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Rot-Grün-Rot startet Koalitionsverhandlungen
Erstmals an einem Tisch: In Bremen verhandeln SPD, Grüne und Linke über eine gemeinsame Regierung. (Carmen Jaspersen/dpa) Der Verhandlungstisch ist gedeckt und die möglichen rot-grün-roten Koalitionspartner in Bremen sitzen zum ersten Mal in dieser Konstellation zusammen. Rund 40 Gesprächspartner nehmen an der Runde teil, sechs Mal wollen sie sich in diesem Format treffen, die anderen Gespräche finden dann in kleinen Arbeitsgruppen statt. Die Landesvorsitzende der Bremer SPD, Sascha Aulepp, gibt sich nach den Sondierungsgesprächen zuversichtlich, "dass wir hier gemeinsam richtig was hinkriegen, das wir hier für die Menschen in Bremen und Bremerhaven einen Aufbruch organisieren für ein soziales, weltoffenes, klimafreundliches Bundesland Bremen." Finanzen der größte Konflikt In dieser ersten Runde geht es zwar zunächst darum, die kommenden Gespräche zu organisieren, aber dann auch gleich um einen der größten Konflikte: die Finanzen. Dabei wollen die Verhandlungspartner zunächst auf den Gesamtfinanzrahmen blicken, feststellen, wo schon Budget eingeplant ist und welche Spielräume einer rot-grün-roten Regierung in Bremen bleiben. Aus Sicht des regierenden Bürgermeisters Carsten Sieling, SPD, ist die Ausgangslage gut, jedenfalls besser als noch vor der vergangenen Legislaturperiode. "Wir haben natürlich ab 2020 diese 500 Millionen mehr im Haushalt stehen, aber wir haben eine Reihe von Verpflichtungen, wir müssen die letzte Etappe des Rückgangs der Netto-Kreditaufnahme umsetzen, von daher ist es nicht frei verfügbar, aber wenn wir das Geld nicht hätten, dann wären wir kräftig in den Miesen." Grüne strikt gegen Neuverschuldung Die Finanzpolitik wird voraussichtlich eine der größten Hürden der anstehenden Verhandlungen sein. Zwar hat die Linke in den Sondierungsgesprächen offenbar zugesagt, dass sie die Schuldenbremse akzeptieren wird, die Frage bleibt aber, wie weit die Linken den Finanzrahmen werden lockern können. Für die Grünen allerdings kommt eine Neuverschuldung nicht in Frage. Ein weiteres schwieriges Thema dürfte der in Bremerhaven geplante Schwerlasthafen für Offshore-Windkraftanlagen sein. Das umstrittene Projekt wurde vom Verwaltungsgericht Bremen wegen Planungsmängeln untersagt. Trotzdem hält die SPD offiziell an den Plänen fest, während die Grünen und die Linke den Bau nicht unterstützen. Für die Spitzenkandidatin der Linken, Kristina Vogt, geht es bei den anstehenden Verhandlungen aber nicht allein um inhaltliche Aspekte. "Wir haben ja gesagt, wir wollen einen Politikwechsel und kein Weiter-so. Von daher wird das natürlich in den Arbeitsgruppen abzuklopfen sein, und auch tatsächlich mit konkreten Schritten, wann welche Prozesse eingeleitet werden." Erste westdeutsche Regierung mit der Linken Ressortzuschnitte und deren Verteilung wollen die Verhandlungspartner im laufenden Gespräch besprechen. Über Personalien sollen dann die jeweiligen Parteitage abstimmen. Wenn der Koalitionsvertrag zustandekommt, dann wird Bremen das erste westdeutsche Bundesland mit der Linken in der Regierung sein. Kristina Vogt von der Bremer Linken will sich davon aber nicht unter Druck setzen lassen. "Ja, natürlich wird das bundespolitisch beobachtet, aber ehrlich gesagt geht es uns darum, wie wir unser Bundesland voranbringen, und da sind die Hoffnungen oder die Spekulationen auf Bundesebene für uns erstmal zweitrangig." In knapp drei Wochen soll der Koalitionsvertrag fertig sein, dann werden die Mitglieder oder Delegierten der drei Parteien über ihn abstimmen. Eine endgültige Entscheidung gibt es wahrscheinlich Mitte Juli.
Von Felicitas Boeselager
SPD, Grüne und Linke wollen in Bremen gemeinsam regieren. Nach den Sondierungsgesprächen ist die Stimmung zuversichtlich, nun wird über eine gemeinsame Regierung verhandelt. Es wäre die erste Koalition mit der Linken in einem westdeutschen Bundesland.
"2019-06-12T13:16:00+02:00"
"2020-01-26T22:56:46.168000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bremen-rot-gruen-rot-startet-koalitionsverhandlungen-100.html
91,232
Der Präsident ist stets präsent
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa (AFP/ Eric Feferberg) Auf dem Bürgersteig einer breiten Allee in Lissabon wartet eine kleine Menschenmenge auf den Staatspräsidenten: Marcelo Rebelo de Sousa soll das frisch renovierte Gebäude eines Vereins für Kinder aus sozial schwachen Familien einweihen. "Er ist sehr offen und kümmert sich um uns Portugiesen und um das ganze Land", sagt eine Sozialarbeiterin mit langen schwarzen Haaren. "Er ist der Präsident der Zuneigung", fügt eine Kollegin hinzu, und eine weitere Frau ergänzt: "Er hat ein offenes Ohr, ist bescheiden und zeigt sich immer einfühlsam." Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Kein Rechtspopulismus in Portuga - Warum das Land den Rechten trotzt. Als Rebelo de Sousa schließlich auftaucht, bahnt er sich durch die Menschenmenge. Er spricht mit Jugendlichen, lässt sich auf ein paar Selfies ablichten, gibt Küsschen, drückt Hände und Schultern. Der schlanke Mann mit dem breiten Grinsen auf den Lippen ist in seinem Element. Laut der Verfassung übernimmt der portugiesische Präsident vor allem repräsentative Aufgaben – aber kein portugiesisches Staatsoberhaupt hat bisher so viel Wert auf den direkten Kontakt zum Publikum gelegt wie Rebelo de Sousa. Jurist, TV-Kommentator und Politiker In dem hoffnungslos überfüllten Verein hält der Staatspräsident spontan eine Rede: Ohne Mikro, mit einem Lächeln auf den Lippen und vielen schönen Worten für die Verantwortlichen. Auf einem Tisch stehen eine paar Gläser, ein Kellner ist nicht in Sicht. Der Präsident schnappt sich die Portweinflasche und schenkt jedem ein, der sein Glas hinhält. Marcelo Rebelo de Sousa kommt aus einer einflussreichen Lissabonner Familie. Sein Vater war im autoritären Regime, das bis 1974 in Portugal an der Macht war, Generalgouverneur der ehemaligen Kolonie Mosambik und später Minister. Er selbst studierte Rechtswissenschaften, war Journalist und gehörte zur Gründungsredaktion der liberalen Wochenzeitung "Expresso". In den 1990er-Jahren wurde der Juraprofessor zum Oppositionsführer der Mitte-rechts-Partei PSD gewählt, die als Sammelbecken für Konservative, wirtschaftsliberale Unternehmer und Bürgerliche aus dem Norden Portugals zu einer Volkspartei geworden ist. Rebelo de Sousa zählt zum gemäßigten katholischen Flügel, doch seine Popularität hat er nicht der Partei, sondern dem Fernsehen zu verdanken. Vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Januar 2016 war er der einflussreichste politische TV-Kommentator in den portugiesischen Medien. Auch heute noch kann der 70-Jährige kaum einer Kamera ausweichen. Nach dem Besuch im Kindersozialverein begrüßt er die wartenden TV-Journalisten, die ihm Fragen zur aktuellen politischen Situation stellen. Er sagt: "Das Dossier habe ich noch nicht studiert". Oder: "Darüber will ich jetzt noch nichts sagen." Die vagen Antworten reichen den Kamerateams aus. Zum einen, weil der Staatspräsident in Portugal vor allem repräsentieren soll. Aber auch, weil de Sousa sich so prominent in Szene setzt, dass es vielen Journalisten mittlerweile wichtiger zu sein scheint, den Präsidenten im Bild zu haben, als darauf zu achten, was er wirklich sagt. Vor der Kamera präsent, in den Inhalten vage Rebelo de Sousa ist auf dem Weg zu einem anschließenden Termin. Mitten in der Innenstadt steigt er plötzlich aus seiner Limousine aus und läuft über die belebte Lissabonner Flaniermeile Avenida da Liberdade. Sein ständiges Suchen nach einem Bad in der Menschenmenge hat ihm einen Spitzennamen eingebracht: Er sei der "gute" Populist, sagen politische Kommentatoren. Rebelo de Sousa winkt ab: "Ich will immer auf Tuchfühlung mit den Menschen sein. So kann ich Löcher und Leerstellen füllen, die sonst vielleicht von Populisten vereinnahmt werden würden. Der Präsident ist vom Amt her ein Reformer und kein Revolutionär; er ist kein Radikaler, der die Brüche will. Und das ist der Unterschied zum Populisten. Der Populist zeigt sich nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt. Er akzeptiert die Institutionen nicht, und er will mit ihnen brechen. Und das ist genau das Gegenteil von der Idee, für die ich stehe." Der Staatspräsident ist zwar überall präsent, aber trotzdem ist vielen Portugiesen nicht klar, für welche politischen Ideen er steht. Obwohl er eigentlich konservativ ist, hat er von Beginn das ungewöhnliche Regierungsbündnis aus Sozialisten und kleineren radikaleren Linksparteien unterstützt. Und hier liegt wohl auch der Grund, wieso Rebelo de Sousa bei so vielen Portugiesen so beliebt ist, egal ob sie links oder rechts denken oder einfach unpolitisch sind. "Man darf keine Angst haben" Auf dem Weg die Avenida hinunter treten immer wieder Passanten an ihn heran auf der Suche nach einem kurzen Gespräch, einem Foto, einer Umarmung. Ein Bodyguard steht in der Nähe und lässt die Menschen im Umgang mit ihrem Präsidenten fast teilnahmslos gewähren. "Man darf keine Angst haben. Aus Sorge um meine Sicherheit wird mir immer gesagt: Gehen Sie nicht am Strand schwimmen, kaufen Sie nicht in dem vollen Supermarkt ein, fahren Sie nicht alleine Auto. Aber ich mach das trotzdem. Und ich sage meinen Leuten: Das Schlimmste ist, wenn wir Politiker Angst haben und diese Angst öffentlich zeigen. Denn das ist es, was wirklich Unsicherheit schafft." Kurz bevor Marcelo Rebelo de Sousa zu seinem nächsten Termin geht, wird er noch von einer Gruppe Studenten abgefangen. Sie rufen: "Herr Präsident, ein Foto bitte mit Inês, denn sie wird uns morgen verlassen!" Rebelo de Sousa legt väterlich seinen Arm um die junge Frau mit dem hochroten Kopf und lächelt in die Kamera: "Wir können den Populismus, Fremdenhass, Hypernationalismus und Radikalismus nur besiegen, wenn wir für Solidarität und Reformen einstehen und so nah wie möglich am Volk sind und die Menschen vereinen. Bis jetzt hat es in Portugal noch keinen Populismus gegeben, wie wir ihn aus anderen europäischen Ländern kennen. Aber wir müssen uns anstrengen und vor allem auf die große Zahl der Nichtwähler zugehen. Viele Nichtwähler identifizieren sich nicht mit den Politikern, weil die Politiker häufig eine Sprache sprechen, die der Normalbürger nicht versteht. Wir sollten deshalb immer zu, für und mit den Bürgern sprechen."
Von Tilo Wagner
Portugals Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa ist so beliebt wie kaum ein anderer Politiker in der portugiesischen Geschichte. Er liebt das Bad in der Menge – und versteht seine Volksnähe auch als Vorbeugung gegen Populisten und Radikale.
"2019-04-30T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:49:05.232000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugal-der-praesident-ist-stets-praesent-100.html
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"Es ist eine Gratwanderung, ob die AfD es schafft"
Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte im DLF zur AfD: ""Verfassungsschutz würde sofort fündig." (imago stock&people) Peter Kapern: Noch mal zur Erinnerung: Es ist ja erst ein paar Wochen her, da spaltete sich die AfD. Bernd Lucke, selbst rechtspopulistischen Parolen nicht so ganz abgeneigt, wurde sein eigener Laden zu rechts. Er ging und gründete "Alfa". Jetzt läuft in der Rumpf-AfD möglicherweise noch einmal derselbe Prozess ab. Frauke Petry, die Parteichefin, hat den Mitgliedern eine E-Mail geschickt, in der sie hart mit Björn Höcke ins Gericht geht. Höcke, der Thüringer Landeschef der AfD, war mit seinen ausländerfeindlichen und islamophoben Parolen in den letzten Wochen zum Gesicht der AfD geworden, manche sagen: zum wahren Gesicht der AfD. Jetzt geht Frauke Petry auf Distanz zu Höcke. Mitgehört hat Karl-Rudolf Korte, Parteienforscher an der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag, Herr Korte. Karl-Rudolf Korte: Guten Tag, Herr Kapern. Kapern: Nach der Spaltung ist vor der Spaltung, oder was läuft da gerade bei der AfD ab? Korte: Ja. Das ist aber nicht untypisch für so eine Sammlungspartei, die noch im Werden sich befindet und die mit dem Charme durchaus immer wirbt, auch vieles insgesamt transportieren zu können, aber unklar zu bleiben. Kapern: Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, der hat Björn Höcke gestern vorgeworfen, er verbreite völkisches Gedankengut, wie es das in Deutschland schon mal in den 1920er- und 1930er-Jahren gegeben habe. Würden Sie Björn Höcke auch so verorten? Korte: Ja, das würde ich so, und da sieht eben die Spitze im Moment auch das Problem, denn dieser dumpfe, auch rechtsextreme völkische Duktus, der dort durchkommt bei den Reden, bei den Bildern, die er bemüht, bei den Beispielen, die er bringt, ist etwas, was bürgerliche Wähler absolut abschreckt, und da fürchtet sich die AfD-Spitze vor. "Die AfD ist eine typische Sammlungsbewegung" Kapern: Und der von Frauke Petry geführte Flügel der AfD, der ja jetzt - das ist vielleicht so was wie eine Ironie der Geschichte - zum linken Flügel der Partei geworden ist, wie rechtsnational und völkisch ist der denn eigentlich? Korte: Diese Partei hat nach wie vor auch liberale, national-konservative, rechtspopulistische Strömungen, eben als typische Sammlungsbewegung, die sich programmatisch schwer einordnen lassen. Und dies ist ja nicht nur ein Versuch, inhaltlich sich vielleicht abzugrenzen, sondern es ist auch einfach eine Machtfrage, die eine Rolle spielt, ob ein Parteivorstand noch etwas zu sagen hat, oder die Landesmitglieder und damit auch der Landesvorstand wichtiger wird auch für die zukünftige Parteikonstellation. Das steht dahinter. Es ist also ein inhaltlicher Konflikt, aber vor allen Dingen auch eine Machtfrage um die Parteiführung. "Verfassungsschutz würde sofort fündig" Kapern: Nun wird ja diskutiert, Herr Korte, ob die AfD möglicherweise ein Fall für den Verfassungsschutz sei und für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz sei. Wie sehen Sie das? Ist die Höcke-AfD solch ein Fall, oder möglicherweise gar die Petry-AfD? Korte: Ich hatte auf dem Parteitag, auf dem letzten Parteitag in Essen, durchaus den Eindruck, dass in vielen Gesprächen, in vielen Reihen, die dort saßen, der Verfassungsschutz sofort fündig geworden wäre, um Anklagen letztlich vorzubereiten. Das ist in so einer Ressentiment-Partei immer vorhanden. Es ist die Frage, inwieweit die Parteiführung öffentlich damit hausiert, und da hält sie sich zurück. Aber dass es in den Reihen diese Stimmen gibt, für die es sich auch mit Sicherheit für den Verfassungsschutz lohnt, dort etwas zu untersuchen, da kann man von ausgehen. "Es ist eine Gratwanderung, ob die AfD es schafft" Kapern: Nun haben wir ja gerade von unserem Korrespondenten gehört, dass die AfD - und so wird das begründet - wegen des Auftritts von Björn Höcke am vergangenen Sonntag bei Günther Jauch, der ja auch etwas Klamaukhaftes hatte mit dem Deutschland-Fähnchen, das er da rausholte, dass die AfD wegen dieses Fernsehauftritts von Björn Höcke täglich 20 Parteimitglieder verliert. Andererseits muss man sagen, in Umfragen liegt die Partei sehr stabil bei sieben Prozent. Das heißt, je rechter desto attraktiver für Wähler, oder wie ist das im Moment bei der AfD? Korte: Ja, das ist so eine Mischung. Das sind Abstiegsängste, die viel wichtiger sind als jetzt Rassismusfragen, die angesprochen werden. Es ist immer Sehnsucht nach Identität, die eine Rolle spielt, vor allen Dingen auch Anti-Establishment, Protestpartei gegen die da oben. Diese Mischung macht diese Partei für rechte Wähler interessant, auch für die Angstmitte der bürgerlichen Wähler. Und wenn sie dieses Changieren verlässt und rein rechtsextrem argumentiert und auch so auffällt, wird sie diese Angstmitte verschrecken. Insofern ist es eine Gratwanderung, ob die AfD das schafft. Aber diese Angebotslücke im Parteienwettbewerb nimmt die AfD nach wie vor wahr und da wird sie auch mit punkten, auch so punkten, dass sie sich weiter parlamentarisiert, vor allen Dingen, wenn der Druck, die Flüchtlingsproblematik gestalten zu lösen oder zu kontrollieren, nicht abnimmt, sondern zunimmt. Kapern: Das heißt, die AfD braucht Frauke Petry und Björn Höcke, um ausreichend ambivalent zu bleiben und damit auf der Erfolgsspur? Korte: Ja, genau. Sie ist ein Frustventil und ein Unmutsaufsauger, und die müssen immer unklar bleiben, verschiedene Richtungen haben. Insofern schadet es nicht, in Landesverbänden auch stärkere Rechtsausleger zu haben, zumal die AfD als regionale Ostpartei ohnehin daherkommt. Kapern: Welches Potenzial schreiben Sie denn dieser Partei überhaupt zu, wenn sie es tatsächlich schafft, diesen Konflikt, sagen wir mal, so einzuhegen, dass die Kombination von Petry und Höcke weiter möglich ist? Korte: Das hängt immer von den anderen ab. Das ist ja die Wettbewerbssituation der Parteien. Wenn die globalisierungsverängstigten, die Angstmitte keine Ansprechpartner hat in den etablierten Parteien der Mitte, dort Ängste nicht wirklich ernst genommen werden und auch aus Ängsten versucht wird, etwas zu machen, sie produktiv zu nutzen im Streit und auch gestalterisch und nicht nur in Ressentiments umzumünzen, dann hat die AfD weiter Zulauf und wird Resonanzraum dafür auch bekommen, um weiter sich zu stärken. Insofern ist es auch von den anderen Parteien abhängig, nicht nur von der AfD selbst. "Aus Angst kann man nichts machen, aber man muss auf sie eingehen" Kapern: Wie macht man das, Ängste ernst nehmen, ohne Ressentiments zu akzeptieren und hinzunehmen? Korte: Zuversicht, Pläne, Gestaltung, Streitkultur zulassen, vor allen Dingen in den Plänen, die man jetzt entwickelt, keine Neiddebatte aufkommen zu lassen dadurch, dass man jetzt beispielsweise im Wohnungsbau nur sozialen Wohnungsbau für Flüchtlinge macht, also die Gesellschaft versuchen, zusammenzuhalten mit dem, was auf sie zukommt. Das ist offensiv-gestalterisch auch sicherlich besser, als aus diesen Ängsten nur Ressentiments zu machen. Aus Angst kann man nichts machen, aber man muss auf sie eingehen. Kapern: Wer in den Regierungsparteien schafft das, was Sie da gerade skizziert haben, am ehesten? Korte: Das ist geradezu täglich unterschiedlich zu beobachten, weil das war ja der Satz des Bundespräsidenten, unser Herz ist offen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt, und darum geht es: Wer definiert diese Begrenzung im Moment am glaubwürdigsten? Wer ist Orientierungsautorität und Krisenlotse zugleich, diese Begrenzung, dieses Aber in der Eingrenzung deutlich zu machen? Da ringen die zentralen Parteien der Mitte im Moment täglich. Kapern: ... sagt Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler und Parteienforscher an der Universität Duisburg-Essen. Herr Korte, danke, dass Sie heute Mittag Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag! Korte: Ja danke! Kapern: Tschüss! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Peter Kapern
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sieht die AfD aufgrund des "dumpfen und auch rechtsextremen Duktus" von Björn Höcke in einer schwierigen Lage. "Sie ist ein Frustventil und ein Unmutsaufsauger, und die müssen immer unklar bleiben, verschiedene Richtungen haben", um Menschen an sich zu binden, sagte er im DLF.
"2015-10-22T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:05:33.180000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alternative-fuer-deutschland-es-ist-eine-gratwanderung-ob-100.html
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EU setzt auf Ausreisekontrollen in Westafrika
Beim Kampf gegen die Ausbreitung von Ebola wollen die EU-Länder enger zusammenarbeiten. Die EU-Gesundheitsminister einigten sich darauf, ein gemeinsames Vorgehen bei Einreisekontrollen zu erarbeiten. Das betrifft vor allem Frankreich und Belgien, die Länder mit Direktflügen aus den betroffenen afrikanischen Regionen. Potentiell Erkrankte sollen vor ihrer Ankunft anhand von Visadaten und Fluginformationen identifiziert werden. Außerdem sollen Erkrankte bereits bei ihrer Ausreise besser erfasst werden, kündigte EU-Gesundheitskommissar Tonio Borg an: "Zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation WHO wird die Kommission die Kontrollen bei der Ausreise aus Liberia, Guinea und Sierra Leone untersuchen. Damit soll ihre Effektivität überprüft und, wenn notwendig, verstärkt werden." Dabei ist noch nicht sicher, wie Erkrankte am Flughafen bestmöglich identifiziert werden können. Die Körpertemperatur oder Befragungen können nur Anhaltspunkte bieten. Bundesgesundheitsminister Gröhe betonte, dass in Deutschland keine solchen Kontrollen geplant seien. Es gebe keine Direktflüge nach Deutschland aus den betroffenen Regionen. Besonders ein Engagement in Afrika nutze aber der Sicherheit in Deutschland: "Gute Hilfe vor Ort ist die beste Chance, das sehr, sehr geringe Risiko, dass es auch zur Einreise von Erkrankten kommt, so gering wie möglich zu halten." 85 Millionen Euro aus Deutschland Nach Angaben von CDU/CSU wird Deutschland deshalb weitere 85 Millionen Euro bereitstellen, um die Epidemie einzudämmen. Dies habe der Haushaltsausschuss des Bundestages bewilligt. Um die Gesundheitssysteme in Westafrika zu stärken, stelle der Bund 700 Millionen Euro zur Verfügung. Gröhe betonte noch einmal die Zusage, dass alle freiwilligen Helfer bei einer möglichen Infektion zurücktransportiert und behandelt werden könnten. Momentan ist Deutschland dabei noch auf Flugzeuge einer US-Firma angewiesen. Für leichtere Krankheitsfälle gebe es laut Gröhe bereits Isolierzellen. Ab November soll dann die Möglichkeit bestehen, auch schwer Erkrankte, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen, zu transportieren. Dabei übernehme Deutschland auch den Transport und die Versorgung für Patienten anderer Länder. "Der Umstand, dass wir in der Lage waren – übrigens als einziges Land, und das ist heute von der WHO-Vertreterin noch mal ausdrücklich gewürdigt worden – Behandlungskapazität zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass wir hier in der Tat ein erhebliches Potenzial haben, das sich deutlich oberhalb des Niveaus unserer Partnerländer bewegt." Nun wollen sich die Länder darauf einigen, ob sie ihre Kapazität für Evakuierungsflüge ausweiten wollen. Deutschland und Frankreich seien laut Gröhe dafür. Außerdem einigten sich die Gesundheitsminister darauf, den Infektionsschutz für Krankenhäuser zu verbessern. Grundlage sollen die bisherigen Erfahrungen mit Ebola sein. Derweil will die Weltgesundheitsorganisation WHO bisher nicht betroffene Länder in Afrika besser schützen. In 15 gefährdeten Staaten soll das Gesundheitspersonal dafür trainiert werden. Laut WHO sind bereits über 4.500 Menschen an Ebola gestorben. Etwa doppelt so viele Menschen hätten sich infiziert. Experten rechnen mit einem weiteren rasanten Anstieg der Erkrankungszahlen.
null
Die EU-Gesundheitsminister haben sich darauf geeinigt, die Kontrollen von potentiellen Ebolapatienten bei der Ausreise aus Liberia, Guinea und Sierra Leone zu prüfen. Das Engagement in Afrika nutze der Sicherheit in Deutschland, betonte Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU).
"2014-10-16T18:11:00+02:00"
"2020-01-31T14:08:49.530000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schutz-vor-ebola-eu-setzt-auf-ausreisekontrollen-in-100.html
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KI-gesteuerter Automat macht selbständig Chemieexperimente
Der autonome Laborroboter von Prof. Andrew Cooper belädt ein Gestell mit Probengläschen (Prof. Andrew Cooper, University of Liverpool) "Die Proben werden hier gelagert. Da passen 370 Proben rein." Ein Labor am Forschungszentrum DESY in Hamburg. Alke Meents steht vor einer Art Topf, in dem kleine Küvetten lagern, gefüllt mit kristallisierten Virusproteinen. Dann zeigt der Physiker auf einen orangefarbenen Roboterarm. "Der Roboter greift die Probe vollautomatisch. Der Probenwechsel dauert ungefähr 20 Sekunden." Schnell und präzise platziert der Roboter die Proben in einer Apparatur, die die Proteinkristalle mit Röntgenlicht durchleuchtet. Pro Tag sind nahezu 500 Messungen möglich – ohne Roboterhilfe wären es viel weniger. Das Beispiel zeigt: In der Forschung haben Roboter längst Einzug gehalten. Doch das Exemplar, das Andrew Cooper nun konstruiert hat, geht einen Schritt weiter. Eigenentwicklung für zuverlässiges Arbeiten "Wir nennen das einen Roboterwissenschaftler. Ein Roboter, der selbstständig im Labor Experimente macht." Drei Jahre ist es her, da dachte sich Cooper, Professor an der Universität Liverpool, dass der Alltag in einem Chemielabor eine eher stupide Angelegenheit ist: Stoffe abwägen, Reagenzgläser befüllen, Reaktionen beobachten. Eine Maschine, die das dem Menschen abnimmt, gab es damals nicht zu kaufen. Also machte sich Coopers Team kurzerhand an die Arbeit und entwickelte selbst eine. "Wir nahmen den Greifarm eines kommerziellen Industrieroboters. Allerdings war er zu kurz, um über den Labortisch zu greifen, deshalb mussten wir ihn verlängern. Doch die Hauptarbeit war, eine zuverlässige Steuerungssoftware zu entwickeln. Schließlich soll so ein Roboter tagelang Experimente machen, ohne dabei auszufallen." Die Maschine trifft eigenständige Entscheidungen Dazu statteten die Fachleute das Gerät mit Laserscanner, Berührungssensoren und Spezialgreifern aus. Damit kann der fahrbare Laborassistent autonom navigieren und mit Reagenzgläsern hantieren, bis auf den Zehntelmillimeter genau. Und: "Wir haben dem Roboter ein Gehirn verpasst. Dadurch befolgt er nicht nur stur eine Reihe von Anweisungen. Sondern er entscheidet selber, was als Nächstes zu tun ist." Cooper und Co. programmierten ihre Maschine mit einer KI, einem selbstlernenden Algorithmus. Das versetzt sie in die Lage, Zwischenergebnisse auszuwerten und Folgeexperimente zu planen. Die Nagelprobe: Suche nach einem Katalysator Um zu sehen, was der Roboter-Wissenschaftler draufhat, setzten ihm die Fachleute eine anspruchsvolle Aufgabe vor: Der Roboter sollte einen Katalysator finden, der mit Hilfe von Sonnenlicht Wasserstoff produziert. "Wir gaben dem Roboter einen Satz Chemikalien und ein paar Kandidaten mit einer bestimmten katalytischen Aktivität. Der Roboter sollte versuchen, diese Kandidaten zu optimieren. Acht Tage war er beschäftigt und führte 698 Experimente aus. Am Ende fand er einen Katalysator, bei dem die Ausbeute an Wasserstoff sechsmal höher war als bei den Kandidaten, mit denen wir begonnen hatten." Kein einziges Mal habe der Roboter dabei ein Reagenzglas zerbrochen, freut sich Andrew Cooper. Nahezu rund um die Uhr kann der automatische Chemiker im Labor schuften. Er braucht lediglich eine Pause von zweieinhalb Stunden, um seine Batterie aufzuladen. Einsatzfelder sieht Andy Cooper vor allem dort, wo es gefährlich wird – beim Hantieren mit giftigen Chemikalien, infektiösen Keimen oder radioaktivem Material. Der Roboter soll keine Arbeitskräfte ersetzen "Das System steht kurz vor der Anwendungsreife. Eine Sache, die wir noch tun müssen, ist, eine benutzerfreundlichere Bedienungssoftware zu schreiben. Dafür haben wir eine Spin-off-Firma gegründet. Und wir hoffen, dass wir in den nächsten anderthalb Jahren ein Produkt auf den Markt bringen können." Bleibt eine Frage: Könnte so ein forschender Roboter nicht dafür sorgen, dass künftig manch ein Arbeitsplatz in den Labors wegrationalisiert wird? "Das würde ich nicht so sehen. Es sind immer noch die Menschen, die die Ideen haben und die Forschungsstrategien festlegen. Das kann der Roboter nicht. Deshalb glaube ich nicht, dass er Arbeitskräfte ersetzt. Stattdessen wird er dafür sorgen, dass die Leute mehr Muße zum kreativen Nachdenken haben und weniger Zeit mit dem Wägen und Dosieren von Chemikalien verbringen müssen."
Von Frank Grotelüschen
Der Alltag in einem Chemielabor kann schon ziemlich öde sein – den lieben langen Tag Stoffmengen abwägen, Chemikalien pipettieren und mit Reagenzgläsern hantieren. Ein britisches Forschungsteam präsentiert nun einen intelligenten Chemieroboter, der den Menschen all diese Arbeiten abnimmt.
"2020-07-09T16:35:00+02:00"
"2020-07-10T10:03:00.585000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forscherkollege-roboter-ki-gesteuerter-automat-macht-100.html
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Luxemburg will den Weltraum erobern
Satellit vor der Erdkugel mit Europa (imageBROKER) Unternehmen sollen Pläne entwickeln, wie zum Beispiel Asteroiden nutzbar gemacht werden können. Der Griff nach den Sternen hat sich für das kleine Land schon einmal als Glücksfall erwiesen. Seit Jahrzehnten versorgt der Satelliten-Betreiber SES nicht nur die Europäer mit Fernsehprogrammen oder Internet sondern die ganze Welt. Etienne Schneider, der WegbereiterLuxemburgs Aufbruch ins All hat vor allem Dingen mit einem Mann zu tun: dem früheren sozialistischen Wirtschaftsminister Etienne Schneider. Mit viel Geld und Expertenwissen lässt "Major Tom" die Weltraumfiktion im kleinen EU-Staat zur Realität werden. Luxemburg wagt und gewinntBeim luxemburgischen Weltraumkonzept geht es in erster Linie ums Geschäft. Das Land hat eine nationale Weltraumagentur gegründet. Sie soll junge Unternehmen mit guten Ideen, die sowohl für die Erde als auch für den Weltraum taugen, nach Luxemburg locken. Am Anfang war der SatellitDer Griff nach den Sternen hat sich für das Großherzogtum Luxemburg schon einmal als Glücksfall erwiesen. Seit Jahrzehnten versorgt der Satelliten-Betreiber SES nicht nur die Europäer, sondern die ganze Welt mit Fernsehprogrammen und Internet. Ein Roboter für den Mond Russen, Chinesen und Amerikaner stecken viel Geld in ihr Raumfahrtprogramm. Luxemburg geht einen anderen Weg: Mit ihrer Weltraumstrategie und einen eigenen Weltraumgesetz lockt das Großherzogtum private Investoren und junge Start-ups ins Land - mit Erfolg. Fachkräfte fürs All gesuchtSeit kurzem bildet Luxemburg seinen wissenschaftlichen und technischen Nachwuchs selbst aus. Die Universität bietet Bachelor-Absolventen verschiedenster Fachrichtungen einen Space-Master an. Die Fachkräfte sollen helfen, Luxemburg als Standort für Raumfahrttechnik zu etablieren.
Von Tonia Koch
Luxemburg zieht es ins All. Aus strategischen und ökonomischen Gründen. Mit viel Geld und Expertenwissen von außerhalb hat der frühere luxemburgische Wirtschaftsminister Etienne Schneider den Boden dafür bereitet.
