sie verlangt von der Bundesregierung lediglich die Politik umzusetzen, die sie selbst versprochen hat - nämlich das 1,5 Grad Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Also etwas, wozu sich Deutschland verpflichtet hat. Kulturwissenschaftler Hornuff"Letzte Generation" ist ein gesellschaftlicher Gewinn 08:21 Minuten22.04.2023 Was die Letzte Generation ganz konkret fordert, um das zu erreichen, ist größtenteils sogar schon Regierungsprogramm: Die Gruppe will ein 9-Euro-Ticket, einen sogenannten Gesellschaftsrat, ähnlich den Bürgerräten im Koalitionsvertrag. Und ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Das alles ist weder radikal noch revolutionär. Das ist ziemlich systemtreu. Der Staat hat genug Mittel Auch wenn vielen dabei die Form des Protests nichts gefällt: Solange das Regelwerk eines Staates funktioniert, muss auch ein Justizminister es aushalten, dass Recht nicht immer eingehalten, sondern auch überschritten wird. Strafrechtlich nämlich gibt es für den klebrigen Protest auf der Straße genügend Paragrafen, mit denen das Verhalten sanktioniert werden kann. Erst kürzlich wurden in Heilbronn Aktivisten der Letzten Generation erstmals zu Haftstrafen verurteilt. Der Staat sitzt also am längeren Hebel. Das weiß auch der Justizminister.
Ein Kommentar von Ann-Kathrin Jeske
Die meisten Forderungen der Aktivisten der "Letzten Generation" stünden so ähnlich auch im Regierungsprogramm, kommentiert Ann-Kathrin Jeske. Auch die Methoden der Gruppe seien kein Grund zur Panik: Der Staat sitze eh am längeren Hebel.
"2023-04-24T19:05:00+02:00"
"2023-04-24T18:02:32.395000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/letzte-generation-uebertriebene-rhetorik-trifft-brave-forderungen-100.html
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Laschet fordert einheitliche Regeln für Bundesliga
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet kritisiert das Vorgehen von RB Leipzig. (SVEN SIMON / dpa) Für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Armin Laschet ist es höchstens eine rhetorische Frage: "Ist es eine Wettbewerbsverzerrung – und natürlich ist eine Wettbewerbsverzerrung, ist eigentlich keine Frage – wenn in einem Stadion 8.000 Zuschauer sind und man einen Heimvorteil hat und in dem anderen man vor leeren Rängen spielt. Deshalb braucht man, glaub ich in Deutschland von der Liga aus gesehen vergleichbare Regeln." Laschet widerspricht Bundesliga-Klubs Bei der gestrigen Sitzung der Deutschen Fußball-Liga, kurz DFL, dem Zusammenschluss der 36 Profi-Klubs, soll das Thema Wettbewerbsverzerrung hingegen keine Rolle gespielt haben – Bayerns Vorstandchef Karl-Heinz Rummenigge oder Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke haben das Leipziger Vorgehen sogar begrüßt. Laschet widerspricht: "Bundesliga ist nach unserer Auffassung etwas, was einen bundesweiten Konsens braucht. Sachsen hat das jetzt für sich in Leipzig anders entschieden, aber wir wollen – wenn wir eine Entscheidung zur Bundesliga treffen – sie möglichst für ganz Deutschland treffen. Und das muss in Dortmund genauso gelten wie dann in München." Auch keine Fans weiter eine Option Bis zum 31. Oktober, so hätten es die Länder mit dem Bund vereinbart, sollen die Chefs der Staatskanzleien eine Lösung erarbeiten. "Aber der 31. Oktober ist der maximale Endpunkt, bis zu dem eine Lösung oder auch keine Lösung, es kann auch ein Ergebnis sein, dass man sagt: Wir machen keine Fußball-Spiele mit Zuschauern, dann wird es länger als der 31. Oktober, nur das Ergebnis soll bis dann vorliegen." Gearbeitet, so Laschet, werde daran aktuell täglich: "Es ist jetzt schon ungut, dass eine Stadt es anders machen will. Vielleicht, sie haben jetzt gerade die Liga zitiert, will sie damit auch Druck auf die Diskussion machen. Wir wollen keine Sonderrolle, sondern eine gesamtdeutsche Lösung bei der Bundesliga, weil auch Fans sich natürlich quer durch Deutschland bewegen und die Vergleichbarkeit auch gesichert werden muss." Bundesliga droht Flickenteppich In NRW dürfen aktuell 300 Menschen ins Stadion, in Bayern sind gar keine Zuschauer gestattet: Alleine in diesen beiden Bundesländern spielen jedoch mit acht Erst- sowie sieben Zweitligisten fast die Hälfte aller Vereine in der 1. und 2. Liga. Erst kürzlich war – auch auf Druck der NRW-Landesregierung – ein Konzert im Düsseldorfer Stadion mit geplanten 13.000 Zuschauern auf unbestimmte Zeit verschoben worden, weil es aus Sicht der Politik ein falsches Zeichen gesendet hätte. Laschet nannte das Infektionsgeschehen als einen wichtigen Indikator, der berücksichtigt werden müsse. "Man wird auch differenzieren müssen zwischen der Größe des Stadions. Also, bei einem kleinen Stadion, wo vielleicht 20-30.000 Zuschauer, kann natürlich nicht die gleiche Zahl sein, wie in einem Großen Stadion. Es muss proportional zu den Abständen, zu den Flächen, zu den Zugängen, eine Lösung gefunden werden." Sollte keine Lösung gefunden werden, droht der Bundesliga ein Flickenteppich und – angesichts unterschiedlicher Bedingungen – eine Diskussion über den sportlichen Wert dieser Saison.
Von Moritz Küpper
RB Leipzig will am 1. Spieltag der Bundesliga 8.500 Fans ins Stadion lassen. Die sächsische Coronaverordnung erlaubt das, eigentlich sollten aber bundeseinheitliche Regeln erarbeitet werden. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hat das Vorgehen der Bundesliga deshalb kritisiert.
"2020-09-04T22:55:00+02:00"
"2020-09-05T10:23:40.203000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fans-in-den-stadien-laschet-fordert-einheitliche-regeln-100.html
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Was dürfen Amtsblätter?
Nach dem Stadtblatt Crailsheim wurde jetzt auch das Amtsblatt der Stadt Dortmund als presseähnlich eingestuft (dpa/Susanne Kupke) Vor Gericht argumentierte das Medienhaus Lensing, das unter anderem die "Ruhr-Nachrichten" verlegt: "Es ist das Recht der freien Presse, Informationen zu filtern und nach Relevanz einzuordnen. Es kann nicht sein, dass der Staat Korrektiv der freien Presse wird, wenn ihm die öffentliche Berichterstattung nicht passt." Das Landgericht Dortmund gab Lensing Recht: Die Internetseite der Stadt dürfe in Inhalt und Aufmachung nicht dem Angebot eines Medienunternehmens gleichen, so das Urteil des Richters. Christian Erhardt, Chefredakteur von "Kommunal", einem Fachmagazin für Bürgermeister, Kommunalpolitikerinnen und Verwaltung, sieht das Urteil als Chance für die Gemeinden: "Das Gericht sagt sehr deutlich, die Gemeinden dürfen ihrer Informationspflicht nachkommen - das heißt: Gemeindeblätter und Amtsblätter sollen sich und ihre Politik erklären. Sie sollen nur nicht über die Dinge berichten, die drumherum passieren." Allgemeine Themen sind für Amtsblätter tabu Die Kommunen sollten zum Beispiel nicht über die Meisterfeier eines Fußballvereins berichten, so Erhardt, sondern: "Berichten Sie über die Ehrenamtlichen hinter den Kulissen bei so einem Fußballspiel, über den Anteil, den die Gemeinde hat: Wie kommt der Strom auf die Wiese? Wie sieht das mit ordnungsrechtlichen Dingen wie Parkplätzen aus? Das ist ursächliche Aufgabe für die Kommunen." Auf der Internetseite vieler Städte finden sich jedoch Artikel, die sehr journalistisch wirken: Auf der Website der Stadt Köln findet sich zum Beispiel ein Artikel mit der Überschrift "Karnevalslieder 2019/2020 - unsere Playlist bringt euch in jecke Stimmung!". Bei münchen.de gibt es einen Text über "9 besondere Fahrradläden". Und auf hamburg.de steht eine Nachricht darüber online, dass das "Atomkraftwerk Brokdorf wegen Reparatur vom Netz" muss. Für Erhardt ein klarer Fall von Artikeln, die auf den Internerauftritten von Städten eigentlich nichts zu suchen haben: "Das stellen wir überhaupt fest: Dass in diversen Großstädten sich häufig nicht auf das konzentriert wird, was die eigentliche Aufgabe ist." Dies sei laut Erhardt allerdings eine Ausnahme - von den rund 11.000 deutschen Kommunen kämen weit über 10.000 ausschließlich ihrer Informationspflicht nach.
Christian Erhardt im Gespräch mit Christoph Sterz
Die Stadt Dortmund verstößt mit ihrem Onlineauftritt gegen das Gebot der Staatsferne der Presse - das hat das Landgericht Dortmund entschieden. Amtsblätter und städtische Webpräsenzen gehörten zur Vielfalt, dürfen jedoch keine publizistische Konkurrenz sein, so Christian Erhardt vom Fachmagazin "Kommunal".
"2019-11-11T11:28:00+01:00"
"2020-01-26T23:18:44.386000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/presseaehnlichkeit-was-duerfen-amtsblaetter-100.html
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Supraleitendes Windrad besteht den Test im Probelauf
Der kompakte Generator wird an der Stewart-Plattform angedockt, um die Lasten der Rotorseite dynamisch einzuleiten. (Fraunhofer IWES / Jan Meier) "Wir behandeln lange Bänder. Das ist nichts anderes, als wenn man ein Tonband hat." Die Firma THEVA in Ismaning bei München. Geschäftsführer Werner Prusseit steht in der Produktionshalle und hat etwas in der Hand, das in der Tat an ein altes Tonband erinnert. Es ist ein Hightech-Material, das Strom verlustfrei leitet – vorausgesetzt, mal kühlt es ab auf unter 200 Grad Celsius. Denn die dunkelgrauen, metallisch glänzenden Keramikbänder sind Hochtemperatur-Supraleiter, die Strom effektiv und quasi verlustfrei leiten. "Durch diesen Querschnitt – vier Millimeter breit und ein Zehntel Millimeter dick – können Sie so viel Strom transportieren wie durch ein daumendickes Kupferkabel!" Allerdings ist das Material spröde. Erst seit einiger Zeit gelingt es, große Spulen aus ihm zu wickeln, wie man sie zum Beispiel für Generatoren braucht. Und so ein supraleitender Generator hätte für Jesper Hansen vom Windradhersteller Envision Energy einen großen Vorteil. 40 Prozent weniger Gewicht "Wir könnten damit sehr kompakte und leichte Generatoren bauen. Und das ist vor allem für Offshore-Windräder interessant. Gegenüber den heutigen Anlagen ist eine Gewichtsreduktion von 40 Prozent drin." Generatoren für große Windräder wiegen heute mehr als 200 Tonnen. Künftig plant die Branche sogar noch größere Anlagen. Mit supraleitenden Generatoren ließe sich das Gewicht dieser Riesen halbwegs im Rahmen halten. Um die Technik zu testen, baut Envision nun mit Partnern wie THEVA das erste supraleitende Windrad der Welt. "EcoSwing", so heißt das EU-Projekt, soll 3,6 Megawatt leisten und ist mit einem Durchmesser von vier Metern relativ kompakt. "Mittlerweile gibt es sehr gute Hersteller für supraleitende Spulen. Sie können die Kabel in verlässlicher Qualität produzieren und zu Spulen wickeln. Und wir haben Methoden entwickelt, wie man diese Spulen gründlich genug testen kann, bevor wir sie in ein Windrad packen." Ein wichtiger Test ist gerade beendet, und zwar in Bremerhaven am Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik. "Wir stehen hier vor einer 30 Meter hohen Halle. Diese Höhe brauchen wir, um unsere großen Prüflinge überhaupt in unsere Halle hineinzubekommen." Prüfstand bringt Material ans Limit Fraunhofer-Forscher Jan Wenske zeigt auf einen Prüfstand, der Windrad-Generatoren auf Herz und Nieren durchcheckt. Dazu wird der Generator mit Hilfe eines mächtigen Deckenkrans an zwei haushohe Elektromotoren angeflanscht, montiert auf einem Gestell aus meterdickem Stahlbeton. Die Motoren simulieren die gewaltigen Kräfte des Windes. Sensoren messen, wie der Generator darauf reagiert. "Hier wird das Material immer ans Limit gebracht. Unser Prüfstand ist dazu da, Anlagen in Extremsituationen zu stressen." Der supraleitende Generator hat den monatelangen Test bestens bestanden. Bis Ende dieses Jahres soll er in ein Windrad installiert werden, direkt an der dänischen Nordseeküste. "Hier wollen wir den supraleitenden Generator ein Jahr lang testen. Wir wollen herausfinden, wie er sich in der Praxis bewährt. Da werden wir sicher noch einige Erfahrungen sammeln." Gondelprüfstand DyNaLab am Fraunhofer IWES (Deutschlandradio / Frank Grotelüschen) Besonderes Augenmerk liegt auf dem Kühlsystem. Damit die Supraleitung zuverlässig funktioniert, muss es den Generator auf minus 240 Grad Celsius herunterkühlen. "Dieses Kühlsystem funktioniert wie das eines MR-Scanners im Krankenhaus, auf der Basis eines Heliumkompressors. Wie zuverlässig wird es in einer Umgebung sein, die sich laufend bewegt und ständigen Vibrationen ausgesetzt ist?" 100 Kilowatt verbraucht die Kühlung an Strom – rund drei Prozent der Maximalleistung des Generators. Bei Wind wird der Strom für die Kühlung vom Windrad geliefert, bei Flaute kommt er aus dem Netz. 2019, zum Abschluss des EU-Projekts, wollen die Experten Bilanz ziehen und auswerten, wie sich die Technik unter den rauen Bedingungen an der dänischen Küste bewährt hat. Mit einer Markteinführung aber, sagt Jesper Hansen, dürfte wohl nicht so schnell zu rechnen sein. "Das wird noch ein bisschen dauern. Denn bislang gibt es noch zu wenige Zulieferfirmen für die Supraleitung. Und wir konkurrieren gegen eine Technologie, die 100 Jahre alt ist und für die es etablierte Lieferketten gibt. Es muss also erstmal eine Zuliefer-Industrie wachsen. Und das wird seine Zeit brauchen."
Von Frank Grotelüschen
Höher, größer und mehr Leistung. Mittlerweile sind Windkraftanlagen so groß und schwer, dass Transport und Aufbau immer schwieriger werden. Die Lösung: deutlich leichtere und kompakte Generatoren mit Hochtemperatur-Supraleitern. Im Rahmen eines EU-Projekts entsteht das erste supraleitende Windrad der Welt.
"2018-06-12T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:44.676000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schlankheitskur-fuer-riesenrotoren-supraleitendes-windrad-100.html
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Folter, Angst und Willkür
Mindestens 79 illegale Foltergefängnisse haben die ukrainischen Menschenrechtsorganisationen inzwischen ausgemacht. (imago / Pixsell) Hintergrund: "Ostukraine Folter, Angst und Willkür" (Englische Übersetzung als pdf-Dokument) Hintergrund: "Ostukraine Folter, Angst und Willkür" (Russische Übersetzung als pdf-Dokument) Rund drei Millionen Menschen leben derzeit in den besetzten Gebieten des Donbass, schätzungsweise ein Drittel der angestammten Bevölkerung ist geflohen. Vor dem Krieg, den Zerstörungen, vor der Rechtlosigkeit, die mit der Machtübernahme der prorussischen Separatisten um sich griff. "Ich habe nicht gedacht, dass ich einmal Kriegsverbrechen dokumentieren würde", sagt Oleksandra Matwitschuk vom Zentrum für bürgerliche Freiheiten. Insgesamt 17 Menschenrechtsorganisationen aus Kiew, Donezk, Lugansk, Charkiv, Starobilsk und Alchevsk haben sich zusammengeschlossen zu einer Koalition mit dem Namen "Recht auf Frieden im Donbass" und dokumentieren seit Ende 2014 Verbrechen an Zivilisten und Angehörigen bewaffneter Verbände. "Natürlich müssen wir schon jetzt über eine Befriedung des Landes nachdenken. Aber wir müssen auch Beweise sammeln, solange wir an sie herankommen. Denn früher oder später müssen Personen, die Kriegsverbrechen begangen haben, vor internationalen und nationalen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden, unabhängig auf welcher Seite übrigens." "Das ist eine Gesellschaft der Angst" Die junge Juristin gehörte vor der geplanten Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union mit ihrer Organisation zu den Experten, die die ukrainischen Gesetze auf ihre EU-Tauglichkeit abgeklopft hatten. Doch seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass steht ihre Menschenrechtsorganisation vor ganz anderen Aufgaben, die sie enorm fordern. "Es ist schwer, wenn du mit einer Frau sprichst, die schwanger war, als sie gekidnappt wurde. Die trotzdem geschlagen wurde und der man sagte, dass ihr Kind kein Recht auf Leben hätte, weil sie – die Mutter –, eine Jüdin, noch dazu eine mit proukrainischen Ansichten sei. Und wenn ich das manchmal kaum ertrage, denke ich an die Menschen, die das alles überstanden haben und an all die Aktivisten in dem besetzten Gebiet." Ein umfassendes Lagebild der okkupierten Krim und der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ist schwer zu erhalten. Die Juristen bekommen keinen Zugang, Journalisten selten, wenn sie nicht für Medien der sogenannten Volksrepubliken oder Russlands berichten. Deswegen sind unabhängige Redaktionen auf die Hilfe der Bewohner angewiesen, die das Risiko auf sich nehmen, mit Mini-Kameras zu dokumentieren, was sie für berichtenswert halten. So behilft sich das Bürgerfernsehen Gromdaske TV Donbass, sagt Olexej Matsuka. "Das ist eine Gesellschaft der Angst. Dort sind die Rechte und das Eigentum des einzelnen nicht geschützt, man kann niemanden anzeigen, es gibt keinen Ombudsmann, keine Parteien, keine gesellschaftlichen Institutionen, die bestehenden wurden aufgelöst. Es gibt keine freien Medien, entsprechende Internetseiten werden blockiert. Wir senden über die sozialen Netzwerke, die sie nicht blockieren können. Uns folgen auf Twitter 200.000 Personen, auf Facebook einige zehntausend. Was sehr viel ist für Donezk." Ein Panzer der prorussischen Separatisten in der Region um Donezk (dpa / picture-alliance / Mikhail Sokolov / TASS) Für die freiwilligen Korrespondenten ist der Journalist voller Hochachtung wie auch für die Menschenrechtsorganisationen, die unermüdlich Zeugnisse von Rechtsverstößen registrieren und dokumentieren, unterschiedslos, wo und von wem sie verübt wurden. Die Aktivisten haben festgestellt, dass die allermeisten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu verzeichnen sind. Fälle von Kidnapping und Folter kamen auch bei den ukrainischen Freiwilligen-Bataillonen vor. Die ukrainischen Staatsanwaltschaften ermitteln. Doch nicht bei Verbrechen, die in den besetzten Gebieten geschehen sind, weil sie dorthin keinen Zugang hätten, sagt Oleksej Matsuka. Die Behörden würden den Bürgerrechtsorganisationen die gesamte Arbeit überlassen. "Seit zwei Jahren warten wir auf ein Zentrum, das alles registriert, was in diesen besetzten Gebieten vor sich geht. Die Regierung hat nun ein Ministerium eigens für die besetzten Gebiete geschaffen. Die Menschen haben die Hoffnung, dass wenigstens ab jetzt systematisch erfasst wird, welche Verbrechen dort verübt werden. All das wird bis zum heutigen Tag nur von Nichtregierungsorganisationen dokumentiert." Der Verbund der Menschenrechtsorganisationen schickt mobile Teams, meist Juristen, in die zurückeroberten Städte und an die Grenze des besetzten Gebiets, wo Opfer bzw. Zeugen von Rechtsverletzungen befragt werden. Die Dokumente sollen an das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und andere zuständige Gerichte übergeben werden. Die Aussagen werden anonymisiert. Doch nicht jeder legt Wert auf diesen Schutz. Oleksander Hryschtschenko beispielsweise stellt sich auch für das Radio-Interview erst einmal vor. "Mein Name ist Oleksander Hryschtschenko, Bewohner der Stadt Lugansk, vielmehr ehemaliger Einwohner von Lugansk." Der Amtstierarzt aus Lugansk ist eine gepflegte Erscheinung, er wirkt fast überkorrekt, schildert sorgfältig, was ihm widerfuhr, nachdem man ihn auf offener Straße vor seinem Büro festnahm. Das war im Juni 2014. Oleksander Hryschtschenko, 55 Jahre alt, Tierarzt aus Lugansk, wurde von Separatisten gefoltert und lebt jetzt als Flüchtling in Kiew (Deutschlandradio / Sabine Adler) "Ich musste mich ganz ausziehen. Einer schnitt Stücke von einer Schnur ab und legte mir Schlingen um die Handgelenke. Ich sollte mich auf den Tisch mit dem Gesicht nach unten legen, die Arme auseinander. Einer, der sich Maniak - Irrer - nannte, schlug mir mit einem Plastikrohr auf die Fersen, Hüften und den Rücken. Dann wies er an, meine rechte Hand zu fixieren, um mir die Finger zu brechen. Zum Glück krachte plötzlich der Tisch, auf dem ich lag, zusammen. Maniak zeigte mir ein Operationsbesteck. Er erklärte jedes einzelne Instrument und sagte, dass er mir mit der Knochensäge Stück für Stück die Finger absägen wolle. Er setzte die Säge zwischen Ring- und kleinem Finger an. Hier ist die Narbe. Es war furchtbar. Schmerzhaft. Ich flehte ihn an, mich nicht zu verstümmeln." Die Rebellen hielten ihn für einen Spion der ukrainischen Armee. Denn Oleksander Hryschtschenko hatte einen Fotoapparat bei sich, als er den Separatisten in die Hände fiel. Mit Aufnahmen von proukrainischen Demonstrationen in Lugansk, Putin-kritischen Plakaten. Der Tierarzt fotografierte gern, gerade in den Tagen, in denen das ganze Leben auf dem Kopf stand. Wegen der Kämpfe arbeitete niemand mehr. Doch der Veterinär sorgte sich um die Fische in dem Aquarium seines Büros. Er ging sie füttern. Seine Tierliebe wurde ihm zum Verhängnis. Er bezahlte sie mit seiner Freiheit und Gesundheit, er wurde mit Elektroschocks malträtiert, geschlagen: Ein Separatist boxte ihn wegen der vermeintlich antirussischen Fotografien ins Gesicht. Ein anderer sprang ihm auf den Brustkorb und schlug mit einem Gummihammer auf seinen Oberkörper ein. Röntgenaufnahmen zeigten später, dass Brustbein und Rippen gebrochen waren. So wurde er nach stundenlanger Folter nackt in eine Zelle geworfen. "In diesem Karzer befand sich auch ein über 80 Jahre alter Mann. Er konnte nicht laufen, nicht selbst essen, nicht auf Toilette. Für ihn waren diese Bedingungen zu viel. Er starb." Ein Keller in Lisitschansk, in dem Zivilisten und Angehörige der ukrainischen Armee gefangen gehalten und gefoltert worden sein sollen. (Koalition von Hilfsorganisationen "Recht auf Frieden im Donbass") Mindestens drei Mitgefangene seien vor seinen Augen gestorben. Hunderte Häftlinge hat Hryschtschenko während seiner vier Monate in dem Folterkeller gezählt und sie gefragt, warum sie verhaftet wurden. Einer, weil er im Pass ein Farbfoto hatte. Ein anderer, weil sein Foto schwarz-weiß war. Einer weil er ein Bier gekauft hatte - die Separatisten kämpfen angeblich gegen Alkoholismus - ein anderer, weil er fünf Minuten nach Beginn der Sperrstunde vor seinem Haus stand. Bei über 80 Prozent der Festnahmen waren russische Armee- und Geheimdienstangehörige beteiligt, verzeichneten die Menschenrechtsaktivisten. 58 russische Staatsbürger sind ihnen namentlich bekannt. Angaben zu ihren Personen werden ebenfalls dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag übermittelt. Die ukrainischen Gefangenen, Soldaten der Landesarmee oder Freiwilligen-Bataillone wie auch Zivilisten wurden in Kellern festgehalten und gefoltert, mussten Zwangsarbeit verrichten. "Viele wurden unter fadenscheinigen Vorwänden festgenommen, um jede Menge Zwangsarbeiter zur Verfügung zu haben: um Sandsäcke zu füllen, Barrikaden zu errichten, Lkw zu be- oder entladen, Militärtechnik zu reparieren. Sie brauchten kostenlose Arbeitskräfte." Mindestens 79 illegale Foltergefängnisse ausgemacht In den okkupierten Gebieten herrscht reine Willkür. Über 80 Prozent der Festgenommenen wurden mit Waffen bedroht, niemand bekam eine Begründung für den Arrest, niemand einen Rechtsbeistand. Anfangs wurde Jagd auf Journalisten und Aktivisten von Zivilorganisationen gemacht, dann auf Geschäftsleute, um ihre Unternehmen und ihren Besitz an sich zu reißen. Jetzt gibt es keinerlei Muster, sagt Oleksandra Matwitschuk. "Als die Besetzung begann, wurden zuerst die demokratischen Aktivisten schikaniert. Das war als Signal an die bis dahin Passiven gedacht, dass auf jeden x-Beliebigen ein solcher Druck ausgeübt werden kann. Sie haben sehr bewusst diesen Terror verbreitet, um rasch die Kontrolle über das Gebiet zu bekommen." Auch der jetzige sogenannte Ministerpräsident von Donezk, Alexander Sachartschenko zum Beispiel, soll an Folter beteiligt gewesen sein. Er soll persönlich einem Mann mit einem Hammer den rechten Zeigefinger zertrümmert haben, berichtet ein Zeuge, der in den Akten der dokumentierenden Organisationen das Pseudonym C 125 erhielt. Alexander Sachartschenko, Ministerpräsident der "Donezker Volksrepublik", schlug selber zu (picture alliance / dpa / Sharifulin Valery) Mindestens 79 illegale Foltergefängnisse haben die ukrainischen Menschenrechtsorganisationen inzwischen ausgemacht. Alle in den sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk. Die sogenannte "Schnelle Eingreiftruppe" der Lugansker Separatisten mit dem Anführer Alexander Alexandrowitsch Bednow, der sich Batman nannte, hatte die Aufsicht über das illegale Gefängnis, in dem Oleksander Hryschtschenko vier Monate festgehalten wurde. Es befand sich im Keller des Maschinenbauinstituts der Universität von Lugansk. Nach fast vier Monaten seiner Haft schaffte es ein Gefangener, ein Handy in die Zelle zu schmuggeln. Die Außenwelt wurde informiert. Das Gerücht machte die Runde, dass die OSZE die Universität und den Folterkeller inspizieren wolle. In Windeseile verfrachteten die Rebellen die Häftlinge in eine Industriebrache. Die Gefangenen rettete schließlich, dass verschiedene Separatisten-Gruppen miteinander konkurrierten. Die sogenannte Polizei der Lugansker Volksrepublik fand sie am 13. November in der Industrieanlage. Doch noch immer wurden sie nicht freigelassen. Sie sollten aussagen, denn der sogenannte Ministerpräsident von Lugansk, Igor Plotnitzki, wollte Batman angeblich den Prozess machen. Dazu kam es bis heute nicht, doch die Gefangenen wurden weiter festgehalten, nun in der Lugansker Steuerbehörde. Bis zum 29. Dezember. Nach sechs Monaten Haft. "Am liebsten wäre ich losgerannt. Aber ich zügelte mich, aus Angst, sie würden mich dann jagen. Auf den Straßen lag Schnee und ich trug meine Sachen vom Sommer, war ohne Geld, Telefon, Hausschlüssel, ohne Pass. Ich sah aus wie ein Obdachloser. Die Haare monatelang nicht geschnitten, ungewaschen, schmutzige Kleidung. Ich bat Passanten, mich mit ihrem Handy telefonieren zu lassen. Erst der fünfte erlaubte es. Ich kam bei Bekannten unter, ich konnte ja nicht in meine Wohnung. Dazu hätte ich meine Tür aufbrechen müssen und wäre wohl gleich wieder verhaftet worden." Erst Tage später wagte er, das alte Schloss aus- und ein neues einzubauen. Nach einem halben Jahr war er endlich zu Hause. "Ich hatte meine Papiere wieder, zog meine eigenen Sachen an und war endlich wieder ein Mensch." Die Freude währte nur kurz, den ehemaligen Gefangenen wurde bedeutet zu verschwinden, sie seien unliebsame Zeugen. Oleksander Hryschtschenko floh nach Kiew. Als Flüchtling bekam er vom ukrainischen Staat zweimal 400 Griwna, zusammen 30 Euro. Unzählige Freiwillige helfen, wozu die Behörden derzeit nicht in der Lage sind, sagt Oleksandra Matwitschuk: "Wir haben eine Koalition gebildet aus unterschiedlichen Hilfsorganisationen, die den Notleidenden unbezahlt ihre Dienste anbieten bei der psychologischen Betreuung, bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Es gibt in der Gesellschaft im Moment eine hohe Bereitschaft, mit Freiwilligen das zu erledigen, wozu die Behörden noch nicht in der Lage sind." Doch die Angebote bleiben ein Tropfen auf dem heißen Stein angesichts des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen. "Wir haben 165 Personen befragt, die durch eine ähnliche Hölle gegangen sind. Wir können nachweisen, dass im vergangenen Sommer 4.000 Menschen in Geiselhaft gewesen sind. Das ist nur das, was wir dokumentieren konnten, von sehr vielen Menschen, die festgehalten werden, weiß man nichts. Die Verwandten wenden sich nicht an unsere Hilfsorganisationen, weil sie annehmen, dass wir ihnen nicht helfen können. Und sie wenden sich auch nicht an die ukrainischen Sicherheitsorgane, weil sie ihnen nicht trauen und sie fürchten." Zehn Prozent der Opfer sind Frauen, zwei davon waren schwanger, eine verlor ihr Kind. Die Zeuginnen berichteten von Schlägen, sagten aus, dass ihnen Schnittwunden an Hals, Händen und Beinen zugefügt wurden, dass man sie mit Elektroschocks misshandelte, es Scheinhinrichtungen gab, Folter mit brennenden Zigaretten. Sie alle müssten psychologisch betreut werden. Aber nicht nur sie: "Allein im vorigen Jahr wurden 35.000 Soldaten demobilisiert. Sie sind aus dem Krieg zurückgekehrt und haben ihn doch in ihr Leben mitgenommen, in ihre Beziehungen, Familien. Die psychologische Hilfe reicht nicht hinten und nicht vorn." Wolodimir Wasylenko leitet die Kommission für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine. Von 2001 bis 2005 war er Richter am Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien. Auf einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew erklärte er, dass die Kriegsverbrechen im Osten des Landes ein Fall für Den Haag seien: "Das ukrainische Parlament hat am 4. Februar 2015 eine Erklärung über die Annahme der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs angenommen. Die ukrainische Regierung und die Behörden müssen jetzt die Materialien und Dokumente an das Strafgericht übergeben. Ich weiß, dass das Material über die systematische und massenhafte Verletzung der Menschenrechte im Donbass und auf der Krim noch nicht sorgfältig genug gesammelt wird, das muss sich verbessern." "Wir verteidigen in allererster Linie unsere Werte, für die wir auf den Maidan gegangen sind" Eine Kritik an den noch immer trägen Strafverfolgungsbehörden. Wenn sich die Ukraine von Russland unterscheiden wolle, solle sie den Kampf um die Menschenrechte weit ernster nehmen, findet Oleksandra Matwitschuk. "Die Ukraine müsste jetzt besonders sorgsam mit den Binnenflüchtlingen umgehen, mit Menschen, die gefoltert wurden. Es müsste jetzt ganz demonstrativ Ermittlungen geben. Und die von den Separatisten zurückeroberten Gebiete müssten zu Schaufenstern werden, dort müsste besonders eindrucksvoll gezeigt werden, was die Ukraine für ihre Bürger tut. Es geht hier nicht nur um unser Territorium, wir verteidigen in allererster Linie unsere Werte, für die wir auf den Maidan gegangen sind." Menschen mit Ukraine- und EU-Flaggen auf dem Maidan in Kiew (dpa / picture alliance / Zurab Dzhavakhadze) Die Menschenrechtler sinnen, wie sie sagen, nicht auf Rache, sondern streben nach Gerechtigkeit und legen Wert auf ein sichtbares Signal, dass Kriegsverbrechen geahndet werden. Aus diesem Grund sind die Aktivisten strikt gegen eine Amnestie, die Russland im Minsker Friedensprozess immer wieder fordert. "Wenn wir die Polizei in den zurückeroberten Orten fragen, warum sie die Verbrechen nicht aufklären, bekommen wir zur Antwort: Es wird doch sowieso eine Amnestie geben. Wenn dagegen der deutsche Außenminister sagen würde, dass es keine geben wird und Deutschland für die Einhaltung der Menschenrechte und die Bestrafung der Kriegsverbrecher eintritt, wären wir sehr dankbar. Allein für diese Worte. Das hätte auf diejenigen, die Menschenrechte verletzten, eine große Wirkung." Dass die Bundesrepublik Kiew drängt, mit einer Verfassungsänderung die Voraussetzungen für Wahlen in den sogenannten Volksrepubliken zu schaffen, versteht die Juristin nicht, denn weit nötiger als ein Wahlgesetz seien Recht und Sicherheit. "Wenn die Menschen Angst vor jeder Art von Kritik haben, weil sie dafür in einen Keller gesperrt werden könnten, dann helfen keine Wahlen, auch nicht, wenn die OSZE sie überwacht. Denn die Beobachter fahren wieder weg, aber die Menschen müssen dort bleiben und leben. Wenn die Einwohner des Donbass aus Angst um ihr Leben nicht auf Versammlungen gehen, sich selbst zensieren in ihren Äußerungen, keinerlei Hoffnung auf Gerechtigkeit durch Gerichtsprozesse haben, dann sind Wahlen keine Lösung, sondern ein Instrument, mit dem diese Militärdiktatur dort legitimiert wird." So engagiert die Hilfsorganisationen auch sind: Sie entlassen den ukrainischen Staat nicht aus seiner Verantwortung. Der habe die Menschen auf der Krim wie im Donbass nicht geschützt, sondern sie im Stich gelassen und den Okkupanten völlig ausgeliefert. Als nächstes planen die Aktivisten eine eigene Dokumentation über Verbrechen auf ukrainischer Seite.
Von Sabine Adler
Im Osten der Ukraine herrscht Krieg. Prorussische Separatisten kämpfen für eine Abspaltung von dem Land, vor gut zwei Jahren proklamierten sie die Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Viele Menschen sind seitdem geflohen. Wer geblieben ist, erlebt eine Region in Angst. Unsere Korrespondentin berichtet von Folter und Willkürherrschaft.
"2016-05-18T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:59.767000+01:00"
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Wie holt man Menschen aus der politischen Teilnahmslosigkeit?
Luftaufnahme von Ende Septemerb 2018: eine Wohnsiedlung in Köln-Chorweiler, Hochhäuser umgeben von Bäumen (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
Boeselager, Felicitas
Manche Milieus und Viertel fühlen sich von der Politik nicht mehr angesprochen. Wie kann man die Menschen dort erreichen, sie für demokratische Teilnahme gewinnen? Ein Besuch in Köln-Chorweiler, wo die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl im Mai bei etwas über 20 Prozent lag.
"2022-08-08T07:47:23+02:00"
"2022-08-08T08:06:15.949000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niedrige-wahlbeteiligung-wie-geht-partizipation-dlf-bc0a7484-100.html
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"Diese Position hat keine Mehrheit in Polen"
Proteste vor dem Verfassungsgericht in Warschau im August 2021 (imago/Zuma Wire) Schon vor Wochen sollte das polnische Verfassungsgericht eigentlich ein Grundsatzurteil zur Frage fällen, welche Rechtsprechung Vorrang genießt, das polnische oder das EU-Recht. Mehrfach wurde der Urteilsspruch verschoben, Donnerstagabend kam er nun, und er lautete, wie von vielen befürchtet: das polnische Recht hat grundsätzlich Vorrang. Hintergrund ist die umstrittene Justizreform in Polen. Die EU-Kommission will nach eigenen Angaben nun alles daran setzen, dass in Polen auch in Zukunft europäisches Recht eingehalten wird. Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen betonte, die EU-Kommission werde das Urteil zügig analysieren und dann über die nächsten Schritte entscheiden. Möglich wären zum Beispiel finanzielle Druckmittel. Der polnische Regierungschef Morawiecki wies hingegen Forderungen nach einem Austritt seines Landes aus der EU zurück. "Ein innenpolitisches Spiel" Der Politikwissenschaftler Piotr Buras, Leiter der Zweigstelle der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Warschau, sagte im Dlf, mit dem Urteil sei eine künstliche verfassungsrechtliche Hürde aufgebaut worden gegen den EU-Vertrag und gegen die Anwendung eines bestimmten, sehr wichtigen Artikels des europäischen Vertrags. Diese Position habe aber im Land selbst keine Mehrheit. "Das ist ein Versuch, diesen rechten Rand, euroskeptischen Rand, eurofeindlichen Rand zu bedienen und zufriedenzustellen, anders kann man das nicht erklären." Worum es beim Streit um Polens Jusitzreform gehtDie EU-Kommission will Zwangsgelder gegen Polen verhängen, weil die Regierung weiter an ihrer umstrittenen Disziplinarkammer festhält. Es ist die nächste Eskalation im Streit um den Umbau von Polens Justizsystem. Das Interview im Wortlaut Sawicki: Es gibt ja eine Menge Kommentare, die in die Richtung zielen, dass das jetzt ein Schritt Richtung Pol-Exit, also eines Ausscheidens Polens aus der EU sei. Trifft es das im Kern? Buras: Ja nicht wirklich. Ich glaube, natürlich rein verfassungsrechtlich gesehen müsste Polen die Europäischen Union eigentlich verlassen nach diesem Urteil, weil wenn bestimmte Artikel des EU-Vertrags mit der polnischen Verfassung nicht zu vereinbaren sind, dann haben wir nur drei Möglichkeiten: Wir können die EU-Verträge ändern, wir können unsere Verfassung ändern oder die Europäischen Union verlassen. Die beiden ersten Möglichkeiten sind eigentlich ausgeschlossen, also es bleibt nur die dritte Option. Aber es ist natürlich vielleicht nicht so schlimm oder nicht so einfach, nämlich das polnische Verfassungsgericht ist ein Instrument der polnischen Regierung, das ist kein unabhängiges Gericht, und wir wissen auch, dass die polnische Regierung sich auch an die polnische Verfassung, auch die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts nicht unbedingt hält. Insofern, das ist ein politisches Spiel. Man muss eben diesen Schluss nicht ziehen, wenn die polnische Regierung das machen will, kann sie auch dieses Urteil ignorieren in der Absprache mit dem Verfassungsgerichtshof. Also das ist nicht zwingend, dass Polen die Europäischen Union verlässt, es ist eher so, dass mit diesem Urteil eine künstliche verfassungsrechtliche Hürde aufgebaut wurde gegen den EU-Vertrag und gegen die Anwendung eines bestimmten, sehr wichtigen Artikels des europäischen Vertrags. "Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit außer Kraft gesetzt" Sawicki: Und wenn wir darauf erst mal noch schauen, was folgt erst mal ganz konkret unmittelbar aus diesem Urteil, das wir am Donnerstag gesehen haben? Buras: Paradoxerweise sehr wenig, das ist ja ein innenpolitisches Spiel. In den letzten Jahren hat die Regierung Recht und Gerechtigkeit das polnische Justizwesen gründlich umgebaut und das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit außer Kraft gesetzt. Sawicki: Da würde die Regierung widersprechen – ist das für Sie ausgemachte Sache? Buras: Nein, das steht fest, dazu gibt es auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs, und das ist eben der Grund dafür, dass die polnische Regierung jetzt will die Anwendung dieser Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die darauf hinauslaufen, dass eben diese Justizreformen zurückgenommen werden müssen, in Polen verhindern. Und dazu ist eben die verfassungsrechtliche Hürde da oder Blockade, aber die ist aus der Sicht der europäischen Institutionen völlig belanglos. Der Europäische Gerichtshof hat schon vor ein paar Tagen zu Recht festgestellt, dass die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs kein Argument ist, gegen die Anwendung der europäischen Verträge und nicht als solches angesehen werden kann. Das eigentliche Problem, das wir haben, ist, dass die polnische Regierung die Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht umsetzt, und zwar nicht seit gestern, sondern zumindest seit Juli, als zwei wichtige Urteile verkündet worden sind. Und eben dieses Urteil von gestern wird nichts daran ändern. Druck der EU wird Wirkung zeigen Sawicki: Genau, und man erwartet ja jetzt eine Reaktion der EU – das wurde ja bereits angekündigt –, dass man das Urteil, also in Brüssel die Kommission, die will das Urteil analysieren und dann zeitnah antworten. Welche Reaktion in Brüssel würde denn in Warschau Eindruck hinterlassen? Buras: Momentan wird darüber verhandelt zwischen der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission, ob der polnische Recovery Plan, das heißt dieser polnische nationale Wiederaufbauplan, aus dem Polen mehrere Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt bekommen soll in kommenden Jahren, von der Europäischen Kommission akzeptiert werden soll. Eine der Voraussetzungen dafür ist, dass Polen eben zumindest einen Teil dieser Justizreformen zurücknimmt und vor allem eben die Urteile vom Juli umsetzt. Ich glaube, das ist der wichtigste Hebel, wenn es eben um diese jetzt etwas verfahrene Lage geht für die Europäische Kommission, und den muss man ansetzen. Ich glaube, es ist ja fast unvorstellbar, dass die Europäische Union mehrere Milliarden Euro an ein Land auszahlen sollte, das eben auf eine eklatante Art und Weise das europäische Recht außer Kraft setzt. Das ist eben wahrscheinlich das wichtigste Feld, auf dem sich das abspielt. Sawicki: Würde das wirklich ein Umdenken in Warschau bewirken, wenn Milliarden Euro an Zuschüssen, an Subventionen aus welchen Fonds auch immer, wenn die zurückgehalten werden würden? Buras: Ich glaube, es geht nicht darum, das Geld eben nicht auszuzahlen, sondern damit anzudrohen und zu sagen, das sind die Voraussetzungen dafür, dass das Geld nach Polen fließt. Und ich glaube, das hat schon eine gewisse Wirkung gezeigt. Diese Verhandlungen haben sich jetzt in die Länge gezogen in den vergangenen Wochen, eben aus dem Grund, dass die Kommission eben auf diese Konditionen bestanden hat, und ich glaube, das wird schon Wirkung zeigen. Vor allem muss man auch bedenken, die polnische Gesellschaft ist sehr stark proeuropäisch, unterstützt die EU-Mitgliedschaft, und es wird auch bestimmt Druck aus Polen geben, eben dieses europarechtliche und verfassungsrechtliche – aus der polnischen Sicht – Urteil eben zurückzunehmen. Sawicki: Genau, da wollte ich Sie auch noch fragen, wir haben nicht mehr so viel Zeit, aber wenn Sie sagen, dass das Ganze sozusagen ein politisches Urteil gewesen sei, dass das ein politisiertes Verfassungsgericht sei, und gleichzeitig aber die deutliche Mehrheit der Menschen in Polen für eine EU-Mitgliedschaft ist und für gute Beziehungen innerhalb der EU, warum fährt Warschau dann diesen konfrontativen Kurs? Buras: Es gibt eine Auseinandersetzung auch innerhalb der polnischen Regierung zwischen einem europaskeptischen Teil und einem EU-feindlichen Teil der Regierung – die Regierung hat jetzt Probleme mit der parlamentarischen Mehrheit, die ist gar nicht sicher –, und dieser innenpolitische Hintergrund ist sehr wichtig, um eben diese ganze Lage zu verstehen. Das ist ein Versuch, diesen rechten Rand, euroskeptischen Rand, eurofeindlichen Rand zu bedienen und zufriedenzustellen, anders kann man das nicht erklären. Diese Position hat keine Mehrheit in Polen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Piotr Buras im Gespräch mit Peter Sawicki
Der Politikwissenschaftler Piotr Buras erwartet nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zum EU-Recht zunehmend Druck aus der Gesellschaft. Die Positionen, mit denen man vor allem den rechten, euroskeptischen Rand zufriedenzustellen wolle, hätten in der polnischen Bevölkerung keine Mehrheit, sagte er im Dlf.
"2021-10-09T06:50:00+02:00"
"2021-10-10T09:31:12.765000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polnisches-urteil-zu-eu-recht-diese-position-hat-keine-100.html
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"Das Völkerrecht gilt für alle"
Linken-Fraktionschef Gregor Gysi (JOHANNES EISELE / AFP) "Es ist die alte US-Haltung, wonach Amerika der Weltpolizist ist", sagte Gysi. Der UN-Sicherheitsrat müsse endlich tagen und eine Resolution beschließen. Andernfalls fehle die rechtliche Grundlage. Weder Peking noch Moskau hätten ein Interesse an einem weiteren Vorrücken der Islamisten. Eine Verständigung sei in dem Gremium schnell hinzubekommen, wenn andere Konflikte ausgeblendet würden. Nach Ansicht von Gysi wird der Sicherheitsrat nicht angerufen, weil das Verhältnis zwischen Russland und den USA vor dem Hintergrund des Ukraine-Konfliktes zerrüttet ist. Gysi sagte weiter: "IS ist eine terroristische Söldner-Armee, die man stoppen muss." Die Linke sei aber der Auffassung, dass es im Irak und in Syrien nicht zu wenig, sondern eher zu viele Waffen gebe. Hören Sie das gesamte Gespräch in unserem Audio-on-Demand-Bereich oder lesen Sie es hier in voller Länge: ________________________________________________ Dirk Müller: Vielleicht hat er lange gezögert, vielleicht sogar etwas zu lange, wie die Republikaner ihm jedenfalls vorwerfen: Barack Obama bei der Frage, wie entschlossen, wie konsequent vorgehen gegen den Terror der IS-Milizen. Seit Wochen fliegt die amerikanische Luftwaffe Angriffe gegen Stellungen der Dschihadisten im Nordirak. Sie unterstützt damit auch die kurdischen Peschmerga-Kämpfer. Aber reicht das aus und was ist mit den syrischen Gebieten der Islamisten? Der Präsident hat jetzt seine Pläne auf den Tisch gelegt, zumindest das, was die Öffentlichkeit davon erfahren darf, erfahren soll.Amerika will also wieder einmal eine Koalition der Willigen. Vielleicht haben wir hier im Deutschlandfunk jetzt einen gefunden: Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken im Bundestag. Guten Morgen! Gregor Gysi: Guten Morgen, Herr Müller. Müller: Herr Gysi, sind Sie diesmal willig? Gysi: Nein, das bin ich nicht. Wissen Sie, es ist die alte US-Haltung, wonach sie der Weltpolizist sind, und das Völkerrecht wird wieder negiert. Ich verstehe es nicht, muss ich Ihnen ehrlich sagen. Zuständig ist der Sicherheitsrat der Organisation der Vereinten Nationen. Warum wird der nicht angerufen? Warum verabschiedet der keine Resolution? Warum läuft das Ganze nicht auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, sondern die USA entscheiden? Sie sagen ja auch, wer gemäßigter Rebell ist, wer nicht gemäßigter Rebell ist, was sie machen, was sie nicht tun, wen sie versuchen zu gewinnen dafür, wen sie nicht versuchen zu gewinnen. Das ist so eine Anmaßung, die ich überhaupt nicht akzeptieren kann, und ich frage mich die ganze Zeit, warum das Völkerrecht negiert wird. Ich glaube, das liegt an dem schlechten Verhältnis USA-Russland, und da sieht man, dass sich auch dort etwas verändern muss. Müller: Wenn Barack Obama das jetzt hört, was Sie sagen, Herr Gysi, dann wird er sagen, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Gysi: Das wird er wahrscheinlich so sagen, weil er eben nicht das Völkerrecht beachtet. Schauen Sie mal, wir werfen Putin vor, dass er bei der Krim das Völkerrecht verletzt hat, und selber verletzen wir es auch immer. Es gibt kein Recht einzelner Staaten zu entscheiden, was sie machen. Das Recht liegt beim Sicherheitsrat der UNO und der Sicherheitsrat muss endlich tagen, beraten und entscheiden. Das wäre der völkerrechtliche Weg. Was übrigens nicht bedeutet, dass Staaten dann mitmachen müssen, was er beschließt. Es gibt ja über 190 Mitgliedsländer. Das können sie einzeln entschließen. Aber dann haben wir eine völkerrechtliche Grundlage. Die fehlt! Müller: Wenn wir auf das Recht warten, sind die anderen meist massakriert. Gysi: Ich kann Ihnen sagen, dass der Sicherheitsrat schon in Minuten, in wenigen Stunden entscheiden konnte, auf jeden Fall schneller als Obama, der ja auch Wochen gebraucht hat, bevor er diese Entscheidung getroffen hat. Der Sicherheitsrat hätte längst einberufen werden können. Übrigens auch die Bundesregierung hätte das beantragen können. Aber es hat ja keiner gemacht. Die haben einen einzigen Beschluss gefasst und danach nicht wieder dazu getagt. Die sind ja permanent da, rund um die Uhr. Es ist gar nicht wahr, dass das länger dauern muss. Das kann sogar sehr viel schneller gehen. Müller: Wenn der Sicherheitsrat sagt, Gewalt ist okay, dann finden Sie das auch gut? Gysi: Das habe ich nicht gesagt. Erst mal habe ich gesagt, dass er zuständig ist. Und wenn er dann bestimmte Sachen beschließt, können sich Staaten dazu unterschiedlich verhalten. Deutschland darf niemals Bestandteil des Nahost-Konflikts werden. Das geht schon aus historischen Gründen nicht. Und ich glaube ja auch, dass es zum Beispiel im Irak und auch in Syrien nicht zu wenig Waffen gibt, sondern eher zu viele Waffen gibt. Aber welche Maßnahmen dann im Einzelnen getroffen werden, ist noch was anderes, welche Staaten sich daran beteiligen, ist wieder was anderes. Verstehen Sie? Wir sind ja zum Beispiel dabei in Afrika, bei Konflikten Schritt für Schritt dafür zu sorgen, dass die Afrikanische Union auf der Grundlage von Beschlüssen der Charta der Vereinten Nationen dann dort tätig wird. Ich verstehe immer nicht, warum sich Deutschland als erstes melden muss, um an Kriegen teilzunehmen. Das finde ich völlig daneben. Aber die Grundlage ist wichtig und die Grundlage sind Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, und die gibt es nicht. Müller: Wieso meinen Sie das denn, dass wir uns so schnell melden? Das ist vielen noch nicht aufgefallen. Gysi: Na ja. Wissen Sie, das ist sehr unterschiedlich. Bei Afghanistan ging das sehr schnell. Ich kann mich noch erinnern: die uneingeschränkte Solidarität. Und fragen Sie doch mal heute alle Abgeordneten im Bundestag, wer Recht hatte, wir, die gesagt haben, das wird ein Fiasko, der Krieg gegen Afghanistan, und die Ziele werden nicht erreicht, oder die, die alle meinten, dass wir traumhafte Zustände in Afghanistan erreichen, wovon ja nun weiß Gott keine Rede sein kann. Müller: Das ist ja immer ein Dilemma, Herr Gysi. Gysi: Das stimmt. Müller: Sie haben ja, als es um die Kurden ging, um die Peschmerga, Waffenlieferungen, ein bisschen auch gezögert zu Beginn. Viele hatten das ja so verstanden, als würden Sie sagen, in dem Falle sind Waffenlieferungen legitim. Wir haben dann nachher im Deutschlandfunk mit Ihnen auch darüber gesprochen, dann haben Sie gesagt, nein, nein, dann lieber doch nicht. So einfach, Schwarz-Weiß, wie Sie es jetzt darstellen, ist es Ihnen ja wohl auch nicht gefallen? Gysi: Das habe ich ja auch gar nicht gesagt, dass das leicht ist, die Situation. Das ist ja wirklich eine terroristische Söldnerarmee, die man stoppen muss. Darüber sind wir uns ja völlig einig. Und das Selbstverteidigungsrecht des Irak und Syriens wird überhaupt nicht bestritten. Nur die Art und Weise, wie das Ganze geschieht. Das kann ich Ihnen genau sagen. Mich habe ja dann zwei Kurden angerufen und haben mir gesagt, es gibt genug Waffen, das ist gar nicht das Problem. Es geht der Regierung im Nordirak darum, Deutschland zu binden, international mehr anerkannt zu werden, um später den Unabhängigkeitskrieg vom Irak leichter führen zu können. Da sagt ja wieder Steinmeier, dass er das auf gar keinen Fall unterstützt, weil es völkerrechtswidrig ist. Das stimmt, aber es war beim Kosovo genauso völkerrechtswidrig, lasse ich jetzt mal alles weg. Das hat damit zu tun. Aber unabhängig davon sage ich: Wenn wir nicht zum Völkerrecht zurückkehren, wird es auch nicht gelten, und wenn der Westen glaubt, er braucht es nicht, aber Russland zur Einhaltung des Völkerrechts zwingen zu können, ist das ein schwerwiegender Irrtum. Entweder das Völkerrecht gilt wieder für alle, dann haben wir auch unsere Maßstäbe, oder es gilt gar nicht. Dass ISIS bekämpft werden muss, sage ich noch mal, das ist völlig klar. Nur wir müssen uns natürlich dann auch mal Gedanken über die Ursachen machen, wie ist ISIS in Syrien entstanden im Bürgerkrieg, warum können die jetzt über die Grenze des Irak schreiten, als ob es die Grenze gar nicht gäbe, weil natürlich der Staat im Irak zerstört ist, und der ist zerstört worden durch den Krieg der USA 2003 gegen den Irak, der ja auch noch mit einer Kriegslüge geführt wurde. Müller: Herr Gysi, Sie sind ja auch Jurist, und Völkerrecht, das liegt Ihnen nahe. Das liegt ja vielen nahe. Ich glaube, das ist ja auch unstrittig in der westlichen Welt. Es geht ja darum, muss man erst dementsprechende Signale beziehungsweise Beschlüsse des Weltsicherheitsrates in Teilen abwarten. Jetzt haben Sie eben gesagt, wenn man will – und das hat es in der Vergangenheit schon gegeben -, dann geht das ganz schnell. Es hat in der Vergangenheit aber auch schon Monate, Jahre gedauert, bis beispielsweise Moskau, bis beispielsweise Peking eingelenkt haben, die ja offenbar ganz, ganz andere Interessen haben. Ist das in diesem Konfliktfall realistisch zu denken, man bekommt dort alle in ein Boot und kann relativ schnell handeln? Gysi: Ja ich glaube, das ist realistisch, weil weder Peking, noch Moskau irgendein Interesse an der ISIS haben. Natürlich hat Moskau ein Interesse, ein anderes Verhältnis wieder zu den USA, zur Europäischen Union, zur NATO zu haben. Das ist wahr. Und natürlich würden sie versuchen, das ein bisschen miteinander zu verknüpfen. Aber ich habe ja von Anfang an gesagt, dass das ein großer Fehler ist, wie wir Russland behandeln. Wenn wir Russland isolieren, haben wir auch null Einfluss auf die Entwicklung dort, und so weiter. Aber ganz abgesehen davon: Das, glaube ich, bekäme man schnell hin, wenn man wollte. Ich glaube, die USA wollen es nicht, weil sie im Augenblick wiederum ein Interesse daran haben, das Verhältnis zu Russland nicht zu verbessern. Es ist ja Obama, der jeden Tag fordert, dass wir die Wirtschaftssanktionen verschärfen sollen. Jetzt will das ja auch Frau Merkel und das Problem ist natürlich, abgesehen davon, dass das auch so ein entsetzliches, wenn auch mit schlimmen Folgen verbundenes Kinderspiel ist mit diesen Sanktionen, erst die so, dann die so, dann die so und so weiter, dass das unsere Wirtschaft trifft und unsere Bevölkerung trifft, übrigens vornehmlich auch in den neuen Bundesländern, und dass wir uns deshalb ganz entschieden dagegen wenden. Außerdem will ich doch Einfluss haben auf die Entwicklung von Demokratie, Freiheit in Russland, auch den Umgang mit Lesben und Schwulen. Wenn wir Russland isolieren, haben wir null Einfluss. Also ich verstehe die ganze Richtung nicht, und das ist das Problem. Wenn die USA sagen, gut, jetzt lassen wir den Konflikt weg, es geht nur um die ISIS, dann kriegen die auch schnell eine Verständigung mit Russland herbeigeführt im Sicherheitsrat. Müller: Das eine oder andere Signal in Richtung Moskau zu senden, wenn es in der Ostukraine so weitergeht, oder zumindest wie wir es interpretieren, das ist ja zumindest politisch auch eine Option, die offenbar ... Gysi: Aber nun haben wir doch einen Waffenstillstand. Jetzt muss man das doch fördern. In der Zeit darf man doch nicht eskalieren, sondern muss man deeskalieren und sagen, wenn der hält, dann machen wir das und das und so weiter. Müller: Die Sanktionen also anhalten? Das heißt, nicht direkt umsetzen? Gysi: Richtig. Müller: Aber die Option aufrecht erhalten schon richtig? Gysi: Na ja, jetzt sind sie ja beschlossen, da ziehe ich erst mal nicht weg. Ich finde, es war falsch, weil ich den ganzen Weg für falsch halte. Aber jetzt erst mal anhalten und sagen, jetzt lasst uns doch mal testen, ob der Waffenstillstand hält, ob man sich verständigt. Dass die Ostukraine nicht raus darf, ist doch klar. Ich habe ja gestern im Bundestag auch gesagt, es gibt wirklich faschistische Kräfte an der Seite der Regierung. Das werde ich immer ganz entschieden verurteilen. Aber es gibt auch Extremisten bei den Separatisten. Das weiß ich auch und das habe ich auch ganz klar gesagt. Aber die anderen, die müssen sich jetzt miteinander verständigen, und zwar über ein Zusammenleben der Ukraine, wie man es sich wünscht und wie es auch entstehen kann, und dazu gehört meines Erachtens ein hoher Grat an Autonomie für die Ostukraine und so weiter. Wenn man diese Wege geht und der Waffenstillstand hält, dann kommt es auch zu einer Entwaffnung, das Militär kann sich zurückziehen. Ich sage Ihnen, das sagt ja auch immer die Kanzlerin, es gibt nur eine politische Lösung. Aber mit militärischen Ansätzen mache ich doch die politischen Lösungen viel, viel schwerer. Häufig kommen sie dann kaum zustande.Aber jetzt sind wir weg von der ISIS. Ich wollte bloß sagen, dass natürlich eine Verständigung mit China, mit Russland, logischerweise auch mit Großbritannien und Frankreich, also den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates erforderlich ist. Aber das bekäme man hin! Das haben sie auch früher hinbekommen. Müller: Und die Zehner-Allianz? Die Zehner-Allianz, die da diskutiert wird? Deutschland hat gleich gesagt beim NATO-Gipfel, wir machen da mit. Auch wieder ein grober Fehler? Gysi: Natürlich! Das hat ja auch wieder nichts mit Völkerrecht zu tun. Also die zehn entscheiden, was in der Welt passiert? Der Rest wird nicht gefragt? Müller: Vielleicht suchen sie den Gang dann in Richtung UNO. – Aber Herr Gysi, ich muss noch was anderes fragen. Barack Obama, der kommt bei Ihnen nicht mehr gut weg. Wenn ich mich richtig erinnere, 2008 nach dem Wahlsieg, ein, zwei Tage später, haben wir beide hier im Deutschlandfunk über Barack Obama gesprochen. Da habe ich gesagt, Sie sind ja jetzt ein Linker und Amerika ist immer ein bisschen problematisch, aber wie finden Sie das, Barack Obama. Da haben Sie gesagt, eine ganz tolle Sache, die da passiert ist. Wenn Sie das jetzt sehen, sechs Jahre später, und wir sehen die internationale Politik, wir sehen die Probleme in Irak, im Nahen Osten, Barack Obama, ist das ein Versager? Gysi: Nein, so würde ich es nicht sagen. Das, was ich damals gewürdigt habe, das bleibt ja. Er ist der erste schwarze Präsident, sogar ein wiedergewählter schwarzer Präsident. Das ist ein kultureller Wechsel in den USA. Wir machen uns doch beide nichts vor: vor 15 Jahren völlig undenkbar. Das heißt, das ist wirklich, das dürfen wir nicht unterschätzen. Aber ich sage auch, er hat natürlich auch viele enttäuscht. Er hat ja versprochen, Guantanamo zu schließen; gibt es heute noch. Das heißt, er hat den Apparat unterschätzt. Er weiß gar nicht, wie er sich da durchsetzen kann. Dann gibt es natürlich eine scharfe Gegnerschaft gegen ihn von den Republikanern, schärfer als früher bei Präsidenten, die von der demokratischen Partei gestellt wurden. Es ist, glaube ich, auch so ein bisschen ein versteckter Rassismus, der dahinter steckt. Aber letztlich sage ich, die größte Schwäche von Obama ist seine Schwäche. Er ist weder besonders entscheidungsfreudig, noch besonders durchsetzungsfähig, auch bei positiven Sachen. Ich glaube, das Wichtigste, was er gemacht hat, ist die Gesundheitsreform. Ich war in den USA, ich habe mich erkundigt, ich wusste gar nicht, welcher Hass darauf besteht, dass alle Beiträge bezahlen und alle behandelt werden. Aber das ist ein bisschen wenig, ehrlich gesagt, für seine Amtsperiode. Müller: In der Außenpolitik könnte er noch George Bush werden? Gysi: Nein, das hoffe ich nicht. Ich will es nicht übertreiben. George Bush war ja derjenige, der gleich gefordert hat, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, was übrigens bedeutet hätte, dass die Schwarzmeer-Flotte Russlands in der NATO gestanden hätte, und dann hätte jetzt die NATO entscheiden dürfen, was sie machen, und nicht Russland. Das ist doch der Grund, dass Putin jetzt ... Müller: Dann hätte Wladimir Putin vielleicht nichts gemacht. Gysi: Das weiß ich nicht. Ich glaube, das ist der Grund, dass Putin jetzt sich entschieden hat, völkerrechtswidrig sich die Krim zu holen. – Nein, ich will die nicht gleichsetzen. Das wäre auch ungerecht. Ich weiß auch, dass er anders ist. Aber ich sage Ihnen, seine größte Schwäche ist seine Schwäche, und das ist auch die eigentliche Enttäuschung. Vieles von dem, was er versprochen hat, hat er nicht durchgesetzt. Aber kulturell bleibt es immer noch ein Top-Ereignis, der erste schwarze Präsident in den USA. Müller: Danke, Gregor Gysi, für dieses Gespräch. Gysi: Bitte! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Der Chef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, hat den USA vorgeworfen, im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat das Völkerrecht zu brechen. Über einen Einsatz müsse der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entscheiden, sagte Gysi im Deutschlandfunk. Das Gremium sei aber nicht angerufen worden.
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"2020-01-31T14:03:09.013000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-gegen-is-das-voelkerrecht-gilt-fuer-alle-100.html
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Der Erfinder des E-Books
Beatrix Novy: Heute kam die Nachricht vom Tod des amerikanischen Hochschullehrers Michael Stern Hart. Er starb 64-jährig in Illinois, USA. Er war der Erfinder des Project Gutenberg, das bisher 36000 Ausgaben digitalisierter Literaturwerke, deren Urheberrechte abgelaufen sind, im Internet versammelt. Und auch, wenn große Ideen bekanntlich immer irgendwie in der Luft liegen: Das ist die Leistung, bestimmt nicht die einzige, des Michael Hart, der es nie zur Bekanntheit der Steve Jobs oder Bill Gates brachte. Dazu war er sicher auch zu nett. - Holger Ehling, wie war das denn eigentlich damals mit Michael Hart? Wie kam es zum Gutenberg-Projekt?Holger Ehling: Es kamen verschiedene Sachen zusammen. Rückblende in die späten 60er-, Anfang der 70er-Jahre. Damals gab es keine Personal Computer, damals war Rechenzeit an Universitäten ein unglaublich teures und sehr, sehr rares Gut. Und Michael Hart hatte tatsächlich Rechnerzeit an seiner Universität ergattert, und er nutzte die nicht, um irgendwelche mathematischen Experimente zu machen, sondern er tippte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ab und verschickte sie an Kollegen an der Universität und an anderen Universitäten, die an die Frühform von E-Mail angebunden waren, und damit war das erste E-Book geboren.Novy: War das ein Spaß, oder hatte er schon etwas im Hinterkopf?Ehling: Es war sicherlich erst mal ein Spaß. Es war aber dann sehr schnell für ihn ein Anliegen. Tatsächlich erkannte er, dass man in dieser elektronischen Verbreitungsart von einer ganz, ganz wesentlichen Sache befreit ist, nämlich der Last der physischen Distribution von Büchern, dass man Papier von A nach B transportieren muss. Das geht elektrisch sehr viel leichter und sehr viel besser und sehr viel billiger. Und daraus stammt dann auch die Idee zu diesem "Project Gutenberg" in den USA, das bis heute eigentlich das größte Projekt ist, um Bücher zu digitalisieren und kostenlos zur Verfügung zu stellen. Diese kostenlose zur Verfügung Stellung von Wissen, das war ihm ganz besonders wichtig.Novy: Sie haben ja damit die Frage schon beantwortet, ob es sich hier um eine Bildungsoffensive, oder um ein Geschäft handelt. Bei ihm war es offensichtlich die Bildungsoffensive, die im Vordergrund stand. Wann kann man denn sagen, in der Geschichte von Michael Hart und den anderen, den ganz großen erfolgreichen, deren Namen wir immer kennen, wann hat sich diese Schere geteilt, die einen und die anderen?Ehling: Die Schere hat sich eigentlich in dem Moment geteilt, als Bill Gates und seine Spießgesellen von Microsoft bei IBM Carte blanche für das Operationssystem für Personal Computer bekommen haben. Da ging es wirklich los mit der sehr starken kommerziellen Ausnutzung dessen, was wir heute als Computer kennen. Und im Gefolge die Apples und so weiter der Welt haben sich letztlich auf dieses Modell draufgesetzt und sind damit sehr, sehr erfolgreich geworden und haben aus sich heraus natürlich auch für die Gesellschaft große Werte geschaffen, denn tatsächlich ist es ja so, dass eigentlich nur sehr wenige unter uns heute noch ohne Computer in der einen oder anderen Form auskommen, sei es der PC auf dem Tisch, der Laptop oder das Mobiltelefon, das ja auch eigentlich nur ein Computer ist.Novy: Diese ökonomische Revolution hat stattgefunden. Aber Michael Hart hat in ihr ja offensichtlich nicht mehr mitgemacht. Wie ist denn sein weiteres Leben verlaufen?Ehling: Er ist brav an der Universität geblieben. Er hat sich vor allen Dingen um Bildungsprojekte gekümmert. Er ist bei seinen Eltern wohnen geblieben. Es wird gesagt, dass er immer äußerst bescheiden aufgetreten ist und dass er das Geld, das er als Angestellter der Universität verdient hat, im Wesentlichen in solche Projekte wie dieses Project Gutenberg gesteckt hat, oder vor allen Dingen in Alphabetisierungsprojekte in den USA, denn er hat natürlich auch erkannt, dass das Bildungssystem letztlich verantwortlich dafür ist, wie Gesellschaft sich entwickelt und wie sie sich entfaltet. Wenn Menschen keinen Zugang zur Bildung haben, dann ist mit ihnen auch irgendwann kein Staat mehr zu machen.Novy: Glauben Sie, dass er das Gefühl mitnehmen konnte, etwas wirklich Wichtiges geleistet zu haben?Ehling: Ich denke, ja. Michael Hart hat sehr deutlich erkannt, dass mit der Schöpfung des E-Books, mit dieser Idee zum E-Book tatsächlich etwas geschaffen werden kann, das auf Dauer möglicherweise weltweit von Bedeutung sein kann und weltweit hilfreich sein kann, dann nämlich, wenn wir uns darauf besinnen, gerade wenn es um das Thema Bildung geht, wegzugehen vom Kommerzdenken, sondern zu überlegen, wie wir damit das gemeinsame Gute, the common good, befördern können. Sein Werk ist einfach eines, das bleiben wird, und ich denke auch, dass ein guter Teil dessen, was wir in Zukunft zur Volksbildung brauchen, sowohl in Deutschland wie in den USA als auch vor allen Dingen in den Ländern der Dritten Welt, in elektronischer Weise vermittelt werden wird und damit kostengünstiger, billiger und möglicherweise auch viel mehr Menschen erreichen kann.Novy: Holger Ehling war das zum Tod von Michael Stern Hart, der nur 64 Jahre alt wurde.
Holger Ehling im Gespräch mit Beatrix Novy
Mit der Eingabe der "Bill of Rights" fing alles an. Man kann den US-amerikanischen Hochschullehrer Michael S. Hart durchaus als Erfinder des E-Books, des elektronisch erfassten Buchs, bezeichnen. Seine Mission: Kostenloses Wissen für alle.
"2011-09-08T17:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:17:57.670000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-erfinder-des-e-books-100.html
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Keine einstweilige Verfügung gegen Springer-Chef Döpfner
Der Vorstandsvorsitzende des Medienunternehmens Axel Springer SE, Mathias Döpfner (dpa / Kay Nietfeld) "Ich möchte mich, Herr Böhmermann, vorsichtshalber allen Ihren Formulierungen und Schmähungen inhaltlich voll und ganz anschließen und sie mir in jeder juristischen Form zu eigen machen.", hatte Döpfner in einem offenen Brief in der Zeitung "Welt am Sonntag" geschrieben. Dem türkischen Präsidenten Erdogan ging das offenbar zu weit - er wollte Döpfner eine Wiederholung der Aussage durch eine einstweilige Verfügung verbieten. Doch die Pressekammer des Kölner Landgerichts wies den Antrag zurück und begründete dies mit dem grundrechtlich gewährleisteten Recht Döpfners auf freie Meinungsäußerung, wie eine Gerichtssprecherin mitteilte. Beschwerde gegen Urteil möglich Erdogan kann gegen das Urteil sofortige Beschwerde einlegen. Der Anwalt des türkischen Präsidenten hatte bereits vor der Entscheidung angedeutet, auch in die zweite Instanz gehen zu wollen. Das Kölner Landgericht betonte, dass die Entscheidung nichts mit der Strafverfolgung Böhmermanns zu tun habe. Gegen den ZDF-Moderator wird wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten ermittelt. Böhmermann hatte in seiner bei ZDFneo ausgestrahlten Sendung "Neo Magazin Royale" am 31. März die Grenzen zwischen Satire und verbotener Schmähkritik aufgezeigt und in diesem Rahmen ein Gedicht über den türkischen Staatschef verlesen. (pr/tzi)
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist mit seiner Forderung nach einer einstweiligen Verfügung gegen Springer-Chef Mathias Döpfner gescheitert. Döpfner hatte sich nach dem Gedicht Böhmermanns über Erdogan hinter den ZDF-Satiriker gestellt.
"2016-05-10T14:53:00+02:00"
"2020-01-29T18:28:39.503000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erdogan-schmaehkritik-keine-einstweilige-verfuegung-gegen-100.html
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Merkel weist Vorwurf der Lüge zurück
"Natürlich nicht. Es gab zwischen der amerikanischen Seite und uns Gespräche". (imago/ZUMA Press) Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat erstmals persönlich Vorwürfe zurückgewiesen, das Kanzleramt habe im Zusammenhang mit einem geplanten No-Spy-Abkommen mit den USA gelogen. Auf eine entsprechende Frage der "Süddeutschen Zeitung" antwortete Merkel: "Natürlich nicht. Es gab zwischen der amerikanischen Seite und uns Gespräche, die es möglich erscheinen ließen, ein solches Abkommen zu vereinbaren." Auf die Frage, ob der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla einst zu viel versprochen habe, sagte Merkel: "Ich bin überzeugt, dass er nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat." Im August 2013, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, hatte Pofalla verkündet, die USA hätten nach massiven Spähvorwürfen den Abschluss eines No-Spy-Abkommens angeboten. Wie NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" kürzlich berichteten, wusste aber auch Merkel schon zu diesem Zeitpunkt, dass die US-Regierung die Bitte nach einem solchen Abkommen lediglich zu prüfen bereit war. Eine Zusage habe es nicht gegeben. Später waren die Verhandlungen über einen gegenseitigen Ausspäh-Verzicht nach den Berichten ganz gescheitert. SPD fordert Thematisierung der Affäre beim G7-Gipfel Die SPD forderte Merkel auf, beim G7-Gipfel in Oberbayern am 7. und 8. Juni mit US-Präsident Barack Obama über die US-Spähaktivitäten und die Kooperation mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) zu sprechen. Merkel müsse Obama zur Veröffentlichung der Liste mit Suchbegriffen (Selektoren) der US-Geheimdienste bewegen, sagte der SPD-Vize Ralf Stegner der "Passauer Neuen Presse". Der Grünen-Parteivorsitzende Cem Özdemir warf Merkel Wegducken vor: "Wir fordern von ihr lupenreine Aufklärung, wenn sie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen will", sagte er ebenfalls der "Süddeutschen Zeitung". Özdemir bezeichnete es als Zeichen der Schwäche, dass die Kanzlerin in diesem Zusammenhang ihren früheren Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und dessen Äußerungen verteidige. "Die Bundeskanzlerin ist durch die BND-Affäre belastet."
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Haben Merkels engste Mitarbeiter im Wahlkampf 2013 bewusst die Unwahrheit gesagt? Oder gab es wirklich die Erwartung, dass die USA mit den Deutschen einen Spionageverzicht aushandeln wollten? Niemand hat gelogen, sagt die Kanzlerin, aber formuliert es etwas sperrig.
"2015-05-30T19:54:00+02:00"
"2020-01-30T12:39:32.630000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bnd-nsa-affaere-merkel-weist-vorwurf-der-luege-zurueck-100.html
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Demonstranten fordern mehr Klimaschutz
Demonstranten aus aller Welt haben bei einem großen Klimamarsch in Madrid zum Handeln gedrängt (imago / Future Images) "Es gibt keinen Planeten B – Euer Egoismus zerstört unsere Zukunft! Mit Parolen wie dieser zogen viele Tausende Menschen durch die Straßen von Madrid. Transparente und Schilder forderten entschiedenen Klimaschutz und weniger Konsum. Die Veranstalter sprechen von einer halben Million Teilnehmer, die Menge, die sich langsam durch die Straßen bewegte, war allerdings nicht zu überblicken. "Wir müssen alles zusammenstehen, um gegen den Klimawandel zu kämpfen. Das ist unsere Pflicht. Wir müssen den Planeten retten." "Es ist schon sehr spät. Es ist gut, dass die Jugend diese Bewegung ins Leben gerufen hat, wo wir jetzt alle mitmachen sollten." Greta Thunberg: "Wir müssen unsere Komfortzonen verlassen" Die Teilnehmer stammten aus allen Altersgruppen – neben der Schülerbewegung "Fridays for Future" hatten auch viele Umweltschutz-Verbände und andere Organisationen zu der Demonstration aufgerufen. Es war die größte Demonstration seit langem am Rande einer Klimakonferenz. Die schwedische Schülerin Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik die "Fridays for Future ins Leben gerufen hatte, musste den Demonstrationszug aus Sicherheitsgründen zeitweise verlassen. Auf der Abschlusskundgebung hielt sie eine kurze Rede. "Wir müssen diese Krise wie eine Krise behandeln. Wir müssen unsere Komfortzonen verlassen. Und das machen wir gerade: Wir verlassen unsere Komfortzonen und sagen den Menschen, die die Macht haben, dass sie ihre Verantwortung übernehmen und die heutige und künftige Generationen schützen müssen." Die Demonstranten fordern von der Klimakonferenz Entscheidungen über eine drastische Verringerung des Treibhausgas-Ausstoßes. Greta Thunberg gründet ihre Hoffnung allerdings nicht auf die Verhandlungen. "Und ich kann Euch sagen: Die Hoffnung liegt nicht innerhalb der Mauern der Klimakonferenz. Die Hoffnung ist hier mit Euch!" Angespannte Stimmung auf der Klimakonferenz Bei der Klimakonferenz selbst ist am Wochenende Halbzeit. Entscheidungen gibt es noch nicht, die sollen die Minister in der zweiten Woche treffen. Die Stimmung ist angespannt, auch wegen des Drucks, der von der Jugendbewegung für das Klima ausgeht. Die Konferenz wird die hohen Erwartungen kaum erfüllen können. In den Verhandlungen geht es um letzte Details zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, vor allem um die Möglichkeit für reiche Industrieländer, Klimschutz-Pflichten auch durch Projekte in Entwicklungsländern zu erfüllen. In der nächsten Woche kommen die Umweltminister der meisten beteiligten Staaten nach Madrid, um eine Abschlusserklärung auszuarbeiten. Die dürfte auch den Aufruf zu höheren Ambitionen im Klimaschutz enthalten. Darüber entscheiden soll eine weitere Klimakonferenz im nächsten Jahr im schottischen Glasgow.
Von Georg Ehring
Mit einer großen Demonstration haben Umweltaktivisten für Druck auf die Klimakonferenz gesorgt. Sie forderten eine drastische Verringerung des Treibhausgas-Ausstoßes. Klimaaktivistin Greta Thunberg appellierte an die Politik, konkrete Ziele im Kampf gegen die Erderwärmung zu formulieren.
"2019-12-07T06:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:22:48.764000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimakonferenz-in-madrid-demonstranten-fordern-mehr-100.html
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Ist Angela Merkel doch besiegbar?
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Gespräch. (picture-alliance / Belga / Christophe Licoppe) Wofür steht der Kanzlerkandidat der SPD überhaupt? Ist eine rot-rot-grüne Koalition eine ernsthafte Alternative? Gesprächsgäste: Angela Marquardt, Geschäftsführerin des Arbeitskreises Denkfabrik in der SPD-Bundestagsfraktion Hugo Müller-Vogg, Publizist Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Mentefactum Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail. Telefon: 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei) und E-Mail:kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Martin Zagatta
Die SPD feiert eine Art Wiederauferstehung. Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz beflügelt die Umfragewerte. Doch ist das mehr als ein Strohfeuer? Muss Bundeskanzlerin Angela Merkel tatsächlich fürchten, im Herbst abgewählt zu werden? Gibt es eine Wechselstimmung in Deutschland? Welche Themen werden den Wahlkampf bestimmen?
"2017-02-13T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:36:04.973000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahl-2017-ist-angela-merkel-doch-besiegbar-100.html
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Die Folgen von REACH
REACH - die neue EU-weit geltende Chemikalienverordnung - kann die Wirtschaft verändern. Denn die EU zwingt damit viele Unternehmen dazu, Informationen über chemische Stoffe offen zu legen. Und das ist völlig neu, betont Andreas Ahrens von Ökopol, dem Hamburger Institut für Ökologie und Politik." Es gibt im Grunde zwei revolutionäre Neuerungen. Das eine, was an REACH wirklich neu ist, dass man sagt, man will über jeden Stoff, der auf den europäischen Markt kommt, ein Mindestbestand an Informationen haben. "Innerhalb von elf Jahren müssen Hersteller und Importeure nun rund 30.000 "Altstoffe" bei der Europäischen Chemikalienagentur in Helsinki anmelden. Das sind alles Stoffe, die seit mehr als 25 Jahren vermarktet werden und von denen eine Firma heute mehr als eine Tonne in Europa herstellt oder hierher einführt. Und je mehr eine Firma von einer Substanz herstellt oder einführt, desto mehr muss sie über die Eigenschaften dieses Stoffes bekannt geben. Die zweite grundlegende Neuerung:" Der Hersteller des Stoffes soll sich darauf festlegen, für welche Zwecke sein Stoff geeignet ist. Und zwar nicht nur in technischer Hinsicht - das macht jeder Betrieb, das er in seine technischen Merkblätter reinschreibt, wofür man den Stoff einsetzen kann -, sondern dass künftig auch unter Umwelt- und Gesundheitsgesichtspunkten die Hersteller von Stoffen schlichtweg sagen müssen, für die und die Anwendung glauben wir, dass der Stoff sicher handhabbar ist und bei der und der Anwendung halten wir den Stoffe für nicht sicher anwendbar und deshalb vermarkten wir ihn in diese Bereiche auch nicht mehr hinein. "Dies gesammelte Wissen über Stoffeigenschaften und Anwendungsgebiete wird die Europäische Chemikalienagentur zusammenfassen. Dieser Datenschatz wird größtenteils in einer Datenbank abrufbar sein und er kann - so hofft Mecki Naschke vom Europäischen Umweltbüro in Brüssel - die Entwicklung neuer Produkte fördern, denn: " Dadurch, dass diese Informationen jetzt allen zugänglich sind, hoffen wir, dass diese auch berücksichtigt werden bei der Entwicklung von neuen Produkten, allgemein in den Forschungsaktivitäten der Unternehmen. Und dass das natürlich zu Innovationen führt. "REACH ist also eine Herausforderung für Techniker und Wissenschaftler in den Laboratorien der Industrieunternehmen. Sie sollten mit den Informationen, die durch REACH verfügbar werden, gefährliche Chemikalien in ihren Produkten durch harmlosere Substanzen ersetzen. Ob dies aber im großen Stil so geschehen wird, bezweifelt Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie:" Es wird überhaupt durch REACH keine Innovationsschübe geben. Das ist unsere feste Überzeugung in der Industrie. Es wird sich die Datenlage verbessern, aber es wird keine Innovationsschübe geben. "Denn schon heute würden viele Firmen darauf achten, möglichst ungefährliche Substanzen einzusetzen. Doch Alltagsprodukte wie Computergehäuse oder Bodenbeläge sind nicht frei von Schadstoffen. Und die EU stärkt hier bewusst die Rechte der Verbraucher. Jeder Bürger soll in jedem Kaufhaus fragen können, ob dieser Computer oder jenes T-Shirt "besonders besorgniserregende" Stoffe oberhalb einer gewissen Mengenschwelle enthält. Und manche Handelsfirmen werden nicht darauf warten, bis ihre Kunden nach schadstoffarmen Produkten fragen, meint Andreas Ahrens:" Die sagen, jeder Schadstoffskandal wie beispielsweise TBT in Sporttrikots oder bestimmte schädliche Stoffe in Windeln oder in Kosmetika oder wo auch immer, wenn ein Markenname so einen Schadstoffskandal am Hals hat, weiß er ganz genau, dass es einen Wertverlust an der Börse gibt, dass möglicherweise Produkteinbrüche gibt und dass möglicherweise das Markenimage beschädigt wird. Also Lipobay-Skandal, Bayer, ist ein schönes Beispiel dafür. "Das heißt, die Politik schafft zurzeit mit REACH ein Mehr an Wissen über Chemikalien. Dies stetig zunehmende Wissen wird Wirkung zeigen: Manche Unternehmen werden freiwillig darauf verzichten, gefährliche Stoffe einzusetzen - andere werden erst reagieren, wenn sie Produkte mit gefährlichen Stoffen nicht mehr verkaufen können. Aber es scheint, als könnte REACH schrittweise das Risiko für Mensch und Umwelt senken.
Von Ralph Ahrens
Die europäische Chemierichtlinie REACH fordert vor allem ein Mehr an Information: Hersteller und Importeure müssen verwendete Stoffe bei der Europäischen Chemikalienagentur in Helsinki anmelden sowie die Eigenschaften und den Verwendungszweck der Chemikalien offen legen. Die Hoffnung dabei: Aufgeklärte Verbraucher werden Produkte meiden, die gefährliche Zutaten enthalten.
"2006-12-13T16:35:00+01:00"
"2020-02-04T12:44:26.916000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-folgen-von-reach-100.html
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Trauer mit Trap-Beats
Der kanadische Rapper Drake hat mit seinen emotionalen Texten einen Grundstein für das Genre gelegt (picture alliance / Christoph Dernbach) Ein einfacher Gitarrenloop, dazu ein Trap-Beat und Texte über Selbstmordgedanken, Depressionen und die Unfähigkeit zu lieben. Das sind die wesentlichen Markenzeichen der Musik von Joe Mulherin, der als Nothing, Nowhere bereits seit mehreren Jahren seinen Seelenschmerz offenbart. Auf seinem neuen Album "Ruiner" weicht er davon nur minimal ab. Im gleichnamigen Titeltrack thematisiert der schmächtige Rapper mit den schwarz gefärbten Haaren lähmende Traurigkeit und den Tod eines ihm nahestehenden Menschen. "Emo-Rap", bezeichnet die Musikpresse den Sound von Joe Mulherin. Die Abkürzung Emo steht für Emotional und meint eine Spielart der Rockmusik, die mit Hardcore-Bands wie Rites of Spring oder Embrace in den 80er-Jahren ihren Anfang nahm und zu Beginn der 00er-Jahre mit Interpreten wie Dashboard Confessional oder Jimmy Eat World den Mainstream eroberte. Thematisiert wurde die eigene Verletzlichkeit und immer wieder romantische Beziehungsdramen. Tristan George sagt: "Ich denke, dass diese Generation an Rappern, die derzeit sehr populär ist, dass viele davon auch diesen Emo-Trend durchfahren haben in ihrer Kindheit oder in ihrer Teenagerzeit und dass das Ganze jetzt einfach auf musikalischer Ebene weiter ausgelebt wird oder beziehungsweise jetzt sein Revival findet." Ausdruck des digitalen Zeitalters Tristan George ist der Betreiber des digitalen Fanzines "Znova", wo er Analysen über gegenwärtige Hip-Hop-Trends schreibt. Für ihn ist Emo-Rap nicht nur eine Rückbesinnung auf die musikalischen Vorlieben der Kindheit, sondern auch Ausdruck des digitalen Zeitalters, mit seiner Entgrenzung der Genres und dem Remix von popkulturellen Phänomenen. "Auf jeden Fall wurde das durch das Netz gefördert. Ich denke, dass es zurückzuführen ist auf die Digitalisierung per se und unsere Generation, der wir gerade gegenüberstehen. Das ist eine Generation, die sehr schnelllebig ist, auch sehr vergesslich ist. Und da machen solche Punkte, die so eine Art Vermischung haben, die nichts Ganzes, nichts Halbes sind, die mehrere Aspekte in sich auffassen; ich glaube, das ist das, was Emo-Rap generell an sich reizvoll macht." Zu den populärsten Vertretern des Genres zählt US-Rapper Lil Peep, der im November letzten Jahres an einer Überdosis Opiate starb. Seine Drogensucht thematisierte er immer wieder in seinen düsteren Songs. Um die dunklen Seiten des Lebens geht es auch auf XXXTentacions Debütalbum "17". Der Track "Save Me" wirkt wie ein Hilfeschrei eines verzweifelten Teenagers. "Was wir zurzeit beobachten können, ist, dass die textliche Verlagerung heutzutage immer mehr in diese Innerliche, ja, diese Abkapselung von der Außenwelt, Abgrenzung, bis hin zur Konzentration auf die eigene Gefühlswelt geht." Nostalgie und Eskapismus Den Grundstein für emotionale Bekenntnisse im Hip-Hop legten allerdings Kanye West mit seinem Album "808s and Heartbreak" oder der Melancholiker Drake. Ungewöhnlich ist hingegen die Verschmelzung von Emo und Rap. Emo-Rap lässt sich vielleicht als Gegenentwurf zum politischen Conscious-Rap eines Kendrick Lamar verstehen, als eine jugendliche Alltagsflucht vor Zukunftsängsten und der Realität. Nostalgie und Eskapismus zeigen sich auch visuell: Nothing, Nowhere gestaltet manche seiner Videos in grobkörniger VHS-Ästhetik. Andere Emo-Rapper hinterlegen ihre Tracks mit Aufnahmen von geloopten Anime-GIFs und Ausschnitten aus Filmen, mit denen sie aufgewachsen sind. Hip-Hop zählt in den USA zu den beliebtesten und meistgehörtesten Genres und hat die Rockmusik abgelöst - Verkaufszahlen, Charts-Platzierungen und Streaming-Abrufe bestätigen das. Und doch gibt es auch eine andere Deutung: Rock scheint im Augenblick im Hip-Hop neu erfunden zu werden. XXXTentacion experimentiert zum Beispiel mit verzerrten Trap-Beats, die an E-Gitarren erinnern und sampelt außerdem Musik von Bands wie Korn oder Slipknot. Und das neue Album "Ruiner" von Nothing, Nowhere zeigt mit gelungenen Tracks zwischen melancholischen Klageliedern und intimen Erfahrungsberichten, wieviel Potenzial in dieser Fusion steckt. "Ruiner" ist seit 13. April als digitales Album verfügbar. Auf Vinyl erscheint das Album am 27. Juli.
Von Raphael Smarzoch
Rockmusik hat ausgedient - zumindest in den USA. Dort dominiert Hip-Hop den Musikmarkt. Trotzdem arbeiten immer mehr Rapper wie Joe Mulherin alias Nothing, Nowhere mit Rock-Elementen und kommen in den Tracks zu ungewöhnlichen Resultaten. Besonders der Emo-Sound der 00er-Jahre hat es ihnen angetan.
"2018-04-14T15:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:51.500000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/emo-rap-aus-den-usa-trauer-mit-trap-beats-100.html
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Mit dem ÖPNV gegen die Wand?
Die Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi (picture alliance/dpa - Giuseppe Lami) Vergangene Woche auf dem Kapitol. Während der Stadtrat drinnen im Rathaus über die Zukunft der öffentlichen Verkehrsbetriebe diskutiert, haben sich draußen Hunderte von Mitarbeitern versammelt. Unter den Augen der berühmten Wölfin mit Romulus und Remus kämpfen sie für ihre Arbeitsplätze. Tatsächlich haben die Menschen hier – unter ihnen viele Bus- und Trambahnfahrer – allen Grund, sich Sorgen zu machen. Die Atac, der städtische Verkehrsbetrieb von Rom, ist de facto pleite. Das Unternehmen hat Schulden von weit über einer Milliarde Euro angehäuft. Linda Meleo, die Verkehrsdezernentin, zieht eine vernichtende Bilanz. "Unser Verkehrsbetrieb ist zusammengebrochen. Der Fuhrpark wurde in den vergangenen Jahren nicht gepflegt. Es hat keine Investitionen gegeben, weder in den Schienenverkehr noch in die Busse. Und immer hatten die Politiker ihre Hände im Spiel. Sie haben die Atac als Fangbecken für Wähler benutzt. Leute wurden nur aus Freundschaft eingestellt oder weil da Verwandte waren. Die Atac war über all die Jahre eine Art Geldautomat für Politiker." Sanierungsplan in letzter Sekunde In letzter Sekunde soll nun ein Sanierungsplan die Firma vor dem Untergang retten. Die Menschen vor dem Rathaus wollen daran nicht so recht glauben. "Leider bin ich wenig zuversichtlich. Eineinhalb Jahre lang hat diese Stadtregierung für den Betrieb nichts getan. Im Gegenteil, totale Unbeweglichkeit, außer dass ständig die Leute wechselten, genauso wie bei den Regierungen davor. Auch diese Stadtregierung hat nichts unternommen, um zu helfen. Wir hatten gehofft, dass die neue Regierung eine neue Situation herbeiführen würde, aber es ist alles beim Alten geblieben." Währenddessen beteuert Roms Bürgermeisterin Virginia Raggi drinnen im Rathaussaal unter den Augen von Julius Cäsar, dass jetzt alles besser werden soll. "Wir werden einen Betrieb retten, der allen Römern gehört. Wir werden Tausende von Arbeitsplätzen retten und die Gehälter der Beschäftigten." Auch Rom könnte zahlungsunfähig werden Was sie nicht dazu sagt: Sollte die Rettung nicht gelingen, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ihre Stadtregierung scheitern. Andrea Palazzolo ist Professor an der Privat-Universität Luiss. "Die Stadt hat der Atac hohe Kredite gewährt und wird diese Summen mit Sicherheit verlieren. Wenn darüber hinaus jemand vor einem Richter belegen könnte, dass der Niedergang des Unternehmens von der Stadt verschuldet wurde, könnten darüber hinaus – im Moment noch hypothetisch – Schadensersatzforderungen von Dritten auf die Stadt zukommen." Und weil es dabei um Hunderte von Millionen geht, wäre dann neben den Verkehrsbetrieben wohl auch die Stadt Rom zahlungsunfähig, was die Bürgermeisterin so natürlich nicht ausspricht. Dabei wären die Menschen längst reif für die Wahrheit, meint Claudia Porzi von der Gewerkschaft CGIL, die dem deutschen DGB nahesteht. "Das wahre Problem ist, dass es in Italien nicht einen Politiker gegeben hat, der den Mut hatte, einen Pakt mit den Italienern zu schließen. Nicht zu sagen: "Die Restaurants sind voll. Alles wird gut." Sondern: "Es ist der Moment für Opfer gekommen." Wie in Portugal, wo es ihnen heute ein bisschen besser geht. Ein echter Pakt muss her, ohne Lügen zu erzählen. Die Italiener wären bereit, den richtigen Weg einzuschlagen, denn das würde dazu führen, dass es uns besser ginge." Wer verstehen will, woran Italien seit Jahren leidet, kann in der Hauptstadt einiges lernen.
Von Tassilo Forchheimer
Der städtische Verkehrsbetrieb in Rom hat über eine Milliarde Euro an Schulden angehäuft und steht vor der Pleite. Bürgermeisterin Virginia Raggi von der Protestbewegung Fünf Sterne verspricht einen Rettungsplan - scheitert sie damit, scheitert womöglich auch ihre Stadtregierung.
"2017-09-11T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:50:17.326000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rom-mit-dem-oepnv-gegen-die-wand-100.html
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Wahlkampf mit der inneren Sicherheit
Wahlkampfthema innere Sicherheit: Von den etablierten Parteien sind 2017 moderate Positionen zu erwarten. (dpa-Bildfunk / Deniz Calagan) Terror, Gewalt, Verbrechen - jahrzehntelang war die innere Sicherheit mindestens ein Schwerpunkt in Bundestagswahlkämpfen. Das hatte seinen Grund. Der Kriminologe Hans-Jörg Albrecht forscht seit Langem zu Sicherheitsempfinden und Sicherheitspolitik. "Die innere Sicherheit hat in den 1970er-Jahren eine ganz, ganz ausgeprägte Rolle gespielt, dann noch mal in den 1980er-Jahren mit dem deutschen Terrorismus. Das hat sich dann etwas gelegt. Die Bedeutung ist zurückgegangen. Es ist dann zu einem weiteren Aufgreifen in Zusammenhang mit internationalem Terrorismus, insbesondere auch internationaler Organisierter Kriminalität gekommen in den 1990er-Jahren." In diesem Jahr dagegen sagt der SPD-Vorsitzende Martin Schulz: "Für mich ist Innenpolitik ehrlich gesagt denkbar ungeeignet für den Wahlkampf. Ich weiß, dass es im Wahlkampf eine riesige Rolle spielt. Aber es ist eine Daueraufgabe. Weil Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben, dass der Staat ihre Sicherheitsbedürfnisse und ihre Sicherheitsinteressen kontinuierlich respektiert." Die innere Sicherheit - traditionell ein Thema für die CDU Viele hatten erwartet, dass sich vor allem CDU und CSU das Thema auf die Fahnen schreiben würden - so wie im Frühjahr im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Traditionell konnte die Union mit dem Thema punkten. Regelmäßig trauen Wähler gerade ihr eine hohe Kompetenz in der inneren Sicherheit zu. Tatsächlich aber spielt sich der Wahlkampf - mindestens im engeren Sinn - auf anderen Feldern ab. Als die CDU-Vorsitzende Angela Merkel Anfang Juli das gemeinsame Programm der Unionsparteien vorstellt, ist genau dieses zur inneren Sicherheit zu hören. "Wir verwenden eine gemeinsame Definition für Sicherheit - Sicherheit nach innen und nach außen. Wir setzen uns für einen starken Staat ein. Wir werden die Polizei verstärken, wir werden die Bundeswehr fortentwickeln und wir sind der Meinung, Sicherheit hängt auch ganz stark mit dem Thema Entwicklungszusammenarbeit und Krisenprävention zusammen." "Wir werden die Polizei verstärken" - ein Halbsatz in einer 50-minütigen Pressekonferenz, keine Journalisten-Nachfragen, keine Ergänzung durch den neben Merkel sitzenden CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Der Leiter des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Hans-Jörg Albrecht, nennt einen Grund dafür. Der gilt nicht nur, aber auch für die CDU der lange sogenannten Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel. "Dass die politischen Programme Kriminalität, Terrorismus, Organisierte Kriminalität nicht mehr so in den Mittelpunkt rücken, hat sicher damit zu tun, dass gerade in Zusammenhang mit der Immigration die großen und die kleineren Parteien in aller Regel vermeiden wollen, dass Assoziationen hergestellt werden mit Immigration, mit Fluchtbewegungen und so weiter." In aller Regel - Ausnahme sind die Parteien wie die AfD, die gerade auf diese Assoziation setzen. Insgesamt aber stützen Umfragen Albrechts Analyse. So der ARD-Deutschlandtrend im vergangenen Monat. Unter den wichtigsten politischen Problemen in Deutschland bringen es innere Sicherheit, Kriminalität und Terror gerade mal auf Platz sechs. Flüchtlinge, Asyl und Zuwanderung dagegen stehen nach Ansicht der Befragten ganz oben. "Weniger Emotionalisierung im Hinblick auf Sicherheit" Trotzdem kann der Befund auf den ersten Blick erstaunen. Denn in der vergangenen Legislaturperiode hat die innere Sicherheit eine herausgehobene Rolle gespielt - und zwischenzeitlich nutzten die Parteien das Feld auch durchaus zur politischen Profilierung. Das gilt für den langen Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Es gilt für die neuen, umfangreichen Befugnisse des Bundeskriminalamtes, für schärfere Strafen für Wohnungseinbrüche, für medienwirksame Präsentationen von Neuerungen wie einer verstärkten Anti-Terror-Einheit der Bundespolizei oder - gerade erst - Praxisversuchen zur intelligenten Videotechnik für die Gesichtserkennung. Es gilt auch für die vielfachen Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts, soweit es mit der Sicherheit zu tun hat, wie etwa bei der Abschiebung straffällig gewordener Ausländer oder bei erweiterten Haftmöglichkeiten für sogenannte Gefährder. Auf solche - nach der eigenen Lesart: Erfolge - weist auch das Unions-Wahlprogramm hin. Und es stellt Forderungen auf: Nach besserer Zusammenarbeit von Bund und Ländern, nach konkreten Instrumenten wie intelligenter Videotechnik oder erweiterter DNA-Analyse, nach mehr Personal und Kompetenzen für Behörden und anderes mehr. Der Kriminologe Albrecht stellt gleichwohl im Vergleich mit früheren Jahren fest, "dass in den Wahlprogrammen, die heute sichtbar sind, sehr viel weniger Emotionalisierung im Hinblick auf Sicherheit und Sicherheitsbedürfnisse vorhanden ist." Die CDU will nicht polarisieren Wobei die CSU wie auch in anderen Jahren deutlich weiter geht als die Schwesterpartei. Im sogenannten Bayernplan fordert sie etwa die Möglichkeit, sogenannte extremistische Gefährder - egal ob In- oder Ausländer - über längere Zeiträume festzusetzen. Das nimmt Gedanken auf, wie sie vor allem nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt aufgekommen waren - und die schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht weiter verfolgt wurden. Das gemeinsame Programm von CDU und CSU macht deutlich zurückhaltendere Vorschläge. So sollen - wie schon in diesem Jahr geschehen - Polizei und Bundeswehr die Abwehr eines besonders schweren Terrorangriffs üben können. Das Gemeinsame Terror-Abwehrzentrum in Berlin soll gestärkt werden. Diese Zurückhaltung der CDU, der größten Regierungspartei, mag auch daran liegen, dass die Polarisierung aus der Position dessen, der jahrelang gestalten konnte, schwerer fällt. Das allerdings ändert sich im Juli. Populisten geißeln linken Extremismus Die Auseinandersetzung nach den Krawallen am Rand des G20-Gipfels in Hamburg gibt den Wahlkämpfern keinen Anlass, sich zurückzuhalten. Der Schlagabtausch kann in den klassischen Bahnen und Zuschreibungen von rechts und links verlaufen. Und zwar nicht nur, weil der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz der SPD angehört, auch wenn die Auswahl des Standorts auf Kanzlerin Angela Merkel zurückging. Die innere Sicherheit wird über die konkreten Schuldzuweisungen hinaus zum breiteren Aufreger-Thema mit klarem Wahlkampfgetöse. Die AfD und ihr Spitzenkandidat Alexander Gauland bringen es auf den einfachsten Nenner: "Der Feind dieses Staates - nach Hamburg - steht links, und nicht rechts. Und das ist das Problem." Der FDP-Chef Christian Lindner drückt es anders aus: "Die Politik der falschen Toleranz gegenüber dem Linksextremismus muss beendet werden. Das ist jetzt die Nagelprobe für SPD, Grüne und Linkspartei." Und auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU, zeigt mit dem Finger auf das linke Spektrum insgesamt: Der Verfassungsschutz und er selbst hätten dem Linksextremismus immer die gleiche Bedeutung beigemessen wie dem Rechtsextremismus. "Das ist aber, das ist nicht überall der Fall. Weil es zwischen linksdemokratischen und linksextremistischen Gruppieren Überlappungen gibt, und ein Empörungsritual. Wenn man darauf hinweist, werden Polizei und Sicherheitsbehörden verunglimpft." Gemeint sind zum einen Äußerungen wie die von Katja Kipping. Die Linken-Chefin hatte von in Hamburg "marodierenden Polizisten" gesprochen - was sie später bedauert. Auch die Grünen sind in der Defensive. Parteichefin Simone Peter erklärt: "Ganz klar ist: Gewalttäterinnen und Gewalttäter, die haben kein inhaltliches Anliegen, die wollen in erster Linie zerstören. Und es ist traurig, dass diese Bilder dann im Kontext standen zu einem Protest gegen einen Gipfel, den man tatsächlich inhaltlich massiv angreifen kann, aber eben nicht mit gewalttätigen Mitteln." Streit um die sogenannte Demokratieerklärung Die Union versucht, den politischen Gegner vor sich her zu treiben. CDU-Generalsekretär Peter Tauber fordert mehr Distanzierung ein: "Die Linkspartei verharmlost das, SPD und Grüne relativieren die Auswüchse teilweise. Laut Herrn Stegner hat Linksextremismus nichts mit Links-Sein zu tun. Diese Formen von Relativierung finden wir unerträglich." Dahinter stecken teilweise echte Konflikte, die innerhalb der Parteien nie vollständig aufgearbeitet wurden. Der CDU-Generalsekretär macht aber klar, dass es hier nicht nur darum geht, auf wirklich bestehende Abgrenzungsdefizite zu Extremisten hinzuweisen. Wie andere aus der Partei auch nutzt er die Auseinandersetzung zum Angriff auf den Koalitionspartner - mit einer Frage aus der Anfangszeit der schwarz-roten Koalition. Damals hatte neben Grünen und Linken auch die SPD darauf gedrungen, dass die sogenannte Demokratieerklärung abgeschafft wird. "In der Vergangenheit mussten Gruppen, die mit Demokratiemitteln gefördert worden sind im Kampf gegen politischen Extremismus, ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablegen." Eine europäische Datei für Extremisten? Was viele, auch unverdächtige Initiativen, die keine Ehrenerklärungen für ihre Kooperationspartner ablegen wollten, als Generalverdacht empfanden. Der CDU-Politiker Thomas de Maizière war schließlich selbst 2014 mit der damaligen Familienministerin Manuela Schwesig, SPD, vor die Presse getreten, um die Abschaffung dieser Erklärung zu verkünden - auch um zu verhindern, dass Projekte zur Förderung der Demokratie faktisch blockiert werden. Jetzt, kurz vor der Wahl, und ohne dass irgendeine konkrete Verbindung zu den G20-Krawallen benannt würde, löst sich die Union von dem Konsens. Peter Tauber: "Auf Druck von vor allem ganz linken Gruppen ist diese Demokratieerklärung abgeschafft worden. Vielleicht fragt man sich jetzt noch mal, warum. Und es ist nach wie vor bedauerlich und falsch, dass die SPD diesem Ruf von ganz links gefolgt ist." Auf diese konkrete Kritik geht die SPD nicht ein, in anderer Hinsicht aber tritt sie nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen die Flucht nach vorn an. Es ist unter anderem ihr Justizminister Heiko Maas, der nach Hamburg Signale für Verschärfungen, für mehr Sicherheit geben will. Eine europäische Datei für Extremisten soll helfen, findet auch Parteichef Martin Schulz. "Die Debatte, die jetzt geführt wird, verstellt den Blick für eins: Wir müssen dafür sorgen, dass diese marodierenden Banden in Europa nicht frei rumlaufen, nicht frei rumziehen können. Deshalb fand ich den vernünftigsten Vorschlag der letzten 72 Stunden, den ich gehört habe, den, dass wir ein Register aller europäischen Sicherheitsorgane in allen Mitgliedsländern der EU brauchen, diese Typen zu identifizieren, damit sich das nicht wiederholen kann, was da in Hamburg abgelaufen ist." SPD will das Thema nicht der Union überlassen Sei es unter dem Druck des politischen Gegners und der Hamburger Bilder; sei es, weil es ohnehin die Botschaft ist, die die SPD für den Wahlkampf setzen will: Die Partei positioniert sich mit dieser Forderung gegen Bedenken von Datenschützern für die Sicherheit. In den vergangenen vier Jahren hatte Justizminister Maas anfangs noch versucht, mit seinem Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung die Genossen in der Koalition als Vertreter freiheitlicher Positionen darzustellen - bis der damalige Parteichef Sigmar Gabriel entschied, das Feld der inneren Sicherheit nicht allein der Union zu überlassen. Seitdem hat die SPD in der Regierung viele der Projekte zur inneren Sicherheit abgemildert, wie eben auch bei der Vorratsdatenspeicherung. Und sie hat die insgesamt sehr weitgehenden Verschärfungen des Sicherheitsrechts durch die Koalition, die CDU und CSU in ihrem Wahlprogramm für sich reklamieren, mitgetragen. Die Flügelkämpfe, die sich die Genossen in diesen Fragen intern liefern, sind dem Wahlprogramm nicht direkt anzusehen. Den angestrebten Zweiklang formuliert Boris Pistorius, Niedersachsens Innenminister, der der SPD-Politik der inneren Sicherheit im Wahlkampf ein Gesicht geben soll. Zuerst mit der Warnung vor wachsendem Extremismus von islamistischer und rechter Seite. "Wir wollen noch mehr Prävention. Wir wollen noch mehr dafür tun, dass junge Menschen nicht in diese Richtungen abdriften. Wir müssen und wollen die Errungenschaften unserer Verfassung weiter hervorheben und unsere weltoffene und solidarische Gesellschaft betonen, um die Werte auch der nachwachsenden Generation zu vermitteln. Und gleichzeitig muss es darum gehen, die wehrhafte Demokratie zu zeigen. In dem, was wir tun, in dem, wie wir handeln, aber auch in dem, worüber wir reden." SPD: Keine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit Vieles, was die SPD fordert, findet sich so auch bei CDU und CSU. Parteichef Martin Schulz steht dazu: Sicherheit sei eine Daueraufgabe. "Ich glaube, dass es deshalb keinen Sinn macht, hinzugehen und zu sagen: Ja, da habt Ihr aber die gleiche Auffassung wie die CDU. Wenn die CDU die gleiche Auffassung hat wie wir, freuen wir uns." Allerdings nimmt er für seine SPD einen anderen Stil in Anspruch. Der Union wirft er vor, Ängste zu schüren, um sich dann als Retter darzustellen. Akzente im SPD-Wahlprogramm sind die europäische Zusammenarbeit, auch etwa in einem europäischen Anti-Terror-Zentrum, und eine klare Aussage: Eine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit lehnen wir ab, schreiben die Genossen, und meinen: Die Möglichkeiten, die Bundeswehr im Innern einzusetzen, sollen nicht ausgeweitet werden. Grüne setzen auf Prävention und effektivere Strafverfolgung Das wollen auch Grüne und Linke nicht. Auch die Grünen erheben Vorwürfe - allerdings nicht nur gegen CDU und CSU, sondern gegen die gesamte Regierung. Sie male das - Zitat - "verzerrte Drohbild eines gegen Terror und Kriminalität hilflosen Staates". Statt - wie es im Programm heißt - immer weitgehenderer Grundrechtseingriffe, die die Freiheit schwächten, setzen die Grünen auf Prävention, eine effektivere Strafverfolgung und auf bessere Vernetzung, so die Innenpolitikerin Irene Mihalic. "Wo wir allerdings ein Problem haben, das sich immer deutlicher zeigt, ist dass wir unsere Strukturen überdenken müssen. Also im föderalen Gefüge die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die Zusammenarbeit auch auf europäischer Ebene, daran müssen wir dringend arbeiten." Linke gegen flächendeckende Videoüberwachung Die Vorratsdatenspeicherung lehnen sie ab - so wie auch eine flächendeckende Videoüberwachung. Mit Betonung auf "flächendeckend". Denn im Einzelfall sperren sich die Grünen hier nicht - ebenso wenig wie die Partei Die Linke. Deren Innenpolitiker Frank Tempel: "Wir sind gegen eine flächendeckende Videoüberwachung, weil die nichts bringt, Täter stellen sich dann darauf ein. Sondern ganz gezielt Videomaterial an kriminologisch relevanten Orten zu nutzen - das haben wir ja auch, und das lehnt auch niemand ab." Einig ist sich die Linkspartei auch darin mit den Grünen, dass die Anti-Terror-Gesetzgebung der vergangenen Jahre auf den Prüfstand gehört. Die Vorratsdatenspeicherung lehnt die Linke ebenso ab wie die Online-Durchsuchung der Festplatte, Späh- und Lauschangriffe und Rasterfahndung. Wie die Grünen will auch die Linke vor allem in Programme und Instrumente gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit investieren. Gemeinsame Positionen von Grünen, Linken und der FDP So unterschiedlich viele andere Positionen sein mögen - in der inneren Sicherheit ist der Bereich, in dem sich Grüne und Linke mit der FDP überschneiden, immer noch groß. Auch die Freien Demokraten wollen die Vorratsdatenspeicherung abgeschafft wissen, setzen auf den sogenannten Quick Freeze, das Einfrieren von Telekommunikations-Verbindungsdaten, das schon die liberale Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Alternative präsentiert hatte. Besonderen Wert legen die Liberalen auf die Kontrolle der Geheimdienste - und treffen sich auch hier mit den anderen beiden Parteien. AfD auf dem Sonderweg Ganz andere Wege geht die AfD. Wie die CDU auch will sie der Polizei konkrete neue Instrumente geben, darunter die erweiterte DNA-Analyse und intelligente Videotechnik. Unter der Überschrift "Innere Sicherheit" findet sich außerdem auch Überraschendes - etwa Kritik am deutschen Staatsbürgerschaftsrecht. Die AfD will unter anderem den Waffenerwerb unbescholtener Bürger erleichtert wissen, und sie will, dass junge Menschen ab 12 Jahren strafmündig sind. Ob solche Forderungen ziehen, hängt vom Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung ab. Ohne Bezug zu konkreten Parteien sagt Hans-Jörg Albrecht, der Leiter des Freiburger Max-Planck-Instituts: "Ich gehe davon aus, dass die Sicherheitsgefühle gestiegen sind in den letzten 20 Jahren, das ist ganz deutlich. Und das entspricht an sich der Abnahme solcher Kriminalitätsformen wie Autodiebstähle, Autoaufbrüche, Wohnungseinbrüche, Straßenkriminalität, die für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger erhebliche direkte Bedeutung haben. Das wird, denke ich, auch spürbar und das sieht man auch in der Entwicklung der Einstellung zur Sicherheit, der Sicherheitsgefühle." Das ist die allgemeine Tendenz. Für konkrete Wählergruppen mag das allerdings anders aussehen, unter anderem für Wähler der AfD. In dieser Woche veröffentlichte die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung Ergebnisse einer Befragung. Auch sie stellt fest, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung keine großen oder keine sehr großen Sorgen über Kriminalität und Gewalt im näheren Umfeld macht - bei Anhängern der AfD sieht das anders aus. 38 Prozent im Schnitt aller Befragten stehen da 62 Prozent der AfD-Anhänger gegenüber - der Abstand ist damit größer als in irgendeinem anderen der abgefragten Politikfelder. Parteiübergreifender Konsens beim Thema Polizei Trotz solcher Unterschiede: In einem Bereich sind sich alle Parteien einig. Und alle messen ihm besondere Bedeutung bei. Die Polizei soll deutlich mehr Personal bekommen. Dass das nötig ist, darin stimmen Fachleute überein. Der Personalabbau früherer Jahrzehnte wurde zwar gestoppt, teilweise haben die Länder ihre Polizisten auch wieder aufgestockt. Gleichzeitig aber sind die Aufgaben gewachsen. Oliver Malchow, der Chef der Gewerkschaft der Polizei, zeichnete vor wenigen Tagen ein düsteres Bild. Seine frühere Polizeikriminaldienststelle, beklagt er, hätte etwa Opfer von Wohnungseinbrüchen durch unzureichende Ermittlungen zum zweiten Mal zum Opfer gemacht. "Man könnte auch sagen, dass wir in vielen Bereichen diese Wohnungseinbrüche, obwohl das ja gravierende Delikte sind, zum Teil auch verwaltet haben. Nicht weil wir keine Lust hatten, diese zu bearbeiten, sondern weil die personellen Ressourcen so waren. Und das ist kein handlungsfähiger Staat." 15.000 zusätzliche Stellen in Bund und Ländern wollen CDU/CSU und auch die SPD. Mehr Neueinstellungen, mehr Personal auf der Straße fordern auch Linke, Grüne, FDP und AfD. Wobei Linke und Grüne sich auch wünschen, dass genauer hingeschaut wird, wie die Arbeit sinnvoller verteilt werden kann. Alle Parteien haben sich in diesem Punkt also viel vorgenommen. Und sie haben ein Problem: Denn ganz überwiegend ist Polizei Ländersache. Der Einfluss des Bundes ist gering. Zumindest an ihrem Bemühen aber werden sich die Parteien nach dem 24. September messen lassen müssen - wer auch immer danach regieren wird.
Von Gudula Geuther
Die innere Sicherheit spielt seit den 1970er-Jahren bei jedem Bundestagswahlkampf eine zentrale Rolle. Oft konnte die Union bei diesem Thema punkten. Doch in diesem Jahr scheint vieles anders zu sein. Schließlich ist die CDU seit Jahren in der Regierungsverantwortung. Schrille Töne sind wohl nur von einer Partei zu erwarten.
"2017-08-11T18:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:36.361000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/terror-extremismus-gewalt-wahlkampf-mit-der-inneren-100.html
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Montgomery: 100 Millionen Impfdosen in 2021 sind realistisch
Frank Ulrich Montgomery ist Präsident des Weltärztebundes World Medical Association (picture alliance/dpa / Guido Kirchner) Die ersten Menschen in Deutschland werden gegen SARS-CoV-2 geimpft. "Ein ganz toller Tag", an dem wir anfangen, uns aktiv gegen das Coronavirus zu wehren, sagt der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes (WMA), Frank Ulrich Montgomery. Die Impfung werde das Virusgeschehen in wesentlich ruhigeres Fahrwasser bringen. Kritik an "politischen Showakten" Aber werden die Impfdosen schnell genug hergestellt? Kritiker wie der SPD-Gesundheitspolitiker Kar Lauterbach finden, die Impfungen liefen absehbar zu langsam ab, FDP-Chef Christian Lindner fordert, den Biontech/Pfizer-Impfstoff von anderen Herstellern in Lizenz produzieren zu lassen. Montgomery hat den Eindruck, mancher Politiker unterschätze den chemischen Prozess der Herstellung oder versuche mit "politischen Showakten" wie etwa Wladimir Putin in Russland Kapital zu schlagen. Die Produktionskapazitäten seien bereits mit "großartigen Subventionen der Bundesregierung" deutlich hochgefahren, da solle man "die Kirche im Dorf lassen". Alles Wichtige zur Corona-ImpfungMit der EU-Zulassung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs geht der Kampf gegen Corona in die entscheidende Phase. Wer kann sich jetzt impfen lassen? Was ist über Wirksamkeit und Nebenwirkungen bekannt? Ein Überblick. Impfung in großem Stil braucht Übung Trotz anfänglicher Pannen wie Unterbrechungen der Kühlkette blickt Montgomery insgesamt optimistisch auf das beginnende Impfgeschehen. "Das wird von Tag zu Tag besser werden." Die von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erstellte Prioritätenliste sei ein gutes Konzept, 100 Millionen Dosen im Jahr 2021 zu verimpfen, sei zu schaffen. Viel wichtiger sei es jetzt, Ressentiments gegen das Impfen zu diskutieren. Risiken langfristiger Impfrisiken bei dem neuartigen mRNA-Impfstoff hält er für "eigentlich relativ unwahrscheinlich". Man müsse jetzt "die impfen, die sich impfen lassen wollen", weitere würden ihre Vorbehalte im Laufe der Zeit verlieren. Zu früh für Diskussion über Sonderrechte Eine ethische Diskussion über Sonderrechte für Geimpfte oder Nachteile für nicht Geimpfte lehnt Montgomery nicht grundsätzlich ab, es sei allerdings noch zu früh dafür, sagt er im Dlf. Eine solche Debatte könne man informierter führen, wenn alle eine Chance auf eine Impfung gehabt hätten und mehr über deren Immunisierungswirkung bekannt sei. "Viele Unternehmen sind am Ende" Der Ökonom Marcel Fratzscher vom DIW stimmt auf weitere Monate der schrumpfenden Wirtschaft ein. Zwar habe kein Staat größere Wirtschaftsprogramme aufgelegt als Deutschland, aber viele Firmen stünden kurz vor der Insolvenz. AHA-Regeln "nicht ausreichend eingehalten" Kritik übte der Weltärztepräsident an der Disziplin der Bevölkerung beim Einhalten der Regeln wie Abstand zu halten oder einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Diese Regeln würden nicht ausreichend eingehalten - und das zum Teil demonstrativ vor den Augen der Behörden. Montgomery hat schon vor Weihnachten vor einem "einem Jo-Jo-Effekt bei den Lockdown-Phasen" gewarnt. Der Präsident der WMA rechnet mit einer Unterschreitung der kritischen Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen frühestens Ende Januar. Das Interview im Wortlaut: Dirk Müller: Der Impfstart, Herr Montgomery, ist das die Wende? Frank Ulrich Montgomery: Ja, natürlich ist das der Anfang der Wende. Die Wende wird ja nicht in drei Tagen kommen, das wird eine Zeit dauern, aber wir fangen an, aktiv uns gegen das Virus zu wehren, wir fangen an, aktiv durch Behandlung der Menschen vorzubeugen, das ist doch ein ganz toller Tag gewesen. Müller: Und weil Abstandsregeln, AHA-Regeln, alle Vorsichtsmaßnahmen doch nicht viel gebracht haben. Montgomery: Na, wir haben sie nicht ausreichend eingehalten. Die Regeln an sich waren ja nicht falsch, aber wenn sich die Menschen nicht ausreichend daran halten und wir sehen, dass sie keine Masken tragen, obwohl sie es sollten, und wenn wir sehen, dass die Abstandsregeln nicht eingehalten werden, dass das teilweise ja sogar demonstrativ unter den Augen der Staatsmacht geschieht, dann müssen wir halt zu solchen Maßnahmen greifen wie einem Lockdown. Aber die Impfung wird das ja langfristig alles in ein wesentlich ruhigeres Fahrwasser bringen. "Ich freue mich auf die Impfung" Müller: Und Sie haben sich auch schon gemeldet, sich impfen zu lassen. Montgomery: Na ja, ich bin ein kleines bisschen zu dick und ich bin 68 Jahre alt, ich bin Prioritätsgruppe drei. Ich warte darauf, dass ich drankomme, freue mich dann auf die Impfung, habe nicht die geringste Angst davor, aber ich finde es auch richtig, dass man priorisiert, dass man Regeln einhält, wer zuerst geimpft wird. Müller: Und das finden Sie auch in Deutschland richtig, wie das gemacht wird, also erst die Pflegeheime, die Alten, die Kranken, das Pflegepersonal, das medizinische Personal? Montgomery: Wir haben eine Prioritätenliste aufgestellt, bei der diejenigen, die das höchste Risiko auf Tod oder schweren Verlauf mit sich tragen, und diejenigen, die das höchste Infektionsrisiko überhaupt tragen, zuerst geimpft werden, und das finde ich richtig. Man muss jetzt nicht über jede einzelne Berufsgruppe rauf oder runter streiten, aber es ist ein gutes Konzept. Müller: Hat Sie das auch überrascht, dass Wladimir Putin sich beispielsweise erst heute impfen will, obwohl der Impfstoff schon seit dem Sommer auf dem Markt ist? Montgomery: Als Vater zweier Kinder habe ich mich gewundert, dass er seine Tochter vorgeschickt hat, denn er hat ja behauptet, schon im Sommer sei seine Tochter geimpft worden. Ich wäre immer als Beispiel selber vorangegangen. Aber wissen Sie, solche Showakte – wir erleben ja gerade rund um die Impfung überall irgendwelche politischen Showaktionen, dazu gehört das auch. Ich finde es gut, dass er geimpft ist, nun hat er auch eine bessere Chance, an COVID vorbeizukommen. Müller: Das wird im Moment viel diskutiert, haben Politiker Vorrang in dieser Priorisierung. Wir haben Benjamin Netanjahu beispielsweise ja auch in gewaltigen Fernsehbildern gesehen, dass er der Erste war, der sich hat impfen lassen, offiziell zumindest, in Israel. Bei uns stehen die Politiker offiziell hintenan, ist das richtig so? Montgomery: Das hat was mit Vorbildcharakter zu tun. Ich glaube, Netanjahu hat sich impfen lassen, weil er ein Vorbild für die Impfunwilligen in seinem Lande sein wollte, ob das wirklich zieht, das vermag ich gar nicht zu beurteilen. Unsere Prioritätenliste ist richtig, und das sollte man so machen, wie wir es bei uns gemacht haben. Impfauftakt in Baden-WürttembergErleichterung war spürbar, als Kliniken in Deutschland die ersten Impfdosen gegen SARS-CoV-2 spritzten. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht sich für möglichst viele Impfungen aus. Allerdings ist der verfügbare Impfstoff momentan noch knapp. 100 Millionen Impfdosen "werden wir schaffen" Müller: Reden wir, Herr Montgomery, ein bisschen über diesen Zeithorizont: Flächendeckend soll das Ganze erst möglich sein bis Sommer – ist das realistisch? Montgomery: Ja, das halte ich für realistisch. Es ist einfach nicht möglich, so viel Impfstoff auf einmal zu produzieren. Wir müssen ja auch noch mal ein bisschen üben. Wissen Sie, 400 Impfzentren stampfen Sie ja nicht aus dem Boden und dann funktioniert das alles. Wir haben doch am gestrigen Tag wunderbar erlebt, sowohl dass es Probleme mit der Kühlkette gegeben hat wie auch, dass Menschen vorpreschen. Das sind doch alles keine schlimmen Dinge, sondern sie zeigen, dass das System insgesamt über die ganze Bundesrepublik genommen funktioniert und den Menschen helfen wird, und das wird auch von Tag zu Tag besser werden. Müller: Experten haben jetzt argumentiert um diese Herdenimmunität, darüber wird ja viel diskutiert. Um das zu erreichen in Deutschland, müssten insgesamt 100 Millionen Injektionen verabreicht worden sein. Schaffen wir das bis zum Sommer? Montgomery: Ja, natürlich, wir haben es ja auch bei der Grippe immer geschafft mit 20 Millionen, jetzt sind wir ganz anders aufgestellt. Wir werden das schaffen, vorausgesetzt, wir kriegen ausreichend Impfstoff. Da kommen ja jetzt auch noch andere Produzenten dazu, deswegen glaube ich, dass es möglich ist, bis, ich sage mal in diesem Jahr, ich will mich da gar nicht auf einen genauen Tag festlegen, in diesem Jahr die 100 Millionen Impfdosen zu applizieren, die reichen würden, um Herdenimmunität herzustellen. Viel wichtiger in meinen Augen ist momentan, manche Ressentiments, manche Ablehnung gegenüber der Impfung mit Menschen zu diskutieren. Ich glaube, wenn die Menschen merken, dass die Impfung weniger Risiken mit sich hat, weniger Nebenwirkungen mit sich bringt, dann wird es auch sehr viel mehr Impfwillige geben. "Kein besonders auffälliges Risikopotenzial" Müller: Was wir jetzt noch nicht wissen, ob es weniger Nachwirkungen, Nebenwirkungen hat als andere Impfstoffe, die seit Jahrzehnten auf dem Markt sind und viele Jahre erprobt wurden vorher. Montgomery: Über die langfristigen Wirkungen kann keiner von uns reden, das ist alles Spekulation. Über die kurzfristigen Wirkungen wissen wir inzwischen anhand der Menschen, die das nun schon in Großbritannien, in Amerika, in Brasilien teilweise ja schon bekommen haben, dass mindestens in den ersten Wochen nach der Impfung kein besonders auffälliges Risikopotenzial bei den Impfungen ist. Das ist wie bei anderen Impfungen auch. Auch eine Impfung stößt ja das Immunsystem an, macht etwas in diesem ganzen Komplex von allergieähnlichen Erkrankungen. Also zu erwarten, dass es da überhaupt keine Nebenwirkungen gebe, das wäre illusorisch, aber eine kleine Schwellung im Arm oder auch mal einen Tag Kopfschmerzen, ich glaube, das sind Dinge, die vom Risikoprofil her viel geringer sind als das Risiko einer durchgemachten Erkrankung. Müller: Bleiben wir noch einmal dabei: Inwieweit räumen Sie da ein Risiko ein, was die langfristigen Folgen anbetrifft? Montgomery: Von dem Gedanken des mRNA-Impfstoffes her ist das eigentlich – das muss man immer mit diesem Begriff eigentlich sagen – eigentlich relativ unwahrscheinlich, dass es langfristige Auswirkungen geben wird, aber wir haben es bei anderen Medikamenten in der Vergangenheit erlebt, total ausschließen kann man nie alles. Nur noch mal: Das Risikoprofil der Erkrankung, das kennen wir, und das heißt, dass ein Prozent der Erkrankten sterben. Müller: Aber können Sie das verstehen, wenn jemand sagt, das ist mir zu risikoreich, ich verzichte drauf, ist das okay? Montgomery: Natürlich kann ich das verstehen. Wir werden deswegen in Deutschland ja auch, solange das nicht alles ausreichend geklärt ist, keinerlei Impflicht oder Ähnliches haben. Darüber führen wir ja schon eine intensive Debatte. Wissen Sie, wenn ich jemanden mit Gewalt und gegen seinen Willen impfe, dann wird der mit Sicherheit mindestens psychologisch eine ganze Reihe von Nebenwirkungen bekommen und macht damit das ganze Verfahren viel schwieriger. Für mich ist es wichtig, jetzt die zu impfen, die sich impfen lassen wollen, und wenn die nach draußen vertreten, dass sie keine Nebenwirkungen hatten, dass ihnen nichts dabei passiert ist oder dass es ihnen danach besser geht und sie vor Risiken geschützt sind, werden auch viele andere nachfolgen. Kommentar: Hoffnung in kleinen DosenDie Impfungen gegen SARS-CoV-2 in Deutschland haben begonnen. Allerdings sei die zweite Welle noch lange nicht vorbei, warnt Volker Finthammer. Bis die Bevölkerung ausreichend geimpft sei, müssten wir noch viel Geduld und Rücksicht aufbringen. Impfung als Einreisekriterium wäre nichts Neues Müller: Schauen wir uns, Herr Montgomery, das noch einmal an: Sonderrechte für die Geimpfte? Das wird im Moment ja gerade wieder diskutiert, Horst Seehofer hat das gestern ausgeschlossen, andere Politiker ebenfalls. Jetzt gibt es Fluggesellschaften, wird jetzt immer wieder zitiert, unter anderem die australische Qantas, die da sagt, wir wollen einen Impfnachweis, wer bei uns ins Flugzeug steigt. Ist das wiederum ein sinnvoller Schritt? Montgomery: Ich glaube, hier muss man einfach Zeitebenen auseinanderhalten. Im Moment, wo man gar nicht allen Menschen die Impfung anbieten kann, verbietet sich ein solches Vorgehen, aber die Diskussion darüber kann man ruhig jetzt schon anfangen. Später einmal, wenn alle Menschen die Chance gehabt haben, sich impfen zu lassen, und wenn wir vielleicht auch wissen, wie Immunität sich im Blut zum Beispiel darstellt, also ob man auch wirklich immun wird, ob man wirklich immun bleibt, ob wir auch gegen alle Mutationen und alle Variationen dieses Virus dann später immun sind, dann kann man zu Schlüssen in dieser Debatte kommen. Im Moment ist das noch viel zu früh, aber was zum Beispiel Privilegien angeht, da weiß ich nicht, ob Horst Seehofer weiß, dass es immer noch Länder in der ganzen Welt gibt, die zum Beispiel die Einreise für Menschen verbieten, die nicht gegen Gelbfieber geimpft sind. Hier gibt es … Müller: Also das wäre kein Novum. Montgomery: Das wäre überhaupt kein Novum, sondern es gibt heute Länder, die das schon verlangen – nicht Deutschland, aber andere Länder –, und das müssen wir einfach ganz ruhig und sachlich und dann, wenn alle Fakten vorliegen, diskutieren. Auch ist gut, dass wir über die ethischen Grenzen dieser Debatte heute schon mal anfangen zu denken. Müller: Impfpass, das war ja ein Vorschlag vom Gesundheitsminister, eben von Jens Spahn, im Frühjahr diesen Jahres, jetzt hat er sich davon distanziert. Also Impfpass für Sie, was Sie gerade gesagt haben, durchaus in einigen Monaten vorstellbar? Montgomery: Wenn wir wissen, dass diese Impfung wirklich allen angeboten werden konnte, wenn wir wissen, wie die Immunität danach ist, wenn es so eine Immunität wie bei der Grippe ist, bei der dann die Stämme sich andauernd wandeln und sie im Grunde genommen keinen ganz sicheren Schutz haben, dann macht das gar keinen Sinn. Wenn Sie aber eine Sicherheit haben wie bei Masern, wo übrigens auch für Kinder, die nicht geimpft werden, einschränkende Maßnahmen vorgesehen sind – und das halte ich für richtig –, wenn man das dann alles weiß, dann kann man eigentlich auch mit einer viel besseren fundierten Grundlage diese Debatte führen. Produktion "schon massiv raufgefahren" Müller: Letzter Punkt für uns heute Morgen: Mehr Produktion, das wird gefordert von vielen Seiten. Haben wir zu wenig in der Produktion? Montgomery: Wir haben nun mit Mitteln der Bundesregierung übrigens, mit großartigen Subventionen der Bundesregierung die Produktionskapazitäten schon massiv raufgefahren. Ob man in der gegenwärtigen Situation und bei der Komplexität dieser Impfstoffe nun andere Fabriken durch Lizenzvergabe dazu kriegen kann, das auch zu machen, ich glaube, das ist nicht so einfach, da unterschätzt mancher Politiker den chemischen Prozess der Herstellung solcher Medikamente. Das ist jetzt eine aufgeregte Debatte. Ich hab mich gewundert, aus welchen Ecken es dann kommt, dass Vertreter einer freien Wirtschaft dann plötzlich anfangen, von Zwangslizenzen und Ähnlichem … Müller: Meinen Sie die FDP, Christian Lindner? Montgomery: Ich meine FDP und Christian Lindner, und ich finde, wir sollten jetzt mal die Kirche im Dorf lassen und sollten sachlich und vernünftig diskutieren und nicht immer nur nach dem politischen Event schauen, mit dem wir irgendeine Form von Aufmerksamkeit erheischen können, die wir sonst vielleicht auf anderem Wege gar nicht mehr kriegen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank Ulrich Montgomery im Gespräch mit Dirk Müller
Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, blickt optimistisch auf das beginnende Impfgeschehen in Deutschland. Die Produktionskapazitäten seien schon deutlich hochgefahren, sagte er im Dlf. 100 Millionen Impfdosen im ersten Jahr zu spritzen, sei ein realistisches Ziel.