"2020-02-22T11:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:45:02.480000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-traum-vom-all-luxemburg-will-den-weltraum-erobern-100.html
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Geflohen aus Afghanistan in den Krisenherd Pakistan
Gadab im Süden Pakistans – ein Flüchtlingslager am Rande der Zehnmillionenmetropole Karachi. Gadab, das ist sonnenverbrannte, aufgebrochene Erde, das sind Steine und Sträucher und eine unübersehbare Zahl an Lehmhütten, viele halb verfallen. Dazwischen: eine Krankenstation. Eine niedrige, weiß gestrichene Baracke, davor zwei lange Steinbänke. Dort sitzen zwei Dutzend afghanische Frauen und warten geduldig, bis die Krankenstation öffnet und sie an der Reihe sind. Die meisten haben Babys oder Kleinkinder auf dem Schoß, einige ältere Kinder spielen am Boden mit Steinen und Müll. Es ist drückend heiß an diesem Morgen, um neun Uhr zeigt das Thermometer fast fünfunddreißig Grad. Ruth Pfau wischt sich den Schweiß von der Stirn, unter dem Baumwolltuch, das sie sich über den Kopf gelegt hat, staut sich die Wärme. Die Ordensschwester steht vor der Krankenstation und sieht nach dem rechten. Sie ist 81 Jahre alt – aber das ist der energischen Frau nicht anzusehen. Mehrmals wöchentlich kommt sie hierher, sie hat die Krankenstation aufgebaut. Doch wie groß das Gelände genau ist, wo es anfängt, wo es endet, weiß nicht einmal sie. Auch nicht, wie viele Flüchtlinge hier in Gadab leben."Wir haben es nie gewusst. Wir haben mehrmals versucht, irgendwelche Informationen über die Bevölkerung zu kriegen – kriegen sie aber nicht. Die sind ja nicht auf einer Stelle. Wenn die sehen, dass das Leben irgendwo anders leichter ist, dann ziehen die über Nacht aus. Also wir haben angefangen, da meinten die, 50.0000. Die behaupten jetzt, mehr als 100.000, und ich glaube das."Ruth Pfau begrüßt ihre Mitarbeiter, zwei Ärzte und eine junge Helferin. Am Eingang wartet ein halbwüchsiges Mädchen auf sie, 14 oder höchstens 15 mag sie sein. Sie trägt ihren fünfjährigen Bruder auf dem Arm. "Er hat als kleines Kind hohes Fieber gehabt, und da sind Teile seines Gehirns zerstört worden."Schicksale wie dieses sind Alltag für die Deutsche, seit sie vor über 50 Jahren nach Pakistan gekommen ist. Angefangen hat sie mit einem Lepra-Krankenhaus in Karachi, mittlerweile betreibt ihre Hilfsorganisation "MALC" Dutzende von Projekten, die über das ganze Land verteilt sind: Überall dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Zum Beispiel hier in Gadab. Für die Bewohner, seien es nun 80.000 oder 100.000, gibt es keinerlei Hilfen von der Regierung in Islamabad. Niemand interessiert sich dafür, wer hier lebt, und unter welchen Bedingungen und warum er gekommen ist. Afghanische Flüchtlinge gibt es schon lange in Pakistan, viele kamen Ende der siebziger Jahre, nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan. Dann nahm der Flüchtlingsstrom immer weiter ab, bis er im Herbst 2001 wieder anschwoll, kurz nach den Anschlägen vom 11. September, als die USA Afghanistan angriffen, um gegen Osama Bin Laden und die Hintermänner der Terroranschläge vorzugehen. Ruth Pfau erinnert sich. "Als die Afghanen 2001 rüberkamen, da waren die nicht anerkannt als Flüchtlinge. Die lebten in einem Zustand, das konnte einem das Herz umdrehen. Aber Pakistan weigerte sich, die Tatsache zu sehen, dass die eben hier sind. Und da bin ich damals nach Islamabad. Da kannte ich ein paar Leute. Und die sagten dann: Wir könnten aber nicht kommen, weil das sind ja Taliban. Wer da nun ein Taliban ist und wer Waffen im Haus hat, das weiß ich ja nicht. Ich kann nur sagen: Wir haben nie Schwierigkeiten gehabt, nie."Ruth Pfau fragt nicht nach dem Woher. Sie fragt nur nach dem Wohin. Und sie fragt auch nicht nach der Gesinnung. Nur nach dem Befinden. Viele nennen sie die "Mutter Theresa Pakistans". Taliban hin oder her: Sie hilft dort, wo sich sonst keiner hinwagt. Zum Beispiel ins Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan. Zuflucht für Tausende von Flüchtlingen. Und Rückzugsgebiet für militante Islamisten. Für Taliban. Al-Qaida-Aktivisten. Hier hatte Osama Bin Laden sein Hinterland. In keinem Land der Erde leben so viele Flüchtlinge wie in Pakistan: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen schätzt ihre Zahl auf 1,9 Millionen. Eine enorme Belastung für das Land, zumal die meisten von ihnen aus dem afghanischen Kriegsgebiet stammen: 1,7 Millionen sollen es sein. Aber wer weiß das schon. Niemand hat die, die auf den trostlosen Brachflächen am Rande der Städte lagern, jemals gezählt. Auch nicht die, die es bis nach Gadab geschafft haben."Da sind Leute, die sind jetzt schon das 30. Jahr hier, da sind Leute, die sind fünf Tage hier. Das hat eigentlich immer angehalten. Manchmal wegen der Wasserknappheit. Da erzählen uns Mütter, sie hätten nicht mal eine Tasse Wasser gehabt, um sie den Kindern zu geben, wir mussten weg."Für die pakistanische Regierung sind die Flüchtlinge aus Afghanistan nicht nur ein soziales Problem, sondern vor allem dieses: ein Sicherheitsrisiko. Die meisten von ihnen sind Paschtunen – und die Paschtunen sind bei den Taliban in der Mehrheit. Deshalb gilt den Paschtunen die besondere Aufmerksamkeit der pakistanischen Sicherheitskräfte. Ein Problem, das sich durch den aktuellen Streit zwischen den USA und Pakistan um Militärhilfen noch zuspitzen könnte: Es geht dabei um Geld, das die USA jedes Jahr nach Islamabad überweisen, um Pakistan beim Anti-Terror-Kampf zu unterstützen. Washington hat dieser Tage angekündigt, die Auszahlung von 800 Millionen zurückzuhalten, das entspricht einem Drittel der versprochenen Hilfen für Pakistans Militärhaushalt. Im Gegenzug droht die pakistanische Regierung damit, einen Teil der Truppen aus dem Grenzgebiet zu Afghanistan abzuziehen: Das könnte dazu führen, dass gewaltbereite Extremisten Pakistan noch ungehinderter als Rückzugsgebiet nutzen können – und die Sicherheitslage in der Region noch instabiler machen, als sie ohnehin schon ist. Gegen Mittag ist der Andrang vor der Krankenstation noch größer geworden. Doch Dr. Razar lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, er impft Kinder, legt Verbände an, beruhigt schreiende Säuglinge. Der Afghane ist Arzt in der Krankenstation – und hat täglich mit den verschlossenen, bärtigen Männern zu tun, die selbst behandelt werden wollen oder ihre tief verschleierten Frauen in den undurchsichtigen Burkas zu ihm bringen. Weiß er etwas von Taliban hier im Lager? Von gewaltbereiten Islamisten, die sich hier möglicherweise immer noch verstecken?"Wir wissen es nicht – vielleicht! Hier leben ganz unterschiedliche Menschen, wir wissen nicht viel über sie."Und setzt er lächelnd hinzu: Wir wollen es auch gar nicht wissen."And we don't want to know."Das Schicksal Pakistans ist eng mit dem Afghanistans verknüpft. Geht es dam afghanischen Patienten schlecht, hat der Nachbar Pakistan Schnupfen: Afghanistan ist der Schauplatz für den Stellvertreterkrieg zwischen Pakistan und Indien – beide versuchen, ihren Einfluss auf Afghanistan geltend zu machen, um den Gegner in Schach zu halten. Hinzu kommen die Stammesverbindungen, die familiären Beziehungen über die Grenzen hinweg – eine Grenze, die mitten durch das Stammesgebiet der Paschtunen führt und Familien trennt: Sie scheren sich nicht um Schlagbäume oder Militärpatrouillen. Sie folgen ihren uralten Handelswegen. Und lassen sich nicht auseinanderdividieren in Afghanen oder Pakistaner: Sie sind Paschtunen. Das ist ein Grund, weshalb bisher alle Bemühungen der pakistanischen Regierung gescheitert sind, das Flüchtlingsproblem dauerhaft zu lösen. Islamabad verfolgt seit vielen Jahren eine Politik der "Repatriierung" - mehr oder weniger konsequent. Die Afghanen sollen mit allen Mitteln dazu gebracht werden, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. "Wir hatten ja zwischendurch geholfen, die Leute zu repatriieren, also massenhaft. Die wollten alle zurück",erzählt Ruth Pfau vom Beginn ihrer Arbeit im Lager vor vielen Jahren."Und dann war das zu Ende, und dann hat die Regierung diese Camps gebulldozt, und da habe ich gedacht, jetzt ist das Problem zu Ende. Dann haben wir uns ein paar Jahre nicht drum gekümmert. Dann bin ich zufällig bei Gadab vorbeigefahren - da standen die Camps wieder."Einen Flüchtlingspass, der ihren Status und ihren Aufenthalt legalisieren würde, besitzen die Wenigsten. Die meisten halten sich faktisch illegal in Pakistan auf. Und geraten immer wieder in die Fänge der pakistanischen Sicherheitskräfte, wie Ruth Pfau, die 81-jährige Ordensfrau, oft genug selbst erfahren hat."Dann haben die das zwischendurch wieder probiert und jeden, der Afghane war und keine Einreisegenehmigung hatte, ins Gefängnis gesteckt. Da haben wir uns dann dagegen gewehrt. Und dann haben wir die alle für nur 300 Rupies ausgelöst."Drei Euro pro Mann hat ihre Organisation für die Freilassung bezahlt– vor zwei Jahren war das. Nun leben die Männer wieder im Camp - bis sie das nächste Mal verhaftet werden und Ruth Pfau wieder tief in die Tasche greifen muss, um sie freizubekommen. Afghanen stehen auf der sozialen Leiter in Pakistan ganz weit unten – und das will etwas heißen: Schließlich sind auch die meisten Pakistaner finanziell abhängige und damit verarmte Bauern. Fast jeder zweite kann nicht lesen und schreiben. So zeigen sich in afghanischen Flüchtlingscamps wie dem in Gadab die sozialen und politischen Probleme des Landes wie in einem Brennglas: Razar, der afghanische Arzt in Ruth Pfaus Krankenstation, sieht die Folgen dieser Probleme jeden Tag in seinem Behandlungszimmer: "Die meisten leiden an Hautkrankheiten, weil es nicht genügend Wasser gibt. Es gibt Wassertanks, die das Wasser an die Menschen verteilt, die Menschen müssen es kaufen. Wir wissen auch nicht, woher das Wasser stammt, und wir wissen nicht, ob es sauber ist. Wir benutzen es auch hier im Krankenhaus."25 Liter kosten fünf bis zehn Rupien, das entspricht etwa zehn Cent – viel Geld für Menschen, die so gut wie kein Einkommen haben und buchstäblich von der Hand in den Mund leben oder von dem, was sie sich irgendwo zusammen betteln. Keine ausreichende Wasserversorgung, kaum sanitäre Anlagen, Strom höchstens stundenweise, viel zu wenig Bildungsangebote – ein Leben ohne jede Perspektive, ohne jede Hoffnung auf Veränderung. Und doch haben die gesellschaftlichen Traditionen und sozialen Unterschiede auch hier im Lager ihre Gültigkeit: Wer aus einer großen, namhaften Familie stammt, hat es allemal besser als die namenlosen Habenichtse. Ruth Pfau kümmert sich vor allem sie, um diese Benachteiligten, ihre "Sozialfälle", wie sie sie nennt.Ein paar hundert Meter von der Krankenstation entfernt: Müll, so weit das Auge reicht. Haufen mit Abfällen aus Metall, Kunststoff, Pappe. Hadschi Hallal Edim steht bis zu den Knöcheln zwischen den Müllresten. Das Gesicht unter dem weißen Turban ist sonnengegerbt, die Hände tiefschwarz. Der bärtige Afghane lebt seit 28 Jahren im Camp, mit zwei Ehefrauen und insgesamt acht Kindern. Irgendwann ist er auf die Idee mit dem Müll gekommen: Mit Abfällen lässt sich Geld verdienen. Den Unrat kauft er den unzähligen Müllsammlern in Karachi ab und karrt ihn hierher, ins Lager, wo er sortiert und handverlesen wird. Dann wird er exportiert – bis nach China geht die vermeintlich wertlose Ware, die dort weiterverarbeitet wird. Mittlerweile arbeiten mehrere Männer für Hadschi Hallal Edim. Auch Halbwüchsige und Kinder sind damit beschäftigt, den Müll zu sortieren. Fünf Rupien verdienen sie pro Stunde, das sind etwa fünf Cent. Als Ruth Pfau ihn fragt, was er verdient, weicht er aus:"Das hängt vom Dollar ab. Wenn der Dollar runtergeht, verdiene ich mehr, sonst weniger. Das kommt eben drauf an, wie die Geschäfte stehen. Und dann habe ich ja noch viele Kosten. Das Geschäft hat mir keiner beigebracht. Ich habe nur versucht, irgendwie Geld zu verdienen, um meine Kinder satt zu bekommen. Angefangen habe ich mit Papier. Dann hat sich zu meinem Erstaunen herausgestellt, dass sich fast alles verkaufen lässt."Ruth Pfau will von ihm wissen, wie das Müllgeschäft funktioniert. Sie weiß, dass die Menschen hier nur wenige Möglichkeiten haben, Geld zu verdienen: Mit dem Müll gelingt das bisher aber nur ein paar wenigen wie Hadschi Hallal Edim.Schon seit einiger Zeit denkt sie darüber nach, selbst mit ihrer Organisation ins Müllgeschäft einzusteigen: Damit mehr Menschen im Lager davon profitieren. Doch der Afghane, ganz Geschäftsmann, lässt sich nicht in die Karten schauen:"Sie bekommen niemals ein Ja oder Nein von einem richtigen Afghanen. Sie bekommen eine Geschichte."Die Nonne fragt ihn auch nach seiner Familie, nach seinen Kindern, nach der Schule und ob sie überhaupt Unterricht haben. Ja, sagt er – das Leben sei zwar hart im Lager; es gebe kein Wasser, manchmal zu wenig zu essen. Aber es ist ihm wichtig, dass die Kinder in die Schule gehen. Das findet Ruth Pfau bemerkenswert."Ich bin ja froh, dass sie jetzt endlich daran denken, dass die Kinder was lernen sollen, da haben die ja überhaupt nicht dran gedacht – von denen ist ja keiner in der Schule gewesen. Also da haben wir jetzt wirklich Boden unter den Füßen. Aber da müssen wir jetzt drauf bauen."Und das meint Ruth Pfau ganz wörtlich. Nur wenige Meter entfernt soll eine neue Schule entstehen, direkt neben den Müllbergen. Zwei Schulen gibt es bereits im Lager, eine für 600 Kinder, eine weitere, kleinere nimmt behinderte Schüler auf. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, sagt Ruth Pfau – die gerne noch viel mehr Schulen bauen würde, um den Kindern Bildung und damit eine Zukunft zu geben. Damit begibt sie sich in Konkurrenz zu den Koranschulen, den Madrassas, die überall dort entstehen, wo es Moscheen gibt – und es stehen 36 Moscheen in Gadab."Wir verlieren die Kinder an die Madrassas. Die können weder die Schulbücher noch das Schulgeld bezahlen, und deshalb gehen sie dorthin. Obwohl sie hier kein Essen kriegen wie in vielen anderen Madrassas. Wir sind ja auch dafür, dass sie die Madrassas besuchen, aber eben nicht nur. Was nützt ihnen das, wenn sie nur den Koran beten lernen?"Die Schule, die Ruth Pfau mit aufgebaut hat, liegt ein paar Autominuten von den Müllbergen entfernt, in einer Art Geschäftsstraße. Aus einer Werkstatt dringt Lärm, an Markständen werden Lebensmittel angeboten: Gemüse, Käse, große Fleischstücke baumeln an Haken. In einer Hofeinfahrt spielen Kinder an einem Tischkicker. Gegenüber liegt der Eingang zur Schule – fast versteckt hinter all den Buden und Ständen.In mehreren offenen Klassenzimmern sitzen Kinder unterschiedlichen Alters auf Kissen am Boden. Unter ihnen sind ganz kleine, aber auch schon größere Jungen und Mädchen werden getrennt unterrichtet, alle tragen blaugraue Schuluniformen, die der Mädchen mit Schleier. Sobald ein Gast den Raum betritt, grüßen die Schüler ohne jede Aufforderung im Chor, ansonsten sitzen alle mucksmäuschenstill da, lauschen der Lehrerin: Auch sie ist von Kopf bis Fuß in schwarzen Stoff gehüllt, der nur das Gesicht freigibt. In Klasse 7 bereiten sich Schüler auf einen Mathematiktest vor, einer rechnet an der Tafel vor:Shamar Hamad, der Schulleiter, in Hemd und Hose gekleidet, macht einen gebildeten und weltoffenen Eindruck: Er stammt aus einer afghanischen Politikerfamilie, also aus der Oberschicht. Hier im Lager musste er viel Überzeugungsarbeit leisten für diese Schule:"Wir haben mit vielen Eltern hier gesprochen, um sie zu bitten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, und Inshallah, nun haben wir hier sogar eine 8. Klasse. Zu Anfang war es schwierig für mich, Jungen und Mädchen zusammen zu unterrichten, aber jetzt ist auch Koedukation möglich."Das Geld für die Schule stammt von der deutschen Regierung – was allerdings genau hier gelehrt wird, kontrolliert keiner. Die Wände der Klassenräume sind frisch gestrichen, an einigen Stellen schimmern bunte Disneyfiguren unter der weißen Farbe durch – sie sind einfach übermalt worden. Über den Lehrplan kann Shamar Hama nicht viel sagen, aber das schon: Immerhin komme den Kindern hier das zugute, was ihnen zuhause in Afghanistan bestimmt fehlen würde: ein Mindestmaß an Bildung. Ob ihnen ein Schulabschluss allerdings später tatsächlich etwas nutzen wird, kann auch der Schulleiter nicht sagen."Ich weiß es nicht. In Pakistan dürfen sie nicht arbeiten, die Regierung erlaubt das nicht. Sie werden nach Afghanistan gehen und dort ihr Bestes geben. Ich hoffe es, Inshallah. Ich kenne die Situation in Afghanistan. Ich hoffe, dass sie es schaffen werden."Er hat sich fest vorgenommen, hier im Lager zu bleiben, bis die ersten Schüler ihr Abschlusszeugnis in ihren Händen halten. Vor allem eine Hoffnung treibt ihn dabei an: Dass die Menschen, die Bildung haben, nicht kämpfen werden."Menschen, die Bildung haben, werden nicht kämpfen."Fragen- und Antwortkatalog der Bundesregierung zum Afghanistan-Einsatz
Von Jeanette Seiffert
In keinem Land der Erde leben so viele Flüchtlinge wie in Pakistan. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan: 1,7 Millionen sollen es laut UNO sein. Wer da Taliban oder Extremist ist, lässt sich nicht feststellen. Von Pakistan haben die Heimatlosen keine Hilfe zu erwarten - wie so oft sind es private Hilfsorganisationen, die sich kümmern.
"2011-07-12T18:40:00+02:00"
"2020-02-04T01:46:01.136000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geflohen-aus-afghanistan-in-den-krisenherd-pakistan-100.html
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Liebe in Zeiten des Umbruchs
In Köln ist etwas gelungen. Aus verschiedenen Gründen. Bei der Politik muss man beginnen. Stalins Handschrift ist in Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" ja nicht zu überhören. Im vaterländischen Krieg gegen Hitlers Invasoren sollte patriotisch Stimmung gemacht werden, um die Massen für die Sache des Diktators zu gewinnen. Bei der Kunst muss man weitermachen. Denn Prokofjew hatte im Kompositionsprozess nicht nur mit den politischen Erwartungen zu ringen. Tolstois Monumentalepos über die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands während der Napoleonischen Kriege in einen Opernabend zu überführen, war schon für sich genommen ein Unterfangen, das die Möglichkeiten des Musiktheaters zu sprengen drohte. Siebzig Stunden gelesenen "Krieg und Frieden" hatte der Komponist am Ende auf viereinhalb Stunden Musik eingedampft. Dabei zerfällt das Werk, anders als der Roman, in zwei Teile. Die ersten sieben Bilder erzählen die unglückliche Liebesgeschichte von Fürst Andrej und Natascha, die folgenden sechs Bilder vom Krieg, wo politisch korrekt jene sowjetische Pathospauke geschlagen wird. Jetzt zum Gelingen: Der Regisseur der Kölner Inszenierung, Nicolas Brieger, hat mit seinem Zugriff beide Schwächen der Oper, das Vaterlandsgedröhne und den ästhetischen Bruch, geschickt in den Hintergrund gedrängt und damit die Komposition näher an Tolstois Epos herangeführt. Brieger hat zum einen beherzt gekürzt, die Partie des siegreichen russischen Feldmarschalls Kutusow samt Jubelfeier sogar komplett gestrichen. Still und nachdenklich endet in Köln die Oper und dauert nur noch gute drei Stunden. Zum anderen hat Brieger von vornherein das Private und Politische miteinander szenisch verquickt. Andrejs und Nataschas Liebesgeschichte spielt im Ambiente einer dekadenten, selbstsüchtigen Machtelite, deren Untergang längst besiegelt ist. Die private Erschütterung tragen und treiben die Protagonisten hinein in die eskalierende Gewalt, ins reinigende Stahlgewitter. Auch Bühnenbildner Raimund Bauer verbindet die Sphären. Die autistische Aristokratie dreht ihre Walzerschritte auf roher Erde zwischen den schimmelnden Kulissen der Paläste. Wobei die gammeligen Wände selbst in permanenter Bewegung sind und den Blick freigeben auf die Fotografie eines fluchtartig verlassenen Herrschersaales unserer Tage irgendwo zwischen Bagdad und Tripolis. Dennoch: Bühne und Szene aktualisieren nicht und historisieren nicht. Sie zeigen vielmehr ein zeitloses Drama über Menschen und Gesellschaften in Zeiten des Umbruchs. Die ein oder andere etwas überspitzte Bildidee schmälert den Erfolg kaum. Das Sängerensemble mit seinen fast 30 solistischen Rollen ist in Köln glänzend besetzt. Stellvertretend seien nur drei genannt: Johannes Martin Kränzle als Andrej mit einem schön konturierten und farbreichen Bariton, Olesya Golovneva als Natascha mit einem lyrischen, Gold schimmernden Sopran und Matthias Klein als Pierre Besuchow mit glänzendem Tenor. Das Gürzenich-Orchester unter Michael Sanderling, dem Sohn des gestern verstorbenen legendären Dirigenten Kurt Sanderling, arbeitet präzise und lebendig die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Klangschichten der Partitur heraus. Viel Tschaikowski ist dabei zu hören und auch Puccini. Das Kanonengedröhn wirkt dabei wie ein Spaß. Die Kölner Oper ist mit dieser Spielzeiteröffnung vielversprechend in die Saison gestartet.
Von Christoph Schmitz
Es war das Entsetzen über den deutschen Überfall auf die Sowjetunion, das den russischen Komponisten Sergei Prokofjew dazu brachte, Tolstois "Krieg und Frieden" in eine Oper zu transformieren. Regisseur Nicolas Brieger hat sich des Stücks angenommen und ist an der Kölner Oper vielversprechend in die Saison gestartet.
"2011-09-19T17:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:18:02.022000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/liebe-in-zeiten-des-umbruchs-100.html
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Streitschlichter im Einsatz
Große Pause in der Anne-Frank-Grundschule direkt an der Spree. Ein Hof, von dem Schülerinnen und Schüler träumen: Klettergerüste, Tischtennisplatten, Trampolins. Viel Platz zum Rennen, Spielen, Toben. Kinder drängeln sich um die Trampoline, feuern ein Mädchen an. Plötzlich springt ein Junge mit auf das Trampolin, rempelt das Mädchen an, es kommt zum Streit. Zwei Mädchen in neongelben Westen und mit gelber Baseballkappe auf dem Kopf kommen dazu, versuchen zu schlichten. "Also, ihr wollt nicht, dass die Jungs euch nerven und reinspringen. Könnt ihr dann bitte aufhören, sie zu nerven, weil, ihr könnt ja gerne mitspringen. Wichser. Auch bitte keine Ausdrücke. Der schubst mich eben." Ganz so einfach sind die Streithähne nicht zu trennen. Immer mehr Kinder mischen sich ein, das Ganze droht zu eskalieren. Die 11-jährige Lara hebt ihre Stimme:"Alle die am Streit beteiligt waren, bitte mitkommen, alle anderen bleiben beim Trampolin."Lara lässt sich von beiden Seiten den Hergang des Konflikts erläutern, fordert Entschuldigungen von allen Beteiligten. "Er hat sich auch entschuldigt. Nein? Dann entschuldige dich mal. Entschuldigung. Angenommen. Und du entschuldigst dich auch noch einmal. Wenn's noch mal passiert, dann schreiben wir das auf und geben den Zettel deiner Lehrerin. Und dann kann da was passieren. Dann kriegst du Ärger. Und dann kriegst du einen Brief an deine Eltern und dann kriegst du wirklich Ärger. Jetzt könnt ihr spielen gehen, und wenn noch einmal so etwas passiert, dann sagt ihr uns einfach bescheid." Antonia hat ein schwarzes Klemmbrett und einen Stift in der Hand. Sollte ein Streit so eskalieren, dass sie ihn nicht schlichten kann, dann füllt sie einen Zettel aus, gibt ihn weiter an den zuständigen Lehrer. "Hier schreibt man den Namen von uns, den Buddies. Den Ort des Konflikts, Vorderhof oder Hinterhof. Die Zeit, erste große Pause oder zweite große Pause. Dann Zeugen, das ist auch immer wichtig."Antonia, Lara, Lelesa und Emilia tragen gelbe Westen. Sie sind Buddies - Kumpel. Sie opfern ihre Pausen, um auf dem Schulhof der Anne-Frank-Grundschule Streit zu schlichten. Sie beschützen die Schwachen vor den Starken, die Kleinen vor den Großen. Und sie vermitteln die wichtige Stoppregel. Diese lautet: Wer laut Stopp ruft und dabei die Hand hebt, der muss von den anderen in Ruhe gelassen werden - nicht immer einfach umzusetzen. "Hallo, ich bin Lelesa und ich bin 11 Jahre alt.""Wurdest du schon selber mal angeschrien oder angemotzt oder so?""Da waren mal zwei Viertklässler, die haben sich geprügelt und ich wollte dazwischengehen und ich wusste nicht, wie das geht. Dann bin ich dazwischen und hat selber was abbekommen. Aber jetzt weiß ich wie das geht.""Also ich finde das auch gut, das Kinder Buddies sind. Kinder haben selber schon mal so einen Fall gehabt und die Kinder haben vielleicht mehr Vertrauen zu ihnen als zu den Lehrern. Hier sind jetzt so viele Kinder auf dem Hof, vielleicht können wir sie mal fragen, wie sie das Buddy-Projekt finden. Ihr beiden, kommt ihr mal her? Wie findet ihr das Buddy-Projekt?""Doof.""Warum?""Ich mag Buddies nicht.""Wir haben eine Umfrage gemacht, und alle fanden das gut, da gab es nur ein paar Ausnahmen, so wie der hier, das sind Einzelfälle, die das doof finden. Der hier, der ist auch ganz schön auffällig." Bereits vor sechs Jahren hat sich die Anne-Frank-Grundschule dem Buddy-Programm angeschlossen, seitdem ist das Klima in der Schule eindeutig besser geworden, bestätigen alle. Da die Kinder viele Konflikte unter sich lösen, haben die Lehrer mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe, so profitiert auch der Unterricht.
Von Claudia van Laak
Aufeinander achten, füreinander da sein, miteinander lernen: Unter diesem Motto steht das sogenannte Buddy-Programm. In Deutschland setzten es 800 Schulen um, eine davon ist die Anne-Frank-Grundschule in Berlin.
"2010-09-18T14:05:00+02:00"
"2020-02-03T17:56:38.120000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streitschlichter-im-einsatz-100.html
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Umweltbundesamt warnt vor hoher Belastung
Um die Feinstaubbelastung in den Städten niedrig zu halten, gelten für viele Einfahrtbeschränkungen (dpa / Roland Weihrauch) Berlin, Silbersteinstraße - einer der schmutzigsten Orte in Deutschland. Messungen des Umweltbundesamtes zumindest ergeben, dass die Belastung mit Feinstaub in diesem Jahr schon an 33 Tagen über dem erlaubten Grenzwert lag. 50 Mikogramm pro Kubikmeter Luft sind das Maximum. Nach Brüsseler Vorgaben darf dieser Wert nur an 35 Tagen im Jahr überschritten werden. Damit ist für die Kontrolleure klar: Die Grenzwerte der Europäischen Union können 2014 an vielen Orten in Deutschland nicht eingehalten werden. Besonders betroffen ist durch trockenes und warmes Wetter der Osten der Republik. Neben der Silbersteinstraße weisen Messpunkte in Leipzig und Halle seit Jahresbeginn an mehr als 30 Tagen Feinstaubwerte über der zulässigen Grenze aus. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet vor: Menschen in der Europäischen Union, könnten, bei entsprechend geringerer Luftverschmutzung, durchschnittlich ein Jahr länger leben. Marcel Langner, Feinstaubexperte des Umweltbundesamtes, fordert nun eine Ausweitung von Fahrverboten für Lastwagen. Baumaschinen sollten grundsätzlich mit einem Rußfilter ausgestattet werden. Gegenüber der Zeitung "Die Welt" erkennt er allerdings an: Die Umweltzonen in deutschen Städten haben einiges gebracht. Ohne sie wäre die Situation noch deutlich schlechter.
Von Frank Capellan, Hauptstadtstudio
Das Umweltbundesamt warnt vor hohen Feinstaub-Belastungen in deutschen Städten. Nach seinen Zahlen zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Grenzwerte an etlichen Messstellen in diesem Jahr nicht eingehalten werden können. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben viele Menschen dadurch früher.
"2014-04-15T07:27:00+02:00"
"2020-01-31T13:36:05.480000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/feinstaub-umweltbundesamt-warnt-vor-hoher-belastung-100.html
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"Wir müssen erfolgreich und weltoffen sein"
Straßenproteste - hier in der armenischen Hauptstadt Eriwan - drängten Regierungschef Sargsjan zum Rücktritt. (KAREN MINASYAN / AFP) Ruben Vardanyan verbringt die meiste Zeit im Flugzeug, unterwegs zwischen Moskau, London, den USA. In Armenien ist er nur selten, doch seinen Namen kennt dort fast jeder, denn das Land ist arm, hängt am Tropf der Diaspora, und Vardanyan ist für die alte Heimat einer der größten Wohltäter. Sein Vorzeigeprojekt liegt in den armenischen Bergen nahe der Grenze zum Iran. Dort hat er ein Kloster restaurieren und eine Seilbahn bauen lassen. "Der Weg hinauf zu dem Kloster war früher sehr beschwerlich. Das halbe Jahr liegt Schnee, das Klima ist streng. Die neun Dörfer ringsum waren kurz davor auszusterben, die Menschen konnten dort keine Arbeit finden. Dank der Seilbahn kommen nicht mehr 4.000 Touristen im Jahr, sondern 150.000. Die Seilbahn hat schon mehr als eine Million Euro Gewinn eingebracht. Das gesamte Geld fließt in den Erhalt des Klosters. Und in die Dörfer ist das Leben zurückgekehrt: Dort wurden Souvenirläden, Restaurants und zwölf Minihotels eröffnet." Investitionen für die alte Heimat Eine halbe Milliarde US-Dollar hat Vardanyan nach eigenen Angaben in dieses und andere touristische Reiseziele in Armenien investiert, stets mit dem Ansatz, der lokalen Bevölkerung Perspektiven zu bieten. Vardanyan kam in den 1990er Jahren zu Geld. In Russland. Dort war er einer der ersten Investmentbanker. Mittlerweile, sagt er, sei ihm Wohltätigkeit genauso wichtig wie das Geschäft. "Ich bin tief davon überzeugt, dass Wohltätigkeit und Unternehmertum im 21. Jahrhundert immer enger zusammenwachsen werden. Es wird schon bald nicht mehr darum gehen, hier Geld zu verdienen und es dort zu stiften, sondern alles Handeln wird sich auf den Menschen ausrichten müssen. Das klingt sehr utopisch, denn wir leben in einer harten kapitalistischen Welt, in der Geld entscheidet, aber in 30 bis 40 Jahren werden das alle begreifen." Armenier sollen aus der Geschichte Kraft schöpfen Vor drei Jahren gründete er deshalb mit Gleichgesinnten die "Aurora-Initiative für Menschlichkeit" in Eriwan. Sie zeichnet Persönlichkeiten aus, die ihr eigenes Leben riskieren, um andere zu retten. Die Aurora-Initiative verleiht den Preis im Namen der Überlebenden des Völkermordes der Türken an den Armeniern, als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber jenen, die damals, im Jahr 1915, das Leben von Armeniern retteten. Wie das von Vardanyans Großvater. "Praktisch seine ganze Familie ist umgekommen, mein Großvater war gerade mal sieben Jahre alt, als das passierte. Ein türkischer Kutscher brachte sie auf dem Fahrgestell unter dem Boden in Sicherheit." Vardanyan möchte, dass die Armenier aus der Geschichte Kraft schöpfen, anderen zu helfen. Armenier dürften sich nicht nur als Opfer sehen. "Es ist sehr wichtig, nicht nur der Toten zu gedenken, sondern auch über die zu reden, die überlebt haben. Wir haben der Welt viele berühmte Persönlichkeiten gegeben: Gelehrte, Ärzte, Unternehmer, Sportler, Künstler. Man kann nicht ewig in dem Gedanken leben, dass man uns vernichten wollte. Und die beste Antwort an diejenigen, die uns das angetan haben, liegt darin, sehr erfolgreich und sehr weltoffen zu sein." Zurückhaltender politischer Appell Armenien ist aber nicht nur vom Trauma der Vergangenheit gefangen. Die Entwicklung des Landes wird auch gehemmt durch Oligarchen-Clans, die sich die Reichtümer des Landes angeeignet haben, und von der scheinbar bodenlosen Korruption. Auch dagegen richteten sich die Demonstrationen der vergangenen Tage in Eriwan. Ruben Vardanyan hält sich aus der Politik in Armenien weitgehend heraus. Nach dem Rücktritt von Premierminister Sersch Sargsjan veröffentlichte er eine Erklärung. Darin appelliert er, den politischen Konflikt "würdevoll" und "im Dialog" zu lösen.
Von Gesine Dornblüth
Elf Tage haben gereicht, um zehn Jahre zu beenden. Unter dem Druck von Straßenprotesten ist der armenische Regierungschef zurückgetreten. Viele machen ihn für Armut und Clanwirtschaft verantwortlich. Es muss sich endlich etwas ändern, findet auch ein Milliardär und investiert im Land.
"2018-04-24T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:49:21.877000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/armenien-wir-muessen-erfolgreich-und-weltoffen-sein-100.html
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"Das ist ein Schrottreaktor"
Das Atomkraftwerk Tihange (dpa/picture alliance/Oliver Berg) Georg Ehring: Das Atomkraftwerk Tihange liegt in Belgien, rund 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Es besteht aus drei Druckwasser-Reaktoren mit jeweils gut 1000 Megawatt Leistung. Im Kraftwerk Tihange eins hat es am Wochenende gebrannt, und zwar im nichtnuklearen Teil. Die Feuerwehr hatte den Brand schnell unter Kontrolle, doch es war nicht der erste Zwischenfall in Tihange. Politiker in Deutschland fordern jetzt die Abschaltung des Reaktors, unter anderem Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel, und ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Remmel. Johannes Remmel: Guten Tag, Herr Ehring. Ehring: Herr Remmel, eine Abschaltung ist eine ziemlich drastische Forderung. Der nukleare Teil war von dem aktuellen Brand doch gar nicht betroffen. Remmel: Na ja, das wird dann immer wohlfeil gemeldet, dass der nukleare Teil nicht betroffen ist. Aber ich sehe und wir sehen das Atomkraftwerk oder die entsprechenden Blöcke als Gesamtheit, und wer kann denn dafür garantieren, dass in einem anderen Fall die automatische Abschaltung nicht erfolgt. Wir haben ja Diskussionen über Tihange schon länger. Das Kraftwerk war an anderer Stelle, in einem anderen Block schon länger abgeschaltet, ist dann wieder angefahren worden. Das ist eine endlose Serie von Diskussionen um die technische Qualität der Kraftwerksblöcke. Wir haben ja die Feststellung auch, dass es an mehreren Stellen erhebliche Risse gibt. All das bringt uns dazu zu sagen, das ist ein Schrottreaktor und der gehört abgeschaltet. Johannes Remmel (Grüne) (imago / Rainer Unkel) "Wir haben keine nationalen Grenzen in Sachen Strahlung" Ehring: Könnte man das nicht auch mit mehr Sicherheitstechnik nachrüsten? Remmel: Wenn wir im Zusammenhang mit Fukushima und den entsprechenden schlimmen Ereignissen dort in Deutschland entschieden haben, wir steigen aus der Atomenergie aus, dann ist das, was jetzt dort in Belgien passiert, mit Sicherheit Anlass dafür zu sagen, bitte, wir haben keine nationalen Grenzen in Sachen Strahlung, und deshalb gehören diese Anlagen, die auch schon "das Zeitliche" hinter sich haben, 40 Jahre alt sind, tatsächlich in den Bereich der Nichtbenutzung, der Abschaltung sozusagen. Ehring: 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, das ist nicht gerade um die Ecke, ist doch ein gewisser Abstand. Sehen Sie Gefahren auch für Nordrhein-Westfalen? Remmel: Ja selbstverständlich. Wir haben dort eine dauernde Westwindlage. Das ist die Hauptwindrichtung. Und wenn es, was keiner wünscht und toi, toi, toi hoffentlich nie passieren wird, zu Unfällen kommt, dann liegt selbstverständlich Nordrhein-Westfalen, liegt Aachen, aber auch Teile von Rheinland-Pfalz in dem Spektrum der Windrichtung. Belgien schwankt beim Atomausstieg Ehring: Haben Sie denn Einflussmöglichkeiten? Gibt es Gespräche mit Belgien über dieses Thema? Remmel: Das wird schon seit Langem von uns in allen bilateralen Gesprächen immer wieder erwähnt. Der Kollege Wirtschaftsminister ist in dieser Richtung unterwegs, aber auch meine Gespräche mit den belgischen Verantwortlichen haben immer dieses Thema. Aber wir sind natürlich nicht auf der Augenhöhe der Nationalstaaten und deshalb die dringende Forderung jetzt und noch mal wiederholt an die Bundesumweltministerin, aber auch an die Bundeskanzlerin, das mit den belgischen Verantwortlichen zu klären, hier die Interessenswahrnehmung auch der Menschen in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Deutschland gegenüber der belgischen Regierung aufzunehmen und deutlich zu unterstreichen. Ehring: Sie sprechen die Bundesregierung an. Ist denn die Bundesregierung in dieser Sache schon tätig geworden? Remmel: Wir haben seinerzeit den Bundesumweltminister Altmaier angeschrieben. Er hat uns auch geantwortet, viel sagend und nichts sagend, dass das Angelegenheit der Nationalstaaten sei, aber er selbstverständlich das auch in seinem Herzen trage. Aber ich glaube, jetzt muss mehr passieren. Das reicht jetzt nicht mehr. Wir haben ja auch eine Situation in Belgien, wo wir schon seit Jahren sehr aufmerksam verfolgen, dass die Entscheidungen Richtung Atomausstieg mal in die eine, mal in die andere Richtung gehen und eben nicht klar formuliert auch in Richtung Alternativen man sich dort entschieden hat. Ehring: Johannes Remmel, der Umweltminister von Nordrhein-Westfalen, war das. Herzlichen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Johannes Remmel im Gespräch mit Georg Ehring
Der nordrhein-westfälische Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) fordert nach dem Feuer im belgischen Atomkraftwerk Tihange dessen Abschaltung. Die Bundesregierung müsse ihren Einfluss auf Belgien geltend machen, sagte er im DLF. Denn im Falle eines Unfalls sei auch Deutschland betroffen: "Wir haben keine nationalen Grenzen in Sachen Strahlung."
"2015-12-21T11:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:15:20.967000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/belgisches-akw-tihange-das-ist-ein-schrottreaktor-100.html
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Zwei Jahre Flüchtlingskrise, zwei Jahre Integration
Asylsuchende Kinder aus Afghanistan warten am Bahnhof in München auf ihre Registrierung. (dpa / Matthias Balk) Viele haben die Bilder noch im Kopf, aus dem September 2015: Hunderte, Tausende Flüchtlinge kampierten im Bahnhof von Budapest und warteten darauf, weiterreisen zu können. Als die ungarische Regierung alle Züge stoppte, machten sie sich zu Fuß auf den Weg Richtung Grenze. Angela Merkel entschied – nach Rücksprache mit ihrem Wiener Amtskollegen –, die Grenzen zu öffnen. Was dann folgte, war eine der größten Herausforderungen, vor die die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren gestellt wurde: 890.000 Menschen kamen ins Land – viele davon aus Syrien. Gesprächsgäste: Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, migrationspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Armin-Paul Hampel, AfD, Vorsitzender Landesverband Niedersachsen Martin Patzelt, CDU, Mitglied des Bundestags-Ausschusses für "Menschenrechte und humanitäre Hilfe", ehemaliger Oberbürgermeister in Frankfurt/Oder Hörerinnen und Hörer sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail. Telefon: 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei). E-Mail: kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Dirk-Oliver Heckmann
Immer wieder hat die Bundeskanzlerin ihr Diktum wiederholt: "Wir schaffen das!" Schaffen wir das wirklich? Wie ist der Stand der Integration, zwei Jahre nach Beginn der Flüchtlingskrise? Was muss noch geschehen? Werden Kommunen und Helfer von Bund und Ländern alleingelassen?