"2020-12-28T07:15:00+01:00"
"2020-12-29T11:48:26.479000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-schutzimpfung-montgomery-100-millionen-impfdosen-in-100.html
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Nichtrauchen auf dem Stundenplan
Johannes Melters: "Eigentlich ist es ja hier schon Nichtraucherzone. Ihr dürft ja gar nicht hier rauchen. "Miriam: "Tun wir trotzdem, und zwar geheim. " Miriam ist 16 Jahre alt. Drei bis vier Zigaretten raucht sie an einem ganz normalen Schultag. In den Pausen. Heimlich, irgendwo auf dem Schulhof. Sie ist da nicht alleine. Rund 200 der insgesamt 1000 Schüler an der Gesamtschule Holsterhausen greifen regelmäßig zur Zigarette, weiß Deutsch- und Philosophielehrer Johannes Melters:" In Klasse 5 und 6 wird zur Zeit kaum geraucht. Wenn, in Klasse 6 zwei bis drei Schüler. In der 7 geht es dann relativ sprunghaft los, dass in jeder Klasse so eine Art Clique zusammenkommt von vier bis fünf Schülern, die rauchen. In der 8 wird es dann ein bisschen mehr. Und dann kommt noch mal ein richtiger Sprung in 9 und 10, wo zwischenzeitlich ein Viertel, in einigen Klassen vielleicht ein Drittel raucht. " Ziel der Gesamtschule Holsterhausen ist, eine der ersten rauchfreien Schulen in Essen zu werden. Johannes Melters ist nicht nur Lehrer, sondern auch als Drogenberater an der Schule tätig. Er hat das Konzept für die Antirauchkampagne entwickelt und sich hohe Ziele gesetzt." Rauchfrei heißt zunächst einmal, dass wirklich das gesamte Schulgelände rauchfrei ist. Es betrifft die gesamte Schulgemeinschaft, also Lehrer, Eltern, Schüler, technisches Personal, Hausmeister und so weiter. Dort gibt es keine Ausnahmen." Das heißt: Auch auf Schulfesten darf niemand auf dem Schulgelände rauchen. Auch wenn es immer noch heimliche Raucherecken gibt und vermutlich auch in Zukunft geben wird - die Regeln sind dennoch eindeutig. " Wenn Schüler der Sekundarstufe 1 beim Rauchen erwischt werden, dann gibt es eine Raucherliste, und diese Schüler müssen nacharbeiten und in dieser Nacharbeitsstunde über das Rauchen reflektieren, schriftlich. Das ist eine Sache, die vom Effekt eher schlecht ist. Deshalb haben wir jetzt ein Programm entwickelt von Klasse 5 bis Klasse 10 zur Rauchaufklärung, zur Prävention, aber halt auch, um Schülern und Lehrern, die rauchen, Hilfestellungen anzubieten. " Aufklärung und das offene Gespräch mit den Schülern nützen mehr als Strafen, so die Erfahrungen der Lehrer. Deshalb wird das Thema "Nichtrauchen" in den Unterricht integriert. Dafür werden Lehrer zusätzlich ausgebildet. Wenn in der sechsten Klasse im Biologieunterricht gerade über die Atmung gesprochen wird, ist parallel dazu eine Exkursion in eine Klinik geplant. Dort kommen die Schüler mit Lungenkrebspatienten in Kontakt und werden über gesundheitliche Risiken durch Zigarettenkonsum aufgeklärt. Im Mai startet für die siebten Klassen ein Projekt zum Thema Drogen, so Johannes Melters:" Ich denke, das muss man ganzheitlich ansehen. Denn Rauchen ist ebenso ein Problem wie Alkopops und Marihuana, das zur Zeit wieder sehr en vogue ist. Das ist ein Komplex, den man zusammen abhandeln muss. " Ab der achten Klasse heißt das Motto der Antirauchkampagne nicht mehr: "Einstieg verhindern", sondern "Ausstieg erleichtern". Denn ein Großteil der Schüler raucht bereits regelmäßig. " Viel, eine halbe Schachtel. "" Ich fand das mal cool, und dann wollte ich eigentlich wieder aufhören, aber das ging dann nicht. " Hilfestellungen zum Ausstieg können die Eltern häufig nicht geben. Denn viele sind selber nikotinabhängig. Mit erhobenem Zeigefinger und Strafen können auch Lehrer bei den rauchenden Schülern nicht landen. Deshalb werden zur Zeit Schüler zu Drogenexperten ausgebildet. Ziel der sogenannten "Health Angels" ist, für andere Schüler Ansprechpartner zu sein und ihnen zu helfen. Walter Jankowski ist Suchttherapeut und leitet das Projekt an der Essener Gesamtschule. "Das Grundgerüst sind die Basisinformationen über Suchterkrankungen, von Alkohol über Alkopops, Cannabis, Speed bis hin zu Essstörungen, Magersucht vor allen Dingen.Wir gehen dann in die Einrichtungen rein, die eventuell Hilfe leisten können. Die Schüler sollen die Atmosphäre erleben und auch die Wege kennen lernen. Sie wollen ja helfen. " Die ausgewählten Schüler sind jedoch keine Musterschüler, die mit pädagogisch wertvollen Ratschlägen rauchende Mitschüler belehren sollen. Die Teilnehmer haben sich freiwillig gemeldet, weil sie selber geraucht oder schlechte Erfahrungen im Freundeskreis oder in der Familie gemacht haben. " Ich finde das Rauchen Scheiße. Ich habe mehrere Freunde, die auch schon Drogen genommen haben, die auch Alkohol trinken und denen möchte ich gerne helfen. " " Weil meine Eltern rauchen und ich denen auch beim Aufhören helfen möchte. Und meine Freunde in meiner Klasse, da gibt’s auch welche, die rauchen auch, und denen wollte ich dabei auch helfen, aufzuhören. Ich hab auch schon geraucht, aber ich hab aufgehört. Ich hab es geschafft. "Wer es dennoch nicht allein schafft, kann jederzeit professionelle Hilfe bekommen. Auch die Eltern. Johannes Melters sucht in den Pausen immer wieder das Gespräch mit den Schülern. Melters: "Und zwar für Schüler, die keinen Bock mehr haben zu rauchen, weil vielleicht der Freund sagt: Äh, du stinkst so ekelig oder weil es zu viel Kohle ist, die dabei drauf geht, werden wir für euch Antiraucherkurse besorgen. Wer will. Die wären dann sogar kostenfrei, du musst da nichts für bezahlen. "Schülerin: "Mal sehn, vielleicht kann ich ja noch andere anstiften. "Melters: "Das wird im Mai ein Kurs und ein Kurs im Juni sein mit Leuten von der Ruhrland-Klinik, also richtige Profis und die machen dann eine individuelle Beratung, wie ihr davon wegkommt. "
Von Solveig Bader
Rauchen ist ungesund. Aber trotz aller Warnungen greifen immer mehr Jugendliche zur Zigarette - und das immer früher. Junge Menschen, in deren Umfeld geraucht wird, sind besonders gefährdet. Viele Schulen sind offiziell zu rauchfreien Zonen erklärt worden. Die Essener Gesamtschule Holsterhausen setzt bei ihrer Anti-Rauch-Kampagne auf Vorbeugung.
"2005-03-29T10:10:00+02:00"
"2020-02-04T14:02:18.952000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nichtrauchen-auf-dem-stundenplan-100.html
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"Dem Nobelpreis täte Dylan gut"
Literaturwissenschaftler Heinrich Detering im Juni 2015 (picture alliance / dpa / Sven Pförtner) Wenn sich Plagiatjäger über die Texte von Bob Dylan hermachen, vor allem die seines Spätwerkes, dann werden sie fündig: Die Texte seines Albums "Love and Theft" sind ausnahmslos aus Versatzstücken montiert, die er der amerikanischen Musiktradition und der Weltliteratur entnommen hat – und er kennzeichnet sie nicht. Muss man ihm den Titel eines großen Songwriters aberkennen? Oder steckt hinter seiner Poesie besondere Meisterschaft, die sich nur auf den zweiten Blick eröffnet? Letzteres meint Heinrich Detering. Der Literaturwissenschaftler hat das Spätwerk Dylans analysiert. Im Corsogespräch haben wir mit ihm über sein Ergebnis gesprochen, das in Buchform vorliegt: "Die Stimmen aus der Unterwelt - Bob Dylans Mysterienspiel". Das Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserem Audio-on-demand-Angebot hören.
Heinrich Detering im Corsogespräch mit Thekla Jahn
Einst sang er Volks- und Straßenballaden, heute faszinieren ihn Mysterienspiele, wie Shakespeare sie als Kind sah. Bob Dylans Spätwerk zeuge von außergewöhnlicher Songpoesie, meint der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Dylan sei ein Sängerdichter par excellence.
"2016-04-06T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:22:29.206000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/literaturwissenschaftler-heinrich-detering-dem-nobelpreis-100.html
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Ryanair droht mit Standortschließungen in Deutschland
Unter anderem vom Flughafen Hahn will Ryanair sich zurückziehen (imago/Aviation-Stock) Was plant Ryanair? Was ist der Grund für diese Entscheidung? Wie reagiert die Gewerkschaft? Warum ist gerade Deutschland so stark betroffen? Was plant Ryanair? Laut einer internen Mitteilung des Unternehmens, die inzwischen öffentlich einsehbar ist, soll der Standort Hahn im Hunsrück zum 1. November geschlossen werden. Noch vor dem Winter, so die offizielle Formulierung, droht auch den Standorten Berlin-Tegel und Weeze in Nordrhein-Westfalen das Aus. Darüber hinaus spricht die Airline von weiteren Standorten mit einem erheblichen Personalüberhang. Luftfahrtexperte Großbongardt: Ryanair hat eine Rechnung mit den Piloten offen Ryanair droht im Streit um Gehaltskürzung von Piloten mit der Schließung von Standorten in Deutschland. Grund für den harten Kurs seien auch die Zugeständnisse, die die Billigairline den Piloten vor knapp zwei Jahren machen musste, meint der Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. Denn wirtschaftlich steht Ryanair in der Coronakrise noch relativ gut da. Bereits Anfang Mai hatte Ryanair mitgeteilt, dass etwa 3.000 Stellen gestrichen werden sollen. Neu ist jetzt, dass auch bis zu 170 Piloten gekündigt werden könnte. Was ist der Grund für diese Entscheidung? Indirekt stehen die Pläne des Billigfliegers im Zusammenhang mit der Coronakrise und den schweren wirtschaftlichen Auswirkungen für die Luftfahrt. Unmittelbar geht es aber um Tarifverhandlungen, konkret um Gehaltskürzungen bei den Piloten aus Deutschland, über die mit der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) verhandelt wurde. Beim Kabinenpersonal hat man sich bereits geeinigt, die Gehälter um bis zu zehn Prozent zu kürzen. Für die Piloten liegt ein Sparplan vor, der Gehaltskürzungen von rund 20 Prozent für die kommenden vier Jahre vorsieht. Dieser Plan scheiterte mit knapper Mehrheit am Votum der Piloten aus Deutschland. Nur 49,4 Prozent stimmten der Vereinbarung zu. Ryanair schob daraufhin den Piloten den schwarzen Peter zu: Die Vereinigung Cockpit habe für Stellenstreichungen und Basisschließungen gestimmt, behauptete das Unternehmen, dabei hätten alle Jobs gesichert werden können. Bei Ryanair ist man auf Gewerkschaften allerdings grundsätzlich nicht gut zu sprechen, sie sind der Unternehmensleitung regelrecht verhasst. Ryanair-Chef Michael O´Leary wird mit der Aussage zitiert, eher würde die Hölle zufrieren, als dass er mit Gewerkschaften spricht. Wie reagiert die Gewerkschaft? Die Vereinigung Cockpit weist die Vorwürfe der Fluggesellschaft von sich. Ein VC-Sprecher bekräftigte, dass trotz der Ablehnung der Vereinbarung Interesse an einer Verhandlungslösung gebe. Man habe auf weitere Gespräche gehofft, Ryanair habe Nachverhandlungen jedoch abgelehnt, so die VC. Unter anderem bemängelt die Gewerkschaft, dass die Gehaltskürzungen bis 2024 gelten sollen, die Beschäftigungszusage jedoch nur bis März 2021. Warum ist gerade Deutschland so stark betroffen? Grund dafür dürfte sein, dass die deutschen Piloten, die bei der Ryanair-Tochter Malta Air beschäftigt sind, gegen den Krisenplan gestimmt haben. Bei der österreichischen Tochter Laudamotion war das ähnlich. Dort wurde mit dem Aus für den Standort Wien gedroht, daraufhin stimmten Piloten und Flugbegleiter Gehaltseinbußen zu. In Irland wiederum umging Ryanair die Gewerkschaften und führte Einzelgespräche mit den Piloten, die dann schlechtere Konditionen akzeptierten. Wie diese Gespräch abgelaufen sein mögen, kann man sich ausmalen, zumal vor dem Hintergrund, dass Ryanair ständig auf der Suche nach Piloten ist, die von vornherein schlechte Bedingungen akzeptieren. Das Beispiel Österreich zeigt jedoch, dass in Bezug auf den Standort Deutschland das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ryanair schwingt erst einmal den großen Hammer, versucht aufzuschrecken, auch um die Aufmerksamkeit von Lokalpolitikern zu gewinnen. Ziel ist es, die Auspressung der Beschäftigten fortsetzen zu können, um dann möglicherweise die Beschlüsse zu Standortschließungen und Stellenabbau zumindest teilweise zurückzunehmen. Eines muss Ryanair sicher nicht fürchten: einen Boykott der Fluggäste. Denn wer mit Ryanair fliegt, denkt an seinen eigenen Geldbeutel, nicht an die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten.
Von Günter Hetzke
Europas größte Billigairline Ryanair hat angekündigt, mindestens drei Basen in Deutschland noch 2020 dicht zu machen. Auch Stellen sollen abgebaut werden. Ob es soweit kommt, ist offen. Möglicherweise will das Unternehmen nur Druck auf seine Piloten machen, damit sie Gehaltskürzungen zustimmen.
"2020-07-22T08:35:00+02:00"
"2020-07-23T10:02:08.734000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/druck-auf-piloten-ryanair-droht-mit-standortschliessungen-100.html
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Langfristige politische Lösung der Krise nicht in Sicht
Donezk gehört zu den umkämpften Gebieten in der Ostukraine. (imago / ITAR-TASS) Nach dreieinhalb Monaten wollen die Konfliktparteien heute wieder in Minsk verhandeln. Schon die Agenda zeigt, wie wenig von den damaligen Vereinbarungen umgesetzt wurde: Wieder geht es um einen Waffenstillstand, eine Pufferzone und um den Gefangenenaustausch. Von einer langfristigen politischen Lösung der Krise, die im September noch greifbar schien, ist jetzt nicht einmal mehr die Rede. Dafür soll nun auch über humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ostukraine gesprochen werden. Denn die Lage dort ist alarmierend: Tausende sind obdachlos, vielerorts gibt es keinen Strom und keine Heizung - und die Lebensmittel werden knapp. Schon jetzt klagten viele Menschen über Plünderer, erklärte der Separatisten-Kommandeur in der Stadt Stachanow im Bezirk Luhansk, Pawel Dremel. "Erinnert mich an die Blockade von Leningrad" "Es gibt keinen Strom, es gibt kein fließendes Wasser. Wenn wir den Menschen Trinkwasser bringen, dann raufen sie darum, etwas abzubekommen. Was die Ukraine mit uns macht, erinnert mich an die Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg." Die Separatisten machen die Ukraine für die Situation verantwortlich, weil sie die Wirtschaftskontakte zu den besetzten Gebieten eingeschränkt hat. Die Banken dort funktionieren nicht mehr, Rentner und Staatsbedienstete bekommen keine Bezüge. Die Vertreter der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk werden heute fordern, diese Politik zu ändern. Wie angespannt die Lage ist, zeigen schon die Vorbereitungen zu dem Treffen. Fest steht, dass die Ukraine, Russland, die OSZE und die Separatisten vertreten sein werden. Unklar blieb jedoch bis zuletzt, wer für diese Verhandlungsparteien nach Minsk gefahren ist. Ukrainische Medien spekulieren, dass eventuell auch EU-Staaten Vertreter schicken. Sie betonen, dass sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Vorbereitungen des Treffens eingeschaltet hat. In Moskau werden die Ressourcen knapp Beobachter halten einen Erfolg der Gespräche für möglich. Denn auch Russland ist stark an einem Waffenstillstand interessiert - wegen der eigenen wirtschaftlichen Probleme. In Moskau werden die Ressourcen knapp, um die Separatisten militärisch und humanitär zu unterstützen. Für Spannungen vor dem Treffen sorgte das ukrainische Parlament, das gestern die Blockfreiheit der Ukraine aufhob. Damit wolle es den Weg für einen Nato-Beitritt freimachen, erklärte Außenminister Pawlo Klimkin. "Dieser Schritt entspricht auch den Vorstellungen unserer Partner in der Nato und in der EU. Er bringt uns einer Integration nach Westen näher." Der russische Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete die Parlamentsentscheidung vor dem Treffen als kontraproduktiv. Die Staatsführung in Moskau betonte wiederholt, dass sie einen Nato-Beitritt der Ukraine ablehne und verhindern wolle. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko will vor einer definitiven Entscheidung über einen Beitrittsantrag an die Nato eine Volksabstimmung abhalten. Weiterhin völlig unklar ist, wie es politisch mit dem Donezk-Becken weitergehen soll. Beim Treffen im September war dafür noch ein Fahrplan beschlossen worden. Er sah vor, dass die Bezirke Donezk und Luhansk nach und nach wieder unter ukrainische Kontrolle kommen sollen. Gleichzeitig sollten sie einen Sonderstatus erhalten. Die Separatisten hielten sich jedoch nicht an diese Vereinbarung. Sie hielten im November Parlamentswahlen ab und treiben die Schaffung eines eigenen Staates voran.
Von Florian Kellermann
In Minsk hat die Ukraine-Kontaktgruppe zum ersten Mal seit drei Monaten wieder Friedensgespräche aufgenommen. Die Themen auf der Agenda offenbaren: Es geht um eine Entschärfung, nicht um eine Lösung der Krise. Russland beteiligt sich rege - auch weil die Ressourcen zuneige gehen, um die Separatisten zu unterstützen.
"2014-12-24T13:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:20:38.135000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/treffen-der-ukraine-kontaktgruppe-langfristige-politische-100.html
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Arvo Pärt bekommt "Nobelpreis" der Künste
Der estnische Komponist Arvo Pärt im Jahr 2008 (picture-alliance / dpa / Scanpix, Pedersen) Weitere Preisträger sind der südafrikanische Dramatiker Athol Fugard, der französische Maler Martial Raysse, der italienische Bildhauer Giuseppe Penone und der amerikanische Architekt Steven Holl. Die Auszeichnungen gab in Berlin der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, bekannt. Er ist der deutsche Repräsentant der Japan Art Association, die den Preis vergibt. Zeitgleich wurden die Namen auch in Paris, Rom, London, New York und Tokio verkündet. Die Preisvergabe ist am 15. Oktober in Tokio. Lehmann, hob besonders die Verdienste der Preisträger um den kulturellen Dialog hervor. "Die ausgewählten Künstler bestechen in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen durch beeindruckende Eigenwilligkeit. Ihre Werke entfalten eine enorme kulturelle Kraft", sagte Lehmann. Einer der meist aufgeführten Komponisten zeitgenössischer Musik Mit Arvo Pärt (78) wird einer der meist aufgeführten Komponisten zeitgenössischer Musik geehrt. Sein Werk zeichne sich durch eine mächtige spirituelle Aura aus, befand die Jury. Weltweit bewunderten Musiker verschiedenster Genres seine "einzigartigen Klangwelten". Bei dem südafrikanischen Schriftsteller und Regisseur Athol Fugard (82) hoben die Preisrichter besonders sein Engagement gegen Vorurteile, Armut und Ungerechtigkeit vor. Die Auszeichnung gilt als weltweit wichtigster Kunstpreis, vergleichbar dem Nobelpreis. Sie steht unter der Schirmherrschaft des japanischen Kaiserhauses und wird mit jeweils 110.000 Euro in fünf Kategorien vergeben. Im vergangenen Jahr waren unter anderem der amerikanische Filmregisseur Francis Ford Coppola, der britische Architekt David Chipperfield und der spanische Sänger Plácido Domingo ausgezeichnet worden. (fwa/pg/sch)
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Er gilt als eine der wichtigsten Ehrungen der Kunstbranche: Der "Praemium Imperiale" geht dieses Jahr unter anderem an den estnischen Komponisten Arvo Pärt. Dessen Werk zeichne sich durch eine "mächtige, spirituelle Aura" aus, urteilte die Jury.
"2014-07-16T10:34:00+02:00"
"2020-01-31T13:52:56.556000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/praemium-imperiale-arvo-paert-bekommt-nobelpreis-der-kuenste-100.html
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Politologe: Klimaschutz droht die Gesellschaft zu polarisieren
Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer (dpa/ picture alliance/ Julian Stratenschulte) Die Debatte über das WDR-Kinderchorlied und Äußerungen von Fridays-for-Future dazu hätten gezeigt, dass es in der Debatte über den Klimawandel in Richtung einer Polarisierung zwischen Jung und Alt gehen könnte, sagte der Politologe Oskar Niedermayer im Dlf. Das sei eine Entwicklung, die ihm Sorge bereite, weil man zunehmend nicht mehr miteinander rede und einen demokratischen Kompromiss suche, "sondern beide Seiten sich im moralischen Sinne im Besitz der absoluten Wahrheit sehen". Dabei sei das, was in diesem Jahr beim Klimaschutz angestoßen worden sei, bemerkenswert. "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung." Insofern sei es ein Jahr mit positiven Aussichten gewesen. Zu den politischen Herausforderungen gehöre es, dass der Klimaschutz einigermaßen sozial verträglich sein müsse und dass Klimaschutz und Ökonomie zusammengehen müssten. Weil die führenden Parteien in den vergangenen Jahren zu sehr gezögert hätten, müsse es nun schnell gehen.
Oskar Niedermayer im Gespräch mit Philipp May
Wie schon in der Flüchtlingskrise drohe auch in der Debatte über den Klimawandel eine starke Polarisierung der Gesellschaft, sagte der Politologe Oskar Niedermayer im Dlf. Erste Anzeichen gebe es schon. Das könne auch zu Gefahren für die demokratische Entwicklung Deutschlands führen.
"2019-12-31T12:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:26:00.628000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/politische-herausforderungen-politologe-klimaschutz-droht-100.html
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Blindgänger zerstören Perspektiven
Die Opfer der Blindgänger sind häufig Kinder: Neugierig nehmen sie aus den Trümmern Dinge mit, die sie finden. (afp / Mohammed Abed) Es war ein Freitag im September, drei Wochen nach dem Ende des Gaza-Kriegs. Da ging im Innenhof der Familie Abu Asser ein Blindgänger hoch. "Drei aus der Familie waren gleich tot. Einer war schwer verletzt, die Beine zerfetzt. Und meinem Cousin hat es die Hand abgerissen." Alaa Abu-Asr selbst hat Splitterverletzungen am ganzen Körper. Dass die Raketen der israelischen Armee noch explodieren könnten, sagt er, habe keiner so recht gewusst. Deshalb hatten die jungen Männer das Projektil auch bis nach Hause getragen. Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge gibt die Zahl dieser Blindgänger aus dem Krieg vom vergangenen Sommer mit 7.000 an. Adhamm Kaskin gehört zu der Polizeieinheit im Gaza-Streifen, die solche Blindgänger unschädlich machen soll. Von den großen Halb-Tonnen-Bomben haben er und seine Kollegen bisher aber nur 150 entschärfen können. "In den vergangenen drei Monaten waren es nur acht. Meist liegen die Bomben im Schutt zerstörter Häuser oder in 20 Metern Tiefe. Da müssen wir graben, um dranzukommen. Das ist aufwendig und dauert lange." Während des Kriegs im Juli und August hatte die israelische Armee so viel Munition eingesetzt wie in keinem anderen Gaza-Krieg zuvor - abgeschossen aus der Luft, durch Artillerie und Marine. Kaskin hat für den Gaza-Streifen aber nur 40 ausgebildete Experten, die er einsetzen kann. 200 hätte er gerne. Und es fehlen Metalldetektoren und Schutzanzüge. Vor allem fehlt Hilfe von außen: Der Polizist zeigt auf dem Hof des Hauptquartiers auf zwei große Behälter: "Hier sind Phosphorbomben drin. Wir haben sie mit Wasser und Erde bedeckt, damit sie nicht weiterbrennen." Die Opfer sind oft Kinder In den Trümmern der zusammengebombten Stadtviertel des Gazastreifens sind die Kinder besonders gefährdet. Neugierig nehmen sie Dinge mit, die sie finden. Ahmed Yousef El-Atar war 13, als er einen Sprengkörper der israelischen Armee zuhause aufbrechen wollte. Die Explosion hat ihm damals die rechte Hand zur Hälfte weggerissen. Die Reste seiner Finger kann er kaum bewegen. Ein Splitter hat eine seiner Nieren verletzt, er nimmt seit Jahren Schmerzmittel. Vor ein paar Wochen hat Ahmed geheiratet. Seine Zukunftsangst ist dadurch noch größer geworden, er sagt unter Tränen: "Meine Eltern haben mich sehr bedrängt, ich soll doch heiraten. Obwohl ich doch mit meiner Verletzung überhaupt nicht arbeiten kann, keine Verantwortung tragen kann. Jetzt bete ich jeden Tag, dass Rasmiyah und ich keine Kinder bekommen. Ich könnte nicht für sie sorgen." Ahmed ist jetzt 20. Als junger Palästinenser in Gaza würde er es normalerweise seinen Eltern und Großeltern nachmachen und stolz eine große Familie gründen. Aber Ahmed hat keine Perspektive. Und fast jeden Tag gibt es irgendwo im Gaza-Streifen neue Verletzte durch Blindgänger. Oft sind es Kinder.
Von Christian Wagner
Auch nach seinem Ende im vergangenen Sommer fordert der Gaza-Krieg weiterhin Opfer: Denn noch immer liegen unter den Trümmern im Gazastreifen viele Blindgänger, die leicht explodieren können - 7.000 sollen es laut UNO sein. Besonders Kinder, die in den Trümmern spielen, sind gefährdet.
"2015-06-01T05:54:00+02:00"
"2020-01-30T12:39:41.230000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gaza-blindgaenger-zerstoeren-perspektiven-100.html
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Brutal, zerstörerisch - faschistisch?
Juni 2022: Eine trauernde Frau, deren Sohn im Kiewer Vorort Butscha erschossen worden war. Nach dem Abzug russischer Truppen waren in Butscha Hunderte getötete Zivilisten teilsweise mit gefesselten Händen auf den Straßen gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Kunihiko Miura) Ein junger Ukrainer über das, was ihm und seinen zwei Brüdern unter russischer Besatzung widerfahren ist. „Hier haben sie uns hinknien lassen, direkt vor dieser Grube da. Da war ich, links von mir Dima und da Schenja. Den haben sie zuerst erschossen. Sie haben gelacht und gesagt, dein kleiner Bruder ist schon erledigt. Ich hatte ein Klebeband über den Augen, aber durch einen Spalt konnte ich sehen, wie Schenja auf den Boden fiel.“ Tausende getötete Zivilisten in der Ukraine Immer wieder in diesem Krieg: Berichte von roher, massiver Gewalt russischer Soldaten gegen Zivilisten, gegen Männer, aber auch gegen alte Menschen, Frauen und Kinder. Aus den unlängst durch die ukrainische Armee zurückeroberten Orten kommen täglich neue Schreckensmeldungen dazu. Massengrab von IsjumForensische Ermittlungen nach der Befreiung von russischer Besatzung Die Vereinten Nationen haben seit Februar dieses Jahres mehr als 5.800 getötete und 8.400 verwundete Zivilisten gezählt, die tatsächliche Zahl dürfte noch deutlich höher liegen. Dazu Millionen Geflüchtete, zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt. Blinder Terror, brutale Strategie Sexualisierte Gewalt im Krieg Blinder Terror, brutale Strategie Sexualisierte Gewalt im Krieg Es gibt zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen durch russische Soldaten in der Ukraine. Sexualisierte Gewalt werde gezielt als Kriegswaffe eingesetzt, sagen Expertinnen. Doch die Strafverfolgung ist schwierig, lange galten derartige Verbrechen als kaum vermeidbare Begleiterscheinung von Kriegen. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer, aber auch für viele Menschen in Europa und weltweit ist dieser Krieg eine tiefe, eine historische Zäsur: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“ Nichts ist wie es war, betont Bundesaußenministerin Annalena Baerbock gleich am Morgen des 24. Februar dieses Jahres, unmittelbar nach der russischen Invasion. Zugleich aber blicken viele zurück, der Tenor: Es ist, wie es schon mal war. Dudas Putin-Hitler-Vergleich „Hat jemand so mit Adolf Hitler während des Zweiten Weltkriegs gesprochen? Hat jemand gesagt, dass Adolf Hitler sein Gesicht wahren muss? Dass wir so vorgehen sollen, dass es nicht erniedrigend ist für Adolf Hitler? Ich habe solche Stimmen nicht gehört,“ meint etwa Polens Präsident Andrzej Duda im Juni in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung. Historiker Schulze Wessel Gezielter Putin-Hitler-Vergleich ist möglich Historiker Schulze Wessel Gezielter Putin-Hitler-Vergleich ist möglich Für den Historiker Martin Schulze Wessel ist der Vergleich zwischen Wladimir Putin und Adolf Hitler, wie ihn der polnische Präsident Duda ausgesprochen hat, in Ordnung. "Wenn es um die Analyse des Angriffskrieges geht und die Frage, wie geht die Staatengemeinschaft damit um, dann ist so ein Vergleich durchaus möglich.“ Duda habe keine oberflächliche Gleichsetzung von Putin und Hitler vorgenommen. Nur eine von vielen Politikerstimmen, die schnell Parallelen zwischen dem heutigen Russland, seiner Führung und der Zeit des Nationalsozialismus ausmachen. Doch wie angemessen sind diese Vergleiche? Was bewirken sie oder was sollen sie bewirken? Beschreiben sie zutreffend, was geschieht? Helfen sie dabei, besser zu verstehen? "Putler", "Rashism", "Vernichtungskrieg" T-Shirts, Plakate, Magazin-Cover, Memes und Karikaturen: Putin firmiert seit Februar als „Putler“ mit Hitler-Bart, sein politisches System wird „Rashism“ getauft, eine Verschmelzung der Worte „Russia“ und „Fascism“, also Russland und Faschismus. Vielfach ist die Rede vom russischen „Vernichtungskrieg“. Politikerinnen und Politiker quer über Parteigrenzen hinweg verwenden den Begriff, aber auch Diplomaten, Historiker und Journalistinnen, in der Ukraine, aber auch in Deutschland. April 2022: Plakat mit einem Kopf, der eine Mischung aus Hitler und Putin darstellen soll, bei einer Demonstration in Frankfurt am Main gegen den Krieg in der Ukraine (picture alliance / dpa / Boris Roessler) So etwa die ZDF-Korrespondentin und Reporterin Katrin Eigendorf Anfang Juni in der Talkshow „Maybrit Illner“: „Es geht ja gar nicht mehr darum, Gebiete zu erobern und zu kontrollieren, sondern es ist ein Vernichtungskrieg. Einkesselung und Vernichtung, vor allem der Zivilbevölkerung.“ Früh in der Debatte melden sich die Historiker zu Wort, kommen zum Teil zu komplett gegensätzlichen Bewertungen. Da ist etwa der US-Historiker Timothy Snyder, bekannt für seine Forschung zu Holocaust und Vernichtungspolitik der Nazis in Osteuropa. In internationalen Medien spricht er von „russischem Faschismus“, verweist auf Parallelen zwischen Putin und Hitler und leitet aus der Geschichte des Nationalsozialismus eine spezifische deutsche Verantwortung für das Schicksal der Ukraine her. Warnung vor leichtfertigen Vergleichen mit NS-Verbrechen Etliche deutsche Kollegen sehen das ähnlich, mancher aber argumentiert mit genau umgekehrter Stoßrichtung: „Der Begriff Vernichtungskrieg ist entstanden oder geprägt worden für das Vorgehen der deutschen Truppen im Krieg gegen die Sowjetunion und bei diesem Krieg sollte die als minderwertig angesehene slawische und insbesondere jüdische Bevölkerung ausgerottet werden, was bekanntermaßen zu einem großen Teil auch umgesetzt worden ist. Der Begriff wurde also geprägt, um diesen Krieg von allen anderen, die es vorher und zur gleichen Zeit etwa im Westen Europas gab zu unterscheiden. Wenn man den Begriff Vernichtungskrieg auf andere Kriege mit ungleich weniger Toten in der Zivilbevölkerung überträgt, wird dieser Unterschied eingeebnet und wir kommen dann zu einer undifferenzierten Betrachtung,“ kritisiert Ulrich Herbert, emeritierter Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Freiburg. Vor 80 JahrenDeutscher Überfall auf Sowjetunion - Auftakt eines epochalen Verbrechens Reihe: Wirklichkeit im RadioSteh auf, es ist Krieg 58:14 Minuten26.06.2021 Kriegsjahr 1941Ein folgenreiches Jahr für die Weltgeschichte Setzt also, wer den Begriff „Vernichtungskrieg“ heute mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine verwendet, diesen gleich mit den Verbrechen der Nazis, die rund 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben kosteten? Die französische Historikerin und Politikwissenschaftlerin Marlene Laruelle von der George Washington University meint: „Ich finde, dass wir mit solchen Referenzen nicht leichtfertig umgehen sollten, denn das ist ein Angriff auf das Gedenken der Menschen, die das durchgemacht haben, und das ihrer Angehörigen. Wir müssen respektvoll und auch genau sein. Wir haben hier kein organisiertes, industrialisiertes massenhaftes Töten von Menschen. Ja, wir haben Filtrationslager, Kinder, die nach Russland gebracht werden, aber das ist kein Holocaust.“ Russische Filtrationslager: Gewalt und Willkür Putins Regime sei im eigentlichen Sinne auch nicht faschistisch, meint Laruelle, die 2021 zu dieser Frage ein Buch veröffentlicht hat: „Es gibt keine Verherrlichung des Kriegs und der Gewalt als Mittel um die Nation zu erneuern. Wenn das nicht gegeben ist, dann ist auch der Begriff ‚Faschismus‘ fehl am Platz, denn dann gibt es keine Utopie von der Zukunft der Nation. Das Regime versteckt den Krieg, sie wollen das nicht Krieg nennen, sie wollen keine Mobilisierung, sie verheimlichen gefallene Soldaten – das ist kein faschistisches Regime, es ist repressiv, autoritär, personalisiert, konservativ, radikal rechts und so weiter, aber nicht faschistisch. – zumindest was die wissenschaftliche Perspektive angeht.“ Politischer Zweck von Nazi-Vergleichen Ulrich Herbert weist zudem auf das Fehlen einer echten Massenbewegung als entscheidendes Element hin. NS-Vergleiche hätten im aktuellen Kontext vor allem einen politischen Zweck: „Wenn in historischen Situationen eine gewisse Verbitterung und ein gewisser Hass auf einen anderen besteht, dann wird schon seit Jahrzehnten ziemlich zuverlässig der Vergleich mit dem Nationalsozialismus, mit Hitler oder allgemein mit dem Faschismus gewählt. Es geht also darum, den Gegner oder den potenziellen Gegner durch diesen Vergleich herabzuwürdigen und ihn in die denkbar schlechteste oder schrecklichste historische Ecke zu stecken. Das sind also argumentative Gründe.“ Der Historiker Ulrich Herbert (picture alliance / dpa / Monika Skolimowska) Das, so Herbert, lasse sich auf russischer Seite beobachten, wo die Propaganda vom angeblichen Nazi-Regime in Kiew zur Rechtfertigung des Kriegs herangezogen wird. Aber auch auf westlicher Seite gebe es eine Instrumentalisierung. In Deutschland, so Herbert, dienten Vergleiche etwa von Putin mit Hitler dazu, politisch Druck auszuüben auf die Gegner von Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine. Der russische Angriffskrieg sei nach allen Regeln des Völkerrechts verbrecherisch, richte sich im Besonderen gegen die Zivilbevölkerung und werde von der russischen Armee brutal geführt. Trotzdem habe es in der Vergangenheit vergleichbare Kriege etwa mit Flächenbombardements von Wohngebieten gegeben, argumentiert der Historiker. „Wenn das alles unter Vernichtungskrieg subsummiert wird, verliert der Begriff vollständig seine spezifische Bedeutung und wird dann zum Synonym für Krieg überhaupt.“ Wie wichtig ist die Debatte über Begrifflichkeiten? Alice Bota hat als Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit" Russlands Angriff auf die Ukraine seit 2014 vor Ort beobachtet. Die Diskussion um Begrifflichkeiten findet sie wichtig, aber: „Es ist natürlich unglaublich bequem, weit weg zu sitzen und darüber zu diskutieren, welche Begriffe besser passen. Das muss man sich leisten können. Wir können uns das leisten und diese Debatte ist sicher nicht überflüssig – wir sollten nur aufpassen, mit unserer Kritik an der ukrainischen Seite und welche Begriffe sie wählt: Die Ukrainer sehen sich einem Vernichtungswillen und einer Vernichtungsmaschinerie ausgesetzt.“ Die Journalistin Alice Bota (picture alliance / dpa / Monika Skolimowska) Über den Krieg nach dem 24. Februar 2022 sagt Bota: „Jeder Krieg ist auf Vernichtung aus und damit auch dieser und trotzdem würde ich sagen, dass sich dieser Krieg unterscheidet von anderen Kriegen. Das hängt damit zusammen, dass Wladimir Putin mehrfach wiederholt hat, dass es ihm darum geht, die Ukraine zu vernichten. Er benutzte nicht das Wort ‚vernichten‘, aber er sagte, es sei kein eigener Staat, er akzeptiert die Ukraine nicht als unabhängigen Staat.“ „Man muss verstehen, dass die Ukraine im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit hatte. 1991 machte sie sich daher daran, mechanisch fremde Modelle zu kopieren, die weder mit der Geschichte noch mit der ukrainischen Wirklichkeit etwas zu tun haben,“ ließ Wladimir Putin die Welt im Februar, drei Tage vor dem offenen Angriff seiner Armee auf die Ukraine, wissen. Ukrainische Bestrebungen nach nationaler Eigenständigkeit und Staatlichkeit, die es auf dem Gebiet der Ukraine immer wieder gab, lässt Putin dabei unter den Tisch fallen. Für ihn sind Russen, Belarussen und Ukrainer eine Nation, wie er schon 2021 in einem Essay verbreitete. Alice Bota: „Wir haben nach und nach ja erfahren, wie die russische Armee in den ukrainischen Städten vorgeht. Sie versucht alles, was die ukrainische Staatlichkeit und Identität manifestiert, zu vernichten. Es geht nicht darum, alle Ukrainerinnen und Ukrainer zu töten, aber man ist eben bereit, Menschen zu töten, die diese ukrainische Staatlichkeit unterstützt haben und unterstützen.“ Auch der österreichische Militärexperte Gustav Gressel vom Think Tank „European Council on Foreign Relations“ ist der Ansicht, dass sich Russlands Krieg gegen die Ukraine von anderen Kriegen Russlands unterscheidet. Zwar seien die militärischen Bedingungen ähnlich wie etwa in den Tschetschenienkriegen in den 90er- und 00er-Jahren oder beim russischen Militäreinsatz in Syrien seit 2015: „Von der Taktik her ist es natürlich ähnlich, weil es dieselbe russische Armee ist, übrigens auch mit denselben Problemen, dass man zu wenig Infanterie hat, dass man schlecht vorbereitet ist, dass die Logistik nicht klappt, dass es zu einem hohen Maß an Korruption kommt. Das ist dieselbe russische Armee, die eine Luftwaffe hat, die sehr schlecht darin ist, Luft-Nahunterstützung zu fliegen, Luft-Bodenunterstützung zu fliegen, das heißt Kampfunterstützung erfolgt in erster Linie durch den Einsatz von Artillerie und das recht massenhaft – das ist die Art und Weise, wie die russische Armee kämpft. Da gibt es natürlich Parallelen, auch in Syrien…. (…) Aber das Ziel war nicht die Ausrottung der Syrer als Volk. Man hat nicht gesagt: Syrien darf nicht existieren, Syrien hat nie existiert, die Syrer sind kein Volk, wir machen jetzt was anderes daraus.“ Der Begriff "Entnazifizierung" Gressel hält die Bezeichnung „Vernichtungskrieg“ für angemessen, benutzt sie auch selbst. Anders die Journalistin Alice Bota, die bewusst vom „russischen Vernichtungswillen“ spricht. Einen umfassenden Vernichtungswillen haben viele Beobachter früh in einem Text des russischen Publizisten Timofej Sergejcev ausgemacht. Er erschien am 3. April dieses Jahres unter dem Titel „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“, veröffentlicht von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Darin bezeichnet Sergejcev die ukrainische Nation als „künstliche antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt“. Die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden, so Sergejcev, wer zur Waffe gegriffen habe, solle vernichtet werden. Russische Desinformation Warum spricht Putin von „Nazis“ und „Genozid“? Russische Desinformation Warum spricht Putin von „Nazis“ und „Genozid“? Russische Staatsmedien stellen den Angriff auf die Ukraine als Befreiungsschlag gegen ein von „Faschisten“ gesteuertes Regime dar. Präsident Wladimir Putin spricht von einem „Genozid“ in den Separatistengebieten und verspricht eine „Entnazifizierung“. Ein Blick auf das russische Propaganda-Vokabular. „Die weitere Entnazifizierung dieser Masse der Bevölkerung besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Unterdrückung nazistischer Einstellungen und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Bildung. (…) Der Zeitrahmen für die Entnazifizierung kann auf keinen Fall kürzer sein als eine Generation, die unter den Bedingungen der Entnazifizierung geboren wird, heranwachsen und reifen muss. (…) Die Entnazifizierung wird unweigerlich eine Entukrainisierung sein.“ „Ich glaube, dass diese Art von Veröffentlichungen auch herangezogen werden kann für die Verfolgung der obersten Führungsriege, nicht nur Sergejcev selbst. Denn man muss die russischen öffentlichen Medien ganzheitlich betrachten, insbesondere Medien wie Ria Novosti, die stark mit dem Staat verbunden sind. Man muss schauen, was genau dort publiziert wird und ob das beispielsweise von Russlands oberster politischer oder militärischer Führung zitiert wird", sagt die ukrainische Anwältin Kateryna Busol, die auf humanitäres Völkerrecht und Strafrecht spezialisiert ist. Die russischen Kriegsverbrechen im Kiewer Vorort Butscha haben weltweit Entsetzen ausgelöst und sind einer der Schwerpunkte bei Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Bis es in Deutschland Verfahren gibt, wird es voraussichtlich noch lange dauern. (picture alliance / AP / Rodrigo Abd) „Dann geht es um die Frage, ob wir die Anklage wegen Anstachelung zum Genozid nicht nur auf die Autoren selbst beziehen, sondern ausweiten auf die Politiker, die ihre politischen und militärischen Schritte womöglich auf diese Hasspropaganda stützen. Also ja, diese Art von Publikation ist genau die Art von Beweisen, die die Ermittler sich anschauen sollten, wenn es um die Strafverfolgung wegen Aufrufs zum Genozid geht.“ Denn die Frage, welche Art von Krieg Russland in der Ukraine führt, welche Wortwahl geeignet ist, um ihn exakt zu beschreiben, ist bei Weitem nicht nur Thema intellektueller Diskurse. Sie hat völkerrechtliche Relevanz. „Ich glaube, dass dies definitiv Kriegsverbrechen sind, und sie werden von der Welt als Genozid anerkannt werden. Wir wissen, dass tausende Menschen getötet und gefoltert, Gliedmaßen abgerissen, Frauen vergewaltigt und Kinder getötet wurden.“ Debatte über Verwendung des Begriffs "Genozid" So der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im April bei seinem Besuch in Butscha, dem Ort, der früh zum Synonym für russische Kriegsverbrechen wurde. Dabei ist der Begriff „Genozid“ ähnlich aufgeladen wie der Begriff „Vernichtungskrieg“, denn „Genozid“ gilt gemeinhin als „crime of all crimes“, als schlimmstes aller Verbrechen. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin prägte ihn in den 1940er-Jahren, um die Vernichtung der Armenier und den Holocaust juristisch fassen zu können. Nach der entsprechenden UN-Konvention von 1948 ist Genozid definiert als Handlung in der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“ Entscheidend ist dabei nicht eine bestimmte Anzahl von Todesopfern. Auch Handlungen wie etwa die Verhinderung von Geburten innerhalb der betroffenen Gruppe oder die gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe können laut der Konvention einen Genozid darstellen. Kriegsverbrechen in der Ukraine Völkerrechtlerin Busol: „Genozidales Verhalten Russlands“ Kriegsverbrechen in der Ukraine Völkerrechtlerin Busol: „Genozidales Verhalten Russlands“ Viele Staaten erkennen in den Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine genozidale Absichten. Genozid sei aber eines der Verbrechen, die am schwersten nachzuweisen sind, sagte Kateryna Busol, ukrainische Anwältin für humanitäres Völkerrecht im Dlf. Deswegen müssten jetzt Beweise gesichert werden. Vertreter der Vereinten Nationen zeigten sich zuletzt schockiert über Meldungen aus den russisch besetzten Gebieten der Ukraine. Insbesondere Berichte über Deportationen und so genannte Filtrations-Lager, seien extrem beunruhigend, hieß es. Die ukrainische Völkerrechtlerin Kateryna Busol ist überzeugt: „Wir können ganz klar Aspekte einer genozidalen Absicht in Russlands Kriegsführung seit Februar dieses Jahres erkennen, verglichen mit dem Zeitraum 2014-2021. Ich sage nicht, dass wir schon ein umfassendes genozidales Handeln haben, aber es gibt einige augenfällige Elemente, also zum Beispiel die Verbringung ukrainischer Kinder nach Russland. Russland hat ja auch öffentlich gemacht, dass es eine Vereinfachung des Adoptionsrechts im Fall ukrainischer Kinder gibt. Und man geht davon aus, dass diese Kinder dann entsprechend russischer Narrative aufgezogen, in russischer Sprache unterrichtet, also im Wesentlichen umerzogen werden sollen. Dieses Verhalten könnte die Kriterien als genozidal erfüllen.“ Hilft der Rückgriff auf Geschichte? Juristisch betrachtet aber sei der Tatbestand des Genozids besonders schwer nachzuweisen, denn es müsse zweifelsfrei belegt werden, dass die Taten gezielt angeordnet wurden und nicht der Nachlässigkeit militärischer Vorgesetzter zuzuschreiben seien. Wie also korrekt benennen, was Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Russlands Kriegsführung, Putins Regime ausmacht? Hilft der Rückgriff auf Geschichte oder überdecken Begriffe wie „Vernichtungskrieg“, „Faschismus“ und „Genozid“ gerade das eigentliche Geschehen? Die Historikerin Marlene Laruelle: „Ich glaube, Definitionen und Labels sind für die wissenschaftliche Analyse nützlich, aber sie erklären nicht unbedingt viel. Es kann auch passieren, dass Dinge dadurch schwerer verständlich werden. Vor allem so ein Begriff wie Faschismus, der oft mehr als Schmähung denn als akademischer Begriff verwendet wird. Wir können verurteilen, was Russland tut, ohne derart aufgeladene Begriffe zu verwenden.“ Die Journalistin Alice Bota hingegen spricht sich dafür aus, zu differenzieren. Was die Bezeichnung als „Vernichtungskrieg“ angeht, könnte das vielleicht so aussehen: „Ich verstehe, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer auch diesen Begriff benutzen, um für uns zu übersetzen, was mit ihnen geschieht. Und jetzt versuchen, glaube ich, die Ukrainerinnen und Ukrainer mit diesem Wort im Prinzip an uns zu appellieren: Wenn ihr von historischer Verantwortung sprecht, von diesem politischen Nie wieder, wann wollt ihr sie denn wahrnehmen, wenn nicht jetzt!?‘ Ich selbst mag diese Analogien nicht, aber nochmal: Ich verstehe, dass die ukrainische Seite es als so eine Art Übersetzungshilfe für uns benutzt und dass sie diesen Vernichtungswillen der russischen Seite wirklich spürt und Angst davor hat.“
Von Johanna Herzing
Ob "Vernichtungskrieg" oder Putin-Hitler-Vergleiche - geschichtliche Analogien begleiten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine von Anfang an. Welche Aussagekraft diese Bezüge auf deutsche NS-Verbrechen über die russische Kriegsführung haben, ist aber strittig.
"2022-09-20T18:40:00+02:00"
"2022-09-20T18:40:00.077000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krieg-vergleiche-100.html
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Gemeinsam statt allein gegen die Krisen der Welt
Bundesaußenminister Heiko Maas spricht vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (imago / Xinhua / Li Muzi) Gegen 20.30 Uhr deutscher Zeit trat Heiko Maas ans Rednerpult, für ihn war es die erste Generaldebatte der Vereinten Nationen. Maas berief sich gleich im ersten Satz auf erfahrenere Diplomaten: "Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jede Generalversammlung hat ihre Krise, ihr großes Thema, so hat es mir ein Veteran der UN-Diplomatie in diesen Tagen berichtet." Und der Bundesaußenminister hatte noch keine Minute gesprochen, da hatte er das Thema, sein Thema, ausgemacht: "Tritt man einen Schritt zurück, dann zeigt sich ein klares Muster, es wird deutlich, dass wir es tatsächlich mit einer Krise zu tun haben: der Krise des Multilateralismus." Kritik nur zwischen den Zeilen Vertrautes Territorium für Heiko Maas, der seit Monaten über ebene diese Krise spricht, er sieht eine historische Verantwortung für den Erhalt des multi-lateralen Prinzips und begründet dies mit Deutschlands Erfolgsgeschichte nach 1945. Gleich nach Ankunft in New York hatte Maas die Vereinten Nationen als das Herz des Multilateralismus bezeichnet. Denjenigen, die Deutschlands Bewerbung um einen Sitz als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat unterstützt haben, versicherte er: "Ich danke ihnen für das riesige Vertrauen, dass sie uns durch die Wahl entgegengebracht haben. Es ist uns Ansporn, unseren Teil zur Lösung der Krisen dieser Welt beizutragen, ohne Selbstüberschätzung, aber mit Zuversicht und Mut zu gestalten." Es war eine vorsichtige Rede von Heiko Maas. Kritik an Donald Trump oder der amerikanischen Regierungspolitik musste man zwischen den Zeilen suchen, etwa als er zum Thema Klimaschutz sagte, nationalistisches Handeln allein nach der Devise "my country first", stoße an Grenzen. Er referierte den Katalog der aktuellen Krisen, den Worten Nordkoreas müssen Taten folgen, Syrien brauche endlich einen politischen Prozess, an einer Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten müsse weiter gearbeitet werden. Zur offenen Konfrontation mit den USA in Sachen Iran so viel: "Das Nuklearabkommen mit dem Iran mag nicht perfekt sein, es hat aber iranische Nuklearwaffen und eine bis vor drei Jahren höchst wahrscheinliche Eskalation bis heute erfolgreich verhindert. Und das ist nicht wenig. Wir Europäer halten deshalb gemeinsam an diesem Abkommen fest, wir arbeiten daran, den wirtschaftlichen Austausch mit dem Iran weiter zu ermöglichen und fordern natürlich auch den Iran auf, seine Verpflichtungen weiterhin voll zu erfüllen." Together first! Heiko Maas streifte die Themen Abrüstung und Rüstungskontrolle und Peacekeeping. Er warb um Unterstützung für die deutsche Initiative für eine Ächtung vollautonomer Waffen und betonte die Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs. "We the peoples", so beginnt die UN Charta, diese Worte bildeten das Rückgrat der Rede von Heiko Maas. Together first! Dieses Motto bot er als Alternative zum bekannten Slogan Donald Trumps. "Die Vereinten Nationen gehörten den Menschen, ihnen sind wir verpflichtet, we the peoples. Thank you."
Von Klaus Remme
Außenminister Heiko Maas (SPD) gab sich bei seiner ersten Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zurückhaltend aber bestimmt. Offene Kritik an US-Präsident Trump vermied er, dem "America first" von Trump setzte Maas aber ein klares "Together first!" als Werbung für den Multilateralismus entgegen.
"2018-09-29T06:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:17.268000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aussenminister-maas-vor-der-un-vollversammlung-gemeinsam-100.html
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"Wir sind die ersten Ansprechpartner für unsere Patienten"
Ab April soll auch in hausärztlichen Praxen gegen das Coronavirus geimpft werden. (imago / Georg Ulrich Dostmann) Anfang März hat die Bund-Länder-Runde die Ankündigung gemacht: Einen Schnelltest pro Woche und pro Person soll es geben. Was die Umsetzung betrifft, da verwies Gesundheitsminister Jens Spahn auf die Länder. Diese müssten die Tests bestellen und auch die Infrastruktur schaffen. Die Länder dagegen sehen den Bund in der Verantwortung, der jetzt auch ein neues Angebot gemacht hat. Trotzdem fehlen die Tests vielfach noch, viele Fragen sind noch offen. Gestern war offizieller Start der Schnelltest-Aktion. Schnelltests, Selbsttests & Co. - wie man sich auf Corona testen kannWelche Tests sind derzeit auf dem Markt, was kosten sie und wo kann man sich testen lassen? Was hat es mit den Selbsttests für zu Hause auf sich? Ein Überblick. Anke Richter-Scheer, Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe, Vorstandsmitglied beim Bundeshausärzteverband und gleichzeitig auch noch die Leiterin des Impfzentrums im Kreis Minden-Lübbecke sagte, es sei einr ruhiger Tag gewesen. Sie begrüßt im Deutschlandfunk, dass die Arztpraxen bei der Schnelltastaktion miteinbezogen werden. Sie regte aber auch an, Apotheker für die Durchführung von Schnelltests zu qualifizieren. Hausärzte und der öffentliche Gesundheitsdienst könnten das alleine nicht bewerkstelligen. Ab April soll zudem auch in hausärztlichen Praxen gegen das Coronavirus geimpft werden. Auch das begrüßte sie, denn die Hausärzte seien die ersten Ansprechpartner für die Patienten. Corona-Impfstoffe in der ÜbersichtWie wirken die bisher von der EMA zugelassenen Impfstoffe wie Biontech/Pfizer oder AstraZeneca? Was ist über Nebenwirkungen bekannt und welche Impfstoff-Kandidaten gibt es außerdem noch – wir geben einen Überblick. Das Interview im Wortlaut Sandra Schulz: Wie war das bei Ihnen? Rennen die Menschen Ihnen die Praxis ein? Anke Richter-Scheer: Aktuell noch nicht. Wir haben gestern einen sehr ruhigen Tag gehabt. Ich habe auch von Kollegen nichts anderes gehört. Es läuft ja jetzt auch erst an. Von daher gesehen: Jetzt im Moment nein, die Patienten rennen noch nicht die Praxis ein. Wir sind ja im Vorfeld auch schon so vorgegangen, dass wir immer wieder Kontaktpersonen getestet haben. Viele Praxen sind das Testen auf Corona natürlich gewöhnt. Angebot von Terminsprechstunden für die Testung Schulz: Wie wollen Sie das denn machen, wenn die Menschen kommen? Das dauert dann eine Viertelstunde. Es gibt auch Wartezeit. Lässt sich das in Ihrer Praxis organisieren? Richter-Scheer: Das lässt sich organisieren. Auch Hausarztpraxen sind heutzutage bereits so, dass sie nach Termin arbeiten, und ich weiß von vielen Kollegen, so auch ich, dass wir eine Terminsprechstunde ausschließlich für die Testung machen. Da eignet sich zum Beispiel die Mittagspause, wo wir normalerweise Hausbesuche machen, dass man in der Zeit zwei oder drei Stunden zum Testen anbietet. Dann hat man auch die entsprechenden Räumlichkeiten. Und wie gesagt: Der Patient darf ja nicht oder sollte nach Möglichkeit nicht ohne Termin kommen, ich möchte einen Schnelltest haben, sondern auch hier anrufen oder über eine Online-Terminvereinbarung, wie die einzelne Praxis aufgestellt ist, einen Termin vereinbaren und dann in die Praxis regulär kommen. Dann sollte das zu organisieren sein. Natürlich wird es eine Menge werden, ganz klar, aber wir Hausärzte testen ja nicht alleine. In erster Linie sind ja die zuständigen Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die von den betriebenen Testzentren beauftragt worden. Wir haben jetzt im Kreis Minden-Lübbecke ein sehr großes Testzentrum durch diese Stelle. Das heißt, es wird sich hoffentlich auch ein wenig entzerren. Schulz: Sie sagen, in der Zeit, in der man sonst Hausbesuche gemacht hätte. Wann machen Sie die jetzt? Richter-Scheer: Das ist eine Organisationssache. Man kann auch abends noch Hausbesuche machen. Da ist das Testen möglicherweise erschwert beziehungsweise man möchte irgendwann auch die Mitarbeiter nachhause schicken. Die Testungen können die Mitarbeiter durchführen, so dass ich schon hier und da auch einen Hausbesuch machen kann. Ich selber muss den Test ja nicht durchführen. Das ist eine Tätigkeit, die ich an meine Mitarbeiter delegieren kann. Schulz: Und dass Sie keine Mittagspause machen, ist eingepreist, ist normal? Richter-Scheer: Ich will nicht sagen normal. In letzter Zeit ist es weniger vorgekommen. Meine Mitarbeiter haben natürlich ihre Auszeiten. Die können sich auch aufteilen. Ich habe ja nicht nur einen; ich habe ja mehrere Mitarbeiter, und so sieht es in den meisten Praxen aus. Genug Schnelltests vorhanden - noch Schulz: Haben Sie denn genug Schnelltests? Richter-Scheer: Im Moment noch. Da warte ich ab. Ich will nicht spekulieren. Im Moment habe ich noch genug Schnelltests. Auch da habe ich jetzt in meiner Umgebung noch nicht gehört, dass es ein Problem gab. Das muss man abwarten. Wenn es in der Menge angenommen wird, wie prophezeit, dann wird es wahrscheinlich irgendwann zu einem Engpass kommen werden, und dann muss man einfach weitersehen. Schulz: Ergibt es aus Ihrer Sicht denn überhaupt Sinn, dass sich 80 Millionen Menschen einmal in der Woche testen lassen können mit diesem Schnelltest? Wir wissen ja auch, dass die positiv falschen Ergebnisse relativ hoch sind. Richter-Scheer: Das ist genau das Problem. Dazu will ich mich, ehrlich gesagt, gar nicht äußern. Schnellteste sind wichtig in gewissen, sage ich mal, Berufsgruppen, auch in gewissen Aufenthalten, wo sich Menschen aufhalten. Lassen Sie nur mal von zehn Leuten, die ich teste, eine, die zum Beispiel in einem Lebensmittelladen arbeitet, positiv sein, die sich dann hinterher im PCR-Test testet und bestätigt. Dann ist das schon insofern ein Erfolg, denn die hätte weitergearbeitet ohne Symptome und hätte möglicherweise trotz Maske, trotz Einhaltung der Hygiene weitere Menschen wieder angesteckt. Wir müssen – das ist das gemeinsame Ziel – die Inzidenz herunterbekommen beziehungsweise auch die Pandemie eindämmen, und das geht nur – auch davon bin ich überzeugt -, indem man vermehrt testet und auch natürlich jetzt stark durchimpft. Apotheker zur Durchführung von Schnelltests qualifizieren Schulz: Sie haben gerade geschildert, dass Sie jetzt konkret in Ihrer Praxis im Moment keine Engpässe haben. Es wird aber aus dem ganzen Land von genau diesen Leerstellen berichtet. Was ist Ihr Blick? Haben Sie schon eine Vorstellung davon, wie das nun wirklich laufen soll in der Logistik, wenn 80 Millionen Menschen einmal in der Woche getestet werden? Richter-Scheer: Auf meine Praxis bezogen habe ich eine Vorstellung. Ich gehe davon aus, dass die Kollegen das in den Hausarztpraxen auch ähnlich machen. Alles andere ist Sache des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Kreise. Es wird natürlich auch darüber nachgedacht, Apotheker zu qualifizieren, dass auch die diese Tests durchführen. Man muss sicherlich, wenn diese Menschen alle getestet werden sollen in der Häufigkeit, diejenigen, die testen, ausdehnen. Da brauchen wir Unterstützung. Das ist sicherlich alleine durch Hausärzte und auch durch den öffentlichen Gesundheitsdienst nicht zu bewerkstelligen. Der öffentliche Gesundheitsdienst muss schon Dritte beauftragen, um das überhaupt durchführen zu können. Schulz: Jetzt würde ich mit Ihnen gerne zur anderen Großbaustelle im Moment in Pandemie-Zeiten übergehen, zum Thema der Impfungen. Sie leiten ja, wie ich auch gerade schon gesagt habe, das Impfzentrum im Kreis Minden-Lübbecke. Wie ist die Lage da? Haben Sie genug Impfstoff? Richter-Scheer: Ja, wir haben genug Impfstoff. Wir haben unser Kontingent. Mittels des Kontingents berechnen wir die Personenzahlen, die wir am Tag impfen können. Im Moment, muss ich sagen, sind wir sehr zufrieden. Wir haben hochgefahren wie alle in Westfalen-Lippe und so haben wir jetzt drei anstrengende Tage hinter uns, weil wir fast die doppelte Schlagzahl fahren als letzte Woche. Aber es läuft und wir haben auch genug Impfstoff, um die Menge, die wir einbestellt haben, zu impfen. Corona-Impfstoffe in der ÜbersichtDie EU-Behörde EMA hat bisher drei Corona-Impfstoffe zugelassen – von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca. Wie die Impfstoffe wirken, was über Nebenwirkungen bekannt ist und welche Impfstoff-Kandidaten es noch gibt – ein Überblick. Von AstraZeneca bis Biontech - Seltenen Impfrisiken auf der Spur Weltweit werden Menschen gegen das Coronavirus geimpft. Sind den Zulassungsstudien möglicherweise extrem seltene Nebenwirkungen durchgerutscht? Was tun die Behörden, um sie zu entdecken? "Versuchen den Impfstoff gut zu verimpfen" Schulz: Wen impfen Sie im Moment? Richter-Scheer: Wir impfen die über 80-Jährigen, dann ganz wenige Einzelfallentscheidungen, die wirklich notfallmäßig geimpft werden müssen, zum Beispiel jemand, der dringend auf einer Transplantationsliste steht, oder jemand, der eine schwere Operation dringend vor sich hat, in den nächsten Wochen. Die Menschen sollte man schon nach Möglichkeit vorziehen, soweit es das Kontingent hergibt. Man muss das immer wieder mit gewissen Einschränkungen sagen. Zum anderen ist der AstraZeneca-Impfstoff ebenfalls vorhanden. Den impfen wir in den entsprechenden Berufsgruppen, die vom Erlass vorgegeben sind. Wir fangen heute zum Beispiel mit der Polizei an. Wir haben mittlerweile die Kindergärten, die Erzieher sind da, die Grundschullehrer, und so geht es tagtäglich weiter. Wir versuchen, den Impfstoff gut zu verimpfen, und das gelingt schon. Schulz: Jetzt gab es gestern ja die Entscheidung der Gesundheitsministerinnen und der Gesundheitsminister, die ab April auch die Arztpraxen einbinden wollen in die Impfungen. Finden Sie das gut? Richter-Scheer: Ja, das finde ich sehr gut. Das unterstützen wir auch seitens des Hausärzteverbandes. Wir sind die ersten Ansprechpartner als Hausärzte für unsere Patienten. Wir können die Patienten auch steuern. Es wird ja immer noch im Moment, ich will nicht sagen, spekuliert, aber es heißt ja immer noch, dass wir zu Beginn dieser Aktion auch mit etwas weniger Impfstoff rechnen müssen, also weiterhin nur ein Kontingent haben. Ich denke, auch das ist gut aufgehoben in den Hausarztpraxen, denn wir können schon gucken, ohne dass wir jetzt unsere Patienten priorisieren. Priorisieren hat für mich schon einen Negativ-Touch, aber wir können schon sagen, der Patienten muss diese Woche dran, der nächste Patient kommt übernächste Woche dran. Ich denke, das kann man schon oder das sollte schon in der Hausarztpraxis bleiben in der Entscheidung. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anke Richter-Scheer im Gespräch mit Sandra Schulz
Es sei richtig, die Arztpraxen in die Corona-Impfstrategie mit einzubeziehen, sagte Anke Richter-Scheer vom Bundeshausärzteverband im Dlf. Hausärzte seien die Ansprechpartner für Patienten und könnten die Impfungen gut steuern. Bei den kostenlosen Schnelltest müssten auch die Apotheken einbezogen werden.
"2021-03-09T06:50:00+01:00"
"2021-03-10T13:03:31.073000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-impfungen-in-hausarztpraxen-wir-sind-die-ersten-100.html
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"Die sozialen Medien sind ziemlich asozial"
Der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck (picture alliance / dpa / Federico Gambarini) Jürgen Zurheide: Kurz vor dem vierten Advent möchte man eigentlich innehalten und mit Ruhe auf diese Welt schauen. Allerdings, die Ereignisse sind nicht so, sie sind alles andere als beruhigend – von Aleppo angefangen, worüber wir heute Morgen geredet haben, bis hin zu vielen anderen Dingen, die einen aufregen könnten, die eher mit Hass und mit Auseinandersetzungen zu tun haben, auch vielleicht mit der Frage Religion und Gewalt, gehört da was zusammen oder eben auch nicht. Über all das möchte ich reden mit dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, den ich ganz herzlich am Telefon begrüße. Guten Morgen! Franz-Josef Overbeck: Es sind Bilder, die einem den Atem verschlagen, weil eine Form von menschlicher Not auf uns kommt, die, weil die so menschengemacht ist, mir immer wieder die Sprache verschlagen, von ganz vielen Menschen. Gleichzeitig zeigen sie das Land, das in der Nähe der Geburtsstätte Jesu liegt, ist wirklich ein Land mitten im Krieg das genaue Gegenteil dessen, was wir an Weihnachten feiern. "Religion wird auch benutzt" Zurheide: Wenn man dann weiterfragt, ohne dass ich da jetzt einen direkten Zusammenhang herstellen will, aber das wird ja auch viel diskutiert – Religion und gelegentlich Gewalt, vielleicht nicht unbedingt in Syrien, aber was fällt Ihnen dazu ein, Religion und Gewalt, gibt es da einen direkten Zusammenhang? Overbeck: Es ist ein großes Thema, das viele Menschen sehr beschäftigt in diesen Wochen und Monaten. Ich habe schon öfter dazu auch dann mich entsprechend geäußert, weil Menschen mich danach fragen. Es ist, glaube ich, ziemlich deutlich, dass Religion von der Natur her, die sie hat, und das gilt für jede große Religion, erst mal eine Religion ist, die für den Frieden ist, aber weil sie gleichzeitig die Möglichkeit hat, zu verführen, ideologisch zu werden und sich selbst absolut zu setzen, kann sie Gewalt hervorbringen, und heute muss man natürlich deutlich sagen, Religion wird auch benutzt, benutzt, um deutlich zu machen, wir wollen Macht haben, und dafür kann Religion gut als Begründung dienen, ist aber nicht der eigentlich Ursprung dieser Gewalt, die angewandt wird. Zurheide: Das heißt aber, Religion und Gewalt, das gilt eigentlich wahrscheinlich für jede Religion, hat in ihrer Geschichte, am Ende auch die katholische Kirche, auf die man nicht besonders stolz sein kann. Overbeck: Das ist in der Tat so. Schauen wir auf die 2000 Jahre des Christentums, aber auch die konkrete Geschichte unserer Kirche, gibt es viele Beispiele, die deutlich machen, dass Gewalt angewandt worden ist und religiös begründet unsägliches Unheil über Menschen gebracht hat. "Menschen geben jeder Form von Angst auch Ausdruck" Zurheide: Wie ist das oder wie nehmen Sie das wahr – Gewalt auch in unserer Gesellschaft, die sich möglicherweise nicht immer nur in direkter Gewalt äußert, auch in Gewalt so in zwischenmenschlichen Beziehungen, gerade in diesen Tagen diskutieren wir viel darüber, wie Gewalt über soziale Medien verbal ausgelebt wird oder zunächst verbal ausgelebt wird – was beobachten Sie für Veränderungen in der Gesellschaft? Overbeck: Ich beobachte auch im Blick auf Religion insofern Veränderungen, als dass Menschen viele Ängste haben und dass sie jeder Form von Angst auch Ausdruck geben. Das ist in vielfacher Weise möglich. Wir können es im alltäglichen Leben betrachten, so viel Gutes es gibt, es gibt eben auch all diese Verführungen zu Gewalt, die sich äußert in Formen wie, ich lasse jemanden liegen, ich wünsche jemanden den Tod, der nicht so denkt wie ich, und ich kann selbst auch ein Lied davon singen, die sogenannten sozialen Medien sind an dieser Stelle dann, weil sie so verführbar sind, ziemlich asozial, weil sie Menschen das Lebensrecht absprechen, weil sie eine Form von Sprache benutzen, die mit der Würde des Menschen, weder dessen, der spricht, noch den, um den es geht, entspricht. Zurheide: Sie haben sich ja nun auch mehr als einmal sehr, nicht positiv zu Flüchtlingen ist der falsche Begriff, aber Sie haben sich geäußert und haben darauf hingewiesen, dass wir als Gesellschaft die Pflicht haben, Flüchtlinge aufzunehmen. Was bekommen Sie da für Reaktionen? Overbeck: Im letzten Jahr, vor allen Dingen im Herbst, sind das heftige Reaktionen gewesen. Menschen, die mir nicht nur Missfallen gegenüber kundgetan haben – das gehört selbstverständlich zu einem normalen Diskurs auch in einer offenen, die auch Freiheit für einen der wichtigsten Werte hält, hinzu –, aber es gab auch solche, die mir dann das Lebensrecht abgesprochen haben, die mir deutlich gesagt haben, es sei Aufgabe von mir als Bischof einer christlichen Kirche, dafür zu sorgen, dass unsere Gesellschaft eine Identität fände jenseits dieser Möglichkeiten. Ich halte am meisten davon zu sagen, gerade wo wir zum Beispiel Flüchtlinge aufnehmen, wo wir uns sensibel für die Nöte der Menschen einsetzen, da sind wir erst recht Kirche mitten in unserer Gesellschaft. "Der Staat hat die Aufgabe, das Recht zu schützen" Zurheide: Was kann man dagegen tun oder was muss Gesellschaft dagegen tun? Ist Strafrecht das Richtige, das wird in Berlin im Moment diskutiert. Wie kann man da zu einer neuen Form des Umgangs, der respektvoller ist, kommen? Overbeck: Gibt es viele Perspektiven, die zu bedenken sind. Es ist auf jeden Fall bedeutsam, dass da, wo das Recht gebeugt wird – wir leben in einem Rechtsstaat –, der Staat die Aufgabe hat, das Recht zu schützen und vor allen Dingen auch die Menschen, das ist ein hohes Gut, das das redliche Zusammenleben aller schützt und oft auch erst ermöglicht. Das andere ist, ganz konkret im Alltag nicht zu denen zu gehören, die diesen merkwürdigen Formen von Sprache, von Unfreiheit und von Unkultur des Wortes verfallen, sondern deutlich sagen, wir pflegen eine gute Kultur des Umgangs, eine Kultur der Sprache und wirken auf diese Weise bei zu einem Gemeinwohl, das unbedingt zu schützen ist für alle. Zurheide: Auf der anderen Seite, das fordert natürlich eine gewisse Stärke. Man muss stark sein in solchen Momenten. Wo kann man die Stärke herholen, wenn man sie selbst vielleicht nicht hat? Wo gibt es da Zeichen der Hoffnung? Overbeck: Also ich erlebe zum einen, dass es ganz viele sehr anständige Menschen gibt. Das sind die allermeisten, mit denen ich im Alltag lebe und zu tun habe, sodass ich der Überzeugung bin, der Mensch aus sich heraus hat eine Ahnung für das, was gut ist und was er verwirklichen will, und zum anderen sehe ich, wenn ich an Weihnachten denke, erst recht die Rolle von uns als Kirchen und auch jeder Religion darin, dafür zu sorgen, für das friedliche Zusammenleben alles zu tun, was möglich ist, sei es dadurch, dass wir sprechen, sei es dadurch, dass wir uns vergemeinschaften. "Gott gibt so vielen die Kraft" Zurheide: Das waren jetzt Zeichen der Hoffnung. Ich denke zum Beispiel an Ihre Aktion Adveniat, die ja gerade in diesen Tage noch mal ganz besonders im Blick steht. Da tun Sie etwas für Südamerika. Kann man Menschen, die hier vielleicht auch sich in Not fühlen oder meinen, es ginge uns nicht so gut, wie kann man die überzeugen, für andere was zu tun? Overbeck: Die Aktion Adveniat in diesem Jahr rückt einem Wort, das Papst Franziskus mit seiner ökologischen Enzyklika Laudato si, die ich eher als eine soziale Enzyklika bezeichnen würde, in die Mitte rückt, nämlich dass wir das Haus unseres Lebens, also die Erde, zu schützen hätten, und das ist etwas, wo ich merke, die Menschen reagieren sehr sensibel auf dieses Thema. Viele wissen, wir müssen vieles tun, um die Möglichkeiten des Umweltschutzes zu steigern, sensibel mit dem umzugehen, was wir haben, wo wir das öffentlich machen, und jetzt als Adveniat-Werk tun wir das im Blick auf Lateinamerika und die Karibik, gibt es viel Resonanz, und was wir gerade seelsorglich deswegen auf den Weg bringen, wo wir Menschen schützen und stützen, die sich dafür einsetzen, wo wir was für Bildung tun, da ist ein erster, sehr konkreter, aber doch sehr praktischer Schritt getan. Ich halte auch ganz viel davon, Menschen zu unterstützen, die beten. Auch das gehört dazu. Gott gibt so vielen die Kraft. Zurheide: Das heißt, Kirche, auch katholische Kirche, kommt mehr auf die normalen Sorgen und Nöte der Menschen – ist das vielleicht auch die Hinwendung, die dieser Papst, der heute ja Geburtstag hat, uns mit auf den Weg gibt? Overbeck: Das ist in der Tat eines der großen Anliegen von Papst Franziskus, – allen Segen ihm heute zu seinem 80. Geburtstag –, das deutlich macht, wir sind als Kirche nur da glaubwürdig, wo wir mitten bei den Menschen mit der Botschaft des Lebens, mit der Botschaft Gottes, mit dem Evangelium ankommen, und mit der Aktion Adveniat tun wir das und mit ganz vielen anderen alltäglichen Unternehmungen unserer Kirche natürlich auch. Zurheide: Das war der Essener Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck. Herzlichen Dank für das Gespräch! Wir haben es kurz vor der Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Franz-Josef Overbeck im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck blickt mit Sorge auf Veränderungen in der Gesellschaft. Es gebe immer mehr Verführungen zu Gewalt - vor allem in den Sozialen Netzwerken. Dort würde eine Form der Sprache benutzt, die vielfach nicht mehr der Würde des Menschen entspreche, sagte Overbeck im DLF.
"2016-12-17T06:50:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:00.384000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/religion-und-gewalt-die-sozialen-medien-sind-ziemlich-100.html
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Die Schweiz schottet sich ab
Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) setzt sich mit ihrer Initiative durch (dpa/picture alliance/Marcel Bieri) Mit einer hauchdünnen Mehrheit haben die Schweizer Wähler die Beschränkung der Einwanderung beschlossen. In einer Volksabstimmung sprachen sich 50,3 Prozent der Eidgenossen für die von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) auf den Weg gebrachte Initiative "Gegen Masseneinwanderung" aus, wie das Schweizer Fernsehen auf der Basis der vorläufigen Ergebnisse aus den Kantonen meldete. "Die Ja- und Neinstimmen liegen im Promille-Bereich auseinander", sagte Claude Longchamps, der Chef des Instituts gfs.bern, das im Auftrag des Schweizer Fernsehens "SRF 1" die Hochrechnungen vornimmt. So knappe Ergebnisse kämen alle zehn Jahre vor. Die Initiative verlangt die Wiedereinführung von Kontingenten und Obergrenzen für Zuwanderer aus dem EU-Raum. Die SVP macht Einwanderer für vielerlei Missstände in der Schweiz verantwortlich, darunter steigende Mieten und überfüllte Züge, aber auch Kriminalität. Die Migranten belasteten die Sozialsystem und erhielten überdurchschnittlich oft staatliche Hilfszahlungen, protestiert die Partei. Gut ausgebildete Einwanderer wie die Deutschen verdrängten die Einheimischen von den Arbeitsplätzen. SVP-Chef Toni Brunner sprach nach der Abstimmung von einer Wende in der Schweizer Einwanderungspolitik. Die Regierung in Bern wertete das Abstimmungsergebnis in einer Erklärung als "Systemwechsel in der Zuwanderungspolitik der Schweiz". Die neuen Verfassungsbestimmungen verlangten nun, dass die Zuwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente begrenzt werde. Der Bundesrat werde dem Parlament "so rasch als möglich" einen Vorschlag für die Umsetzung der Bestimmungen unterbreiten. Regierung war gegen Initiative So hatte die SVP ihr Anliegen beworben (dpa / picture-alliance / Thomas Burmeister) Seit dem Inkrafttreten der Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union 2002 haben sich jährlich 80.000 EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen - zehn Mal so viel wie die Regierung in Bern prognostiziert hatte. Die Schweiz ist nicht EU-Mitglied, wickelt aber den größten Teil ihres Handels mit EU-Staaten ab. Nach Angaben des Schweizer Bundesamtes für Statistik hatten im Jahr 2012 rund 35 Prozent der Bürger ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Inzwischen leben etwa 300.000 Deutsche in der Eidgenossenschaft, die insgesamt knapp acht Millionen Einwohner zählt. Die Deutschen arbeiten als Ärzte, Wissenschaftler, Manager, in der Hotellerie und Gastronomie. Die Regierung in Bern hatte auf ein Scheitern der Volksabstimmung gehofft. Die Schweiz sei auf den Zuzug gut qualifizierter Ausländer angewiesen, betonten Regierungsvertreter im Vorfeld. Zudem befürchtet das Kabinett in Bern, dass das Ja zu dem SVP-Plan das Verhältnis zur EU stark belasten könnte. Brüssel werde sich nicht auf Neuverhandlungen des Abkommens zur Personenfreizügigkeit einlassen. Falls die Schweiz das Abkommen einseitig kündigen sollte, würde die EU alle anderen Abkommen mit den Eidgenossen auf Eis legen. Keine Neuregelung Abtreibungskosten In einer anderen Volksabstimmung lehnten laut gfs rund 70 Prozent der Abstimmenden eine Neuregelung der Kosten für Abtreibungen ab. Laut dem Vorstoß religiös-konservativer Kreise sollten die Krankenversicherungen generell nicht mehr für Schwangerschaftsabbrüche aufkommen. Die Regierung und alle großen Parteien waren gegen den Plan. Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK lehnte die Initiative ab. Die katholische Bischofskonferenz hatte keine Empfehlung für die Abstimmung gegeben.
null
Es war die knappste Volksentscheidung seit langem, die Ja- und Neinstimmen lagen im Promille-Bereich auseinander. Am Ende setzten sich die Schweizer durch, die eine Zuwanderung in die Schweiz begrenzen wollen. Das Verhältnis zur EU könnte darunter leiden.
"2014-02-09T16:50:00+01:00"
"2020-01-31T13:25:28.995000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/volksabstimmung-die-schweiz-schottet-sich-ab-100.html
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Kampf um die Kinder der Republik
Ein Priester und ein Mann mit Kind auf dem Arm demonstrieren im Januar in Paris gegen Abtreibungen (AFP / Eric FEFERBERG) "Ich bin einmalig. Und unersetzlich." - "Kein Gesetz konnte unterbinden, dass ich geboren wurde." - "Niemand könnte an meiner Stelle leben." Stimmen von 'Survivants', 'Überlebenden'. So nennen sich die Mitglieder einer Bewegung, die vor zwei Jahren entstand. In Videoclips im Internet werben sie für ihr Anliegen: sie wollen das Gesetz kippen, das in Frankreich seit 42 Jahren den Schwangerschaftsabbruch freigibt. "Wir sind die Generation, die die Dinge ändern wird." Chef der Bewegung ist Emile Duport. Dem heute 36-Jährigen widmete die katholische Tageszeitung La Croix vor einigen Jahren ein Kurzporträt. Als einem von zehn jungen Leuten, die die Kirche in Frankreich auf Trab brächten. Da hatte sich Duport schon einen Namen gemacht. Er möchte, wie viele Gleichgesinnte, nicht Abtreibungsgegner genannt werden, sondern Lebensschützer. Nun postet er 'Survivants'-Clips. Emile Duport: "Wissen Sie, in Frankreich stürzen die Abtreibungen viele Leute ins Leid. Die Frauen, aber auch die Männer, Familien, die gesamte Gesellschaft. Frankreich zählt jährlich 800.000 Geburten und 200.000 Abbrüche. Wenn Sie nach 1975 geboren worden sind, stand ihre Chance eins zu fünf, nicht auf die Welt zu kommen. Mancher unter uns hat Bruder oder Schwester, die abgetrieben wurden und uns nun fehlen. Und uns treibt alle derselbe Gedanke um: warum traf es den oder die und nicht mich? Es ist an der Zeit, dass die junge Generation sich erhebt und eine Alternative zum Schwangerschaftssabbruch einfordert." Losgelöst von religiösen Motiven Auf Agitprop-Aktionen setzt Survivants-Chef Emile Duport, auf Flashmobs. Neulich warb der Abtreibungsgegner in Lyon für seine Bewegung, vor Studenten, jungen Erwachsenen aus gutbürgerlichen und sehr katholischen Kreisen. Das bot der jungen Reporterin Marion Guégan Gelegenheit, für ihre TV-Dokumentation in das Milieu einzutauchen. Sie sagt: "Anders als Abtreibungsgegner früher beziehen sich die Mitglieder der Survivants-Bewegung in ihrer Argumentation nicht auf die Religion. Dabei sind die meisten dieser Aktivisten praktizierende Katholiken." Jahrzehntelang waren bei Protestaktionen gegen Schwangerschaftssabbruch Gebete und Kirchenlieder angestimmt worden. Zu Beginn der 1990er Jahre ketteten sich die Lebensschützer im Operationssaal an, entsterilisierten OP-Besteck, um Abtreibungen zu vereiteln. Bis ein neues Gesetz den Krankenhäusern mehr Handhabe gegen solche Störmanöver gab, sagt Danielle Gaudry. Die Expertin gehört zum "Mouvement français du Planning familial", Vorbild der deutschen ProFamilia-Bewegung: "Das Gesetz ermöglicht es, die Eindringlinge zu verklagen. Und die Abtreibungsgegner haben einfach jeden Prozess verloren, selbst in der letzten Instanz." "Blechen für das unverantwortliche Handeln mancher Frau" Mittlerweile knieen die Abtreibungsgegner nicht mehr betend vor den Familienplanungs-Anlaufstellen, sagt Danielle Gaudry. "Nun sind die Aktivitäten ins Internet verlegt. Da wurden Webplattformen mit Telefon-Hotline eingerichtet, die Frauen, die ungewollt schwanger wurden, angeblich objektive Information und Beratung bieten. Vielfach redet man den Frauen da massive Schuldgefühle ein und sie erhalten wissenschaftlich falsche Angaben." Dagegen hat die Regierung vor kurzem ein neues Gesetz durchgebracht. Frauen, die sich von angeblich unabhängigen Beratern hintergangen fühlen, können klagen, verspricht Frauenrechtsministerin Laurence Rossignol. "Jeder darf publik machen, gegen Schwangerschaftsabbruch zu sein. Das gehört zur Meinungsfreiheit. Doch dies beinhaltet nicht das Recht, Lügen zu verbreiten. Genau darum aber handelt es sich bei manchem vorgeblich objektiven Beratungsdienst im Internet." Zur großen Mehrheit stand und steht die französische Gesellschaft zum gesetzlich verbrieften Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Heute jedoch ergreifen die Gegner immer unverhohlener das Wort. Wie Marion Maréchal Le Pen. Sie ist die Nichte der Parteichefin des Front National, Marine Le Pen und selbst Abgeordnete der rechtsextremen Partei. In einem Interview erklärte Marion Maréchal Le Pen vor kurzem, manche Frau würde aus reiner Bequemlichkeit abtreiben. Sie fordert, die staatliche Krankenversicherung solle nicht mehr in jedem Fall alle Kosten für einen Abbruch übernehmen. Maréchal Le Pen: "Heutzutage hat jede Frau Zugang zu verlässlichen Verhütungsmitteln, selbst Minderjährige ohne Erlaubnis ihrer Eltern. Da muss man sich fragen, warum die Zahl der Abtreibungen nicht sinkt. Ich bin dafür, dass der französische Steuerzahler nicht systematisch für das unverantwortliche Handeln mancher Frau blechen soll." "Rückbesinnung auf die traditionelle Familie" Mit Sorge beobachten Feministinnen wie Danielle Gaudry vom Familienberatungsverband, dass eine reaktionäre Bewegung im Land erstarkt. Danielle Gaudry: "Sie setzt sich ein für die Rückbesinnung auf die traditionelle Familie, dafür, dass Mann und Frau in ihren sozialen Rollen komplementär seien, sie glorifiziert die Mutterschaft und kinderreiche Familien, sie ist gegen Homo-Elternschaft. All das hat die Bewegung Manif pour tous bekannt gemacht, die Anti-Abtreibungsbewegung schreibt sich ein in ein voll traditionalistisches Gesellschaftsprojekt." Im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs verspricht Marine Le Pen, genau wie auch François Fillon, glückloser Kandidat der bürgerlichen Rechten, das neue Gesetz gegen die Aktionen von Abtreibungsgegnern im Internet zu kippen. Mehr noch fordert das sogenannte Institut Civitas, der politische Arm der französischen Piusbruderschaft, der traditionalistische Katholiken angehören. Civitas-Chef Alain Escada hat auf seiner Wunschliste an die Präsidentschaftskandidaten als dritte Massnahme notiert: "Die Abschaffung des Gesetzes, das den Schwangerschaftsabbruch frei gibt." Das liegt auch der Action Française am Herzen. Ihre Anhänger stammen aus dem royalistischen und streng katholischen Umfeld. Eine rechtsextreme Splittergruppe, die unter Jugendlichen vehement Zulauf findet. Mitstreiter der Action Française hat Marion Guégan zufällig ausfindig gemacht, als sie das Treffen der Anti-Abtreibungsaktivisten Survivants filmte. Die junge Reporterin resümiert: "Selbst unter den Abtreibungsgegnern ist die Survivants-Bewegung eine absolute Minderheit. In Paris zählt sie an die 20 Mitglieder, in ganz Frankreich vielleicht 50. Aber sie macht sehr viel Krach." Und sie entwickelt sich zur Speerspitze. Les Survivants hat die diesjährige Ausgabe des 'Marschs für das Leben' organisiert, Ende Januar in Paris. Am Ende der Kundgebung der Abtreibungsgegner zeigte sich Survivants-Chef Emile Duport euphorisch: "45.000 Teilnehmer - noch nie kamen so viele Leute beim Marsch für das Leben zusammen! Das zeigt uns: wir haben Recht und wir stehen nicht allein dar. Das regt uns an, täglich mit unseren Mitteln für unser Anliegen zu kämpfen." Und auch vom künftigen Staatsoberhaupt zu fordern, Abtreibungen in Frankreich zu verbieten.
Von Suzanne Krause
Abtreibungen sind in Frankreich seit den Siebzigerjahren erlaubt. Das Gesetz hatte schon immer Gegner, in den vergangenen Jahren aber ist daraus ist eine lautstarke Bewegung geworden - darunter junge Leute, die sich "Überlebende" nennen. Der Front National hat das Thema für den Wahlkampf entdeckt.
"2017-05-04T09:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:49.676000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abtreibung-als-wahlkampf-thema-in-frankreich-kampf-um-die-100.html
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Wahl gefährdet - Koalition zerstritten
Berlins Innensenator Frank Henkel muss Kritik einstecken: SPD-Fraktionschef Raed Saleh warf ihm vor, überfordert zu sein und die Probleme auszusitzen. (dpa / Soeren Stache) Nein, freundlich klingt dieser Brief der Berliner Landeswahlleiterin nicht. Von eindringlichen, zwingend erforderlichen Maßnahmen ist da die Rede, der Zeitplan sei zu eng und für eine Fehlerbehebung sei es bald zu spät. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland scheint eine Landtagswahl akut gefährdet. Zitat: "Mir haben die Amtsleitungen der Bürgerdienste mitgeteilt, dass entgegen der Einschätzung des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten die Wahlsoftware noch so gravierende Probleme und Mängel aufweise, dass dadurch die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen gefährdet sei." SPD greift CDU direkt an Die Probleme mit der Wahlsoftware sind nicht neu. Eine moderne Software trifft auf veraltete Hardware, heißt es dazu in der zuständigen Senatsinnenverwaltung. Die Ausstellung der Wahlscheine dauert zu lange, bei einem Test stellte sich heraus, dass auf Wahlscheinen falsche Wahllokale angegeben waren, und - ein gravierendes Problem - die Wählerverzeichnisse können nicht korrekt und schnell genug ausgedruckt werden. "Das ist jetzt schon fast der Gipfel einer Verwaltungsproblematik, die wir hier erleben dürfen, dass ein Senat jetzt schon nicht mehr abgewählt werden kann und die eigene Unfähigkeit dafür der Grund ist," bemerkt bitter-sarkastisch die Spitzenkandidatin der Grünen für die Abgeordnetenhauswahl, Ramona Pop. Der zuständige Innensenator Frank Henkel, CDU, müsse sofort und unmissverständlich eine Garantie für die Wahlen am 18. September abgeben. Doch Henkel - Spitzenkandidat der Christdemokraten - schickte zunächst seinen Staatssekretär vor. Bernd Krömer sagte im RBB: "Also ich sehe das Schreiben der Landeswahlleiterin in erster Linie als Appell, hier noch einmal nachzubessern und vor allem die Dinge auch noch ein bisschen zu beschleunigen." Der Brandbrief der Landeswahlleiterin hat zu einem handfesten Krach in der rot-schwarzen Koalition in der Hauptstadt geführt. Der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus Raed Saleh griff den Koalitionspartner CDU frontal an - der Innensenator sei überfordert und sitze die Probleme aus. Die Sozialdemokraten befürchten nicht zu Unrecht, für die Versäumnisse der christdemokratisch geführten Innenverwaltung in Haftung genommen zu werden. Hatte doch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller bei seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren das Motto "Gutes Regieren" ausgegeben: "Handeln ist hier gefragt. Jeden Tag müssen wir unter Beweis stellen, das wir's können und dass wir das Zusammenleben in dieser Stadt jeden Tag ein bisschen besser machen wollen. Dieses 'Gute Regieren' ist für mich tatsächlich jetzt die wichtigste Aufgabe." CDU warnt vor Wahlkampfgetöse Dann kam das gravierende Versagen beim Flüchtlingsmanagement - Stichwort Lageso -, anhaltende Probleme beim Hauptstadtflughafen BER und den Bürgerämtern, aufgebrachte Eltern, die schon seit Langem sanierte Schulen für ihre Kinder fordern und zu allem Überfluss jetzt die offenbar gefährdete Landtagswahl. Von "Gutem Regieren" spricht SPD-Spitzenkandidat Michael Müller schon lange nicht mehr. Oppositionschefin Ramona Pop: "An allen Stellen ist die Berliner Verwaltung inzwischen in einem Zustand, dass jetzt tatsächlich sogar die Wahl gefährdet ist. Und das ist die größte Hinterlassenschaft für die nächste Regierung tatsächlich, die die Große Koalition nicht angepackt hat, die Verwaltung des Landes Berlin so aufzustellen, das sie für die Bürgerinnen und Bürger da ist und ihre Dienstleistungen vernünftig wahrnimmt. Das ist in den letzten Jahren verschlafen und verschleppt worden und das wird der nächsten Regierung als Problem vor die Füße gekippt." Die CDU - sie stellt den zuständigen Innensenator - warnt unterdessen ihren Koalitionspartner SPD vor Panikmache und Wahlkampfgetöse. Die Innenverwaltung nimmt den Brandbrief der Landeswahlleiterin allerdings sehr ernst - am Dienstag kommt es zu einem Krisentreffen.
Von Claudia van Laak
Nur wenige Monate vor den Landtagswahlen kracht es in der Berliner Landesregierung: Nach Angaben der Landeswahlleiterin ist die Durchführung der Abstimmung wegen Software-Problemen gefährdet. Die SPD fürchtet nun, für Versäumnisse ihres Koalitionspartners CDU in Mithaftung genommen zu werden.
"2016-06-13T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:52.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berlin-wahl-gefaehrdet-koalition-zerstritten-100.html
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Autovermietungen bekommen digitale Konkurrenz
Die Anmietung über die neuen Carsharing-Plattformen ist oft billiger als bei herkömmlichen Anbietern. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene) Paul hat gleich zwei Teslas. 3.700 Dollar zahlt er pro Monat dafür an die Bank. Einen Großteil der Kreditrate holt Paul nach eigenen Angaben wieder raus. Und zwar, indem er die beiden Autos für zehn Tage im Monat über eine Carsharing-Plattform vermietet. Turo und Getaround heißen zwei Unternehmen, die vor allem den traditionellen Autovermietern wie Hertz oder Avis in den USA richtig Kopfschmerzen machen. Ähnlich wie Airbnb für Wohnungen oder Zimmer reicht dazu eine App auf dem Smartphone, sagt Turo-Kommunikationschef Steve Webb: "Das Auto ist automatisch versichert, in den USA ist das Liberty Mutual, in Deutschland ist das die Allianz." Sechs neue Fotos vor jeder Vermietung Turo schlägt dem Privatvermieter vor, wie viel er pro Tag für sein Auto verlangen könnte. Der entscheidet aber selbst über den Preis und wie viele Kilometer ein Mieter mit dem Auto insgesamt fahren darf. Damit alles fair und gerecht zugeht, muss der Vermieter vor jeder neuen Transaktion mindestens sechs Fotos von seinem Auto hochladen. "Das geht über die App. Man muss den Zustand des Fahrzeugs dokumentieren, den Kilometerstand sowie den Füllstand des Tanks." Seit Anfang des Jahres gibt es Turo auch in Deutschland. Die Stuttgarter Daimler AG ist einer der größten Investoren des kalifornischen Start-Ups. Dem Daimler-Konzern gehört schon der Kurzzeit-Vermieter Car2go. Der ist vor allem in Ballungsräumen präsent. Der Autobauer will mit seinem Einstieg bei Turo neue Käufer gewinnen. Die Idee: Wer sich früher keine C-Klasse leisten konnte, kann es vielleicht doch, wenn er das Auto für ein paar Tage im Monat "untervermietet", sagt Webb. "Wenn sie ihren Mercedes dreimal im Monat teilen, kostet er sie so viel wie ein Prius. Wer will nicht ein Luxus-Auto besitzen? Genau das wollen wir leichter machen." Knackpunkt Flughafen Turo wächst: Es hat 200.000 Mitglieder und die bieten zusammen um die 300.000 Fahrzeuge auf der Plattform an. Vom Oldtimer über den Elektroflitzer bis zur italienischen Nobelkarosse. Bei Avis oder Hertz sind diese Autos kaum zu finden. Steve Webb von Turo in San Francisco sagt, die Preise lägen im Schnitt um die 35 Prozent unter denen der klassischen Autovermieter. "Sie wollen zum Beispiel übers Wochenende an den Lake Tahoe fahren. Wäre es da nicht angenehm, wenn man ihnen ihr Mietauto direkt vor der Türe abstellt? Das ist einfach sehr bequem. Oder man macht die App auf und sieht zum Beispiel, dass auf derselben Straße jemand seinen Audi mit Lederausstattung vermietet." Turo und Konkurrent Getaround punkten in Sachen "Bequemlichkeit". Es gibt keinen Papierkram. Das passiert in der App. Nur wer am Flughafen ankommt und ein Mietauto braucht, der dürfte es schwerer haben. Turo experimentiert deshalb an den Flughäfen von Los Angeles und San Francisco mit einem zentralen Parkplatz. "Unser Personal kümmert sich dann gegen Gebühr um die Übergabe des Autos. Wir wollen das auch in anderen Städten anbieten. Welche das sind, steht noch nicht fest." Paul, der seine beiden Teslas über die Car Sharing Plattform vermietet, rät: Wer besonders exotische Autos anmieten will, der soll das mindestens zwei Wochen im Voraus tun.
Von Marcus Schuler
Ähnlich wie Airbnb für Wohnungen drängen Online-Plattformen für Autos auf den Markt, bei denen Privatpersonen ihre Fahrzeuge vermieten können. Unterstützung bekommen die Anbieter von Teilen der Autoindustrie. Das Kalkül: Wer mit der Vermietung seines Autos Geld verdient, leistet sich vielleicht eher ein teureres Modell.
"2018-04-13T11:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:37.464000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/carsharing-autovermietungen-bekommen-digitale-konkurrenz-100.html
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Die schleichende Gefahr für den Mann
Ein Ultraschallbild eines Prostata-Tumors (imago/Science Photo Library) Über dieses Thema sprechen wir in dieser Sendung. Sie können sich beteiligen: Hörertelefon: 00800 - 4464 4464 und E-Mail: sprechstunde@deutschlandfunk.de Unser Studiogast: Prof. Dr. med. Markus Graefen, Ärztlicher Leiter der Martini-Klinik am Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf
Moderation: Carsten Schroeder
Die häufigste Krebserkrankung bei Männern ist Prostatakrebs. Es ist ein bösartiger Tumor in der Vorsteherdrüse, der Prostata des Mannes. Regelmäßige Untersuchungen zur Früherkennung können den Krebs bereits im Anfangsstadium erkennen. Denn zu Beginn gibt es keine Beschwerden. Und eine Operation ist dann auch erfolgsversprechend.
"2015-07-28T10:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:49:54.923000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/prostatakrebs-die-schleichende-gefahr-fuer-den-mann-100.html
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Merkel: EU soll Russland-Sanktionen verlängern
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen. (AFP / Wojtek Radwanski) Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Warschau, die Strafmaßnahmen gegen Russland sollten an die Umsetzung des Friedensabkommens von Minsk gekoppelt bleiben. Über Fortschritte in der Frage werde die EU bald beraten. Es sei vollkommen klar, dass die Erfüllung "länger dauert als August, September. Das heißt, wir werden uns im Juni dieser Frage widmen." Sie gehe davon aus, dass die EU auf Basis der Vereinbarung vom März eine Verlängerung der Sanktionen beschließen werde, sagte Merkel. Die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sagte zudem, die Sanktionen gegen Russland könnten sogar noch verschärft werden. Sie begründete es damit, dass die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) immer noch keinen Zugang zu den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten hätten. EU mahnt Reformen an In Kiew trafen sich unterdessen Vertreter der EU und der ukrainischen Regierung zu Gesprächen. EU-Ratspräsident Donald Tusk mahnte dabei dringend benötigte Reformen an. Die Ukraine könne auf ihre Freunde zählen, doch das sei nicht genug. Tusk kündigte zudem eine EU-Mission an, die ermitteln soll, welche Hilfe die Ukraine benötigt. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagte in Kiew, die Reformen würden schmerzhaft, aber sie seien notwendig. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko forderte eine klare EU-Beitrittsperspektive für sein Land. In fünf Jahren sollten die Bedingungen für einen Antrag erfüllt sein, sagte er. Die Gespräche werden überschattet von wiederholten Verstößen gegen die Feuerpause im Kriegsgebiet in der Ostukraine. (hba/swe)
null
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Ukraine-Konflikt dafür plädiert, die Sanktionen gegen Russland aufrecht zu erhalten. Kiew muss nach dem Willen der EU aber dringend Reformen angehen. Die Ukraine fordert unterdessen eine klare Beitrittsperspektive.
"2015-04-27T16:08:00+02:00"
"2020-01-30T12:33:59.664000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-merkel-eu-soll-russland-sanktionen-100.html
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Islamisten in Pakistan legen den Staat lahm
In Pakistan haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Demonstranten zu einer Staatskrise geführt (AFP / Aamir Qureshi) Die muslimischen Hardliner hatten unter anderem eine der wichtigsten Zufahrtsstraßen in der Hauptstadt Islamabad blockiert. Bei den Ausschreitungen gab es Tote und Verletzte. Die Regierung war zwar zur ursprünglichen Textfassung des Eides zurückgekehrt, doch das reichte den Demonstranten nicht. Sie erzwangen den Rücktritt des Justizministers. "Der Fall zeigt, wie mächtig muslimische Extremisten in Pakistan sind", sagte Silke Diettrich. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte die Südasien-Korrespondentin, welche Rolle die Blasphemie-Gesetze in Pakistan spielen und warum die die verfassungsmäßige Religionsfreiheit in Pakistan nur auf dem Papier steht. Den vollständigen Beitrag können Sie im Rahmen unseres Audio-on-demand-Angebotes sechs Monate nachhören.
Silke Diettrich im Gespräch mit Monika Dittrich
In Pakistan feiern Islamisten einen Sieg über die Regierung. Der Justizminister ist zurückgetreten, weil eine Eidesformel für Parlamentarier umformuliert werden sollte. Islamisten sahen darin eine Gotteslästerung. "Der Staat ist in die Knie gegangen", sagte ARD-Korrespondentin Silke Diettrich im Dlf.
"2017-11-28T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:37.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gotteslaesterung-islamisten-in-pakistan-legen-den-staat-lahm-100.html
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Die Folgen des deutschen Atomausstiegs
Luftaufnahme des RWE-Atomkraftwerks Biblis bei Biblis am Rhein (dpa / picture-alliance / Thomas Muncke) Keine drei Tage nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel eine weitreichende Entscheidung: ein Moratorium für die erst wenige Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke. "Die Bilder, die uns seit Freitag erreichen machen, eine geradezu apokalyptisches Ausmaß deutlich und sie lassen uns verstummen. Denn die Ereignisse in Japan, sie lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden könnte." Aus dem Moratorium wird kurz darauf ein Atomausstieg. Dieser sieht vor, die deutschen Kernkraftwerke im Rahmen der kommerziellen Versorgung schrittweise vom Netz zu nehmen - im Jahr 2022 soll der letzte Meiler abgeschaltet sein. Stromversorgung ist sicher geblieben Fünf Jahre nach Fukushima ist die Bilanz in Deutschland gemischt: Stromausfälle sind ausgeblieben, die Versorgung gilt als sicher. Dazu steuern auch die Erneuerbaren Energien einen wichtigen Beitrag bei, deren Anteil an der Stromversorgung gewachsen ist: Lag er 2010 noch bei 17 Prozent, ist er 2015 auf 30 Prozent geklettert. Probleme gibt es allerdings beim Ausbau der Stromtrassen, gestritten wird vor allem über die Leitungsnetze. Für die Verbraucher ist der Strom deutlich teurer geworden. Doch die womöglich größten Folgen des Atomausstiegs sind sehr langfristig - und sehr teuer. Es geht um die Frage, wer für die Stilllegung der Reaktoren und die Entsorgung des Atommülls zahlt. Das soll zurzeit die Atomkommission unter dem Vorsitz des ehemaligen grünen Umweltministers Jürgen Trittin klären. Für die großen deutschen Energieversorger ist der Atomausstieg ein großer Einschnitt, betont Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die Konzerne hätten "sehr, sehr lange Jahrzehnte Atomkraftwerke betrieben, hohe Gewinne wurden da gemacht für die Konzerne. Aber die Rückstellungen sind in den Bilanzen der Konzerne. Und jetzt tut sich eben die Gefahr auf, dass die Konzerne, weil sie wirtschaftlich angeschlagen sind, vielleicht nicht mehr in der Lage sein können, die gesamten Kosten zu tragen, die sie eigentlich bilanziert haben." Klage der Energieversorger Parallel zum Finanzierungsstreit gibt es einen Rechtsstreit. Eon, RWE und Vattenfall haben gegen das deutsche Atomausstiegsgesetz Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht. Diese soll kommende Woche in Karlsruhe verhandelt werden. Die Konzerne hoffen auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe. Doch möglicherweise könnten die Klagen auch bald Makulatur sein - nämlich dann, wenn sich die Konzerne mit der Bundesregierung einigen. Diese lockt damit, den Energieversorgern das Risiko bei der Endlagerung des Atommülls abzunehmen. Seit zwei Jahren ist die sogenannte Endlagerkommission mit geologischen und sicherheitstechnischen Kriterien beschäftigt, die dann bei der Endlagersuche Vorgabe werden sollen. Die Kriterien sollen gleichzeitig auch der Öffentlichkeit im Rahmen eines Bürgerdialogs vorgestellt werden, sagte diese Woche Michael Müller, der Vorsitzende der Kommission: "Dass das nicht wieder mit dem selben Fehler läuft wie bei Gorleben: Man sucht einen Standort und sagt dann, jetzt müsst ihr den akzeptieren und erst dann beginnt die intensive Debatte. Sondern wir wollen von Anfang an die intensive Debatte über die dann gefundenen Kriterien." Der Bund für Umwelt und Naturschutz, kurz BUND verlangt unterdessen einen vorgezogenen Ausstieg aus der Kernkraft und verweist auf wachsende schwere Sicherheitsmängel. In jedem deutschen Atomkraftwerk sei jederzeit ein schwerer Unfall möglich, so der BUND.
Von Johannes Kulms
Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hatte auch in Deutschland Konsequenzen. Aus einem Moratorium für die deutschen Atomkraftwerke wurde ein Atomausstieg, der sich bis heute schwierig gestaltet. Streit gibt es vor allem über die Frage, wer die Kosten für den Ausstieg trägt.
"2016-03-11T13:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:18:13.406000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-nach-fukushima-die-folgen-des-deutschen-100.html
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Massensterben der Larven des Nordseehering
Zuletzt ging es dem Hering in der Nordsee ausgesprochen gut. Niederländische und deutsche Fischer freuten sich über rekordreife Fänge. Und jetzt das:" Nach unseren Schätzungen lag der Bestand 2005 noch bei rund 1,7 Millionen Tonnen. In diesem Jahr dürften es aber nur noch 1,3 Millionen sein. Das ist eine rapide Abnahme. Wir sollten deshalb die Fangquoten entsprechend reduzieren."Diese Empfehlung kommt von Martin Pastoors. Oder allgemeiner: vom Internationalen Rat für Meeresforschung, dem der niederländische Fischereibiologie angehört. Die Fachinstitution hat ihren Sitz in Kopenhagen. Sie arbeitet im Auftrag der Anrainerstaaten des Nordatlantik. Heute veröffentlichen die Wissenschaftler ihr neues Jahresgutachten. Und raten dringend dazu, die Fangquote für Nordsee-Hering in dieser Saison um fast die Hälfte zu beschneiden. Das wäre ein drastischer Einschnitt ..." Es gibt jede Menge ausgewachsene Heringe in der Nordsee. Doch die Zahl von Jungfischen geht stark zurück. Und das jetzt schon im vierten Jahr hintereinander. Der Heringsbestand wird deshalb in den kommenden Jahren schrumpfen. Und es wäre sicher unklug, wenn man sich dieser Situation nicht anpasste."Der Nordsee-Hering zeugt munter Nachwuchs wie eh und je. Doch mit den Larven stimmt irgendetwas nicht mehr. Viele von ihnen sterben, ehe sie zu Jungfischen herangewachsen sind. Man könnte von einem mysteriösen Tod in der Kinderstube sprechen. Der britische Fischereibiologe Marc Dickey-Collas hat die Aufgabe, das Rätsel zu lösen. Er ist der führende Heringsexperte im Meeresforschungsrat:" Es gibt viele Untersuchungen zum Nordseehering. Deshalb wissen wir genau, wann das Problem auftritt. Es werden immer noch genügend Larven erzeugt. Aber einige Monate später sind sie nicht mehr da. Irgendetwas bringt sie um. Man kann nicht unbedingt von einem Massensterben sprechen. Aber die Überlebensrate ist eindeutig gesunken, um bis zu 20 Prozent. Wenn so viele Larven frühzeitig sterben, dann kann sich der Heringsbestand nicht mehr wie gewohnt erneuern."Deshalb die Empfehlung der Forscher, die Fangquoten noch in dieser Saison rigoros zu reduzieren. Sonst, sagen sie, falle der Heringsbestand in der Nordsee unter eine kritische Grenze. Ob die EU-Kommission diesem Rat folgt, ist allerdings eine andere Frage. Es gibt nämlich eine Vereinbarung zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Sie besagt, dass die Fangquoten von einer Saison auf die andere höchstens um 15 Prozent gekappt werden sollen. Und aus der Fischerei gibt es bereits erste Stimmen, die von einer "viel zu drastischen" Fangbeschränkung sprechen. Biologe Pastoors meint allerdings, es bleibe gar keine andere Wahl, wenn man den Heringsbestand in der Nordsee stabil halten wolle:" Im Management-Plan für den Nordseehering gibt es eine Klausel, die klar sagt: Wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, kann man die Fangquote auch um mehr als 15 Prozent absenken."Woran die Heringslarven sterben, ist noch offen. Vermutlich hat es etwas mit dem Klimawandel und gestiegenen Meerestemperaturen zu tun. In den letzten Jahren sind neue, wärmeliebende Arten in die Nordsee eingewandert und haben die alten zum Teil verdrängt. Das gilt auch für Kleintiere im Wasser, von denen sich Heringe ernähren. Die Zusammensetzung dieses so genannten Zooplanktons hat sich stark verändert. Es könnte also sein, dass die sehr wählerischen Heringslarven eingehen, weil ihnen die Nordsee nicht mehr das Richtige auftischt. Sicher sind sich die Wissenschaftler da aber noch nicht. In anderen Fangregionen tritt das Phänomen jedenfalls nicht auf. Hering-Spezialist Marc Dickey-Collas wird der Sache weiter nachgehen. Schon jetzt kann er aber Verbraucher beruhigen:" Es wird auch weiter genug Hering geben. Denn den anderen Beständen geht es sehr gut - vor allem dem vor Norwegen. Deswegen werden die Marktpreise auch nicht ins Uferlose steigen. Selbst in der Nordsee ist noch immer viel Hering vorhanden. Wir wollen nur sicherstellen, dass der Bestand weiter verantwortungsbewusst befischt wird."Deshalb müsse auch noch niemand ein schlechtes Gewissen haben, wenn er weiter Hering esse.
Von Volker Mrasek
Beim Hering dauerte die Gewichtszunahme diesem kalten Frühjahr länger als sonst. Das Nordseewasser war einfach zu kalt, die Nahrung knapp. Aber nächste Woche ist es dann soweit: Die Matjessaison kann beginnen. Unterdessen weisen Meeresforscher auf ein anderes Problem hin: Viele Heringslarven sterben ab, viel mehr jedenfalls als gewöhnlich. Dabei waren die Fischer eigentlich sehr zufrieden mit dem Heringsgeschäft der letzten Zeit.
"2006-06-09T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T13:47:48.762000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/massensterben-der-larven-des-nordseehering-100.html
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Wie die Adenauer-Ära vor "Tarzan" und "dem Lümmel" schützte
"Tarzan und die Amazonen"-Poster von 1945. Comics über den Dschungelhelden waren unter den ersten Werken, die in der Bundesrepublik auf den Index kamen. (picture alliance / Everett Collection )
Köpcke, Monika
Heute erscheint es harmlos, was im Comic „Der kleine Sheriff“ zu lesen war: „Du Lümmel“ etwa oder „verdammter Mörder". In der jungen Bundesrepublik reichte das für eine Indizierung. Grundlage war das Gesetz über jugendgefährdende Schriften von 1953.
"2023-06-09T09:05:00+02:00"
"2023-06-09T07:25:00.006000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/09-06-1953-das-gesetz-ueber-die-verbreitung-jugendgefaehrdender-schriften-dlf-37a0f651-100.html
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Maßnahmen gegen Massentourismus
Touristengruppe mit Senioren in der historischen Altstadt im belgischen Brügge. (dpa / Romain Fellens) "Nachdem ich ihn getötet hatte, ging ich nach Hause und bekam die Anweisung: 'Fahr nach Brügge, Brügge, Brügge', 'Brügge, Wo ist denn das?' 'In Belgien'." Der Kinofilm ‚Brügge sehen und sterben‘ hat die kleine Stadt im flämischen Teil von Belgien auch über Europas Grenzen hinweg bekannt gemacht. Seit Jahren steigen hier die Besucherzahlen. 2018 kamen mehr als 8 Millionen Touristen, im Jahr davor waren es noch eine Million weniger. "An manchen Tagen kommen auf 100 Einwohner 300 Touristen, dann ist es unheimlich voll. Das sind die Tage, die wir nicht mögen", erzählt Philip Pierins, der Stadtrat für Tourismus. Zehntausende schieben sich durch die Gassen An diesen Tagen schieben sich Zehntausende durch die Gassen der mittelalterlichen Kleinstadt und drängen sich für Selfies auf den Brücken üben den kleinen Grachten. Rund drei Viertel der Touristen sind Tagesausflügler und verbringen nur einige Stunden in der Stadt. Viele davon kommen mit den Kreuzfahrtschiffen, die einige Kilometer entfernt im Hafen anlegen. Zu viel für Brügge, befand die Stadtregierung im vergangenen Jahr und erließ Maßnahmen. Man wolle kein Disneyland werden, betonte der Bürgermeister. Die Zahl der Kreuzfahrtschiffe ist jetzt auf zwei am Tag begrenzt. Dieses Jahr, das weiß Stadtrat Pierins bereits, wird ein Viertel weniger kommen als im letzten Jahr. Und er sei ständig im Gespräch mit den Kreuzfahrtbetreibern, um die Tagesausflüge besser auf die Woche zu verteilen. Zudem wurde die Werbung für Tagesausflüge nach Brügge in nahegelegenen europäischen Städten wie Paris oder Amsterdam gestoppt. "Wir sagen niemandem: Bitte kommt alle nach Brügge für einen 3-Stunden-Trip. Wir machen nur Werbung für Übernachtungstouristen." Die Mieten sind gestiegen Der Tourismus hat Brügge verändert. Normale Läden, einfache Bäcker zum Beispiel oder Fleischereien sind aus der Innenstadt nahezu verschwunden. Für sie sind die Mieten zu hoch geworden. Einer, der sich dennoch hartnäckig hält, ist Daniel. Zwischen Souvenirgeschäften und Waffelläden verkauft er in einem verwinkelten Laden auf zwei Etagen seit 40 Jahren Comics. "Ich bin einer der letzten hier aus Brügge. Die meisten anderen Ladenbesitzer in der Straße kommen nicht mal aus Belgien. Die Mentalität hat sich geändert. In den 90ern, da kannten sich die Ladenbetreiber, wir haben miteinander gesprochen, zusammen Dinge auf der Straße organisiert. Heute geht es nur noch ums Business. Jeder kämpft für sich. Und früher war es auch noch günstig, hier was zu mieten. Ich hatte 30 Jahre lang denselben Vermieter. Der ist dann gestorben und ich musste einen neuen Vertrag aushandeln. Die Miete ist dann extrem gestiegen und es wurde finanziell ganz schön schwierig." Ende Januar hat das Tourismusinstitut der Region Flandern eine Studie dazu veröffentlicht, wie die Brügger den Tourismus sehen. Rund drei Viertel bewerteten ihn als grundsätzlich positiv für die Stadt, vor allem wirtschaftlich. Aber zwei Drittel sagten auch, sie würden die Innenstadt meiden, und die Hälfte äußerte Angst vor Verdrängung durch steigende Mieten. Um das zu verhindern, hat die Stadt einen Komplettstopp für neue Ferienwohnungen und Hotels verhängt. Und Pierins meint, auch für manche Läden wäre ein Stopp eigentlich sinnvoll. Zum Beispiel die Chocolaterien, von denen es in der Innenstadt über 80 gibt. Aber man könne eben niemandem vorschreiben, welchen Laden er aufmachen dürfe. Chantal, eine kleine Frau um die 50 steht hinter der Theke ihrer Chocolaterie und packt Schokoladenherzen in rote Folie. "Wir sind hier in Brügge nur fünf traditionelle Chocolatiers, alles andere kommt aus großen Fabriken. Jeder schreibt drauf, das ist homemade Schokolade. Aber so ist das. Alles, was die Leute wollen, ist möglichst viel Schokolade, möglichst billig. Das ist das Problem." Obwohl sie wirtschaftlich von ihnen abhängt, findet sie die Maßnahmen zur Begrenzung der Tagestouristen sinnvoll. "Das ist das gleiche in Venedig, in Florenz." "Wir brauchen die Touristen. Auch an die von den Kreuzfahrtschiffen verkaufen wir immer viel. Also kann ich nicht sagen, ich bin gegen den Kreuzfahrttourismus. Aber für ein paar Stunden gibt es hier dann 3.000 oder 4.000 Menschen zusätzlich. Und die rennen nur ihren Guides hinterher. Eigentlich sind sie gar nicht wirklich interessiert. Das ist das gleiche in Venedig, in Florenz, überall." Etwa 6000 Jobs in der Stadt hängen direkt am Tourismus. Das, so sagt Pierins, soll sich auch nicht ändern. Das Ziel ist nicht weniger, sondern anderer Tourismus. Für 40 Millionen Euro entsteht am Rand der Innenstand gerade ein großes Ausstellungs- und Kongresszentrum. Man hofft auf Ärzte, Juristen und Kunstliebhaber; Menschen mit Geld, die über Nacht bleiben, gut essen und an den vielen Museen in der Stadt nicht nur in Eile vorbeirennen.
Von Josephine Schulz
Städtereisen werden immer beliebter, stoßen aber auf zunehmende Ablehnung in den betroffenen Städten. Besonders, wenn das Verhältnis von Tourist zu Einwohner immer größer wird. Und davon sind nicht nur die Metropolen betroffen auch kleine Städte wie Brügge kämpfen gegen den sogenannten Overtourism.