"2017-09-11T10:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:49:57.649000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schaffen-wir-das-und-wenn-ja-wie-zwei-jahre-100.html
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"Das größte Problem ist die Enthemmung der Meinung"
Der Schriftsteller Navid Kermani (imago / Eduard Bopp) Dirk-Oliver Heckmann: In diesem Jahr ist das Grundgesetz 70 Jahre alt geworden. Wer hätte gedacht, dass 70 Jahre später in Medien und Öffentlichkeit intensiv darüber diskutiert wird, ob eines der Grundrechte, die das Grundgesetz schützt, in Gefahr ist: die Meinungsfreiheit nämlich. Anlass waren mehrere Vorfälle. Zunächst hinderten linke Demonstranten den ehemaligen AfD-Gründer Bernd Lucke daran, in Hamburg seine Vorlesungen wieder aufzunehmen. FDP-Chef Christian Lindner beklagte eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, weil ihm die Uni Hamburg einen Auftritt verwehrte; Sahra Wagenknecht von der Linken und Juso-Chef Kevin Kühnert aber nicht. Und auch der ehemalige Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière wurde in Göttingen daran gehindert, eine Lesung durchzuführen. Seitdem wird heftig debattiert: Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? Gibt es eine Verengung des politischen Diskurses in Deutschland? Die aktuelle Zeit und der aktuelle Spiegel haben das Thema auf die Titelseiten gehoben und auch wir im Deutschlandfunk haben darüber diskutiert, unter anderem mit Christian Lindner. Wir können heute die Diskussion fortsetzen mit einem Beobachter der innenpolitischen Entwicklung, und zwar mit Navid Kermani, Schriftsteller, Publizist und habilitierter Orientalist. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und im Jahr 2015 hat er im Bundestag eine viel beachtete Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes gehalten, und da ging es natürlich auch um die Meinungsfreiheit. Guten Morgen, Herr Kermani. Navid Kermani: Guten Morgen. "Öffentliche Personen müssen auch öffentlich reden dürfen" Heckmann: Herr Kermani, hätten Sie sich vorstellen können, dass fünf Jahre später ernsthaft diskutiert wird, ob die Meinungsfreiheit in Gefahr ist? Kermani: Ich finde, das Hauptproblem ist nicht die Einstellung der Meinungsfreiheit, sondern eher, die gibt es teilweise. Man muss aber auch dafür sorgen, dass Politiker, öffentliche Personen auch öffentlich reden dürfen. Das muss man durchsetzen können, auch an den Universitäten, wenn es sein muss. Aber das größere Problem als Herr Lindner oder wer auch immer, das sind solche Fälle wie Lübcke. Damit will ich sagen, das größte Problem als die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist die Enthemmung der Meinung, und das kommt mir in der aktuellen Debatte etwas zu kurz. Heckmann: Jetzt wieder unterfüttert auch durch die neuen Drohungen gegen Cem Özdemir und Claudia Roth. Kermani: Zum Beispiel, und das ist, glaube ich, ein Problem, das betrifft ja nicht nur Deutschland, dass einfach durch die technologische Entwicklung heute jeder immer alles sagen kann, was er will. Das führt natürlicherweise zu einer Verrohung. Der Mensch ist ein Tier, dessen Wildheit durch Zivilisation, durch Kultur, Religion, Sitte, Gesetz eingehegt wird. Aber wenn man menschlichen Trieben freien Lauf lässt, dann wird es dunkel, und Freiheit ist nicht, immer alles sagen zu dürfen. Zur Freiheit gehört, dass man für sein Wort auch zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn es andere verletzt. Das ist für mich als Schriftsteller auch ein tägliches Problem. Das nervt mich auch, weil ich zum Beispiel das Persönlichkeitsschutzrecht einhalten muss. Ich kann nicht alles schreiben. Aber im Netz kann man alles schreiben. Das ist ein riesiger öffentlicher Darkroom. Dieses Austoben ist natürlich widerlich und auch gefährlich und gefährdet die Demokratie, zu der eine freie, aber doch auch geregelte Öffentlichkeit gehört – siehe USA, siehe Brasilien, siehe Brexit, siehe auch Fälle wie Lübcke. Zwischen Öffentlichkeit und Anonymität ist ein Widerspruch und das geht nicht gut und das kann nicht gut gehen. Man soll alles frei sagen dürfen, aber man muss es auch unterschreiben. Man muss dazu stehen, was man sagt. "Es gibt zunehmend Sprechverbote und Sprechregelungen" Heckmann: Herr Kermani, Sie haben es gerade schon angedeutet. Politiker dürfen teilweise nicht an der Uni auftreten. Aktivisten protestieren gegen die Buchlesung eines ehemaligen Ministers. Die Frage ist ja in der Tat, ob dadurch wirklich die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Kann man das denn so sagen, oder gehen wir damit der Erzählung von Rechtspopulisten auf den Leim, die unaufhörlich behaupten, es gäbe so etwas wie eine Meinungsdiktatur? Kermani: Ich finde auch, es gibt zunehmend Sprechverbote und Sprechregelungen. Die stören mich auch, an die halte ich mich auch nicht alle. Aber ich muss mich auch nicht daran halten. Es gibt diese Verengung dessen, was man sagen soll und wie genau man es sagen soll. Heckmann: Wo gibt es diese Sprechverbote? Kermani: Na ja, es gibt Sprachregelungen. Zum Beispiel an den Universitäten darf man nicht mehr sagen "Studenten", sondern man muss sagen "Studierende". Da will ich ein konkretes Beispiel nennen: Ich, wenn ich an eine Universität gehe, kann sagen, Studenten oder Studenten und Studentinnen, aber ein junger Wissenschaftler, der jetzt beginnen würde mit seiner Karriere, der hätte ein riesiges Problem, wenn er sich diesem falschen deutschen Wort "Studierenden" verweigert und der würde wahrscheinlich keine Karriere mehr machen können in Deutschland. Da beginnt es schon, problematisch zu werden, dass man bestimmte Sprachregelungen einfach mitmachen muss, wenn man in bestimmten Berufen ist. Nicht generell! Außerhalb dieser Betriebe geht das ja. Aber ich finde schon, das ist ein Problem, aber ich finde es auch nicht so gravierend wie vieles andere, was im Augenblick in Deutschland uns bewegt und was auch zu konkreten Taten führt oder auch in anderen Ländern zu einer Gefährdung des demokratischen Gemeinwesens. Nicht einfach drauf losplappern Heckmann: Jetzt ist es aber trotzdem auf der anderen Seite so: Es gibt eine Allensbach-Umfrage, die jetzt auch häufig zitiert wurde, wonach 63 Prozent der Deutschen sagen, man müsse aufpassen, zu welchen Themen man was sagt. Und die Shell-Jugendstudie wurde jetzt auch häufig zitiert. 68 Prozent der Jugendlichen sind der Meinung, in Deutschland dürfe man nichts über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden. Man könnte aber auch sagen, es ist ganz gut, dass es noch Tabus gibt? Kermani: Ja, und ich finde das vollkommen richtig, dass man, wenn man sich öffentlich äußert, sich überlegt, was man da sagt und nicht einfach nur drauf losplappert. Das ist ja auch ein Problem der Medien, dass wir andauernd immer eine Meinung haben, immer Sendungen, in denen Leute irgendwie ihre Meinung sagen, ohne dass sie viel wissen darüber, dass irgendwie jeder zu allem befragt wird. Da finde ich, dass jeder, der sich öffentlich äußert, sich klar sein muss, das ist etwas anderes als am Küchentisch zu reden oder am Stammtisch zu reden. Insofern finde ich diese 63 Prozent, wenn man sich diese Umfrage auch genau anschaut, wie die Frage gestellt worden ist. Wäre sie ein bisschen anders gestellt worden, wäre auch eine ganz andere Zahl herausgekommen, über die dann aber leider keine Titel mehr veröffentlicht werden können. Heckmann: Trotzdem sagen ja viele, der Diskurs ist eingeengt. Viele haben ein Gefühl, die sozialen Kosten, die seien zu hoch - das hat auch Christian Lindner in der vergangenen Woche bei uns im Deutschlandfunk gesagt –, in Form von gewaltigen Shitstorms im Netz beispielsweise. Haben Sie trotzdem auch Verständnis für diese Wahrnehmung? Kermani: Ja, absolut! Diese Shitstorms, das ist ja das, was ich auch sage. Das ist ja alles ein Phänomen, dass Menschen anonym sich alles erlauben, alle Beleidigungen, und das natürlich vor allem für die Menschen, die an vorderster Front stehen, jetzt mal gar nicht so sehr die ganz berühmten Politiker oder ganz berühmten Autoren, sondern Lokalpolitiker, Lokaljournalisten, die sich dann schon überlegen, wollen sie sich das antun, wenn sie über ein bestimmtes Thema schreiben, wollen sie sich antun, dass sie Telefonterror bekommen, im Internet beleidigt werden, dass ihre Kinder bedroht werden. Das ist ein Problem, das sehe ich absolut. Aber ich finde, das ist kein Problem der Meinungsfreiheit, sondern eher ein Problem der Enthemmung, eines öffentlichen Diskurses, der sich an keine Regeln mehr hält. Ich selbst kann nun wirklich ein Lied davon singen, wie sich das anfühlt, wenn man da so beleidigt wird. Im Internet einfach nicht mehr erreichbar Heckmann: Sie werden ja auch von Islamisten beschimpft und bedroht. Sie stehen auf Todeslisten auch, sagten Sie gerade auch noch mal. Auch ein CDU-Abgeordneter hat den Plenarsaal verlassen, als Sie als deutsch-iranischer Staatsbürger im Bundestag über das Grundgesetz gesprochen haben. Wie gehen Sie damit um? Kermani: Ich habe vor vielen Jahren beschlossen, dass ich einfach nicht mehr im Internet erreichbar bin. Es gibt schon viele Jahre keine E-Mail-Adresse mehr. Man kann vielleicht den Verlag anschreiben, aber das wird gar nicht an mich weitergeleitet, sondern man muss mir Briefe schreiben. Das war ein entscheidender Sprung. Seitdem ist das massiv zurückgegangen, denn derjenige, der Briefe schreibt, allein schon die Form, die analoge Form, die scheint, Menschen entweder davon abzuhalten, weil sie nicht sofort dem spontanen Reflex nachgeben können, oder scheint, auch etwas Zivilisierendes zu haben. Selbst Menschen, die kritisch auf Dinge reagieren – das ist ja auch völlig in Ordnung -, schreiben das in einem Ton, der jedenfalls okay ist, wo man antworten kann. Ich kann das nur jedem empfehlen. Das ist für Politiker wahrscheinlich nicht möglich. Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, Herr Kermani, die sozialen Netzwerke, das Internet, die schaden mehr, als dass sie nutzen, was die Demokratie angeht? Kermani: Ja. Sie sind jedenfalls ein Problem. Ich will das jetzt nicht abwägen, aber wenn ich dann noch sehe, wie autoritäre Staaten – ich komme gerade aus China -, wie die zeigen, was dann passiert, wenn dieser öffentliche Darkroom, wenn das Internet auch noch kontrolliert werden kann durch staatliche Instanzen, dann ist es natürlich endgültig ein Problem geworden. Aber ich will das auch nicht nur dem Internet anlasten. Ich bin ja auch kritisch genug. Das ist nicht nur ein Problem des Internets. Wenn Sie sich anschauen, dass die beiden Staaten, die 2003 unter massiven Lügen in den Irak-Krieg gezogen sind, heute von Nationalisten, von Populisten regiert werden, die mit der Wahrheit einen sehr ungenauen Umgang haben, dann ist das kein Zufall. Und die beiden Staaten, die damals den Krieg verweigert haben, werden immer noch relativ, sagen wir, von der politischen Mitte regiert. Auch solche Zusammenhänge gibt es. Wenn man die Lüge in den öffentlichen Diskurs einführt wie in England, wie in Großbritannien, wie in den USA, lange vor Trump, lange vor Johnson, dann wird diesem politischenDiskurs langfristig geschadet, wenn diese Lügner nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wie es im Falle von Tony Blair und George W. Bush geschehen ist. Demokratie besteht aus Streit Heckmann: Die Innenpolitische Entwicklung in den USA ist auch vielsagend in der Hinsicht. – Ich möchte noch ein Beispiel von meiner Seite aus erwähnen. Ich hatte bei der Landtagswahl in Thüringen berichtet, die frischen Zahlen und Analysen von Infratest Dimap geliefert, und in dem Zusammenhang hatte ich gesprochen von der rechtspopulistischen AfD. Da hat auf Twitter ein Nutzer oder eine Nutzerin ohne Klarnamen gesagt, der Deutschlandfunk verharmlose die AfD. Wie groß ist denn die Gefahr, dass sich die demokratischen Kräfte gegenseitig an die Gurgel gehen, und die lachenden Dritten sind die Rechtspopulisten und die Rechtsextremen? Kermani: Erst mal finde ich, dass Sie sagen dürfen und sollen, dass die AfD eine rechtspopulistische Partei ist, und ich finde, auch die Twitterin soll sagen dürfen, dass Sie das verharmlosen. Das ist ja der Streit. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass Herr Höcke alles sagen dürfen soll und auch gegebenenfalls geschützt werden soll, dass er das öffentlich sagt, aber er muss sich dann auch Faschist nennen lassen dürfen. Das ist einfach so: Demokratie besteht aus Streit und wir müssen die Meinungsfreiheit weit, weit auslegen. Das tut oft weh, aber jede zu große Einschränkung der Meinungsfreiheit führt ins Verderben. Dann landen wir in autoritären Strukturen, die wir nicht haben wollen. Es tut weh und das muss man auch aushalten, aber man muss auch vor allem versuchen, das was ich auch versuche und wo ich immer auch gute Erfahrungen habe, natürlich die persönlichen Begegnungen zu suchen. Das heißt, wenn Sie der gleichen Twitterin oder dem gleichen AfD-Abgeordneten, den Sie vielleicht kritisieren, persönlich begegnen – es ist ja mein Job als Reporter; ich gehe auf Menschen zu -, dann mache ich die Erfahrung, dass die gleichen Menschen, die mir vielleicht eine beleidigende Mail, wenn sie das könnten, schreiben würden, im persönlichen Gespräch, dass das fast immer möglich ist. Da rede ich mit Islamisten, habe mit Taliban gesprochen, ich gehe zur AfD und bin eigentlich doch jedes Mal überrascht, dass ein Gespräch trotz größter Meinungsunterschiede in der persönlichen Begegnung, wenn man nicht gerade gefilmt wird dabei, fast immer möglich ist und man sich dann immer sagen lassen muss, Sie sind ja nicht gemeint. Aber dann kann man ja auch sagen, warum man sich gemeint fühlt, wenn der Vorsitzende der Partei gegen "die Migranten", gegen "die Muslime", gegen "die Boatengs", neben denen man in Deutschland nicht wohnen will, hetzt. Heckmann: Ganz kurz noch, Herr Kermani. 23,4 Prozent haben in Thüringen die AfD gewählt, trotz des Spitzenkandidaten Björn Höcke oder gerade wegen ihm. Aber man muss auch sagen, rund 75 Prozent haben es nicht getan. Jetzt sagen viele, diese 75 Prozent müssen gestärkt werden. Wie? Kermani: Ich bin ja kein Politiker. Ich kann nicht sagen, wie sie gestärkt werden. Es ist auch nicht die Aufgabe der Medien, jetzt eine bestimmte Meinung zu stärken oder zu sagen, das sind jetzt unsere Leute. Aber natürlich ist das ein politischer Kampf, der aufgenommen werden muss. Ich finde, die Vorstellung von der AfD, eine Partei, deren Vorsitzender den Nationalsozialismus für einen Vogelschiss der deutschen Geschichte hält, muss natürlich demokratisch bekämpft werden, und da wünsche ich mir mehr Anstrengung. Aber das geht auch. Es gibt ja auch Beispiele, wo man es schafft. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Navid Kermani im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
In den aktuellen Debatten hält der Schriftsteller Navid Kermani die Enthemmung der Meinung für das größere Problem als die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Durch die technologische Entwicklung könne heute jeder immer sagen, was er wolle. Dies führe zu einer Verrohung, sagte Kermani im Dlf.
"2019-11-04T08:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:33.875000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schriftsteller-navid-kermani-das-groesste-problem-ist-die-100.html
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Gibt es unterm Eis am Südpol des Mars flüssiges Wasser?
Ein Wasserfund auf dem roten Planeten beschäftigt die Wissenschaft (NASA/ESA) Roberto Orosei vom italienischen Nationalinstitut für Astrophysik in Bologna hat eine große Entdeckung bekanntzugeben. Wieder einmal geht es um Wasser auf dem Mars: Aber anders als bisher ist es viel Wasser, das dort nicht etwa in grauer Vorzeit floss, sondern heute existiert. "It is likely a very salty subglacial lake." Es ist ein 20 Kilometer großer, salziger See, verborgen unter eineinhalb Kilometer dickem Gletschereis der südlichen Polkappe. "Wir können nicht ganz sicher sagen, ob es ein ganzer Wasserkörper ist, eine Art Schlamm oder einfach Wasser in porösem Gestein wie in einem irdischen Grundwasser-Aquifer." Radarbilder der ESA-Raumsonde Mars Express lieferten Hinweise Roberto Orosei ist verantwortlich für das Radarinstrument MARSIS an Bord der europäischen Raumsonde Mars Express, die seit knapp 15 Jahren um den Planeten kreist. Radarwellen können das Eis durchdringen, werden aber von Wasser zurückgeworfen. Dennoch war der Fund dieses subglazialen Sees nicht ganz einfach. Die Forscher brauchten einige Jahre, die Daten auszuwerten und andere Interpretationen auszuschließen, beispielsweise eine tiefe Schicht aus CO2-Eis. Zusätzlich mussten die Forscher irgendwie erklären, wie auf dem allzu kalten Mars überhaupt so viel Wasser flüssig sein kann: Es ist vermutlich ein Salz, das wie ein Frostschutzmittel wirkt. "Jeder einzelne Rover und Lander, der auf dem Mars chemische Analysen durchführen konnte, hat auch Perchlorate gefunden: Sie sind überall auf dem Mars und wären eine mögliche Erklärung." Natürliche Frostschutzmittel könnten das Wasser flüssig halten Perchlorate sind eine Gruppe von sehr reaktionsfreudigen Salzen. Bis hinunter zu minus 80 °C könnten Perchlorate das Wasser flüssig halten. Höchstens minus drei Grad müsste das Wasser kalt sein, um das beobachtete Radarecho hervorzurufen. Der Fund dieses Wassers könnte schon bald den Fokus der Marsforschung komplett ändern – und auf die Polkappen konzentrieren, vermutet Roberto Orosei. "Wir vermuten, dass an diesem Ort auf dem Mars einige Mikroorganismen von der Erde überleben könnten" Jennifer Wadsworth ist dagegen skeptisch. Die Forscherin an der Universität Edinburgh hat sich erst im letzten Jahr mit der Wirkung von Perchloraten auf irdische salzliebende Mikroorganismen befasst und stellte dabei fest: Ist eine Salzlösung allzu hoch konzentriert, wirkt sie schnell tödlich. Skeptisch ist sie aber noch aus einem anderen Grund. "Es ist sehr sehr kalt dort: Dieses Wasser kann ja nur durch eine hohe Salzkonzentration flüssig gehalten werden. Dennoch ist es bis zu minus 80 Grad Celsius kalt. Die niedrigsten Temperaturen, unter denen irdische Mikroben überleben, liegt bei minus 20 Grad Celsius. Alles, was wir von der Erde kennen, würde unter diesen Bedingungen nicht überleben."
Von Karl Urban
Der Mars besaß vor über drei Milliarden Jahren eine dichte Atmosphäre und flüssiges Wasser. Heute ist er eine lebensfeindliche Wüste, in der Wasser innerhalb von Minuten verdunsten würde. Unter der Eiskappe am Südpol wollen italienische Forscher nun aber doch flüssiges Wasser entdeckt haben.
"2018-07-25T16:39:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:16.924000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/planetenforschung-gibt-es-unterm-eis-am-suedpol-des-mars-100.html
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Eis in der Arktis schmilzt immer schneller
Immer mehr Daten weisen darauf hin, dass Klimamodelle das Tempo des Eisverlustes in Grönland unterschätzen (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer) Wenn es warm wird, schmilzt Eis. Das gilt für Eiswürfel in einem Cocktailglas genauso wie für den Eispanzer in Grönland. Nur dass der durch die Eisschmelze auch noch den Meeresspiegel in die Höhe treibt. Dass er das tut und in Zukunft natürlich noch stärker tun wird, ist schon lange klar. Allerdings zeigt eine Studie, die in Nature Communications erscheint, dass das schmelzende Eis Grönlands möglicherweise wesentlich stärker zum Meeresspiegelanstieg beitragen wird als bislang schon befürchtet. Einer der Autoren der Studie ist Ingo Sasgen vom Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Nahe der grönländischen Stadt Ilulissat entläßt der Jakobshavn-Eisstrom Eisberge ins Meer. (Monika Seynsche) Ingo Sasgen: Wir haben den Eisrückgang von drei großen Gletschern in Grönland ungefähr für das letzte Jahrhundert uns angeschaut, und unsere Studie fokussierte sich dabei auf den Jakobshavn-Eisstrom in Westgrönland und die Gletscher mit den Namen Kangerlussuaq und Helheim in Ostgrönland. Für die letzten drei Jahrzehnte gibt es ja sehr gute Satellitendaten, wie sich diese Gletscher entwickelt haben, aber um eben ein Bild auch von der längerfristigen Entwicklung zu bekommen, mussten wir andere Methoden anwenden. Dafür haben wir Stereoluftbilder ausgewertet nach Gletscherschlifflinien und eben auch im Gelände geologische Formationen wie Endmoränen gesucht und datiert. Jetzt konnten wir die Entwicklung dieser Gletscher für das letzte Jahrhundert rekonstruieren, und das hilft uns besser zu verstehen, wie sensibel oder wie langfristig auch der Eisrückgang auf eine Erwärmung reagiert und welche Prozesse dabei genau eine Rolle spielen. Satellitenbilder liefern Überblick Monika Seynsche: Warum haben Sie denn ausgerechnet diese drei Gletscher sich ausgesucht, also welche Bedeutung haben die für den grönländischen Eispanzer? Sasgen: Erst mal ist wichtig zu verstehen, dass diese Gletscher ins Meer münden, und gleichzeitig werden sie von großen Einzugsgebieten im Landesinneren genährt. Insgesamt ungefähr ein Achtel des Eisausstoßes in Grönland kommt von diesen Eisströmen. Der Meeresspiegelanstieg, wenn jetzt die sich vollständig zurückziehen würden, läge bei etwa einem Meter. Aber interessant ist auch noch was anderes, nämlich dass der Jakobshavn und der Kangerlussuaq-Gletscher, die liegen auf Grundgestein, was zum Landesinneren hin immer tiefer wird. Das bedeutet, wenn sich der Gletscher zurückzieht, hat er immer mehr Kontakt mit dem Ozean, der als Wärmequelle dient, und das ist quasi eine selbstverstärkende Rückkopplung. Anders dagegen der Helheim-Gletscher, dort steigt das Land von der Küste landeinwärts an, und das stabilisiert im Grunde den Rückzug. Durch den Vergleich dieser topografischen Gegebenheiten kann man lernen, wie wichtig diese selbstverstärkende Rückkopplung ist auch für die Zukunft. Ströme aus Eis fließen ins Meer Seynsche: Was ist denn bei Ihren Untersuchungen herausgekommen? Sasgen: Wir konnten zeigen, dass alle drei Gletscher seit 1880 an Masse verloren haben. Den globalen Meeresspiegelbeitrag, der eben daraus kam, haben wir auf ungefähr acht Millimeter geschätzt. Alle drei Gletscher sind durch die Erwärmung zurückgegangen und ganz besonders stark Jakobshavn und Kangerlussuaq mit 30 beziehungsweise 20 Kilometer, weil sich das Gletscherbett dort zum Landesinneren hin vertieft. Der Helheim-Gletscher ist im vergangenen Jahrhundert eher stabil geblieben, und teilweise gab es sogar Phasen, wo es noch mal einen Vorschub gab, aber auch in den letzten zehn Jahren zeigen jetzt Satellitendaten, dass auch dieser Gletscher sich weiter zurückzieht. Seynsche: Was bedeuten diese Ergebnisse denn jetzt für Abschätzungen zum grönländischen Eispanzer? Dass der in den letzten Jahrzehnten schmilzt, ist ja nichts Neues. Acht Grad plus für Grönland Sasgen: Genau, es hilft uns eben noch mal, die jetzigen Veränderungen auch in eine längerfristige Perspektive zu setzen. Wenn wir jetzt betrachten, dass Grönland sich in den vergangenen Jahrhunderten um etwa anderthalb Grad erwärmt hat – diese Zahlen sind bekannt –, und von diesen Gletschern wissen wir jetzt, welcher Meeresspiegelanstieg damit einherging, nämlich rund ein Zentimeter. Wenn wir jetzt Simulationen, Klimasimulationen für die Zukunft anschauen, dann erwarten wir eine Erwärmung bei ungebremstem Klimawandel, die fünfmal so hoch ist. Wir könnten in Grönland eine Temperatur acht Grad Celsius höher gegenüber dem vorindustriellen Niveau sehen. Wenn wir jetzt diese Abschätzung skalieren entsprechend, dann kommen wir auf einen Meeresspiegelbeitrag dieser drei Gletscher, der etwa drei- bis viermal so hoch liegt wie der in bisherigen Projektionen. Das ist natürlich ein Hinweis darauf, dass vielleicht dieser eisdynamische Anteil, wie wir sagen, dieser Rückzugsanteil, dynamischer reagiert und in den Modellen vielleicht noch nicht vollständig korrekt gefasst ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ingo Sasgen im Gespräch mit Monika Seynsche
Gigantische Eismassen werden in den nächsten Jahrzehnten abschmelzen und damit den Meeresspiegel anheben. Dabei könnte der Beitrag grönländischer Gletscher drei- bis viermal so hoch ausfallen wie angenommen, sagte Ingo Sasgen im Dlf. Sein Team hat den Schwund genauer bestimmt.
"2020-11-18T16:36:00+01:00"
"2020-11-19T11:43:51.403000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimawandel-eis-in-der-arktis-schmilzt-immer-schneller-100.html
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Atatürks Erbe
Unterrichtspause in der Imam-Hatip-Schule im Istanbuler Stadtteil Beyoglu: Tischtennis zur Entspannung. Adnan spielt gegen Mesut. Mesut ist geschickter mit dem Ball.Adnan ist geschickter mit der Stimme. Im Fach Koranrezitation ist er einer der besten seines Jahrgangs.Adnan und Mesut gehören zu den knapp 70.000 Schülerinnen und Schülern einer Imam-Hatip-Schule. Anfangs handelte es sich bei diesen Lehreinrichtungen um rein religiös ausgerichtete Schulen, wo Prediger und Moscheevorsteher - sogenannte Imame - ausgebildet werden.Das Fach Phonetik gehört von Beginn an ebenso zum Lehrplan wie Arabisch und Koranrezitation.Mittlerweile werden auch allgemeinbildende Fächer wie Englisch, Mathematik, Physik, Staatskunde und Sport unterrichtet. Die Imam-Hatip-Schulen sind speziell auf die Verhältnisse in der Türkei zugeschnitten. Sie vereinen religiösen Unterricht und kulturell-weltliche Bildung an einer Lehranstalt. Diese Kombination ist in der laizistischen Türkei keineswegs unumstritten. Denn seit mehr als 8 Jahrzehnten gilt in der türkischen Republik das Prinzip der strikten Trennung von Staat und Religion. Mehr noch: Der Staat bestimmt durch seine am französischen Vorbild ausgerichteten laizistischen Verfassung, wie viel und welche Art Religion öffentlich gelehrt und gelebt werden darf.Die erste Imam-Hatip-Schule wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. An der zehn Monate dauernden Ausbildung nehmen vier Dutzend angehende Imame teil. Der türkische Staat reagiert damals auf den zunehmenden Mangel an ausgebildeten Geistlichen bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung und einer größeren Hinwendung zum Glauben. Inzwischen gibt es landesweit rund 460 Imam-Hatip-Schulen. Ihre Zahl hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und dürfte auch in Zukunft weiter steigen. Mit der regierenden AKPartisi - der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - bestimmt das religiös-konservative Lager die Politik der Türkei. Namhafte Köpfe der AK-Partei sind Absolventen der Imam-Hatip-Schulen - allen voran Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Auf sein Betreiben hin sind die einstigen Predigerschulen 2004 mit den säkularen allgemeinbildenden Gymnasien gleichgestellt worden. Irfan Aycan ist im Bildungsministerium für die Imam-Hatip-Schulen zuständig."Die Absolventen der Imam-Hatip-Schulen hatten Probleme, an einer weiterführenden Schule oder Universität unterzukommen. Diese Probleme wurden gelöst. Darüber wurde im Parlament diskutiert. Mittlerweile erfahren wir aus arabischsprachigen Ländern großes Interesse am Imam-Hatip-Modell und wir werden gebeten, beim Aufbau eines solchen Schulsystems zu helfen.""Auch wenn es immer wieder zu Diskussionen kommt, so sind diese Imam-Hatip-Schulen doch als ein Modernisierungsinstrument unseres Landes anerkannt. In der islamischen Welt gibt es keine vergleichbaren Schulmodelle. Die Schulsysteme in den islamischen Ländern haben den Schwerpunkt in der religiösen Bildung und von diesen Systemen wollen viele Länder weg. Aus diesem Grund findet das Imam-Hatip-Modell reges Interesse. Es soll zur Modernisierung dieser Länder beitragen."Kein anderes muslimisches Land bricht auf dem Weg in die Moderne so konsequent mit seiner islamischen Vergangenheit wie die neu gegründete türkische Republik. Im Frühjahr 1924 schafft die Nationalversammlung in Ankara das Kalifat ab. Mehr als 400 Jahre haben die türkischen Osmanen die Führung aller Muslime als weltliche und geistliche Herrscher beansprucht. Doch der 43jährige Republikgründer Mustafa Kemal - genannt Atatürk - will einen modernen Staat, in dem Religion Privatsache ist. Religiöse Bruderschaften werden verboten, die Geistlichkeit wird entmachtet. Der säkulare Staat will fortan die Grenzen organisierter Religiosität abstecken. Heute - mehr als 70 Jahre nach dem Tod Atatürks - offenbart die Kemalismus genannte antiklerikale Staatsdoktrin jedoch erhebliche Risse. Die Hüter des reinen Laizismus, der strikten Kontrolle religiösen Lebens durch den Staat, befürchten den Verlust gesellschaftspolitischer Errungenschaften. In den Imam-Hatip-Schulen sehen sie Brutstätten eines politisierten Islams. Irfan Aycan weist diesen Vorwurf zurück."Imam-Hatip-Schulen haben nichts mit politischem Islam zu tun. Der Islam gehört zur Bevölkerung. Das heißt nicht, dass islamische Regeln und Gesetze gemacht werden sollen. So was geht bei uns nicht. So etwas passiert nur in totalitären Staaten. Wir akzeptieren das nicht. Wir glauben nicht, dass Imam-Hatip-Schulen etwas mit politischem Islam zu tun haben. Sie sind getrennt vom politischen Islam."Speisesaal der Imam-Hatip-Schule in Beyoglu, einer Ganztagesschule für Jungen mit angeschlossenem Internat. Bittgebet nach dem Essen. In staatlichen Schulen undenkbar, in Imam-Hatip-Schulen selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltags. Die Aufwertung der einstigen Predigerschulen zu vollwertigen Oberschulen hat bereits lange vor Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die religiös-konservative AK Partei begonnen. Glücklicherweise, betonen reformorientierte islamische Theologen am Bosporus. Denn in vielen islamischen Ländern werden Geistliche fast ausschließlich in Theologie oder theologienahen Fächern unterrichtet. In der Türkei ist allgemeinbildender Unterricht Pflicht. Dadurch soll das Denken erweitert und die Auslegung der religiösen Quellen den Anforderungen der Gegenwart gerechter werden."Bei uns sind der Koran und das Leben des Propheten Mohammed sehr wichtig. Doch nur weil Mohammed auf einem Kamel ritt, müssen wir das nicht auch tun. Die moderne Zeit hat viele Erfindungen hervorgebracht. Auf einem Kamel zu reiten, bedeutet nicht Gehorsam, denn wir können uns heute mit anderen Dingen fortbewegen. Nur weil es früher so gemacht wurde, müssen wir das heute nicht auch so machen. Es gibt gewisse Prinzipien, in deren Rahmen wir uns bewegen."Die islamischen Quelltexte zeitgemäß zu lesen und auszulegen, ist in vielen islamischen Ländern keineswegs selbstverständlich. Den sich immer höher auftürmenden sozialen und politischen Verwerfungen glauben konservative muslimische Geistliche allzu oft mit Rezepten begegnen zu können, die ihren Ursprung häufig im Mittelalter haben. Doch wenn Korandeutungen vor 400, 800 oder 1200 Jahren sinnvoll waren, müssen sie das nicht notwendigerweise auch im 21. Jahrhundert sein, stellt der Islamgelehrte Yasar Nuri Öztürk fest."Im Koran ist das Dogma auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen fordert der Koran dazu auf, den Verstand zu benutzen. Den Verstand zu benutzen heißt, jeden Tag aufs Neue entsprechend den Verhältnissen des Tages Interpretationen vorzunehmen. Der Koran benutzt an dieser Stelle radikale Aussagen. Er sagt: Wer seinen Verstand nicht benutzt, auf den wird Schlechtes niedergehen. Will heißen: Deren Leben wird sich in ein Chaos verwandeln, falls sie ihren Verstand nicht benutzen. Man muss jeden Tag aufs Neue seinen Verstand einsetzen und die Quellen auslegen."Das ist das täglich Brot von Habil Öndes, der als Imam in der Valide-Sultan-Moschee im Istanbuler Stadtteil Fatih arbeitet."In dem Dorf, aus dem ich komme, hatte ich die Berufswahl zwischen Imam oder Lehrer. Mein Vater wollte, dass ich Imam werde, ich habe das respektiert und bin Imam geworden."Das war vor knapp 40 Jahren. Habil Öndes, hat eine Imam-Hatip-Schule besucht, sich zum Vorbeter ausbilden lassen und am Istanbuler Konservatorium für Türkische Musik Laute und Gesang studiert. Neben seiner Arbeit als Seelsorger, Moscheevorsteher und Prediger leitet er einen Männerchor."Der Islam hat bestimmte Grundsätze, so wie jede Religion. Es gibt Unterschiede in der Umsetzung dieser Grundsätze. Ich habe in Europa gesehen, wie die Menschen sich dort verhalten. Obwohl sie keine Muslime sind, leben sie die Grundsätze des Islams."Sechs Jahre hat Habil Öndes in Wesseling bei Bonn gelebt und eine Moschee geleitet. Der Aufenthalt in Deutschland hat den 63-jährigen nachhaltig beeindruckt."Zum Beispiel der Grundsatz der Gerechtigkeit oder die Achtung der Rechte anderer. In Europa stellen sich die Menschen in einer Schlange an, keiner verletzt das Recht des anderen. Wenn einer eine Straftat begeht, wird dieser nicht verurteilt, bevor dessen Schuld bewiesen ist."Gerechtigkeit in allen das Leben bestimmenden Bereichen - das ist für Imam Öndes eines der herausragenden Themen unserer Zeit. Zur Zeit des Propheten Mohammed habe es eine Sammelstelle für Almosen gegeben. Arme, Kranke, Alte, Bedürftige aller Art konnten dort um Hilfe bitten. Wenn er das mit dem Sozialsystem in Europa vergleiche, dann stelle er fest, dass es auf den gleichen Prinzipien beruhe."Der Dichter Mehmet Akif Ersoy war auch in Europa und er hat gesagt: 'Sie haben eine Arbeitsmoral wie unsere Religion'. Und es gibt noch einen zweiten Satz, den will ich jetzt nicht sagen. Soll ich den auch sagen? 'Und die Europäer haben eine Religion wie unsere Arbeitsmoral.'"Die vor mehr als 85 Jahren in der Türkei auf den Weg gebrachte Trennung von Staat und Religion hat tiefe Spuren hinterlassen. Wer die Türkei mit den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas vergleicht, mag diesen Eindruck nicht gewinnen. Aber wer die Türkei mit seinen muslimischen Nachbarn im Nahen Osten vergleicht, kann schnell zu diesem Schluss kommen. In der Türkei sind Prozesse angestoßen worden, die in der islamischen Welt einzigartig sind. In keinem anderen muslimischen Land werden heute derart kritisch als unantastbar geltende religiöse Grundsätze hinterfragt und öffentlich diskutiert. Yasar Nuri Öztürk gehört zu den populärsten islamischen Denkern der Türkei."Der Koran hat die Religion vom Verstand abhängig gemacht, nicht den Verstand von der Religion. Nach dem Koran kontrolliert der Verstand den Glauben. Aber der Glaube kann nicht den Verstand kontrollieren. Der Verstand ist der Befehlshaber über den Glauben. Der Koran vergleicht auch Wissenschaft und Glauben. Wissenschaft kann den Glauben kontrollieren, aber der Glaube nicht die Wissenschaft, weil der Glaube subjektiv ist und die Wissenschaft objektiv. Der Koran sagt: Die objektive Wissenschaft soll den subjektiven Glauben kontrollieren. Daher akzeptiert der Koran auf keinen Fall, dass der Verstand eingeengt wird."Die Türkei ist ein von Männern dominiertes muslimisches Land, und die Arbeit eines Imams ist hier Männersache. Habil Öndes's Moschee aus dem frühen 18. Jahrhundert wird in monatelanger Arbeit aufwendig renoviert. Der 57jährige hat alle Hände voll zu tun. Er ist ein lebenserfahrener Mann, der in Europa gelebt und gearbeitet hat und große Stücke auf die Errungenschaften westlicher Gesellschaften hält. Imam Öndes versucht, die auch in Deutschland gesammelten Erfahrungen bei seiner Arbeit als Seelsorger und Theologe zu nutzen."Wir erklären den Menschen die Lehren des Korans und des Propheten und die, die es annehmen, werden nur Vorteile davon haben, die, die es nicht annehmen, müssen selbst die Konsequenzen tragen. Wer aber bereut, kann zum Weg Gottes zurückkehren. Aber wir schreien oder schimpfen nicht. Sie haben ja unseren Gottesdienst mitgekriegt, die Ratschläge sind gut gemeint - so wie ein Vater seinem Sohn Ratschläge geben würde."Imam in der Türkei - ein Beruf mit Zukunft. Die Zahl der Moscheen wächst ständig. Gegenwärtig sind es landesweit knapp 80.000. Nicht jeder, der eine Imam-Hatip-Schule besucht, will Geistlicher werden. Aber der Beruf des Moscheevorstehers ist für viele Schüler durchaus lukrativ und gleichermaßen anspruchsvoll. Auf das Wohl und Weh des türkischen Staates haben Geistliche nur mittelbaren Einfluss. Aber wie sich die türkische Gesellschaft entwickelt, wird nicht unerheblich durch das Wie und Wie viel an Religiosität der türkischen Bevölkerung mitgestaltet. Und darauf, wie eng oder weit die Grenzen religiösen Verständnisses gesteckt werden, haben Imame kraft ihres Amtes erheblichen Einfluss. Umso mehr, findet der Islamgelehrte Yasar Nuri Öztürk, komme es darauf an, angehende Geistliche im Gebrauch ihres Verstandes zu schulen. Der Verstand dürfe nicht dafür benutzt werden, die als feststehend geltenden Glaubenswahrheiten rechtfertigen zu müssen. Vielmehr müsse der Verstand kritisch, frei und unabhängig die religiösen Glaubensgrundlagen hinterfragen und mit den Erfordernissen der modernen Gegenwart in Einklang bringen. "Im Grunde ist der Verstand nach dem Koran der größte Prophet. Dies beschreibt Ragip al-Isfahani als einer der wichtigsten Pioniere der Koranwissenschaften in seinem Werk sehr nachvollziehbar. Er sagt, dass der Verstand der eigentliche Prophet ist. Die übrigen Propheten seien zweitrangig. Er sagt, dass es Menschen, die vom eigentlichen "Propheten Verstand" keinen Nutzen ziehen können, unmöglich ist, von den übrigen Propheten Nutzen ziehen zu können."Yasar Nuri Öztürk ist ein glühender Verfechter der laizistischen Ideen von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Die von ihm angestoßene Säkularisierung des Landes ist in den vergangenen 85 Jahren mal intensiv, mal weniger intensiv vorangebracht worden. Unter den islamischen Staaten nimmt die Türkei wegen der offiziell noch immer geltenden laizistischen Staatsdoktrin eine Sonderstellung ein. Wie sehr sich die Türken künftig am säkularen Gesellschaftsmodell orientieren werden, hängt nicht unwesentlich davon ab, wie das säkulare Europa mit dem muslimischen Beitrittskandidaten Türkei umgeht. Bemerkenswerterweise lehnen laizistische Kemalisten den Beitritt ihres Landes zur EU eher ab, während die religiös-konservative AK Partei darauf drängt.Der Einfluss religiöser Gruppierungen nimmt in der gesamten islamischen Welt zu - die Türkei bildet keine Ausnahme. Welche Art von Islam die gesellschaftliche Entwicklung der Türkei in Zukunft mitgestalten wird, hängt nicht zuletzt von den Geistlichen und deren Ausbildung ab, meint Irfan Aycan:"Ich würde die Imam-Hatip-Schule auch meinen besten Freunden empfehlen und besonders deren fleißigen Kindern, denn von hochgebildeten Glaubensvertretern braucht man keinen Schaden zu erwarten. Ein Imam kümmert sich um die Kranken und armen in der Gemeinde. Auf dieses Ziel arbeitet die Imam-Hatip-Schule hin. Die Gesellschaft kann keine Fortschritte machen, wenn die Imame anders und reaktionär denken."
Von Reinhard Baumgarten
Kein anderes muslimisches Land hat auf dem Weg in die Moderne so konsequent mit seiner islamischen Vergangenheit gebrochen wie die türkische Republik. Doch heute bestimmt mit der Regierungspartei AKP das religiös-konservative Lager die Politik.
"2010-03-13T18:40:00+01:00"
"2020-02-03T18:15:46.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atatuerks-erbe-102.html
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Wie man mit dem Benzinpreis Stadtplanung betreibt
Der Benzinpreis bestimmt mit, wo Menschen wohnen (AFP / Mark Ralston) Städte sind für den Löwenanteil der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, Tendenz steigend. "Der Energiebedarf wird stark zunehmen", sagt Creutzig im DLF-Gespräch, "vor allem, weil das Einkommen steigt, weil eine rasante Urbanisierung stattfindet, vor allen Dingen in Asien, sodass wir damit rechnen, dass zwei bis dreimal soviel Energie in 2050 in Städten verbraucht wird, wie heutzutage." Schon jetzt ist klar, dass in Zukunft ein Großteil des Energieverbrauchs in Städten stattfinden wird. Vorausschauende Planung muss deshalb den Aspekt des Energiesparens mit einbeziehen. Dabei müsse man bedenken, so Creutzig: "Städte sind unterschiedlich, man darf nicht zu stark verallgemeinern." Aber in der Studie hätten sich acht verschiedene Typen von Städten herauskristallisiert, bei denen sich vergleichbare Handlungsmöglichkeiten ergeben. So profitierten im Norden gelegene Städte von Wärmeisolierung, während in den rasant wachsenden Städten Asiens die Stadtplanung viel erreichen könne und interessanterweise auch der Benzinpreis. "Der Benzinpreis deswegen, weil er dafür sorgt, dass Menschen weiter aus der Stadt herausziehen, wenn er gering ist, oder enger an einer Stadt wohnen, wenn er höher ist", sagt Creutzig. "Das heißt, der Benzinpreis bietet einen Anreiz, kompakter zu wohnen - und das würde am Ende am meisten Energie einsparen." Den vollständigen Beitrag können Sie für mindestens fünf Monate nach der Sendung in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.