"2020-02-17T09:10:00+01:00"
"2020-02-18T15:32:12.974000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beliebtes-bruegge-massnahmen-gegen-massentourismus-100.html
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"Die Russen wissen, dass das Regime verantwortlich ist"
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn äußerte im DLF Hoffnung darüber, dass Russland und die USA zu einem Konsens zu Syrien kommen. (EPA) Armbrüster: Herr Asselborn, viel mehr als zusehen und vielleicht Finanzhilfe verabreden können die westlichen Regierungen hier auch nicht, oder? Asselborn: Ich glaube, das war trotzdem sehr wichtig, dass wir gestern diese internationale Konferenz hatten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das, was geschehen ist, genau an diesem Tag geschah. Ob wir viel mehr machen können? – Als Europäische Union stehen wir ja bereit, das wissen Sie, den Wiederaufbau entscheidend mit zu bestimmen, auch mit Mitteln. Aber natürlich, wir brauchen eine politische Transition. Armbrüster: Jetzt haben wir gerade vom Toxikologen Ralf Trapp gehört, dass diese Aufarbeitung, diese Untersuchung durchaus einige Komplikationen mit sich bringen kann. Trotzdem sind ja schon viele gestern vorgeprescht. Wir haben auch den Ton gerade gehört von Donald Trump. Viele, die sagen, wir wissen schon jetzt, das war Assad, das kann man sicher sagen. Schließen Sie sich denen an? Assad stelle sein Volk "total hinten an" Asselborn: Es gibt viele Indizien, das muss man klar sagen, dass das syrische Regime verantwortlich ist. Sie wissen, die Region Idlib ist kontrolliert von der Opposition. Das ist mehr oder weniger eine moderate Opposition, al-Nusra. Die Dschihadisten sind auch präsent. Die Gas-Attacken, das ist offenkundig, kamen aus der Luft. Wer hat Flugzeuge? Das ist das Regime. Und ich glaube, es war eine kalkulierte perfide Barbarei von höchster Potenz, denn das Spital, wo die Kinder und die Menschen behandelt wurden, ist ja auch dann beschossen worden. Ich glaube, dass am Tag von dieser fünften internationalen Konferenz das Regime in Syrien glaubt, dass sie rein militärisch die Oberhand erlangen können und behalten können und dass sie keinen Waffenstillstand wollen und dass sie keine internationale Konferenz wollen. Das scheint mir, glaube ich, logisch. Die UNO macht diese Untersuchung, wie Herr Trapp das richtig gesagt hat, aber politisch gesehen, glaube ich, soll man nicht zu viel zweifeln, wer das war. Armbrüster: Das heißt, das war auch ein ganz deutliches Signal, ein ganz offensichtliches Signal von Syriens Präsident Assad? Der wollte es hier den westlichen Regierungen auch noch mal zeigen? Asselborn: Ich glaube, das ist ganz einfach. Assad ist ein Mensch, der eigentlich sein Volk total hinten anstellt. Nur seine Macht zählt. Er ist der, der verantwortlich ist für diesen ganzen Bürgerkrieg. Er hat 2011 damit begonnen. Er hat auch mit Waffen auf friedliche Demonstranten geschossen. Und ich bin auch froh, dass der amerikanische Präsident, der ja in einem sehr effizienten Lernprozess ist, dass er nicht davon ausgeht, dass Assad das kleinere Übel ist, sondern dass man hier gegenhalten muss. Ich weiß nicht, welche Details, er hat ja keine Details gesagt, was er da machen will. Aber das Allerwichtigste ist, dass eingesehen wird, dass Syrien keine Zukunft mit Assad hat. "Russland will eher ein Peacemaker sein" Armbrüster: Sie nennen das einen effizienten Lernprozess von Donald Trump. Was vermuten Sie denn, was steckt hinter seinen Worten, wenn er sagt, dass sich sein Blick auf Assad und auf Syrien jetzt gerade ändert? Asselborn: Ich glaube, der amerikanische Außenminister wird nächste Woche ja in Russland sein. Es ist offenkundig, dass Russland immer sagt, wir sind nicht verheiratet mit Assad, aber Russland will ein zweites Afghanistan-Desaster verhindern. Sie wissen, damals hat die Sowjetunion sie 15.000 Menschen verloren und sie mussten abziehen. Das wollen sie nicht. Aber Russland will eher ein Peacemaker sein, und dass die Amerikaner mit Russland – das wäre sehr, sehr nützlich – zu einem Konsens finden, und die Russen wissen ja auch ganz klar, dass das Regime verantwortlich ist. Die Position im Sicherheitsrat hängt ja davon ab, dass sie gegen den Westen sich stellen wollen, und natürlich haben sie ein Argument. Das ist, Assad ist das Regime, und wenn das Regime zusammenbricht, bricht der Staat zusammen. Und was dann die Konsequenz ist, hat man ja im Irak gesehen. Aber hier glaube ich, wenn Donald Trump, wenn die Amerikaner einsehen, dass die Transition nicht mit Assad zu machen ist, dass hier trotzdem, davon bin ich überzeugt, das Gespräch Amerikaner-Russen eine Kehrtwende bringen kann. Denn was im Weltsicherheitsrat gestern geschah, ist das übliche Spiel. Die Waffe des Vetos, die greift immer, und die ist mit wenig Aufwand zu ziehen. "Aus diesem Stellvertreterkrieg einen Stellvertreterfrieden machen" Armbrüster: Herr Asselborn, da blicken wir jetzt direkt wieder auf die großen Player, auf die wir direkt immer blicken bei diesem Konflikt: die USA, Russland, möglicherweise auch den Weltsicherheitsrat. Lassen Sie uns kurz nach Europa blicken, auf die europäischen Regierungen. Sie haben dieses Treffen gestern in Brüssel erwähnt. Hilfszusagen wurden da gemacht in Höhe von neun Milliarden Euro. Das können die Europäer immer sehr gut, diese Art von Diplomatie, aber wir hören ja auch immer wieder, dass dieser Krieg in Syrien eigentlich nur deshalb immer noch andauert, weil so viele Staaten aus der Region darin verwickelt sind, Iran und Saudi-Arabien, um nur mal zwei zu nennen. Warum arbeiten so viele oder eigentlich alle europäischen Staaten noch immer mit den Regierungen dort zusammen? Asselborn: Nicht zusammenarbeiten mit Iran und mit Saudi-Arabien und mit der Türkei und mit Russland, das wäre verhängnisvoll. Ich glaube, das will ich noch sagen, dass die Russen auch raus wollen, und durch ein Zeichen im September in Astana haben sie ja diesen, sagen wir mal, Waffenstillstand auch sehr unterstützt, Türkei, Iran, Russland. Ich glaube, gestern die Menschen, die in Brüssel saßen, die wollen aus diesem Stellvertreterkrieg, den Sie richtig so sehen, einen Stellvertreterfrieden machen. Und die Europäische Union – ich glaube nicht, dass wir es fertig bringen oder sollten, zum Beispiel deutsche oder luxemburgische Soldaten nach Syrien zu schicken. Aber wir können international sehr viel, glaube ich, bewältigen. Und wir müssen auch wissen, dass das gepflegt wurde. Sie sagen, Europa ist gut darin. Es wurden neun Milliarden zugesagt, in London gestern sechs Milliarden. Das ist nicht nur europäisches Geld, aber wenn Sie wissen, dass die ganze Rekonstruktion jetzt mit 120 Milliarden berechnet wird, jetzt schon, um Syrien wieder aufzubauen, dann sehen Sie auch den Unterschied der Dimension. "Internationale Gemeinschaft will eine Transition in Syrien" Armbrüster: Das heißt, Herr Asselborn, der Druck, den Europa jetzt schon auf Staaten wie zum Beispiel Iran und Saudi-Arabien aufbaut in Sachen syrischer Bürgerkrieg, der reicht schon aus oder mehr geht nicht? Asselborn: Nein, der reicht nicht aus. Ich glaube, wir müssen immer wieder wiederholen die Resolution vom Dezember 2015, dass die eingehalten wird, dass die internationale Gemeinschaft eine Transition will in Syrien, um dann dem syrischen Volk die Möglichkeit zu geben zu bestimmen, was ihre Zukunft sein soll. Armbrüster: … sagt bei uns hier im Deutschlandfunk Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Asselborn. Asselborn: Bitte, Herr Armbrüster. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jean Asselborn im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert ein gemeinsames Vorgehen der USA und Russlands im Syrien-Konflikt. Es wäre sehr nützlich, wenn beide Länder einen Konsens finden könnten, sagte Asselborn im DLF. Das Wichtigste sei einzusehen, dass es in Syrien keine Zukunft mit Machthaber Assad geben könne.
"2017-04-06T07:20:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:19.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/giftgas-einsatz-in-syrien-die-russen-wissen-dass-das-regime-100.html
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Warum 1967 zum Pop-Schaltjahr wurde
Der legendäre Gitarrist Jimi Hendrix bei einem Auftritt auf Fehmarn. (Lutz Rauschnick ) The Beatles: "It was 20 years ago today ..." "Es war heute vor 20 Jahren ..." Ausgerechnet das Album, das die Pop-Musik für immer verändern wird, beginnt mit einem Rückblick. Es war vor fünfzig Jahren. Am 1. Juni 1967 erscheint "Sgt. Pepper´s Lonely Heartsclub Band" von den Beatles. Darüber schreibt Frank Witzel, 2015 mit dem Deutschen Buchpreis dekoriert für seinen Roman mit dem recht poppigen Titel "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969". "Ich habe versucht, mir noch mal neu Gedanken über die Sgt. Pepper zu machen, weil ich sie für ein eher schwächeres Album gehalten habe oder immer noch halte." Beim Wiederhören kam Frank Witzel auf eine neue Idee: Mit der Geschichte von Sgt. Peppers Club der einsamen Herzen Band hätten die Beatles ihren Arbeitsprozess ausgestellt: "Als Experimentierfeld, in dem alles möglich ist, in dem man sich kostümiert, verkleidet, in dem man Rückschritte macht, auch natürlich Vorgriffe in alle Stilrichtungen, um die Kreativität wieder anzukurbeln." 1967 steht im Zeichen des Höher, Schneller, Weiter Am Ende kommt ein einziger richtiger Song raus: "Das ist 'A Day in the life', und den halte ich auch für einen sehr gelungenen und innovativen, neuen Song, also den einzigen – in Anführungszeichen – Song der 'Sgt. Pepper', und wir können den kreativen Prozess sozusagen miterleben." Im Buch fällt immer wieder ein eher pop-fremder Begriff: Überbietungswettbewerb. 1967 steht im Zeichen des Höher, Schneller, Weiter. Die Beatles und die Beach Boys, Jimi Hendrix und die Doors, Bob Dylan und Pink Floyd – sie alle konkurrieren in einem permanenten Wettlauf der Ideen. Wie beschleunigt dieses Schaltjahr war, das belegt das Kapitel über Jimi Hendrix. Am 4. Juni, also ganze drei Tage nach dem Erscheinen von Sgt. Pepper tritt der als Wunderkind gefeierte Hendrix im Londoner Saville Theatre auf, vor der Creme der britischen Popwelt. Und er eröffnet sein Set nicht mit einem seiner Hits, sondern: Jimi Hendrix Experience: "Sgt. Pepper´s Lonely Heartsclub Band" Hendrix verbeugt sich vor den Beatles, und er sagt durch die Blume: Schaut her, das kann ich auch. Für Paul McCartney ist es ein Höhepunkt seiner Karriere. Im Schlusskapitel fasst der Pop-Literaturkritiker Moritz Bassler das Schaltjahr zusammen: "Musikalisch war das der Übergang vom Beat, dessen Hauptmedium nach wie vor die Single war, zum Rock, der sein definitives Medium in der Langspielplatte fand." Die Errungenschaften haben sich in ihr Gegenteil verkehrt Lustigerweise zitiert Bassler gleich mehrfach Jon Savage. Der britische Pop-Historiker war in seinem großen Buch über das Jahr 1966 zum gleichen Befund gekommen. 66? 67? Schaltjahre des Pop sind sie beide. Und ja, es gab auch Frauen, damals. Aretha Franklin: "Respect" Aretha Franklin reißt sich einen Song von Otis Redding unter den Nagel und macht ihn zu einer doppelten Hymne: Hymne der Bürgerrechtsbewegung, Hymne der Frauen. Das schreibt Vea Kaiser, eine von zwei Autorinnen. Ihr Text über Aretha Franklin ist der einzige in diesem Buch, der einer Frau gewidmet ist. "Aretha Franklin steht für eine kulturelle Wende: Das, was zuvor einzig das black america gehört hat, wird plötzlich bedeutsamer und permanenter Teil der populären Playlists. Arethas Musik ist nicht mehr bloß black music, sondern wird zur Musik aller." Fünfzig Jahre danach haben sich einige der Errungenschaften aus dem Schaltjahr des Pop in ihr Gegenteil verkehrt. Auch das ist eine Erkenntnis dieses Buches.
Von Klaus Walter
"Younger than Yesterday" – unter diesem Titel blickt ein neues Buch auf zwölf popkulturell besonders wertvolle Monate im Jahr 1967 zurück. Es geht in zwölf Kapiteln um zwölf bahnbrechende Alben. Aber auch historische Flops werden gewürdigt.
"2017-03-16T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:19.368000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anthologie-warum-1967-zum-pop-schaltjahr-wurde-100.html
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Kampf gegen Plastikbesteck und Wattestäbchen
Plastik soll durch andere Materialien ersetzt werden - zum Beispiel Papier oder Bambus. (imago ) Plastik: Was bei seiner Erfindung mal eine Revolution war und seit den 50er-Jahren immer mehr verwendet wurde, hat sich inzwischen aus Sicht von Umweltschützern zum Alptraum entwickelt. 400.000 Tonnen Plastikmüll pro Jahr allein in Europa. Hier findet ein Viertel des weltweiten Plastikverbrauchs statt. Müllexport in Länder wie China. Strände die verunstaltet werden, Kormorane die ersticken, Meeresschildkröten, die Plastik im Magen haben. Plastikteile die in Seehunden, Fischen und Walen gefunden werden. Es dringt in die Nahrungskette ein und bedroht unsere Gesundheit, so Umweltkommissar Karmenu Vella in der Debatte des Europäischen Parlaments. Und auch zerkleinerte Abfälle, die von den Äckern in den Kreislauf gelangen, werden zum Problem. Daher hat die Kommission schon vor Monaten eine Plastikstrategie verabschiedet. Produkte, bei denen es eine Alternative zum Plastikanteil gibt, sollen verschwinden, wie bei Wattestäbchen, Luftballonhaltern, Besteck, Tellern, Trinkhalme, und Stäbchen zum Umrühren. Hier soll Plastik durch andere Materialien ersetzt werden, wie Papier oder Bambus. Bei den Luftballonhaltern aus Plastik ist das noch nicht ganz ausdiskutiert. Die EVP hat einen Änderungsantrag eingebracht. Wo es keine wirkliche Alternative gibt, will die EU die Verwendung signifikant verringern: Bei Bechern, Deckeln, Essensbehältern und sehr leichten Tüten. Der Umweltausschuss hatte noch einige der weiteren Produkte mit auf die Verbotsliste gesetzt. Auch darüber wird heute im Parlament abgestimmt. "Am Ende muss stehen: weniger Produzieren und Recyceln" Auch die Hersteller sollen in die Verantwortung genommen werden. Seit 25 Jahren verfolge er nun schon die Müllreduzierungspolitik der EU, klagt der CDU-Europaabgeordnete Karl-Heinz Florenz. Ein gewaltiger Schwachpunkt seiner Meinung nach: Die Industrie unternimmt zu wenig, um das Recyclen zu ermöglichen. "Wenn die Industrie nicht endlich versteht, dass sie Kontakt mit den Recyclern aufnehmen muss, wie man denn ein Produkt entwickelt, was man nachher auch wieder auseinandernehmen kann – wenn dieses Bewusstsein nicht langsam aber sicher Platz greift, werden wir die Recycling-Ziele nicht erreichen." Der CDU-Parlamentarier Florenz ist sich da durchaus einig mit dem Grünen-Abgeordneten Martin Häusling: "Am Ende muss stehen: weniger Produzieren und Recyceln und mit Recyceln meine ich, dass es dann wirklich wieder verwendet wird und nicht wie in Deutschland, wo viel gesammelt wird, aber es landet am Ende im Müllofen. Das sollte nicht das Ende vom Plastik sein, sondern es sollte am Ende wieder in die Prozesskette mit eingebracht werden." "Es gibt Alternativen und die kann man auch nutzen" Es wird auch einige Übergangsfristen geben, doch am Ende soll etwa Plastikgeschirr verschwunden sein. "Es wird ganz wenige Ausnahmen geben, in Flugzeugen zum Beispiel, wo im Moment noch gar nix anders machbar ist. Aber dass sozusagen auf jeder Campingwiese Plastikgeschirr rumfliegt, das wird in Zukunft nicht mehr stattfinden. Da gibt es Alternativen und die kann man auch nutzen."
Von Bettina Klein
400.000 Tonnen Plastikmüll werden pro Jahr allein in Europa produziert. Das EU-Parlament will deshalb eine Richtlinie zum Verbot vieler Plastikartikel verabschieden. Dabei sollen auch die Hersteller in die Verantwortung genommen werden.
"2018-10-24T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:17:00.405000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-abstimmung-kampf-gegen-plastikbesteck-und-wattestaebchen-100.html
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Luftmanöver mit ernüchternder Erkenntnis
Auftakt der Luftwaffenübung Air Defender 2023: Eine Verteidigung der europäischen NATO-Länder aus eigener Kraft sei praktisch nicht möglich, so Thomas Wiegold. (imago images / localpic / Droese)
Wiegold, Thomas
Das Luftmanöver Air Defender ist angelaufen. Eine solche Vorbereitung auf den Ernstfall habe es hierzulande seit Jahrzehnten praktisch nicht gegeben, kommentiert Thomas Wiegold. Die Fakten der Verteidigungskraft Europas seien allerdings ernüchternd.
"2023-06-12T19:05:00+02:00"
"2023-06-12T19:14:23.367000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-zu-air-defender-luftmanoever-mit-ernuechternder-erkenntnis-dlf-70940ec2-100.html
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Carrier Global kauft Klima-Sparte von Viessmann
Der Hauptsitz bleibt zunächst in Deutschland: Zwei Mitarbeiter von Viessmann setzen in der Fertigungshalle des Unternehmens in Allendorf eine Wärmepumpe zusammen. (picture alliance / photothek / Thomas Imo)
Bahner, Eva
Die Wärmepumpen-Sparte der Firma Viessmann geht für zwölf Milliarden Euro an das US-Unternehmen Carrier Global. Um nachhaltige Heiztechnik beginne ein globaler Wettlauf, so Dlf-Wirtschaftsexpertin Eva Bahner: Die Konkurrenz aus Asien schlafe nicht.
"2023-04-26T07:35:00+02:00"
"2023-04-26T08:16:13.439000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-wirtschaftsgespraech-dlf-822f0474-100.html
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Flüchtlinge beschreiben ihre Erlebnisse
Ein überfülltes Flüchtlingsboot vor der italienischen Küste (picture alliance / dpa / ANSA / Italian Coast Guard) "Ich heiße Mohammad Al-Hashish. Ich komme aus Syrien. Ich bin Arzt von Beruf, Neurologe. " Der Mann mit den kurzen Haaren trägt ein schwarzes Hemd und Jeans. Mit seiner jungen Erscheinung könnte man ihn hier im Foyer der Universitätsbibliothek für einen Studenten halten. Der 28-jährige Mohammad Al-Hashish ist aber ein Neurologe, der aus Syrien geflüchtet ist. Auf einer kleinen Bühne erzählt der Arzt, wie er täglich Kriegsverletzte zu behandeln hatte. Nach Schwierigkeiten mit Militärs und Rebellen flüchtete er über Jordanien, die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Über seine Flucht hat er einen Text geschrieben, den er vor etwa 30 Zuhörern vorliest. Von der Türkei nach Griechenland fuhr er in einem Boot. "Das Boot war etwa neun Quadratmeter groß mit ungefähr 50 Leuten drauf. Nach einer Woche auf der Insel Kos bin ich nach Athen gefahren. Ich bin in Athen ungefähr einen Monat geblieben. Da bekam ich einen gefälschten Reisepass für Deutschland. Das kostet 7000 Euro. Dann bin ich nach Deutschland geflogen." Mohammad Al-hashish ist einer von zehn Flüchtlingen, die in der gemeinsamen Bibliothek der Technischen Universität und der Universität der Künste ihre Schicksale erzählen. Reale und fiktive Geschichten über die Flucht Neben den realen Geschichten lesen Autoren und Laien fiktive Erzählungen und Texte über Flüchtlinge vor. Die Bühne steht zwischen dem Eingang und dem Durchgang zur Cafeteria. Studenten bleiben stehen, hören eine Weile zu und gehen weiter. Die Moderatorin bittet Frank Schliedermann auf die Bühne. "Er hat am Schreibwettbewerb des Buchjournals teilgenommen und hat mit seinem Text "Idrissou" es tatsächlich unter die ersten 20 geschafft. Und wir freuen uns, dass er uns diesen Text heute hier präsentieren wird." "Go, go, go, brüllen die Männer in Uniform. Da ist das Boot. Idrissou kann sein Glück kaum fassen. Da ist tatsächlich ein Boot, wie die Männer gesagt haben. Idrissou hat nicht mehr daran geglaubt. Vier Monate ist er unterwegs. Immer haben sie gesagt, es kommt ein Boot. Und jetzt ist es da. Aber ist es nicht viel zu klein? Es hat bereits Schlagseite. Idrissou dreht sich um. All die Menschen, die hinter ihm sind, all die verschwitzten Gesichter. Sie scheinen genauso enttäuscht wie er." Frank Schliedermann erzählt eine Geschichte, die auch die des jungen Arztes Mohammad Al-hashish sein könnte. Der Autor hat sich tatsächlich von einer realen Fluchtgeschichte inspirieren lassen. "Ich hatte im Vorfeld einen Zeitungsbericht über eine Flucht gelesen. Dass man in den Nachrichten und in anderen Presseberichten immer liest, dass ein Boot führerlos vier Tage über das Mittelmeer getrieben ist. Aber was da eigentlich passiert, vier Tage lang auf dem Boot, das fand ich total ergreifend. Und das habe ich versucht, in so einem fiktionalen Text zu bearbeiten." Hilfe für die Flüchtlinge Während ein afghanischer Journalist und Dichter auf der Bühne von seiner Flucht erzählt, bespricht der Neurologe Mohammad Al-Hashish bereits seinen Auftritt mit seiner Betreuerin Sabine Waldner. Waldner arbeitet bei den Vereinen "Willkommen in Falkensee" und "Über den Tellerrand kochen". Al-hashish lebt in Falkensee bei Berlin in einem Flüchtlingsheim und teilt sich dort ein Zimmer mit drei anderen. Er kam vor fünf Monaten nach Deutschland, sein Asylantrag wurde bereits anerkannt. Nun versucht er, schnell Deutsch zu lernen, damit er hier als Arzt arbeiten kann. Dabei helfen ihm Sabine Waldner und viele andere, sagt er. "Die Deutschen sind sehr nett und sehr süß. Hier habe ich viele Freunde, wie Sabine und ihre Familie. Sie helfen mir viel. Jetzt ist die Situation sehr gut." Sabine Waldner lächelt. Die euphorische Begrüßung der Flüchtlinge an den Bahnhöfen kann täuschen, meint sie. "Die Aufnahmelager sind ja katastrophal – in München genauso wie sonst wo, in Berlin. Es ist ja nicht überall Jubel. Ich denke, es gibt auch eine breite Unterstützung der deutschen Bevölkerung. Und das ist ja auch einfach toll. Es ist nicht so viel Ablehnung. Nur die Ablehnung ist, wenn sie da ist, sehr massiv." Im Foyer der Universitätsbibliothek erleben die Flüchtlinge und die anderen Lesenden viel Interesse und Anteilnahme. Eine junge Griechin, die sich auf ihr Studium vorbereitet, bleibt mehrere Stunden und hört den Geschichten zu. - "Ich finde es ganz interessant. Und ich finde es gut, dass so etwas organisiert ist. Die Geschichten haben etwas Ähnliches, also diese Schmerzen, die die Flüchtlinge fühlen, das habe ich mehrmals gehört."- "Es war sehr bewegend, weil man bekommt ja vielleicht ein verzerrtes Bild aus den Medien mit. Ich selber habe jetzt noch keinen Flüchtling live gesehen oder gehört. Es war schlimmer, als es die Medien vielleicht rüber bringen. So hätte ich mir das gar nicht vorgestellt, dass es so tragisch ist."
Von Kemal Hür
Gestern startete das 15. Internationale Literaturfestival Berlin. Zum Auftakt dieser zehntägigen Veranstaltung wurden an verschiedenen Orten den ganzen Tag Texte über Flüchtlinge und deren Situation vorgelesen, aber auch die Geflüchteten selbst kamen zu Wort und erzählten von ihren Schicksalen.
"2015-09-10T05:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:58:42.451000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/literaturfestival-berlin-fluechtlinge-beschreiben-ihre-100.html
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Mitarbeiter finden - und halten
Insofern kommt einem erfolgreichen Personalmanagement eine Schlüsselrolle zu. Unter dem Motto "Studieren und Geldverdienen" startet im Oktober 2011 in der Dualen Hochschule Baden-Württemberg der neue interdisziplinäre BWL-Studiengang Demografie und Personalmanagement. Alle Ausbildungspartner der Dualen Hochschule, seien es Finanzdienstleister, Automobilzulieferer oder Städte, sind vom demografischen Wandel betroffen. Der neue Bachelor-Studiengang für Demografie und Personalmanagement ist der erste dieser Art in Deutschland. Dessen Leiter, Professor Lars Mitlacher, ist davon überzeugt, dass die Absolventen beste Karrierechancen haben. Schließlich gebe es für sie vielfältige Einsatzgebiete zum Beispiel in Personalabteilungen, im Change Management oder in Stabs- und Strategieabteilungen."Wir haben sehr viele Anfragen von Studierenden und auch schon viele Ausbildungsunternehmen gefunden. Ich bin sehr optimistisch, dass wir nächstes Jahr mit sieben bis zehn starten können in der ersten Runde und das dann sukzessive ausbauen. Wir müssen bei manchen Unternehmen sicherlich noch Überzeugungsarbeit leisten, da bei vielen Entscheidern die Aktualität des Themas vielleicht da ist, aber dann wirklich der Handlungsdruck jetzt was zu machen bei einem Thema, das in fünf Jahren ganz akut wird, noch nicht da ist. Wenn man bedenkt, dass solch eine Ausbildung drei Jahre dauert, dann ist heute der richtige Zeitpunkt was zu tun, um langfristig seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten."Dr. Rainer Thiehoff ist Geschäftsführer des Demographie-Netzwerks Deutschland, in dem sich 220 Unternehmen zusammen geschlossen haben. Angesichts des Fachkräftemangels und der Rente mit 67 sei es höchste Zeit, sich auf die Thematik einzustellen. Allerdings gebe es bisher nur wenige Firmen, die alles richtig machen."Es gibt viele gute Beispiele, wo Firmen sich auf den Weg gemacht haben, angefangen haben zum Beispiel mit Gesundheitsmanagement oder dass sie gezielt ältere Mitarbeiter suchen. Aber geschlossene Systeme, das heißt Unternehmen, die wirklich begriffen haben, dass demografischer Wandel nicht nur ein Problem ist, sondern im Gegenteil auch eine Chance, da gibt es nur ganz wenige. Zum Beispiel die Sick AG, die sind gut aufgestellt. Wir finden es gut, dass sich die Firmen auf den Weg gemacht haben."Tatsächlich ist der weltweit operierende Sensoren-Hersteller Sick aus Waldkirch bei Freiburg auf die Herausforderungen des demografischen Wandels gut vorbereitet. Denn schon vor sechs Jahren führte der Leiter des Personal- und Sozialwesens, Rudolf Kast, eine durchgehende Lernkultur ein."Wir fangen früh an. Wir praktizieren ja auch schon Lerntrainings für Kindergartenkinder, haben PC-Schnupperkurse für Mitarbeiterkinder im Unternehmen. Das heißt, wir haben auch über die Ausbildung sehr frühzeitig eine Lernkultur entwickelt, die sich dann über alle Generationen hinweg setzt. Und daraus ist bei uns schon sehr früh der Unternehmensgrundsatz lebenslanges Lernen entstanden, den wir dann auch eingeführt haben im Rahmen einer lernenden Organisation. Das heißt wirklich Lern-Instrumentarien, Lernmethoden von jung bis alt auch different eingesetzt."Der 23-jährige Jérôme Rischmüller hat bei der Sick AG im Rahmen seines Studiums International Business Management ein Praktikum gemacht. Derzeit schreibt er an seiner Bachelor-Arbeit, Titel: "Dauerhafte berufliche Weiterbildung in Südbaden als Notwendigkeit in Zeiten des demografischen Wandels". "Bei Sick ist es konkret so, dass es altersgemischte Teams gibt. Das soll heißen, dass der junge Absolvent von der Uni, der Berufseinsteiger, von einem Mitarbeiter lernen kann, der über viel Know-how verfügt, weil er schon 30 Jahre im Betrieb ist. Da muss man als Teamleiter natürlich über viel Fingerspitzengefühl verfügen, um die beiden Generationen gut zu verbinden."Genau dieses Fingerspitzengefühl will Lars Mitlacher den Studierenden in Villingen-Schwenningen beibringen. Zu der betriebswirtschaftlichen Wissensbasis bietet das duale Studium Schwerpunkte wie Demografiemanagement, praxisorientierte Demografieforschung sowie Rhetorik, Moderations- und Konflikttraining. "Neben dem Studiengang haben wir auch ein Kompetenzzentrum gebildet zum Thema Demografie und Personalmanagement. Da wollen wir vor allem kooperative Forschung betreiben über Drittmittelprojekte aber auch in Zusammenarbeit mit unseren Ausbildungspartnern. Um eben auch den Transfer von wissenschaftlichen Ergebnissen in die Praxis, aber auch in die Lehre zu gewährleisten und das ist denke ich eine gute Plattform zur Vernetzung der verschiedenen Akteure auf der regionalen Ebene. Und wir wollen das Ganze auch bundesweit ausbauen und sind gut vernetzt und versuchen das Ganze in der Region voranzubringen. Weil das Thema demografischer Wandel ist schon da. Er hat begonnen und je früher man sich damit beschäftigt, desto besser. Die Experten fallen auch nicht vom Himmel, sondern da muss man aktiv werden und ausbilden."
Von Sebastian Bargon
Aufgrund des demografischen Wandels gewinnen Einsatz, Beschaffung, Bindung und Motivation von Mitarbeitern immer mehr an Bedeutung. Insofern kommt einem erfolgreichen Personalmanagement eine Schlüsselrolle zu. Darauf reagiert die Duale Hochschule Baden-Württemberg mit dem neuen BWL-Studiengang "Demografie und Personalmanagement".
"2010-12-16T14:35:00+01:00"
"2020-02-03T18:04:51.737000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mitarbeiter-finden-und-halten-100.html
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"Österreich ist ein Dieselland"
Europabrücke am Brenner: Als Transitland ist Österreich besonders vom Diesel-Verkehr betroffen. (Imago / Eibner) Ein Software Update für rund 5,3 Millionen Dieselfahrzeuge und Prämien der Hersteller für den Neukauf eines abgasärmeren PKW, das ist kurz zusammengefasst das Ergebnis des sogenannten Diesel-Gipfel Mitte letzter Woche in Berlin. Und trotz dieser eher dürftigen Bilanz will Jörg Leichtfried, Österreichs Minister für Infrastruktur, die deutschen Automobil-Hersteller nun auch noch nach Wien zum nächsten Diesel-Gipfel bestellen. Fragen an den ARD-Korrespondenten Srdjan Govedarica: Britta Fecke: Warum nun ein Diesel-Gipfel in Österreich, wo der in Deutschland doch relativ ergebnislos ausfiel? Srdjan Govedarica: Das Verkehrsministerium hier in Wien sagt – man möchte "die offenen Fragen klären, die nach dem deutschen Dieselgipfel geblieben sind". In Berlin sind ja keine Verabredungen getroffen worden, die für Märkte außerhalb Deutschlands gelten. Der österreichische Verkehrsminister Jörg Leichtfried sagt:, die Verabredungen, das was für Deutschland gilt – Stichwort Software-Update und Umrüst-Prämien – sei das Mindeste, was auch in Österreich geschehen muss. Da erwartet er jetzt Vorschläge der Industrie und hat für Ende August eingeladen – VW, BMW und Daimler sollen teilnehmen. Die Einladungen seien schon verschickt, das genaue Datum wird aber noch nicht bekannt gegeben. Fecke: Was fordert der Verkehrsminister von den deutschen Herstellern? Govedarica: Die Beschlüsse des deutschen Dieselgipfels werden auch hier in Österreich als zu wenig kritisiert und auch hier diskutiert man, ob es nicht angesagt sei, die betroffenen Motoren mechanisch umzurüsten. Das hat die Autoindustrie ja als zu teuer abgelehnt. Deshalb baut der hiesige Verkehrsminister auch Druck auf und sagt, dass er "Vorschläge von der Autoindustrie erwartet". Dass jetzt Ende August mehr beschlossen wird als in Deutschland, gilt aber als unwahrscheinlich. In Österreich plant man aber nach der Parlamentswahl im Oktober ein größeres Projekt, sagt das Verkehrsministerium: "Abgasstrategie 2030" soll es heißen und dabei sollen Konzepte entwickelt werden mit der Industrie, aber auch Autofahrerverbänden und Umweltschützern. Das Ziel ist es, dass bis 2030 keine Autos mehr neu zugelassen werden, die Abgase verursachen. Wie das funktionieren soll, weiß man noch nicht. Es soll aber keine Verbote geben – heißt es aus dem Verkehrsministerium aus dem Umweltministerium – man will auf Anreize setzen, wie zum Beispiel Kaufprämien für Elektroautos oder Investitionen in die Infrastruktur, um die Zahl der Ladestationen für E-Autos zu erhöhen. Fecke: Wie viele Fahrer sind in Österreich betroffen? Govedarica: Österreich ist ein Dieselland. Im Verhältnis sind hier mehr Dieselfahrzeuge zugelassen als in Deutschland. Etwa 300 pro 1.000 Einwohner sind es in Österreich, in Deutschland sind es 180. Vom Abgas-Skandal direkt betroffen sind etwa 400.000 Autos. Etwa 4.500 Autofahrer lassen sich von Verbraucherschützern auch juristisch Vertreten. Und für die gab es in der vergangenen Woche eine gute Nachricht: Es ist bekannt worden, dass in Österreich wegen des Abgas-Skandals nicht mehr gegen Unbekannt, sondern konkret gegen VW und den Autozulieferer Bosch ermittelt wird – in Österreich ist es möglich, auch gegen Unternehmen zu ermitteln und nicht nur gegen Personen wie in Deutschland. Und dadurch – das ist hier auch juristisch so geregelt – können eventuelle Ansprüche der betroffenen Fahrer nicht mehr verjähren. Fecke: Wie oft werden die Stickoxid-Emissionswerte in den Städten überschritten? Govedarica: Österreich ist als Dieselland und gleichzeitig auch Transitland quasi doppelt betroffen. Einerseits durch die Luftverschmutzung der hier verkauften Autos und andererseits durch die vielen Autos und LKW, die durch das Land fahren. Die Luftverschmutzung mit Stickstoffdioxid ist vielerorts zu hoch, wie eine Analyse des österreichischen VCÖ, das ist der Verkehrsclub Österreich, zeigt. Mit Ausnahme vom Burgenland und Niederösterreich ist 2016 bei Messstellen in allen Bundesländern der Stickstoffdioxid-Grenzwert zum Teil massiv überschritten worden. Es gibt auch einen Hinweis auf die Ursache: Alle Messstellen mit zu hoher Belastung befinden sich nahe stark befahrener Straßen. Gegen Österreich ist 2016 auch ein Vertragsverletzungsverfahren in Brüssel angelaufen, weil die Schadstoffkonzentration in der in der Luft chronisch zu hoch ist. Fecke: Welche Konzepte haben die Städte in Österreich um Luftreinhaltepläne zu erfüllen? Govedarica: Auch hier setzt Österreich weniger auf Verbote und mehr auf Anreize. Beispiel Stadt Graz: Dort ist das Problem mit der Luftverschmutzung, sowohl mit Stickstoffdioxid als auch mit Feinstaub, besonders hoch, weil die Stadt in einem Kessel liegt und die Schadstoffe wie ein Deckel auf der Stadt liegenbleiben. Im Winter ist es besonders schlimm, wenn auch noch geheizt wird. Der Grenzwert ist im Januar zum Beispiel mehrere Male um 300 Prozent überschritten worden. Ein richtiges Rezept dagegen hat die Stadt aber nicht: Es hat vor fünf Jahren den Versuch gegeben, eine Umweltzone einzurichten mit Fahrverboten für ältere Autos, diese ist aber in einer Bürgerbefragung mit großer Mehrheit abgelehnt werden. Jetzt diskutiert man in Graz kostenlose Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an Tagen mit besonders hoher Belastung oder Prämien für Taxiunternehmen, die ihre Fahrzeugflotte modernisieren.
Britta Fecke im Gespräch mit Srdjan Govedarica
Es rußt und staubt: In fast allen österreichischen Bundesländern werden die Stickoxid-Grenzwerte massiv überschritten. Nun will die Regierung auf einem Diesel-Gipfel Maßnahmen gegen die Abgasbelastung auf den Weg bringen. Auf Verbote will sie dabei aber verzichten.
"2017-08-07T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:41.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abgasstrategie-2030-oesterreich-ist-ein-dieselland-100.html
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Manny Pacquiao will Präsident der Philippinen werden
Der Abschied ist emotional. "Es ist schwierig für mich zu akzeptieren, dass meine Zeit als Boxer vorbei ist, aber heute verkünde ich mein Karriereende", sagt Pacquiao in seinem Abschiedsvideo. Er danke allen Box-Fans weltweit, die seine Kämpfe verfolgt haben. Und es waren eine Menge Kämpfe. 72 insgesamt, von denen er 62 gewonnen hat. Seine Karriere beginnt Mitte der 90er Jahre. 1998 holt er seinen ersten Weltmeistertitel, damals im Fliegengewicht. In den kommenden Jahren steigt er die Gewichtsklassen immer weiter hinauf – und holt Weltmeistertitel nach Weltmeistertitel. 2008 boxt er Oscar de la Hoya in Rente. Es folgen weitere lukrative Kämpfe, unter anderem gegen Floyd Mayweather. 2019 wird er mit 40 Jahren ältester Weltmeister im Weltergewicht in der Geschichte. Diesen Titel verliert er dann vor sechs Wochen in seinem letzten Kampf. Eine große Sportler-Karriere bleibt. "Wer hätte gedacht, dass Manny Pacquiao zwölf Weltmeistertitel in acht verschiedenen Gewichtsklassen erreichen würde? Selbst ich bin erstaunt, was ich erreicht habe", sagt Pacquiao, der als Jugendlicher auf den Straßen von Manila gelebt hat. Pacquiao seit 2010 im Abgeordnetenhaus Sein Aufstieg soll jetzt weitergehen, in der Politik. Seine große Beliebtheit hat ihm schon 2010 einen Sitz im Abgeordnetenhaus eingebracht, seit 2015 ist er Senator. Er fordert die Wiedereinführung der Todesstrafe, bezeichnet Homosexuelle als "schlimmer als Tiere" und unterstützt für lange Zeit Präsident Rodrigo Duterte. Der führt seit Jahren einen sogenannten "Krieg gegen Drogen". Dutertes Polizei hat dabei tausende Menschen getötet. Ein "umfassender und systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung", so die vorläufige Bewertung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der eine offizielle Untersuchung zugelassen hat, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Anfang dieses Jahres bricht Pacquiao aber mit seinem Parteifreund Duterte. Zuerst wirft er Duterte vor, eine zu weiche Haltung gegenüber China zu haben. Der Präsident antwortet, Pacquiao habe nur oberflächliches Wissen über Außenpolitik und solle erst mal lernen, bevor er etwas sagt. Als der Boxer Dutertes Regierung kurz danach auch noch Korruption vorwirft, wird Duterte noch deutlicher. "Nur weil jemand ein Sieger im Boxen ist, ist er noch kein Sieger in der Politik", sagt Duterte, um dann den Boxer zu beleidigen. "You are a shit. A shit is a shit." Duterte darf wegen einer Verfassungs-Klausel im kommenden Jahr nicht nochmal antreten. Es scheint aber, als ob er nicht möchte, dass Pacquiao den Kampf um seine Nachfolge gewinnt.
Von Maximilian Rieger
Er ist einer der erfolgreichsten Boxer der Welt: Manny Pacquiao. Der Philippino ist der einzige Boxer, der in acht unterschiedlichen Gewichtsklassen Weltmeister geworden ist. Jetzt beendet er seine Karriere. Sein nächstes Ziel: Er will Nachfolger von Präsident Rodrigo Duterte werden.
"2021-09-29T22:54:00+02:00"
"2021-09-30T09:25:35.023000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwoelffacher-boxweltmeister-manny-pacquiao-will-praesident-100.html
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"Der Spaß hält sich in überschaubaren Grenzen"
Hinweis: Das Gespräch können Sie bis mindestens 9. April 2011 als Audio-on-demand abrufen.
Stefan Thies im Gespräch mit Moritz Küpper
Die negativen Schlagzeilen über die Commonwealth Games 2010, die im indischen Neu Delhi stattfinden, scheinen kein Abbruch zu nehmen: Absage der Atheleten sowie schlechte Vorbereitungen der Veranstalter sind nur zwei Beispiele. Wie fühlt man sich, wenn man dies alles auch noch gut verkaufen soll? Der Deutsche Stefan Thies berichtet über seinen Job - und erzählt von einem Sportereignis, das hierzulande wenige kennen.
"2010-10-09T08:40:00+02:00"
"2020-02-03T18:01:19.186000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-spass-haelt-sich-in-ueberschaubaren-grenzen-100.html
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Als Indien zur Republik wurde
1947 verkündete Lord Mountbattan die Unabhängigkeit Indiens vom britischen Königreich. Am 26. November 1949 wurde dann die Verfassung verabschiedet (imago / UIG) Mahatma Gandhi: "It is complete independence that we want." Immer wieder forderte Mahatma Gandhi, seit Anfang des 20. Jahrhunderts Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, die völlige Loslösung vom britischen Empire, doch zunächst vergeblich. Erst als die Inder nach dem Ersten Weltkrieg massiv gegen die Kolonialherren aufbegehrten und die Zusammenarbeit verweigerten, war die britische Regierung zu Zugeständnissen bereit: Zehn Prozent der erwachsenen Männer erhielten das Wahlrecht, die Provinzen bekamen erweiterte Kompetenzen. Der Indien-Experte Michael Mann von der Berliner Humboldt-Universität über die sogenannten Montford-Reformen von 1921: "Es war der Versuch, mittels demokratischer Elemente einen indischen Verfassungsstaat hinzustellen, der aber ohne Zweifel als Teil des Britischen Empires bestehen bleiben sollte, weil am Grundprinzip der Ordnung, nämlich dass der Generalgouverneur die Vollmacht hat inklusive Vetorecht, wurde überhaupt nicht gerüttelt." London sah sich zu Verhandlungen gezwungen Die Kongresspartei mit Mahatma Gandhi an der Spitze rief zu weiteren gewaltfreien Protesten gegen koloniale Abhängigkeit, Ausbeutung und Repressionen auf. London sah sich zu Verhandlungen über konstitutionelle Reformen gezwungen. Michael Mann: "Der Government of India Act von 1935 ist ein Versuch der britischen Regierung in London, dem indischen Nationalkongress bzw. der Unabhängigkeitsbewegung ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen." Doch nach dem Zweiten Weltkrieg verschärften sich die Gegensätze und damit auch die Kosten für das britische Empire, so dass in London die Einsicht wuchs, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Im Sommer 1946 wählten die Provinzparlamente eine verfassunggebende Versammlung, die erstmals im Dezember zusammentrat. Ramji Ambedkar, einer der Väter der indischen Verfassung, appellierte an die Abgeordneten: "Lasst die Worte beiseite, die Menschen verunsichern, lasst uns Rücksicht nehmen auf die Vorurteile unserer politischen Gegner. Nehmt sie mit ins Boot, so dass sie uns auf unserem Weg begleiten, bis unser langer Marsch uns schließlich zur Einheit führen wird." Während die Abgeordneten über die Verfassung berieten, erlangte Indien am 15. August 1947 seine Unabhängigkeit. Jawaharlal Nehru, der erste Ministerpräsident, trat in Neu-Delhi vor die verfassunggebende Versammlung. "Vor vielen Jahren hatten wir ein Stelldichein mit dem Schicksal. Und jetzt ist die Zeit gekommen, unseren Schwur einzulösen. Um Mitternacht, wenn die Welt schläft, erwacht Indien zum Leben und zur Freiheit." Frankreich und USA als Vorbilder Knapp drei Jahre berieten die Abgeordneten über die Verfassung, die im Wesentlichen auf dem Government of India Act basierte. Am 26. November 1949 verabschiedete die Versammlung das Gesetzeswerk, beginnend mit der Präambel: "Wir, das Volk Indiens, (sind) feierlich entschlossen, Indien als souveräne, demokratische Republik zu konstituieren und allen seinen Bürgern soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit, Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, des Glaubens und der religiösen Verehrung zu sichern." Mit 395 Artikeln eine der umfangreichsten weltweit, bekannte sich die Verfassung zu Gewaltenteilung, Föderalismus und den allgemeinen Menschenrechten. Der Historiker Michael Mann über Vorbilder: "Das eine war ganz generell Frankreich mit seinen revolutionären Prinzipien Ėgalité, Liberté und Fraternité. Das zweite war, dass man eine bundesstaatliche Verfassung nach dem Modell der USA konstruiert hat." Am 26. Januar 1950 trat die Verfassung in Kraft, dem Tag, an dem der Indische Nationalkongress 20 Jahre zuvor erstmals die Unabhängigkeit gefordert hatte. Wie bei allen Verfassungen klaffte auch bei der indischen eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Michael Mann: "Es ist eine durchaus moderne Verfassung, aber hatte mit den gesellschaftlichen Situationen 1946 oder 49/50 noch nicht viel zu tun. Und an der Stelle ist nicht die indische Verfassung eine Baustelle, sondern die Politik." So kann die Verfassung bis heute nicht allen Inderinnen und Indern die proklamierte Gleichberechtigung und Chancengleichheit, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, einen auskömmlichen Lebensstandard und das Recht auf Bildung und Arbeit garantieren.
Von Otto Langels
1946 vereinbarten die Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung mit britischen Unterhändlern, eine Verfassung für ein unabhängiges Indien auszuarbeiten. Nach knapp dreijährigen Beratungen verabschiedete ein Gremium am 26. November 1949 die Verfassung der Indischen Republik.
"2019-11-26T09:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:20:52.304000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-70-jahren-als-indien-zur-republik-wurde-100.html
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Ein großer Schritt für Europa - hoffentlich
Heute Nachmittag soll "Schiaparelli" in die Mars-Atmosphäre eintauchen: Während der Startphase der ExoMars-Mission trat das Wok-förmige Lande-Modul zum Vorschein (künstlerische Darstellung) (Esa/ATG medialab/dpa picture alliance) "The European-Russian Mars mission is on its way!" 14. März 2016, Russlands Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan. Die europäisch-russische Mission ExoMars beginnt ihre siebenmonatige Reise zum Roten Planeten. "Schiaparelli" sei auf dem Weg zum Mars, sagt Jorge Vago, ExoMars-Projektwissenschaftler am europäischen Weltraumforschungszentrum ESTEC im holländischen Noordwijk. Schiaparelli ist der Name der Abstiegskapsel, die auf dem Mars landen soll. Sie ist benannt nach dem italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli, dessen Name auch ein Krater auf dem Mars trägt. Die Mission ExoMars besteht aus dieser Landekapsel sowie aus einem Mutterschiff, das in einer Umlaufbahn verbleibt. Heute Nachmittag soll Schiaparelli in die Mars-Atmosphäre eintauchen. Freie Sicht auf den Roten Planeten Und danach gibt es kein Zurück mehr. Binnen drei Minuten wird sich das Tempo der Sonde von mehr als zwanzigtausend Kilometer pro Stunde auf weniger als zweitausend verringern. Dafür verantwortlich ist der Hitzeschild. Er schützt den Lander einerseits vor den hohen Temperaturen. Andererseits bremst er die Sonde ab. Kurz darauf wird die Kamera unten an Schiaparelli freie Sicht auf den Roten Planeten haben, weiß Boris Bethge, Systemingenieur für ExoMars beim europäischen Weltraumforschungszentrum ESTEC im holländischen Noordwijk: "Diese Kamera wird in der Tat den Abstieg fotografieren, und zwar nachdem sich der Hitzeschild gelöst hat beziehungsweise wir sprengen ihn ab. Aber wir können natürlich auch genau sehen, wie der Schiaparelli-Lander hin- und herschwenkt. Und das hilft uns bei der Rekonstruktion der genauen Landebahn." Jorge Vago: "Nach dem Überschallflug durch die Atmosphäre, wenn wir ungefähr sieben Kilometer über der Oberfläche sind, wird sich der Fallschirm öffnen. Mit ihm wird die Sonde heruntergleiten bis auf etwa einen Kilometer Höhe." Wissenschaftliche Versuche stehen erst mal nicht im Vordergrund Ab einer Höhe von einem Kilometer dann schaltet sich das Bremstriebwerk ein. Es soll dafür sorgen, dass sich das Abstiegstempo der Sonde bis auf eine Geschwindigkeit von sieben Kilometer pro Stunde verringert. Die letzten beiden Meter fällt Schiaparelli ungebremst auf den Mars. "Es ist halt auch alleine das anspruchsvoll, diese ganzen Sequenzen hintereinander autark durchgeführt zu haben, weil man durch den Verzug an Kommunikation ja gar nicht kontrollieren kann von der Bodenstation aus, sondern das wird halt alles aufgrund von Daten, die im Flug selber gemessen werden, entsprechend ausgelöst." Dominik Neeb von der Abteilung Über- und Hyperschalltechnologie beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Hier haben Ingenieure die Hardware für ExoMars entwickelt und getestet. Die Batterien von Europas erstem Mars-Lander werden nur für wenige Tage reichen. Doch wissenschaftliche Versuche stehen bei diesem ersten Teil von ExoMars sowieso nicht im Vordergrund. Die ESA wolle erst einmal beweisen, dass sie’s kann, so Ali Guelhan, der Leiter der Abteilung Über- und Hyperschalltechnologien: "Das Hauptziel der ersten Mission ist, Demonstration der Technologie erst mal. Die Europäer, die waren noch nicht auf dem Mars. Man möchte natürlich auch diese Technologie beherrschen. Wenn wir erfolgreich landen, Daten sammeln, auswerten und alles verstanden haben - das ist ein Riesenschritt für Europa. Das haben wir noch nie gemacht." Ein kleiner Schritt für Schiaparelli, aber ein großer Schritt für Europa. Hoffentlich.
Von Guido Meyer
Bisher ist noch keine europäische Sonde erfolgreich auf dem Mars gelandet. Heute Nachmittag will die europäische Weltraumagentur ESA es erneut versuchen: Nach sieben Monaten Reisezeit soll die Sonde ExoMars auf dem Roten Planeten aufsetzen.
"2016-10-19T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:13.759000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landung-der-exomars-sonde-ein-grosser-schritt-fuer-europa-100.html
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Edle Orgelkunst
So farbenreich wie das berühmte Fenster über der großen Orgel der Kathedrale von Notre Dame funkelt, scheinen die Scherzi von Louis Vierne davon inspiriert zu sein. (picture-alliance/Godong) Ein einziger Pedalton hing noch in der Luft, als Louis Vierne am 2. Juni 1937 am Spieltisch "seiner" Orgel zusammenbrach und starb. 37 Jahre hatte er das Cavaillé-Coll-Instrument in der Pariser Notre-Dame Kirche beherrscht – technisch perfekt und hochvirtuos – und darauf anspruchsvolle, düster-chromatische Werke geschaffen, die bis heute zur Ausbildung am Pfeifeninstrument dazugehören. Koboldhaft funkelnde Scherzi prägen seine Orgelsymphonien, aber auch ein zunehmend schwermütiger Tonfall. Ab 1906 erlebte der Komponist eine "pure Aneinanderreihung von Katastrophen": Er brach sich das Bein und erkrankte an Typhus. Seine Frau verließ ihn, sein Sohn wurde erschossen, sein Bruder von einer Granate getötet. Und Viernes gesamtes Vermögen versickerte ab 1916 in einem Schweizer Sanatorium, in dem er sich mehrere Jahre wegen seines Augenleidens aufhalten musste. An Grauem Star litt Vierne seit seiner Geburt am 8. Oktober 1870. Heute, 150 Jahre später, wird noch immer an sein Leben und Werk erinnert, zum Beispiel von Olivier Latry, dem jetzigen Titularorganisten von Notre-Dame, der in dieser Sendung zu Wort kommt.
Von Maria Gnann
Louis Vierne führte die Orgelsinfonie zu ihrem goldenen Ende. Den vielen schweren Herausforderungen in seinem Leben trotzte er immer voller Demut vor der Kunst und in deren Dienst. Annährung an den letzten wichtigen Organisten und Komponisten der französischen Orgelromantik.