Felix Creutzig im Gespräch mit Ralf Krauter
Höhere Benzinpreise, kürzere Pendlerstrecken, mehr Radwege - mit Maßnahmen wie diesen ließe sich der Anteil von Städten an den globalen CO2-Emissionen bis 2050 erheblich verringern, sagt Klimaforscher Felix Creutzig im DLF. In einer internationalen Studie hat Creutzig den wachsenden Energiehunger von Städten und Maßnahmen dagegen untersucht.
"2015-01-13T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:53.115000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimafreundliche-grossstaedte-wie-man-mit-dem-benzinpreis-100.html
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"Ich war das letzte Mal in Israel in einer Synagoge"
Die Kuppel der Jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin. (picture alliance / dpa / Soeren Stache) Seit über 30 Jahren lebt die Hebräisch-Lehrerin Miriam Rosengarten in Deutschland, hat ihre beiden Kinder hier großgezogen. Doch die haben vom Judentum damals kaum etwas mitbekommen. Denn in eine Synagoge ging Miriam Rosengarten nicht. "Die waren klein, als ich hierher kam. Der Sohn war zwei, die Tochter war acht, die haben kein Bar-Mitzwah gefeiert." Bei der Bar-Mitzwah-Zeremonie wird ein jüdischer Junge zum vollgültigen Gemeindemitglied. Wörtlich bedeutet Bar-Mitzwah: Sohn des Gebots. Mädchen werden Bat Mitzwa, Tochter des Gebots. "Zu der Zeit dachte ich, ich brauche das gar nicht. Ich bin Jüdin, ich brauche keine Zeichen, ich brauche keine Synagoge, ich fühle mich so gut, als jüdisch, ich brauche gar nicht zu machen."So oder ähnlich denken viele Israelis in Deutschland – zum Beispiel der junge Komponist Gilad Hochman. "Ehrlich gesagt, war ich das letzte Mal in Israel in einer Synagoge – vor ein paar Jahren. In Berlin habe ich noch nie eine besucht." Gilad Hochman liest durchaus gerne und häufig in der Bibel, komponiert sogar Musikstücke zu biblischen Themen. Doch er brauche keine Synagoge, sagt er. Andere Menschen könne er auch im Café treffen. Religiös sind in Israel Orthodoxe Wer Israelis fragt, warum sie so selten einen Fuß über die Synagogenschwelle setzen, hört eine Antwort immer wieder. "Ich meine, ich bin kein religiöser Mensch. Ich bin säkular", sagt Nirith Bialer vom jungen Berliner Kunstprojekt HaBait. "Ich bin nicht religiös" bedeutet in Israel jedoch etwas völlig anderes als in Deutschland. "Religiös" nennt man dort orthodoxe und ultra-orhodoxe Juden – Menschen, deren Alltag vom jüdischen Gesetz geprägt ist, die am Schabbat kein Licht einschalten, denen man die Gesinnung oft schon an der Kleidung ansieht. Solche Menschen gehen in Israel morgens und abends oder mindestens am Schabbat in die Synagoge. Viele Israelis sind auf die "Religiösen", wie man sagt, nicht gut zu sprechen. Sie verkörpern für Metropolenbewohner ein rückwärtsgewandtes Judentum, ein Judentum, das vor allem aus Verboten besteht, wie die Säkularen finden. In Israel ist das Leben auf Juden abgestimmt Der Durchschnitts-Israeli geht hingegen kaum in die Synagoge. Manch ein Bewohner von Tel Aviv verbringt den Versöhnungstag Jom Kippur lieber am Strand, als in der Synagoge zu fasten. Doch das Judentum spielt auch für viele säkulare Juden eine große Rolle, erzählt Miriam Rosengarten: "Wenn du in Israel lebst, brauchst du nicht religiös zu sein, um dich jüdisch zu fühlen. Die Israelis, die meisten, die feiern Pessach, Beschneidungsfest, Bar-Mizwah, die Hochzeiten sind vom Rabbiner." Doch ohne Synagoge jüdisch zu leben, ist in Deutschland viel schwieriger als in Israel. Denn dort ist das gesamte öffentliche Leben auf Juden abgestellt, sagt Nirith Bialer: "Schabbat alles ist zu. Jom Kippur man kann jetzt nicht mit dem Auto fahren oder ins Restaurant gehen. Das Leben ist geprägt von jüdischen Leuten. Wenn man in Deutschland lebt, oder es kann auch woanders sein, dann muss man sich mit diesem Thema beschäftigen. Wenn ich jetzt fasten will, dann muss ich etwas vorbereiten. " So war der deutsche Alltag für Nirith Bialer ein Anlass, um über ihr Judentum nachzudenken. "Ich fühle mich hier jüdischer, weil ich zum ersten Mal mit der Frage konfrontiert bin, zum ersten Mal."
Von Gerald Beyrodt
Viele Israelis leben in Deutschland, allein in Berlin sind es Schätzungen zufolge 18.000 Menschen. Dort machen Israelis als Künstler von sich reden, komponieren, bieten koscheres Catering oder Hebräisch-Unterricht. Nur in jüdischen Gottesdiensten sind sie selten zu finden.
"2015-05-12T09:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:36:23.135000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/israelis-in-deutschland-ich-war-das-letzte-mal-in-israel-in-100.html
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Als Lenin im plombierten Eisenbahnwaggon durch Deutschland fuhr
Beginn der Russischen Revolution im Oktober 1917. Wladimir Iljitsch Lenin wendet sich auf dem Roten Platz in Moskau nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil zu den Menschen. Deutschland hatte den Revolutionär durchreisen lassen. (imago / United Archives International) "Millionen vernichtender Geschoße sind in dem Weltkriege abgefeuert worden, aber kein Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte, als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu zersprengen." Mit diesen pathetischen Worten beschrieb der Schriftsteller Stefan Zweig in den "Sternstunden der Menschheit" die zweitägige Eisenbahnfahrt Wladimir Iljitsch Lenins durch Deutschland. Am Nachmittag des 9. April 1917 verließ der Zug mit dem russischen Revolutionär und seiner Entourage Zürich, passierte am 10. April Mannheim, Frankfurt am Main und Berlin, bevor er am folgenden Tag Saßnitz auf Rügen erreichte. Dem russischen Revolutionär die Durchreise erlaubt "Der Zug ist mehr oder weniger unbemerkt durch Deutschland gefahren", erläutert der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski die Umstände der Reise: "Wenn jetzt bekannt geworden wäre, dass Lenin mithilfe der Deutschen und ihrer finanziellen Unterstützung durch Feindesland fährt, dann wäre das für ihn von großem Nachteil gewesen." Kurz zuvor, im Februar 1917, war in Russland ein Aufstand ausgebrochen. Hungersnöte und der zermürbende Krieg hatten zu Massenprotesten und schließlich zur Abdankung des Zaren geführt. Lenin, Mitglied der radikalsozialistischen Bolschewiki, lebte – wie viele andere russische Revolutionäre – seit Jahren im schweizerischen Exil und wollte auf schnellstem Weg in seine Heimat zurückzukehren, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. "Wir sind heute in Zürich ganz aus dem Häuschen. Ich bin außer mir, dass ich nicht nach Hause fahren kann!", beschrieb Lenin seine Stimmungslage, als er von der russischen Februarrevolution erfuhr. Die Reichsregierung hoffte auf Destabilisierung in Russland Eine rasche Rückkehr über das Territorium des Kriegsgegners Deutschland und Schweden schien aussichtslos. Allerdings suchte die deutsche Regierung russische Revolutionäre, die in ihrer Heimat Unruhen schüren könnten. "Die Oberste Heeresleitung wollte unbedingt Russland aus dem Kriegsgeschehen herausbrechen. Und sie hat offenbar ein feines Gespür dafür, dass Lenin die richtige Figur dafür sein könnte." Denn unter den radikalen Sozialisten war Lenin der einzige, der für ein sofortiges Ende des Krieges eintrat und dafür auch eine Niederlage in Kauf nahm. Dahinter stand die Überzeugung, dass der militärischen Niederlage der politische Umsturz Russlands und schließlich die Weltrevolution folgen würden. Deutsche und Schweizer Sozialisten vermittelten einen Kontakt zwischen den russischen Emigranten und der Reichsregierung, sodass das Auswärtige Amt am 23. März an die Oberste Heeresleitung telegrafieren konnte: "Da wir Interesse daran haben, dass Einfluss des radikalen Flügels in Russland Oberhand gewinnt, scheint eventuelle Durchreiseerlaubnis durch Deutschland angezeigt." Verplombte Türen markieren den extraterritorialen Bereich Die Oberste Heeresleitung hatte keine Bedenken, sodass die Unterhändler nur noch die Details der Reise klären mussten. "Erst mal sollte das keine große Publizität haben, und zweitens sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass Lenin auf Geheiß der deutschen Regierung über deutsches Territorium, über Feind-Territorium nach Russland fährt. Er bestand ja darauf, dass der Waggon plombiert wurde, um dann sagen zu können, dass er sich nicht auf deutschem Boden, sondern auf extraterritorialem Gebiet befand." Außerdem sollten Passkontrollen unterbleiben und keine Unbefugten die beiden Waggons betreten dürfen. Rund 30 Personen fuhren schließlich im Sonderzug durch Deutschland, neben Lenin und seiner Frau die führenden Bolschewiki Grigori Sinowjew und Karl Radek, die später den Stalinschen Säuberungen zum Opfer fielen. Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. "Man hat Lenin wie einen Pestbazillus in einem plombierten Waggon von der Schweiz nach Russland befördert," kommentierte später Winston Churchill die Zugfahrt durch Deutschland. In Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, bereiteten Sympathisanten Lenin am 16. April einen begeisterten Empfang. Lenin trieb seine Rückkehr aktiv voran Sein Kampfgefährte Leo Trotzki stellte dazu fest: "Als Lenin nach Russland zurückkehrte, begann die Revolution." Mit freundlicher Unterstützung der deutschen Regierung, die Lenin direkt zum Brennpunkt des Geschehens befördert hatte. Der Mann der Tat, so der Historiker Jörg Baberowski, leitete anschließend ein neues Kapitel der russischen und der Weltgeschichte ein: "Ohne Lenin hätte es keine Oktoberrevolution gegeben. Es gibt eben Situationen, in denen bestimmte Menschen etwas vorantreiben können, was andere nicht vorangetrieben hätten. Lenin wollte auf die Geschichte nicht warten."
Von Otto Langels
Die Februarrevolution 1917 bedeutet das Ende der Zarenherrschaft in Russland. Acht Monate später kamen die Bolschewisten durch die Oktoberrevolution an die Macht. Das wäre wohl nie geschehen, wenn nicht die deutsche Reichsregierung Lenin die Durchreise aus dem Schweizer Exil in die russische Heimat gestattet hätte.
"2017-04-10T09:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:47.149000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-als-lenin-im-plombierten-eisenbahnwaggon-100.html
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"Auch an die PKK appellieren, dass Terror keine Lösung ist"
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu (dpa/picture-alliance/Gregor Fischer) Stefan Heinlein: Auch am siebten Tag der türkischen Offensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien bleibt die Lage unübersichtlich. Beide Seiten melden militärische Erfolge. Eine unabhängige Bewertung dieser Meldungen ist für Beobachter kaum möglich. Sicher ist: In den umkämpften Gebieten nahe der Grenze sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht. An der Front gibt es kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Weder die von den USA verhängten Sanktionen, noch das mühsam ausgehandelte Waffenembargo der EU scheinen Präsident Erdogan zu beeindrucken. Seine Armee muss sich jetzt auch den Truppen von Syriens Machthaber Assad entgegenstellen. Es droht ein langer Krieg mit vielen Opfern. Rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben bei uns in Deutschland. Viele haben enge familiäre Bindungen in die Türkei. Nicht wenige Verwandte, Freunde und Bekannte, die in der Armee kämpfen oder in der Nähe der Grenze zu Syrien leben. Darüber möchte ich jetzt reden mit dem Bundesvorsitzenden der türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu. Guten Morgen! Sevim Dagdelen (Linke) - "Jede Waffe für den türkischen Präsidenten ist eine zu viel"Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, fordert ein generelles Verbot von Waffenexporten in die Türkei. Der Nato-Partner habe mit seiner Syrien-Offensive einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen und eine humanitäre Katastrophe angerichtet, sagte sie im Dlf. Gökay Sofuoğlu: Guten Morgen! Heinlein: Seit einer Woche kämpft die türkische Armee in Nordsyrien. Mit welchen Gefühlen, mit welcher politischen Meinung beobachtet die türkische Gemeinde in Deutschland diesen Krieg? Sofuoğlu: Wie jede kriegerische Auseinandersetzung beobachten wir die ganze Entwicklung natürlich mit großer Sorge. Wir sind natürlich immer für friedliche Lösungen solcher Konflikte und es ist leider wieder so, dass man jetzt beobachten muss, wie die Menschen sterben, wie jetzt Soldaten auch sterben, wie die Menschen auch auf der Flucht sind, und natürlich die Folgen, die jetzt auch in Deutschland auf uns zukommen. "Das Ganze wird eher emotional bewertet" Heinlein: Heißt das, Herr Sofuoğlu, der Krieg der türkischen Armee in Nordsyrien wird hier aus Deutschland von der türkischen Gemeinde eher kritisch gesehen? Oder gibt es eine Unterstützung für die türkische Armee durch die türkische Gemeinde hier in Deutschland? Sofuoğlu: Es ist natürlich auch wie in der Vergangenheit sehr unterschiedlich. Es gibt Befürworter, es gibt Gegner, und da sind die Geister wieder ganz unterschiedlich. Wir von der türkischen Gemeinde sind natürlich immer für die friedlichen Lösungen bei solchen Konflikten und ich denke, dass gerade eine sehr große Emotionalisierung stattfindet, dass Menschen jetzt nicht rational entscheiden können, sondern dass eher emotional das Ganze bewertet wird. Deswegen sollten auch alle Parteien darüber nachdenken, welche Folgen das für die Menschen im Gebiet hat und auch welche Folgen das jetzt hier für die Menschen im Ausland und für uns hat. Es sollten alle nach einer friedlichen Lösung suchen, weil so, wie es sich entwickelt, so wird es natürlich sehr verheerende Folgen haben. Nahostexperte: "Den Preis zahlen am Ende wir Europäer"Der Nahost-Experte Michael Lüders kritisiert die fehlende Strategie der EU in der Region. 800.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland seien das Ergebnis einer unüberlegten Interventionspolitik, sagte er im Dlf. Dennoch übten die Europäer keinen Druck auf die Türkei aus, den Einmarsch in Syrien zu beenden. "Befürworter werden in nächster Zeit auf die Straße gehen" Heinlein: Aus der Türkei, so melden es unsere Korrespondenten, gibt es eine Art patriotische Grundstimmung. Alles stellt sich hinter Präsident Erdogan. Ist das hier anders, wenn ich Sie richtig verstehe, in Deutschland? Wird das kritischer gesehen? Sofuoğlu: In Deutschland ist das nicht anders. Es gibt wie gesagt Befürworter, die jetzt wahrscheinlich in der nächsten Zeit auf die Straße gehen. Es gibt auch Gegner, die jetzt seit einigen Tagen auf der Straße sind und das Ganze kritisieren. Es wird auch in Deutschland sehr kontrovers darüber diskutiert, was natürlich auch die Folge hat, dass es teilweise auf den Straßen zu Gewalttaten kommt. Heinlein: Wie passt das – und darüber wird in Deutschland ja sehr ausführlich berichtet – dazu, dass die türkische Nationalmannschaft, dass auch türkische Spieler, die hier in der Bundesliga spielen, aber auch bis runter in die Kreisliga, dass Fußballspieler jetzt einen militärischen Gruß zeigen? Das spricht doch eher dafür, dass es diese patriotische Grundstimmung auch bei den Türken hier in Deutschland gibt. Sofuoğlu: Es gibt diese patriotische Grundstimmung in Deutschland. Das zeigt sich auch bei den Fußballspielern, die diese Militärgrüße zeigen, jetzt auch in Frankreich und auch der Spieler von St. Pauli, der jetzt auch von der Mannschaft suspendiert worden ist. Ich bin der Meinung, dass Sport und Politik und vor allem, wenn es um kriegerische Auseinandersetzungen geht, auf den Fußballplätzen nichts zu suchen haben. "Wir fordern, dass die Parteien sich zusammensetzen" Heinlein: Präsident Erdogan erklärt, die Kurden, die PKK, die YPG, das sind Terroristen, die bedrohen die Sicherheit unseres Landes, der Türkei. Ist diese Argumentation richtig in den Augen der türkischen Gemeinde hier in Deutschland? Sofuoğlu: Diese Argumentation ist wie gesagt bei einigen Menschen wichtig. Bei uns in der türkischen Gemeinde, also im Verband, wird auch sehr kontrovers diskutiert. Wir als Verband fordern natürlich eine friedliche Lösung, dass es nicht zu einem Krieg führt, diese Militäroffensive, was ja auch von der türkischen Regierung deklariert wird, dass jetzt auch die russische und syrische Armee sich wappnen, dass es wohl zu einem Krieg zwischen den Ländern führen kann, was natürlich auch die Ursachen hat, dass viele Menschen, Millionen Menschen auf die Flucht gehen. Wir fordern weiterhin, dass die Parteien sich zusammensetzen und dass sie auf jeden Fall diplomatisch nach einer friedlichen Lösung suchen, weil kriegerische Auseinandersetzungen haben bisher in dem Gebiet überhaupt keine Probleme gelöst, und ich gehe nicht davon aus, dass die Probleme auch in Zukunft so gelöst werden können. Rolle der PKK Heinlein: Können Sie sich persönlich vorstellen, Herr Sofuoğlu, dass Sie gemeinsam mit dem Vorsitzenden der kurdischen Gemeinde hier in Deutschland, Herrn Toprak, auftreten und diesen Friedensappell, den Sie jetzt schon mehrfach gesagt haben, gemeinsam artikulieren? Sofuoğlu: Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt unterschiedliche Vorstellungen haben, was Friedensappelle angeht. Wenn man Friedensappelle macht, muss man natürlich alle an einen Tisch einladen. Man muss natürlich auch die Realität sehen, dass die PKK seit Jahrzehnten in dem Gebiet versucht, mit Terror zum Ziel zu kommen. Man muss auch an die PKK appellieren, dass es keine Lösung ist. Wie gesagt, da ist es gerade ein bisschen schwierig, auch in der Definition der ganzen Geschichte. Wir sind für eine friedliche Lösung, aber dazu gehören alle. Wenn man jetzt nur eine Seite beschuldigt und die andere Seite in Schutz nimmt, das ist keine ehrliche Meinung. Deswegen müssen wir ehrlich sein. Wir müssen alle Parteien in Verantwortung ziehen und alle Parteien müssen an den Tisch kommen. Da gehört natürlich Syrien und da gehören auch die anderen Beteiligten, die jetzt in dieser Militäroffensive beteiligt sind, dazu. Heinlein: Das klingt ein wenig hohl in meinen Ohren, Herr Sofuoğlu, wenn Sie sagen, alle Seiten müssen an einen Tisch, aber Sie können sich nicht vorstellen, mit dem Vertreter des kurdischen Verbandes hier in Deutschland, Toprak, gemeinsam ein starkes Signal zu setzen für den Frieden, den Sie fordern. Warum nicht? Sofuoğlu: Wir haben das auch in der Vergangenheit gemacht. Deswegen habe ich versucht, noch mal zu deklarieren, dass auch ehrlich gemeinte Friedensappelle eine Wirkung haben, statt nur Lippenbekenntnisse. Da müssen wie gesagt beide Seiten versuchen, ihre Mitglieder zur Besinnung aufzurufen, und wenn Herr Toprak das macht, dann ist das okay. Das werden wir auch machen. Deswegen muss man nicht unbedingt zusammenkommen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gökay Sofuoğlu Gespräch mit Stefan Heinlein
Die Türkische Gemeinde in Deutschland plädiert für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen der Türkei und den Kurden in Nordsyrien. Ihr Vorsitzender Gökay Sofuoğlu sagte im Dlf, alle Konfliktparteien trügen Verantwortung - auch die kurdische PKK. Sie versuche seit Jahrzehnten, mit Terror ans Ziel zu kommen.
"2019-10-16T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T23:14:48.417000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-syrien-offensive-auch-an-die-pkk-appellieren-100.html
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Frauen an die Spitze!
"Beim Thema, mehr Frauen in Führungspositionen im Sport zu bringen, sind bisher nur minimale Fortschritte erzielt worden", sagt Petra Tzschoppe, DOSB-Vizepräsidentin Frauen und Gleichstellung, im Deutschlandfunk. Die Nachfolgerin von Ilse Ridder-Melchers betonte zugleich, die einstimmig beschlossene Frauenquote in Führungsgremien sei ein Instrument, um dem Ansinnen mehr "Nachdruck" zu verleihen und nicht nur auf "Selbstverpflichtung, sondern auch auf Pflicht" zu setzen. Als einen Schwerpunkt für ihre Arbeit in den nächsten Jahren nannte Tzschoppe die Forderung, Trainerinnen das gleiche Honorar zu zahlen wie ihren männlichen Kollegen. Die Sportsoziologin der Universität Leipzig wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass "wir weniger als 20 Prozent Trainerinnen im Spitzensport haben." Das vollständige Gespräch können Sie bis zum 04. Juli 2015 als Audio-on-Demand nachhören.
Petra Tzschoppe im Gespräch mit Astrid Rawohl
Knapp 10 Millionen Frauen und Mädchen sind heute Mitglieder in einem Sportverein. Auf den Führungsebenen im Sport sind Frauen jedoch deutlich unterrepräsentiert.
"2015-01-04T00:00:00+01:00"
"2020-01-30T12:15:24.882000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportpolitik-frauen-an-die-spitze-100.html
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Politische Zeitenwende in Deutschland?
Demonstranten nach der Ministerpräsidentenwahl vor der Thüringer Staatskanzlei in Erfurt Im Bild: Die Demonstranten versammeln sich vor der Thüringer Staatskanzlei nach der Ministerpräsidentenwahl (imago images / Steve Bauerschmidt) Wie tief ist die Zäsur für das politische System der Bundesrepublik? Wird die AfD künftig zum Machtfaktor in Bund und Ländern? Nach der Thüringen-Wahl: Die Standpunkte der ParteienDie Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD sorgt für enorme politische Turbulenzen – in den Parteien werden die Konsequenzen heiß diskutiert. Gesprächsgäste: Gesine Lötzsch, stellvertretende Vorsitzende Linke-Bundestagsfraktion Alexander Mitsch, CDU, Vorsitzender der WerteUnion Michael Theurer, stellvertretender Vorsitzender FDP-Bundestagsfraktion Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail. Telefon: 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei) und E-Mail: kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Stefan Heinlein
Die umstrittene Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen sorgt weiter für politische Turbulenzen. Trotz der angekündigten Neuwahlen gibt es Warnungen vor einem dauerhaften Schaden für die parlamentarische Demokratie.
"2020-02-10T10:08:00+01:00"
"2020-02-12T14:51:06.087000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-paukenschlag-in-thueringen-politische-zeitenwende-100.html
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"Es geht um das Vertrauen in die Polizei"
Der Grünen-Politiker Omid Nouripour (dpa / Britta Pedersen) Christine Heuer: Ein brutaler Drohbrief an eine NSU-Opferanwältin in Frankfurt – mit ihm haben Ermittlungen innerhalb der Frankfurter Polizei begonnen. Zutage gefördert wurden dann rechtsextremistische Chats mit Hakenkreuz- und Hitler-Bildern. Fünf Beamte wurden suspendiert, es laufen gegen sie Straf- und Disziplinarverfahren. Diese Woche landet der Fall im hessischen Landtag. Die politische Debatte nimmt an Fahrt auf. Am Telefon ist Omid Nouripour, in Frankfurt zuhause. Für die hessischen Grünen sitzt er im Deutschen Bundestag. Guten Morgen, Herr Nouripour. Omid Nouripour: Schönen guten Morgen. Heuer: Frankfurter Polizisten verschicken offenbar, muss man ja sagen, Hitler-Bilder und tauschen rechtsextremistische Nachrichten aus. Sind das Einzelfälle oder ist das eher die Spitze eines Eisbergs? Nouripour: Das wird sich weisen. Genau deswegen ist es ja auch notwendig, dass jetzt dringend aufgeklärt wird. Es ist eine schwierige Balance zu finden, auf der einen Seite, dass es keinen Generalverdacht gibt gegen Polizistinnen und Polizisten, die einen sehr, sehr schwierigen, teilweise frustrierenden Job machen für uns alle, und auf der anderen Seite einer Behörde, die ein Gewaltmonopol ausübt und deshalb erst recht immun sein muss gegen extremistisches Gedankengut. Heuer: Es wird ja auch geprüft – wir haben das gerade gehört -, ob die suspendierten Polizisten einen Drohbrief an eine NSU-Opferanwältin mit türkischen Wurzeln verschickt haben. Wenn das stimmt, dann wäre aber doch wahrscheinlich die Bilanz, dass man sagen muss, hier liegt ein richtig gravierendes Problem vor und wir sehen doch nur die Spitze des Eisbergs. Nouripour: Na ja. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass diese Dateien raus sind von dem einen Rechner von der Polizei – und es gibt Daten, die sehr sensibel sein müssen, weil sie gerade nur die Polizei hat -, dann weiß ich gar nicht, was ich schlimmer finde, ob sie den Brief selber geschrieben haben, oder ob sie die Daten weitergegeben haben an Dritte, die diesen Brief geschrieben haben. Aber wer am Ende einen solchen Drohbrief, in dem ein Zweijähriger mit dem Tode bedroht wird, … "Relevant für die Frage, ob die Behörden funktionieren" Heuer: Auf brutale Weise. Nouripour: Bitte? Heuer: Auf sehr brutale Weise. Nouripour: Auf brutalst denkbare Art und Weise und auch noch unterschrieben mit NSU, bei allem Wissen, was das denn bedeutet und was auch für ein Versagen der Behörden eigentlich hinter der NSU-Geschichte steckt, dann ist das mehr als schockierend. Dann muss das Konsequenzen haben. Ob es jetzt fünf betrifft oder 50, ist am Ende des Tages zumindest auf der ethischen Ebene nicht relevant. Es ist natürlich relevant für die Frage, ob die Behörden funktionieren. Heuer: Funktionieren die? Gibt oder gab es Verbindungen hessischer Polizisten in rechtsextreme Kreise außerhalb der Polizei? Nouripour: Das weiß ich nicht. Wie gesagt, genau das muss aufgeklärt werden, und zwar schonungslos. Und es ist auch notwendig, dass verstanden wird, dass dieser Fall keiner ist, wo einfach mal ein paar Leute viel zu viele Überstunden hatten, ein bisschen frustriert waren und einfach mal über die Stränge geschlagen haben. Hier geht es um das Vertrauen in die Polizei, das nicht von einzelnen Leuten desavouiert werden darf. Heuer: Herr Nouripour, wenn wir das alles mal zusammen angucken, was braut sich denn da schlimmstenfalls zusammen? Nouripour: Wir haben ja beim Fall NSU erlebt, dass es sehr viele Fragen gibt, die weiterhin nicht geklärt worden sind, wenn beispielsweise Akten vernichtet werden. Das war nicht in Hessen. Aber wenn das passiert, dann ist das natürlich eine weitere Untergrabung des Vertrauens in die Arbeit der Behörden. Deshalb muss man in jedem einzelnen Fall, bei jedem Anfangsverdacht sehr genau hinschauen. Ich selber kenne dieses Polizeirevier, ich habe da viele Leute kennenlernen dürfen. Ich habe niemals das Gefühl gehabt, dass wir es hier mit massiven Problemen zu tun haben. Aber wie gesagt: Auch wenn es fünf Leute sind, es geht nicht nur darum, dass diese fünf Leute das Vertrauen in alle anderen Rechtschaffenden unterminieren. Es geht darum, dass diejenigen, die ein Gewaltmonopol des Staates ausfüllen, nicht für Extremismus anfällig sein dürfen, und da müssen wir dran arbeiten. "Sehr schwierige Arbeit unter widrigsten Umständen" Heuer: Aber ist es vielleicht sogar so, dass Polizisten besonders anfällig sind für rechtsextremes Gedankengut? Nouripour: Das glaube ich nicht. Die machen eine sehr, sehr schwierige Arbeit unter widrigsten Umständen und fühlen sich auch oft im Stich gelassen. Aber es gibt keinen Automatismus, dass jemand, der frustriert ist, tatsächlich dann extremistisch wird. Es gibt gerade in diesen Bereichen eine besondere Verantwortung. Wir müssen darüber nachdenken und müssen die Fälle anschauen, um zu überlegen, wo man nachsteuert, wo man auch die Frage von verschiedenen Arten von Extremismus vielleicht anders und sensibilisierter in die Ausbildung reinbringt, vielleicht darüber nachdenkt, wo es auf allen Ebenen mehr Ombudsleute geben kann, damit gerade junge Kolleginnen und Kollegen weiter unten in der Hierarchie auch mal eine Anlaufstelle haben, die sie kennen und ansprechen können, damit sie auf solche Vorfälle hinweisen. Es darf nicht sein, dass Uniformierte, sei es bei der Bundeswehr oder bei der Polizei, tatsächlich für Extremismus jeglicher Art anfällig sind. "Es muss mehr Ombudsstellen geben" Heuer: Sie schlagen ein Frühwarnsystem vor für Rechtsextremismus in der Polizei. Wie soll denn das genau funktionieren? Nouripour: Es geht darum, dass wir es mit einem sehr hierarchischen System zu tun haben, und es geht darum, dass gerade Leute, die schon aufgrund ihres jungen Karriereweges ganz unten sind in der Hierarchiekette, eine Möglichkeit bekommen, niedrigschwellig, wenn sie denn das Gefühl haben, hier läuft was falsch, hier gibt es In-Gruppen, die Dinge tun, die nicht mit dem Job vereinbar sind, dass sie das auch ansprechen können. Da reicht es nicht, wenn es irgendwo weit oben in der Kette jemanden gibt, den man vielleicht mal anschreiben kann. Da muss es tatsächlich viel mehr Ombudsstellen geben, viel mehr Anlaufstellen geben, sowohl bei der Bundespolizei als auch bei den Landespolizisten. Das sieht man in Rheinland-Pfalz, dass das ein bisschen besser funktioniert. "Es darf keinen Generalverdacht geben" Heuer: Die machen das? Nouripour: Da gibt es eine Anlaufstelle, die sehr deutlich und sehr präsent ist und die auch in die Fläche geht, und da gibt es eine Ansprechpartnerin, die relativ neu erst im Amt ist und die zumindest nach meinem Eindruck sehr stark dazu beigetragen hat, dass die Lage sich entspannt hat und dass es ein besseres Vertrauensverhältnis gibt zwischen verschiedenen Behörden. Da geht es nicht um Generalverdacht, den darf es nicht geben. Die Unschuldsvermutung gilt auch für Polizistinnen und Polizisten. Aber niedrigschwellige Angebote schaffen, damit diese Verdachtsmomente auch schnell ausgesprochen werden können, das ist notwendig. Heuer: Herr Nouripour, Sie stellen sich vor Ombudsstellen innerhalb der Polizei, nicht außerhalb. Wer soll sich denn an diese Stellen wenden können? Nur Polizisten, oder kann ich da als Bürger auch hingehen, wenn mir was auffällt? Nouripour: Das muss es beides geben. Es ist dringend notwendig, dass die Verdachtsmomente nicht liegen bleiben. Es ist völlig egal, wer diese erhebt. Heuer: Und innerhalb der Polizei, beklagen Sie, gibt es jetzt im Moment nicht Ansprechpartner, die solche Probleme auch beherzt angehen? Das kann man sich ja gar nicht vorstellen. Nouripour: Das gibt es schon. Aber es stellt sich die Frage, wenn in einer Hauptstadt oder ganz oben in der Leitung eine Person ist, die man nicht kennt, ob es eine Person gibt, die weit weg ist in einer anderen Stadt, die man nur von der Webseite kennt, ob das ausreichend Vertrauen erweckt bei den Leuten, oder ob es nicht dezentralisierter sein muss und weiter unten auch Ombudsleute geben soll. Hier geht es darum, dass diese Frage der Ansprechbarkeit in die Fläche geht, und auch, dass die Führungspersonen mehr sensibilisiert sind und auch mehr ausstrahlen, dass man sie ansprechen kann. Heuer: Wenn mir so was passieren würde, würde ich zu meinem Vorgesetzten gehen. Nouripour: Ja, das ist richtig, und es stellt sich natürlich auch grundsätzlich die Frage, warum das an bestimmten Stellen immer wieder nicht passiert. Deshalb ist es die Frage der Ausbildung, ist es die Frage der Verantwortung der Vorgesetzten, aber auch die Frage, dass in dem Augenblick, wo man das Gefühl hat, dass es nicht geht, weil die Hemmschwelle zu hoch ist, weil man im Zweifelsfall dann als einer gilt, der die eigenen Leute angeschwärzt hat, dass man das auch anonymisiert woanders machen kann. Heuer: Auch das ist ja ein Problem, jedenfalls im Umgang mit Rechtsextremismus in der Polizei, das Sie da beschreiben. Nouripour: Das ist richtig, aber das ist kein Problem alleine der Polizei. Heuer: Omid Nouripour von den hessischen Grünen, in Frankfurt ist er zuhause. Er sitzt für seine Partei im Deutschen Bundestag und fordert ein Frühwarnsystem für rechtsextremistisches Gedankengut in der Polizei. Herr Nouripour, danke fürs Interview. Nouripour: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Omid Nouripour im Gespräch mit Christine Heuer
Mit Blick auf die Rechtsextremismus-Vorwürfe gegen Beamte der Frankfurter Polizei hat der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour mehr Ombudsstellen innerhalb der Polizei gefordert. Führungskräfte müssten sensibilisiert und mehr Anlaufstellen geschaffen werden, damit sich Polizisten bei einem Verdacht schnell an eine Vertrauensperson wenden könnten, so Nouripour im Dlf.