"2020-10-27T22:05:00+01:00"
"2020-10-23T11:32:47.547000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/150-jahre-louis-vierne-edle-orgelkunst-100.html
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Die Entwicklungen vom 27. bis 30. Juni 2022
Ukraine, Odessa: Ein Feuerwehrmann beseitigt die Trümmer in der Wohnung eines durch einen russischen Raketenangriff beschädigten Wohnblocks. (Ukrinform/dpa) Hier geht es zu den aktuellen Entwicklungen. Donnerstag, 30. Juni +++ Die Zahl der russischen Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine hat sich dem ukrainischen Militär zufolge in den vergangenen zwei Wochen mehr als verdoppelt. Dabei setze das russische Militär in über der Hälfte der Fälle ungenaue Geschosse aus Sowjetzeiten ein, sagt Brigadegeneral Hromow. Russland nehme weiterhin Militäreinrichtungen, kritische Infrastruktur sowie Industrie und Transportnetzwerke ins Visier. Wegen der Ungenauigkeit der Angriffe erleide die Zivilbevölkerung "signifikante Verluste". Hromow zufolge wurden in der zweiten Junihälfte 202 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, ein Anstieg um 120 verglichen mit den ersten zwei Wochen des Monats. +++ Die Regierung in Moskau bestellt den britischen Botschafter ein, um gegen die "offensive Rhetorik" gegenüber Russland zu protestieren. Das russische Außenministerium wirft Großbritannien vor, willkürlich falsche Angaben über die angebliche russische Drohung mit Atomwaffen zu verbreiten. +++ Estland und Lettland haben sich auf den gemeinsamen Kauf eines Luftabwehrsystems für Mittelstreckenraketen geeinigt. Die Verteidigungsminister der beiden baltischen Länder hätten dazu auf dem Nato-Gipfel in Madrid eine Absichtserklärung unterschrieben, teilt das estländische Verteidigungsministerium mit. "Russlands Aggression in der Ukraine zeigt die Notwendigkeit solcher Verteidigungssysteme", sagt der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks. Estland und Lettland sind Nachbarstaaten von Russland. +++ Bundespräsident Steinmeier und der ukrainische Präsident Selenskyj haben miteinander telefoniert. Nach Angaben einer Sprecherin hat Steinmeier Selenskyj dabei weitere Unterstützung zugesichert und ihm zum EU-Kandidatenstatus für sein Land gratuliert. Auch die Vorbereitung eines möglichen Besuchs in Kiew sei Thema gewesen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Markus Schreiber/Pool AP/dpa) +++ Der russische Präsident Putin hat die westlichen Sanktionen wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine als illegale Strafmaßnahmen ohne Beispiel kritisiert. Die Vorherrschaft einer Gruppe von Ländern auf der Weltbühne sei nicht nur kontraproduktiv, sondern führe auch zu großen Systemrisiken, sagte Putin bei einem Video-Auftritt in Sankt Petersburg. Den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigte er erneut mit einer Befreiung des Nachbarlandes von Neonazis. Der stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats, Medwedew, sagte unter gewissen Umständen könnten die Sanktionen gegen Russland als Akt der Aggression wahrgenommen werden. Das gebe einem angegriffenen Staat das Recht, sich zu wehren. +++ Die EU und Russland sind sich nach Angaben des polnischen Ministerpräsidenten Morawiecki einig, dass ein Verfahren für den Warenverkehr zwischen dem russischen Kernland und der Exklave Kaliningrad ausgearbeitet werden soll. "Beide Seiten sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich lohnt, einen Plan zu vereinbaren, der nicht gegen die faktische Umsetzung der Sanktionen verstößt, denn offen gesagt ist das Kaliningrader Gebiet ein sehr kleiner Teil Russlands", sagt er. Hintergrund ist eine teilweise Blockade der russischen Lieferungen in die russische Exklave durch Litauen, das sich auf EU-Sanktionsbestimmungen beruft. +++ Bundeskanzler Scholz (SPD) will sich bei den weiteren Waffenlieferungen in die Ukraine vor allem an den USA orientieren. "Wir orientieren uns immer bei dem, was wir machen, an den Lieferungen der Verbündeten, insbesondere den USA. Und das werden wir auch weiter tun", sagte Scholz nach dem Nato-Gipfel in Madrid. Die USA haben der Ukraine bereits in großem Umfang schwere Waffen geliefert. Mit sieben Panzerhaubitzen sind vor wenigen Tagen auch die ersten schweren Waffen aus Deutschland in der Ukraine angekommen. Bestimmte Waffensysteme liefern Nato-Staaten bisher aber gar nicht, zum Beispiel Kampfflugzeuge und Kampfpanzer. +++ Zum Abschluss des NATO-Gipfels hat US-Präsident Biden weitere Waffenlieferungen der USA an die Ukraine im Volumen von 800 Millionen Dollar angekündigt. Man werde die Ukraine zusammen mit den Bündnispartnern so lange unterstützen, wie es nötig sei, erklärte Biden in Madrid. Der Präsident wies zudem darauf hin, dass eine Mehrheit der NATO-Staaten mittlerweile dabei sei, das Zwei-Prozent-Ziel der Allianz bei den Verteidigungsausgaben zu übertreffen. Biden unterstrich die Verteidigungsbereitschaft der Bündnispartner. Ein Angriff auf einen sei ein Angriff auf alle. +++ Der türkische Präsident Erdogan behält sich vor, einen Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato doch noch zu blockieren, sollten die von den Nordländern gemachten Zusagen nicht eingehalten werden. Wenn Finnland und Schweden ihre Versprechen im Kampf gegen den Terrorismus nicht erfüllten, werde er den Ratifizierungsprozess für die Aufnahme in die Nato im türkischen Parlament aufhalten, sagt Erdogan. +++ NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat den russischen Präsidenten Putin zum sofortigen Abzug seiner Armee aus der Ukraine aufgefordert. Putins brutaler Krieg sei absolut inakzeptabel, sagte Stoltenberg zum Abschluss des NATO-Gipfels in Madrid. Nicht nur verursache der russische Angriffskrieg Tod und Zerstörung in der Ukraine, er habe etwa in Form steigender Lebensmittelpreise auch Auswirkungen auf die ganze Welt. Der französische Präsident Macron kündigte in Madrid an, die Ukraine mit weiteren Lieferungen schwerer Waffen zu unterstützen. Jens Stoltenberg (E. Parra./EUROPA PRESS/Pool/dpa) +++ Russland hält nach eigenen Angaben mehr als 6.000 ukrainische Kriegsgefangene fest. Diese Zahl nannte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau. Zugleich bestätigte er den Austausch von jeweils 144 Soldaten aus Russland und der Ukraine. Die Regierung in Kiew hatte gestern erklärt, darunter seien 95 ukrainische Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol. +++ Russland ist laut Präsident Putin offen für einen Dialog über strategische Stabilität, eine Beschränkung von Atomwaffen und Rüstungskontrolle. Dies würde aber eine "sorgfältige gemeinsame Arbeit" erfordern und müsse darauf abzielen, eine Wiederholung dessen zu verhindern, "was heute im Donbass geschieht", sagt Putin auf einem Forum in Sankt Petersburg. Er bekräftigt seinen Vorwurf an die Ukraine von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" an russisch-stämmigen und russisch-sprachigen Bewohnern in der östlichen Region Donbass. Unter anderem damit hat er das militärische Vorgehen wiederholt begründet. +++ Die russische Armee hat sich von der ukrainischen Schlangeninsel im Schwarzen Meer zurückgezogen. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, man wolle damit die Bemühungen der UNO unterstützen, einen Korridor für den Export landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine zu ermöglichen. Die ukrainische Seite bestätigte den Abzug der russischen Truppen, teilte jedoch mit, der Rückzug sei nach einem erneuten ukrainischen Angriff auf die Schlangeninsel erfolgt. Dabei sei ein Kurzstrecken-Flugabwehrsystem zerstört worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Schlangeninsel unweit des Donaudeltas war bereits kurz nach dem russischen Einmarsch Ende Februar von der russischen Marine erobert worden. Die ukrainischen Streitkräfte haben seitdem mehrfach Attacken mit Kampfdrohnen und Flugzeugen geflogen und den Kreuzer Moskwa mit Raketen versenkt. +++ Bei einem Angriff im Osten der Ukraine sollen nach Behörden-Angaben 40 Tonnen Getreide vernichtet worden sein. In einem Lagerhaus in der Stadt Selenodolsk sei ein Feuer ausgebrochen, teilte der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, Resnitschenko, via "Telegram" mit. Er machte die russischen Invasoren dafür verantwortlich. Aus der Frontstadt Lyssytschansk wurde schwerer Dauerbeschuss gemeldet. Angaben aus dem Kriegsgebiet lassen sich kaum unabhängig überprüfen. Die Ukraine ist neben Russland für viele Länder vor allem in Afrika und im Nahen Osten einer der wichtigste Lieferanten von Getreide und Düngemittel. In einigen Regionen droht eine weitere Zuspitzung der Hungerkrise. +++ Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist wegen der Erfassung ukrainischer Flüchtlinge erstmals seit Monaten wieder gestiegen. Im Juni waren 2,36 Millionen Menschen ohne Job. Das sind 103.000 mehr als im Mai, aber immer noch 251.000 weniger als vor einem Jahr, wie die Bundesagentur für Arbeit am Donnerstag mitteilte. Die Arbeitslosenquote stieg um 0,3 Punkte auf 5,2 Prozent. +++ Der lettische Präsident Levits hat die bevorstehende Aufnahme von Finnland und Schweden als Stärkung der NATO gewürdigt. Beide Länder seien bedeutende militärische Kräfte, da sie bisher darauf eingestellt gewesen seien, ihre Sicherheit alleine zu gewährleisten, sagte Levits im Deutschlandfunk. Zum vorausgegangenen Streit mit der Türkei meinte er, die NATO sei ein Solidarbündnis, in dem die Interessen aller Mitglieder gewahrt werden müssten. Mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine warf Levits Russland vor, Europa dominieren zu wollen. Dies sei imperialistisches Denken des 19. Jahrhunderts. Die Kritik von Präsident Putin am Westen wies er zurück. Was Putin sage, sei irrelevant und lächerlich. Zukunftssichernder NATO-Gipfel? - Interview m. Egils Levits, lett. Staatspräs. Hören 10:44Hören 10:44 +++ Die Ukraine wird nach den Worten von Präsident Selenskyj ihre diplomatischen Beziehungen zu Syrien abbrechen. Das Regime in Damaskus hatte zuvor die beiden selbsternannten pro-russischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine anerkannt. Selenskyj sagte in einer Videobotschaft weiter, der Sanktionsdruck auf Syrien - das mit Russland verbündet ist - werde nun noch steigen. Der russische Präsident Putin hatte die beiden Separatistengebiete kurz vor dem Einmarsch in das Nachbarland als unabhängig anerkannt. Syrien ist der erste Staat nach Russland, der diesen Schritt nun auch vollzieht. Die westlichen Staaten hatten die Anerkennung der beiden Gebiete als Bruch des Völkerrechts verurteilt. Assad und Putin sind Verbündete. (Kreml/dpa) +++ Die Lage ukrainischer Truppen in den umkämpften Gebieten im Osten des Landes bleibt nach den Worten von Präsident Selenskyj schwierig. Nach Angaben aus Kiew setzt das russische Militär im Industriegebiet Donbass auf massiven Artilleriebeschuss. Die ukrainische Armee ist trotz moderner Geschütze aus dem Westen unterlegen. Der bisherige Druck auf Russland reiche nicht aus, betonte der ukrainische Präsident Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Er verwies darauf, dass allein auf die Stadt Mikolajiw zehn russische Raketen abgefeuert worden seien. "Alle waren auf zivile Ziele gerichtet", so Selenskyj wörtlich. +++ Indonesiens Präsident Widodo hat einen Vermittlungsversuch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unternommen. Widodo sagte nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Kiew, es sei schwierig, eine Friedenslösung zu erreichen. Zunächst müsse alles getan werden, damit die Ukraine wieder Lebensmittel exportieren könne. Widodo reist heute weiter nach Moskau zu Gesprächen mit Russlands Präsident Putin. Indonesien ist im November Gastgeber des G20-Gipfels. Widodo lud dazu neben Selenskyj auch Putin ein. Der Kreml bestätigte mittlerweile dessen Teilnahme. +++ Der russische Präsident Putin hat Schweden und Finnland davor gewarnt, NATO-Truppen und militärische Infrastruktur des Bündnisses auf ihrem Staatsgebiet zu stationieren. Putin sagte, in diesem Fall wäre Russland gezwungen, in gleicher Weise zu reagieren und, Zitat, „die gleichen Bedrohungen“ zu schaffen. Es sei gut möglich, dass es im Verhältnis zu beiden Ländern zu Spannungen komme, wenn diese dem Militärbündnis beiträten. Die NATO hatte zuvor auf ihrem Gipfel in Madrid die Aufnahme Schwedens und Finnlands auf den Weg gebracht und ein neues strategisches Konzept gebilligt. +++ Amnesty International stuft den Luftangriff auf das Theater von Mariupol im März als Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte ein. Die Menschenrechtsorganisation sammelte gut drei Monate lang Beweise und legte nun einen Bericht dazu vor. Bei dem Angriff auf das Theater in Mariupol habe es sich um ein Kriegsverbrechen seitens russischer Truppen gehandelt, erklärte Julia Duchrow von Amnesty International Deutschland. Höchstwahrscheinlich seien zwei 500-Kilo-Bomben abgeworfen worden. In dem Theater hatten Einwohner der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Schutz gesucht. Ein zerstörtes Theater in Mariupol, Ukraine (Symbolbild) (imago / Sputnik / Alexey Kudenko) Mittwoch, 29. Juni +++ Bei einem Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine sind nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums je 144 Soldaten übergeben worden. Darunter seien 95 ukrainische Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol, teilte das Ministerium im Messengerdienst Telegram mit. Angaben zu Ort und Zeitpunkt des Austauschs wurden zunächst nicht gemacht. Prorussische Separatisten bestätigten die Kiewer Angaben. +++ Russland ist nach Angaben von Außenminister Lawrow bereit, seine Bemühungen zu intensivieren, um die Bedrohung einer globalen Lebensmittelkrise zu verringern. Lawrow habe in einem Telefonat mit UNo-Generalsekretär Guterres gesagt, dass Moskau bereit sei, seine Exportverpflichtungen bei Getreide und Düngemitteln zu erfüllen, teilt das russische Außenministerium mit. Weizenernte in der Ukraine (Vitaly Timkiv/AP/dpa) +++ Bundeswirtschaftsminister Habeck hat bekräftigt, dass die Bundesregierung im Falle eines russischen Öl-Lieferstopps für die PCK-Raffinerie Schwedt finanziell einspringen wird. Diese Zusage sei gegeben, sagte der Grünen-Politiker bei einer Kundgebung von Hunderten Bürgern und Raffinerie-Beschäftigten im brandenburgischen Schwedt. Das gelte, sofern die Raffinerie bei laufendem Betrieb ohne Öllieferung kein Geld verdienen könne, so Habeck. Der Minister verteidigte die westlichen Sanktionen gegen Russland nach dem Angriff auf die Ukraine. Dazu gehöre auch der Ausstieg aus russischem Öl. Die PCK-Raffinerie gehört mehrheitlich dem russischen Staatskonzern Rosneft. +++ Prorussische Separatisten im Osten der Ukraine haben den Austausch von je 144 Gefangenen bekannt gegeben. Die entsprechende Zahl von Kämpfern der Volksrepublik Donezk und Russlands kehrten nun nach Hause zurück, erklärt der Leiter der selbsternannten Republik, Denis Puschilin, auf Telegram. Es seien im Gegenzug 144 gefangengenommene Ukrainer an die Regierung in Kiew überstellt worden. Die meisten davon seien verwundet. Eine ukrainische Stellungnahme liegt nicht vor. +++ Russisches Parlament stimmt für Verschärfung des umstrittenen Gesetzes über "ausländische Agenten". Zu sogenannten ausländischen Agenten können künftig alle Organisationen oder Einzelpersonen erklärt werden, die aus dem Ausland unterstützt werden oder in irgendeiner Form unter „ausländischem Einfluss“ stehen. Das Parlament in Moskau stimmte für die Änderung des entsprechenden Gesetzes. Es soll demnach Anfang Dezember in Kraft treten. Die bisher geltende Regelung sieht vor, dass beispielsweise Nichtregierungsorganisationen nur dann zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können, wenn sie sich mit Geldern aus dem Ausland finanzieren. +++ Bundesarbeitsminister Heil und Bundesinnenministerin Faeser planen im Juli eine gemeinsame Reise in die Ukraine. Das kündigten beide SPD-Politiker am Mittwoch am Rande eines Treffens mit Schülern einer Integrationsklasse an einem Berliner Gymnasium an. Man wolle mit den ukrainischen Amtskollegen unter anderem über Integrationsperspektiven von nach Deutschland geflüchteten Menschen reden, sagte Heil. Er sprach von einem sensiblen Thema. Auf der einen Seite gebe es die Hoffnung der Ukraine auf ein möglichst baldiges Ende des furchtbaren Krieges und eine Rückkehr der Menschen, auf der anderen Seite wisse man nicht, wie lange der Krieg dauere. +++ Russlands enger Verbündeter Syrien hat die beiden ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk offiziell als unabhängige Staaten anerkannt. Das meldete die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana am Mittwoch unter Berufung auf das Außenministerium in Damaskus. Es sollten mit beiden «Ländern» Gespräche geführt werden, um diplomatische Beziehungen aufzunehmen. +++ Die NATO hat angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ein neues strategisches Konzept und eine deutliche Verstärkung der Ostflanke beschlossen. Nach Angaben von NATO-Generalsekretär Stoltenberg sollen die einsatzbereiten Truppen deutlich aufgestockt werden, von derzeit rund 40.000 auf weit über 300.000 Kräfte. Zudem sagte die NATO zur Abschreckung Russlands mehr Soldaten für das östliche Bündnisgebiet zu. In dem neuen strategischen Sicherheitskonzept der Mitgliedsstaaten heißt es, bei politischen und militärischen Planungen werde Russland als größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum gesehen, sowie China als Herausforderung. Das neue Konzept ersetzt die vorherige Version aus dem Jahr 2010. +++ Die ukrainische Regierung hat die Entscheidungen des NATO-Gipfels in Madrid begrüßt. Außenminister Kuleba schrieb im Nachrichtendienst Twitter, man befürworte die klare Haltung zu Russland und freue sich über den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens. In Polen verwies Präsident Duda auf die Ankündigung von US-Präsident Biden, erstmals an der Ostflanke der NATO permanent US-Truppen zu stationieren. Für sein Land sei dies eine starke Sicherheitsgarantie, so Duda. +++ Indonesiens Präsident Widodo ist in Kiew zu einem Vermittlungsversuch im Ukraine-Krieg eingetroffen. Am Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt wurde Widodo von Vize-Außenminister Senik empfangen. Im Laufe des Tages ist ein Treffen mit Präsident Selenskyj geplant. Morgen will Widodo nach Russland zu einem Treffen mit Staatschef Putin reisen. Widodo war nach seiner Teilnahme am G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Bayern über Polen in die Ukraine gefahren. Indonesien ist im November Gastgeber des G20-Gipfels. Widodo lud dazu neben Selenskyj auch Putin ein. Indonesiens Präsident Widodo kommt in Kiew an. Er will im Ukraine-Krieg vermitteln. (Handout / PRESIDENTIAL PALACE / AFP) +++ Norwegen hat der ukrainischen Armee die Lieferung von drei Mehrfachraketenwerfern zugesagt. "Wir müssen die Ukraine weiterhin unterstützen, damit sie ihren Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit fortsetzen kann", sagte der norwegische Verteidigungsminister Gram wörtlich. Laut Mitteilung erfolgt die Lieferung der Geschütze in Kooperation mit Großbritannien. Norwegen werde der Ukraine außerdem 5.000 weitere Granaten zur Verfügung stellen, heißt es. Unterdessen meldet die norwegische Regierung einen Cyberangriff auf private und staatliche Einrichtungen, für den sie eine pro-russische Gruppe verantwortlich macht. +++ Russland zieht wegen der anhaltenden Rubel-Stärke den Kauf von Devisen "befreundeter" Länder in Betracht. Finanzminister Siluanow sagte, man werde dies mit dem Wirtschaftsblock in der Regierung besprechen. Die Zentralbank habe zugestimmt. Siluanow machte keine weiteren Angaben dazu, wie das Programm funktionieren könnte. Der russische Rubel war zuvor auf ein Sieben-Jahres-Hoch zum Dollar gestiegen. Analysten meinen, dies sei die Folge gestiegener Preise für Öl und Erdgas. Zudem könne Russland wegen der Sanktionen weniger importieren. +++ Die westlichen Verbündeten haben nach Angaben der US-Regierung im Zuge der Sanktionen russische Vermögenswerte in Höhe von mehr als 30 Milliarden US-Dollar eingefroren. Außerdem sei Vermögen der russischen Zentralbank im Wert von etwa 300 Milliarden Dollar eingefroren worden, teilte das US-Finanzministerium mit. Dies sei der Zusammenarbeit in der Task Force "Russische Eliten, Helfer und Oligarchen" zu verdanken, bei der die Europäische Union und die G7-Staaten Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und die USA sowie Australien kooperieren. Neben der Sperrung von Bankkonten wurden zahlreiche Jachten und andere Schiffe, die sanktionierten Russen gehören, den Angaben zufolge festgesetzt. +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat sich in einer Videoansprache an die Teilnehmer des NATO-Gipfels in Madrid gewandt. Selenskyj bedauerte die ablehnende Haltung gegenüber einer Aufnahme seines Landes in das Militärbündnis. Er rief die NATO zu weiteren Waffenlieferungen auf und betonte, die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder müssten der Ukraine entweder die von ihr benötigte Hilfe zum Sieg über Russland zukommen lassen, oder selbst einem verzögerten Krieg mit Russland entgegensehen. Madrid: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während des NATO-Gipfels über eine Videoverbindung zu den Mitgliedern. (dpa/Manu Fernandez) +++ Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der Ukraine weitere Waffenlieferungen in Aussicht gestellt. Neben der humanitären und finanziellen Hilfe werde man auch "Waffen zur Verfügung stellen, die die Ukraine dringend braucht", sagte er am Mittwoch beim Nato-Gipfel in Madrid. "Die Botschaft ist: Das werden wir so lange fortsetzen und auch so intensiv fortsetzen wie es notwendig ist, damit die Ukraine sich verteidigen kann." +++ Großbritannien hat Sanktionen gegen den russischen Oligarchen Wladimir Potanin angekündigt. Potanin häufe weiter Reichtum an und unterstütze das Regime von Präsident Wladimir Putin, begründet die Regierung in London ihr Vorgehen. Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine habe Potanin bei der Rosbank Anteile an der Tinkoff Bank erworben. Nach Angaben aus London ist der Oligarch vor allem durch seine Beteiligung an Nornickel reich geworden, dem weltgrößten Produzenten von Palladium und veredeltem Nickel. Neben Potanin setzt Großbritannien noch weitere Unternehmer und Finanzfirmen auf seine Sanktionsliste. +++ Papst Franziskus hat die Bombardierung eines Einkaufszentrums im zentralukrainischen Krementschuk verurteilt. In einer ganzen Reihe von "barbarischen Angriffen" sei dies der jüngste, erklärte das Oberhaupt der katholischen Kirche. Bei dem Angriff waren nach ukrainischen Angaben am Montag mindestens 18 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden. Russland bestreitet ukrainische Vorwürfe, das Einkaufszentrum attackiert zu haben. Man habe ein Waffendepot in der Nähe beschossen, hieß es aus Moskau. +++ Die prorussische Militär- und Zivilverwaltung in der ukrainischen Region Cherson bereitet den Beitritt zu Russland vor. Wie die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass meldet, soll es bald ein Referendum geben. Der Bürgermeister der Stadt Cherson wurde nach offiziellen Angaben verhaftet. Er habe sich russischen Befehlen widersetzt, hieß es zur Begründung. Das Gebiet um die Hafenstadt am Schwarzen Meer wurde zu Beginn der russischen Invasion besetzt. Ein großer Teil der Bevölkerung hat die Region verlassen. Russisches Militär in der Ukraine (Archivbild) (IMAGO/SNA) +++ Die russische Armee hat ihre Angriffe im Osten der Ukraine fortgesetzt. Beim Beschuss der Stadt Dnipro wurden mindestens zwei Menschen getötet. Nach Einschätzung des ukrainischen Militärs versuchen russische Einheiten weiter, die strategisch wichtige Stadt Lyssytschansk einzukesseln. In Mykolajiw im Süden der Ukraine gab es Tote und Verletzte bei einem Raketenangriff. +++ Der SPD-Politiker Schmid hat die Einigung der Türkei mit Finnland und Schweden über deren NATO-Beitritt als gutes Signal begrüßt. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag sagte im Deutschlandfunk, die nun mögliche Aufnahme der beiden nordeuropäischen Länder sei ein Gewinn für die Allianz. Finnland und Schweden folgten einer klaren Verteidigungsdoktrin. Zudem seien ihre Armeen modern ausgerüstet. Schmid sprach zudem von einem "unerwarteten Rückschlag" für den russischen Präsidenten Putin. +++ Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Wüstner, sieht die NATO vor grundlegenden Änderungen. Das Bündnis sei auf dem Weg zur alten Raumverantwortung wie vor 1990, sagte Wüstner im ZDF. Einzelne Partner würden verstärkt Räume an der Ostflanke zugewiesen, hinzu komme eine größere Einsatzbereitschaft. Eigentlich befinde sich die NATO auf dem Weg in Richtung "Kalter Krieg 2.0", meinte Wüstner. Auch für die Bundeswehr sei die Neuausrichtung des Bündnisses eine Riesenherausforderung angesichts der aktuell kleinsten Bundeswehr aller Zeiten, meinte Wüstner. +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Russland vor dem UNO-Sicherheitsrat als "Terroristenstaat" bezeichnet, dessen Präsident ebenfalls ein Terrorist sei. Selenskyj, der einer Sitzung des Sicherheitsrates in Folge des Angriffs auf die Stadt Krementschuk per Video zugeschaltet war, forderte das Gremium auf, Russland alle Stimmrechte zu entziehen. Russland kann solche Maßnahmen als Vetomacht im Sicherheitsrat jederzeit verhindern, ebenso wie den von Selenskyj geforderten Ausschluss aus den Vereinten Nationen. Der ukrainische Präsident Selenskyj. (Uncredited/Ukrainian Presidentia) +++ US-Präsident Biden hat die Zustimmung der Türkei zur Aufnahme von Finnland und Schweden in die NATO begrüßt. Beide Länder seien starke Demokratien mit sehr fähigen Streitkräften, erklärte Biden. Ihre Mitgliedschaft werde die kollektive Sicherheit der NATO stärken und dem gesamten Bündnis zugute kommen. Die Türkei hatte gestern ihren Widerstand gegen die Erweiterung aufgegeben. In einem Memorandum erklärten sich Finnland und Schweden bereit, Bedenken Ankaras in Bezug auf Waffenexporte und den Kampf gegen den Terrorismus zu berücksichtigen. +++ Der litauische Präsident Nauseda hat seinen Wunsch nach einer stärkeren Präsenz der NATO im östlichen Bündnisgebiet bekräftigt. Vom Gipfeltreffen in Madrid erwarte er den Beschluss, die bestehenden multinationalen Gefechtsverbände in den baltischen Ländern und an der NATO-Ostflanke bis auf Brigade-Niveau aufzustocken. sagte Nauseda der Deutschen Presse-Agentur. Eine Brigade besteht in der Regel aus etwa 3.000 bis 5.000 Soldaten. Seit 2017 ist in dem an die russische Exklave Kaliningrad und an Belarus grenzenden Litauen ein NATO-Bataillon mit derzeit rund 1.600 Soldaten stationiert. Angeführt wird es von der Bundeswehr.  Dienstag, 28. Juni +++ Russische Luftwaffe schoss am Abend Raketen auf die Stadt Dnipro. Wie der zuständige Gouverneur der Region Dnipropetrowsk mitteilte, suchen Rettungskräfte unter den Trümmern nach Überlebenden. Es seien Teile der Bahn-Infrastruktur und ein Industriegebäude beschädigt worden. Zudem brenne ein Dienstleistungsunternehmen. Eine russische Stellungnahme liegt nicht vor. +++ Die Türkei hat ihren Widerstand gegen die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO aufgegeben. NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagte in Madrid, Vertreter der drei Länder hätten ein entsprechendes Memorandum unterzeichnet. Darin werde auf die Bedenken Ankaras in Bezug auf Waffenexporte und den Kampf gegen den Terrorismus eingegangen. Vorausgegangen war ein Treffen von Stoltenberg mit dem türkischen Präsidenten Erdogen, dem finnischen Staatschef Niinistö und der schwedischen Ministerpräsidentin Andersson. +++ Deutschland und die Niederlande werden der Ukraine sechs weitere Panzerhaubitzen vom Typ 2000 liefern. Das kündigten Bundesverteidigungsministerin Lambrecht und ihre niederländische Kollegin Ollongren am Rande des NATO-Gipfels in Madrid an. Demnach liefern beide Länder jeweils drei Panzerhaubitzen. Lambrecht erklärte, damit gehe sie an die absolute Grenze dessen, was verantwortbar sei. Aber die Ukraine müsse jetzt unterstützt werden. Vor einer Woche hatte Deutschland die ersten sieben Artilleriegeschütze dieses Typs und damit erstmals ein schweres Waffensystem an die Ukraine geliefert. +++ Putin sagt Teilnahme an G20-Gipfel in Indonesien offenbar ab Der russische Präsident Putin will nach Erkenntnissen des italienischen Regierungschefs Draghi entgegen bisherigen Angaben doch nicht persönlich zum G20-Gipfel im Herbst nach Indonesien reisen. Draghi sagte am Rande des G7-Gipfels in Elmau, der indonesische Präsident Widodo habe ihm gegenüber eine persönliche Teilnahme Putins ausgeschlossen. Offen sei, ob sich der russische Staatschef per Videoschalte an dem Gipfel beteilige. Indonesiens Präsident Joko "Jokowi" Widodo (picture alliance / dpa / Kyodo/ MAXPPP ) +++ Bundeskanzler Scholz zieht positive Bilanz des G7-Gipfels. Er sprach zum Abschluss des Treffens auf Schloss Elmau von der "großen Kraft demokratischer Bündnisse". Scholz sagte, man habe die Zeit gut genutzt. Es sei großes Vertrauen untereinander entstanden, und dies werde für die nächste Zeit sehr helfen. Der Kanzler führte weiter aus, das Treffen habe auf beeindruckende Weise die Geschlossenheit und Entschlossenheit gezeigt, der russischen Aggression entgegenzutreten. Die G7-Staaten unterstützten die Ukraine bei ihrer Verteidigung und böten dem Land eine Perspektive für die Zukunft an. Man sei sich einig darüber, dass der russische Präsident Putin nicht gewinnen dürfe, unterstrich Scholz. +++ Russland hat die Ehefrau und die Tochter von US-Präsident Biden auf die Sanktionsliste gesetzt. Das Außenministerium in Moskau begründet mit den "sich ständig ausweitenden US-Sanktionen gegen russische Politiker und Personen des öffentlichen Lebens". Laut der russischen Agentur Ria wurde die russische Sanktionsliste um insgesamt 25 US-Amerikaner erweitert. +++ Die EU hat den Angriff auf das Einkaufszentrum in Krementschuk verurteilt. Der fortgesetzte Beschuss von Zivilisten und zivilen Gebäuden sei nicht hinnehmbar und komme Kriegsverbrechen gleich, erklärte der EU-Außenbeauftragte Borrell in Brüssel. Er sprach von einem "weiteren verabscheuungswürdigen Akt" und verwies auf jüngste Raketenangriffe auf Wohngebiete in Kiew. Russland werde zur Rechenschaft gezogen werden. +++ Russland bestreitet Beschuss von Einkaufszentrum in Krementschuk Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, der Raketenangriff habe einem nahegelegenen Munitionsdepot gegolten. Die Explosion habe dann das Feuer in dem Gebäude ausgelöst. In Krementschuk waren nach ukrainischen Angaben mindestens 18 Menschen getötet und rund 60 Personen verletzt worden. Die Suche nach rund 40 Vermissten dauert noch an. Feuerwehrleute des staatlichen ukrainischen Katastrophenschutzes arbeiten an einem Brand in einem Einkaufszentrum nach einem Raketenangriff in Krementschuk, Ukraine. (dpa/Efrem Lukatsky) +++ Die US-Ratingagentur Moody's hat wegen ausgebliebener Zinszahlungen an ausländische Gläubiger einen Zahlungsausfall Russlands festgestellt. Die Frist für die Begleichung von insgesamt 100 Millionen Dollar sei abgelaufen, teilte Moody's mit. Weitere Ausfälle seien wahrscheinlich. Russland wies die Darstellung zurück. Das Finanzministerium erklärte, zwei Zinszahlungen seien wegen der internationalen Sanktionen blockiert worden und daher nicht rechtzeitig bei den Gläubigern angekommen. Die Strafmaßnahmen wurden wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine verhängt. Russland ist inzwischen weitgehend vom internationalen Finanzsystem abgeschnitten. +++ Im Osten der Ukraine gehen nach Angaben der Regierung in Kiew die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Lyssytschansk weiter. Russische Truppen hätten einen Vorort südwestlich der Stadt gestürmt, teilte der ukrainische Generalstab mit. Im Süden stünden sie bereits am Stadtrand. Gekämpft werde zudem an einer Ölraffinerie. Lyssytschansk ist die letzte große Stadt in der Region unter ukrainischer Kontrolle. Dort sollen noch mehrere Tausend ukrainische Soldaten stationiert sein. +++ Retter suchen weiter nach Überlebenden im Einkaufszentrum in Krementschuk. Den ukrainischen Behörden zufolge werden noch mehr als 40 Menschen vermisst. Angehörige versammelten sich in der Nähe des Einkaufszentrums, in dem sich zum Zeitpunkt des Raketenangriffs mehr als 1.000 Menschen befunden hatten. Zuletzt wurden mindestens 18 Tote und 59 Verletzte gemeldet. Das Gebäude war nach dem Angriff gestern in Brand geraten. +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj bekräftigt Bitte um Luftabwehrsysteme. Selenskyj sagte in seiner Videoansprache, die Menschen im Einkaufszentrum in Krementschuk verdienten die gleiche Sicherheit wie Menschen in jedem Einkaufszentrum der Welt, ob irgendwo in Philadelphia oder Tel Aviv, oder in einer Einkaufspassage in Dresden. Der Präsident erinnerte daran, dass die Ukraine bereits vor dem Krieg und direkt nach der russischen Invasion um Luftabwehr-Systeme gebeten habe. +++ Die G7-Staaten haben den Raketenangriff auf das Einkauszentrum in Krementschuk verurteilt. In einer Erklärung der Gipfel-Teilnehmer heißt es, willkürliche Angriffe auf unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten seien Kriegsverbrechen. Der russische Präsident Putin und die Verantwortlichen würden dafür Rechenschaft ablegen müssen. Wegen dieses und weiterer Angriffe mit zivilen Opfern beantragte die Ukraine eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates. Montag, 27. Juni +++ Die USA und die EU haben den russischen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk verurteilt. Bei dem Beschuss kamen nach neuen Angaben des Gouverneurs mindestens 13 Menschen ums Leben, mehr als 40 erlitten Verletzungen. US-Außenminister Blinken schrieb bei Twitter, die Welt sei entsetzt über Russlands Angriff. EU-Ratspräsident Michel sprach von einem "schrecklich wahllosen" russischen Angriff. Auch Frankreich und Großbritannien verurteilten den Angriff. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. +++ Auf dem G7-Gipfel hat Bundeskanzler Scholz Russland vor lang anhaltenden Folgen des Angriffs auf die Ukraine gewarnt. Scholz sagte, im Verhältnis zu Moskau könne es kein Zurück geben in die Zeit vor dem russischen Überfall. Russland habe alle Vereinbarungen zur Zusammenarbeit von Staaten gebrochen und gegen den Grundsatz verstoßen, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürften. Zuvor hatten die G7-Länder in einer gemeinsamen Erklärung zugesagt, die Regierung in Kiew solange zu unterstützen, wie es erforderlich sei. Dem ukrainischen Staatshaushalt sollen für dieses Jahr bis zu 28 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Außerdem kündigten die Staats- und Regierungschefs an, den wirtschaftlichen und politischen Druck auf Moskau aufrecht zu erhalten und zu verschärfen. +++ Eine russische Rakete hat ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk getroffen. Nach ukrainischen Angaben wurden mindestens elf Menschen getötet und mehr als 40 verletzt. Videos zeigen hohe Stichflammen und schwarze Rauchschwaden. Präsident Selenskyj erklärte, in dem Einkaufszentrum hätten sich zum Zeitpunkt des Raketenangriffs mehr als 1.000 Menschen aufgehalten. Diese seien keine Gefahr für die russische Armee gewesen. Der Gouverneur der Provinz Poltawa schrieb auf Telegram, dies sei ein weiteres Kriegsverbrechen der Russen. Krementschuk ist der Standort der größten Ölraffinerie des Landes. Die Stadt liegt im Osten des Landes, ist aber vom Frontverlauf rund 100 Kilometer entfernt. Das Foto des ukrainischen Rettungsdienstes zeigt Einsatzkräfte nach dem Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk im Zentrum der Ukraine. (AFP PHOTO / Ukraine's State Emergency Service / str ) +++ Der britische Premierminister Johnson hat die Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland mit dem Kampf gegen den Nazi-Diktator Hitler verglichen. Der Preis für die Freiheit sei es wert, gezahlt zu werden, sagte Johnson der BBC am Rande des G7-Gipfels auf Schloss Elmau. Die Demokratien hätten in der Mitte des 20. Jahrhunderts lange gebraucht, um eine Antwort zu Tyrannei und Aggression zu finden, und es sei sehr teuer gewesen. "Aber mit der Niederlage der Diktatoren, vor allem von Nazi-Deutschland, brachte dies viele Jahrzehnte der Stabilität, eine Weltordnung, die sich auf ein regelbasiertes internationales System stützte", betonte Johnson. Das sei schützenswert, das sei es wert, verteidigt zu werden, das bringe langfristigen Wohlstand. +++ Die US-Regierung will der Ukraine ein modernes Waffensystem zur Luftverteidigung liefern. Der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Biden, Sullivan, sagte, er könne bestätigen, "dass wir in der Tat dabei sind, ein Paket festzuzurren, das fortschrittliche Luftverteidigungsfähigkeiten beinhaltet." Der ukrainische Präsident Selenskyj habe angesichts russischer Raketenangriffe auf Kiew und andere Städte um zusätzliche Luftabwehrkapazitäten gebeten. Details nannte Sullivan nicht. Der Sender CNN berichtete, es handele sich um ein Boden-Luft-Raketenabwehrsystem der Rüstungskonzerne Kongsberg und Raytheon mit der Bezeichnung Nasams. US-Präsident Joe Biden beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau am 27. Juni. (AP / Susan Walsh) +++ Russische Truppen haben bei Angriffen auf die Region Mykolajiw im Südosten der Ukraine nach eigenen Angaben mehr als 40 ukrainische Soldaten getötet. In der Nähe des Dorfes Wyssunsk sei am Sonntag zudem Militärtechnik zerstört worden, teilte das russische Verteidigungsministerium in Moskau mit. Zudem seien in mehreren Gebieten insgesamt 24 Kommandoposten zerstört worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. +++ Die NATO will vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr als 300.000 Soldaten in erhöhte Bereitschaft versetzen. Das kündigte Generalsekretär Stoltenberg vor dem Gipfeltreffen der 30 Mitgliedstaaten in Madrid an. Dort solle ein entsprechender Beschluss gefasst werden. Der geplante Umbau der Truppen ist demnach Teil eines neuen Streitkräfte-Modells für das gesamte Bündnisgebiet. Dieses sieht vor, mehr Soldatinnen und Soldaten in erhöhte Bereitschaft zu versetzen. Zudem sollen die multinationalen Gefechtsverbände im Osten der Allianz aufgestockt werden. Stoltenberg sprach von der "größten Neuaufstellung unserer kollektiven Verteidigung und Abschreckung seit dem Kalten Krieg". +++ In Polen hat eine Ausstellung beschädigter russischer Panzer und Armeefahrzeuge aus dem Angriffskrieg in der Ukraine begonnen. Eröffnet wurde die Schau auf dem Schlossplatz in der Warschauer Altstadt von der stellvertretenden ukrainischen Verteidigungsministerin Maljar und dem Bürochef des polnischen Ministerpräsidenten, Dworczyk. Der Ort ist symbolträchtig - der Schlossplatz wurde nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sorgfältig wieder aufgebaut. +++ Aufgrund einer Sonderregelung haben die Ukrainer seit April mehr als 211.000 Gebrauchtwagen zollfrei in ihr Land eingeführt. Dem ukrainischen Budget seien so umgerechnet über 630 Millionen Euro entgangen, schrieb der Parlamentsabgeordnete Jaroslaw Schelesnjak auf seinem Telegram-Kanal. Weil die Zollbefreiung am kommenden Freitag ausläuft, stiegen die täglichen Einfuhrzahlen zuletzt auf durchschnittliche 4.700 Fahrzeuge am Tag. Der Massenimport hat zudem kilometerlange Warteschlangen vor allem an den Grenzen zum EU-Nachbarn Polen verursacht. Die Zollbefreiung war im April, gut einen Monat nach Kriegsbeginn, beschlossen worden, damit Ukrainer aus den umkämpften Gebieten und vor allem die Armee zerstörte Fahrzeuge ersetzen können. +++ Das ukrainische Militär hat nach eigenen Angaben eine Einkesselung von Lyssytschansk im Osten des Landes verhindert. Wie der Generalstab mitteilte, wurden russische Angriffe westlich der strategisch wichtigen Großstadt zurückgeschlagen. Lyssytschansk sei jedoch weiterhin das Ziel schwerer Luft- und Artillerieangriffe. Russische Einheiten stünden im Süden bereits in Randbezirken der Stadt. Gekämpft werde auch etwas weiter westlich im Raum Bachmut. Die Stadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Aus dem Süden des Landes meldet die ukrainische Militärführung russische Artillerieangriffe im Gebiet um die Stadt Cherson. Auch in Odessa schlug eine Rakete ein. +++ Die G7-Staaten planen weitere Sanktionen gegen Russland. Beim Gipfeltreffen auf Schloss Elmau in Bayern erklärten die USA, man werde in Abstimmung mit den übrigen G7-Staaten weitere Strafmaßnahmen gegen Hunderte Personen und Institutionen erlassen sowie Strafzölle auf zahlreiche russische Produkte erheben. Die Maßnahmen richteten sich unter anderem gegen militärische Produktions- und Lieferketten. Ein hochrangiger Vertreter der US-Regierung teilte desweiteren mit, dass es hinsichtlich einer Preisobergrenze für russisches Öl noch keinen Durchbruch beim Gipfel gebe. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. +++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat das belarussische Volk aufgerufen, sich nicht in Russlands Angriffskrieg gegen sein Land hineinziehen zu lassen. Die russische Führung wolle Hass zwischen der Ukraine und Belarus säen, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft. Damit bezog sich Selenskyj auch auf jüngste Raketenangriffe auf die Ukraine. Einige Raketen wurden von russischen Mittelstreckenbombern am Samstag von Belarus aus in die Ukraine abgefeuert. Außerdem hatte der russische Präsident Putin dem belarussischen Machthaber Lukaschenko Raketensysteme versprochen, die auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können. Alexander Lukashenko und Wladimir Putin. (picture alliance/dpa/POOL) +++ Russland nähert sich einer möglichen Zahlungsunfähigkeit. Heute läuft eine Frist zur Zahlung von 100 Millionen Dollar an Zinsen für zwei Staatsanleihen aus, die in Dollar und Euro ausgegeben wurden. Eigentlich sollte Russland die Zahlungen bereits am 27. Mai leisten, was jedoch nicht geschah. Daraufhin setzte eine Schonfrist von 30 Tagen ein, die nun endet. Die bisherigen Entwicklungen im Ukraine-Krieg finden Sie hier.
null
+++ Eine russische Rakete hat ein mehrstöckiges Wohnhaus südlich der Hafenstadt Odessa getroffen +++ Die Ukraine liefert Strom in die EU +++ Russland verschiebt den Start einer Zugverbindung zwischen der Krim und den besetzten Städten Cherson und Melitopol. +++ Mehr im Newsblog.
"2022-07-01T07:27:00+02:00"
"2022-02-21T19:57:47.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-russland-ukraine-konflikt-158.html
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Meldungen aus der Wissenschaft
Neues aus der Wissenschaft – Die Wissenschaftsmeldungen aus „Forschung aktuell“ (Deutschlandradio) Die USA wollen schneller zurück zum Mond Bis 2024 sollen wieder Amerikaner auf dem Erdtrabanten wandeln. Das hat US-Vizepräsident Mike Pence in einer öffentlichen Rede gefordert. Bislang hatte die Weltraumagentur NASA die nächste bemannte Mondlandung erst für 2028 angepeilt. Laut Pence befänden sich die USA im Weltraum wieder in einem Wettlauf, genau wie in den 1960er Jahren. Er verwies auf die wachsende Konkurrenz Chinas in der Raumfahrt. Vor kurzem erst landete ein chinesischer Roboter auf der Rückseite des Mondes. Der nächste Mann und vor allem auch die erste Frau auf dem Mond sollen nach dem Willen der US-Regierung wieder Astronauten aus den USA sein. Zuletzt waren im Jahr 1972 Astronauten auf dem Mond. Um das Ziel einer erneuten Mondlandung in der verkürzten Zeit zu erreichen, müsse die Nasa aber eine neue Mentalität entwickeln, schlanker und agiler werden, forderte Pence. Sonst könnten die USA für die nächste Mondmission auch auf private Raumfahrtunternehmen zurückgreifen. Quelle: Agenturen Die Ernährung der Europäer führt zu hohen CO2-Emissionen in den Tropen Rund ein Sechstel aller Emissionen an Kohlendioxid, die mit der typischen Ernährungsweise eines Europäers zusammenhängen, gehen auf die Abholzung von tropischem Regenwald zurück. Das zeigen zwei Studien Schwedischer Forscher in den Fachmagazinen Environmental Research Letters und Global Environmental Change. Die Wissenschaftler untersuchten, welcher Anteil der Abholzung in den Tropen auf die Produktion von Nahrungsmitteln zurückgeht – und wo diese dann konsumiert werden. Da die EU-Länder viele Nahrungsmittel importieren, ergeben sich besonders hohe, anteilige Emissionswerte. In Lateinamerika hängt ein Großteil der CO2-Emissionen durch Abholzung mit der Produktion von Rindfleisch zusammen, vor allem in Brasilien. In Indonesien ist die Ausweitung der Ölpalm-Plantagen der treibende Faktor. Nach Ansicht der Forscher sollte die EU Maßnahmen ergreifen, um den Import von Nahrungsmitteln zu reduzieren, die mit dem Abholzen von Regenwald zusammenhängen. Quellen: Environmental Research Letters, Global Environmental Change In Europas Agrarlandschaften gibt es immer weniger insektenfressende Vögel Während der letzten 25 Jahre ist die Anzahl an Vögeln in der EU, die sich hauptsächlich von Insekten ernähren, um durchschnittlich 13 Prozent gesunken. Besonders stark ist dieser Einbruch der Populationszahlen in den Agrarlandschaften, während in anderen Lebensräumen nur vereinzelte Arten zurückgegangen sind. Das berichten Forscher des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums im Fachjournal Conservation Biology. Schon länger ist bekannt, dass in Europa die Insektenpopulationen schwinden. Die Wissenschaftler untersuchten nun erstmals, wie die Entwicklung der Nahrungsgrundlage und der Bestände von Vögeln zusammenhängen. Die Daten wiesen darauf hin, dass Insektenfresser in den Agrarlandschaften nicht mehr genug Futter finden, so die Forscher. Insektenfresser machen rund die Hälfte aller europäischen Vogelarten aus. Quelle: Conservation Biology Indien schießt einen Satelliten vom Himmel Es war ein erfolgreicher Test für ein neues militärisches Abwehrsystem. Nach Angaben des indischen Premierministers Narendra Modi wurde dabei ein Satellit in der Erdumlaufbahn zerstört. Modi sagte in einer live übertragenen Fernsehansprache, Indien sei erst das vierte Land, das diese Fähigkeit erlangt habe – und damit eine Großmacht im All. Bisher hatten schon die USA, Russland – beziehungsweise die frühere Sowjetunion – und China Antisatellitenwaffen testweise eingesetzt. Indien verfolgt ein ambitioniertes Raumfahrtprogramm. Im vergangenen Jahr hatte Modi angekündigt, Indien werde bis zum 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit im Jahr 2022 einen bemannten Flug ins All starten. Quelle: Agenturen Im US-Bundesstaat New York herrscht ein Masern-Notstand Der Notstand gilt für den Bezirk Rockland County, in dem rund 300.000 Menschen leben. Mehr als 150 Fälle von Masern wurden in dem Landkreis seit Oktober 2018 registriert. Nun entschieden die Gesundheitsbehörden: Minderjährige, die nicht gegen die Infektionskrankheit geimpft sind, dürfen sich in den kommenden 30 Tagen nicht mehr an öffentlichen Orten aufhalten. Dazu zählen alle Bereiche, in denen mehr als zehn Personen zusammenkommen könnten – wie zum Beispiel öffentliche Busse oder Schulen. Durch diese Maßnahmen sollen Menschen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen nicht gegen Masern geimpft werden dürfen, erklärte der Landrat Ed Day. Im Jahr 2000 waren die Masern im Staat New York noch für ausgerottet erklärt worden. Den aktuellen Ausbruch führen Experten auch auf den Widerstand von Impfgegnern zurück. Nach Angaben von Landrat Day sind im Rockland County 27 Prozent der Menschen im Alter zwischen einem Jahr und 18 Jahren nicht gegen Masern geimpft. Quelle: Agenturen Forscher nehmen Exoplanet interferometrisch unter die Lupe Bei der Interferometrie wird das Licht mehrerer Teleskope zusammengeschaltet, um aus den entstehenden Lichtmustern besonders detailreiche Bilder zu generieren. Diese Methode haben Astronomen der Europäischen Südsternwarte ESO jetzt erstmals eingesetzt, um einen Exoplaneten zu untersuchen. Dabei kam das Instrument Gravity am Very Large Telescope am Paranal-Observatorium in Chile zum Einsatz. Mit dem Verfahren konnten die Forscher die Position des 2010 entdeckten Exoplaneten HR 8799e zehn Mal genauer bestimmen als bisher. Spektralanalysen zeigten zudem, dass der Exoplanet eine 880 Grad heiße Atmosphäre besitzt, die reich an Kohlenmonoxid ist. Darin wirbeln Wolken aus Eisen- und Silikat-Staub umher. Diese Ergebnisse sind im Fachmagazin Astronomy & Astrophysics erschienen. Die Astronomen hoffen darauf, eines Tages mit interferometrischen Messungen auch Spuren von Leben in den Atmosphären anderer Exoplaneten nachweisen zu können. Quelle: Astronomy & Astrophysics
Von Lucian Haas
Die USA wollen schneller zurück zum Mond +++ Die Ernährung der Europäer führt zu hohen CO2-Emissionen in den Tropen +++ In Europas Agrarlandschaften gibt es immer weniger insektenfressende Vögel +++ Indien schießt einen Satelliten vom Himmel +++ Im US-Bundesstaat New York herrscht ein Masern-Notstand +++ Forscher nehmen Exoplanet interferometrisch unter die Lupe
"2019-03-27T12:00:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:15.681000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erforscht-entdeckt-entwickelt-meldungen-aus-der-wissenschaft-114.html
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Die Jugend verlässt das Land
Lost Generation: Jugendlichen im Kosovo bieten sich kaum Perspektiven. (picture-alliance / ZB / Jens Kalaene) Am Nachmittag gehört der Mutter Teresa-Boulevard den Schülern und Studenten. In kleinen Gruppen schlendern sie an den Cafés vorbei, lümmeln auf den Bänken und flirten. Vesnice steht an einer der fahrbaren Imbissbuden und leistet dem Verkäufer, einem Freund von ihm, Gesellschaft. Am Wochenende arbeitet der 18-Jährige selbst an einem solchen Stand und verkauft kleine Donuts, unter der Woche studiert er Wirtschaft. Geschäftsmann wolle er werden und genug Geld verdienen, damit seine Kinder später einmal ein gutes Leben haben. "Natürlich möchte ich hier bleiben. Das ist mein Land, hier bleibe ich, mein ganzes Leben lang." Auch Adrian würde gerne im Kosovo bleiben. Beim Aufbau des Kosovo mitwirken, erzählt der 16-jährige Schüler mit gewichtiger Mine. Doch auf der anderen Seite hat er auch persönlich große Pläne: "Ich möchte Ingenieur werden oder Computerspiele programmieren. Im Kosovo kann ich das nicht lernen, keine Schule bietet so eine Spezialisierung an." Eine junge Frau bleibt stehen und hört zu. Sie nickt, und erzählt von ihren Wünschen: "Ich träume davon, eine erfolgreiche Architektin zu werden, aber ich weiß nicht, ob das hier möglich ist. Gerade beginne ich, darüber nachzudenken, wegzugehen." Teuta ist 26 und studiert Architektur. Den meisten ihrer Kommilitonen gehe es so wie ihr, erzählt sie. Und mit ihnen vielen anderen: "Ist das nicht das Traurigste überhaupt, wenn der Großteil der Jugend woanders hin will, weil die Lage im Land so schlecht ist?" Und die Lage im Land ist schlecht. Über die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 – und die Jugendarbeitslosigkeit mit bis zu 70 Prozent enorm. Jobs gibt es kaum, Perspektiven noch weniger. Wir sollten nicht vergessen, dass hier vor 15 Jahren noch ein schrecklicher Krieg geherrscht hat, mahnt Präsidentin Atifete Jahjaga. Selbst erst 39 Jahre alt, hatte sie angekündigt, sich vor allem für die Jugend des Landes einsetzen zu wollen: "Wir haben in den vergangenen Jahren für die passende Infrastruktur gesorgt und nun müssen wir die entsprechenden Möglichkeiten schaffen..." Abhängig von internationaler Unterstützung Nur wie diese Möglichkeiten aussehen sollen, bleibt vage. Noch ist das Kosovo abhängig von internationaler Unterstützung, noch werden viele Familien von ihren Verwandten in Deutschland oder der Schweiz unterstützt. Das Kosovo sei reich an Bodenschätzen, verfüge über eines der größten Braunkohle-Vorkommen in Europa, wirbt die Regierung. Doch es fehlen Ingenieure und Investoren. Vielen ist das Kosovo politisch nach wie vor zu instabil, sie fürchten Rechtsunsicherheit und Korruption. Und so wirbt das Kosovo auch mit einer anderen Ressource, über die es im Übermaß verfügt, ohne eine wirkliche Verwendung für sie zu haben: seine Jugend. Der mangele es derzeit primär an einem, klagt Präsidentin Atifete Jahjaga: "Kosovo ist das einzige Land in der Region, das nicht von der Aufhebung der Visumspflicht profitiert, unsere jungen Leute müssen aber die Möglichkeit haben, nach Europa zu reisen, sich Europa anzuschauen – um dann zurückzukommen und ihr Wissen hier einzubringen." Das ist der einzige Punkt, in dem Besa Luci der politischen Klasse ihres Landes zustimmt. Die EU messe mit zweierlei Maß, wenn Serben, Albaner, Mazedonier, Montenegriner und Bosnier ohne Visum in die EU reisen dürften Kosovaren aber nicht. Sonst kann die 30-Jährige über den politischen Kurs ihres Landes oft nur mit dem Kopf schütteln. Dabei hat die junge Frau genau das gemacht, was sich Präsidentin und Regierung wünschen: Sie hat im Ausland studiert und ist zurückgekommen, hat mit EU-Hilfen das Onlinemagazin Kosovo 2.0 mitbegründet. Natürlich habe die junge Generation viele Ideen, sei kreativ und einfallsreich. Das Problem, sagt Besa Luci, liege woanders: "Ich glaube eines unserer größten Probleme ist das Bildungssystem. Es wurde zwar investiert, Reformen aber hatten nach dem Krieg keine besonders hohe Priorität. Außerdem ist das öffentliche Bildungssystem ein politisches Schlachtfeld, es geht um Macht, Einfluss und Posten. Ich glaube nicht, dass unser Bildungssystem die jungen Menschen hervorbringt, die es hervorbringen sollte." Und jene, die es im Moment hervorbringt, bilden sich im Ausland weiter oder bleiben abhängig – für gute Jobs muss man im Kosovo nach wie vor jemanden kennen, der jemanden kennt..., klagen viele junge Kosovaren. "Was für eine Generation entsteht hier? Wenn wir nicht am Bildungssystem arbeiten, hat es keinen Sinn, an der Zukunft zu arbeiten."
Von Anne Raith
Sie sind jung und haben Träume. Doch viele junge Kosovaren wollen das Land verlassen. Die kleine Republik bietet dem Nachwuchs keine Chance. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Jobs gibt es kaum und Perspektiven noch weniger.
"2014-12-03T09:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:54.712000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kosovo-die-jugend-verlaesst-das-land-100.html
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"Guantanamo Kid" - der jüngste Gefangene
Der jüngste Gefangene von Guantanamo (© Jérôme Tubiana, Alexandre Frank / Carlsen Verlag, Hamburg 2019) Nein, der 14jährige Mohammed el Gharani lässt sich nicht mal im Militärgefängnis von Guantanamo einfach nur zum Opfer machen: Er schlägt zurück, fordert die anderen Gefangenen auf, ihre Fäkalieneimer ebenfalls durch die Gitter der Zellen auf die Wärter kippen und zettelt immer wieder zivilen Ungehorsam an und sogar einen Hungerstreik. Genau deshalb ist Mohammeds Geschichte so bekannt. Jérôme Tubiana: "Er war unter den Inhaftierten sehr bekannt, weil er so ein Provokateur war und auch ein Anführer. Als dann Anwälte Zugang zu Guantanamo bekommen haben, sind sie schnell auf ihn aufmerksam geworden und haben seinem Fall eine besondere Priorität gegeben. Seine Inhaftierung war illegal wie die von vielen Anderen, weil die Vorwürfe unhaltbar waren. Sie war aber auch illegal, weil er wie ein Erwachsener behandelt wurde, obwohl er doch ein Kind war. Glaubwürdig oder unglaubwürdig? Jérôme Tubiana ist Journalist und gilt als Experte für die Sahara-Region. Ein Kollege hatte ihn auf den Fall Mohammed el Gharani aufmerksam gemacht und wollte wissen, ob die Geschichte des Jungen glaubwürdig sei. Mohammed ist Staatsbürger des Tschad und lebte mit seiner Familie als Migrant in elenden Verhältnissen in Saudi Arabien. Nach Pakistan sei er durchgebrannt, weil er sich dort bei dem Onkel eines Freundes in Informatik ausbilden lassen wollten – so Mohammed. Tubiana prüfte den Fall, der ihn nicht mehr los lies. Vor acht Jahren hat er die ersten Artikel über die Geschichte veröffentlicht. Damals war Mohammed El Gharani gerade aus der Haft entlassen. Seitdem haben sich die beiden immer wieder getroffen. Eine Graphic Novel, die den journalistischen Regeln folgt "Mohammed kann so gut Geschichten erzählen! Und er hat dabei geholfen, dass wir - noch während das Buch gezeichnet wurde - alles gegenchecken konnten: Zum Beispiel wie die Gefangenen mit Handschellen gefesselt wurden – Hände vorn oder auf dem Rücken. Oder wie die Gebäude genau aussehen. Wir wollten eine Graphic Novel machen, die den journalistischen Regeln folgt. Wir haben gekürzt und Aussagen in eine andere Reihenfolge gepackt und sonst nichts. Wir haben wirklich die Realität abgebildet." Mohammed el Gharani erzählt Jérôme Tubiana von bitterkalt eingestellten Klimaanlagen, von lauter Popmusik, die die Inhaftierten mürbe machen soll und von Wärtern, die Inhaftierten helfen und von Wärtern, die aus reiner Lust an der Erniedrigung misshandeln. Mohammed el Gharani beschreibt eine sogenannte Schnelle Eingreiftruppe, die die Inhaftierten fesselt und mit Pfefferspray traktiert, beschreibt Elektroschocks und andere Foltermethoden. Informationen gegenchecken Vieles von dem, was Mohammed über die Zustände in Guantanamo erzählt, wird von den amerikanischen Behörden dementiert. Ist das also wirklich die Wahrheit, die in dem Comic erzählt wird – oder eine sehr subjektiv gefärbte Variante eines ehemaligen Inhaftierten? "Vor allem am Anfang war es nicht leicht, die Informationen zu checken. Mohammed war einer der ersten Inhaftierten, die freigelassen wurden und der darüber geredet hat. Zum Beispiel über die Folter mit den Elektroschocks und ich war erst mal überrascht darüber. Deshalb habe ich zuerst mit den Anwälten gesprochen, weil die Zugang zu den Akten von vielen Gefangenen haben. Wenn man einen Inhaftierten hat, der etwas sehr Spezielles erzählt, da kann man Zweifel haben, ob das wahr ist. Wenn aber 20 Menschen das Gleiche erzählen, dann wird das wahrscheinlicher. Und ich habe dabei festgestellt, dass Mohammeds Berichte bemerkenswert präzise und akkurat waren." Arabisches Schriftzeichen als Vogel Der Zeichner Alexandre Franc hat diese Geschichte vom jüngsten Gefangenen Guantanamos mit einfachen schwarzen Strichen erzählt. Er zeichnet, wie sich Mohammed unter den schmerzhaften Prügeln krümmt, wie er aufbegehrt. Immer wieder mischen sich arabische Schriftzeichen in seine schwungvollen Striche. Wenn Mohamed Hoffnung schöpft, verwandelt sich die arabische Schrift schon mal in einen Vogel, der durch die vergitterten Fenster nach draußen fliegt. Und dann erinnert Alexandre Franc auch an die anderen Gefangenen und Wärter – denn alle Personen in diesem Comic gibt es wirklich. "Es gibt viele Details, die die Geschichte wie einen humoristischen Funny-Comic wirken lassen. Er ist sehr vom "Tim und Struppi"- Erfinder Hergé beeinflusst und Hergé hat eine unglaublich ironische Art, mit den Charakteren umzugehen. Alexandre hat zum Beispiel manche Wärter ungeheuer dumm oder lustig wirken lassen. Wir wollen die Leser nämlich auch unterhalten. Es ist eine Geschichte, die das Leben geschrieben hat. Und es gibt viel Unglück, aber es gibt auch gute Momente." Freigesprochen nach 8 Jahren Haft in Guantanamo Mohammeds Geschichte zeigt, wie irrational die amerikanische Regierung den Terror von Al Quaida bekämpft hat. Mohammed el Gharani war inhaftiert, weil man ihm vorwarf, er habe sich bereits 1993 einer geheimen Al Quaida Zelle in London angeschlossen. Dabei hatte er bis zu seiner Reise nach Pakistan niemals Saudi Arabien verlassen. Und: Als er in London gewesen sein soll, war er erst 6 Jahre alt. Vor allem letzteres sei unglaubwürdig, urteilte das US-Gerichts, dass Mohammed el Gharani freigesprochen hat. Nach 8 Jahren Haft in Guantanamo. Guantanamo Kid (Hardcover) - Die wahre Geschichte des Mohammed el GharanionJérôme Tubiana - Text, Alexandre Franc - ZeichnungenCarlsen Verlag, 20 €
Von Andrea Heinze
Gerade mal 14 Jahre alt ist Mohammed el Gharani, als er kurz nach den Attentaten vom 11. September nach Guantanamo gebracht wird. Der Vorwurf: Er sei Terrorist. Journalist Jérôme Tubiana hat die Geschichte recherchiert und als Graphic Novel veröffentlicht
"2019-06-17T14:00:00+02:00"
"2020-01-26T22:57:32.702000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/graphic-novel-guantanamo-kid-der-juengste-gefangene-100.html
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Die Kämpfe und der Ton verschärfen sich weiter
Ein Frau verlässt das getroffene Krankenhaus in Donezk (imago/ITAR-TASS) In ein Krankenhaus im Zentrum der Separatistenhochburg Donezk schlug eine Rakete ein, wie Korrespondenten der Nachrichtenagentur AFP berichteten. Die Frontseite des Gebäudes wurde beschädigt, Fenster gingen zu Bruch. In Delbazewe rund 60 Kilometer nördlich von Donezk wurden nach offiziellen Angaben drei Menschen durch Artilleriefeuer getötet und zwölf weitere verletzt. Binnen 24 Stunden seien in der Ostukraine zudem drei Soldaten getötet und 66 weitere verletzt worden, teilte die ukrainische Armee mit. Im ostukrainischen Charkiw wurden am Montag durch eine Explosion zwölf Menschen verletzt, mindestens zwei von ihnen schwer. Laut Augenzeugen ereignete sich die Explosion, als der prowestliche Aktivist Michailo Sokolow ein Gerichtsgebäude verließ. In den vergangenen Monaten waren in Charkiw häufiger Sprengsätze detoniert, gekämpft wird dort aber nicht. Kampf um den Flughafen Nach Regierungsangaben fügten die Separatisten dem Flughafen von Donezk schwere Schäden zu. Viele Soldaten seien verletzt worden, als im ersten Stockwerk des Terminals eine Decke eingestürzt sei, erklärte Juri Birjukow, ein Berater von Präsident Petro Poroschenko. Die Separatisten hätten diese "in die Luft gesprengt". Die Terminals waren vor einigen Jahren im Zuge der Fußball-Europameisterschaft 2012 gebaut worden. Um den Flughafen war in den vergangenen Tagen heftig gekämpft worden. Unter wessen Kontrolle er zu welchem Zeitpunkt stand, war unklar. Das Militär hatte am Samstag trotz der Anfang Dezember mit den Rebellen vereinbarten Waffenruhe eine massive Gegenoffensive unter anderem mit Artillerie und Panzern gestartet. Am Sonntag gab die Armee an, sie habe den Großteil des Flughafens gesichert. Bei den Kämpfen um den Airport wurden mindestens zehn Zivilisten getötet. Zeichen stehen wieder auf Krieg Poroschenko kündigte an, dass am Dienstag 50.000 Ukrainer bei einer Teilmobilmachung bewaffnet werden sollen. Der Schritt löste scharfe Kritik in Russland und bei den Separatisten aus. Auf eine militärische Lösung der Krise zu setzen, sei ein strategischer Fehler, zitierte die russische Nachrichtenagentur Interfax den stellvertretenden Außenminister Russlands, Grigori Karasin. Zuvor schon hatte der ukrainische Verteidigungsminister Stepan Poltorak angekündigt, dass in diesem Jahr bis zu 104.000 Ukrainer mobilisiert werden könnten. Ein ukrainischer Panzer im Dorf Tonenke, etwa 5 Kilometer von Donezk entfernt. (afp / Oleksandr Stashevskiy) Steinmeier fordert Bekenntnis zu Minsker Abkommen Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel forderte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ein klares Bekenntnis zur Umsetzung des Minsker Abkommens. Für weitere Bemühungen um einen angestrebten Ukraine-Gipfel seien "verlässliche Signale" nötig, dass es Bereitschaft gibt, "zur Umsetzung von Minsk beizutragen", sagte er. Er könne "abschließend nicht sagen", ob es Bereitschaft zu einem Kompromiss gebe und damit noch diese Woche ein Vorbereitungstreffen der Außenminister für den Gipfel stattfinden könne, sagte Steinmeier. Auch sei unklar, ob der eigentlich schon in der vergangenen Woche geplante Gipfel in der kasachischen Hauptstadt Astana zustande komme. In dem Konflikt in der Ukraine starben seit April vergangenen Jahres mehr als 4800 Menschen. Hunderttausende Menschen wurden zudem vertrieben. Grünen-Politiker Schulz: Sanktionen gegen Russland reichen nicht Der Grünen-Politiker Werner Schulz forderte im Deutschlandfunk angesichts der Eskalation in der Ukraine mehr internationalen Druck gegen die russische Führung. Auch sei bedauerlich, dass der Abschuss der Passagiermaschine MH-17 noch nicht aufgeklärt sei, sagte Schulz im DLF. "Hier tobt ein verheerender, brutaler Bruderkrieg", sagte der langjährige Bundestags- und spätere Europa-Abgeordnete. Es gelte die russische Bevölkerung über die Opferzahlen von Russlands "Schattenarmee" in der Ukraine aufzuklären. Dieser Krieg stoße in Russland nicht auf Zustimmung, so Schulz' Einschätzung. Für ihn ist erwiesen, dass der Kreml schwere Waffen in die Ukraine gebracht habe und reguläre russische Truppen dort kämpften. Die internationale Gemeinschaft müsse Putin als Aggressor anprangern. (nch/tf/tön)
null
Die prorussischen Separatisten und die ukrainische Armee liefern sich im Osten der Ukraine immer heftigere Kämpfe. Eine Rakete schlug in einem Krankenhaus ein, beide Seiten kämpfen erbittert um den Flughafen Donezk. Wie die Kämpfe verschärft sich auch der Ton.
"2015-01-20T06:07:00+01:00"
"2020-01-30T12:17:42.524000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krise-die-kaempfe-und-der-ton-verschaerfen-sich-100.html
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Kritische Aktionäre fordern Rücktritt von Kopper
Christine Heuer: Der Chef geht und die Aktie steigt sprunghaft im Wert - ein schöner Abgang ist das nicht für Jürgen Schrempp, den Shareholder-Value-Verfechter und Visionisten der Welt-AG DaimlerChrysler. Gestern hat der Aufsichtsrat des Unternehmens mitgeteilt, dass der Vorstandschef seinen Vertrag nicht ausschöpft und Ende des Jahres geht. Freiwillig, heißt es in der Mitteilung, in der sich kein Wort des Dankes findet an den Mann, der den Automobilkonzern zehn Jahre lang geführt hat - mit sinkendem Erfolg. Stichworte hierfür: die teure Fusion mit Chrysler, die kostspielige Beteiligung bei Mitsubishi, der Flop mit dem Smart und der Image-Verlust schließlich beim Flaggschiff Mercedes. Am Telefon ist Jürgen Grässlin, Wirtschaftswissenschaftler, Schrempp-Biograf und "Kritischer Aktionär" bei DaimlerChrysler. Haben Sie, wie die Deutsche Bank es getan hat, den Kursgewinn Ihrer Daimler-Aktien gestern gleich genutzt, um sie zu verkaufen? Jürgen Grässlin: Ja gleich mal eine ausgesprochen spannende Frage, denn ich war etwa eine Woche vorher informiert, dass der Schrempp zurücktritt. Ich gehe davon aus, dass die Deutsche Bank auch eine Woche vorher informiert war - und so was nennt sich wohl Spekulationsgeschäfte, was da passiert ist. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich besitze nur eine Aktie und habe sie behalten.Heuer: Schrempps Rückzug kam - vielleicht nicht für Sie, aber für die Öffentlichkeit - überraschend. Wieso geht er denn gerade jetzt?Grässlin: Das ist auch eine gute Frage deshalb, weil Herr Schrempp ja nun versucht hat, über die Jahre hinweg sich an der Macht zu halten. Das ist auch gelungen durch ein System, das er aufgebaut hat, indem er Vorstände und Aufsichtsräte ganz nach seinem Gutdünken besetzt hat oder besetzen ließ. Das System Schrempp ist jetzt gebrochen. Das heißt, weder die Aktionäre noch die Börse noch die Deutsche Bank halten länger zu ihm und damit hat er keinen Rückhalt mehr gehabt im Unternehmen. Er musste jetzt gehen und das ist natürlich noch halbwegs ein guter Abgang aus seiner Sicht, denn die ganzen Bilanzzahlen, die wir gestern gehört haben, sind meines Erachtens geschönt und im Herbst wird das große Desaster ausbrechen.Heuer: Aha. Wieso funktioniert dieser Schutz durch vertraute Mitarbeiter nicht mehr, den Herr Schrempp bislang genossen hat?Grässlin: Also der Schutz durch vertraute Mitarbeiter bezog sich lange Zeit auf Vorstände - bis zu dieser Sitzung des Vorstands, als acht Vorstände sich gegen ihn gestellt haben und nur noch drei für ihn waren - er eingeschlossen -, nämlich bei der Entscheidung, ob weitere Milliarden für Mitsubishi verpulvert werden oder nicht. Da brach ein Kartenhaus zusammen, nämlich die Unterstützung durch den Vorstand. Aber die eigentliche Rückendeckung hat ihm der Aufsichtsratsvorsitzende Hilmar Kopper über die Jahre hinweg geleistet, sein guter Duzfreund, der alles mit zu verantworten hat, was hier an Desastern gelaufen ist. Herr Kopper hat jetzt einen Rücktritt anziehen müssen, ganz einfach deshalb, weil Herr Schrempp nicht zu halten ist. Das Image von Herrn Schrempp ist extrem schlecht. Die Bilanzzahlen sind katastrophal und gestern - wie gesagt - geschönt. Und Herr Schrempp war einfach nicht zu halten, so dass Herr Kopper jetzt auch weiß, es geht auch um seinen Kopf. Und wir als "Kritische Aktionäre" fordern ganz klar, dass die beiden Verantwortlichen zu gehen haben, also Herr Schrempp und Herr Kopper.Heuer: Wenn die Zwischenbilanz tatsächlich - wie Sie sagen - geschönt war und das Desaster, das eigentliche, im Herbst bevorsteht, dann sind das ja auch schwere Zeiten für den designierten Nachfolger, Dieter Zetsche. Setzen Sie große Hoffnungen in ihn?Grässlin: Man muss erst mal sehen, dass Herr Schrempp einen Scherbenhaufen hinterlässt - aus dem "Herrn der Sterne" ist der "Herr der Scherben" geworden. Wir haben bei Smart ein Defizit von 2,6 Milliarden Euro. Wir haben eine C-Klasse und E-Klasse, die nicht laufen. Wir haben eine alte S-Klasse, die jetzt vorzeitig eingestellt wird - das ist ein Hammer, denn normalerweise gibt es Übergangsfristen: Die alten Fahrzeuge laufen aus, die neuen Fahrzeuge langsam an. Die neue S-Klasse, da liegen halb so viel Bestellungen vor, wie ursprünglich erhofft und erwartet. Und der Maybach, das so genannte Flaggschiff, hat ein Drittel der Verkäufe, die notwendig sind, um dieses Fahrzeug auch wirklich finanziell lukrativ erscheinen zu lassen. In diesen Scherbenhaufen hinein muss nun Dieter Zetsche sein Amt antreten. Es kommt für uns alle ein bisschen überraschend, denn wir rechneten mit Eckhard Cordes. Aber es ist eigentlich nur logisch, dass Herr Cordes auch geht, denn er ist voll involviert in das System Schrempp und hat all die Fehler ja mitgetragen. So dass Herr Zetsche, bei dem eben die besagte Sitzung der acht Widerständler damals organisiert worden ist, jetzt das Amt antritt. Und Herr Zetsche muss wirklich viel Feingefühl, viel Engagement, viel Glück auch aufbringen, um diesen Scherbenhaufen wieder aufzurichten.Heuer: Aufgefallen ist gestern, dass Jürgen Schrempp auf die ihm vertraglich ja zugesicherte Abfindung verzichtet - das tut üblicherweise niemand. Wieso, glauben Sie, tut er es, Herr Grässlin?Grässlin: Da kann man nur spekulieren. Aber Sie haben vollkommen Recht, also normal stünden ihm schätzungsweise noch 21 Millionen Euro zur Verfügung, die sich zusammensetzen aus den Zuwendungen für die Jahre 2006, 2007, 2008. Wir schätzen, dass das Gehalt etwa in Höhe von 7 Millionen Euro liegt. Das macht Herr Schrempp nicht freiwillig. Herr Schrempp ist ein Mensch, der geradezu heftigst bemüht war, immer wieder Gelder zu akquirieren jenseits seines Gehaltes. Das war immer wieder überraschend, auch bei Kleinigkeiten, da habe ich gedacht, das kann ja wohl nicht wahr sein, dass er sich das auch noch zahlen lässt. Und so glaube ich nicht, dass dieser Rücktritt freiwillig ist und ich glaube vor allem nicht, dass dieser Verzicht auf das Gehalt freiwillig ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass im Herbst noch die dicke Bombe platzt, denn Herr Schrempp war wohl nicht nur in Geschäfte involviert oder in Kenntnis gesetzt, die legal waren.Heuer: Aha. Wissen Sie da mehr?Grässlin: Ich weiß da mehr, möchte aber zu diesem Zeitpunkt nichts dazu sagen.Heuer: Das ist sehr schade. Jürgen Grässlin, Wirtschaftswissenschaftler, Schrempp-Biograf und Mitglied der "Kritischen Aktionäre" bei DaimlerChrysler.
Moderation: Christine Heuer
Nach dem vorzeitigen Ende der Ära Schrempp bei DaimlerChrysler haben die Kritischen Aktionäre DaimlerChrysler (KADC) auch den Rücktritt des Aufsichtsratsvorsitzenden Hilmar Kopper gefordert. Schrempp habe die Bilanzzahlen bei DaimlerChrysler geschönt und Kopper habe ihm dabei Rückendeckung geleistet.
"2005-07-29T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T13:32:56.899000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kritische-aktionaere-fordern-ruecktritt-von-kopper-100.html
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Abgeschminkt, ehrlich jetzt!
Schluss, aus und vorbei nach 46 Jahren (imago stock&poeple /Zuma Press) Musik: "Deuce" Paul Stanley: "Ich bin so dankbar - und diese Tour hat etwas von einer großen Feier. Im Sinne von: Sie hat nichts Negatives oder Morbides. Die Leute fragen zwar ständig, ob es ein bittersüßes Erlebnis sei, wie man das hier in Amerika formuliert. Aber es ist nur süß. Denn was wir als Band erreicht haben, ist riesig. Und jeder Abend auf der Bühne hat etwas Magisches. Die Band klingt umwerfend, die Auftritte dauern über zwei Stunden und eine solche Show hatten wir noch nie. Weil es die letzte Tour ist, war es uns wichtig, die Latte noch ein bisschen höher zu hängen." 25 Kilo Outfits Paul Stanley heißt eigentlich Stanley Bert Eisen. Auch mit 67 Jahren trägt er hautenges, schwarzes Leder und verfügt über gesundes Selbstbewusstsein. Für ihn ist Kiss nach wie vor die wichtigste Rockband der Welt. Ein Quartett, das Maßstäbe in Sachen Theatralik und Selbstvermarktung setzt. Der Grund, warum die New York jetzt aufhören, ist laut Stanley ebenso simpel wie ergreifend: Der eigene Superlativ geht an die körperliche Substanz. "Würden wir T-Shirts und Turnschuhe tragen, könnten wir weitermachen, bis wir 90 sind. Aber wir sind Kiss: Unsere Outfits wiegen 25 Kilo. Und deshalb habe ich Sportverletzungen wie ausgekugelte Schultern oder Knie- und Hüftprobleme. Der Unterschied zwischen mir und einem Athleten ist sehr gering. Zwischen mir und einem Typen, der einfach Gitarre spielt, aber sehr groß." Musik: "God Gave Rock´n´Roll To You" Den Abschied, der nicht der erste ist, lassen sich Kiss regelrecht vergolden: An den 106 Shows der "End Of The Road Farewell Tour" verdienen Stanley und seine Mitstreiter rund 200 Millionen Dollar. Merchandise-Einnahmen mit T-Shirts und sonstigen Souvenir-Artikeln nicht eingerechnet. Dafür präsentieren sie noch einmal die alten Klassiker: "Deuce", "Rock´n´Roll All Nite", "Beth" oder "Detroit Rock City". Stadion-Hymnen, die - findet Stanley - nie langweilig oder alt werden. Kiss feiern das Rebellische, Laute, ewig Jugendliche der Rockmusik. Zur Historie zählt auch der Gassenhauer "I Was Made For Lovin´ You". Der Song gilt als Parodie auf die Disco-Bewegung – doch das sieht Stanley ganz anders. 126 Beats pro Minute "In den späten 70ern habe ich viel Zeit im Studio 54 verbracht. Ein toller Ort zum Tanzen, auch wenn er ziemlich verrückt war. Die Musik, die da lief, hatte immer 126 Beats pro Minute, damit der DJ leicht von einem Song zum nächsten blenden konnte. Ich hörte mir das an und dachte: "So etwas kriege ich auch hin." Und bei jedem Stück ging es ums Heute, um die laufende Nacht, aber nie um die Zukunft. Also stellte ich meinen Drumcomputer auf 126 Beats pro Minute und legte los: "Tonight, I want to give it all to you…" Ich wollte einen Disco-Song schreiben. Und ich verstehe, dass einige Leute ihn nicht mögen. Aber: Es ist der größte Song, den wir je hatten. Als wir ihn Anfang Mai in Mexiko gespielt haben, sagen rund 80.000 Leute mit. Das spricht für sich." Musik: "I Was Made For Lovin´ You" Seit Ende Mai nachzuhören in sechs deutschen Mehrzweckarenen und Stadien. Denn neben den USA und England ist die Bundesrepublik der wichtigste Markt für Kiss. Mit treuen Fans – und einer besonderen Bedeutung für Stanley: Er ist das Kind einer jüdischen Familie, die Ende der 30er Jahre aus Nazi-Deutschland nach New York geflüchtet ist. Das hat Spuren hinterlassen. Paul Stanley trägt auch noch mit 67 Jahren hautenges schwarzes Leder. (Imago/ZUMA Press) "Die ersten Male, die ich in Deutschland war, hatte ich sehr gemischte Gefühle und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Aber die jungen Leute und die aus meiner Generation, sind unglaublich. Ich denke, sie haben eine Menge aus der Vergangenheit gelernt. Sie sind großzügig und warm und schämen sich für das, was beim Holocaust passiert ist. Mehr kann man sich kaum wünschen." Musik : "Beth" Stanley – das ist offensichtlich - freut sich auf die Zeit nach Kiss und will sein Dasein als Rock-Rentner in vollen Zügen genießen. Er plant weitere Ausflüge in die Malerei, will Bücher schreiben und mit seiner bisherigen Zweitband spielen: Soul Station – eine R&B-Formation, die ohne Schminke auskommt. Kiss dagegen, werden nur noch ein Musical-Projekt und eine Filmbiographie, einen sogenannten Bio-Pic in der Manier von "The Dirt" und "Rocketman" realisieren. Ein weiteres Album – einen Nachfolger zu "Monster" von 2012 - wird es jedoch nicht geben. Kein Rückzug vom Rückzug "Es macht keinen Sinn, ein weiteres Album aufzunehmen. Denn das Dilemma ist: Du wirst immer an der eigenen Vergangenheit gemessen - und Songs werden nicht über Nacht zu Klassikern. Sondern: Sie brauchen Zeit. ´Modern Day Delilah´ wird sich wohl erst in 20 Jahren mit "I Want You" messen können, aber nicht jetzt. Deswegen habe ich keine Lust, da Arbeit und Zeit zu investieren." Musik: "I Want You" Bleibt die Frage nach dem Abschluss der Abschiedstour, nach dem finalen Gig. Der ist bislang nicht terminiert, wird aber wohl – und darüber spekulieren die Fans seit Monaten - vor Weihnachten oder an Silvester 2019 in Los Angeles stattfinden. Genaue Details wollen Kiss in den nächsten Wochen bekanntgeben. Und dann, so Stanley, sei wirklich Schluss: Es wird keine Endlos-Tour wie bei den Scorpions oder Ozzy Osbourne - und es gibt keinen Rückzug vom Rückzug. Ende 2019 sind Kiss Geschichte – eine, die für immer nachhaltigen Einfluss auf die Rockmusik haben wird. Das ist die ungeschminkte Wahrheit. "Das Besondere an dieser Tour ist: Es gibt kein nächstes Mal. Von daher müssen wir das jetzt feiern. Und wir versuchen, die Leute daran zu erinnern, wie außergewöhnlich Kiss ist."
Von Marcel Anders
Nach 46 Jahren, 100 Millionen verkauften Tonträgern und Mammuttourneen durch die größten Stadien der Welt erklärt die niemals bescheidene US-Band Kiss ihren Abschied vom Musikgeschäft. Nicht zum letzten Mal - aber diesmal will sich das Quartett wirklich final abschminken. Grund: die schweren Kostüme.
"2019-06-02T15:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:51:07.056000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-band-kiss-abgeschminkt-ehrlich-jetzt-100.html
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"Dieser Durchbruch kommt einfach nicht"
Klimaforscher Mojib Latif äußert sich zu Folgen des Klimawandels (dpa / picture alliance / ) Dirk Müller: Schauen wir drei Jahre zurück: Paris 2015. Es wird als der große Wurf im Kampf gegen die Erderwärmung gefeiert. Im neuen Klimaabkommen wird erstmals international das Ziel festgeschrieben, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad. Wie kann das gelingen? Was müssen die Länder, was müssen die Menschen dafür tun? – Der jüngste Bericht des Weltklimarates vor einigen Wochen hat noch einmal gezeigt: Es muss viel, sehr viel passieren, damit das 1,5-Grad-Ziel noch erreicht werden kann. Klar ist, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine riesengroße Lücke klafft – eine Herkules-Aufgabe für die Delegierten auf der Weltklimakonferenz in Kattowitz. 1,5 Grad Celsius wärmer, dann muss Schluss sein. So heißt das Ziel des Klimaabkommens von Paris und das wird im neuen Weltklimabericht noch einmal bestätigt. Auch die Forderung nun auf der jetzigen globalen Konferenz in Kattowitz. – Der Klimawandel, unser Thema mit Klimaforscher Mojib Latif von der Universität Kiel, zugleich auch Präsident des Club of Rome in Deutschland. Guten Morgen. Mojib Latif: Guten Morgen. Müller: Herr Latif, wird es jede Stunde immer schlimmer? Latif: Ja, das kann man so sagen. Wenn man sich alleine den Gehalt an Kohlendioxid (CO2) in der Luft ansieht, dann steigt der Jahr für Jahr. Er erreicht immer neue Höchstwerte. Insofern stimmt nicht nur die Geschwindigkeit nicht beim Klimaschutz, sondern die ganze Richtung stimmt nicht, denn wir fahren genau in die verkehrte Richtung: Nicht in Richtung Senkung der Treibhausgas-Emissionen, sondern weiter in Richtung Verstärkung der Treibhausgas-Emissionen. Ein Lackmustest für die Weltgemeinschaft Müller: Dann ist das fast wie eine Langspielplatte - da mögen sich einige von uns ja noch dran erinnern, die uns zuhören -, die immer an der entscheidenden Stelle hängen bleibt? Latif: Ja, genauso ist es. In Kattowitz, das ist ja die 24. Weltklimakonferenz, und man hofft dann immer wieder auf einen Durchbruch, aber dieser Durchbruch, der kommt einfach nicht, und dann fängt man wieder von vorne an und man kann fast verzweifeln. Aber man muss auch sagen, es gibt keine andere Möglichkeit. Wir haben es beim Klimawandel mit einem globalen Problem zu tun. Deswegen lösen alle Länder gemeinsam oder gar nicht. Das ist die Krux und das ist in gewisser Weise auch der Lackmustest für die Weltgemeinschaft, ob sie wirklich bereit ist und vor allen Dingen imstande ist, globale Probleme zu lösen. Müller: Wir reden von der Weltgemeinschaft. Aber wenn selbst die Delegierten, die Umweltschützer von Umweltorganisationen und so weiter mit Flugzeugen anreisen, mit Autos anreisen, ist das das eigentliche Problem? Latif: Das denke ich nicht. Natürlich sind da zig Tausende von Beteiligten, die auch mit Flugzeugen anreisen, aber ich denke, das könnte man in Kauf nehmen, wenn am Ende wirklich was Konkretes dabei herauskommen würde. Und das ist der Knackpunkt: Es kommt nichts dabei heraus. Insofern wäre es wichtig, dass einige Länder vorangehen, wie zum Beispiel Deutschland, aber genau das passiert nicht. Müller: Die Frage, Herr Latif, zielte darauf ab, dass es vielleicht auch daran liegen kann, ist jetzt meine Frage an Sie, dass jeder einzelne gerade auch in den Industrie-, in den Wohlstandsländern immer noch nicht bereit ist, die persönlichen Konsequenzen zu ziehen. Latif: Die Frage ist ja tatsächlich, ob es sich dabei um Verzicht handelt oder nicht um einen Gewinn. Die Menschen haben immer Angst vor Veränderung und ich denke, wenn wir beispielsweise versuchen, die erneuerbaren Energien stärker in den Markt einzuführen, als das der Fall ist, wenn wir versuchen, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen, wenn wir versuchen, die Automobile so sauber wie möglich zu machen, dann sollte man das nicht ideologisch betrachten, sondern einfach als Innovationsmotor für die deutsche Wirtschaft. Ich glaube, wenn man das tut, dann würden auch viele Menschen mitgehen, weil am Ende des Tages nutzt das der deutschen Wirtschaft und sorgt dafür, dass auch in einigen Jahrzehnten Deutschland noch wohlhabend ist. Die schleichende Erderwärmung ist das große Problem Müller: Jetzt sind ja viele auch im privaten Gespräch in der Familie, zum Beispiel mit ihren Eltern, mit ihren Großeltern in der Diskussion. Da sagen viele, es war früher – früher heißt jetzt mal 60er-, 70er-, 80er-Jahre – in den deutschen Städten, gerade in den deutschen Großstädten viel, viel schlimmer, als das heute der Fall ist. Viele haben den Eindruck, die Luft ist viel besser geworden. Ein bisschen hat sich doch dann zum Positiven verändert? Latif: Ja, das Problem ist, dass wir die Ursachen nicht sehen können. Damals ging es um Luftqualität. Damals ging es um Smog - ich erinnere mich noch sehr gut -, gerade auch in Westdeutschland. Es gab den Film von Wolfgang Menge, der hieß tatsächlich auch Smog. Menschen sind krank geworden, zum Teil gestorben wegen dieser dicken Luft. Beim Kohlendioxid geht es nicht um Smog. Dieses Gas ist unsichtbar und es hat heute schon einen Wert in der Atmosphäre erreicht, den hat es nie gegeben, seit es Menschen auf diesem Planeten gibt. Das ist das große Problem: die Erderwärmung. Es ist nicht die Luftqualität, sondern es ist die Erderwärmung, die schleichende Erderwärmung, die dann zu den bekannten Auswirkungen führt, zu mehr Wetterextremen, zu steigenden Meeresspiegeln und weiteren Auswirkungen wie zum Beispiel der Versauerung der Meere. Müller: Aber zugleich reden wir über Feinstaubbelastung. Wir reden zugleich über Dieselbelastung in den Städten. Wir haben auch konkret etwas in der Nase. Wie wichtig ist das? Latif: Ja, das ist ganz wichtig, denn man kann sehr viel erreichen, indem man tatsächlich an beiden Fronten arbeitet. Gerade in China ist es ja so. In China ist ja die Luft wirklich extrem schlecht und das hat damit zu tun, dass man sehr viel Kohle verbrennt, und Kohle ist natürlich auch der Klimakiller Nummer eins. Deswegen hat China schon ein Interesse auch daran, den Ausstoß von CO2, sprich durch die Verbrennung von Kohle zu reduzieren. Aber da kommt man dann wieder auf die internationale Ebene, denn am Ende des Tages hat jedes Land nur seine eigenen wirtschaftlichen Interessen im Kopf. Und wenn so einer wie Donald Trump jetzt aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen will, dann überlegen sich die Chinesen natürlich zweimal, die ja inzwischen der größte Verursacher von CO2 sind, ob sie denn wirklich in diese Richtung gehen wollen oder nicht. Die Rolle Chinas diffenzierter bewerten Müller: Wobei es ja auch um die eigene Luft geht. Jetzt haben wir gestern gelesen, Indien und China haben die selbstgesteckten CO2-Ziele zum Teil übererfüllt. Sie können aus der Zielperspektive heraus vielleicht sogar sehr zufrieden sein. Der ARD-China-Korrespondent war neulich hier bei uns im Deutschlandfunk, kam aus Shanghai, hat gesagt, da ist die Luft fantastisch, im Grunde kann man nur noch mit dem Ladestecker herumfahren, um auch die Mobilität zu sichern. China hat da zwei Seiten. Können wir von der positiven Seite, Elektromobilität in China, profitieren? Latif: Ja, wir können schon davon profitieren. Aber es ist natürlich fast eine Geschichte aus dem Tollhaus, wenn wir da nicht vorne sind als Automobil-Land, wenn China uns vormacht, wie es geht. Aber man muss natürlich die Rolle Chinas schon etwas differenzierter bewerten. Man muss sich fragen, warum hat China das Pariser Klimaabkommen überhaupt unterschrieben, weil China hat sich zusichern lassen, dass es bis 2030 seinen Ausstoß an Treibhausgasen noch steigern darf, erst den Höhepunkt dann 2030 erreichen muss. Und wenn es dann vielleicht den Ausstoß nicht so stark steigert, wie es eigentlich könnte, dann wird das vielleicht als Erfolg gesehen, aber dem Klima nutzt das herzlich wenig. Was passieren müsste wäre, dass so schnell wie möglich die Treibhausgas-Emissionen weltweit sinken. Müller: Die Deutschen, die Bundesregierung, in der deutschen Politik haben wir es auch nicht geschafft, die gesteckten Ziele der CO2-Reduzierung zu erreichen. Woran liegt das? Latif: Das hat vor allen Dingen drei Ursachen. Auf der einen Seite hängen wir immer noch der Kohle nach. Wir schaffen es einfach nicht, insbesondere aus der Braunkohle auszusteigen. Das ist natürlich ein verheerendes Signal, weil die Klimakonferenz in Kattowitz findet in Polen statt. Polen ist ein Kohleland und kann sich natürlich wunderbar hinter Deutschland verstecken und sagt, ja wieso, Deutschland steigt nicht aus, warum sollen wir denn unseren Kohleverbrauch reduzieren. Müller: Der Verbrauch wird doch reduziert. Latif: Der Verbrauch wird reduziert, aber es reicht nicht. Wir müssen wirklich so schnell wie möglich aus der Kohle aussteigen, denn Kohle trägt immer noch erheblich zum Treibhausgas-Ausstoß in Deutschland und auch weltweit bei. Nur um eine Zahl zu nennen: Wenn Sie Braunkohle verbrennen, entsteht fast doppelt so viel CO2 pro Energieeinheit, als wenn Sie Erdgas verbrennen. Das heißt, es reicht nicht nur, jetzt zu reduzieren, sondern wir müssen wirklich relativ kurzfristig insbesondere in Deutschland aus der Kohle aussteigen. Die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen Müller: Sie haben viele Gespräche mit Prominenten, mit einflussreichen Politikern. Verstehen diese das nicht? Latif: Nein, ganz und gar nicht. Meine Erfahrung ist einfach, ich kann den sogenannten Entscheidungsträgern, egal ob es in der Politik oder in der Wirtschaft ist, nichts mehr beibringen. Die wissen alles. Aber sie stecken irgendwie fest im System, können sich nicht bewegen, aus welchen Gründen auch immer. Die Politik hat einfach Angst, Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Aber ich kann nur sagen, und das sagen alle Ökonomen auch, wenn man zu spät kommt, dann bestraft einen das Leben. Dann werden andere die alternativen Techniken entwickeln, die alternativen Fahrzeuge beispielsweise, und dann wird Deutschland das Nachsehen haben. Das heißt, für mich ist ganz wichtig, dass Klimaschutz nicht irgendwie ideologisch betrachtet wird, nicht ideologisch diskutiert wird, sondern Klimaschutz ist der Innovationsmotor Nummer eins, der dafür sorgt, dass Deutschland auch in Zukunft wettbewerbsfähig ist. Müller: Das hören wir zum Beispiel von der SPD, von der Union ja auch immer wieder. Dennoch wird es, wie wir bei der Kohlekommission jetzt im Moment sehen, bei dem Thema nicht konsequent, wie Sie sagen, umgesetzt. Liegt das daran, dass viele politische Führungseliten, und Sie sagen ja auch viele in den führenden großen Unternehmen immer noch den Widerspruch sehen zwischen Umwelt, Ökologie und Ökonomie? Latif: Ja, genau. Das ist der Punkt. Es wird zwar immer das Gegenteil behauptet, dass man Ökonomie und Ökologie miteinander versöhnen muss. Aber am Ende des Tages regiert doch die Ökonomie. Das muss man so deutlich sagen. Insgesamt wird der Umweltschutz immer noch etwas belächelt. Müller: Bei uns heute Morgen in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk der Klimaforscher Mojib Latif von der Universität in Kiel zur Weltklimakonferenz im polnischen Kattowitz. Danke für das Gespräch und Ihnen noch einen schönen Tag. Latif: Danke gleichfalls. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mojib Latif im Gespräch mit Dirk Müller
Mit großer Skepsis blickt Klimaforscher Mojib Latif auf den Klimagipfel in Kattowitz. Jahr für Jahr steige der Gehalt an Kohlendioxid in der Luft und erreiche neue Höchstwerte. "Insofern stimmt nicht nur die Geschwindigkeit nicht beim Klimaschutz, sondern die ganze Richtung stimmt nicht", sagte Latif im Dlf.
"2018-12-03T07:15:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:34.633000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/un-klimakonferenz-dieser-durchbruch-kommt-einfach-nicht-100.html
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Datenschutzbeauftrage: Ein Gesetz, eingebracht wie ein Trojaner
Datenschutzbeauftragte Marit Hansen (Carsten Rehder/dpa) Ute Meyer: Ich spreche jetzt mit der Informatikerin Marit Hansen. Sie ist Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein. Frau Hansen, wie wütend sind Sie, dass das Gesetz zur Überwachung von Messenger-Diensten ohne Rücksprache mit der Datenschutzbeauftragten des Bundes oder auch der Länder verabschiedet wurde? Marit Hansen: Ich bin nicht wütend, aber doch sehr enttäuscht. So behandelt man in einer Demokratie doch nicht diejenigen, die die Expertise dann auch einbringen sollen, und das betrifft ja insbesondere auch die Politiker, zum Beispiel den Bundesrat. "Ganz viele Fragen aufgeworfen" Meyer: Was hätten Sie denn als Datenschutzbeauftragte zu der Diskussion um das Gesetz beitragen können? Hansen: In jedem Fall hätte ich ganz viele Fragen gestellt. Die Fragen sind teilweise zwar gestellt worden, aber immer noch nicht beantwortet. Die kommen zum Beispiel aus dem Gerichtsverfahren, was damals vom Bundesverfassungsgericht entschieden wurde, wie nämlich mit Online-Durchsuchungen umgegangen werden muss. Dort wurden ganz viele Fragen aufgeworfen und auf diese Fragen habe ich die Antworten noch nicht gehört. "Wie stellt man sicher, dass da kein Missbrauch möglich ist?" Meyer: Können Sie mir mal die wichtigste Frage nennen? Hansen: Zum Beispiel: Es gibt Berufsgeheimnisträger, Anwälte beispielsweise, Ärzte und so. Wie geht man damit um? Oder wenn etwas infiltriert wird, eine Software wird irgendwo aufgebracht, nämlich eben der Staatstrojaner; wie stellt man sicher, dass da kein Missbrauch möglich ist, dass nicht Unberechtigte das auch nutzen, Trittbrettfahrer beispielsweise. Das sind Dinge, die auch vielleicht gar nicht lösbar sind. Aber welche Konzepte es da wirklich geben soll, die muss ich doch unbedingt erfahren, bevor ich irgendwie bei einem Gesetz zustimmen kann. Das würde ich auch von den Politikern erwarten. "Man bedient sich bestimmter Sicherheitslücken" Meyer: Sie spielen an auf die Kritik, dass diese Überwachung von Messenger-Diensten nur möglich ist mit einem sogenannten Staatstrojaner, der tief in das Betriebssystem von Smartphones eindringt und es möglich macht, dass wirklich alles überwacht wird. Nun möchte ich dagegen halten: Wir sind ja in einem Rechtsstaat und die Hürden für eine solche Überwachung sind hoch. Ein Richter muss sie anordnen und er tut das ja auch nur bei begründetem Verdacht. Hansen: Ja, und trotzdem muss man noch ganz viel berücksichtigen. Der Richter, das ist schon mal sehr wichtig, und das muss dann auch wirklich klappen. Aber wie soll das technisch überhaupt funktionieren? Man bedient sich nämlich bestimmter Sicherheitslücken und wenn man diese Sicherheitslücken kennt, dann würde ich erwarten, dass in unserer Informationsgesellschaft – wir basieren doch auf dieser Technik – diese Lücken normalerweise geschlossen werden statt aufbewahrt werden, gepflegt werden, damit sie ausgenutzt werden. "Kultivieren von Sicherheitslücken" Meyer: Sie reden davon, dass die Sicherheitslücken geschlossen werden. Aber wir reden hier ja auch von Verbrechensbekämpfung. Wie soll man denn Verbrechern – und wir reden hier von Schwerkriminellen, um die es geht –, wie soll man denen sonst das Handwerk legen, wenn man die nicht überwachen kann und auch die Messenger-Dienste, die ein Haupt-Kommunikationsmittel sind? Hansen: Man kann eine ganze Menge an Möglichkeiten erst mal vorsehen. Das heißt, wenn man schon weiß, wer die Schwerverbrecher sind, könnte man versuchen, in deren Bereichen durch besondere Maßnahmen – und da sind auch einige Dinge, wo ich durchaus offen bin für Vorschläge – zum Beispiel tatsächlich bestimmte Software vorzunehmen, dass zum Beispiel beim Endgerät das sichtbar wird, was an Verschlüsselung stattfindet. Diese Möglichkeiten, glaube ich, kann tatsächlich ein Staat sich auch vorbehalten. Aber das darf nicht über Kultivieren von Sicherheitslücken funktionieren. "Informationen auf der Strecke geblieben" Meyer: Entschuldigung, das habe ich nicht verstanden. Was unterscheidet das Vorgehen, das Sie jetzt vorschlagen, von dem Ausspähen von Messenger-Diensten, das jetzt verabschiedet wurde? Hansen: Wir möchten die echten Lösungen mal auf dem Tisch sehen. Und ist es etwas, was wirklich im Einzelfall mit sehr großem Aufwand für die Schwerverbrecher funktioniert und sonst nicht? Oder ist es eine Methode – und so scheint es mir eher zu sein –, die dann auszunutzen ist auch für andere, weil im Prinzip dann doch jeder Gefahr läuft, dass sein eigenes Handy betroffen ist, ob das jetzt von einem richterlichen Beschluss in einem offiziellen Verfahren gedeckt ist oder nicht. Das möchte ich noch mal dokumentiert sehen. Und durch diese Geschwindigkeit, wie schnell das jetzt alles verabschiedet wurde, da sind die Informationen hier auf der Strecke geblieben. Wir haben noch nicht die Informationen, ob das tatsächlich sich beschränken lässt auf diese wenigen Schwerverbrecher. "Im Bundestag durchgepeitscht" Meyer: Aber unterstellen Sie damit nicht den Sicherheitsbehörden, dass sie jetzt alles und jeden ausspähen? Ich wiederhole noch mal: Ich gehe davon aus, dass wir in einem Rechtsstaat sind und dass auch nur gezielt Daten ausgespäht werden und Daten, die nicht zu den Ermittlungen gehören, dann auch vernichtet werden. Trauen Sie da den Sicherheitsbehörden nicht über den Weg? Hansen: Erstens: Es muss nicht ausgenutzt werden von Sicherheitsbehörden, sondern es kann sich auch wiederum um Kriminelle handeln, die genau dieselben Lücken nutzen. Das Wissen über solche Dinge, wenn das bei den Sicherheitsbehörden vorhanden ist, ist sehr wahrscheinlich auch an anderer Stelle ebenfalls vorhanden. Nur dass man jetzt mal weiß, wir reden nicht nur über Misstrauen gegenüber Sicherheitsbehörden. Ansonsten haben Sie gesagt Rechtsstaat, finde ich genau richtig, und Rechtsstaat bedeutet, dass man diese Fragen erst geklärt hat, bevor irgendwas in einem Bundestag durchgepeitscht wird, und dass man auch die Zuständigen und die mit Wissen einbezieht, und das vermisse ich hier. Das war jetzt eigentlich ein eigener Trojaner, wie das Gesetz funktioniert hat, denn wer hätte das beim Lesen der Tagesordnung dort erwartet. "Ich bin ein wenig verunsichert" Meyer: Abseits von der stilistischen Kritik, die Sie haben, hätten Sie versucht, ein solches Gesetz komplett zu verhindern, oder würden Sie sagen, das Gesetz an sich ist richtig, aber man muss Änderungen vornehmen? Hansen: Ich halte es für möglich, dass bestimmte Dinge aus dem Gesetz auch Realität bekommen oder bekommen müssen. Aber das muss ganz genau in bestimmten Leitplanken laufen und das ist keine Frage von Vertrauen und Misstrauen jedem gegenüber, sondern das geht um rechtliche Fragen, die das Bundesverfassungsgericht aufgeworfen hat und die zu beantworten sind, und diese Antworten liegen einfach noch gar nicht vor. Deswegen hatte ja durchaus die Opposition einen Antrag gestellt, der aber abgelehnt wurde. Der hat diese Fragen auch aufgeworfen und ich bin deswegen ein wenig verunsichert. Wo sind die Antworten, wenn das so schnell jetzt alles durchgepeitscht wurde. Es hängt damit zusammen, aber generell ist es schon dem Staat erlaubt, in dieser Richtung sich eine Meinung zu bilden und Gesetze zu machen. Das würde ich nicht bezweifeln. Aber die Art, das auch ohne diese Information, die notwendig ist, und den Diskurs über Vorteile, Nachteile, über wie es wirklich geht, durchzupeitschen, das ist dann schon deswegen gar nicht auflösbar. Deswegen können wir im Detail uns auch noch gar nicht richtig dazu äußern, weil das an uns vorbeigelaufen ist. Schieflage im Datenschutz Meyer: Frau Hansen, wie finden Sie es, dass die großen Internet-Konzerne wie Google oder Facebook massenhaft an alle möglichen Daten von uns kommen und die Mehrheit der Nutzer ist auch nicht besonders besorgt darüber und schützt kaum die eigene Privatsphäre im Internet. Aber der Staat, unsere Sicherheitsbehörden, sie kommen bei der Verbrechensbekämpfung nicht an Daten. Das ist doch eigentlich eine Schieflage? Hansen: Die Schieflage ist ja schon deswegen da, weil diese Internet-Unternehmer so viele Daten für sich nutzen können, und das dürften sie normalerweise auch gar nicht tun, wenn die sich genauso wie auch die Firmen in Deutschland oder Europa vollständig an das deutsche beziehungsweise europäische Recht halten würden. Meyer: Marit Hansen war das, Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein. Das Interview habe ich vor der Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marit Hansen im Gespräch mit Ute Meyer
Die Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, Marit Hansen, wirft der Bundesregierung Versäumnisse bei der Ausarbeitung des Gesetzes zur Online-Überwachung vor. Viele Fragen, die das Bundesverfassungsgericht schon gestellt hat, seien überhaupt nicht beantwortet, sagte Hansen im Dlf.
"2017-06-22T23:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:33:42.576000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-sicherheitsgesetze-datenschutzbeauftrage-ein-gesetz-100.html
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Der Weltraum als Denkmuster der Politik
Pluto und Charon vor einigen Tagen (NASA) 4,2 bis 7,5 Milliarden Kilometer weit ist Pluto von der Erde weg - eine eigentlich unvorstellbare Zahl. Doch allmählich bekommen wir Routine im Umgang mit eigentlich unvorstellbaren Zahlen. Wie war das mit den europäischen Finanzen, mit diversen Rettungsschirmen, Notfallkrediten, Hilfsprogrammen? Der Weltraum ist das Denkmuster der Politik, oder wie die Angelsachsen sagen: "The sky ist the limit." Deshalb ist das Pluto-Projekt noch um ein paar Deutungsmöglichkeiten reicher als die normale Raketenschießerei ins All. Deren Attraktivität beruht ja im Wesentlichen auf der Lust meist männlicher Menschen, auf weit entfernte Gegenstände zu zielen. Das ist ein offenbar naturgegebenes Bedürfnis, welches evolutionsgenetisch mit dem Jagdtrieb und prähistorischen Ernährungsnotwendigkeiten zusammenhängen mag, jedenfalls gibt es vom Stein- und Speerwurf über die Armbrust und die Feuerwaffe bis zur Atlas V-Trägerrakete eine allumfassende Faszination des Visierens, Schießens und Treffens – eine Faszination, die allerdings, wenn zwischen Start und Ziel des Projektils neun Jahre Flugzeit liegen, ins Astronomische gesteigert wird. Ein Funksignal braucht fünf Stunden, um vom Pluto bis zu uns zu gelangen, das heißt, zehn Stunden würde jede Antwort dauern, wenn man mit jemandem auf Pluto telefonieren wollte. Doch so reizvoll exotisch solche Zeitverhältnisse im Sinne der vielbeschworenen Entschleunigung erscheinen mögen, auch sie kommen uns auf politischem Gebiet nur zu bekannt vor. Telefoniert die Euro-Gruppe nicht grundsätzlich zum Pluto-Tarif mit maximal verzögertem Signal - und das schon während ihres jahrelangen Fluges durch den leeren Raum? Gewiss, die "New Horizons"-Expedition verdankt sich auch unserem Wissensdurst und der faustischen Suche nach dem absolut Neuen, Unerhörten und noch nie Gesehenen. Fast auf die Stunde genau 150 Jahre, bevor die Pluto-Sonde gestern ihr Ziel erreichte, waren sieben Leute erstmals auf das Matterhorn geklettert, den damals letzten noch unbezwungenen Alpengipfel. Sie waren mit einer rivalisierenden Mannschaft fast um die Wette gerannt. Was für eine monumentale Sinnlosigkeit lag in dieser Eile, da doch die Berge schon so lange dastanden! Auch die aktuelle Pluto-Aufregung ist relativ sinnlos; der dichte Taktschlag irdischer Nachrichtengebung passt so gar nicht zu den interplanetarischen Zeitverhältnissen. Aber dass wir diese Inkommensurabilität überhaupt einmal spüren, bildet vielleicht den wichtigsten Gewinn der ganzen Mission. Im Übrigen können wir Pluto jetzt abhaken, so wie es Edward Whymper mit dem Matterhorn machte. Auf der Erde gibt es so gut wie kein unbetretenes Gebiet mehr; deshalb müssen wir einfach immer weiter fliegen.
Von Burkhard Müller-Ullrich
Der Flug einer Raumsonde zum Zwergplaneten Pluto bietet einige Ansatzpunkte für Vergleiche mit der Politik auf der Erde. So scheint es, dass in der Griechenlandkrise grundsätzlich nach Pluto-Bedingungen kommuniziert wird: Ein Funksignal braucht fünf Stunden, zehn Stunden dauert es bis zur Antwort.
"2015-07-15T17:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:02.218000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/besuch-bei-pluto-der-weltraum-als-denkmuster-der-politik-100.html
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China will Handelskrieg verhindern
Sanft sprechen, aber den dicken Knüppel dabei haben, würden Amerikaner dazu sagen: Chinas Vize-Außenminister Zhang Yesui reagiert auf US-Präsident Trump. (Imaginechina) Zuckerbrot und Peitsche. So lässt sich Chinas Reaktion auf die von der US-Regierung angekündigten Schutzzölle beschreiben. Oder wie es die Amerikaner gerne zu sagen pflegen: Speak softly and carry a big stick. Also sanft sprechen aber einen dicken Knüppel in der Hinterhand haben. Chinas Vize-Außenminister Zhang Yesui betonte am Sonntag, sein Land wolle keinen Handelskrieg mit den USA, um danach aber direkt anzuschließen, dass man im Zweifelsfall nicht tatenlos zusehen werde. Gegebenenfalls könne man mit nötigen Maßnahmen reagieren. Konkret wurde Zhang nicht, aber es wäre für seine Regierung ein Leichtes, die Einfuhr bestimmter US-Produkte zu erschweren – von Lebensmitteln über IT-Zubehör bis hin zu Viehfutter und Autos. Ohrfeige für Chinas auf Gesichtswahrung bemühte Diplomaten Klar ist: In diversen Wirtschaftsabteilungen des chinesischen Regierungsapparates dürfte es hoch her gehen dieser Tage. Denn einen Handelskrieg mit der wichtigsten Wirtschaftsnation der Welt will man in Peking mit allen Mitteln vermeiden. Deswegen reiste vergangene Woche Liu He zur Vermittlung nach Washington. Er ist der wichtigste Wirtschaftsberater von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Doch noch während sich Liu He in der US-Haupstadt aufhielt, machte Donald Trump seine Ankündigung in Sachen Strafzölle: 25 Prozent auf Import-Stahl, zehn Prozent auf ausländisches Aluminium. Eine Ohrfeige für die stets auf Gesichtswahrung bemühten chinesischen Diplomaten. Chinas fast allesamt regierungsnahen Wirtschatfswissenschaftler betonen immer wieder die Rolle der EU in einem möglichen US-chinesischen Handelskonflikt. "Nichts ist unersetzlich" "This can be a great opportunity for China and Europe." Europa könne profitieren, sagt zum Beispiel Ding Yuan von der China Europe International Business School in Shanghai: "Chinas und Europas Wirtschaft ergänzen sich. Für viele US-Produkte findet man auch entsprechende aus Europa. Deswegen könnte es zu einer Goldenen Ära zwischen Europa und China kommen. Airbus-Flugzeuge könnten Boeings ersetzen. Ähnliches ist vorstellbar im Automobilsektor. Nichts ist unersetzlich." Europäische Firmen habe es auch in China schwer Ganz so golden wie Wirtschaftsprofessor Ding sieht man in Europa die ganze Angelegenheit allerdings nicht. Chinas Wirtschafts- und Handelspolitik wird zunehmend kritisch gesehen. Nicht nur, weil China zum Beispiel auch Europa mit billigem Stahl, billigen Solarzellen und anderen Produkten überschwemmt. Sondern vor allem, weil es europäische Firmen in China zunehmend schwer haben, Geschäfte zu machen. Der freie Handel, für den die Pekinger Führung in Sonntagsreden immer wieder wirbt, ist in China alles andere als frei. Und der Trend geht eindeutig in eine noch unfreiere Richtung.
Von Steffen Wurzel
Nicht nur Europa, auch China ist alarmiert von den angekündigten US-Schutzzöllen auf Aluminium und Stahl. Einen Handelskrieg wolle man nicht, sagt die Führung. Allerdings droht sie im selben Atemzug mit Gegenmaßnahmen.
"2018-03-06T12:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:42:05.879000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trumps-strafzoll-plaene-china-will-handelskrieg-verhindern-100.html
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Castles Made Of Sand
Porträt des US-amerikanischen Rocksängers und Gitarristen Jimi Hendrix, aufgenommen in seiner Londoner Wohnung (undatierte Aufnahme). (dpa) Schon auf der ersten LP der Jimi Hendrix Experience 1967 gab es deutliche Jazz-Anklänge, eine traditionelle zwölftaktige Blues-Nummer, Klangexperimente, wie sie damals nur im Studio zu realisieren waren, Hardrock und eine zart dahinfließende, ätherische Ballade. Trailer zur Langen Nacht über Jimi Hendrix: 1969 hatte ihm seine Fantasie dann den Begriff "Electric Church Music" zugeflüstert - Musik als eine Art Religion. Mit 24 Jahren schrieb er den Song "Castles Made Of Sand" über die Vergänglichkeit menschlichen Strebens und Fühlens. In dessen Fatalismus offenbarte sich aber auch die Hoffnung auf ein Wunder. Als Jimi Hendrix am 18. September 1970 im Alter von 27 Jahren starb, hatte er Hunderte Konzerte gegeben, drei Studioalben, ein paar Singles und eine Liveplatte veröffentlicht. Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF / Manuskript als Text. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema. Spurensuche "Blues war immer da, war immer zu spüren, was die Melodik anging. Andererseits, man kann sich natürlich wundern, wenn man ein Stück hört wie "Third Stone From The Sun", Jazz, das ist einfach ganz klarer Jazz-Einfluss." (Lothar Trampert) Robert Wyatt war Schlagzeuger und Sänger der britischen Band Soft Machine und 1968 im Vorprogramm der Jimi Hendrix Experience auf Tour durch die USA. Er konnte jeden Abend erleben, wie Hendrix alle möglichen Improvisationswege beschritt, und Schlagzeuger Mitch Mitchell immer auf Augenhöhe mit dabei war. Robert Wyatt als Schlagzeuger der Band "Soft Machine" Im Jahr 1967 - die Band ist als Vorgruppe der Jimi Hendrix Experience 1968 durch die USA getourt. (Imago / Zuma / Keystone) "Der eigentliche Mittelpunkt der Band war Noel Redding. Das war so die stabile Achse, und darum hat sich einiges gedreht. Und Mich Mitchell hat einfach ein unheimlich dichtes, swingendes Schlagzeug gespielt. Und Hendrix hat mindestens zwei Gitarren auf einmal gespielt, und er hat dazu gesungen. Und er hat Räumlichkeit erzeugt. Das war ja auch eine Sache, die die Band unterschieden hat. Einfach so in der Klanglichkeit, und dann ein physisches Erleben dieser Musik möglich gemacht. Durch die Lautstärke." (Lothar Trampert) Klangforschung und eine besondere Art von Lautstärke "Für alle großen Musiker gilt: was sie auszeichnet und besonders macht, ist vor allem ihr Sound. Selbst wenn jemand genau dieselbe Gitarre und denselben Verstärker benutzt hätte, und in demselben Raum gespielt hätte: Keiner hätte wie Jimi Hendrix geklungen, auch wenn er dieselben Töne gespielt hätte. Genauso unverwechselbar wie sein Wesen war auch sein Sound. Der war einfach sofort unwiderstehlich." (Steve Swallow, Jazz-Bassist und Komponist) "Wow, der klingt aber brutal. Das haut richtig rein, das ist ein brutaler Sound. Und das dauerte eine Weile, nach öfter Hören, bis man merkte, der Sound ist gar nicht brutal, sondern der ist kraftvoll energetisch, aber der schließt einen anders auf als die anderen Gitarren das bis dahin taten." (Klaus Theweleit) "Wir teilten uns einen Proberaum, wir hatten ja auch dieselben Manager. Und sofort war da dieser unglaubliche Sound, bevor er überhaupt einen Song spielte, einfach nur beim Stimmen der Gitarre, und was ganz außergewöhnlich war: Er konnte die Rückkoppelungen kontrollieren. Dann schwappte so eine Art 360-Grad-Klang im Proberaum um einen herum. Aber kombiniert mit einer rasanten rhythmischen Präzision und Kraft wie in der Musik von James Brown." (Robert Wyatt, von der englischen Band Soft Machine) Lothar Trampert: "Elektrisch! Jimi Hendrix - Der Musiker hinter dem Mythos" Sonnentanz, 2. Auflage, Januar 1998, ISBN: 978-3926794307 Lothar Trampert beschäftigt sich als Redakteur des Fachmagazins "Gitarre und Bass" seit weit mehr als 20 Jahren mit den Instrumenten und ihren Protagonisten. Er hat in seiner musik-wissenschaftlichen Magisterarbeit die verschiedenen Werkzeuge von Jimi Hendrix sehr detailliert beschrieben. "Hendrix' bevorzugte E-Gitarre, die Stratocaster, hatte noch einen Hebel, mit dem man die Seitenspannung verändern konnte. Jetzt haben frühere Bands das ganz dezent eingesetzt und den Hebel fast nur touchiert, also das Vibrato auf die Musik gesetzt. Hendrix aber hat es in die Linien, die er gespielt hat, in die Akkorde, in die Mixturen aus Akkorden und Linien integriert. Er hat damit Übergänge geschaffen. Er hat Töne fast glissandomäßig aneinandergereiht. Er hat die Gitarre auch schrecklich verstimmt damit oft." (Lothar Trampert) "Normalerweise will man Feedback vermeiden, weil es einfach brutal und schrill klingen kann. Aber Hendrix entdeckte darin ein melodisches Potential, mit dem Gefühle ausgedrückt werden können. Und er lernte, dieses Techno-Heulen zu kontrollieren und damit eine Art von Melodien zu erzeugen." (Greg Tate) Rainer Höltschl, Klaus Theweleit: "Jimi Hendrix - Eine Biografie" Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2008, ISBN: 9783871346149 Klaus Theweleit und Rainer Höltschl weisen in ihrer Hendrix-Biografie darauf hin, dass Hendrix sich in seinen extremeren Klangabenteuern womöglich von Spielpraktiken im avantgardistischen Jazz hat inspirieren und oder bestärken lassen. Bei einem Kurzurlaub 1969 in Marokko trifft er zum Beispiel das Art Ensemble of Chicago, und hört dort auch ihre Musik. Jimi Hendrix legte außerdem immer großen Wert auf ein prägnantes und einfallsreiches Spiel als Rhythmusgitarrist. Inspiriert haben ihn dabei vor allem Curtis Mayfield und Jimmy Nolen aus einer der Bands von James Brown. Seine Spezialität war es, dabei auch noch kurze melodische Einwürfe in die Akkordfolgen einzubauen, so dass für manche der Eindruck entstand, es spielten zwei Gitarristen. "Hendrix standen brandneue Verstärker und Technologien zur Verfügung, die gerade zu dem Zeitpunkt entwickelt worden waren, als er nach England kam: Die 100 Watt-Gitarrenverstärker der Firma Marshall mit dem dazu passenden Lautsprecherturm. Wenn man zwei oder drei davon kombinierte, konnte man in einer großen Halle soviel Klangdruck erzeugen wie ein ganzes Sinfonieorchester. Und wenn Du diese Verstärker bis zum Anschlag aufdrehst oder darüber hinaus, schwingen noch zusätzlich sehr intensive Obertöne mit." (Greg Tate) Greg Tate: "Midnight Lightning: Jimi Hendrix and the Black Experience"2003, Chicago Review Press, ISBN: 9781556524691Greg Tate ist US-amerikanischer Autor und Leiter der Band "Burnt Sugar". Er beschäftigt sich viel mit Musik, gilt als einer der "Großväter des Hip-Hop-Journalismus", veröffentlichte zahlreiche Beiträge in bekannten amerikanischen Zeitungen und Magazinen, unter anderem der "New York Times" und der "Washington Post". Klanggemälde Jimi Hendrix hat mit Begeisterung die Möglichkeiten der Tonstudiotechnik genutzt, die sich seit Mitte der 60er-Jahre rasant entwickelten. Die ersten Stücke der Jimi Hendrix Experience wurden noch auf Tonbandgeräten aufgenommen, die nur vier einzelne Spuren boten. Hendrix hatte erneut Glück – er konnte schon bald in Studios mit acht- und später 16-Kanal-Tonbandgeräten arbeiten. Das kam seinem Spieltrieb und Ausdrucksbedürfnis enorm entgegen. Lothar Trampert betont, dass die Begegnung mit dem Toningenieur Eddie Kramer zu den glücklichen Fügungen gehört, die sich zu Beginn von Jimi Hendrix' Karriere häufen. "Der Hendrix einfach auch ermöglicht hat, Vorstellungen, die er theoretisch hatte, praktisch umzusetzen. Sei es jetzt irgendwelche Unterwasser-Sounds und frühe Phaser-Effekte oder diese ersten Wah-Wah-Versuche mit Handarbeit am Filter und alles Mögliche." Eddie Kramer saß auch zusammen mit Jimi Hendrix am Mischpult, als sie 1968 in einem New Yorker Studio eine Fülle von Klangereignissen und Effekten ausbalancierten, um ein Unterwasser-Science-Fiction-Märchen angemessen zu vertonen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Die kurze, pfeifende Rückkopplung eines Kopfhörers, der zu nahe an ein angeschaltetes Mikrophon geraten war, inspirierte die beiden dazu, diesen an sich unerwünschten Effekt gezielt einzusetzen. Irgendetwas in dem Klang erinnerte wohl an Möwengeschrei. Die pfeifenden Geräusche aus den Kopfhörern, wurden dann noch durch Echoschleifen geschickt und in die Klang-Collage integriert. Die Rolle der Mutter "Dad war sehr streng und korrekt, meine Mutter dagegen warf sich gern in Schale und zog um die Häuser. Sie trank viel und achtete nicht auf sich – trotzdem war sie eine tolle Mutter. Meine Eltern stritten und trennten sich andauernd, sodass mein Bruder und ich von einer Wohnung zur andern ziehen mussten. Ich lebte meist bei meiner Tante oder bei meiner Großmutter und war ständig darauf vorbereitet, wieder mal still und heimlich zu ihr nach Kanada abhauen zu müssen. Meine Großmutter ist übrigens Indianerin, in ihren Adern fließt Cherokee-Blut." (Jimi Hendrix) Im Februar 1958, Jimi Hendrix war damals gerade 15 Jahre alt, starb seine Mutter Lucille mit nur 32 Jahren. Kurze Zeit später soll der Junge angefangen haben, eigene Songs zu schreiben. Seit dem Tod seiner Mutter vernachlässigt er die Schule, Musik wird ihm immer wichtiger. Mit 16 bekommt er von seinem Vater die erste E-Gitarre geschenkt. In der Jimi Hendrix-Dokumentation "Jimi Hendrix – The Guitar Hero" lässt der Regisseur Jon Brewer eine der Frauen zu Wort kommen, die sich um das Kind und den Heranwachsenden gekümmert hatten: Delores Hall Hamm. Sie ist die Schwester von Hendrix' Mutter Lucille, Jimis Tante. Ihr Fazit: "Ich glaube wirklich, das war sein Ziel: heimkehren und seine Mutter wiedersehen. Er wollte immer mit ihr zusammen sein." "Die Vorstellung von der Mutter als Beschützerin und Engel findet man auch in seinem Werk wieder, aber auch, dass sie sehr fern, launenhaft und unerreichbar ist. Es ist eine schwierige Beziehung. Es geht nicht um den Gegensatz Heilige versus Hure, eher um Engel und Avatar. Wegen der Irrungen und Wirrungen seines Lebens suchte er sich Beziehungen zu Frauen, die sehr stark waren und die Rolle von Beschützerinnen übernahmen." (Greg Tate) Die dunkle Seite "Love and Peace" auf der Ostseeinsel Fehmarn im Jahr 1970. (picture alliance / Dieter Klar) "Manche Abende sind echt schlimm. Da schlagen wir unsere Instrumente, die wir sonst heiß und innig lieben, bloß deshalb kaputt, weil sie nicht so wollen wie wir. Weil sie uns nicht gehorchen. Deshalb töten wir sie gewissermaßen. Aus einer Art Hassliebe heraus, als ob die Freundin plötzlich fremdgeht. Nur können sich die Instrumente nicht wehren. Das ist, wenn man so will, meine dunkle Seite. Egal, wie nett und freundlich man ist – jeder trägt tief drinnen finstere, hässliche Dinge mit sich herum. Meine Dämonen kommen auf der Bühne zum Vorschein – so nimmt wenigstens niemand Schaden. Das funktioniert auch beim Publikum. Wir versuchen, die Gewalt aus den Köpfen der Leute zu holen. Wenn wir aggressive Musik spielen, setzt sie die Aggressivität des Publikums frei, ohne dass diese in eine Schlägerei mündet – sie wird wie mit Samt eingehüllt. Auch Trauer kann aggressiv sein." (Jimi Hendrix) Im Januar 1968 zerlegte Jimi Hendrix ein Hotelzimmer in Schweden und holte sich Schnittwunden, als er eine Fensterscheibe einschlug. Statt zwei waren fünf Polizisten nötig, um ihn festzunehmen. Abgesehen von diesem Zwischenfall schien körperliche Gewalt in Hendrix' Privatleben nicht vorzukommen. Und Gewalt gegen Sachen ist das eine. Spätestens als etwa acht Jahre nach Hendrix' Tod in der ausführlichen Hendrix-Biografie von David Henderson Schilderungen von Gewalt gegen Frauen auftauchten, verlor der Hendrix-Mythos seine Unschuld. "Wir wollen von dem frauenfeindlichen Verhalten einiger unserer großen Künstler eigentlich gar nichts wissen, egal, ob von Miles Davis oder Jimi Hendrix.. Aber das gehört nun mal zu ihrer Geschichte, das lässt sich nicht tilgen. Was bleibt, ist: Durch ihren eigenen Tränenschleier hindurch können sie diese erstaunlichen Töne hervorbringen, mit denen sie uns entzücken und verzaubern. Es geht dabei nicht darum, etwas zu entschuldigen." Autobiografischer Song "Castles Made Of Sand" Mit 24 Jahren nahm Jimi Hendrix den Song "Castles Made Of Sand" auf. Er gilt als einer der am stärksten autobiografisch geprägten Songs von Jimi Hendrix. In der ersten Strophe scheinen sich die Streitigkeiten der Eltern zu spiegeln, und in der jungen Frau, die in der letzten Strophe im Rollstuhl sitzt, sehen viele seine Mutter Lucille symbolisiert. Nach dem Fatalismus der drei Strophen und des Refrains offenbart sich am Ende aber auch die Hoffnung auf ein Wunder. Die letzte Strophe von "Castles Made Of Sand": "Ein junges Mädchen, ihr Herz war ein Stirnrunzeln, war verkrüppelt fürs Leben und konnte keinen Ton sprechen, und sie wünschte und betete, sie könnte aufhören damit, so beschloss sie zu sterben. Sie zog ihren Rollstuhl an den Rand vom Strand, und lächelte ihre Beine an: "Ihr werdet mir nicht mehr lange wehtun." Aber ein Anblick, den sie noch niemals sah, ließ sie aufspringen, "Sieh, ein goldgeflügeltes Schiff kommt vorbei", und es hörte überhaupt nicht auf, es fuhr, es fuhr und so gleiten Schlösser, die aus Sand gebaut sind, am Ende in die See." (Übersetzung von Klaus Theweleit) Jimi Hendrix und das Militär Widersprüchlich wirken manche Aussagen von Jimi Hendrix zu Militär, militantem Widerstand und Vietnam-Krieg. Schließlich war er ein Jahr bei der Armee gewesen. 1967 hatte er das US-Engagement in Vietnam noch gerechtfertigt, zwei Jahre später widmete er ein Konzert den Kriegsdienstverweigerern und Anfang 1970 trat er bei einem Benefiz-Konzert zugunsten der Anti-Vietnamkrieg Proteste auf. Hendrix spielte seine Adaption der US-amerikanischen Hymne erstmalig während einer USA-Tournee in der zweiten Hälfte des Jahres 1968, dem Jahr in dem unter anderem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet worden waren. Seine geräuschhafte Neu-Interpretation der Hymne war seitdem Teil seines Live-Repertoires. Am 10. Januar 1969 baute Hendrix in Kopenhagen die US-amerikanische Nationalhymne in das kontrollierte Feedback-Kreischen seines Songs "I Don't Live Today" ein. Nach dem Auftritt fragte ihn ein dänischer Reporter nach der Bedeutung. "Unsere Interpretation reflektiert, was wir in Amerika in letzter Zeit erlebt haben", meinte Hendrix. "Das Land ist kurz davor durchzudrehen und zu explodieren. Ein Typ hat sich gerade beschwert, dass es hier in Dänemark so langweilig ist. Die Hälfte der Amerikaner wäre froh, wenn sie hier leben und sich zu Tode langweilen könnten. Ihre ganze Zeit nur damit verbringen würden, nur mit Mädchen zu schlafen, Pornohefte zu lesen, das schöne Meer anschauen, die saubere Luft atmen." Körperverwandlungen und andere Wirkungen "Damals gab es noch keine Kopfhörer. Wir haben uns die eine Box ans Ohr gelegt, und die andere Box auf den Magen. Und dann die ganze Musik durchgejagt. Das war absolut stark, ja. Jimi Hendrix habe ich nur so gehört." (anonymer Fan) Der afroamerikanische Autor und Musiker Greg Tate spürt in Hendrix Musik deutliche Anteile von Aggression, und, wie Klaus Theweleit, die Kraft, Körper zu verändern. Aber pazifistische Musik spielt Hendrix seiner Meinung nach nicht. "Die emotionale Grundhaltung der Musik ist voller Zorn, Empörung und Rebellion. Sie hinterfragt und überschreitet alle möglichen Vorschriften und Grenzen – in punkto Sprache, Kleidung, und wie man mit Autoritäten umgeht. In seiner Kunst ist Hendrix so aggressiv wie andere auch, aber seine Inszenierung auf der Bühne unterscheidet sich davon: Er ist wie eine Figur aus einem Märchen, er ist ein romantischer Dichter, ein Troubadour, er stellt all diese Vorstellungen von hart und weich, männlich und weiblich infrage." Schwarz und Weiß Jimi Hendrix bei seinem Auftritt beim Popfestival auf der Ostsee-Insel Fehmarn 1970. (picture-alliance / dpa) Jimi Hendrix und der Bassist Billy Cox hatten sich 1961 in der Armee in Fort Campbell, Kentucky, kennengelernt. Nach ihrer Entlassung 1962 hatten sie mit ihrer gemeinsamen Band für eine Weile ein Engagement in dem Club "The Pink Poodle" in Clarksville, Tennessee. Nach einem Gig dort bat Hendrix Cox, ihn am nächsten Morgen bei seiner Freundin Joyce in Springfield abzuholen. Billy Cox erinnert sich: "Er erzählte mir dann, dass er nach der Mitfahrgelegenheit in der Nacht noch etwa eineinhalb Kilometer zu Fuß gehen musste. Und plötzlich stoppt hinter ihm ein kleiner Lkw mit Typen, die ihn rassistisch beschimpfen und bedrohen. Es ist halb drei in der Nacht, keiner sonst ist da, aber glücklicherweise war neben der Straße ein Maisfeld. Er rennt also in das Feld, die Typen springen aus dem Wagen, ihm hinterher. Die Typen haben endlos lange nach ihm umsonst gesucht. Er lag ganz in der Nähe auf dem Boden, bewegungslos, seine Gitarre unter ihm. Irgendwann hörte er, wie sie in den Laster einstiegen und davonfuhren. Das Nächste, was er mitbekam, war der Sonnenaufgang, er war auf seiner Gitarre eingeschlafen. Jedes Mal, wenn ich höre, wie Jimi in "Red House" singt "ist schon OK – ich hab' ja noch meine Gitarre" muss ich daran denken, wie Jimi sich in Todesangst mitten in der Nacht in einem Maisfeld versteckt hat." Greg Tate führt in seinem Buch aus, dass Jimi Hendrix mit der prominenten Rolle der Gitarre in seiner Musik die Orthodoxie schwarzer Musik infrage stellte, nach der die Stimme das wichtigste Ausdrucksmittel ist. Und auch die traditionelle Vorstellung von schwarzer Männlichkeit: "Flip Barnes hatte einen Cousin, der damals bei den Black Panthers mitmachte, und der sagte ihm, Du musst Dir unbedingt Jimi Hendrix ansehen. Man muss dazu sagen, dass Hendrix damals bei den Schwarzen im übertragenen Sinn für eine Art Oreo gehalten wurde. Außen schwarz, innen weiß. Die ganze Werbung, alle Photos zeigten Hendrix ja immer zusammen mit lauter Weißen. Es sah so aus, als ob er mit dem Kampf der Schwarzen gegen all das Unrecht nichts zu tun hatte. Für sie war er definitiv ein Sonderfall. Flip hatte aus diesem Grund gar keine Lust, sich ein Hendrix-Konzert anzusehen aber sein Cousin, der, der bei den Black Panthers war, überzeugte ihn schließlich doch. Und Hendrix hat ihn total erwischt – lebenslang." Möglichkeiten von Transzendenz "Das einzige woran ich heute noch glaube, ist die Musik. Sie wird den Weg bereiten, denn Musik ist für sich genommen schon spirituell. Wie die Wellen des Ozeans." (Jimi Hendrix) "Viele große Komponisten in allen Epochen haben so etwas Missionarisches in sich, das Gefühl, eine spirituelle Mission zu haben. Ihnen ist klar, dass sie die Fähigkeit haben, die Seelen der Menschen ganz direkt und ohne Umwege anzusprechen." (Greg Tate) Als Jimi Hendrix am 18. September 1970 im Alter von 27 Jahren unter wohl nie mehr genau zu klärenden Umständen in London starb, hatte er hunderte Konzerte gegeben, drei Studioalben, ein paar Singles und eine Live-Platte veröffentlicht. Aus den knapp vier Jahren seiner internationalen Karriere wurden seither von den offiziellen Nachlassverwaltern immer wieder neue oder scheinbar neue Aufnahmen veröffentlicht. Produktion dieser Langen Nacht Autor: Michael Frank, Regie: Jan Tengeler, Sprecher: Claudia Mischke, Heiko Obermöller, Ton und Technik: Eva Pöpplein, Oliver Dannert, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch Über den Autor: Michael Frank arbeitet seit 1989 als Journalist und Moderator für den Deutschlandfunk. Er beschäftigt sich vor allem mit verschiedenen Musikthemen, so mit Rock, Folk, Jazz und Neuer Musik. Für seine Sendung "Mit Zuma und Soul" (Dlf "Rock et cetera") erhielt er 1994 den Civis-Preis.
Von Michael Frank
Ein abenteuerlicher Umgang mit der E-Gitarre, neue Klanggemälde und eine hohe Sensibilität als Komponist zeichneten Jimi Hendrix aus. Er wurde einer der bedeutendsten Gitarristen der Musikwelt - und starb bereits mit 27 Jahren.