"2018-12-17T06:50:00+01:00"
"2020-01-27T18:25:57.462000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-bei-der-polizei-es-geht-um-das-vertrauen-100.html
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Der zähe Kampf gegen die Korruption
Vor zehn Jahren nahm die Antikorruptions-Kommission unter Iván Velásquez ihre Arbeit auf - nun wurde ihr Mandat nicht verlängert (picture alliance / Moises Castillo) "Sra. Presidenta del 73. período de la asamblea general de Naciones Unidas, senores jefes de Estado y de gobierno ." Am Dienstag, den 25. September 2018 tritt der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Zum dunklen Anzug trägt er eine hellblaue Krawatte, sein Blick ist ernst. Er ist nach New York gekommen, um der Welt darüber zu berichten, was in seinem Land vor sich geht. Vor allem aber will er über die CICIG reden - die Internationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Guatemala. "Die CICIG ist eine Bedrohung geworden für den Frieden in Guatemala. Sie hat ein Terrorsystem errichtet, das Andersdenkende verfolgt und gegen sie ermittelt. Die Kommission wird beschuldigt, Zeugenaussagen zu erzwingen. Diese Menschen macht sie dann zu Kronzeugen, indem sie ihnen einen verkürzten Prozess und Straffreiheit anbietet." Kampf gegen Korruption hat mächtige Feinde Das sind harte Anschuldigungen. Aber Präsident Morales ist längst noch nicht fertig mit seiner Abrechnung. "Guatemala ist heute so polarisiert wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Es gibt sogar Menschen, die sagen, dass es selbst während des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren nicht diesen Grad an Polarisierung gab." Der Mann, der dafür verantwortlich sein soll, heißt Iván Velásquez. Velásquez ist der Chef der Internationalen Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Guatemala. Ein großgewachsener Jurist aus Kolumbien mit ruhiger Stimme und einem zurückhaltenden Wesen, der für seinen Anti-Korruptionskampf international gefeiert wird. Gerade erst wurde er sogar mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Wie passt das zusammen mit den Anschuldigungen des Präsidenten? Die Wiedereinreise nach Guatemala wurde ihm verweigert: Iván Velásquez (AP) Für Velásquez selbst ist die Haltung von Jimmy Morales keine Überraschung. Er weiß schon lange, dass er sich durch die Korruptionsermittlungen bis in höchste Kreise mächtige Feinde gemacht hat. "Es gibt eine starke Gegenreaktion gegen unsere Ermittlungen der vergangenen drei Jahre. Diese Gegenreaktion wird in Guatemala oft als 'Pakt der Korrupten' bezeichnet, dazu gehören Leute, die schon in Untersuchungshaft sitzen genauso wie Abgeordnete oder Unternehmer, die von unseren Untersuchungen betroffen sind. Und diese Gegenreaktion ist so stark, dass sie immer noch zu einem Rollback führen kann." Ranghohe Politiker reihenweise in Haft In ganz Lateinamerika sind Korruption und Straflosigkeit ein großes Problem. Weil die Lage in Guatemala besonders prekär ist, griff das kleine zentralamerikanische Land vor mehr als zehn Jahren zu einem außergewöhnlichen Mittel: 2006 bat die guatemaltekische Regierung die UNO um Mithilfe bei der Aufklärung von Verbrechen, ein Jahr später hat die "Internationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Guatemala", kurz CICIG, ihre Arbeit im Land aufgenommen - eine weltweit einzigartige UN-Mission, deren Aufgabe es ist, illegale Netzwerke und Machtstrukturen aufzudecken und zu beseitigen sowie Vorschläge an die Politik zu machen, um die Neubildung dieser illegalen Strukturen zu verhindern. Seit vor drei Jahren sogar der damalige Präsident Otto Pérez Molina wegen eines Korruptionsskandals direkt aus dem Präsidentenpalast in Untersuchungshaft wanderte, ist CICIG-Chef Iván Velásquez nicht nur für viele Guatemalteken zu einer Art Superheld geworden. Menschen aus der ganzen Region schauten neidvoll und bewundernd nach Guatemala, das sein korruptes politisches System nun endlich gründlich aufzuräumen schien. Ranghohe Politiker und einflussreiche Unternehmer wanderten reihenweise in Haft, weil ihnen Bestechung, Korruption oder illegale Wahlkampffinanzierung vorgeworfen wurde. Doch der eigene Erfolg wird der CICIG nun zum Verhängnis. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Kommission so rigoros durchgreifen würde. Nun sehen die guatemaltekischen Eliten aus Politik und Wirtschaft die CICIG als Feind, der auch ihre eigenen Interessen bedroht. Kein Wunder, meint Jordán Rodas, der Ombudsmann für Menschenrechte in Guatemala. "Das waren ja Gruppen, an die sich die Justiz nie zuvor ran getraut hatte - und auf einmal, zusammen mit der CICIG, ging es. Natürlich gibt es zwischen den Politikern und einflussreichen Wirtschaftsbossen Differenzen, aber der gemeinsame Feind hat sie zusammengeschweißt. Und das hat zu dieser unglückseligen Entscheidung geführt." Jimmy Morales, Präsident von Guatemala, stellt sich gegen den Kampf gegen die Korruption (picture-alliance / dpa / MAXPPP / Leon Tanguy) Die verkündet Präsident Jimmy Morales am Freitag, den 31. August 2018. Begleitet von einem großen Militäraufgebot informiert er die Öffentlichkeit bei einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast darüber, dass die Arbeit der CICIG im September kommenden Jahres enden soll. Bisher war das Mandat alle zwei Jahre verlängert worden. Doch nun würde man weitere internationale Unterstützung nicht mehr benötigen, so der Präsident. Es ist ein schwerer Schlag gegen den Anti-Korruptionskampf in Guatemala, der in den vergangenen Jahren vor allem aufgrund der Arbeit der CICIG so erfolgreich war. Zur gleichen Zeit patrouillieren Militär-Jeeps vor der CICIG-Zentrale in Guatemala-Stadt - die Szenen wecken bei vielen Guatemalteken Erinnerungen an dunkelste Zeiten. "Solche Bilder haben eine Wirkung auf die Menschen, denn wir haben einen 36 Jahre langen Bürgerkrieg hinter uns. Und es war eine gut geplante Strategie, denn danach kamen gleich die nächsten Schritte, ohne dass es eine Reaktion der Zivilgesellschaft gegeben hätte. Und genau so war es ja auch gedacht: Als Einschüchterung, um die Menschen davon abzuhalten, öffentlich dagegen zu protestieren." Ende der Anti-Korruptionskommission? Ganz ist das der Regierung allerdings nicht gelungen. Gleich am nächsten Tag versammeln sich einige hundert Menschen vor dem Präsidentenpalast in Guatemala-Stadt, um für die CICIG und gegen die Entscheidung der Regierung von Jimmy Morales zu demonstrieren. Doch der zeigt sich unbeeindruckt - und legt nach: Als CICIG-Chef Velásquez auf einer Dienstreise in New York weilt, weist Präsident Morales die guatemaltekischen Migrationsbehörden an, ihm die Wiedereinreise nach Guatemala zu verweigern. Velásquez sei "eine Bedrohung für den Frieden in Guatemala", heißt es dazu in einer Stellungnahme der Regierung. Zwar kassiert das guatemaltekische Verfassungsgericht die Anweisung des Präsidenten schon wenige Tage später, doch Jimmy Morales denkt nicht daran, dem Gerichtsentscheid Folge zu leisten - und die UNO will den Konflikt nicht noch weiter anheizen. Iván Velásquez bleibt also in New York. Sein Sprecher Matías Ponce ist sichtlich bemüht, die Situation nicht zu dramatisieren. Die Arbeit gehe natürlich ganz normal weiter, so Ponce. "Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat Iván Velásquez gebeten, die CICIG aufgrund der aktuellen Situation vom Ausland aus zu leiten. Und das macht er nun, neben den vielen Arbeitstreffen im Ausland, die er ebenfalls wahrnimmt. Trotzdem ist er jeden Tag in Kontakt mit unseren Untersuchungsteams und jede Woche gibt es ein Treffen zwischen der Staatsanwaltschaft und der CICIG, um die aktuellen Fälle voranzubringen." "Business as usual" also? Wohl kaum. Denn seit CICIG-Chef Velásquez im Exil ist und klar ist, dass das Mandat der Kommission nicht verlängert wird, geht auch in der guatemaltekischen "Staatsanwaltschaft für die Bekämpfung der Straflosigkeit" - kurz FECI - die Angst um, dass ihre Arbeit bald ein Ende haben könnte. Gegründet wurde die FECI vor zehn Jahren, sie ist das Bindeglied zwischen den guatemaltekischen Untersuchungsbehörden und der CICIG. Juan Francisco Sandoval, ein junger, unscheinbarer Mann, leitet die Staatsanwaltschaft seit drei Jahren. Auch er hat gemerkt, wie die Gegner der CICIG immer stärker geworden sind. Anfeindungen und sogar Morddrohungen gehören für ihn zum Alltag. Einmischungen des Präsidenten "Ich befinde mich jetzt an dem schwierigsten Punkt meiner ganzen Karriere in der Staatsanwaltschaft. Es wäre natürlich einfach zu sagen: 'Ich werfe das Handtuch, warum tue ich mir das Ganze überhaupt noch an?' Aber ich glaube, dass unsere Untersuchungen ein Symbol dafür sind, dass die Justiz vor niemandem Halt macht." Auch nicht vor dem guatemaltekischen Präsidenten Jimmy Morales. Der betont zwar immer wieder, dass er sich in die Arbeit der CICIG und der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft nicht einmische. Aber Juan Francisco Sandoval kann darüber nur lachen. "Die Tatsache, dass sich der Präsident immer wieder negativ über die Ermittlungsarbeiten äußert, ohne eine Ahnung davon zu haben, und dass er Dinge behauptet, die überhaupt nicht zum Prozessverlauf passen - ist das etwa keine Einmischung? Und die Tatsache, dass CICIG-Mitarbeitern das Visum verwehrt wird, die mit Untersuchungen betraut sind, die den Präsidenten, seinen Bruder und seinen Sohn betreffen - ist das etwa auch keine Einmischung? Wenn das keine Einmischung sein soll, was dann?" Geldwäsche und Korruption - so lauten die Vorwürfe auch gegen Manuel Lopez Ambrosio, dem früheren Verteidigungsminister (picture alliance / Esteban Biba) Als der Sohn und der Bruder von Präsident Jimmy Morales vor zwei Jahren aufgrund von Korruptionsermittlungen in Untersuchungshaft kommen, beginnt sich das eigentlich gute Verhältnis zwischen der CICIG und dem Regierungschef merklich abzukühlen. Jimmy Morales war vor drei Jahren selbst als politischer Outsider und Anti-Korruptionskandidat ins Präsidentenamt gewählt worden. Kritiker werfen der CICIG und der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft vor, den Korruptionsfall um Sohn und Bruder von Morales medial ausgeschlachtet zu haben. Sandoval wehrt sich gegen die Vorwürfe. "Dass wir in der Untersuchung auch eine Beteiligung dieser beiden Personen feststellen konnten, das war natürlich eine etwas unerfreuliche Entdeckung, aber was hätten in diesem Moment denn die Staatsanwaltschaft und die CICIG machen sollen? Hätten sie die Ermittlungen einstellen sollen, weil diese beiden Personen involviert waren? Ich glaube, dass vor der Justiz alle gleich sind. Und Korruption ist weder groß noch klein, es ist und bleibt einfach Korruption." Streit um ideologische Motive Ricardo Méndez Ruiz sieht das ganz anders. Der Mann mit den sorgsam frisierten grauen Haaren, der stets Wert auf korrekte Kleidung legt, ist als stramm rechter Spin-Doctor in Guatemala eine der radikalsten und lautesten Stimmen der CICIG-Kritiker. "Wenn das mein Sohn gewesen wäre, dann hätte ich Iván Velásquez noch am selben Tag aus dem Land geworfen." Für Méndez Ruiz sind die CICIG und vor allem Iván Velásquez nichts als feindliche ausländische Kräfte, die als Teil einer linken Verschwörung Guatemala polarisieren und wirtschaftlich in die Knie zwingen wollen. Das klingt wie Propaganda aus dem Kalten Krieg. Doch spätestens seit die CICIG auch gegen Präsident Jimmy Morales selbst Untersuchungen wegen illegaler Wahlkampffinanzierung aufgenommen hat, treffen die Forderungen von Méndez Ruiz auch in der Regierung auf offene Ohren. "Wenn der Kampf gegen die Korruption zu einer schweren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise führt, dann ist irgendetwas faul. Und was ist das? Es ist der ideologische Hintergrund. Das ist es. Guatemala ist heute in einer schlechteren Verfassung als noch vor drei Jahren." Es ist der exakt gleiche Diskurs, mit dem Präsident Jimmy Morales Ende September vor der UN-Vollversammlung erklärt, warum die CICIG Guatemala angeblich in die Krise geführt habe. Iván Velásquez kennt den Diskurs nur zu gut. Er hat ihn hunderte Male anhören müssen in Guatemala. "Wenn die Verteidigung keine Argumente mehr hat, dann versucht sie, unsere Arbeit zu delegitimieren, indem sie sagt, es handele sich um eine Verfolgung aus ideologischen Gründen. Und wenn diese Strategie nicht mehr funktioniert, dann sagen sie, dass die Wirtschaft des Landes beschädigt werde, dass die Verwaltung lahmgelegt sei und kein Beamter sich mehr trauen würde, auch nur einen Vertrag zu unterschreiben, weil es keine Rechtssicherheit gebe. Es geht um alles außer um die wirklichen Beweise, um so die Position der Staatsanwaltschaft oder der CICIG zu schwächen." Entscheidend: die Position der USA Flankiert wird der Kampf gegen die CICIG von neuen Gesetzen im Parlament, wo Korruptionsdelikte wie zum Beispiel die illegale Wahlkampffinanzierung einfach abgeschafft werden. Doch lange Zeit haben die CICIG-Kritiker ein Problem: Der größte Geldgeber der Kommission sind die USA, sie fördern den Anti-Korruptionskampf auch deshalb, weil sie sich davon einen Rückgang der Migrantenzahlen aus Zentralamerika versprechen. Jedes Jahr machen sich zehntausende Guatemalteken auf die Reise Richtung Norden. Auch in der großen Migranten-Karawane, die seit einigen Tagen an der Grenze zwischen den USA und Mexiko in Tijuana campiert, sind viele Guatemalteken vertreten, die vor der Hoffnungslosigkeit in ihrem Heimatland fliehen. Auch aus Guatemala ziehen seit Wochen Migranten in Richtung Norden - sie wollen in die USA (imago / Agencia EFE / Estaban Biba ) Die CICIG soll helfen, die Situation in Guatemala zu stabilisieren. So wollen es die USA, die einen starken Einfluss auf die guatemaltekische Politik haben. Gegen den Willen Washingtons lässt sich die CICIG also kaum schwächen. Deshalb bekommt die US-amerikanische Anwaltskanzlei und Lobbygruppe Barnes & Thornburg einen sensiblen Auftrag. Sie soll bei US-Politikern Zweifel am Erfolg der CICIG-Mission säen und den US-Botschafter diskreditieren, der eng an der Seite der Kommission steht. Auftraggeber der Schmähkampagne seien die guatemaltekische Regierung und wichtige Unternehmer des Landes gewesen, erzählt die guatemaltekische Journalistin Jody García, die den Fall recherchiert hat. "Das Ziel dieses ersten Lobbyversuchs war es, den US-Botschafter Todd Robinson abzusetzen und anschließend Iván Velásquez, und daneben sollten weitere führende Persönlichkeiten vor allem in der Justiz entfernt werden: die guatemaltekische Generalstaatsanwältin Thelma Aldana ebenso wie der Innenminister Francisco Rivas." Doch der Lobbyvertrag wird öffentlich, die guatemaltekische Regierung muss zurückrudern. Bald aber startet sie einen neuen, geheimen Versuch. Zwar gelingt es den Lobbyisten auch jetzt nicht, die US-Politiker davon zu überzeugen, CICIG-Chef Iván Velásquez aus dem Amt zu drängen. Doch ihre Kritik an der internationalen Kommission stößt bei manchen US-Politikern auf offene Ohren - und trägt dazu bei, dass einige Senatoren der Republikaner die Freigabe der US-Mittel für die CICIG über Monate blockieren. Die Bürger sind müde Die internationale Gemeinschaft, die die Arbeit der CICIG über die vergangenen elf Jahre mit insgesamt mehr als 160 Millionen US-Dollar finanziert hat, scheint angesichts der aggressiven Haltung der guatemaltekischen Regierung eingeschüchtert zu sein. Eine Interview-Anfrage an den deutschen Botschafter Harald Klein lehnt das Auswärtige Amt ab - offizielle Begründung: Zeitmangel. Die Bundesrepublik, teilt das Ministerium dann doch noch mit, habe die CICIG in den vergangenen Jahren mit insgesamt 5,4 Millionen Euro unterstützt. Zur aktuellen Diskussion um die CICIG will man sich allerdings nicht äußern. Einer der wenigen Diplomaten, der zu einem Gespräch bereit ist, ist Stefano Gatto. Der gebürtige Italiener arbeitet in Guatemala als Botschafter der Europäischen Union, einem der größten Geber der CICIG. Er kennt die Bitten zivilgesellschaftlicher Gruppen, sich stärker in die Debatte um die CICIG in Guatemala einzumischen. Doch die Frage, ob das Mandat der Kommission verlängert werden soll oder nicht, sei eben eine souveräne Entscheidung des Landes. "Die guatemaltekische Regierung hat die CICIG noch bis vor ein paar Jahren unterstützt, danach hat sie ihre Einschätzung geändert. Das ist ihre Einschätzung und es ist natürlich völlig legitim, dass sie die vornehmen." Bei dieser Art von Unterstützung, so Gatto, müsse man sich ganz nach den Wünschen des Landes richten. Doch für ihn ist der Kampf gegen die Korruption in Guatemala nicht zwangsläufig an das Fortbestehen der CICIG gebunden. "Wenn die Behörde aufhört zu existieren oder die Regierung entscheidet - so wie sie es getan hat - dass es keine weiteren Untersuchungen mehr geben soll, dann endet natürlich auch unsere Unterstützung. Was nicht endet, ist unsere Hilfe im Kampf gegen die Korruption und Straflosigkeit." Wenig Hoffnung für die Zukunft Schon jetzt würde die EU neue Unterstützungsprogramme für die guatemaltekische Staatsanwaltschaft planen, so Botschafter Gatto. Nur: Was wird aus Guatemalas Rechtsstaat und dem Kampf gegen die Korruption, wenn die CICIG, die mit UN-Mandat wirklich unabhängig agieren kann, im September kommenden Jahres ihre Segel streichen muss? Der guatemaltekische Menschenrechts-Ombudsmann Jordán Rodas hat wenig Hoffnung. "Es gibt ein sehr großes Risiko, dass Guatemala zu einem Drogen-Staat wird, regiert von einer Kleptokratie. Weil wir dann wieder ein Staat mit einer öffentlichen Verwaltung voller Korruption wären, und die Justiz nicht mehr unabhängig." Die Entscheidung des Präsidenten Jimmy Morales, das Mandat der CICIG nicht zu verlängern, hat zu Protesten geführt (picture alliance / Oliver De Ros) Am 20. Oktober 2018, dem Tag der Revolution in Guatemala, kommen nur wenige Menschen auf dem zentralen Platz der Hauptstadt zusammen, um für mehr politische Beteiligung der indigenen Bevölkerung zu demonstrieren. Ein Liedermacher auf der Bühne singt von einer Regierung, die besser kontrolliert werden müsse - er singt von einem Guatemala, das es bald so vielleicht nicht mehr geben wird. Denn die Bürger sind müde, die CICIG scheint am Ende, der politische Rollback ist in vollem Gange: Es sieht nicht gut aus für die progressiven Kräfte im Land. Doch im Juni kommenden Jahres sind Präsidentschaftswahlen - das gibt einigen Menschen Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eine Zukunft für die CICIG in Guatemala gibt und noch nicht alles verloren ist. Ombudsmann Jordán Rodas jedenfalls übt sich schon einmal in Zweckoptimismus. "Gerade sieht es so aus, als wenn die Korrupten die Oberhand gewinnen würden, aber langfristig glaube ich, dass die ehrliche Bevölkerung sich am Ende durchsetzen wird. Wenn nicht, wäre das wirklich sehr traurig für Guatemala."
Von Martin Reischke
Korruption und Straflosigkeit - diesen Missständen hat Guatemala den Kampf angesagt und entwickelte sich dabei zum Vorzeigeland. Mit Unterstützung der UN-Mission CICIG wanderten ranghohe korrupte Politiker und Unternehmer reihenweise in Haft. Doch der eigene Erfolg wird der CICIG nun zum Verhängnis.
"2018-11-29T18:40:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:08.875000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/guatemala-der-zaehe-kampf-gegen-die-korruption-100.html
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Wetzel: Wir wollen der Politik Dampf machen
Jürgen Zurheide: Das war der Blick eines Menschen von außen auf die Arbeitswelt in der Ausstellung "Arbeit, Sinn und Sorge" in Dresden. Ob das eine realistische Einschätzung ist, das wollen wir jetzt mal besprechen. Ich begrüße am Telefon Detlef Wetzel, den zweiten Vorsitzenden der IG Metall. Guten Morgen, Herr Wetzel!Detlef Wetzel: Ja, guten Morgen!Zurheide: Herr Wetzel, was wir da gerade gehört haben – ist das so eine typische Beschreibung dessen, was in der Arbeitswelt los ist? Auf der einen Seite wird es besser – zumindest bezogen auf die klassischen Krankheiten –, dafür nimmt der Druck, den wir alle spüren, zu?Wetzel: Ja, absolut. Um zu unterstützen und zu unterstreichen, was gesagt wurde: In unserer Umfrage haben 84 Prozent der Befragten gesagt, dass sie einen Arbeitsplatz möchten, der sie nicht krank macht. Und wenn man das spiegelt zu der Zahl, dass ein ganz großer Teil, fast 80 Prozent sagen, dass sie nicht bis 67 arbeiten können, dann sieht man, dass hier eine Arbeitswelt da ist, die krank macht und wo die Menschen sich große Sorgen machen.Zurheide: Sie haben 450.000 Menschen befragt, ich habe es gerade schon angedeutet, nicht unbedingt repräsentativ, obwohl wir es dann nachher ja noch überprüft haben, dann kommen in der Tat diese Dinge: Rente mit 67 wird überwiegend abgelehnt, man wünscht sich eine bessere Bezahlung, weniger Leiharbeit. Jetzt würde ich mal sagen: Dafür braucht man fast keine Befragung, das sind ja keine überaschenden Ergebnisse. Oder hat Sie da doch irgendetwas überrascht an diesen Ergebnissen?Wetzel: Es hat mich kein Einzelergebnis überrascht. Mich hat überrascht die Ergebnisse der handschriftlichen, offenen Fragen, die ja auch 180.000 Mal beantwortet sind, weil nämlich dort herausgekommen ist, dass die Politik noch nie so weit weg war von den Erwartungen der Menschen. Und deswegen kann man sozusagen die Gesamtgeschichte dieser Befragung zusammenfassen, wenn man an die Politik fordert: Macht endlich wieder Politik für die Mehrheit der Menschen!Zurheide: Was heißt das konkret? Das ist auch wieder ein abstrakter Begriff. Was verbinden die Menschen aus Ihrer Sicht damit?Wetzel: Die Menschen wollen Arbeit. Sie wollen aber nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern einen fairen Arbeitsplatz, und es ist klar, dass in dieser Situation die Sorge um den Arbeitsplatz außerordentlich hoch ist. Die Menschen wollen, dass ihre Kinder eine gute Zukunft haben. Angesichts der vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse – Leiharbeit, Befristung, Praktikum, was ja gerade die junge Generation betrifft – wird deutlich, dass hier, ja, die Menschen in Sorge sind, dass man eben mit einer solchen Entwicklung nicht zufrieden ist. Oder das ganz große Thema Gerechtigkeit: Die Menschen haben geantwortet in der Befragung, dass sie einfach eine gerechtere Gesellschaft möchten und machen es auch an Themen fest, nämlich an der Frage zum Beispiel, ob es Mindestlöhne gibt oder ob Leiharbeiter, die gleiche Arbeit machen, auch gleich bezahlt werden. Und so lassen sich viele Themen zwar nicht überraschend feststellen, aber man kann schon eine Geschichte feststellen, die sich daraus ergibt, was befragt worden ist, und diese Diskrepanz, dass man eben den Eindruck hat, dass keine Politik für einen selber gemacht wird, sondern für andere. Das ist schon ein sehr wichtiger oder eine wichtige Erkenntnis, weil das natürlich unserer Demokratie langfristig keinesfalls gut tun wird.Zurheide: Nun sagen die Arbeitgeber: Das alles ist nicht repräsentativ, und am Ende haben Sie die Antworten bekommen, die Sie da selbst bestellt haben. Trifft der Vorhalt?Wetzel: Das ist doch nicht richtig. Wir haben ja von Infratest dimap parallel eine Repräsentativbefragung machen lassen, und die Ergebnisse sind völlig identisch mit unserer Beschäftigtenbefragung und dieser Repräsentativbefragung. Aber für mich war zum Beispiel ein ganz wichtiger Punkt – und das hat mit dieser Befragung gar nichts zu tun – das, was die Menschen persönlich beschrieben haben und angekreuzt und ausgefüllt haben auf diesem Fragebogen, ihre persönlichen Statements, ihre kleinen Sorgen, ihre kleinen Nöte. Und wir haben ja gefragt: Was muss sich ändern in dieser Gesellschaft? Und wir haben gefragt: Was ist für dich ein gutes Leben? Und das war schon sehr beeindruckend, und deswegen trifft uns dieser Vorwurf von Gesamtmetall gar nicht. Es ist ihnen vielleicht nur peinlich, den Arbeitgebern, dass die Ergebnisse, die dort rausgekommen sind in der Befragung, so völlig im Widerspruch stehen zu dem, was Gesamtmetall sonst als Wirklichkeit beschreibt.Zurheide: Was folgt denn eigentlich für Sie als IG Metall daraus? Man könnte ja auch fragen: Warum müssen Sie so eine Umfrage machen, wissen Sie nicht, was Ihre Mitglieder wollen? Was folgt für Sie als IG Metall daraus?Wetzel: Wir starten jetzt mit einer ganz hohen Legitimation, mit einem ganz starken Votum unserer Befragten in die politische Debatte. Wir wollen ja diese Themen möglichst zum Thema im Bundestagswahlkampf machen und die politischen Parteien mit dieser Wirklichkeit konfrontieren, und deswegen haben wir diese Befragung gemacht. Wir sind jetzt Stimme für diejenigen, die sich an dieser Befragung beteiligt haben. Wir haben eine ganz hohe Legitimation, in Namen derer und der anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzutreten und der Politik entsprechend Dampf zu machen.Zurheide: Wo ist die politische Arena für Sie? Ist das der Betrieb oder ist es dann eher doch die gesamtgesellschaftliche Debatte? Eigentlich hatte man den Eindruck, dass die IG Metall in der jüngeren Vergangenheit eher sich mehr um die betriebliche Realität kümmert. Ist das jetzt wieder ein Wechsel oder gehört das zusammen?Wetzel: Nein, das ist kein Wechsel, das ist einfach ein Zusammenhang, und in einer Zeit, wo wir eine Bundestagswahl vor uns haben, ist es doch klar, dass wir nicht nur im Betrieb unsere Auseinandersetzungen, unsere Gestaltung wahrnehmen, sondern auch in der öffentlichen, politischen Arena. Wir wollen ja, dass die Parteien sich, ja, verändern und eine Politik für die Mehrheit der Menschen machen, und da müssen wir in der Bundestagswahlkampfszeit auch entsprechend gesamtgesellschaftlich auftreten.Zurheide: Das heißt aber, im Moment können Sie festhalten: Bei der Großen Koalition wird die Politik aus Ihrer Sicht nicht für die Mehrheit der Menschen gemacht?Wetzel: Das ist mit dieser Großen Koalition nicht der Fall, es ist aber auch bei anderen Parteien, die zurzeit nicht regieren, auch nicht besser.Zurheide: Was sind die wichtigsten Forderungen, mit denen Sie jetzt in die politische Arena dann steigen?Wetzel: Wir wollen, dass die Parteien das Thema junge Generation zu einem Thema machen, prekäre Beschäftigung, die Zukunftschancen der jungen Generation, und hier gehört insbesondere die Abschaffung und Veränderung der Bestimmung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz: Gleiche Arbeit soll gleich bezahlt werden. Das ist eine wesentliche Forderung. Wir wollen die Abschaffung der Rente mit 67, und wir wollen natürlich, dass die Bundesregierung alles tut, die Parteien alles tun, damit der Schutzschirm für Beschäftigung auch bei den Menschen ankommt, dass alles getan wird, dass keine Entlassungen in der Krise stattfinden. Das sind die wesentlichsten Punkte, die wir diskutieren.Zurheide: Das war Detlef Wetzel, der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch! Danke schön, Herr Wetzel!Wetzel: Ja.
Detlef Wetzel im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Der zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, hat die Parteien aufgefordert, "Politik für die Mehrheit der Menschen" zu machen. Eine Mitgliederumfrage habe ergeben, dass sich eine große Mehrheit eine "gerechtere Gesellschaft" wünsche.
"2009-07-11T00:00:00+02:00"
"2020-02-03T10:04:08.258000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wetzel-wir-wollen-der-politik-dampf-machen-100.html
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Eine Frage von Gesundheit und Haltung
Deutschlands Discounter informieren bei Fleischprodukten immer öfter über die Haltungsbedingungen der Tiere. (dpa/Marius Becker) Fleisch ist ein seit Jahrtausenden geschätztes Lebensmittel, viele Menschen können sich ein Essen ohne Fleisch kaum vorstellen. Landwirtschaft und Ernährungsbranche bemühen sich, mit Siegeln für tiergerechte Haltung von Schweinen, Rindern und Geflügel Bedenken zu zerstreuen. Wann ist Fleischessen gesund - und wie viel? Unter welchen Bedingungen kann ich es mit gutem Gewissen genießen? Und wie bereite ich es am besten zu? Über diese und andere Fragen rund um den Fleischkonsum diskutiert Georg Ehring mit Experten und Hörern. Live auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin Gäste: Laura Gross, Die Verbraucher Initiative e.V., Berlin; www.verbraucher.org Dr. Stefan Kabisch, Studienambulanz Deutsches Institut für Ernährungsforschung (CBF), Berlin; www.dife.de Kevin Kress, PhD Candidate Institut für Nutztierwissenschaften (460), Stuttgart; www.unihohenheim.de Hörerfragen sind wie immer willkommen.Die Nummer für das Hörertelefon: 00 800 – 44 64 44 64Und die E-Mail-Adresse: marktplatz@deutschlandfunk.de
Am Mikrofon: Georg Ehring
An der Frage des Fleischverzehrs entzünden sich die Gemüter. Zwar enthält es wertvolle Nährstoffe, doch ein zu hoher Konsum kann zu Erkrankungen führen. Ethisch fragwürdig ist, dass Tiere getötet werden und die Produktion Umwelt und Klima belastet. Unter welchen Bedingungen kann Fleisch mit gutem Gewissen verzehrt werden?
"2019-01-24T10:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:31:36.737000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fleischkonsum-eine-frage-von-gesundheit-und-haltung-100.html
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"Charlie Brown hat ein gutes Herz"
Szene aus dem ersten Spielfilm der Peanuts - "Ein Junge namens Charlie Brown" aus dem Jahre 1969. (imago / United Archives) Bernd Lechler: Micky Maus, Asterix, Batman, Tim und Struppi - Hefte, Alben, Graphic Novels: Die Comicwelt ist riesig und vielfältig, aber kein Comic war erfolgreicher als - mit ihren Strips aus oft nur vier Bildern zwischen Slapstick und Philosophie - die Peanuts. 18.000 Folgen erschienen zwischen 1950 und 2000, als ihr Schöpfer Charles M. Schulz starb. Man könnte sagen, es ist die längste Geschichte, die je ein Mensch erzählt hat. In den besten Zeiten druckten über 2600 Zeitungen in 75 Ländern die Peanuts, Charles Schulz verdiente eine Milliarde Dollar mit ihnen und kommt sogar als toter Umsatzbringer gleich hinter Elvis Presley und John Lennon. Nach dem speziellen Geheimnis der Peanuts haben wir den Autor und Übersetzer Joachim Kalka gefragt. Von ihm erscheinen heute bei Reklam 100 Seiten über die Peanuts. Hallo nach Leipzig, Herr Kalka. Joachim Kalka: Guten Tag. Lechler: Was Ihr Lieblingsstrip von den Peanuts oder einer, den Sie besonders lustig oder klug oder typisch finden? Kalka: Mein Lieblings-Vier-Bilder-Strip "Linus und Lucy" stehen unter einem großen Sternenhimmel und Linus sagt nachdenklich: 'Glaubst du Lucy, dass es da oben irgendwelche intelligenten Wesen gibt?' - 'Nein! Wenn es welche gäbe, dann hätten sie zweifellos versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen.' Und diese kleine Pointe unseres Narzissmus, die müssen doch mit mir Kontakt aufnehmen, ist die Quintessenz von Lucys Figur und eine der Grundstrukturen der Peanuts. Über den Umgang mit dem Scheitern Lechler: Die Lucy, die narzisstisch, aber auch aussichtslos in Schroeder verliebt ist, der wiederum diese Beethoven-Fixierung hat - dann gibt es Peppermint Patty, die sich hässlich findet und natürlich Charlie Brown, dem ohnehin von Sport bis zur Liebe alles schief geht: Die Peanuts sind groß im Scheitern. Warum ist das offenbar so ansprechend? Kalka: Es liegt natürlich eine inhärente Komik im Scheitern für den Betrachter. Man muss sich vergegenwärtigen, wie gerne wir zusehen, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutscht und auf den Hintern fällt - was auch sehr schmerzhaft sein kann - aber wir lachen. Aber die Peanuts sind insofern noch komplexer, als sie ständig Scheitern vorführen, aber eben auch die Techniken, mit denen man mit dem Scheitern umgeht. Nur Charlie Brown hat keine wirkliche, glückliche Obsession entwickelt wie die anderen, die es ihm ermöglichen würde, über das eigene Scheitern - zumindest zeitweise - hinwegzusehen. Wir haben noch länger mit Joachim Kalka gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Lechler: Aber er steckt es immer ziemlich stoisch weg. Kann man sagen, er gibt die Hoffnung nicht auf? Kalka: Ja, unbedingt. Er ist auch, und das ist das Bewundernswerte an dieser Zentralfigur, er ist auch davon nicht abzubringen, dass er - altmodisch gesprochen - ein gutes Herz hat. Das ist das vielleicht Eindrucksvollste an diesem Strip, dass die Zentralfigur immer und ewig bei allen Vorhaben scheitert und auch von den anderen immer gehänselt und gefoppt wird, aber den Glauben an das Menschliche nicht verliert und auch nicht davon ablässt, sich dem anderen gegenüber rücksichtsvoll und höflich zu verhalten. "Snoopy hat menschliche und hündische Eigenschaften" Lechler: Vielleicht ist es dieses gute Herz, dass sich die Peanuts eigentlich schon als erbaulich und liebenswert erst mal darstellen. Sie schreiben aber auch, es präge eine unbekümmerte kindliche Grausamkeit, diese Comicstrips. Kalka: Ja, das ist die Dialektik dieses Strips, dass es einerseits eben diese kindliche Welt ist, die wir alle mit so etwas nostalgischen Qualitäten in Erinnerung angereichert haben. Aber andererseits auch der mitleidslose Blick auf das Entzücken, das die Kinder empfinden, wenn sie jemand anderen kujonieren oder bloßstellen. Lechler: Würden Sie sagen, so ist ja die Kindheit? Kalka: Das ist ein realer Zug der Kindheit. Also mit etwas Glück ist das Mischungsverhältnis so, dass das nicht dominant ist, aber ich glaube schon, dass es viele Menschen gibt, die sich an die Kindheit vor allem als an einen Ort des Schreckens und des Terrors in der Peer-Group erinnern. Der deutscher Schriftsteller und Übersetzer Joachim Kalka. (Rainer Burkhardt) Lechler: Und dann gibt es Snoopy. Er kam später dazu, wurde aber dann zum berühmtesten Peanut fast. Was macht ihn so ausergewöhnlich? Kalka: Das ist die Schaffung einer Figur, die gleichzeitig alle Charakteristika des Menschlichen hat, aber andererseits eben das Hündische auch verkörpert, vor allem in seiner Obsession mit seinem Hundefutter, wenn Charlie Brown sich eine Minute verspätet, kickt Snoopy schon gegen die Haustür. Das ist eine sehr schöne Strategie, die dem Leser auch zumindest so halb unbewusst en passant klar macht, dass er hier natürlich in ein Zeichensystem verwickelt ist und nicht in eine reale Geschichte. "Im Fernsehen und Kino geht der Charme verloren" Lechler: Und diese Kulisse dieses suburbanen Minnesota war damals schon ein bisschen nostalgisch, oder ist es Schulz' eigene Kindheit? Kalka: Das ist kein realistisches Abbild seiner Kindheit, obwohl es überraschende Züge gibt, die er auch erwähnt hat. Er erzählt zum Beispiel, dass er als Kind sich selbst von seiner Physiognomie her für so unauffällig und durchschnittlich hielt, dass es ihn genuin erstaunt hat, wenn ihn jemand - wenn er mit seiner Mutter beim Einkaufen in der Innenstadt war - dort wieder erkannt hat. Und das ist der Ursprung dieses leeren Kreises von Charlie Browns ausdruckslosem Gesicht. Die anderen Kinder ziehen ihn ja gerne damit auf, dass er 'blah' sei, und eben keine charaktervolle Physiognomie habe. Lechler: Ich habe mal meinen Kindern die alte Fernsehserie gezeigt, aber die sind da nicht so richtig eingestiegen, das war ihnen, glaube ich, zu langsam oder wirkte für sie zu altmodisch. Sind die Peanuts heute eher was für Erwachsene? Kalka: Da muss ich natürlich sagen, dass - für meinen Begriff - der Fernsehversion und den Kinofilmen völlig der Charme des Strips abgeht. Das ist eine Parallelaktion, die sich oberflächlich gesehen derselben Materialien, Figurentechniken bedient, die aber in der Tat nur langweilig ist. Es fehlt die Knappheit, es fehlt auch das Pointierte des Strichs, es ist alles so ein bisschen langweilig und zerfasert. Also vielleicht sollte man bei Ihren Kindern noch mal die Probe mit dem Strip machen, mit einer Sammlung der Bildchen. Fernsehen und Film können hier von dem eigentlichen Zauber des Strips nichts mitteilen. Lechler: Sie haben auch, Herr Kalka, über Mensch und Mond geschrieben, und als Übersetzer haben Sie Bret Easton Ellis ins Deutsche übertragen. Das heißt, Sie befassen sich schon auch mit erheblich düstereren Welten als den Peanuts. Aber offenbar sind die Ihnen daneben nicht zu leichtgewichtig. Also das letzte Wort in Ihrem Buch lautet "Meisterwerk". Kalka: Ja. Ich bin etwa so alt wie dieser Strip, so zwei Jahre älter. Und ich habe ihn ziemlich früh entdeckt und ich habe lange Zeit, ohne jetzt groß in Reflexionsprozesse über diese Neigung einzutreten, mit dem Comic-Strip Peanuts gelebt. Und irgendwann hat mich das Thema zu faszinieren begonnen und ich habe mich gefragt, was passiert mit dieser ja so sehr sparsamen Theaterkulisse mit ihren wenigen Figuren. Wie gelingt es dem Autor, hier einen solchen Reichtum an Komik, aber auch an Situationen, bei denen einem das Lachen dann ein wenig im Halse stecken bleibt, zu entwerfen? Und mit diesen 100 Seiten, um die mich der Reclam Verlag jetzt gebeten hat, habe ich versucht, eine Antwort darauf zu geben, was denn den besonderen Reiz dieses Strips ausmacht. Lechler: Joachim Kalka, danke für das Corsogespräch. Kalka: Danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Joachim Kalka: "Peanuts"Reclam Verlag, Ditzingen 2017100 Seiten, 10 Euro
Joachim Kalka im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler
18.000 Folgen, hunderte Millionen Leser: Die Peanuts sind der erfolgreichste Comic der Welt. Der Autor Joachim Kalka hat die Strips von Charles M. Schulz untersucht und sieht in Snoopy & Co charmant-neurotische Meister des Scheiterns. "Charlie Brown verliert nie den Glauben an das Menschliche", sagte er im Dlf.
"2017-09-28T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:20.406000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/comicserie-die-peanuts-charlie-brown-hat-ein-gutes-herz-100.html
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Nach dem Referendum könnte vor dem Referendum sein
Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon. (picture alliance / dpa / Robert Perry) Der Moderator der Diskussionsveranstaltung begrüßt das Publikum und Nicola Sturgeon, Schottlands Erste Ministerin. Am Wochenende hat sie an einer Kundgebung auf dem Trafalgar Square gegen die Erneuerung der britischen Atom-U-Boot-Flotte teilgenommen. Jetzt hier in der ehemaligen Kirche St. John's in Westminster in London findet sie sich argumentativ auf der Seite David Camerons wieder. "Wenn es Leute in England gibt, die sich für meine Ansichten zur EU interessieren, dann freut mich das. Aber ich unterstütze nicht David Cameron. Meine Argumente pro EU gelten ja nicht nur für Schottland, sondern für das gesamte vereinigte Königreich." Neues Referendum zur schottischen Unabhängigkeit? Die Rede ist nach einer halben Stunde zu ende. Fragen werden zugelassen. Die erste dreht sich gleich um ein mögliches neues Referendum zur schottischen Unabhängigkeit, falls die Briten mehrheitlich für den Brexit stimmen. "First Minister, sie sprachen von einer reellen Chance und der lauter werdenden Forderung für ein zweites Referendum. Aber was wollen Sie? Sollte es dann ein zweites Referendum geben?" "Ich meine, das Vereinigte Königreich sollte nicht dafür stimmen, die EU zu verlassen," lautet die ausweichende Antwort von Nicola Sturgeon. "Wir reden über ein Szenario, gegen das ich mich einsetze. Ich will, dass Schottland unabhängig wird. Aber ich würde andere Umstände dafür vorziehen, wie Schottland unabhängig wird. Also ich hoffe, es kommt nicht zum Brexit." In Schottland bereitet man sich zurzeit auf stürmische Ostern vor, sowohl meteorologisch als auch politisch. Die Attacken aus England gegen die EU verärgern viele Schotten. Sie wollen nicht gegen ihren Willen zum Austritt aus der EU genötigt werden. Aber wäre das Szenario eines Brexit wirklich der richtige Zeitpunkt, wieder zur Unabhängigkeit zu blasen? Einen Werbespot der britischen EU-Gegner: am 23. Juni. "Wenn das Brexit-Referendum stattfindet, feiern wir unseren Unabhängigkeitstag." Ganz so einfach dürfte es für die Schotten nicht werden. Der Ölpreis ist dramatisch gefallen. Ein unabhängiges Schottland, das nicht von England gestützt würde, wäre zur Zeit ökonomisch kaum lebensfähig. "Wenn Schottland am 23. Juni für 'In', also einen Verbleib in der EU stimmt, was fast sicher ist," meint Alex Salmond, Sturgeons Vorgänger an der Spitze der SNP. "Und das Vereinigte Königreich stimmt für 'out' – dann will uns England aus der EU ziehen gegen unseren Willen. Das würde ein zweites Referendum fast unvermeidlich, es käme sehr schnell und diesmal wäre die Antwort der Schotten 'Ja'." Salmonds Plädoyer klingt deutlicher als das Sturgeons. Auf englischer Seite wird die Möglichkeit einer schottischen Abspaltung bei einem Brexit erstaunlich wenig zur Kenntnis diskutiert. Aus Geringschätzung? Vielleicht, weil die Engländer nicht daran glauben. Wenige Befürworter in der SNP Es gibt sogar in der SNP-Stimmen, die einen Brexit befürworten. Jim Sillars, ein ehemaliger stellvertretender Parteichef, argumentiert, auf sich alleine gestellt, würde Schottland schlechte Konditionen von der EU bekommen. Und noch ein Kalkül steht im Raum: dass einige von der SNP nämlich am 23. Juni aus taktischen Gründen für den Brexit stimmen, obwohl sie dagegen sind. Denn dann bekämen sie ja ihr zweites Referendum. Es wird viel um die Ecke gedacht bei diesen Winkelzügen - wahrscheinlich also meint es Nicola Sturgeon ernst, wenn sie erklärt, am liebsten sei es ihr doch, Engländer wie Schotten votieren gemeinsam dafür, in der EU zu bleiben. Die Unabhängigkeit wird erst einmal aufgeschoben. "Ich hoffe, es kommt nicht zum Brexit-Szenario. Ich setze mich dann in den Jahren danach für eine Unabhängigkeit ein, innerhalb der EU und mithilfe ihrer Chancen."
Von Friedbert Meurer
Im Juni findet in Großbritannien das Brexit-Referendum statt. Viele Schotten sind allerdings über die derzeitigen Attacken gegen die EU aus England verärgert. Sie wollen nicht genötigt werden, aus der Union auszutreten - und erwägen in einem solchen Fall ein eigenes Referendum über Schottlands Unabhängigkeit.
"2016-03-11T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:18:11.054000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schottland-und-der-brexit-nach-dem-referendum-koennte-vor-100.html
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Masernimpfung hat positive Nebeneffekte
Der Masernimpfstoff ist sogar noch besser, als bisher gedacht. (picture alliance / dpa / Lukas Schulze) Es gibt kaum eine effektivere und kostengünstigere Möglichkeit, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern, als die Masernimpfung. Sie leistet weit mehr, als nur Masern zu verhindern, betont der Evolutionsbiologe Michael Mina von der US-amerikanischen Princeton Universität. "Immer, wenn die Masernimpfung in einem Land eingeführt wurde, dann sank die Kindersterblichkeit erheblich, und zwar nicht nur die Sterblichkeit durch Masern, sondern auch durch andere Infektionen. Das war tatsächlich ein Rätsel." Der Impfstoff scheint das Immunsystem für wenige Monate ganz generell zu stärken, ein positiver Effekt, der besonders in Entwicklungsländern wichtig ist. Der positive Einfluss der Impfung hält allerdings über mehrere Jahre an. Und das, so nimmt Michael Mina an, hängt weniger mit dem Impfstoff, als mit dem Masernvirus zusammen. Positiver Nebeneffekt der Masernimpfung: Immunsystem wird gestärkt Das ist offenbar gefährlicher als allgemein angenommen. Es löst nicht nur akut eine Krankheit aus, sondern schwächt das Immunsystem zusätzlich für lange Zeit und öffnet so anderen Erregern die Tür. Michael Mina spricht von einem Schatten der Masern. Um ihn sichtbar zu machen, hat er sich die Daten zu Masernepidemien und zu den Todesfällen aufgrund anderer Infektionskrankheiten in den USA, in England und Dänemark aus den vergangenen Jahrzehnten angesehen. "Wir haben das statistisch analysiert, und wenn wir annehmen, dass der negative Effekt 28 Monate anhält, dann gibt es einen ganz engen Zusammenhang zwischen der Zahl der Masernfälle und den Todesraten aufgrund anderer Infektionen in den folgenden zwei, drei Jahren. Man kann sogar nur aufgrund der Maserndaten die generelle Sterblichkeit durch Infektionen vorhersagen. Die Masern sorgen dafür, dass ein Kind die nächsten zwei oder drei Jahre auch durch andere Erreger besonders gefährdet ist." Masern sind keine gutartige Krankheit Ein Partikel des Masernvirus mit einer Zelle unter dem Transmissionselektronenmikroskop. (Aufnahme der CDC) (dpa/picture alliance) Als dann die Masernimpfung eingeführt wurde, verschwand nicht nur weitgehend das Masernvirus, sondern zusätzlich wurden auch andere Infektionskrankheiten weniger gefährlich. Eine ähnliche Analyse zum Keuchhusten ergab dagegen keinerlei Effekt. Das Masernvirus ist also ganz besonders problematisch für die Menschen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass dieses Virus speziell auch die Gedächtniszellen des Immunsystems angreift, es löscht sozusagen das immunologische Wissen des Körpers. "Nach einer Weile gibt es wieder genug Abwehrzellen im Blut, aber die richten sich fast nur noch gegen die Masern. Das ist einerseits gut, das Kind wird nie wieder Masern bekommen. Auf der anderen Seite kann es sich jetzt schlechter gegen eine Vielzahl anderer Erreger verteidigen." Deshalb ist das Masernvirus so gefährlich und deshalb ist die Masernimpfung so wirkungsvoll und so wichtig. "Die Masern sind keine gutartige Krankheit, und die Menschen sollten bei der Impfung nicht nachlässig sein. Die Masern beeinflussen die Immunabwehr für lange Zeit sehr negativ, und das führt zu einer erhöhten Sterblichkeit. Ich hoffe, dass die Leute verstehen, dass der Masernimpfstoff sogar noch besser ist, als bisher gedacht. Er hilft die Krankheitszahlen und die Kindersterblichkeit zu senken." Das gilt auch in Industrienationen wie den USA oder Deutschland, betont Michal Mina: Wenn ein Kind im Schatten einer Maserninfektion etwa eine bakterielle Lungenentzündung entwickelt, dann müsste es in einem gut ausgestatteten Gesundheitssystem wie in den USA oder Deutschland vielleicht nicht sterben, aber es würde sicher zwei oder drei Wochen schwerstkrank in der Klinik liegen.
Von Volkart Wildermuth
Die Masernimpfung ist einer der ganz großen Erfolge der Medizin - allen Behauptungen von Impfskeptikern zum Trotz. Das liegt unter anderem daran, dass diese Impfung nicht nur vor dem Masernvirus schützt, sondern indirekt auch vor anderen Krankheiten. Warum das so ist, beschreibt jetzt eine neue Studie in der Zeitschrift Science.
"2015-05-08T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:35:51.219000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-forscher-masernimpfung-hat-positive-nebeneffekte-100.html
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"In der freien Wirtschaft ein Kündigungsgrund"
Petra Hinz, hier 2013 im Bundestag (dpa) Die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz hat ihr Mandat niedergelegt. Das teilte die von ihr beauftragte Rechtsanwaltskanzlei mit. Zuvor hatte sie eingeräumt, wesentliche Teile ihres Lebenslaufs erfunden zu haben. "1984 Abitur, 1985 bis 1995 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, Abschluss erstes und zweites Staatsexamen." So stand es bis heute Vormittag in der Biografie der langjährigen SPD-Abgeordneten auf der Website des Deutschen Bundestags geschrieben - auch noch Stunden, nachdem die SPD-Politikerin bereits eingeräumt hatte, wesentliche Teile ihres Lebenslaufes erfunden zu haben. Sie habe die allgemeine Hochschulreife nicht erworben, kein Studium der Rechtswissenschaften absolviert und auch keine Juristischen Staatsexamina abgelegt, erklärte ihr Anwalt in der Nacht zu Mittwoch. Die Zeitungen "WAZ" und "NRZ" hatten die Angaben der Parlamentarierin zuvor hinterfragt. "In der Rückschau vermag Frau Hinz nicht zu erkennen, welche Gründe sie seinerzeit veranlasst haben, mit der falschen Angabe über ihren Schulabschluss den Grundstein zu legen für weitere unzutreffende Behauptungen über ihre juristische Ausbildung und Tätigkeit", heißt es in Hinz' Erklärung weiter, "zumindest einen Teil ihrer biografischen Falschangaben zu heilen", sei in späteren Jahren gescheitert. Zwischen Hass und Häme Der Online-Auftritt von Hinz ist noch aktiv, ihre Profile bei Facebook und Twitter sind es inzwischen nicht mehr. Dort ergießt sich seit Bekanntwerden der Nachricht Hass und Häme über die 54-Jährige. Viele fordern ein Berufsverbot und schließen von dem Fall auf die gesamte politische Klasse an sich. Und deren Vertreter? Christopher Lauer, Abgeordneter der Piraten im Berliner Landtag, nimmt es mit Humor: Von "unglaublicher" und "dreister Hochstapelei" dagegen spricht Hinz' CSU-Parlamentskollege Volker Ulrich bei Twitter. "Unter 'Schönen' lassen wir gar nichts durchgehen" Auch Personalberater Volker Markmann zeigt sich überrascht: In seinen 25 Jahren bei "Kienbaum Consultants International" sei ihm nur einmal ein vergleichbarer Fall begegnet, erinnert er sich sich im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: Ein Bewerber, der über seine Zeit bei einem Automobilkonzern in den USA gelogen und entsprechende Zeugnisse gefälscht habe. Damals habe er "das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmt" und daraufhin recherchiert, so Markmann, der inzwischen Partner und Mitglied der Geschäftsleitung in der international tätigen Personalberatungsfirma ist. Wenn im Fall von Petra Hinz in der Berichterstattung nun von einem "Schönen" des Lebenslaufs die Rede ist, will der Headhunter das nicht akzeptieren. Es sei nicht mehr und nicht weniger als ein Betrug gegenüber dem Arbeitgeber. In der freien Wirtschaft wäre "das ein Grund für eine absolute Kündigung", betont Markmann. "Unter 'Schönen' lassen wir gar nichts durchgehen, Lebensläufe müssen absolut korrekt sein."
Von Michael Borgers
Kein Abitur, keine Juristischen Staatsexamina: Die SPD-Politikerin Petra Hinz räumt Falschangaben in ihrem Lebenslauf ein. In den sogenannten Sozialen Medien erntet sie dafür Spott - und in der Welt der Personalexperten ungläubiges Kopfschütteln. Inzwischen hat sie ihr Bundestagsmandat niedergelegt.
"2016-07-20T11:21:00+02:00"
"2020-01-29T18:42:11.462000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-fall-petra-hinz-in-der-freien-wirtschaft-ein-100.html
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Belastung bis hin zur Depression
Pflegende Angehörige kommen oft selbst zu kurz und werden krank. (picture alliance / dpa / Foto: Daniel Naupold) Rund 50 Prozent aller pflegenden Angehörigen leiden unter psychischen Belastungen. Das ist ein Ergebnis des Pflegereports der Krankenkasse DAK. Herbert Rebscher, Vorstandschef der Krankenkasse DAK-Gesundheit, nennt Beispiele: "Das äußert sich in Schlafstörungen, Unruhezustände bis aber auch hin zu depressiven Episoden und müssen eben in dieser unterschiedlichen Intensität auch behandelt werden." Neben den psychischen kämen auch körperliche Belastungen, wie zum Beispiel Rückenbeschwerden. Die Situation der Angehörigen steht im Fokus des ersten Pflegereports der DAK-Gesundheit. Dafür wurden die anonymisierten Daten von rund 500.000 Versicherten ausgewertet. Außerdem wurde die Situation von 12.000 pflegenden Angehörigen untersucht und mit den Daten einer nicht-pflegenden Gruppe verglichen. Laut der Studie leiden 20 Prozent aller pflegenden Angehörigen unter einer Depression. Rückzug der sozialen Kontakte von den Pflegenden Wer seine Verwandten pflege, bleibe oft alleine, weil sich Freunde, aber auch Angehörige, zurückziehen, sagt Studien-Mitautor Thomas Klie. Der Pflegewissenschaftler der Uni Klagenfurt wünscht sich mehr Bewusstsein für dieses Problem: "Auch darauf hinzuweise, Hallo, pflegende Angehörige lässt man nicht allein. Auch wir in der Familie nicht, wir in der Nachbarschaft nicht, auch im Freundeskreis nicht. Also, sich zurückzuziehen ist wenn man so will die Aufkündigung der Solidarität." Zahl der pflegenden Männer steigt Nicht die Bereitschaft dafür, für Angehörige zu sorgen, nehme ab, sagt Klie. Wohl aber die Bereitschaft, sich über mehrere Jahre ausschließlich um die Pflege zu kümmern. Der DAK-Pflegereport bestätige zudem eine Erkenntnis über pflegende Angehörige, die in Teilen bereits bekannt sei, so Klie. "Dass Frauen stärker beteiligt sind. Das ist richtig. Wobei die Zahl der pflegenden Männer steigt." Doch die Zahlen der Krankenkasse sind deutlich: Rund 90 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Frauen. Ein Drittel von ihnen arbeitet, davon aber lediglich ein Fünftel in Vollzeit. Ähnlich wie bei der Erziehung von Kindern müssten auch bei der Pflege von Angehörigen die Aufgaben neu verteilt werden. Doch die Frage sei, ob diese Diskussion auch gelinge, sagt Pflegewissenschaftler Klie: Die Krankenkasse DAK-Gesundheit weist auf bestehende externe Hilfsangebote hin. Doch seien diese insgesamt zu wenig bekannt bzw. würden verhältnismäßig selten genutzt. Das bestätigt auch Brigitte Bührlen, Vorsitzende von WIR! Stiftung Pflegender Angehöriger. "Ich kann mich nicht ein Leben lang damit befassen, was ist, wenn jemand pflegebedürftig wird in meiner Familie. Denn die Rahmenbedingungen sind ja immer unterschiedlich. Eventuell habe ich kleine Kinder zu dem Zeitpunkt oder ich bin berufstätig. Das kann ich zu dem Zeitpunkt alles nicht wissen. Ich weiß ja auch nicht, wann der Pflegefall eintritt." Gleichzeitig fordert Bührlen aber auch passgenauere Angebote für pflegende Angehörige. Wer einem Beruf nachgehe, sei zum Beispiel auf Tagespflegeeinrichtungen angewiesen.
Von Johannes Kulms
Familienmitglieder zu pflegen, belastet immer mehr auch die Angehörigen gesundheitlich. Neben körperlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen treten vermehrt auch Schlafstörungen, Unruhezustände und Depressionen auf. Die Gründe liegen oft im sozialen Umfeld, das wegbricht.
"2015-09-24T18:24:00+02:00"
"2020-01-30T13:01:20.818000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angehoerigenpflege-belastung-bis-hin-zur-depression-100.html
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Verfasser des Trump-Dossiers offenbar abgetaucht
Steele will aus Geheimdienstkreisen erfahren haben, dass es ein Trump belastendes Sex-Video gebe. (picture alliance / dpa / Caitlin Ochs) Er ist alles andere als eine verkrachte Existenz aus dem Dunstkreis der Schlapphüte. Christopher Steele war Chef des Russland-Desk im britischen Auslandsgeheimdienst MI6, der schräg gegenüber von Westminster auf der anderen Themse-Seite sein Hauptquartier hat. Seit gestern Abend ist Steele abgetaucht beziehungsweise in Sicherheit gebracht worden. Der zur Zeit berühmteste ehemalige britische Geheimagent fürchtet um seine Sicherheit und hat Angst vor Repressalien aus Moskau. Sein Firmenpartner Christopher Burrow wollte wohl auch deswegen heute nichts sagen. "Im Lichte dessen, was in den letzten 24 Stunden passiert ist, halten wir es für angebracht, keinen Kommentar im Moment abzugeben. Über das was geschehen ist und ob unsere Firma Orbis involviert ist oder nicht. Wir werden die Lage in den nächsten Tagen fortwährend überprüfen." Steele soll mit Litwinenko zusammgearbeitet haben Christopher Steele, 53 Jahre alt, ist Direktor einer Sicherheitsfirma mit Sitz in London und erhielt letztes Jahr den Auftrag, ein Dossier über den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump anzulegen. Die Auftraggeber waren Rivalen unter den US-Republikanern, später dann wohl die Demokraten. Steele verfügt über sehr gute Kontakte zum russischen Geheimdienst FSB. Er habe in Moskau aus Geheimdienstkreisen erfahren, dass es ein Trump belastendes Sex-Video gäbe, aber auch Material über seine geschäftlichen Verbindungen. Geheimdienst-Kenner in Großbritannien gehen allerdings davon aus, dass Steele von diesem Material nur gehört, es aber nicht selbst gesehen hat. Dass Steele jetzt auf der Flucht ist, hat seine Gründe. Er soll mit dem russischen Geheimdienstmann Alexander Litwinenko zusammengearbeitet haben, der – nach Überzeugung eines britischen Gerichts – auf Geheiß des Kremls mit Polonium vergiftet und ermordet wurde. Steele sei ein Top-Mann in seiner Branche. So habe er für das FBI in Russland Material über die Korruption innerhalb der FIFA und gegen Sepp Blatter recherchiert. Steel übergab Dossier ans FBI Steele scheint die Brisanz seiner Informationen sofort klar geworden zu sein. Denn entgegen dem Rat seiner Firma übergab er das Dossier über Donald Trump der amerikanischen Polizeibehörde FBI. Offenbar wussten eine ganze Reihe von Leuten schon vor der Präsidentschaftswahl am 8. November, dass es dieses Dossier gibt. Auch die BBC will es gekannt haben. Da die Behauptungen darin aber nicht belegt seien, habe man darauf verzichtet, sie zu veröffentlichen. Noch ein zweiter Brite soll in die Affäre verwickelt sein. Mehreren Zeitungsberichten zufolge hatte ein früherer Botschafter Großbritanniens in Moskau das Dossier an US-Senator John McCain gegeben, der es ebenfalls dem FBI weiterleitete. Wer der Botschafter gewesen sein soll, ist allerdings nicht bekannt. Christopher Steele selbst hat sich jedenfalls dafür entschieden, alle Interviews abzulehnen und sich an einem unbekannten Ort versteckt zu halten. Sein Nachbar berichtet, Steele habe ihn noch gebeten, sich für die Zeit seiner Abwesenheit um seine drei Katzen zu kümmern.
Von Friedbert Meurer
Die Affäre um das Trump-Dossier liest sich immer mehr wie ein Agenten-Thriller: Der Verfasser des Dokuments, das nicht verifizierte, kompromittierende Informationen über Donald Trump enthält, ist ein britischer Ex-Geheimagent. Er soll das Dossier dem FBI übergeben haben - und ist nun untergetaucht.
"2017-01-12T18:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:28:11.974000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-verfasser-des-trump-dossiers-offenbar-100.html
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Die Kanzlerin und das Flüchtlingskind
Bundeskanzlerin Merkel im Gespräch mit Schülern in der Paul-Friedrich-Scheel-Schule in Rostock (dpa / picture alliance / Bernd Wüstneck) So viel ist schon einmal klar. Daran werden sich die Geister scheiden. Politische Spin-Offiziere werden überlegen, was sie mit diesem Ereignis für oder gegen die CDU-Chefin anstellen können. Vielleicht schaffen es die Bilder noch in den nächsten Wahlkampf. Eigentlich ein Routine-TerminDie Bundeskanzlerin war gestern Abend in Rostock. Sie wollte im Rahmen des neuen Bürgerdialogs der Regierung mit Schülern sprechen. Die Kampagne heißt "Gut leben in Deutschland" und dazu gehörte auch schon das jüngste Interview des Youtubers LeFloid mit Merkel. Ein Routinetermin, könnte man meinen. Dann passierte aber etwas Unerwartetes. Eine der Schülerinnen der Rostocker Paul-Friedrich-Scheel-Schule ergriff das Wort. Das Mädchen palästinensischer Abstammung berichtete von der Belastung durch das Asylverfahren. Ihre Familie sei schon einmal beinahe in den Libanon abgeschoben worden und habe nur eine prekäre, vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung. Politik trifft Einzelschicksal Die Kanzlerin versucht, die Flüchtlingspolitik der Regierung zu erklären. Man können nicht alle Menschen aufnehmen. Sie könne auch nicht versprechen, dass niemand mehr abgeschoben werde. Auch weil Deutschland Kapazitäten brauche für Menschen, die aus Ländern kämen, in denen gekämpft werde, die noch keine Zuflucht hätten. Der Libanon gelte aber derzeit nicht als Kriegs- oder Bürgerkriegsland. Das Mädchen gibt sich nicht geschlagen, antwortet der Kanzlerin. Auch sie wolle ein glückliches Leben, sie wolle studieren, so wie die Mitschüler. Ihr schießen die Tränen in die Augen. Die Kanzlerin geht auf das Kind zu, versucht zu trösten. Angela Merkel sagt dem Mädchen, sie sei ein unheimlich sympathischer Mensch und sie habe das prima gemacht, ihre Argumente gut gebracht. Die Kanzlerin streichelt Und die Kanzlerin streichelt das Kind. Durch das Netz geht nun der Hashtag #merkelstreichelt. Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt ist eine der Kritikerinnen bei Twitter. Es gibt auch Spott, wie diesen Tweet der Redaktion von "quer" vom Bayerischen Rundfunk. Ein anderer Twitter-Nutzer versucht einen witzigen Querpass zur Europapolitik. Der Journalist Richard Gutjahr wirft der Bundesregierung vor, sie habe die entsprechende Passage in dem offiziellen Text zu dem Auftritt der Kanzlerin in Rostock verändert und damit manipuliert. Machen Sie sich ein Bild anhand des ungeschnittenen VideosWir finden, das Beste ist, Sie schauen sich das Video selbst an und kommen zu Ihrem eigenen Urteil. Wir haben das Video hier in der ungeschnittenen Rohversion des NDR verlinkt. Denn auch über verschiedene gekürzte Versionen hat es bereits Diskussionen gegeben. Die ungeschnittene Version der Bundesregierung finden Sie hier.
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"Die Bundeskanzlerin bringt ein Flüchtlingskind zum Weinen." Diese Schlagzeile zieht gerade durch die Medien. Es gibt aber auch die Schlagzeile "Angela Merkel streichelt Mädchen." Was ist wirklich passiert?
"2015-07-16T15:12:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:14.477000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kontroverse-um-angela-merkel-die-kanzlerin-und-das-100.html
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Eine Politik mit Risiken und unklaren Konsequenzen
US-Präsident Donald Trump und der chinesische Präsident Xi Jinping. Auf US-Strafzölle wird China wohl reagieren. (dpa / TASS / Artyom Ivanov ) "I think the businesses will be very happy and be able to compete all over the world. Finally the plan is going to bring trillions of dollars back into the United States, money that is offshore." Glückliche, wettbewerbsfähige Unternehmen, die Rückführung von Milliarden Dollar, die im Ausland geparkt waren! Das seien nur zwei Effekte seiner Steuerreform, versprach der amerikanische Präsident Donald Trump den Bürgern seines Landes kurz vor Weihnachten. Ist diese Reform wirklich so grandios? Wirtschaftsvertreter äußern sich tatsächlich positiv zu dieser grundlegenden Reform, so etwa Bernhard Mattes, Präsident der AmCham, der amerikanischen Handelskammer in Deutschland. "Die Steuerbelastung der Unternehmen in den USA war im Wettbewerbsvergleich mit anderen großen Märkten zu hoch. Neben den Steuern des Bundes kam ja auch noch dann die der Bundesstaaten dazu. Und das war, was die Körperschaftsteuer angeht, im oberen Bereich, und insofern war das sehr sinnvoll und wird ein guter Stimulus für die US-Wirtschaft sein." Bewunderung fürs Runterknüppeln der Körperschaftssteuer Auch Kurt Bock, Chef des Ludwigshafener Chemiekonzerns BASF, ist voll des Lobes: "Erst mal ist das schon bemerkenswert, was da passiert. Den Steuersatz von 35 auf 21 Prozent runter zu knüppeln, ist schon aggressiv. Ich will jetzt gar nicht darüber spekulieren, wie die das finanzieren, aber aus Sicht der Wirtschaft ist das erst mal sehr, sehr positiv, und das ist auch von meinen US-Kollegen natürlich, auch von den Wettbewerbern, außerordentlich positiv aufgenommen worden." Der deutlich niedrigere Körperschaftssteuersatz auf Unternehmensgewinne ist das Herzstück der Reform. Nicht nur das: Das Steuersystem wird grundlegend geändert, erklärt Markus Meinzer, Vorstandsmitglied von Tax Justice Network, dem Netzwerk Steuergerechtigkeit: Auch beim Ludwigshafener Chemiekonzern BASF wird die US-Steuerreform sehr positiv aufgenommen. (dpa / BASF SE / Hans-Juergen Doelger) "Was wir tatsächlich an Positivem dort sehen können, ist, dass es eine Abkehr gibt der bisherigen Besteuerungsprinzipien, nämlich dass große Konzerne nur als die Summe ihrer Einzelteile zu behandeln sind, also als wären sie tausende Gesellschaften, die miteinander Handel betreiben wie jede andere kleine Gesellschaft auch. Hier geht die US-Steuerreform einen anderen Weg und behandelt zum ersten Mal Konzerne mehr wie eine Einheit und verhindert, dass hier einfach nur der Anschein auch rechtlich gewürdigt wird, dass die Unternehmen sich gegenseitig Scheinrechnungen stellen, um Gewinne zu schmälern." Hoffnung Liquiditätsspielraum realisiert sich selten Und deshalb können heimische Unternehmen vorübergehend ihre im Ausland geparkten Gewinne zu vergünstigten Steuersätzen in die USA holen. Das hat der Elektronik-Konzern Apple schon angekündigt. Er nutzt dieses Zeitfenster, zu dem die Auslandsgewinne statt mit 41 Prozent nun zu einem reduzierten Satz zwischen acht und 15,5 Prozent besteuert werden. Die Absicht: Die amerikanischen Digitalkonzerne sollen ihre Gewinne nicht mehr im Ausland versteuern, also auch nicht die, die sie etwa innerhalb der EU erwirtschaften sondern in den USA. Diese Gelder aber möchte die EU-Kommission für die europäischen Staatskassen reklamieren. Apple will Auslandsgewinne statt mit 41 Prozent nur noch zwischen acht und 15,5 Prozent in den USA besteuern lassen - die EU hätte das Nachsehen. (imago / photothek) Ob das Zurückholen der Gewinne aus dem Ausland jedoch auch zu höheren Investitionen führt, daran hat Henning Vöpel, Direktor des HWWI, des Hamburgischen Weltwirtschafts-Instituts, Zweifel: "Dass tatsächlich jetzt durch die Steuererleichterung erst einmal die Liquiditätsspielräume der Unternehmen steigen, und die Idee, das hat Trump ja immer wieder gesagt, ist so eine Art Trickle-down-Effekt. Also die Unternehmen kriegen mehr Spielräume, und am Ende profitieren eben auch die Arbeitnehmer davon, indem die Unternehmen gewissermaßen die neuen Spielräume weitergeben in Form höherer Löhne. Das ist eine Hoffnung, die sich in allerseltensten Fällen tatsächlich realisiert hat." Deutsche Firmen profitieren von Investitionsabschreibungen Eine weitere Neuerung: Die Unternehmen können in den nächsten fünf Jahren ihre Investitionen in den USA in ihren Bilanzen sofort zu 100 Prozent abschreiben. Das freut auch deutsche Konzerne, die in den USA investiert haben. Sie können Sondererträge einstreichen, auch wenn zunächst kein Geld in die Kassen fließt. Daimler verbuchte deshalb 1,7 Milliarden Euro mehr. Volkswagen und BMW eine Milliarde Euro; über ein Plus von 400 Millionen Euro freute sich BASF, mit 200 Millionen Euro profitiert der Softwarehersteller SAP. Die US-Steuerreform kostet die Deutsche Bank 1,5 Milliarden Euro. Hohe Verluste in den USA konnte sie bislang steuerlich geltend machen - das geht jetzt nicht mehr. (imago / Richard Levine) Nicht so die Deutsche Bank: Sie gehört erst einmal zu den Verlierern der Steuerreform. Der Grund: Sie hat in den USA in der Vergangenheit hohe Verluste angehäuft. Bisher konnte sie die steuerlich geltend machen, das geht jetzt nicht mehr. Im Ergebnis kostete die Steuerreform die Deutsche Bank 1,5 Milliarden Euro und ließ sie dadurch 2017 wieder in die roten Zahlen rutschen. Dennoch findet ihr Chef John Cryan für die Reform lobende Worte: "Ich halte das alles für sehr positiv. Sie haben Recht, dass uns das im vierten Quartal getroffen hat. Aber bei Anpassungen der Bilanzierung folgt der Nutzen erst wirklich aus den niedrigeren Steuersätzen in der Zukunft." Anteilsrückkäufe statt Investitionen Auch ausländische Unternehmen profitieren also früher oder später von dieser Steuerreform. Doch sollten die Firmen die Gewinne aus der Steuerreform nicht unbedingt in neue Investitionen stecken, was geschieht dann mit dem Kapital? Sie investieren sozusagen in sich selbst, erklärt Henning Vöpel vom HWWI. "Tatsächlich sehen wir, dass einige Unternehmen die steuerlichen Gewinne, die sie jetzt überraschend eingenommen haben, zum Teil nutzen, um eigene Anteile zurückzukaufen, also Unternehmensanteile, die vorher an Dritte weitergegeben worden sind, werden zurückgekauft und damit natürlich auch Stimmrechtsanteile zurückgewonnen. Die große Investitionstätigkeit, die sehen wir noch nicht." Und so dürften zwar die Aktienkurse steigen, weil die Aktienrückkäufe dazu führen, dass das Kapital der Unternehmen auf weniger Anteilsscheine verteilt ist. Die Dividenden an die Aktionäre könnten erhöht werden, höhere Boni an die Mitarbeiter der betreffenden Firmen ausgezahlt werden. Wegen all dieser Effekte hat auch der Finanzmarkt die Steuerreform zunächst begrüßt. Wie nachhaltig das ist, das muss sich zeigen. Marktgetriebene US-Investitionspläne von DAX-Firmen Allerdings könnten die niedrigeren Steuersätze einzelnen ausländischen Unternehmen doch den Anreiz geben, über Investitionen in den USA nachzudenken, glaubt AmCham-Präsident Bernhard Mattes, der seit einigen Wochen auch der Präsident des VDA ist, des Verbands der Automobilindustrie in Deutschland: "Nicht nur die Automobilindustrie sondern auch andere Branchen und Unternehmen aus Deutschland wollen weiter in den USA investieren. Nehmen Sie die Pläne, die Siemens hat, nehmen Sie die Pläne von BASF oder Bayer Monsanto oder auch Linde und Praxair. Das sind große Investitionen in den USA, die natürlich jetzt unter den steuerlichen Gesichtspunkten noch mal vorteilhafter sind." AmCham- und VDA-Präsident Bernhard Mattes sieht steuerliche Vorteile bei großen Investitionen in den USA. (picture-alliance / dpa / Oliver Berg) Doch Investitionsentscheidungen treffen die Unternehmen nicht nur, weil die Steuerbelastung sinkt, erklärt BASF-Chef Kurt Bock: "Erst mal ist eine Investition immer marktgetrieben. Habe ich Chancen am Markt, wollen die Kunden mein Produkt wirklich kaufen? Habe ich wettbewerbsfähige Kosten? Und bei den Kosten spielen viele Dinge rein, Investitionskosten, die Steuern, aber natürlich auch die Rohstoffsituation. Deutschland hat keinen Vorteil bei den Rohstoffkosten, wir haben Vorteil bei den Logistikkosten, weil wir eben in Europa sehr zentral hier aufgestellt sind." Gefahr einer Erhöhung des US-Leistungsbilanzdefizits Die von der Trump-Regierung erhofften Impulse für die Wirtschaft würden also nicht unbedingt so groß ausfallen, schätzt Dennis Snower, Präsident des IfW, des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel: "Insgesamt gibt es Steuererleichterungen in der Höhe von ungefähr 1500 Milliarden Dollar über zehn Jahre. Die Wachstumswirkung dadurch ist extrem gering; 0,7 Prozent über sieben Jahre. Es ist komplett unsinnig, solche Steuerreformen zu diesem Zeitpunkt im Aufschwung stattfinden zu lassen, weil der Aufschwung in Amerika ist schon längst gekommen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 4 Prozent. Und daher ist nur die Gefahr, dass sich die amerikanische Wirtschaft dadurch überhitzt und Inflation zustande kommt und Zinsen in die Höhe getrieben werden und das Defizit in der US-Leistungsbilanz auch in die Höhe getrieben wird." Der Aufschwung in Amerika sei längst gekommen - die Arbeitslosenquote liegt bei vier Prozent, sagt Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. (AFP / B. Smialowski) Die Steuerreform könnte das Leistungsbilanzdefizit also erhöhen. Weltweit lagen die USA im vergangenen Jahr mit umgerechnet 566 Milliarden Euro im Minus, davon entfielen allein 276 Milliarden Euro auf China. Der amerikanische Präsident aber gehe sehr aggressiv an den Abbau des Leistungsbilanzdefizits heran - und mit falschen Mitteln, glaubt Snower: "Trump sieht dieses Defizit als ein Symbol der Ausbeutung der Vereinigten Staaten, was begegnet werden muss mit Strafzöllen und anderen Maßnahmen. Langfristig gesehen, glaube ich, ist das ein Desaster. Ich bin überzeugt, dass in zehn Jahren wird man zurückschauen auf diese Zeit und sagen, das war einer der gröbsten Fehler, die diese Regierung gemacht hat. Weil die USA ist stark verschuldet, und wenn wir in die nächste Rezession einmal kommen, dann wird die USA fiskalpolitisches Pulver brauchen, um wieder rauszukommen. Und dieses Pulver wird jetzt verschossen, weil wenn die Staatsschulden weiter steigen, dann ist man nicht gut imstande, gegen eine Rezession wieder stark Geld auszugeben oder Steuern zu senken." EU hofft auf Ausnahmen bei den Strafzöllen Die Europäische Union hofft noch auf Ausnahmeregelungen von den Strafzöllen; Trump erwartet aber auch Gegenleistungen. Tatsächlich liegen die Zölle, die die EU auf Importe aus den USA erhebt, im Schnitt bei drei Prozent, solche der EU in die USA jedoch bei 2,5 Prozent. Die Strafzölle auf Stahl würden, so hat das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung errechnet, etwa 1,6 Prozent der gesamten EU-Exporte in die USA treffen. 800.000 Autos produzieren deutsche Firmen vor Ort in den USA, gut die Hälfte werden wieder exportiert. Daimler-Präsentation auf der Technik-Messe CES in Las Vegas. (dpa / picture alliance / Andrej Sokolow) Kritisch würde es erst, wenn der Handelskonflikt sich ausweitet und auch auf den Import von Autos Strafzölle erhoben werden. Allerdings produzieren die deutschen Hersteller auch schon in den USA. Von den dort hergestellten 800.000 Autos werde gut die Hälfte wieder exportiert, erklärt VDA-Präsident Mattes: "Das zeigt, wie stark wir eigentlich die US-Wirtschaft hier auch unterstützen. Der Import in die USA geht sukzessive zurück, es sind noch 490.000 Autos, aber die würden natürlich bei einem zusätzlichem Zoll zusätzliche Kosten in sich haben, was gegebenenfalls zu höheren Preisen führt, zu höheren Verbraucherpreisen, und die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt." Volkswirt: EU-Reaktion bestimmt konjunkturelle Bremswirkung Auch der Einzelhandelsverband in den USA warnt schon vor den negativen Auswirkungen von Strafzöllen auf die Konsumenten. Doch noch dürfte sich das auch dort kaum in der Wirtschaftsentwicklung auswirken, meint Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg-Bank. Auch für Europa erwartet er zunächst keine gravierenden Auswirkungen. Das aber hänge von der Reaktion der EU auf Trumps Entscheidung ab. "Wenn also Europa jetzt überproportional zurückschlägt und dann die USA noch einmal operational nachlegt, dann könnte es tatsächlich eine spürbare Bremswirkung in der Konjunktur geben. Allerdings müssen wir uns gerade in Deutschland und anderen außenhandelsorientierten Ländern darauf einstellen, dass die Diskussion über die Gefahr eines Handelskrieges, dass diese öffentliche Diskussion die wirtschaftliche Stimmung etwas beeinträchtigt in den kommenden Monaten, dass beispielsweise der Ifo-Geschäftsklimaindex zurückgeht und dass es ein kleines Risiko gibt, dass zeitweilig einige Investitionen ein wenig ins Stocken geraten bei weniger guter Wirtschaftsstimmung." Denn dann gehe die Entwicklung in die falsche Richtung, fürchten Wirtschaftsvertreter wie VDA-Präsident Mattes. "Deswegen muss man jetzt aber mit Besonnenheit auch an die US-Administration herangehen, noch mal deutlich machen, wie wichtig in den einzelnen Sektoren freier und fairer Handel ist, wie zum Beispiel beim Automobil Jobs geschaffen wurden, Produktionsstätten geschaffen worden, wie aber auch andere in der Chemie zum Beispiel, in der Elektronik und Elektrik investiert haben eben auf Basis dieser freien globalen Handelsmöglichkeiten und damit dann auch die US-Administration zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist. Strafzölle und Ähnliches sind der absolut falsche Weg." Gebäude der "Fed", der US-Notenbank in Washington. (picture alliance / dpa / Ron Sachs) Ein falscher Weg auch deshalb, weil sie das Vertrauen der Anleger weltweit in den amerikanischen Staat schwächen könnte. Denn die hohen Schulden im amerikanischen Staatshaushalt bereiten Sorgen. Die Anleger hätten bisher ein fast grenzenloses Vertrauen in die Rückzahlungsfähigkeit amerikanischer Schulden, erklärt Henning Vöpel, Direktor des HWWI. "Dahinter steht natürlich die Vermutung, die USA sind die stärkste Demokratie, sind die größte Militärmacht, sind aber auch letztlich die stärkste Volkswirtschaft. Und dieses Vertrauen, dieses Urvertrauen kann man fast sagen in die amerikanische Wirtschaft, hat Schaden genommen, weil eben Zweifel bestehen, ob nicht die Wirtschaftspolitik von Trump, nicht nur die inländische, sondern eben auch die Handelspolitik von Trump, langfristig dazu führen könnte, dass die amerikanische Wirtschaft nicht stärker wird sondern schwächer." "Am Ende steht der Steuerzahler immer gerade" Kritisch wird es vor allem, wenn China, der größte Gläubiger der USA, seine Gelder abzieht - sei es, weil es das Vertrauen verliert oder weil es die USA in die Schranken weisen will. Wo könnte das enden? Wenn nicht genügend Mittel aufgetrieben werden können, um die riesige Lücke im amerikanischen Staatshaushalt zu schließen - wer zahlt dann? Das sei abzusehen, glaubt Dennis Snower vom Kieler Institut für Weltwirtschaft: "Am Ende steht der Steuerzahler immer gerade. In einem Land müssen viele Sachen, besonders physische Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und noch viel anderes, von öffentlicher Seite unterstützt oder finanziert werden. Und wenn es da zu Schwierigkeiten kommt, dann braucht man andere Quellen. Es gibt verschiedene Quellen. Man kann mehr Schulden machen, aber die rächen sich nach einem gewissen Zeitpunkt, weil dann gehen die Zinsen in die Höhe, und die Zinsen kann man sich dann auch nicht leisten. Man kann mehr Geld drucken, aber das führt in der Zukunft zu mehr Inflation. Und dann bleiben nur noch Steuern übrig. Und die müssen dann früher oder später in die Höhe gehen. Und das bedeutet, dass wir uns jetzt eine große Party leisten, aber auf Kosten der zukünftigen Generation oder zukünftigen Jahren." Ein Händler an der New Yorker Börse (dpa / picture-alliance / Andrew Gombert) Steuerreform verteilt Lasten um, heizt den Steuerwettlauf an Die Steuerreform verteile die Lasten um - weg von den großen Konzernen und Vermögenden hin zu kleinen und mittleren Unternehmen und Menschen mit normalem oder geringem Einkommen, kritisiert Markus Meinzer vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Doch das zeige sich noch nicht kurzfristig. "Das Perfide an dieser Reform ist, dass die größten Effekte erst in fünf bis zehn Jahren anfangen werden zu greifen, und dann auch natürlich die Wiederwahl Trumps schon entweder gesichert oder zumindest hinter ihm lag. Das ist das Problematische, dass also hier die Klientel, die am Ende die Zeche bezahlen wird, die Effekte dieser beschlossenen Reform erst nach der Wahl in den USA zu spüren bekommen wird." Eine weitere Folge der Steuerreform: Sie könnte den weltweiten Steuerwettlauf wieder anheizen, fürchtet nicht nur Meinzer: "Viele Länder der Welt hatten bislang auf eine Steuersatzsenkung verzichtet im Wissen, dass, wenn sie diese Steuern senken, US-Konzerne in den USA dann nachbesteuert würden, höher besteuert würden, so dass viele Länder sich das überlegt haben, ob sie wollen, dass Steuersubstrat in die USA abwandert. Jetzt fehlt diese Back-Stop-Funktion. Und jetzt droht also, dass viele Entwicklungsländer meinen, im Steuersenkungswettlauf mithalten zu müssen und ihre eigenen Steuersätze auch zu senken." Erste Erfolge im Kampf gegen Steuerschlupflöcher gefährdet Druck kommt auch aus den Industrieländern, auch von deutschen Wirtschaftsvertretern, so etwa von Bernhard Mattes: "Wenn man sich die Steuersätze anschaut, dann hat Deutschland auch eine relativ hohe Unternehmensbesteuerung. Um den Wirtschaftsstandort Deutschland weiterhin attraktiv zu halten, wird sich das Bundesfinanzministerium mit Sicherheit gemeinsam mit dem Wirtschaftsministerium dann im Kabinett beratend Gedanken darüber machen, ob die steuerliche Belastung von Unternehmen hier in Deutschland noch wettbewerbsfähig genug ist oder nicht." Die ersten Erfolge in der internationalen Zusammenarbeit im Kampf gegen Steuerschlupflöcher und Steuerhinterziehung seien gefährdet, fürchtet Henning Vöpel, Direktor des HWWI: "Jetzt sehen wir, dass geopolitisch aber im Grunde die Weltwirtschaft neu bestimmt wird, neu verteilt wird. Und das bedeutet nichts anderes, als dass nationale Interessen wieder viel stärker in den Vordergrund gerückt werden. Das macht natürlich den Ausgleich weltweit von nationalen Interessen sehr viel schwieriger. Und dieser Interessenskonflikt wird zunächst kurzfristig ausgetragen über einen extrem scharfen Wettbewerb in Fragen der Steuerpolitik." Strafzölle als Versuch, China zu schwächen Das gilt auch in Fragen der Strafzölle. Denn die dürften letztlich vor allem ein Versuch sein, China zu schwächen. Die Chinesen werden wohl aber Gegenmaßnahmen ergreifen, indem sie ebenfalls Zölle erheben, etwa auf Flugzeuge von Boeing, auf Sojabohnen, Mais und Software. Chinas Präsident Xi Jinping hielt 2017 die Eröffnungsrede beim Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Damals versprach er freien Handel. (imago / Xinhua) Es gehe hier nämlich um die geopolitischen Ansprüche, darum, die Machtverhältnisse neu zu justieren, glaubt der Ökonom. Denn man dürfe das Reich der Mitte nicht unterschätzen. "Wenn sie die größeren historischen Linien sich anschauen, war China immer an der Spitze der Weltwirtschaft. Da wollen die wieder hin. Diese Kraft darf man unter gar keinen Umständen unterschätzen. Das kann positiv sein, weil es eben auch die Möglichkeit bietet, mit China gemeinsam neue kooperative Lösungen zu erzeugen. Insofern ist auch die Situation für die USA nicht ganz leicht, weil natürlich die USA merken, dass die dominante Rolle der USA so langsam kippt. Und es gibt eine multipolare Weltwirtschaft, in der China sicherlich neben den USA die ganz zentrale Rolle spielen wird." Denn vor allem China akzeptiert nicht mehr länger die Vorherrschaft der USA in Wirtschaft und Politik. Steuerpolitik und Strafzölle sind ein Versuch der amerikanischen Regierung, diese doch noch zu zementieren. Die Erfolgsaussichten dürften langfristig gering sein.