"2017-11-25T23:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:57:46.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lange-nacht-zum-75-geburtstag-von-jimi-hendrix-castles-made-100.html
91,727
Neue Chance auf Frieden
Salva Kiir soll Südsudans Präsident bleiben. (dpa / picture-alliance / Daniel Getachew) Der Bürgerkrieg im Südsudan kommt womöglich bald zur Ruhe. Der südsudanesische Präsident Salva Kiir und der Rebellenführer Riek Machar haben sich nach viertägigen Verhandlungen in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba auf eine sofortige Waffenruhe geeinigt. Außerdem wurde über ein Abkommen zur Machtteilung beraten. Dabei kam es laut Machar allerdings zu keiner endgültigen Einigung, sondern nur zu einem vorläufigen Teilabkommen - Kiir soll Staatschef bleiben, Machar sein Stellvertreter werden. Kiirs Gegenspieler Riek Machar (dpa / picture-alliance / UN) Die letzen Fragen zu einer gemeinsamen Regierung sollen nun bei weiteren Gesprächen am 20. Februar geklärt werden. Die ostafrikanische Staatengemeinschaft IGAD, die die Friedensverhandlungen überwacht, setzte den beiden Konfliktparteien ein Ultimatum bis zum 5. März - dann soll ein endgültiges Friedensabkommen unterzeichnet werden. Bislang 20.000 Tote Seit Dezember 2013 kämpfen Kiir und Machar im Südsudan um die Macht des Landes, das erst 2011 seine Unabhängigkeit erklärt hat. Beide standen schon einmal gemeinsam an der Spitze der Regierung - Kiir als Staatschef, Machar als sein Stellvertreter. Nach einem angeblichen Putschversuch Machars begannen die Kämpfe zwischen Kiir-treuen Soldaten und den Rebellen, die Machar unterstützten. Seitdem hatten sich die beiden Anführer schon mehrmals auf Waffenruhen geeinigt, die jedoch alle schon nach kurzer Zeit wieder gebrochen wurden. Bislang kamen bei den Konflikten nach Schätzungen 20.000 Menschen ums Leben. (mik/bor)
null
Seit der Unabhängigkeit 2011 herrschen im Südsudan Chaos und Gewalt - der Bürgerkrieg hat zehntausende Menschenleben gefordert, Millionen sind geflohen. Nun könnte es zu einem Ende der Auseinandersetzungen kommen.
"2015-02-02T14:14:00+01:00"
"2020-01-30T12:19:53.853000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suedsudan-neue-chance-auf-frieden-100.html
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Evakuierungsflüge aus dem Sudan
Mit einem Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe bringt die Bundeswehr deutsche Staatsbürger aus dem Sudan in Sicherheit (picture alliance / dpa / Moritz Frankenberg)
Capellan, Frank
Seit mehr als einer Woche liefern sich zwei Militärblöcke im Sudan blutige Kämpfe. Wer einen ausländischen Pass hat, soll von internationalen Kräften ausgeflogen zu werden. Auch die Bundeswehr hat ihre Rettungsflüge begonnen - noch ohne Mandat.
"2023-04-24T12:12:10+02:00"
"2023-04-24T12:25:07.298000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundeswehreinsatz-im-sudan-laeuft-dlf-38c58770-100.html
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Aufrüstung im Osten
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel. (AFP / Thierry Charlier) Russland soll von einem Angriff gegen die östlichen Bündnispartner abgehalten werden - das ist die Botschaft, die hinter der Grundsatzentscheidung der Verteidigungsminister steht. Die zusätzliche Präsenz im Osten soll nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg über eine multinationale Truppe organisiert werden. So solle deutlich gemacht werden, dass ein Angriff gegen einen Alliierten als Angriff gegen alle Alliierten gewertet werde. Für einen solchen Fall soll Militärmaterial in der Region gelagert und die Infrastruktur so ausgebaut werden, dass eine rasche Verstärkung der Kontingente vor Ort möglich wäre. Über Stärke und Zusammensetzung der Mission müssen die Militärplaner laut Stoltenberg noch entscheiden. Die abschließende Entscheidung soll beim Nato-Gipfel im Juli in Warschau fallen. Aus Bündniskreisen heißt es, im Gespräch sei eine Stationierung von bis zu 1000 Soldaten pro Land. Als Standorte sind demnach neben den baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen auch Polen, Bulgarien und Rumänien vorgesehen. In diesen Ländern baut die Nato bereits seit dem vergangenen Jahr regionale Hauptquartiere. Sie sind allerdings lediglich mit wenigen Dutzend Soldaten besetzt. EU und Nato: Gemeinsam gegen Cyberkriminalität Bei dem Treffen beschlossen Nato und EU außerdem eine engere Zusammenarbeit im Kampf gegen Cyber-Terrorismus. Beide unterzeichneten eine Vereinbarung, die einen Austausch technischer Informationen zwischen den Abwehrzentren beider Seiten vorsieht. "Unsere Krisenreaktionsteams erhalten einen strukturierten Rahmen für den Austausch von Informationen und bewährten Abwehrpraktiken", so Stoltenberg. Ziel sei es, Cyber-Angriffen vorzubeugen und ihre Bekämpfung zu verbessern. Noch keine Entscheidung gibt es in der Frage, ob und wie die Nato sich in den Kampf gegen Schlepper einbringt. Konkret ging es bei dem Treffen um eine verstärkte Präsenz im Seegebiet zwischen Griechenland und der Türkei, um damit Schlepperbanden das Geschäft zu erschweren. Die Idee geht auf Bundeskanzlerin Angela Merkel und den türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoglu zurück, wird aber inzwischen auch von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vorangetrieben. Sie wünscht sich eine stärkere Überwachung in der Meeresregion. Nato-Generalsekretär Stoltenberg erklärte, man prüfe den Vorschlag sehr ernsthaft, für Entscheidungen sei es aber noch zu früh. Im östlichen Mittelmeer operiert bereits ein ständiger Marineverband der Nato, angeführt vom deutschen Versorgungsschiff Bonn. (jasi/hba)
null
Militärübungen und mehr Soldaten: Die Nato will ihre Präsenz in Osteuropa so stark ausbauen wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die Verteidigungsminister reagieren auf die Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin. Noch keine Entscheidung gibt es dagegen über ein mögliches Engagement des Militärbündnisses gegen Schlepperbanden im Mittelmeer.
"2016-02-10T16:49:00+01:00"
"2020-01-29T18:13:06.265000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nato-treffen-aufruestung-im-osten-100.html
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"Die erste außerparlamentarische Opposition seit elf Jahren"
Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich Professor Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara. Schönen guten Tag nach Ankara!Hüseyin Bagci: Ja, guten Tag!Barenberg: Herr Bagci, was machen Sie sich für ein Bild von diesen Protesten, die ja doch in ihrem Ausmaß immer weiter anwachsen?Bagci: Das ist die erste außerparlamentarische Opposition gegen die Regierung seit elf Jahren, und es ist nicht zu unterschätzen, dass das, was da gestern passiert ist, auch auf lange Sicht der "Türkische Sommer" genannt wird, weil Tayyip Erdogan in letzter Zeit, der türkische Ministerpräsident, durch seine Aussagen und durch seine politische Verhaftungen sehr viele Probleme und Sorgen in der Gesellschaft geschaffen hat. Und was gestern passiert und heute weiterhin passiert, ist, dass die Bevölkerung irgendwie gegen die Politik von Tayyip Erdogan sich einfach ausspricht und dass eine autoritäre Tendenz in den letzten Monaten und Jahren jetzt mal einfach langsam zu einem kommt. Ich denke, die Regierung wird sehr große Schwierigkeiten haben, diese Bewegung, diese Opposition zu unterdrücken. Besonders wie die Polizei seit gestern mit den Demonstranten umgegangen ist, ist natürlich nicht zu akzeptieren, auch das ist die Meinung der ganzen Bevölkerung, und ich denke, das ist die erste Bewährungsprobe der Regierung, dass sie die Opposition durch die Freiheit vor allem, die die Demonstranten genießen sollten, nicht verhindern werden können. Und ich denke, weil Erdogan ist auch sehr schockiert, der türkische Ministerpräsident muss natürlich jetzt denken, wie er weiterhin seine Politik, die ja diese Auseinandersetzung sehr nach oben getrieben hat, nicht mehr so ist. Ich denke, die Regierung hat Schwierigkeiten. Also das ist zum ersten Mal seit zehn Jahren, dass die Regierung Tayyip Erdogan so stark von der Bevölkerung kritisiert wird.Barenberg: Und, Herr Bagci, das fügt sich ja in die Informationen und Einschätzungen, die unser Korrespondent vor Ort gerade gegeben hat, das heißt, Sie würden auch sagen, dass für Sie erkennbar eine breite Unterstützung jetzt für die Demonstranten spürbar wird, die sich zunächst ja in dem Park dort versammelt hatten. Das ist eine breite gesellschaftliche Bewegung, die sich da auf den Weg macht?Bagci: Das ist richtig. Ich denke auch, dass der Ministerpräsident Tayyip Erdogan sich sehr stark in das Leben der Bevölkerung eingemischt hat. Er möchte beschreiben, wie die Leute überhaupt zu leben haben, und was vor allem wichtig ist, dass er diese islamistische Denkweise auch in das praktische Leben der Türken bringen möchte. Das kann natürlich in der Türkei nicht akzeptiert werden, besonders durch die kemalistischen Reformen seit 90 Jahren, dass in der Türkei eine demokratische Gesellschaft entstanden ist, die dagegen ist, dass die Türkei islamisiert wird. Dass Tayyip Erdogan bis jetzt so erfolgreich war, und dass die türkische Bevölkerung ihm einfach die Möglichkeit gegeben hat zu regieren, aber nicht, dass Tayyip Erdogan in das praktische Leben der Leute sich einmischen dürfte. Deswegen ist es eine Reaktion vom Säkularismus, aber von der breiten Gesellschaft auch, dass der Regierungspräsident nicht vorschreiben darf, ob man ein guter Muslim oder schlechter Muslim ist. Das ist nicht seine Aufgabe, zu bestimmen. Und dass die Türkei wiederum reagiert, dass die Türkei nicht in einem islamistischen Staat gewandelt wird, was doch am Ende Tayyip Erdogan und seine Gefolgsleute am Ende wollen. Deswegen haben wir jetzt eine Konfrontation zwischen den islamistischen denkenden Kräfte und auch der säkularistisch denkenden Kräften. Deswegen, der Kampf wird weitergehen, und ich denke, Tayyip Erdogan wird nicht erfolgreich sein, die Türkei in einen islamistischen Staat zu verwandeln.Barenberg: Wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf, Herr Bagci, dem widerspricht der Ministerpräsident ja auch immer, dass er überhaupt das Ziel hätte, so etwas wie einen islamistischen Staat in der Türkei zu etablieren.Bagci: Das ist richtig, aber was er sagt, ist etwas anderes, was er als Politiker in die Praxis umsetzen will, wie das Alkoholverbot von voriger Woche oder, wie er sagte, wenn die Religion das verbietet, wie können zwei, drei Leute das verändern. Diese Denkweise, dass er doch eine islamistisch orientierte Gesellschaft schaffen möchte, das ist geblieben und wird bleiben als sein politisches Ziel. Das Problem ist, die türkische Gesellschaft hat eine demokratische Reife erreicht, das nicht mehr, so denke ich, in einen islamistischen Staat oder eine islamische Ordnung gehen möchte, das wird nicht der Fall sein. Deswegen wird Tayyip Erdogan sehr große Schwierigkeiten haben, denke ich, dass er in den kommenden Tagen, besonders was das Polizeivorgehen angeht, doch nicht akzeptabel ist, vor allem gegen die Freiheit, gegen die Aussage der Demonstranten, darf man nicht so vorgehen. Deswegen seit gestern hat es landesweit jetzt große Diskussionen hervorgerufen, und die Regierung wird sehr stark kritisiert, und in der Türkei wird auch darauf erwartet, wie überhaupt der Ministerpräsident auf diese Entwicklungen antworten wird.Barenberg: Auf der anderen Seite …Bagci: Man braucht nicht die Worte, sondern die Taten. Also, was er sagt und was er tat, ist sehr schwer kontrovers. Deswegen möchten die Leute doch das sehen, dass er sich nicht einmischt. Ich denke – vielleicht noch ein Satz –, dass er seit elf Jahren versucht hatte, durch die demokratische Erwägung, die Türkei in einen islamistischen Staat und in eine islamische Gesellschaft zu verändern, wird nicht erfolgreich sein, aber es bleibt natürlich als ein Ziel, das sollte man auch sehen.Barenberg: Die Einschätzungen von Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler und Dekan des Instituts für Internationale Beziehungen an der Universität Ankara. Vielen Dank für das Gespräch heute Mittag!Bagci: Danke!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hüseyin Bagci im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Protest gegen das gewaltsame Vorgehen von Sicherheitskräften auf dem Taksim-Platz werde auf lange Sicht "Türkischer Sommer" genannt werden, prognostiziert der Politologe Hüseyin Bagci. In der Türkei spitze sich die Konfrontation zwischen säkularen und islamistischen Kräften zu.
"2013-06-01T12:15:00+02:00"
"2020-02-01T16:20:43.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-erste-ausserparlamentarische-opposition-seit-elf-jahren-100.html
91,731
Immer mehr können nur noch Teilzeit arbeiten
Zehn Millionen Menschen in Deutschland arbeiten Teilzeit. Das sind 43 Prozent mehr als vor zehn Jahren. So das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Demnach ist der Anteil der Teilzeitjobber seit dem Jahr 2000 von 19 auf 26 Prozent gestiegen. Deutschland liegt damit weit über dem EU-Durchschnitt, sagt Karl Brenke, der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Ein Ergebnis, das Zündstoff birgt. Denn es findet eine recht banale Erklärung für die erstaunlichen Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit: "Es ist ja so, dass die Regierung immer wieder darauf hinweist. Das Beschäftigungsniveau ist so hoch wie nie zuvor in der Bundesrepublik - das stimmt. Das kam aber vor allen Dingen durch Teilzeitarbeit zustande. Die geleisteten Arbeitsstunden, also das Arbeitsvolumen, das hat sich überhaupt nicht erhöht. Wir haben aber sehr viel mehr Leute auf dem Arbeitsmarkt, das heißt immer mehr Leute arbeiten im Schnitt immer kürzen."Das deutsche Arbeitsmarktwunder ist gar keines, sagt der Arbeitsmarktforscher Brenke. Die Erfolge am Arbeitsmarkt sind lediglich das Ergebnis einer Umverteilung. Es wird nicht mehr in Deutschland gearbeitet als vor zehn Jahren, die Arbeit wird nur anders verteilt. Ganz neu ist der Befund des DIW nicht. Dass immer mehr Menschen Teilzeitarbeiten, ist den Statistikern der Bundesagentur für Arbeit zu entnehmen. Mehr Teilzeitstellen zu schaffen, sei ja auch erklärter politischer Wille gewesen, sagt Heike Helfer, die Sprecherin von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz habe die Politik vor zehn Jahren die Hürden für Teilzeitarbeit gesenkt, gerade auch, um jungen Eltern mehr Spielraum zu geben, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Dass die Teilzeit aber so dramatisch gestiegen sein soll, wie das DIW ermittel hat, überrascht aber auch die Bundesregierung:"Es ist ein wenig zu früh. Wir haben die Studie noch nicht analysiert, ich hab' die Pressemeldung des DIW gelesen. Es ist nicht ganz neu. Also es deckt sich teilweise auch mit Beobachtungen, die das IAB schon vorgelegt hat. Insgesamt gesehen, müsste ich aber so eine Beurteilung nachreichen, weil mir schlicht keine Bewertung des Hauses vorliegt."Teilzeit ist nach wie vor eine Domäne der Frauen, jede Zweite arbeitet reduziert. Viele, weil sie mehr Zeit für Kindererziehung oder auch die Pflege eines Angehörigen haben möchten. Bei Männern ist Teilzeit noch nicht so verbreitet, hat aber in den vergangenen Jahren sehr stark zugenommen. Inzwischen hat jeder sechste die Arbeitszeit reduziert. Viele allerdings nicht ganz freiwillig, sagt DIW-Forscher Karl Brenke. "Man sieht eine relativ hohe Anzahl von Personen, die wegen eines Mangels an Vollzeitstellen auf Teilzeit sind und deren Anteil hat in den letzten Jahren auch noch zugenommen, das heißt Teilzeitarbeit ist auch zum Teil Spiegelbild einer Misere auf dem Arbeitsmarkt und immerhin 2 Mio. Personen sind davon betroffen, dass Sie nur deshalb einen Teilzeitjob haben, weil sie keine Vollzeitstelle finden können."Jeder fünfte Teilzeitjobber würde seine Arbeitszeit gern ausdehnen. Dieses Potenzial könnte man nutzen, um ein anderes drängendes Problem zu lösen: Den Kampf gegen den Fachkräftemangel.Mehr zum Thema auf dradio.de:Mal Politologin, mal Rikschafahrerin, mal Kellnerin - Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse (DLF) *
Von Gerhard Schröder
Für viele junge Kreative ist Teilzeit-Arbeit ein Traum, weil sie genug Zeit fernab des Jobs lässt. Aber: Teilzeitstellen sind ein Hinweis auf zunehmend prekärere Arbeitsverhältnisse. Und in Deutschland ist ihr Anteil in den letzten zehn Jahren im EU-Vergleich besonders stark gestiegen.
"2011-10-19T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T01:48:41.352000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/immer-mehr-koennen-nur-noch-teilzeit-arbeiten-100.html
91,732
Große Schritte ohne Großbritannien
Die Burg Bratislava in der slowakischen Hauptstadt ist Schauplatz des EU-Gipfeltreffens ohne Großbritannien (CTK) Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen in Bratislava nach dem Brexit-Referendum ohne die Briten über die Zukunft der EU diskutieren. Aber um die künftigen Beziehungen zu den Briten soll es nach dem Willen von Ratspräsident Tusk, der den Gipfel vorbereitet hat und leitet, nicht gehen: "Wir müssen in Bratislava zu einer gemeinsamen Diagnose der Lage der EU nach dem Brexit-Votum kommen. Wir müssen gemeinsame Ziele festlegen. Wir haben nicht vor, in Bratislava über das Vereinigte Königreich zu sprechen oder über unsere Verhandlungsstrategie gegenüber dem Vereinigten Königreich." Denn – Mantra in der EU: Verhandelt wird erst, wenn die Briten Brüssel offiziell ihren Wunsch mitgeteilt habe, aus der EU auszutreten. Aber natürlich wird man sich im Kreise der 27, bevor die Verhandlungen losgehen, darüber abzustimmen haben, was Leitlinien und rote Linien sein sollen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im EU-Parlament ist nicht der einzige, der dem heutigen 27er-Format – im Januar wird es ein weiteres auf Malta geben – auch etwas Positives abgewinnen kann: "Vor dem Hintergrund, dass Bratislava ohne Großbritannien stattfindet, besteht die große Chance, deutlich zu machen, dass, gerade wenn Großbritannien nicht am Tisch sitzt, dass dann Europa vorangehen kann. Meine Fraktion erwartet sich vor allem in der Verteidigungspolitik, der äußeren Sicherheit der Europäischen Union einen großen Schritt." Grundzüge der engeren militärischen Zusammenarbeit Den dürfte es geben. Denn das Thema "Schutz der EU-Außengrenzen" ist noch eines der wenigen, bei dem momentan für eine engere Zusammenarbeit leicht Übereinstimmung herzustellen ist. Bulgarien hat Unterstützung für die Kontrolle seiner Landgrenze zur Türkei angefordert, durch Frontex, im Stadium des Aufbaus zu einem echten europäischen Grenzschutz befindlich. Die Staats- und Regierungschefs könnten sich einigen, wer wieviel der gewünschten 200 Grenzschützer und der 50 Fahrzeuge stellt. Ebenso könnten sich Grundzüge der engeren militärischen Zusammenarbeit abzeichnen. Deutschland und Frankreich haben ein Konzept vorgelegt. Man ist sich einig, sagte der französische Präsident Hollande: "Wenn es etwas gibt, wo wir übereinstimmen, dann ist es der Wille, sicherzustellen, dass Europa mehr für seine eigene Verteidigung tut. Frankreich wird seinen Teil übernehmen." EU-Kommissionspräsident Juncker, auch in Bratislava dabei, hat sich das deutsch-französische Konzept vorgestern in seiner Rede zur Lage der Union zu eigen gemacht. Die Italiener wären auch dabei. Und, wenn nicht alle mitmachen, dann gehen die Willigen in der möglichen Form der verstärkten Zusammenarbeit voran. Kein noch so kontroverses und schwieriges Thema vermeiden Auch beim Anti-Terrorkampf dürfte sich einiges Gemeinsames finden lassen – etwa bei der engmaschigeren Kontrolle von Reisebewegungen in die und aus der EU, sowie innerhalb der Union. Aber dann hört es mit den gemeinsamen Vorstellungen auch schon ziemlich bald auf. "Wenn Bratislava ein Erfolg werden soll, müssen wir vollkommen offen sein und dürfen kein noch so kontroverses und schwieriges Thema vermeiden." Das fängt beim Thema Wachstum an. Denn es wünschen zwar alle, aber wie dabei das Verhältnis zwischen Investitionsförderung, staatlichen Konjunktur-Programmen einerseits und Haushaltsdisziplin und Strukturreformen andererseits zu justieren ist – da gehen die Meinungen schon wieder stark auseinander. "Es ist das Prinzip der Europäischen Union, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Die müssen wir benennen. Darüber müssen wir reden und dann müssen wir vernünftige Lösungen finden." Das größte Risiko ist die Zersplitterung Findet Bundeskanzlerin Merkel – und weiß doch, dass es bei dem "schwierigen und kontroversen" Thema Flüchtlingsverteilung auf ganz Europa weiter unüberwindlich scheinende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU gibt. Da ist Bewegung kaum zu erwarten, ebenso wenig wie Grundsatzentscheidungen – beispielsweise, ob aus dem Brexit-Votum die Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass die EU-Staaten enger zusammenarbeiten müssen, um ihren Bürgern Handlungsfähigkeit zu beweisen. Oder ob sie – im Gegenteil – das Konzept des Handelns in manchen Bereichen wieder eher auf nationalstaatlicher Ebene sehen. Das eine in manchen Bereichen zu tun, ohne das andere in manchen Bereichen zu lassen – darauf scheint es faktisch hinauszulaufen. Und doch soll, das will nicht nur der französische Präsident, von Bratislava ein Signal des Zusammenhalts der EU-27 ausgehen. "Das größte Risiko für die EU und im Übrigen auch für Nationalstaaten ist die Zersplitterung, ist Egoismus."
Von Annette Riedel
Eine gemeinsame Diagnose nach dem Brexit-Votum - das ist für EU-Ratspräsident Donald Tusk das Ziel des EU-Gipfels in Bratislava. Die Chancen stehen gut, dass es Bewegung in den Themen militärische Zusammenarbeit und Schutz der EU-Außengrenzen gibt - nicht aber in der Flüchtlingspolitik.
"2016-09-16T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:47.193000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-in-bratislava-grosse-schritte-ohne-grossbritannien-100.html
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Konsequente Bestrahlung - längeres Leben
Das gesamte Interview können Sie bis mindestens 10. Dezember 2012 im Bereich Audio on Demand nachhören.
null
Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Senologie wurde eine Analyse vorgestellt, die zeigt, dass Strahlentherapie nach einer brusterhaltenden Operation das Leben verlängern kann.
"2012-07-10T10:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:16:46.446000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konsequente-bestrahlung-laengeres-leben-100.html
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Ich fotografiere, also bin ich
Die Ausstellung "Ego Update" zeigt, wie Künstler mit dem Phänomen "Selfie" umgehen. (dpa/picture alliance/Maja Hitij) "Mein letztes Selfie war wirklich, wir haben 'ne kleinen preview gemacht mit Herrn Geisel, da haben wir ein Selfie gemacht." Thomas Geisel, der Oberbürgermeister von Düsseldorf. "Der erzählt, dass er immer mehr zum Selfie-Opfer wird, weil immer mehr Leute mit ihm Selfies machen wollen." Das kennt er auch selber gut: Alain Bieber, neuer Direktor des NRW-Forums Düsseldorf. Sein Konzept: "Edutainment. Auf der einen Seite so, gibt's dieses aufklärerische, aber auf der anderen Seite soll man sich aber trotzdem gut unterhalten fühlen." Na dann. Der neue Leiter des NRW-Forums in Düsseldorf, Alain Bieber, in der Ausstellung "Ego Update" (Deutschlandradio/Veronika Bock) Doppelter Fake "Was mich interessiert in der Fotografie, ist die Authentizität in der Fotografie." Sagt ausgerechnet Andreas Schmidt. Künstler, einer, bei dem so ziemlich alles gleich doppelt gelogen ist. "Hoppla wieso steht da Gerhard Richter, wieso steht der in so einem seltsamen Umfeld, ich kenne das Gemälde, aber das Gemälde ist leicht seltsam." Leicht ist gut! Richter steht vor einer rot gekachelten Hauswand, rechts ein vergittertes Fenster, links eine Regenrinne, sein Bild hat er auf einen billigen blauen Plastikhocker gestellt. "Die Gemälde sind Reproduktionen von existierenden Gemälden." Die ein anderer als Andreas Schmidt in Auftrag gegeben hat. Der Fotograf Michael Wolf ist der eigentliche Urheber dieser Szenerie. Er hatte chinesische Künstler beauftragt die Originale zu fälschen, und diese Künstler dann mit ihren Fälschungen portraitiert. Real Fake Art hieß seine Arbeit. "Und ich hab die Original-Künstler, die ja eigentlich hinter den Arbeiten stehen, im Netz gefunden natürlich passend vom Lichteinfall auch und hab dann, ne chinesische Retuschierfirma offiziell beauftragt die Bilder zusammen zu bauen." Fertig war die doppelt gefakede Arbeit! Fake, Fake Art. "Für mich persönlich ist da natürlich ein großes Element Humor in der Geschichte noch drin, was ich in Kunst sehr zu schätzen weiß, also wenn ein Kunstwerk ein leichtes Schmunzeln hinterlässt, dann finde ich, dann hat man schon ein paar gute Pluspunkte erreicht." Na dann. Drei Milliarden Bilder von öffentlichen privaten Webcams gesammelt "I mean we take pictures like opening and closing a door. It is very normal, there is nothing special about it any more. It is there to share with other people instead to keep them. And that changed very drastically." Wir machen Bilder, wie wir Türen auf und zu machen, sagt Eric Kessels, nichts besonderes ist mehr an ihnen und dann wollen wir sie auch nicht behalten, sondern nur mit anderen teilen. Zeigt her eure Füße! Tausende Selfies hat er gesammelt. Füße in Schlappen, Sandalen und Wanderschuhen, frisch lackiert, arg lädiert. Bestrumpft, beschuht, nackt. Im Wald, am Strand, im Bett und in der Wanne. "Our perspective is also much more like this. Because we look at our telephone like this, not like this, but like this, down. And that is something strange, we grow in a different spezies as people that do these things." Füße, Boden, Handys, iPads, und demnächst Virtual-Reality-Brillen. Wir schauen nicht mehr in die Welt, sondern nach unten. Durch eine Linse, auf einen Bildschirm. Das macht uns zu einer neuen Spezies. Menschen, die sich rund um die Uhr filmen, mit Webcams. "Es gibt Leute, die haben die Kamera 24 Stunden am Tag an. Die steht irgendwo und..." Drei Milliarden Bilder von öffentlichen privaten Webcams hat Kurt Caviezel gesammelt. Über 15 Jahre lang, immer auf der Suche, nach dem User. Nach dem wirklichen Leben im weltweiten Web. "Es ist von einer grandiosen Authentizität. Die Kamera zeigt einfach das, was der Fall ist. Es wird nicht Theater gespielt, es ist nichts inszeniert, es ist der monströse Alltag eigentlich." Ein Nackter saugt staubt, ein Mann gähnt, eine Frau raucht eine Zigarette. Wir sind ganz weit weg und doch näher dran als je. Und sie sind wie wir. Prominente, die Selfies von sich selber machen. Eine Fotografin, die mit Doubles arbeitet und Angela Merkel und Hollande zusammen im Bett zeigt: mit Croissants und Laugenbrezeln. Süchtig nach Feedback Selfies von Affen gemacht. Menschen und ihre Avatare. Geknechtete Crowdworkers, die zu Menschen mit Gesichtern werden und uns den Mittelfinger zeigen. Wo stehen wir, wer werden wir? Ego update ist eine Standortbestimmung - zum einen. Zum anderen: "Update, weil es natürlich ein permanentes Updaten der Identität ist. Ne permanente Selbstoptimierung des Menschen. Kann man kritisch sehen, kann man aber auch positiv sehen, im Sinne von, wir haben die Freiheit und die Möglichkeiten uns so darzustellen wie wir wollen." Alain Bieber, der neue Direktor des NRW-Forums Düsseldorf im Update-Modus. "Auf der anderen Seite ist natürlich auch immer das Negative, im Sinne es ist schon fast eine Sucht geworden sich selbst dazustellen. Die klassischen Selfies sind ja immer, man teilt sich in den sozialen Netzwerken, man ist immer ein bisschen süchtig auf das direkte Feedback. Man will ja quasi "geliked" werden." Ja das will jeder, jede und jedes. Auch eine Ausstellung. Und diese lohnt sich.
Von Veronika Bock
Nichts hat die Fotografie und unser Bild von der Welt so sehr verändert wie die digitale Revolution: Aus dem "Ich denke, also bin ich" ist ein "Ich fotografiere, also bin ich" geworden. Und im Mittelpunkt dieser neuen Weltsicht steht das "Selfie". Das NRW-Forum Düsseldorf zeigt jetzt, wie Künstler sich mit dem Phänomen Selfie und digitale Identität auseinandersetzen.
"2015-09-22T15:05:00+02:00"
"2020-01-30T13:00:54.543000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausstellung-in-duesseldorf-ich-fotografiere-also-bin-ich-100.html
91,735
Gandhis Erben zittern um ihre Macht
Die siegestrunkene Parteijugend preist NaMo als Befreier, Heilsbringer und zukünftigen Premierminister. NaMo, das ist der Spitzname für Narendra Modi – den charismatischen, aber hochumstrittenen Spitzenkandidaten der Barathia Janata Partei, kurz BJP. Indiens größte Oppositionspartei gilt als wirtschaftsfreundlich, nationalistisch und religiös-konservativ. Die BJP setzt sich vor allem für die Belange der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit ein. Narendra Modi ist seit 13 Jahren Regierungschef von Gujarat und regiert dort mit absoluter Mehrheit. Er gilt als Hindu-Hardliner. Der westindische Bundesstaat schreibt glänzende Wachstumszahlen, während die nationale Wachstumsrate dramatisch eingebrochen ist. Doch Modis Gegner werfen ihm vor, ein gefährlicher Demagoge zu sein und im Jahr 2002 ein Massaker in Gujarat an der muslimischen Minderheit zumindest wohlwollend in Kauf genommen zu haben. Die auf nationaler Ebene seit zehn Jahren regierende Kongresspartei macht mit dem Blutbad Wahlkampf, Modi lässt wie seit Jahren alle Vorwürfe an sich abprallen. "Die Kongresspartei führt keinen Wahlkampf, um diese Wahl zu gewinnen. Sie schmiedet Allianzen und versucht alles, um mich zu verhindern. Aber dieses Land braucht endlich eine gute Regierungsführung, dieses Land braucht endlich Entwicklung und echte Sozialprogramme. Die Kongressregierung betreibt reine Machtpolitik. Auch die Kongress-Verbündeten versündigen sich an diesem Land, in dem sie die Bevölkerung spalten, nur um an der Macht zu bleiben." Wer die oppositionelle BJP wählt, wählt Narendra Modi. Wer den regierenden Kongress wählt, wählt Indiens Vorzeigefamilie Nummer Eins. Modi hat sich vom kleinen Teeverkäufer an die politische Spitze hochgearbeitet. Der reiche Nehru-Gandhi-Clan hat das Land seit der Unabhängigkeit von Großbritannien fast immer regiert. Die Familie ist die Partei und das Programm. Chefwahlkämpfer der Dynastie ist Rahul Gandhi, der im Gegensatz zu Modi selten leidenschaftlich und volksnah auftritt. Rahul ist der Sohn des ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi, der Enkel der ermordeten Premierministerin Indira Gandhi und der Urenkel des Staatsgründers Jawaharlal Nehru. Er wirkt oft wie ein Politiker, der kein Politiker sein will. "Ich habe mir nicht ausgesucht, in diese Familie hineingeboren zu werden. Es ist passiert. Und daraus ergeben sich für mich zwei Möglichkeiten: Entweder ich wende mich ab und gehe, oder ich mische mich ein, um etwas zu verbessern. Ich glaube an die Demokratie, ich will das System für alle öffnen, ich glaube an die Informationsfreiheit und an die Macht des Volkes. Wir haben sehr unterschiedliche Philosophien." Die Nehru-Gandhi Familie präsentiert sich im Wahlkampf als Beschützerin der Muslime und anderer Minderheiten und als Fürsprecherin der Armen und Schwachen. Modi macht Wahlkampf mit der Marke Modi. Er ist omnipräsent. Seine Botschaft lautet: hohes Wirtschaftswachstum gleich mehr Reichtum gleich besseres Leben für alle. Gujarat für ganz Indien. Das kommt vor allem bei der Mittelklasse und bei der städtischen Jugend an. Die Wahl wird auf dem Land entschieden "Ich bin für Modi, weil er uns Entwicklung verspricht. Was er in seinem Bundesstaat Gujarat wirtschaftlich leistet ist herausragend. Er ist ein echter Macher, er schafft Arbeitsplätze, er duldet keine Korruption. Die fehlenden Arbeitsplätze sind das größte Problem für junge Menschen wie mich." Fast zwei Drittel der indischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Doch die Wahl wird nicht in den Städten, sondern auf dem Land entschieden, wo immer noch die Mehrheit des Milliardenvolkes lebt. Überwiegend in bitterer Armut. "Der Wahlkampf ist mir egal. Wenn ich jemanden liebe, dann liebe ich jemanden. Und ich liebe die Gandhis. Ich wähle mit dem Herzen. Andere Parteien sind mir egal. Der Kongress ist die Mutter Indiens. Auch meine Eltern und Großeltern haben immer die Kongresspartei gewählt, für uns hier kommt nichts anderes in Frage." Doch trotz der eingefleischten Stammwähler auf dem Land deutet nur wenig darauf hin, dass die Nehru-Gandhi Familie weiterregieren kann. Die Medien sprechen von einer Modi-Welle. Aber das heißt noch lange nicht, dass der BJP mit Narendra Modi an der Spitze ein glatter Durchmarsch gelingt. Unzählige Regionalparteien zersplittern die politische Landschaft. Sie könnten am Ende die Königsmacher sein, wenn Koalitionspartner gebraucht werden. Und es kommt noch ein weiterer unberechenbarer Faktor dazu: Wie viele Stimmen bekommt Aam Admi, die Partei des einfachen Mannes? Aam Admi hat bei der Regionalwahl im Stadtstaat Delhi im vergangenen Dezember einen spektakulären Senkrechtstart hingelegt und will jetzt auch national Fuß fassen. Parteigründer Arvind Kejriwal ist ein Steuerbeamter, der aus der indischen Anti-Korruptionsbewegung stammt. "Rahul Gandhi schwebt im Helikopter ein und verschwindet wieder. Unser Kandidat ist seit Monaten vor Ort, alle können ihn ansprechen. Wir wollen der Helikopter-Politik in diesem Land ein Ende setzen. Es gibt in Indien auch keine Modi-Welle. Die indischen Wähler sind intelligent. Sie wissen, dass Modi unseren Farmern Land wegnimmt, um es den großen Wirtschaftsbossen zu geben." Es geht um Personen. Nicht um Parteien oder Programme. Das Thema Gewalt gegen Frauen, das international weiter die Indien-Schlagzeilen bestimmt, spielt bei der größten Wahl der Welt keine Rolle.
Von Sandra Petersmann
Der Wahlmarathon in Indien nähert sich dem Ende. Fast 815 Millionen Menschen waren an 36 Tagen eingeladen, einen Stimmzettel abzugeben. Das Ergebnis wird mit Spannung erwartet, denn die regierende Kongresspartei um die mächtige Nehru-Gandhi-Familie hat mit dem Hindu-Nationalisten Narendra Modi einen ernst zu nehmenden Herausforderer.
"2014-05-10T13:30:00+02:00"
"2020-01-31T13:40:18.540000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/parlamentswahl-in-indien-gandhis-erben-zittern-um-ihre-macht-100.html
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"Brauchen EU-Abkommen mit nordafrikanischen Staaten"
Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. (picture alliance/dpa/Soeren Stache) "Wenn wir diese Menschen aus dem Mittelmeer retten, sollen sie an die Küste zurückgebracht werden, woher sie kommen", betonte Spahn. Dafür benötige man aber entsprechende Abkommen mit den Ländern. Die Menschen sollten dort gute Verfahren erhalten und entsprechend behandelt werden. "Wenn wir das zwei, drei Wochen konsequent machen, dann ist klar: Schmuggler bezahlen lohnt sich nicht." Damit wäre die irreguläre Migration, aber vor allem auch das Sterben endlich beendet. Skeptisch äußerte sich Spahn zu Forderungen nach einem Zuwanderungsgesetz in Deutschland. Eine Bündelung sei zwar sinnvoll, trotzdem würden viele Menschen versuchen, auf anderen Wegen nach Europa und Deutschland zu kommen. Mit Blick auf die Meinungsunterschiede in der Flüchtlingspolitik zwischen CDU und CSU meinte Spahn, der Streit schade der Union. Die Analyse sei richtig, überdecke aber, dass es viele Gemeinsamkeiten geben. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht um des Kaisers Bart streiten und um Semantik". Hintergrund ist die Forderung von CSU-Chef Seehofer nach einer Obergrenze für Asylbewerber. "Deutschland könne nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen", betonte auch Spahn und verwies auf mögliche Probleme bei der Integration. Zugleich beklagte er, dass abgelehnte Asylbewerber nicht umgehend abgeschoben werden könnten. Es habe sich eine "ganze Anwaltsindustrie" um diese Frage gebildet. Das Interview in voller Länge: Jürgen Zurheide: CDU und CSU wagen heute etwas ganz Besonderes: In einem ersten Deutschlandkongress in Würzburg will man versuchen, bei wichtigen Themen eine gemeinsame Plattform zu erarbeiten. Wir wissen, dass da ein Thema ganz besonders im Vordergrund steht, obwohl es viele andere gibt, die auch wichtig sind und die diskutiert werden müssen, natürlich das Thema der Zuwanderung. Unter anderem darüber wurde sicherlich auch in dieser Woche zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel geredet. Am Ende haben wir nicht viel erfahren, was sie beredet haben. Wir wollen sprechen und fragen, was kann, was muss sich tun, wird sich was tun zwischen CDU und CSU, und wir werden reden mit Jens Spahn von der CDU, der jetzt am Telefon ist. Guten Morgen, Herr Spahn! Jens Spahn: Guten Morgen, Herr Zurheide! Zurheide: Herr Spahn, ich habe es gerade gesagt: Frau Merkel und Herr Seehofer haben sich diese Woche getroffen, und am Ende hieß es, es war eine wunderbare Atmosphäre. Wissen Sie, warum es wunderbar? War es vielleicht das Essen oder der Wein? Spahn: Das weiß ich nicht! Entscheidend ist doch, dass CDU und CSU ... Ich meine, wir regieren zusammen in Berlin, wir sind Schwesterparteien, natürlich im regelmäßigen Austausch miteinander sind. Ich halte das für was ziemlich Normales, und dass es dabei gut miteinander zugeht und offen, halte ich auch für normal, weil wir haben ja viele, viele Themen. Das ist nicht nur die Flüchtlingsfrage. Es geht um Steuerpolitik, Rentenpolitik, was sind die Schwerpunkte noch in dem letzten Jahr der Großen Koalition, aber auch was sind Themen für unseren Wahlkampf, und insofern gibt es immer viel zu besprechen. "Wir sollten die Gemeinsamkeiten stärker herausarbeiten" Zurheide: Da haben Sie sicher recht, aber es ist natürlich dieses eine Thema, was vieles überlagert, auch wenn ich die Woche noch mal so auf mich wirken lasse und die Wahlergebnisse vor allen Dingen, dann kommt man doch zu einem Ergebnis, da kommen jedenfalls viele zu: Der Streit, der im Moment stattfindet um bestimmte Begriffe, der schadet. Ist die Analyse richtig? Spahn: Die Analyse ist ohne Zweifel richtig, weil er vor allem überdeckt, dieser Streit, dass wir ganz, ganz viele Gemeinsamkeiten haben. Nehmen Sie das Papier der CDU zur inneren Sicherheit, das vor zwei Wochen beschlossen wurde im CSU-Landesvorstand. Das kann, glaube ich, jeder CDUler eins zu eins unterschreiben, und ich würde mir wünschen, dass wir jetzt versuchen, in der Großen Koalition möglichst viel davon auch umzusetzen und notfalls mit der SPD dann auch zu ringen um die richtigen Lösungen, und beim Thema der Flüchtlinge, dass wir grundsätzlich bereit sind und auch wollen, Flüchtlingen helfen, humanitäre Hilfe leisten und unterstützen, dabei eben aber auch wollen, dass es regelgebunden zugeht, dass wir Kontrolle darüber haben, was passiert, und dass wir auch wissen, dass wir nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen können, schon gar nicht in kurzer Zeit, weil wir sonst die Gesellschaft überfordern, weil wir sonst Akzeptanz verlieren. In all dem haben wir ja große Gemeinsamkeiten, und das sollten wir stärker herausarbeiten. "Am Ende hilft wie so oft im Leben reden, reden, reden" Zurheide: Ich glaube, das ist wenig umstritten, was Sie gerade sagen, nur in der CSU scheinen das einige anders zu sehen, wenn man sagt, selbst auf das, was die Kanzlerin in dieser Woche abgelesen und vorgetragen hat und wo sie ihren Satz "Wir schaffen das", ich will nicht sagen relativiert hat, aber zumindest ein Stück zurückgedrängt hat, da sagt die CSU immer, ja, ja, wir glauben das alles noch nicht. Also das ist ja unverständlich angesichts der Faktenlage, und deshalb fragt man sich immer, wie wollen die eigentlich je von den Bäumen runterkommen, auf denen sie sitzen? Spahn: Gut, da hilft dann am Ende wie so oft im Leben reden, reden, reden über die Frage, analysieren wir die Lage gleich. Mein Eindruck ist ja. Jeder sagt so etwas, so eine Ausnahmesituation wie vor zwölf Monaten darf sich nicht wiederholen, schon gar nicht an den EU-Außengrenzen. Wir müssen Kontrolle behalten, und von der Analyse dann auch zu dem, was zu tun ist. Wir haben viele Themen noch. Wie gesagt bei der inneren Sicherheit, vor allem aber auch beim Thema Asylrecht zum Beispiel die Frage, wenn über eine halbe Million Menschen im Land, die eigentlich ausreisepflichtig sind, wie können wir das Asylrecht so verändern, dass die, die nach einem langen Rechtsverfahren das Land verlassen müssen, dann tatsächlich auch gehen müssen. Das macht die Menschen wahnsinnig, dass so viele am Ende bleiben und die auch noch Sozialleistungen bekommen, oder die Frage ... "Wir können auch gewinnen im gemeinsamen Ringen mit den anderen" Zurheide: Wobei – Entschuldigung, wenn ich dazwischen gehe – das Problem liegt ja daran, dass die Verfahren so lange dauern. Da gibt es andere Länder – wir schauen in die Schweiz –, die schaffen nach kürzerer Zeit, wie ich höre und viele andere auch das beobachten, rechtstaatlich saubere Verfahren. Das ist doch der Kernpunkt. Spahn: Genau, deswegen kann man sich ja auch zusammensetzen. Ich hoffe, dass die SPD da am Ende das auch so sieht, und schauen, wie können wir die Verfahren beschleunigen. Ein Thema ist sichere Herkunftsstaaten Nordafrika, Maghreb – Marokko, Tunesien, Algerien –, der Bundestag hat das beschlossen. Ich bin gerade in Nordrhein-Westfalen, ich würde mir wünschen, dass die NRW-Landesregierung dann nicht nur jammert, sondern im Bundesrat auch zustimmt. Also an diesen Themen mal rausarbeiten, was wir schon alles beschlossen haben, was wir schon alles weiter ins Auge genommen haben und wo wir dann an SPD und Grünen scheitern, da kann man auch viel Einigkeit gewinnen im gemeinsamen Ringen mit den anderen, was wir für richtig halten oder eben auch zu schauen, wie können wir beim Thema Abschieben, Ausreispflicht durchsetzen die Verfahren, die rechtlichen kleinen Hindernisse, was da alles kommt. Da gibt es ja mittlerweile auch eine ganze Anwaltsindustrie, die sich nur damit beschäftigt, diese Verfahren zu verzögern. Wie können wir die Verfahren so straffen, dass sie natürlich rechtsstaatlich bleiben, aber am Ende dann auch schneller zum Ergebnis kommen. "Wir haben in diesem Land eine Vermischung von irregulärer Zuwanderung und Asylrecht" Zurheide: Aber die entscheidende Frage war, und die haben Sie jetzt nicht beantwortet, das alles liegt auf dem Tisch und viele beobachten das und bewerten das so, wie Sie es gerade tun, aber auch wir haben in dieser Woche im Programm von CSU-Vertretern gehört, nein, das reicht alles nicht, solange dieses Wort Obergrenze nicht real irgendwo auftaucht. Wie wollen Sie aus diesem Konflikt rauskommen? Spahn: Ich wäre halt sehr dafür, dass wir mal schauen ... Ich meine, wenn wir sagen, wir können nicht unbegrenzt aufnehmen, wir müssen die Zahlen spürbar reduzieren, weil wir sonst die Gesellschaft überfordern, dann ist das doch die gleiche Erkenntnis vom Inhalt her, – Zurheide: Richtig. Spahn: – die da drin steckt, was das Wort Obergrenze sagt, nämlich dass eine Gesellschaft nur begrenzt aufnehmen kann, zumindest wenn sie sich nicht selbst überfordert. Zurheide: Darüber gibt es noch kaum einen Streit. Spahn: Ja eben. Zurheide: Das unterstreicht Gabriel auch. Spahn: Deswegen müssen wir ja aufpassen, dass wir nicht nur noch um Kaisers Bad am Ende streiten, sondern nur um Semantik, sondern um die Inhalte, und deswegen setze ich darauf, dass diese Kongresse, die wir jetzt machen, dass die vielen Gespräche, die wir führen, einfach dazu führen, dass wir erkennen, dass wir an der Stelle doch eigentlich das gleiche wollen. Das eigentliche Problem des deutschen Asylrechts ist doch, und da geht ja auch die Begrifflichkeit immer durcheinander: Flüchtlinge, Zuwanderung, Asylbewerber, Migranten. Das eigentliche Problem, wir haben eine Vermischung von irregulärer Zuwanderung und Asylrecht, weil etwa die Hälfte derjenigen, die kommen, am Ende keine Flüchtlinge sind, sondern aus anderen Gründen, Armutsauswanderer vor allem aus Nordafrika sind, aber wir haben gleichzeitig eine Situation, wenn sie einmal im Land sind – das haben wir gerade besprochen –, dann bleiben sie irgendwie fast alle immer da. Das heißt, wir haben irreguläre Zuwanderung – das sind keine Flüchtlinge – nach Deutschland, vor allem in die Sozialsysteme, und haben es vermengt mit dem Asylrecht. Deswegen müssen wir, wenn wir über Obergrenzen und über Begrenzung reden, nicht nur über das Thema Flüchtlinge reden, sondern vor allem auch über die Frage, wie wir irreguläre Zuwanderung beenden können, und dazu gehören Abkommen wie mit der Türkei, müssten wir sie auch mit Nordafrika haben, damit die Menschen sich erst gar nicht auf den Weg machen. Aus Afrika kommen fast keine Flüchtlinge, sind fast alles Armutsauswanderer. "Wir brauchen mit Ägypten ähnliche Abkommen wie mit der Türkei" Zurheide: Jetzt haben Sie das entscheidende Stichwort schon genannt: Wir haben in dieser Sendung auch schon mehrfach darüber gesprochen, dass im Moment eine neue Flüchtlingswelle nicht aus Libyen kommen, wie wir es alle möglicherweise erwartet haben, sondern aus Ägypten und dass die ägyptische Führung, die politische Führung das als Erpressungspotenzial nutzt, um zu sagen, ähnlich wie die Türkei wollen wir Geld haben. Was machen wir da? Spahn: Erst mal sollten wir die Begriffe richtig wählen. Es sind in großen Teilen keine Flüchtlinge, soweit die Asylverfahren im Moment laufen, sind die, die aus Nordafrika kommen, eben Menschen, die Armutsauswanderer ... Menschen, die kommen aus Gründen, die ich verstehe, die aber keine Fluchtgründe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind, sondern wir brauchen am Ende mit Ägypten, mit den anderen nordafrikanischen Staaten als Europäische Union ähnliche Abkommen, ähnliche Absprachen wie mit der Türkei ... Zurheide: Die auch Geld kosten werden. Spahn: Ja, auch Geld kosten werden. Natürlich, weil wir ja sagen, wenn wir Menschen retten aus dem Meer – das wollen wir natürlich, wir wollen niemanden ertrinken lassen –, bringen wir sie zurück an die Küste, von der sie gekommen sind. Dafür brauchen wir Abkommen etwa mit Ägypten oder Tunesien, dass dann die Menschen natürlich auch dort gut behandelt werden, gute Verfahren bekommen. Dafür sollten wir auch finanzielle Unterstützung geben, aber wissen Sie, wenn wir das zwei, drei Wochen lang konsequent machen, dann ist klar, Schmuggler bezahlen, sich auf diese gefährliche, ja auch oft tödliche Reise zu machen, lohnt sich nicht, weil es eh zurückgeht an die Küste, von der man gekommen ist. Damit wäre diese irreguläre Migration, aber vor allem auch das Sterben endlich beendet. Deswegen brauchen wir mehr von diesen Abkommen. Zurheide: Brauchen wir nicht auch dann am Ende ein Einwanderungsgesetz, damit wir klare Regeln schaffen, damit genau dieses Tor Asyl, was im Moment als einziges Tor hier steht oder nicht als einziges, aber wesentliches Tor da steht, damit das endlich abgelöst wird durch eine richtige Regelung? Spahn: Wir haben eigentlich gute Zuwanderungsregelungen. Wir können drüber reden, wie wir sie noch mal bündeln, aber wenn man mal reinschaut, wer nach Deutschland kommen will zum arbeiten, zum studieren, um hier eine Arbeit zu suchen, geht sogar für einige Monate, muss halt vorher ein Visum beantragen bei unserer Botschaft, bei unseren Konsulaten, und dann gibt es viele, viele Wege nach Deutschland legal, um hier auf den Arbeitsmarkt zu kommen. Das sollten wir vielleicht stärker bewerben. Make-it-in-Germany.com, wenn ich hier mal Werbung machen darf, kann man sich informieren, wie viele Wege es gibt, nach Deutschland zu kommen, und trotzdem, Herr Zurheide, brauchen wir einen Mechanismus. Es werden nicht alle kommen können von denen, die gerne wollen. Es sind davon nicht alle Flüchtlinge. "Es wird nicht ohne Grenzschutz gehen" Zurheide: Meine Frage war ja, ob wir es bündeln sollen in einem Einwanderungsgesetz, was viele sagen, und dann können wir ja die Regeln festlegen. Spahn: Ja, ich bin sehr dafür, zu bündeln und klar rauszuarbeiten, aber ich will nur eins sagen: Damit machen Sie immer noch nicht alle glücklich. Es wird trotzdem noch Menschen geben, die versuchen werden, auf anderen Wegen nach Europa, nach Deutschland zu kommen, und deswegen wird es nicht ohne Grenzschutz gehen, deswegen wird es nicht ohne Kontrolle gehen, und deswegen wird es auch nicht ohne diese Abkommen etwa mit der Türkei und mit Nordafrika gehen. Da sollten wir uns nichts vor weismachen. Ein Einwanderungsgesetz führt ja nicht dazu, dass all die zufrieden sind, die sich jetzt teilweise eben in der Hoffnung auf eine bessere Perspektive auf den Weg machen. Zurheide: Jens Spahn war das von der CDU aus dem Präsidium. Ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch! Danke schön, Herr Spahn! Spahn: Sehr gerne, Herr Zurheide! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jens Spahn im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Der CDU-Politiker Jens Spahn unterstützt den Vorschlag von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und nordafrikanischen Staaten abzuschließen. Ähnlich wie bei der Türkei werde dies auch Geld kosten, sagte Spahn im Deutschlandfunk.
"2016-09-24T08:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:55:18.996000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingsstreit-in-der-union-brauchen-eu-abkommen-mit-100.html
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Wie die Architektur die Umweltbelastung beeinflusst
Abendlicher Berufsverkehr auf dem Kaiserdamm im Zentrum von Berlin (Michael Kappeler / dpa) Dichter Verkehr brummt auf den sechs Spuren der Straße des 17. Juni vor der Technischen Universität in Berlin. Doch das bereitet Prof. Wolfgang Frenzel, Professor für Umweltchemie und Luftreinhaltung keine Kopfschmerzen. Schließlich gibt es links und rechts neben den Fahrbahnen große Parkplätze und auf der Nordseite auch breite Lücken zwischen den Gebäuden. Viel Raum, in dem sich Schadstoffe verteilen und verdünnen können. Problematisch wird es, wenn hohe Häuser in dichter Reihe nah an der Fahrbahn stehen. "Wenn ein hohes Verkehrsaufkommen ist, hat man erst einmal eine hohe Emissionsquelle. Und durch die Straßenschlucht ist der Luftaustausch einfach behindert. D.h., die freigesetzten Abgase aus den Fahrzeugen können nicht so schnell entweichen und dadurch gibt es einen Staueffekt." Höchste Stickstoffwerte an Kreuzungen Das klingt logisch, aber nach wie vor gibt es kaum Daten zu diesem Effekt. Deshalb hat Wolfgang Frenzel entlang der besonders belasteten Leipziger Straße mehrere Dutzend Messröhrchen aufgehängt. Dabei zeigt sich: obwohl die Autos überall gleichviel Abgase auspusten, verteilt sich die Belastung sehr unterschiedlich. "Da wo Kreuzungen von zwei größeren Straßen sind, explizit an der Ecke Friedrichstraße und Ecke Wilhelmstraße, waren die höchsten Werte. Die deutlich auch höher lagen als die Jahresmittelwerte, was man unbedingt vergleichen kann, die eben für die Leipziger Straße ansonsten gefunden werden. Es gab auf der anderen Seite aber auch kleinere Abschnitte, insbesondere da, wo Häuser etwas zurückgesetzt waren, wo es kleine Grünflächen gab, wo die Werte dann etwa nur halb so hoch waren wie an den höchstbelasteten Stellen." Auf Kniehöhe ist die Stickstoffkonzentration in der Regel höher Auch wenig befahrene Querstraßen senken die Belastung, einfach, weil hier die Schadstoffe seitlich ausweichen können. In einem neuen Projekt will Wolfgang Frenzel zusammen mit seinen Studenten die Stickoxidkonzentrationen in Schöneberg nahe der ebenfalls sehr befahrenen Hauptstraße auslotsen. Vorversuche zeigen, schon eine Straße neben der Hauptstraße ist die Belastung deutlich geringer, genauso wie in Hinterhöfen. Die Messröhrchen werden auch in verschiedenen Stockwerken aufgehängt. "Direkt in Straßenhöhe, also Kniehöhe ich sag manchmal Kinderwagenhöhe sind die Konzentrationen in der Regel höher. Das ist doch verständlich, da ist die Quelle, das ist eben der Auspuff von den Fahrzeugen die hohe Stickoxid Emission haben. Wenn man dann auf größere Höhen guckt, dann sieht man, dass es wieder Gradienten gibt, die zu einer deutlichen Abnahme führen." Sind die Häuser niedrig, ist die Luft an vielbefahrenen Straßen schon im ersten Stock wieder erträglich. Bei einer hohen Bebauung kann die Belastung aber noch im zweiten oder dritten Stock problematisch sein. In engen Straßen können hier auch die Berlintypischen Straßenbäume eine Rolle spielen. Ein dichtes Blätterdach kann wie ein Deckel wirken und die Schadstoffe in Bodennähe halten. Die grünen Blätter selbst sehen zwar frisch und gesund aus, scheinen aber nach ersten Messungen die Stickoxidkonzentrationen in der direkten Umgebung nicht zu senken. Unterm Strich zeigt sich, ob die Stickoxide zum Problem werden, hängt nicht nur von der Verkehrsdichte ab, sondern ganz maßgeblich auch von den lokalen Gegebenheiten in jeder Straße. Dazu kommt noch ein dritter Faktor: der Wind. Der kann die Schadstoffe wegblasen, es kommt aber entscheidend auf die Richtung relativ zum Straßenverlauf an. Das hat gerade eine Masterarbeit aus Göteborg gezeigt. Bläst der Wind die Straße entlang, drückt er Abgase einfach nur weiter. Auch der Wind spielt eine Rolle "Senkrecht zur Straßenschlucht auftretender Wind führt auch nicht unbedingt zu einer Verdünnung, weil es so eine Art Wirbelbildung gibt, das die Zirkulation innerhalb der Straße bleibt. Und die beste Situation ist eben offensichtlich dann gegeben, wenn der Wind in einem gewissen Winkel eintritt, weil dann ein höherer Austausch der Luftmassen stattfindet." Den passenden Wind kann man nicht bestellen. Auch die Form der Bebauung oder die Lage der eigenen Wohnung kann der Einzelne nur selten beeinflussen. Deshalb bleibt es am Ende doch entscheidend, die Quelle der Abgase, den Verkehr zu regulieren.
Von Volker Wildermuth
In vielen Hauptverkehrsstraßen der Großstädte werden die Stickoxid-Grenzwerte regelmäßig überschritten. Doch wie hoch die Belastung wirklich ist, liegt auch an der Architektur am Straßenrad. Forscher an der Technischen Universität Berlin untersuchen nun diesen Zusammenhang.
"2018-11-18T16:38:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:55.839000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nox-im-strassenbild-wie-die-architektur-die-umweltbelastung-100.html
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Buhlen um die Rechten
Trump-Anwalt Rudy Giuliani posiert mit Chanel Rion (l.), einer Korrespondentin des TV-Senders OAN, und seiner eigenen Assistentin (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Evan Vucci) Manchmal, erklärt Greg Kelly, gelinge es dem Bankräuber eben, zu entkommen. So wie Joe Biden – der diese Wahl gestohlen habe und damit davongekommen sei. Greg Kelly ist der prominenteste Moderator des US-Fernsehsenders "Newsmax" und seine Bankräuber-Analogie ist vom Tag nach der Erstürmung des Kapitols. Newsmax-Chef Christopher Ruddy und seine Mitarbeiter stehen auch in diesen letzten Tagen von Donald Trumps Amtszeit weiter loyal zum Präsidenten. Das erklärte Ziel: Fox News Konkurrenz zu machen. "Der Kabel-Fernsehmarkt ist ein sechs-Milliarden-Dollar-Markt, Fox News gehört die Hälfte davon. Bis jetzt hatten sie einfach keine Konkurrenz. Wir sind die Ersten. Wir sind so gut aufgestellt, wir können jetzt mit Fox mithalten. Fox hat sich sehr schizophren verhalten nach der Wahl, da haben sie den Präsidenten nicht sehr zuverlässig unterstützt. Newsmax dagegen hat das getan." Das sagte Trump-Freund Ruddy in einem Fernsehinterview im November. Tatsächlich scheinen sich seit der Wahl vermehrt enttäuschte Zuschauer von Fox News abgewendet zu haben. Die Einschaltquoten von Newsmax sind gestiegen: An einem Abend im Dezember hatte der Sender in der wichtigsten Zielgruppe zum ersten Mal mehr Zuschauer als Fox News. Ende der Harmonie?Was passiert gerade bei Fox News? Der populistische TV-Kanal galt immer als Zentralorgan von Donald Trump. Doch jetzt scheint die Harmonie zu bröckeln. Mehrmals stoppte der Sender Übertragungen aus dem Weißen Haus. "Fox News hat zum ersten Mal echte Konkurrenz" Matthew Gertz von dem Medien-Watchblog "Media Matters for America" glaubt aber nicht, dass Newsmax Fox News tatsächlich ersetzen kann: "Fox News hat einen großen Vorteil, weil sie schon so etabliert sind und so viele bekannte Moderatoren haben. Andererseits muss Newsmax sie ja auch gar nicht ersetzen. Die eigenen Quoten zu verbessern und Fox News Zuschauer abzujagen, das ist schon ein großer Erfolg. Fox News hat jetzt zum ersten Mal echte Konkurrenz." Der zweite selbstbewusste Fox-Konkurrent, den Donald Trump seit der Wahl immer wieder in seinen Tweets bewirbt, heißt One America News, kurz OAN. Vor allem bekannt für die schmeichelhaften Fragen seiner Reporter im Weißen Haus, die Donald Trump in seinen Pressekonferenzen mit Vorliebe aufruft: "Reporterin: Herr Präsident, Ihre Umfragewerte sind so hoch wie noch nie, Ihr Umgang mit dem Virus bekommt große Zustimmung. Trotzdem überlegen manche Sender, Ihre Pressekonferenzen nicht mehr live zu zeigen. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Trump: Das ist aber eine nette Frage, danke!" US-Medien nach der WahlDass jetzt selbst US-amerikanische Sender wie Fox News den Noch-Präsidenten Trump öffentlich als Lügner erkennen – und andere Sender ihm sogar das Wort abdrehen, komme reichlich spät, meint Samira El Ouassil. Und bald ein eigener Trump-Kanal? Zuletzt gab es Gerüchte, Trump wolle nach seiner Amtszeit einen dieser Fernsehsender übernehmen und so sein eigenes Medienimperium aufbauen. Matthew Gertz von "Media Matters for America" hält es für unwahrscheinlich, dass Trump wirklich einen eigenen Fernsehsender aufbauen will – die Hürden dafür seien in den USA sehr hoch. "Ich denke aber, er wird so oft im Fernsehen auftreten, wie er kann. Es gibt ihm ja offensichtlich sehr viel, sich von Moderatoren interviewen zu lassen, die ihn bewundern. Ich vermute, er wird bei Newsmax zu sehen sein, er wird aber auch wieder zu Fox News gehen. Das ist für ihn der Weg, weiterhin seine Fans zu erreichen. Und die Sender werden sich darum reißen, ihn einzuladen, weil das Quote bringt." Mit Beginn der Amtszeit von Joe Biden wird sich die Situation für Newsmax und OAN ändern. Sie werden aber deswegen nicht überflüssig. Matthew Gertz: "Ich denke, beide Sender werden jetzt in zwei Richtungen weitermachen. Zum einen werden sie die schlimmsten Verschwörungstheorien über die Biden-Regierung verbreiten. Und zum anderen werden sie Trump nicht fallenlassen, im Gegenteil, sie werden regelmäßig weiter über alles berichten, was er tut." Letztlich seien die Entstehung und der Erfolg von diesen Sendern ein Zeichen dafür, dass der amerikanische Konservatismus immer stärker in die Verschwörungsecke abdrifte. Die Trump-Jahre, so Gertz, werden in der US-Medienlandschaft noch lange nachwirken.
Von Sinje Stadtlich
Lange galt Fox News als der liebste TV-Sender von Donald Trump. Doch zuletzt sympathisierte der noch amtierende US-Präsident mit zwei anderen Unternehmen: Newsmax und One America News. Beide halten daran fest, dass Trump der wahre Wahlsieger sei – und haben damit Erfolg.
"2021-01-12T15:35:00+01:00"
"2021-01-13T12:05:18.318000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-sender-fox-news-newsmax-und-oan-buhlen-um-die-rechten-100.html
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