Von Brigitte Scholtes
US-Präsident Trump will über Strafzölle und eine Steuerreform US-Firmen stärken und begünstigen. Die Konsequenzen sind aber nicht absehbar. Denn das China, der Hauptadressat der Strafzölle, diese klaglos hinnimmt, ist nicht zu erwarten. In den USA könnten die Risiken auf Geringverdiener abgewälzt werden.
"2018-03-20T18:40:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:16.063000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trumps-steuer-und-wirtschaftskurs-eine-politik-mit-risiken-100.html
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Der Kampf ums Wasser
Funktionierender Wettbewerb ist gut. Funktionierender Wettbewerb bringt in der Regel niedrigere Preise. Auch bei Dienstleistungen. Und bei der Vergabe entsprechender Konzessionen auch durch die öffentlichen Hände sollte es transparent und fair und im Sinne der Verbraucher zugehen. Und deshalb plant die EU eine entsprechende Konzessionsrichtlinie, nach der Alle Dienstleistungen, für die man eine Konzession haben muss, künftig ausgeschrieben werden müssen, teilweise europaweit. Dagegen kann eigentlich auch niemand etwas haben. Schwieriger ist es, wenn es um Bereiche der sogenannten Daseinfürsorge geht, um etwas so Lebenswichtiges wie Wasserversorgung. Die Sorge geht um, dass Brüssel mit der Richtlinie der Liberalisierung und Privatisierung in dem Bereich allüberall Türe und Tore öffnen will, mit möglichen Folgen, wie man sie mancherorts in Europa schon beobachten kann."Wir wollen nicht, dass so etwas wie in London passiert, wo mittlerweile wegen der Gewinnorientierung des Unternehmens 50 Prozent des Wassers versickert, weil die Rohre nicht repariert werden. Das ist das, was wir nicht wollen."…sagt Sozialdemokratin im EU-Parlament Evelyne Gebhardt. Und sagt auch ihr CDU-Kollege, Andreas Schwab."Die Europäische Union möchte nicht einen Zwang zur Liberalisierung einführen."Jedenfalls nicht die Wasserversorgung, wenn sie denn, wie vielerorts in Deutschland gegeben, ganz überwiegend - von 80 Prozent ist die Rede - in kommunaler Hand liegt."Klar ist natürlich, dass es viele große Städte gibt, die sich auf den Markt der Energieversorgung begeben haben, über ihre eigenen Stadtgrenzen hinaus. Wenn es ihnen so wichtig ist, wie immer behauptet, haben sie alle die Möglichkeit, auf jegliche Formen der Privatisierung zu verzichten, weil immer dann, wenn eine Kommune die Wasserversorgung selbst erbringt, Europa diese Entscheidung akzeptieren muss."Weil Wasser ein hochgradig sensibles Thema ist, gibt es vor allem in Deutschland reichlich Befürchtungen im Zusammenhang mit der geplanten Richtlinie, nicht zuletzt bei den Kommunen und Gemeinden. Befürchtungen, die weitestgehend unbegründet sind, meint der der FDP-Europaabgeordnete Jürgen Creutzmann."Ich komme aus Rheinland-Pfalz – es gibt dort keine privaten Wasseranbieter. Es sind die Kommunen, die das machen. Es gibt teilweise Zusammenarbeit, z.B. in der Kommune, aus der ich komme, nahe der Stadt Speyer, dort haben wir gemeinsam einen Wasserverbund geschaffen, um Kosten zu sparen für die Bürger. Das hat sich bewährt und das muss möglich bleiben."Aber weil die Befürchtungen so hartnäckig sind und weil die geplante EU-Richtlinie den Strukturen in der kommunalen Versorgung zumindest in Deutschland in manchen Details tatsächlich nicht gerecht wird, wollten eigentlich alle drei Politiker die gesamte Richtlinie zur Überarbeitung an die EU-Kommission zurückweisen. Sie werden aber dafür im Ausschuss nicht die entsprechende Mehrheit finden, weil die Bedenken der Deutschen bei den Parlamentariern aus anderen Ländern kein Gehör fanden. "Dennoch ist es in meinen Augen auch wegen der Empfindlichkeiten, die wir in Deutschland haben, sehr notwendig, dass wir bestimmte Bereiche herausnehmen aus der Konzessionsrichtlinie und dazu gehört das Wasser."Dieser Versuch, zumindest die Wasserversorgung aus der Richtlinie herauszunehmen, gelang zwar. Aber nur, wie Evelyne Gebhardt bedauert, für eine Übergangszeit bis 2020"In Baden-Württemberg ist es so: 2013 laufen Wasserkonzessionen aus. Damit müssen sie verlängert werden und ich finde es irrsinnig, wenn man so etwas nur für sieben Jahre vergeben kann, das geht nicht in diesen Bereichen. Da braucht man Sicherheit."Bevor das gesamte Plenum des Parlaments im Frühjahr über die Richtlinie abstimmen wird, werden die deutschen Abgeordneten noch Überzeugungsarbeit für ihre Position zu leisten versuchen.
Von Annette Riedel
Der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments entscheidet heute über einen Änderungsantrag der EU-Kommission. Wird dem zugestimmt, müssten die Kommunen die Aufträge für die Wasserversorgung jedes Mal öffentlich und EU-weit ausschreiben.
"2013-01-24T11:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:05:27.094000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-kampf-ums-wasser-100.html
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NATO: Russische Soldaten kämpfen in der Ukraine
Russische Soldaten sollen mit schwerem Kriegsgerät in der Ukraine kämpfen. (picture alliance / dpa / Roman Pilipey) Das ukrainische Militär teilte mit, die Kontrolle über eine Grenzregion im Südosten weitgehend verloren zu haben, Einheiten aus dem Nachbarland seien dafür verantwortlich. "Gestern gingen die Stadt Nowoasowsk sowie eine Reihe von Ortschaften der Kreise Nowoasowsk, Starobeschewo und Amwrosijewka unter die Kontrolle russischer Militärs", erklärte der nationale Sicherheitsrat in Kiew. Wegen der "russischen Intervention" hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko einen Staatsbesuch in der Türkei abgesagt. "Der Platz des Präsidenten ist heute in Kiew", sagte er in einem Fernsehinterview. Die Lage im Raum Donezk habe sich "extrem verschärft". Звернення #Президента #України щодо загострення ситуації в Донецькій області: http://t.co/RTVFXJ0Ksk #Ukraine— MFA of Ukraine (@MFA_Ukraine) August 28, 2014 Schwere Vorwürfe der USA Die US-Regierung hatte Moskau zuvor vorgeworfen, eine Gegenoffensive der Rebellen in der umkämpften Region zu "lenken". Außenamtssprecherin Jen Psaki sagte in Washington, es gebe Hinweise, "dass es eine von Russland gelenkte Gegenoffensive in Donezk und Lugansk gibt". Russische Truppen und Panzer befänden sich anscheinend auf dem Weg in die Südostukraine, so die Sprecherin weiter. Die USA seien durch diese Entwicklung "tief beunruhigt". Am Montag waren erstmals zehn russische Fallschirmjäger rund 50 Kilometer von der Grenze entfernt auf ukrainischem Gebiet festgenommen und identifiziert worden. Nach unbestätigten Angaben der ukrainischen Armee schickte Moskau nun zudem eine Militärkolonne in die umkämpfte Region bei Donezk. Insgesamt seien mehr als hundert russische Panzer, Truppentransporter und Grad-Raketenwerfer auf ukrainischem Territorium unterwegs. Allerdings konnte der nationale Sicherheitsrat in Kiew diese Angaben bislang nicht bestätigen. NATO: 1.000 russische Soldaten in der Ukraine Die NATO geht davon aus, dass Russland in der Ukraine um die 1.000 russische Soldaten einsetzt: "Wir schätzen, dass deutlich mehr als 1000 russische Soldaten innerhalb der Ukraine operieren", sagte ein ranghoher Offizier der Nato. "Das ist eine eher konservative Schätzung. Dahinter steht sehr große militärische Stärke. Sie unterstützen die Separatisten, sie kämpfen mit ihnen", sagte der Offizier. Polens Außenminister Radoslaw Sikorski kritisierte das aggressive Vorgehen Russlands in der Ukraine. Es handle sich um die schwerste Sicherheitskrise seit Jahrzehnten. Auch Frankreichs Staatschef François Hollande zeigte sich alarmiert: Ein Einsatz russischer Soldaten in der Ukraine wäre "unerträglich und inakzeptabel", sagte Hollande in Paris. "Russland muss die Souveränität der Ukraine respektieren, seine Unterstützung der Separatisten einstellen und sie dazu bringen, eine bilaterale Waffenruhe zu akzeptieren." (tzi/ach/bor)
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Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ist davon überzeugt, dass Russland reguläre Truppen in die Ukraine gebracht hat. Der Präsident hat eine Krisensitzung des nationalen Sicherheitsrats einberufen und spricht von einer russischen Intervention. Die NATO geht von über 1.000 russischen Soldaten in der Ukraine aus.
"2014-08-28T18:01:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:03.491000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-nato-russische-soldaten-kaempfen-in-der-100.html
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Krebskrank vom Duschgel?
Der Deostift als Risikofaktor? Viele Kosmetika enthalten hormonell wirksame Schadstoffe. (dpa/ picture alliance/ Daniel Naupold) Kosmetika gehören zu den wichtigsten Quellen, über die endokrine Disruptoren in unsere Körper gelangen, betont Josef Köhrle, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, DGE. Seine medizinische Fachgesellschaft befasst sich mit der Wirkung von Hormonen. Kosmetika verdienen demnach eben so viel Aufmerksamkeit wie Essen, Trinken und Atmen, die anderen Kanäle, über die diese schädlichen Substanzen aufgenommen werden. In uns drin können sie gefährliche Wirkungen haben, warnt Josef Köhrle. "Sie können wirken wie Hormone, sie können an Hormonrezeptoren verhindern, dass Hormone wirken, sie können die Bildung von Hormonen beeinflussen, den Abbau von Hormonen möglicherweise verstärken oder das Hormongleichgewicht, das sehr fein austariert ist, stören." Erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung Das kann laut der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie viele höchst unterschiedliche Folgen haben: von Entwicklungsstörungen bei Kindern über Unfruchtbarkeit bei Erwachsenen bis hin zu Übergewicht, Diabetes und Krebs. Es gebe Hunderte hormonell wirksame Substanzen, die in heutigen Industrieprodukten vorkämen, so Köhrle. In den Kosmetika hebt er vor allem auf zwei Substanzen ab: Triclosan und Phthalate. "Triclosan, eine antibakteriell wirksame Substanz, die da eigentlich gar nicht nötig ist. Dann gibt es noch gewisse Weichmacher, die da eigentlich nicht drin sein müssen, aus der Gruppe der Phthalate, theoretisch müssten sie deklariert werden, sie können aber auch in gewissen Bestandteilen in den dazu verwendeten Fetten enthalten sein, und sind dann möglicherweise nicht deklariert." Ob die Kosmetika länger auf der Haut bleiben - wie zum Beispiel Creme - oder schnell wieder abgespült werden - wie zum Beispiel Shampoo -, das ist für den Wissenschaftler kein entscheidendes Kriterium für das Risiko: "Es gibt einen Fall vor ein paar Jahren, wo bei Jungs, die sich mit Duschgelen regelmäßig gewaschen haben, es zu nicht angemessenem Brustwachstum in der Jugend kam. Da haben wir gelernt." Die Gefahr der Einlagerung Einen Produktnamen will der Mediziner nicht nennen, das Duschgel sei aber nicht mehr auf dem Markt, beruhigt Köhrle. Bedeutende Unterschiede sieht der Mediziner darin, wie sich die endokrinen Disruptoren im Körper verhalten. Manche würden schnell wieder ausgeschieden, andere lagerten sich aber ein und wirkten dann auch entsprechend länger. "Ein großer Anteil dieser Substanzen, um die es hier geht, sind kleine Moleküle, die sehr fettlöslich sind, damit kommen wir in den Weg der Einlagerung über das Fettgewebe und damit auch der langfristigen Kontamination." Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung befasst sich von Amts wegen mit der Wirkung von Inhaltsstoffen in Kosmetika. Es warnte schon vor Jahren, Triclosan gehöre nur in Arztpraxen und Kliniken. In Sachen Phthalate verweist es Verbraucher auf die Internetseite reach-info.de. Dort könnten sie unter dem Stichwort Auskunftsrecht mit Hilfe des Strichcodes auf dem Produkt Anfragen an die Hersteller einreichen, ob fortpflanzungsschädliche Phthalate enthalten sind. Allerdings meldet die Internetseite aktuell nur einen Server-Umzug. (Inzwischen ist die Webseite wieder zu erreichen, Anm. der Redaktion.) Derartige Anfragen lassen sich aber auch über die Smartphone-App "scan4chem" stellen. Die Antwort muss binnen 45 Tagen erfolgen. Die Umweltorganisation BUND bietet außerdem die App Toxfox an, auch hier kann man über den Produktcode 16 endokrine Disruptoren abfragen, die in Kosmetika vorkommen können. Etwa bestimmte Parabene oder der viel verwendete UV-Filter Ethylhexylmethoxycinnamat. Wer ganz sicher gehen will, kann auch Naturkosmetik selbst herstellen oder unverarbeitete Rohstoffe nutzen, zum Beispiel Jojobaöl zur Hautpflege.
Von Daniela Siebert
In einigen Kosmetika wie Duschgel, Zahnpasta und Haarshampoo sind hormonell wirksame Substanzen enthalten, sogenannte endokrine Disruptoren. Wissenschaftler haben sie im Verdacht, zum Teil schwerwiegende Krankheiten wie Diabetes und Krebs auszulösen.
"2017-09-14T11:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:50:57.622000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hormone-in-kosmetika-krebskrank-vom-duschgel-100.html
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Mohnblumen auf Flanderns Feldern
Auf dem Stadttor in Ypern sind die Namen von Tausenden gefallenen Soldaten eingemeißelt (picture alliance/dpa/Frank Schumann) Nach einigen Schlachten im Herbst 1914 begann hier ein Stellungskrieg, der vier Jahre dauern sollte. Hunderttausende von Soldaten aus über 30 Ländern starben in diesem Krieg des ewigen Trommelfeuers, der Laufgräben und des Giftgases. Die Schrecken des Stellungskrieges traumatisierten eine ganze Generation. Der Krieg ist seit fast 100 Jahren vorbei, aber nicht verschwunden. Er gehört zum Leben der Menschen in dieser Gegend. Sie haben gelernt, mit den Erinnerungen und den Überbleibseln des Ersten Weltkrieges umzugehen. Eine Sendung vom Alltag in einer Gegend, in der der Erste Weltkrieg noch immer allgegenwärtig ist. (Wdh. vom 2.11.2002)
Von Doris Simon
Ypern und die Felder Flanderns stehen in Europa exemplarisch für die Schrecken des "Großen Krieges", wie man hier den Ersten Weltkrieg nennt. Die deutsche Armee hatte 1914 fast das gesamte Gebiet Belgiens auf ihrem Feldzug Richtung Frankreich besetzt.
"2015-04-18T11:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:25:46.205000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-mohnblumen-auf-flanderns-feldern-100.html
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Verhaltenskodex für scheidene EU-Spitzenpolitiker
Wen auch immer man in Brüssel fragt – die Regeln, die es für den Wechsel von EU-Kommissaren in die Wirtschaft gibt, findet jeder, wiewohl im Detail verbesserungsfähig, richtig und gut. So sieht es der Europaabgeordnete: "Sowohl von den Regeln als auch von dieser Praxis aus europäischer Ebene, könnte sich der Bundestag etwas abschneiden und könnte nur gewinnen." So sieht man es bei der Nichtregierungsorganisation Lobby-Control: "Im Prinzip ist es gut, dass es auf EU-Ebene – im Gegensatz zu Deutschland – Karenzzeiten gibt. So sieht die EU-Kommission selbst es: "We are very proud of these rules. I think they are very effective.” Die Regeln, auf die man stolz sein kann und die sehr effektiv sind, wie EU-Kommissionssprecher Antony Gavrili sagt, es gibt sie seit zehn Jahren für ausscheidende EU-Kommissare. Festgehalten in einem Verhaltenskodex. Vor drei Jahren wurden dieser noch einmal verschärft. 18 Monate Karrenzzeit für scheidene EU-Kommissare "Für 18 Monate ist es komplett ausgeschlossen, dass ein scheidender EU-Kommissar Lobby-Arbeit in dem Bereich macht, für den er in der Kommission zuständig war. Zudem muss er oder sie innerhalb dieser 18 Monate für jede Art der Tätigkeit, egal ob bezahlt oder unbezahlt, eine Erlaubnis bei der Kommission einholen." "Vergleicht man das mit der Diskussion in Deutschland, dann kann man sagen, in Deutschland ist es nur noch peinlich." … sagt Jürgen Klute, der für die Linkspartei im Haushaltsausschuss des EU-Parlaments ist. "Es wäre ein enormer qualitativer Schritt nach vorne, wenn man diese – durchaus verbesserungswürdigen – Regelungen von der Brüsseler Ebene auf die Bundesebene übertragen würde. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter." Auch für hohe Beamte gibt es auf EU-Ebene einen Verhaltenskodex – wenn auch einen weniger rigiden. In jeglichem Fall ist das Motiv, Interessenskonflikte zu vermeiden. "Wenn ein Kommissar in einem bestimmten Feld – also zum Beispiel Herr Barnier, der die Bankenregulierung und die Finanzmarktregulierung gemacht hat – wenn man ihm sagt: Okay, wenn Du jetzt nicht mehr Kommissar bist und suchst dir einen neuen Job suchst, dann bitte nicht im Bankensektor, auch nicht bei einem Hedge-Fonds oder einem Private-Equity-Fonds, sondern dann geh in die Industrie oder irgendwo." Manche in Brüssel sagen, dass die Karenzzeit länger sein sollte als diese 18 Monate, bevor jemand nach seiner Zeit als EU-Kommissar oder -kommissarin wieder in dem Bereich arbeiten darf, den er in der Kommission zu verantworten hatte. Überbrückungsgeld für ehemalige EU-Kommissare "Lobbycontrol fordert eine Karenzzeit von drei Jahren, weil wir davon ausgehen, dass innerhalb von drei Jahren dann auch tatsächlich die Kontakte in die Institutionen hinein abgekühlt sind." Und somit aus Sicht von Max Bank von Lobbycontrol erst dann kein Interessenskonflikt zwischen alter und neuer Tätigkeit bestehen würde. Es gelte da sehr genau abzuwägen, meint der Sprecher der EU-Kommission Gavrili: "Auf der einen Seite muss auch nur der Eindruck vermieden werden, dass es da Interessenskonflikte geben könnte. Auf der anderen Seite müssen die Menschen auch ihren Lebensunterhalt verdienen können. Und Arbeit ist ein fundamentales Menschenrecht, dass man nicht ohne Not einschränken darf." Damit keine materielle Not entsteht, bekommen ehemalige EU-Kommissare drei Jahre lang, je nach Dauer ihrer Tätigkeit zwischen 40 und 65 Prozent ihres Grundgehalts als Überbrückungsgeld. Die EU-Kommission hat in der Vergangenheit tatsächlich in dem einen oder anderen Fall und mit Erfolg Einspruch eingelegt, wenn ein ehemaliges Mitglied einen Job innerhalb der Karenzzeit aufnehmen wollte, der nicht mit dem Verhaltenskodex übereinstimmt. In Konfliktfällen wird von der EU-Kommission ein Ethik-Komitee eingeschaltet. An diesem Ethik-Komitee ließe sich zwar einiges aussetzen. Aber im Ansatz sei es gut und Ähnliches könnte auch Deutschland gut zu Gesichte stehen, meint Jürgen Klute. "Es wird zumindest Öffentlichkeit hergestellt. Und es hat natürlich schon eine Kontroll-Wirkung. Bestimmte Dinge, also wie das mit Herrn Pofalla gelaufen ist, wären, glaube ich, so nicht gelaufen, wenn er sich damit hätte auseinandersetzen müssen, dass er das möglicherweise vor einem solchen Gremium hätte offen legen müssen."
Von Annette Riedel
Der Bundestag befasst sich mit Karenzzeiten von Spitzenpolitikern. Bislang gibt es keine Regelung zu deren Karriereplanung nach dem politischen Amt. Die EU-Kommission hat hingegen längst einen Veraltenkodex für Spitzenpolitiker auf Jobsuche entworfen, um Interessenskonflikte abzuwenden.
"2014-01-16T09:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:58.526000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/karenzzeit-verhaltenskodex-fuer-scheidene-eu-100.html
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Der Aufbau Ost und die Treuhand
Aufschwung Ost zwischen Wunsch und Wirklichkeit. (imago images / Christian Schroedter) "Die Treuhand hat unglaublich viele Fehler gemacht, weil sie unglaublich viel gemacht hat", erklärt DLF-Reporterin Sabine Adler, die sich 30 Jahre nach dem Mauerfall intensiv mit dem Aufbau Ost befasst hat. Die Wunden, die die Trehand geschlagen habe, machten sich nun Linkspartei und AfD zu nutze, in dem sie das System an sich in Frage stellen würden, so Adler weiter, die die Anstalt aber auch in Schutz nimmt: "Die Treuhand hat benannt, was die DDR-Führungsriege verbockt hat: Nämlich eine marode Wirtschaft hinterlassen." Der Soli, zur Finanzierung der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West geschaffen, soll nun abgeschafft werden. Allerdings nur teilweise. Volker Finthammer aus dem Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio erklärt die Pläne von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD).
Von Philipp May
30 Jahre nach der Wende ist die Treuhandanstalt noch immer Symbol für alle Fehler, die beim Wiederaufbau der ehemaligen DDR gemacht wurden. Wie kam es dazu? Und: Warum der Soli nicht für alle abgeschafft wird.
"2019-08-12T17:00:00+02:00"
"2020-01-26T23:05:48.211000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-der-aufbau-ost-und-die-treuhand-100.html
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Wie sinnvoll ist die "Ehe für alle"?
Ein homosexuelle Paar nach seiner Eheschließung im Standesamt. (dpa / picture-alliance / Swen Pförtner) Kann die Große Koalition noch so weitermachen? Und welche Folgen hat die Entscheidung? Gleichstellung oder Gleichmacherei? - Wie sinnvoll ist die "Ehe für alle"? Gesprächsgäste: Volker Beck, Bündnis90/Die Grünen, MdB, Migrations- und religionspolitischer Sprecher, ehem. Parlamentarischer Geschäftsführe Johannes Kahrs, SPD, MdB, Haushaltspolitischer Sprecher, Fraktionsbeauftragter für Belange von Lesben und Schwulen Martin Patzelt, CDU, MdB, Mitglied des Bundestags-Ausschusses für "Familie, Senioren, Frauen und Jugend" sowie für "Menschenrechte und humanitäre Hilfe", ehem. Oberbürgermeister in Frankfurt/Oder Hörerinnen und Hörer sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail. Telefon: 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei). E-Mail: kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Dirk-Oliver Heckmann
Es war eine turbulente Woche: Nach jahrelanger Blockade hat der Bundestag mit großer Mehrheit die "Ehe für alle" beschlossen - nur wenige Tage, nachdem Bundeskanzlerin Merkel das Thema zur Gewissensfrage erklärt hatte. Doch dass jetzt alles so schnell ging, damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Die Unionsführung spricht von "Vertrauensbruch" seitens der SPD.
"2017-07-03T10:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:53.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gleichstellung-oder-gleichmacherei-wie-sinnvoll-ist-die-ehe-100.html
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EuGH erlaubt umstrittene Anleihekäufe
Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). (dpa / Arne Dedert) "Das Programm überschreitet nicht die währungspolitischen Befugnisse der EZB und verstößt nicht gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten", teilte der Gerichtshof in Luxemburg mit. Es ging um einen Beschluss der EZB aus dem Jahr 2012, notfalls unbegrenzt Anleihen von Euro-Krisenstaaten zu kaufen, um diese zahlungsfähig zu halten. Mehrere Euro-Länder waren damals ins Visier von Spekulanten geraten. Nach Ansicht der Richter habe die EZB garantiert, Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten anzukaufen. Damit werden Anleihen nicht direkt gekauft, sondern erst, wenn sich bereits ein Marktpreis gebildet hat. Mit dieser Zusage verhindere die EZB, dass das in den EU-Verträgen geregelte Verbot der sogenannten monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten umgangen werde, so das Urteil. Programm nie genutzt In der Praxis wurde das OMT-Programm nie genutzt. Allein die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi hatte für eine Beruhigung der Märkte gesorgt. Er sagte damals: "Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB dazu bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir: Es wird reichen." Der CSU-Politiker Peter Gauweiler, die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), die Bundestagsfraktion der Linken und der Verein "Mehr Demokratie" hatten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das OMT-Programm geklagt. Fast 12.000 weitere Kläger schlossen sich an. Ihrer Ansicht nach überschreitet die EZB mit dem massenhaften Ankauf von Staatsanleihen ihre Kompetenzen. Kein Verstoß gegen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Bundesverfassungsgericht hatte den Fall zur Klärung dem EuGH vorgelegt, die nun die Rechtmäßigkeit der Pläne feststellten. Nach dem jetzigen Urteil dürfte sich nun Karlsruhe dem Fall nochmals zuwenden. Ein Termin dafür steht allerdings noch nicht fest. Die Richter in Luxemburg urteilten auch, dass das OMT-Programm nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Allerdings setzte das Gericht der EZB auch Grenzen. Die Notenbank müsse - falls sie das OMT-Programm jemals nutze - eine Mindestfrist einhalten und dürfe ihre Entscheidung zum Ankauf oder das Volumen nicht vorher ankündigen. (hba/tzi)
null
Die Europäische Zentralbank (EZB) darf zur Euro-Rettung Staatsanleihen kaufen. Das hat der Europäische Gerichtshof am Dienstag in Luxemburg entschieden. Nach Ansicht der Richter sind die 2012 beschlossenen sogenannten Outright Monetary Transactions (OMT) rechtmäßig.
"2015-06-16T09:38:00+02:00"
"2020-01-30T12:42:25.690000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ezb-zinspolitik-eugh-erlaubt-umstrittene-anleihekaeufe-100.html
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"Nicht warten, bis die Lage eskaliert"
Beim Spiel zwischen Russland und England gab es massive Ausschreitungen. (imago / Bildbyran) Die französischen Behörden wendeten eine Strategie an, die 15 bis 20 Jahre alt sei, kritisierte Spahn, der während der Fußball-WM 2006 Sicherheitschef des Deutschen Fußball-Bundes war. "Ich kann nicht warten, bis die Lage eskaliert, und dann einschreiten", betonte er. Heutzutage versuche man, schon vor einer Begegnung deeskalierend zu wirken und gezielt Fangruppen anzusprechen. Das habe in Frankreich bisher gefehlt. Allerdings seien solche Konzepte gegen Hooligans und organisierte Schläger nicht wirklich ein Mittel, räumte Spahn ein. Zudem sei die Einsatzlage in Frankreich schwierig, da die Behörden an mehreren Fronten zu kämpfen hätten, sagte er mit Blick auf die Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform. Die Begegnung zwischen Deutschland und Polen am Abend sei als Risikospiel eingestuft - ebenso wie die zwischen England und Wales am Nachmittag, sagte Spahn weiter. Er gehe davon aus, dass die französischen Behörden aus den Erfahrungen der vergangenen Tage gelernt hätten. Das komplette Interview zum Nachlesen: Sandra Schulz: Über die Gewalt, die diese Europameisterschaft bisher begleitet, wollen wir in den kommenden Minuten sprechen mit Helmut Spahn. Er ist der Präsident von Kickers Offenbach, Generaldirektor des International Center for Sport Security in Katar und er war zur WM 2006 Sicherheitschef des DFB, ist jetzt in Paris am Telefon. Guten Morgen. Helmut Spahn: Ja, schönen guten Morgen. Der Geschäftsführer des Internationalen Zentrums für Sportsicherheit (ICCS), Helmut Spahn, sitzt am 13.01.2014 auf einem Sofa vor seinem Büro im Gebäude des "International Centre for Sport Security" in Doha (Katar).  (dpa / Peter Kneffel) Schulz: Herr Spahn, welche Begegnung macht Sie mit Blick auf den Tag heute denn nervöser, England-Wales oder Deutschland-Polen? Spahn: Was heißt nervöser? Ich glaube, beide Spiele stehen im Blickpunkt der Polizei. Beide Spiele sind als Risikospiele eingestuft. Und ich gehe jetzt davon aus, dass auch die französischen Behörden, das lokale Organisationskomitee, jetzt die richtigen Maßnahmen treffen und aus den Erfahrungen der letzten Tage gelernt haben. Schulz: Sind es denn tatsächlich mehr Ausschreitungen am Rande dieser EM, oder wie es in der Vergangenheit bei Weltmeisterschaften war? Ist das wirklich mehr, oder ist das jetzt gefühlt mehr durch die Aufmerksamkeit, die es ja auch gibt? Spahn: Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, die letzten fast zehn oder 15 Jahre, dann ist im Bereich Sicherheit, aber auch egal in welchen Bereichen es immer gefühlt mehr, weil natürlich auch die Medienlandschaft sich komplett verändert hat: durch Facebook, durch Twitter, durch eine ständige unmittelbare Aussendung von Nachrichten und Bildern unmittelbar nach dem Ereignis. Aber Fakt ist, dass das, was wir insbesondere in Marseille gesehen haben, in der Art und in der Intensität sicherlich, dachten viele, der Vergangenheit angehört hat und man das auch bei den vergangenen großen Veranstaltungen durchaus gut im Griff hatte. Wobei natürlich eine Weltmeisterschaft in Südafrika oder in Brasilien nicht mit einer Europameisterschaft, was das Hooligan-Problem betrifft, hier in Europa vergleichbar ist. Schulz: Jetzt kündigen die französischen Sicherheitskräfte ja auch Konsequenzen an. Glauben Sie, dass diese Bilder, wie wir sie aus Marseille gesehen haben, dass die sich jetzt noch mal wiederholen werden, oder haben es die Franzosen dann jetzt doch im Griff? Spahn: Man wird sicherlich nicht von heute auf morgen das Konzept komplett überarbeiten und umstellen können. Das ist sicherlich schwierig. Es gab ja heute Nacht in Lille auch wieder Auseinandersetzungen, ich glaube insgesamt 36 Festnahmen und zehn, 14 Personen mussten ins Krankenhaus, weil auf dem Weg zum Spiel die Engländer dort auch vorbeigefahren sind und wieder die Auseinandersetzung mit Russen gesucht haben. Aber ich denke, das sind jetzt Bilder, die uns jetzt nicht weiter verunsichern sollten. Ich glaube, die französischen Behörden arbeiten wirklich sehr, sehr intensiv daran, das Problem zu lösen. Und wir müssen jetzt auch schauen, dass wir ein Stück weit, ich sage mal, positiver nach vorne schauen und ein Stück weit auch Mut machen. Ich glaube, Fans, Zuschauer wollen diese Bilder nicht sehen. Und das müssen wir jetzt vielleicht auch mal ein Stück artikulieren und den Leuten klar sagen, wir wollen euch nicht beim Fußball haben. Schulz: Sie haben sich vor der EM ja schon mit deutlicher Kritik geäußert am französischen Sicherheitskonzept, auch wenn Sie sagen, wir wollen jetzt in die Zukunft schauen. Das ist ja der Punkt, über den wir heute Morgen hier auch sprechen wollen. Was genau werfen Sie den französischen Behörden vor? Spahn: Franzosen haben sich wenig ausgetauscht Spahn: Das Entscheidende für mich war, dass bei den Vorbereitungen der EM ich mich natürlich mit relativ vielen Leuten unterhalten habe, mit meinem Netzwerk, mit meinen Kollegen auch aus anderen Ländern. Und das, was ich erfahren habe, das wurde mir dort bestätigt, dass man sehr, sehr abgeschottet sich vorbereitet hat, dass man die internationalen Standards - und ein Standard war, sich tatsächlich auszutauschen, von vorangegangenen Veranstaltungen dementsprechend zu lernen, über den Tellerrand zu schauen -, dass man das nicht wirklich wahrgenommen hat. Es ging sogar so weit, was mir Kollegen gesagt haben, unterschiedliche aus dem Sicherheitsbereich, aus dem Fanbereich, dass man ganz offensiv Hilfe angeboten hat und die abgelehnt wurde. Das hat ein Stück weit mit Selbstverständnis, ein Stück weit sicherlich auch mit Mentalität zu tun. Jedes Land bereitet sich ein Stück weit anders vor, hat eine andere Sicherheitsarchitektur. Aber ich glaube, der Austausch mit den internationalen Experten ist unabdingbar. Und auch wenn ich am Ende sage, ich konnte nichts mitnehmen, ich glaube, ich muss es aber definitiv probieren und machen. Schulz: Aber welche konkreten Fehler sehen Sie? Ich verstehe das jetzt so, dass es eine französische Haltung gegeben hat, nee, wir schaffen das allein. Aber was konkret ist denn jetzt nicht gut gelaufen? Spahn: Es gibt in dem Bereich der Fanbetreuung, im Bereich der polizeilichen Einsatzkonzepte sicherlich jetzt Standards, die über Jahre auch gewachsen sind, weil man gelernt hat. Und ich glaube, dass Frankreich ein Stück weit ein Konzept anwendet, was vielleicht, würde ich sagen, 15 oder 20 Jahre alt ist. Diese abgestuften Einsatztaktiken, zunächst mal deeskalierend zu wirken und die Personen versuchen, auch anzusprechen, mit ihnen zu kommunizieren, und noch wichtiger im Vorfeld intensiv zu kommunizieren mit den unterschiedlichen Fangruppen, mit den Besuchern. Auch die Bereitschaft zu haben, sich ein Stück weit zu öffnen für Fan- und Besucherprogramme, die immer dazu beitragen, ein Stück weit deeskalierend zu wirken. Das hat insgesamt gefehlt und ich kann nicht ein Stück weit immer warten, bis eine Lage eskaliert und dann einschreiten, sondern ich muss versuchen, vor diese Lage zu kommen, das rechtzeitig zu erkennen, wobei - das möchte ich auch deutlich sagen - solche Konzepte natürlich für organisierte Schläger- und Hooligan-Gruppen, die vielleicht auch noch aus dem Rocker-Milieu kommen, keine wirksamen Mittel sind. Da muss man sich natürlich auch darüber im Klaren sein. Schulz: Fangewalt ist ein Thema bei dieser Europameisterschaft. Das andere ist natürlich die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Da hat es Anfang der Woche auch einen Anschlag gegeben. Vor diesem Hintergrund, hatten die französischen Behörden da überhaupt eine Chance, alles richtig zu machen? Spahn: Ja, ich glaube schon. Das eine hat ja zunächst mal mit dem anderen nichts zu tun. Ich denke, dass die Franzosen natürlich wie kein anderes Land zumindest in Zentraleuropa zurzeit im Fokus des Terrors stehen. Ich denke, dass man dort seine Hausaufgaben auch im Prinzip gemacht hat. Man hat ja auch den Ausnahmezustand jetzt über die Europameisterschaft hinaus verlängert. Aber diese Europameisterschaft findet statt und dass man sie ausrichtet, weiß man ja nicht erst seit drei Wochen oder vier Monaten, sondern seit einigen Jahren. Und ein solches Konzept bei einer Europameisterschaft, ein Sicherheitskonzept entwickelt sich über die Jahre. Dass natürlich die Kräftelage, die Einsatzlage insgesamt in Frankreich eine schwierige ist, weil man sicherlich an mehreren Fronten zu kämpfen hat, ist auch klar. Aber ich denke, dass beides machbar sein muss, und ich denke, die Franzosen werden jetzt alles tun, um das auch sicherzustellen. Schulz: Helmut Spahn, der frühere DFB-Sicherheitschef, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk, uns per Mobiltelefon aus Paris zugeschaltet. Darum sorry für die schlechte Telefonqualität und herzlichen Dank nach Paris, Herr Spahn. Spahn: Ich danke Ihnen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Helmut Spahn im Gespräch mit Sandra Schulz
Der ehemalige DFB-Sicherheitschef Helmut Spahn hat den französischen Behörden im Umgang mit Hooligans ein veraltetes Konzept vorgeworfen. Zu oft werde abgewartet, bis die Lage eskaliere, sagte er im DLF. Mit Blick auf die Partie Deutschland-Polen äußerte er die Hoffnung, dass man die Lehren aus den vergangenen Tagen gezogen habe.
"2016-06-16T07:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:35:30.411000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hooligan-gewalt-bei-der-em-nicht-warten-bis-die-lage-100.html
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Welche Verantwortung der Mensch für die Corona-Pandemie trägt
Klimawandel, Artensterben und Pandemien: Eine ganz entscheidende Ursache für die "Dreifach-Krise" ist laut Expertinnen und Experten der weltweit hohe Konsum tierischer Produkte. (picture alliance / Hendrik Schmidt) New York, Anfang Dezember 2020: An der renommierten Columbia Universität tritt UN-Generalsekretär António Guterres vors Mikrofon. Sein Thema: der Zustand der Erde: "Um es einfach auszudrücken: Der Planet ist kaputt. Liebe Freunde, die Menschheit führt einen Krieg gegen die Natur. Das ist Selbstmord. Die Natur schlägt immer zurück, und sie tut es bereits mit wachsender Kraft und Wut." Die Menschheit sei mit einer verheerenden Pandemie konfrontiert, mit neuen globalen Hitze-Rekorden und ökologischem Zerfall, bilanziert Guterres. "Die Artenvielfalt kollabiert. Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Die Ökosysteme verschwinden vor unseren Augen. Dies ist ein Moment der Wahrheit für die Menschen und den Planeten gleichermaßen. COVID und das Klima haben uns an einen Wendepunkt gebracht. Wir können nicht zur alten Normalität der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und rücksichtslosen Herrschaft über die Erde zurückkehren", sagt der Politiker. Engere Begegnungen mit Fledermäusen und Raben Während sich die ganze Welt um die Bekämpfung der Coronakrise kümmert, um angeschlagene Volkswirtschaften, um das Impfen und Testen, formuliert Guterres unmissverständlich, worauf auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren hinweisen: Dass es enge Zusammenhänge gibt zwischen dem voranschreitenden Klimawandel, der exzessiven Tiernutzung und einem dadurch stark erhöhten Pandemierisiko. "Ich denke, Guterres hat absolut Recht. Was er im Grunde sagt, ist, dass wir immer häufiger mit verschiedenen Wildtierarten in Kontakt kommen, weil wir die Ökosysteme um uns herum dramatisch verändert haben. Vor allem mit Fledermäusen und Raben haben wir viel engere Begegnungen, und diese Tiere tragen eine Reihe von Viren in sich, die wir noch nie zuvor gesehen haben. Sie können von einer Fledermaus auf eine menschliche Population überspringen. Wir haben es bei SARS, MERS, bei Influenzaviren und gerade jetzt beim Kampf gegen Covid-19 gesehen", sagt Dennis Carroll. Frisch auf den Tisch: Fledermäuse werden in Luang Parabang auch für den Verzehr gehandelt (imago / Robert Harding) Der Virologe aus den USA forscht zu Viren, die für Menschen potentiell schädlich sein können. Während seiner Arbeit bei der amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID befasste er sich auch mit Pandemievorsorge. Inzwischen sitzt er dem Global Virome Project vor, einer Organisation, die sich der Erforschung noch verborgener Viren verschrieben hat, die dem Menschen gefährlich werden können. Ebola, Zika, SARS, MERS: Zoonosen-Gefahr steigt Eine große Gefahr sind Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die von Bakterien, Parasiten, Pilzen oder – wie bei Corona – von Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können. Erst diese Woche bestätigte die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass der Corona-Erreger aller Wahrscheinlichkeit nach von Tieren auf Menschen übergesprungen ist. UNEP-Studie zu Zoonosen - Gefahr von Infektionskrankheiten aus der Tierwelt nimmt zuEbola, SARS, Zika und vermutlich Corona: Mehr als die Hälfte der Infektionskrankheiten wird vom Tier auf den Menschen übertragen. Die UN warnt: Solche Infektionskrankheiten können weiter zunehmen. "Das Potenzial, dass ein neuartiges Virus, das in einem Wildtier zirkuliert, auf menschliche Populationen übergreift, nimmt im 21. Jahrhundert stetig zu", sagt Carroll. "Wir haben gesehen, dass Krankheiten wie zum Beispiel Covid-19, Ebola oder Zika, aufgrund des zunehmenden Bevölkerungsdrucks und der zunehmenden Störung des Ökosystems immer häufiger und mit größerer Intensität auftreten. Covid-19, so schrecklich es auch ist, bleibt, wenn Sie so wollen, ein Warnschuss, denn es gibt weitaus gefährlichere Viren, die in der Tierwelt zirkulieren als das Covid-19-Virus." Besonders das starke Bevölkerungswachstum um derzeit gut 80 Millionen Menschen jährlich trage dazu bei, dass die Übersprungs-Risiken von Viren steigen, so Carroll. Menschen dringen immer weiter in die Lebensräume von Tieren vor, sei es, um für sich selbst neue Lebensräume zu schaffen oder die Flächen zum Anbau von Nahrungsmitteln zu nutzen. Laut jüngstem Bericht der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, sind seit 1990 weltweit schätzungsweise 420 Millionen Hektar Waldfläche verloren gegangen – eine Fläche fast zwölf Mal so groß wie Deutschland. Den Umgang mit Natur und Tier ändern "Bedrohungen durch Viren und die zunehmende Gefahr durch den Klimawandel hängen beide sehr eng zusammen. Und beide Entwicklungen sind ein Spiegelbild unserer, wenn man so will, rücksichtslosen und unbedachten Art, wie wir auf die Ökosysteme um uns herum einwirken", so Carroll. Viruskrankheiten wie Corona könnten zwar nie gänzlich verhindert werden, sagt er. Würden die Menschen aber ihren Umgang mit Natur und Tieren ändern, ließe sich das Risiko senken. Ähnlich sehen das die Vereinten Nationen. In der tagesaktuellen Politik spielen solche Grundsatzfragen und eine tiefergehende Ursachenforschung eine geringe Rolle. Weltweit stecken die Staaten noch voll in der Pandemiebekämpfung. "Ich verstehe das auch in Teilen, natürlich wollen wir geimpft werden, wir wollen Impftermine bekommen, wir wollen Tests haben und so weiter. Und da schlägt einfach die schiere Not der Bekämpfung eine weitergehende Debatte in der Tagesaktualität", sagt Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen und möglicher Kanzlerkandidat seiner Partei bei der Bundestagswahl im Herbst. Kaum restriktive Klima- und Umweltschutzvorgaben Habeck weiter: "Wir reden viel darüber, wie wir das Virus eindämmen, wir sollten uns auch ein bisschen Gedanken machen wo eigentlich die wirkliche Ursache dieser Krankheit und von vielen anderen Krankheiten liegt, und die liegt im Tierreich und seiner rücksichtslosen Ausbeutung." "Also, ich habe einen anderen Eindruck. Klar, jetzt steht Corona im Moment absolut im Fokus. Aber mein Eindruck ist, dass das doch so etwas wie ein Wachrütteln war, was wir mit Corona jetzt erlebt haben", kontert die zuständige Bundesumweltministerin Svenja Schulze, SPD. Innerhalb der Großen Koalition werde inzwischen mehr über Biodiversität gesprochen. "Ich sag mal, ein Konjunkturprogramm hat in der Bankenkrise noch ganz anders ausgesehen, als es heute aussieht und was wir heute für den Schutz der Umwelt, für den Klimaschutz in diesem Programm drin haben, das ist schon wirklich beachtlich." Naturschutz und Landwirtschaft - Mehr Geld für ökologischen UmbauUmweltschützer und konventionelle Landwirte stehen sich oft kritisch gegenüber: Die einen wünschen sich mehr Rücksicht auf die Natur, die anderen mehr Anerkennung für ihre gesellschaftliche Leistung. Besonders restriktive Klima- und Umweltschutzvorgaben finden sich im 130 Milliarden Euro schweren Corona-Konjunkturpaket der Großen Koalition, das Bundestag und Bundesrat vergangenen Sommer beschlossen hatten, allerdings kaum. Zwar gibt es Fördergeldzusagen wie die 700 Millionen Euro für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung. Insgesamt komme Klima- und Naturschutz aber "deutlich zu kurz", kritisierte etwa der Naturschutzbund Nabu und prangerte zum Beispiel fehlende Vorschriften für Renaturierungen an. Ähnlich äußerten sich Oppositionspolitiker und Wissenschaftlerinnen, die die Regierung in Klimafragen beraten. Treibhausgase, Trockenheit, Brände – Ursache: der Mensch Der Faktor Mensch als Ursache für Pandemien werde in der Gesellschaft noch immer nicht ausreichend wahrgenommen und thematisiert, sagt Professor Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle. Als Sachverständiger für Umweltfragen berät er auch die deutsche Bundesregierung. "Der Mensch ist letztlich die Ursache für die Probleme, die wir haben. (…) Der Mensch ist natürlich erst einmal im Klima-Kontext eine ganz wesentliche Ursache durch die Treibhausgase, die er emittiert, was zu entsprechenden Veränderungen führt und entsprechende Ursache ist für die Entstehung von Bränden zum Beispiel." Die Klimaschulden der Welt (Deutschlandradio / Andrea Kampmann) Kohlenstoffdioxid, also CO2, ist das am meisten freigesetzte Treibhausgas. 1990 wurden gut 22 Milliarden Tonnen davon emittiert. 2019 lagen die weltweiten CO2-Emissionen schon bei 36 Milliarden Tonnen, wie die Daten der Organisation "Global Carbon Project" zeigen. "Dann sehen wir zum Beispiel, dass durch die Klimakrise entsprechende Regionen der Welt austrocknen, es dann zu Feuern kommt und damit entsprechend ja die Bestände der Natur in ihrer Vielfalt reduziert werden", sagt Agrarbiologe Settele. "Und wenn wir diese Reduktion haben, haben wir Bedingungen, die es dann bestimmten Arten ermöglichen, sich gut auszubreiten. Und wenn es entsprechende Arten sind, die dann auch noch Viren beinhalten, die sich dann praktisch besser entwickeln können, dann haben wir erst einmal mehr Chancen für verschiedene Viren." Die im Zweifelsfall auch auf den Menschen übertragen werden können. Hinzu kommt: Die angegriffenen Ökosysteme seien dann nicht mehr widerstandsfähig genug, um solche Veränderungen abzufedern. Umweltforscher Settele spricht von einer "Triple-Krise" aus Klimawandel, Artensterben und Pandemien. Klimaproblem: Nutztierhaltung für Fleischkonsum Eine ganz entscheidende Ursache für diese "Dreifach-Krise" ist, da sind sich viele Expertinnen und Experten einig, der weltweit hohe Konsum tierlicher Produkte – vor allem von Fleisch. Haltung und Verarbeitung von Tieren machen laut UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation 14,5 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen aus. "Ja, aus meiner Sicht müssen wir aus der Nutztierhaltung aussteigen", sagt die Tierethikerin und Aktivistin Friederike Schmitz. "Das heißt, wir müssen die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern drastisch reduzieren und dann, wenn es nach mir ginge, beenden und entsprechend auch die Ernährungsgewohnheiten drastisch verändern. Und das hätte zur Folge, dass wir sehr viel weniger Land beanspruchen. (…) Also damit hätten wir weniger Risiko für Pandemien aufgrund von Naturzerstörung." Ein internationaler Ausstieg aus der Tierhaltung oder zumindest die drastische Verringerung der Bestände sei schwierig umzusetzen, weiß auch Schmitz. Aber es sei sowohl aus Umweltschutzgründen nötig als auch aus ethischen, sagt die Philosophin: "Ich würde sagen, es gibt innerhalb der Tierethik einen breiten Konsens dazu, dass die gegenwärtig übliche Nutztierhaltung nicht zu rechtfertigen ist. Und unterschiedliche Positionen gibt es dann dazu, wie weit sie sich ändern müsste beziehungsweise ob sie komplett aufhören müsste oder ob es eine Form der Nutztierhaltung gibt, die eben vertretbar ist. Also, und das hängt natürlich viel mit der Tötungsfrage zusammen: Ist es okay, Tiere zu töten, um sie zu essen?" So klimaschädlich sind Rind, Geflügel und Schwein (Deutschlandradio / Andrea Kampmann) Reformen in der Massentierhaltung tun not Der einflussreiche US-amerikanische Philosoph und Tierrechtler Tom Regan zum Beispiel sagt: Sofern Tiere empfindungsfähig sind, Wünsche und Interessen haben, sollen für sie ähnlich fundamentale Rechte gelten wie für Menschen, also vor allem das Recht auf Leben und Unversehrtheit. Es gebe keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen Tieren und Menschen, so Regan. Denn Vernunft, Sprache oder auch Moral, – Eigenschaften, die Tieren oft abgesprochen werden – die hätten auch nicht alle Menschen, und trotzdem besitzen sie fundamentale Rechte. Umweltforscher Josef Settele hat eine andere Position in der Frage, ob man Tiere essen darf: "Ich glaube, dass eine vegetarische und vegane Ernährungsweise sicher die konsequenteste Variante wäre, um in Sachen Klima und Schutz von Tieren und Umwelt voran zu kommen. Aber ich denke, dass es durchaus Fleisch sein kann. Also ich wäre eher für einen zurückhaltenden Konsum von Fleisch, der aber im Prinzip Richtung Qualität statt Quantität geht, (…) dass die Erzeugung unter Berücksichtigung von Tierwohl und entsprechender Tierhaltung erfolgt, idealerweise mit Freilandhaltung." Umbau der deutschen Nutztierhaltung - Der weite Weg zu mehr TierwohlWie erreicht man bessere Bedingungen für Nutztiere in Ställen? Welche Vorschläge werden gemacht? Kann ein nationaler Vorstoß das Problem lösen? Ein Überblick. Nun hat sich in den vergangenen Jahren in der deutschen Nutztierhaltung einiges getan: Seit 2021 ist die betäubungslose Kastration junger Schweine verboten; Ende des Jahres will die Bundesrepublik als erstes Land weltweit das Töten von jährlich 45 Millionen männlichen Küken untersagen; Die Regierung hat den Tierschutz auf der Agenda, betonte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner von der CDU vergangenen Sommer im Bundestag: "Der Großteil der Verbraucher sagt: Wir wollen besseres Fleisch mit mehr Tierwohl. Diese Forderung, sehr geehrtes Parlament, unterstütze ich, und wahrscheinlich alle hier in diesem Haus. Es geht um Respekt den Tieren gegenüber aber auch den Tierhaltern, statt ihnen, wie es in Mode gekommen ist, pauschal immer das Schlimmste zu unterstellen." Nutztiere ohne genügend Platz und weiterhin oft krank An den Grundproblemen der Massentierhaltung ändere sich dennoch nichts, kritisiert Tierethikerin Friederike Schmitz, die auch im Bündnis "Gemeinsam gegen die Tierindustrie" aktiv ist. "Ich denke, dass die Tierschutzverbesserungen, die auch immer so groß dargestellt werden vom Agrarministerium und von Julia Klöckner, dass die den Tieren praktisch total wenig bringen. Die Grundsituation ihres Lebens ändert sich nicht; also dass die Tiere auf bestimmte Leistungen gezüchtet sind, dass sie unter höchst beengten Bedingungen gehalten werden, dass viele von ihnen krank werden, dass sie eigentlich nichts Positives in ihrem Leben erleben oder machen können, dass sie nach einem kurzen Leben brutal getötet werden." Ungenügend seien deshalb auch die Empfehlungen der sogenannten Borchert-Kommission. Die hatte vergangenes Jahr im Auftrag der Bundesregierung ein Konzept für eine zukunftsfähige, umweltschonende und tiergerechte Landwirtschaft vorgestellt. Unter anderem, so die Empfehlung, sollen Ställe umgebaut und eine Tierwohl-Abgabe eingeführt werden, die Fleisch und Wurst verteuern soll. Viele Tierschutzverbände begrüßten die Vorschläge. Bundesumweltministerin Svenja Schulze drängt seither Kabinetts-Kollegin Julia Klöckner dazu, die Vorschläge umzusetzen. Auch der Grüne Robert Habeck ist grundsätzlich dafür: "Das ist ein Schritt zu einer artgerechteren Tierhaltung. Natürlich ist es immer noch eine Tierhaltung und wenn man sagt, artgerecht ist nur die Freiheit und man will keine Tierhaltung haben, dann kann man das nur ablehnen, aber das ist nicht meine Position." Über 2 Millionen Tiere werden täglich in Deutschland geschlachtet (Deutschlandradio / Andrea Kampmann) Lieferkettengesetz soll auch Natur und Wälder schützen Allerdings, das sagt auch Robert Habeck, führen die Borchert-Empfehlungen nicht zu kleineren Ställen und Betrieben, die jedoch nötig seien, um etwa Krankheitsausbrüche zu verhindern. Auch wenn Teile der Politik inzwischen wichtige Problemfelder erkannt haben, die den Klimawandel beschleunigen und für einen schlechten Umgang mit Tieren stehen - Was kann und muss die Politik jetzt konkret tun, um diese Entwicklungen zu stoppen? Und wie könnte in Zukunft ein anderer Umgang mit Umwelt und Tieren aussehen, der das Risiko von Pandemien wie Corona senkt und die Gesundheit von Menschen schützt? Bundesumweltministerin Svenja Schulze verweist neben dem Weltbiodiversitätsrat, in dem sich Deutschland engagiert, auch auf das kürzlich vom Kabinett beschlossene Lieferkettengesetz. Ab 2023 soll es Menschenrechte und auch die Natur schützen. Entwaldungsfreie Lieferketten, also solche, die ohne die Abholzung von Wäldern auskommen, seien ein wichtiger Beitrag, um Wildnis und Ökosystem zu erhalten, sagt Schulze. Und: "Wir sind im Wildtierhandel, was ja wahrscheinlich einer der wesentlichen Auslöser auch von solchen Zoonosen, also so ein Überspringen von Tieren auf Menschen ist, das haben wir auch sehr stark zurückgedrängt." Milliardengeschäft Wildtierhandel Ein Lieferkettengesetz als Mittel gegen Umweltzerstörung hält Robert Habeck für sinnvoll. Allerdings konzentriere sich das von der Bundesregierung beschlossene Gesetz auf die Menschenrechte, der ökologische Bereich fehle weitgehend. Wildtierhandel - Gefahren für Mensch und TierDer Handel mit wilden Tieren ist ein Milliardengeschäft. Exoten werden als Haustiere gehalten, als Lebensmittel verzehrt oder für Medikamente genutzt. Dieser oft illegale Handel gefährdet Artenvielfalt - und den Menschen, wie die Corona-Pandemie zeigt. Auch Habeck fordert, dass die internationale Staatengemeinschaft vor allem den illegalen Wildtierhandel unterbinden müsse. Laut Deutschem Tierschutzbund ist er nach Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel das lukrativste Milliardengeschäft. Und, sagt Habeck, auch an Wirtschaftsverträge könnte man ran: "Wir sprachen über das Lieferkettengesetz aber auch die Freihandelsverträge, die dauernd geschlossen werden, könnten ja auch ökologische Standards als Eingangskriterium definieren. Im Moment sind diese ökologischen Standards immer Begrenzungen, also Handelshemmnisse, so wird es gesehen in diesen Handelsabkommen. (…) Das ist nicht abstrakt, sondern das sind konkrete Gesetze in konkreten Verträgen und setzen nur entschiedenen politischen Willen voraus." Artikel 20a Grundgesetz: Lebensgrundlagen und Tiere schützen Und schließlich gibt es auch noch juristische Möglichkeiten, den Umwelt- und Tierschutz durchzusetzen. Die Rechtswissenschaftlerin Charlotte Blattner von der Universität Bern erklärt mit Blick auf Deutschland: "Artikel 20a des Grundgesetzes sagt, dass der Staat eben auch in Verantwortung für die künftigen Generationen, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung schützt." Dieser Verfassungsgrundsatz sollte zu einer strengeren Abwägung zwischen menschlichen Interessen und den Interessen von Tieren und Umwelt führen. Passiert sei das seit der Einführung des Artikels 1994 aber kaum, so Blattner. Die Juristin, die sich auf Völker- und Tierrecht spezialisiert hat, plädiert deshalb dafür, Tieren Grundrechte zu geben, analog zu denen der Menschen. Das würde den Status quo, wie wir ihn heute kennen, absolut umkrempeln, sagt Blattner. Bisher gibt es international dafür nur vereinzelte Bestrebungen. Im schweizerischen Kanton Basel-Stadt etwa kann die Bevölkerung bald über Grundrechte für Primaten abstimmen. Idee der Zoopolis: Tiere als Staatsbürger Ebenfalls reine Theorie ist bisher ein Konzept, das die Grundrechts-Idee als Ausgangspunkt nimmt für eine neue und gerechtere Form des Zusammenlebens zwischen Menschen und Tieren. In ihrem Buch "Zoopolis" entwerfen die Philosophen Will Kymlicka und Sue Donaldson eine Gesellschaft, in der Haustiere als Staatsbürger anerkannt werden. Blattner: "Sie haben Recht, geschützt zu werden, versorgt zu werden und aber auch bei der Gestaltung des Gemeinwohls mit berücksichtigt zu werden. Bei Wildtieren, sagen sie, ist es etwas anders. Wildtiere kann sich selbst organisieren und bilden eine eigene Gemeinschaft. (…) Und hier gilt quasi das Völkerrecht zwischen Mensch und Tier. Wir müssen diese Souveränität respektieren." Ein solches Konzept wäre derzeit politisch nicht durchsetzbar. Doch eine grundsätzliche Veränderung, hin zu einer gerechteren Form des Zusammenlebens, in der Menschen Abstriche machen müssen, um die Umwelt besser zu schützen, halten immer mehr Expertinnen und Experten für unausweichlich. Zumindest dann, wenn wir uns vor weiteren Pandemien schützen wollen. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Von Laura Eßlinger
Voranschreitender Klimawandel, exzessive Tiernutzung und ein dadurch stark erhöhtes Pandemierisiko: Dieser Zusammenhang spielt bei der Coronabekämpfung in der Politik kaum eine Rolle. Doch das müsste er, sagen Wissenschaftler - auch, um weitere Pandemien zu verhindern.
"2021-03-30T18:40:00+02:00"
"2021-03-31T12:24:46.169000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klima-tiere-zoonosen-welche-verantwortung-der-mensch-fuer-100.html
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Neuer Ärger droht - diesmal aus Brüssel
Neue Vorwürfe gegen VW: Hat der Konzern EU-Gelder für Fremdzwecke missbraucht? (RONNY HARTMANN / AFP) Volkswagen könnte neuer Ärger aus Brüssel drohen. Die Anti-Korruptionsbehörde der EU, OLAF, hat im November Ermittlungen gegen VW aufgenommen. Es geht um die Frage, ob der Konzern EU-Gelder oder Kredite der Europäischen Investitionsbank, EIB zweckentfremdet verwendet hat. Die Ermittlungen stehen im Zusammenhang mit dem Betrugsskandal bei VW, bei dem Abgaswerte von Fahrzeugen manipuliert wurden. OLAF-Chef Giovanni Kessler: "Wir haben diese Geschichte um die manipulierten Abgaswerte genau verfolgt. Wir wissen, dass VW EU-Gelder bekommen hat und wir überprüfen, ob es möglicherweise Zusammenhänge gibt, zwischen EIB-Krediten und den besagten manipulierten Maschinen." Umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die EIB Die EIB hat dem Wolfsburger Konzern seit 1990 über 4,5 Milliarden Euro an zinsgünstigen Krediten mit langen Laufzeiten gewehrt. Bei der EIB heißt es, dass diese Kredite sind entsprechend der Förderkriterien der Bank vergeben wurden. Sie unterstützt die Wirtschaft hauptsächlich in vier Feldern: Innovation und Forschung, strategische Infrastruktur, Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen und bis zu ein Drittel der zu vergebenden Kredite gehen in den Klimaschutz – als die Entwicklung erneuerbarer Energien beispielsweise oder eben auch umweltfreundlicher Motoren. Sollte VW diese Gelder oder Teile dieser Gelder verwendet haben, um die Manipulationen an den Dieselmotoren durchzuführen, die zur Messung vermeintlich niedriger Abgaswerte geführt haben, wäre das ein klarer Missbrauch von EU-Geldern. "Sollten wir herausfinden, dass es einen Betrug im Zusammenhang mit der Verwendung von EU-Geldern oder Krediten der EIB gegeben hat, dann werden wir den entsprechenden europäischen Institutionen empfehlen, das für den Betrug eingesetzte Geld von Volkswagen zurückzuverlangen." Mögliche juristische Konsequenzen Was die von der EIB die gewährten günstigen Kredite angeht, hat Volkswagen allerdings rund 2,8 Milliarden Euro zurückgezahlt. Würde sich der Betrugsverdacht erhärten, wäre dieses Geld davon nicht betroffen. Sehr wohl aber jene rund 1,8 Milliarden, deren Rückzahlung noch aussteht. Zudem könnte es juristische Konsequenzen für VW geben, sagt OLAF-Chef Kessler. "Sollten unsere Ermittlungen ergeben, dass es tatsächlich Betrug gegeben hat, dann würde OLAF eine juristische Empfehlung an die deutsche Justiz verfassen und würde die deutsche Staatsanwaltschaft auffordern, ein Verfahren gegen VW in Gang zu setzen, wegen Betrugs an den finanziellen Interessen der EU." OLAFs Ermittlungen dauern im Schnitt 20 Monate, man glaubt aber bei der Antikorruptionsbehörde, dass es in diesem Falle deutlich schneller gehen könnte, weil man auf nationale Erkenntnisse in der Causa VW zurückgreifen zu können hofft.
Von Annette Riedel
In der VW-Affäre um Abgas-Manipulationen ist auch drei Monate nach Bekanntwerden keine Ruhe in Sicht. Nun bekommt VW auch noch Ärger mit der Anti-Korruptions-Behörde OLAF (Office Européen de Lutte Anti-Fraude). Es geht um EU-Förderkredite für Forschung und Entwicklung, die möglicherweise zweckentfremdet wurden.
"2015-12-16T17:05:00+01:00"
"2020-01-30T13:14:37.671000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vw-abgas-skandal-neuer-aerger-droht-diesmal-aus-bruessel-100.html
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Vukovar ist eine geteilte Stadt
"Wir hier in Vukovar haben keine Wahl: Wenn wir überleben möchten, müssen wir uns ändern."Liljana Gehrecke meint es ernst mit Vukovar. Trotzdem lächelt die vornehme alte Dame, wenn sie über ihre Heimatstadt spricht. Über die unsichtbaren Grenzen, die in den Straßen, Geschäften und Schulen, vor allem aber in den Köpfen verlaufen. Über das Feindbild, das je nach ethnischer Zugehörigkeit "Serbe" oder "Kroate" heißt."Anstatt mit Waffen führt man jetzt den Kampf mit Worten, mit nonverbaler Kommunikation. Wenn die Blicke töten könnten, gäbe es in Vukovar jeden Tag viele Tote."Vor dem Krieg lebten in dem hübschen Barockstädtchen 27 Ethnien friedlich miteinander, überwiegend Serben und Kroaten, aber auch Ungarn, Donauschwaben und viele andere. Doch davon ist nichts mehr da: Zwischen den einfachen Neubauten gibt es noch ein paar zerschossene Ruinen, aus denen Bäume wachsen. Und ethnische Minderheiten, die nicht mehr miteinander sprechen. "Also wir haben nicht nur getrennte Schulen und Kindergärten, sondern auch getrennte Kaffeehäuser, ziemlich getrennte Kaufläden, Betriebe. Die Industrie, die vor dem Krieg sehr entwickelt war in Vukovar, ist völlig zerstört. Es gibt nur einige Baubetriebe, die etwas tun, und die sind geteilt in Serbisch und Kroatisch."Seit elf Jahren betreibt Liljana Gehrecke mit ihrer Organisation "Europahaus Vukovar" Versöhnungsarbeit. Über die Jahre sind immer mehr Bürger gekommen, aber es kommen auch immer noch viele nicht. Das Trauma des Krieges sitzt tief.1991, in den Monaten der Belagerung durch serbische Milizen und die jugoslawische Armee wurde Vukovar dem Erdboden gleichgemacht. 4000 Menschen starben, 260 allein bei einem Massaker, kurz nachdem die Stadt gefallen war, am 19. November 91. Dann war die gesamte Region bis 1998 serbisch besetzt. Hinter einer zerschossenen Fassade: das kleine Tourismusbüro von Vukovar. Viel Sehenswertes gibt es nicht mehr. Auf dem Stadtplan sind ausschließlich Gedenkstätten der Schlacht eingetragen: der Keller des Stadtkrankenhauses, wo die Verletzten versorgt wurden, die alte Lagerhalle im Nachbardorf Ovcara, wo die Verschleppten festgehalten wurden, das Denkmal auf einem Acker, wo sie schließlich sterben mussten. Schauplätze des Grauens."Vukovar zählt in ganz Kroatien als Symbol: des Leidens, der Zerstörung, der serbischen Aggression, der Unmenschlichkeit. Ich glaube, dieses Image möchte man auch irgendwie aufrechterhalten."Ostkroatien ist immer noch eine Nachkriegsgesellschaft, sagt Suzanna Agotic, die im nahe gelegenen Osijek für die Nicht-Regierungs-Organisation "Nansen Institut" arbeitet. Die Friedensbewegung stecke noch in den Kinderschuhen, und leider könnten Politiker in einer Kleinstadt wie Vukovar bei Wahlen immer noch mit der Täter-Opfer-Karte punkten. Deshalb, glaubt Suzanna Agotic, halte die Politik auch an einem Re-Integrierungsprogramm für die serbische Minderheit in Ostkroatien fest, obwohl es bereits seit Jahren nach hinten losgeht: Unter anderem wurde der Bevölkerung das Recht auf eigene Schulbildung zugesichert. Seither gehen serbische und kroatische Kinder in getrennte Kindergärten und Schulklassen. In der Praxis, sagt Suzanna Agotic, sieht das so aus: ein Gebäude, ein Haupteingang, aber zwei Eingangstüren. Der Hass auf die anderen ist bei den Kindern von Vukovar ausgeprägter als bei ihren Eltern, das belegt eine Studie der Universität Zagreb. Suzanna Agotic kämpft mit ihrem Institut seit Jahren gegen diese Entwicklung an, indem sie versucht, gemeinsamen Unterricht an den Schulen zu etablieren. Es gibt Zeichen der Hoffnung: freiwillige Bastel- und Computerstunden, an denen serbische und kroatische Schüler teilnehmen – in einem Raum! Eltern, die ihre Kinder eigentlich lieber auf eine gemeinsame Schule schicken würden. Vor zwei Jahren wurde der nationalkonservative Bürgermeister abgewählt. Und seit einem Jahr fährt sogar wieder eine Fähre über die Donau auf die serbische Seite. "Wir geben nicht auf", sagt Suzanna Agotic. "Das ist die wichtigste Botschaft: Wir geben nicht auf!"
Von Marietta Schwarz
Nachdem Kroatien 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, belagerten serbische Milizen die Grenzstadt Vukovar. Mehrere Monate lang waren die Bürger von der Versorgung abgeschnitten, die Stadt wurde fast vollständig zerstört und Tausende Bewohner starben. Bis heute sind die Wunden der Vergangenheit nicht verheilt.
"2011-11-18T09:10:00+01:00"
"2020-02-04T01:50:04.078000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vukovar-ist-eine-geteilte-stadt-100.html
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In einem Land, das es nicht gibt
Der Präsidenten-Palast in Stepanakert, der Hauptstadt der selbsternannten "Republik Berg-Karabach" (Deutschlandfunk / Sven Töniges) "Oh, du geliebtes Heimatland", singen die Männer. "Oh, Ihr meine hohen Gipfel". Die geliebten hohen Gipfel: Das sind die Zweieinhalbtausender des Südkaukasus, die geliebte Heimat: Das ist Berg-Karabach. Rund 50 Männer sind an diesem Abend in die Stadt Shuschi gekommen, die allermeisten tragen Tarnfleck. Sie wollen ihre Heimat besingen - und ihre gefallenen Kameraden, mit denen sie gekämpft haben vor mehr als 20 Jahren. Der Besucher aus Deutschland wird etwas bestaunt. Nicht allzu oft kommen Touristen vorbei in ihrem schönen Land und in ihrem schönen Staat - den es eigentlich gar nicht gibt. Aber der Reihe nach. Kommen Sie nach Berg-Karabach, hatte mir Herr Khachian gesagt auf der Tourismusmesse in Berlin. Einfach, weil es wunderschön dort ist, hatte er gesagt. So ähnlich wie in der Schweiz. "Karabach – Ein versteckter Schatz", und: "Ein unentdeckter Schatz", stand auf den Prospekten, die mir Herr Khachian in die Hand drückte. Berg-Karabach, oder: Nagorny-Karabach. Da ist ein leises Echo irgendwo aus den Nachrichten der frühen 90er-Jahre; irgendwas mit Kaukasus kommt einem da in den Sinn. Irgendwas mit der kollabierenden Sowjetunion. Einer dieser sowjetischen Nachfolgekriege, für die sich Europa bald nicht mehr interessierte. Wie in der Schweiz also soll es dort sein, in Berg-Karabach. Ein paar Wochen später überreicht mir der nette Beamte ein Visum der Republik Nagorny-Karabach. Rund fünf Stunden hatte das Sammeltaxi von Eriwan gebraucht über den mächtigen Worotan-Gebirgspass nahe der Grenze zum Iran. Ein unscheinbares Gebäude offenbart sich als Grenzstation. Eine große Schautafel heißt die Besucher willkommen: Republik Berg-Karabach, steht da. 140.000 Einwohner, zu 98 Prozent Armenier, Territorium: 12.000 Quadratkilometer. Dieser Staat existiert nicht Was hier nicht steht: Dieser Staat existiert nicht. Nicht nach Ansicht der Vereinten Nationen oder dem Europarat. Völkerrechtlich befinden wir uns in Aserbaidschan. Kein einziger Staat der Welt hat die Republik Berg-Karabach anerkannt - nicht einmal der große Bruder: Armenien. Dabei hatte Armenien zwischen 1992 und 1994 mit Aserbaidschan einen blutigen Krieg um die damalige Exklave Karabach geführt. Die Armenier siegten. Und doch traut sich Jerewan bis heute nicht, die Karabach-Republik anzuerkennen - geschweige denn sich einzuverleiben. Im gleichen Moment würde der Krieg wieder ausbrechen. Das Taxi schraubt sich ein enges, satt grünes Tal hinauf. Die Straße ist gut ausgebaut. Der Asphalt ist frischer, die Leitplanken sind neuer als eben noch auf der armenischen Nationalstraße. Oben wartet Bergpanorama. Sanft geschwungene Kämme, dahinter felsige Gipfel. Die Schweiz? Kommt schon hin. Bergkarabach oder Nagorny-Kara-Bach: Das bedeutet wörtlich: der bergige schwarze Garten. Aus drei Sprachen speist sich der Name: Russisch, Türkisch und Persisch. Ein erster Hinweis darauf, dass diese Gegend stets Zankapfel der Großmächte war - und ist. Was denn das für lange Metallseile seien, die da immer wieder über das Tal gespannt sind? Seilbahnen?, frage ich meinen Sitznachbarn. Nein, sagt er, das ist zur Abwehr von Hubschraubern. Dann ein Ortsschild: "Stepanakert". Hauptstadt der Republik Bergkarabach. Perfektes sowjetisches Kleinstadt-Idyll Gepflegte neoklassizistische Straßenlaternen aus der Sowjetzeit werfen ihr Licht auf besenreine Straßen; ein Väterchen mit Schirmmütze zieht akkurat einen Zebrastreifen nach. Uniformierte mit breiten Tellermützen schlendern rauchend die Straße entlang. Hie und da rollt ein Wolga oder ein Lada vorbei. Perfektes sowjetisches Kleinstadt-Idyll. Auch nebenan auf der "Allee der Liebenden", einer etwas zu großzügig geratenen Freitreppe. Hier stehen Artak Grigorian und seine Frau Gayane. Das Paar erwartet in drei Wochen die Geburt ihres ersten Kindes, erzählen sie. Sie sei sehr aufgeregt, sagt die 21-jährige Gayane. Sorgen, dass ihr Kind in einem Land aufwächst, das sich de jure im Kriegszustand befindet, habe sie nicht. "Nein, natürlich nicht. Mag sein, dass man in Europa Bergkarabach mit Konflikt- und Krisengebiet gleichsetzt. Wir leben hier in unserer Heimat. Und wir leben in Frieden hier. Wir hoffen, dass unsere Kinder auch in Frieden leben werden." Dass das so bleibt, dafür sorgt eine Armee mit geschätzten 30.000 Soldaten - und das bei gerade einmal 100.000 Einwohnern - eine wiederum geschätzte Zahl. Die real existierende Armee ist die größte Rückversicherung des Operetten-Staates Berg-Karabach. Alle anderen Institutionen haben nicht allzu viel zu melden: Nicht der international nicht anerkannte Präsident in seiner großen Residenz in Stadtzentrum, nicht das international nicht anerkannte Parlament im üppigen Neubau gegenüber. Wahrlich präsidial ist indes auch das Büro von Sergey Shahverdiyan. Der Chef der Behörde für Tourismus und Erhaltung der historischen Umwelt der Republik Berg-Karabach hat mich geladen, um mir zu erklären, warum die Zukunft seines Landes im Tourismus liege. Vier Telefone stehen auf dem tiefen Schreibtisch. Sergey Shahverdiyan hat Großes vor. Er will den Tourismus zur Schlüsselindustrie seines Landes ausbauen, zum Hauptdevisenbringer. Ob das nicht etwas zu ehrgeizig sei, in einer Region, die wenn überhaupt nur als Krisengebiet bekannt ist? Nein, sagt Herr Schahverdiyan, seit 1995 hole er jetzt schon Touristen ins Land. Noch sei nie jemand verletzt worden. "Berg-Karabach, das ist für Besucher sicherer als Berlin!" 4.000 Jahre Geschichte hat Herr Khachian in Berlin versprochen. Reiseführer Narek präsentiert nun eine der archäologischen Perlen von Berg-Karabach: die Ausgrabungen von Tigranakert rund eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Stepanakert entfernt. Die archäologische Stätte liegt am Fuße eines Bergrückens. Ab hier erstreckt sich nur flaches Land, Steppe. Diese Stadt wurde vom armenischen König Tigran dem Großen gebaut, erzählt Reiseführer Narek. Tigran regierte von 95 bis 55 vor Christus. Die Bedeutung Tigrans, sagt Narek, könne nicht hoch genug geschätzt werden. Es sei der wichtigste Herrscher der armenischen Geschichte gewesen. Vom Mittelmeer bis zur kaspischen See erstreckte sich sein Reich. Armenien von Meer zu Meer, wurde es genannt. Zu Sowjetzeiten, als das Gebiet zur aserbaidschanischen Sowjetrepublik gehörte, sei hier ein vermüllter Rastplatz gewesen. Nun steht, soeben fertiggestellt, eine aufwendig rekonstruierte Festung aus dem 17. Jahrhundert. Darin ein kleines Museum. Die ausgestellten Artefakte und die Schautafeln sollen belegen: Das hier ist armenisches Land. Seit 2.000 Jahren. Agdam einst eine aserbaidschanische Stadt Durch die Schießscharten des Mauerwerks eröffnet sich ein weiter Blick hinein in die Tiefebene. Wenige hundert Metern entfernt zeichnen sich Mauerreste ab. Grundmauern von Häusern sind zu erkennen, bei genauerem Hinsehen reichen sie bis zum Horizont? Noch eine antike Ausgrabungsstätte also? Durch das Tele der Kamera erkenne ich die Gerippe mehrerer Plattenbauten, die Silhouette zweier Türme, vielleicht Schornsteine; und rundherum die Ruinen über Ruinen. Hier muss einmal eine Großstadt gewesen sein. "Das ist militärisches Speergebiet", sagt Narek schmal-lippig und drängt zur Weiterfahrt. Was da im Hintergrund liegt ist Agdam, einst eine mittlere aserbaidschanische Großstadt, die 1993 von den Armeniern gebrandschatzt wurde. Eine Autostunde später und drei Vegetationszonen höher. Ringsum falten sich dicht bewaldete Berge auf. Wie ein Tapete im Hintergrund: die firnbedeckten Dreitausender-Gipfel des Kleinen Kaukasus. Reiseführer Narek steht vor dem Kloster Gandzasar. 1216 gegründet als geistliches Zentrum des Fürstentums von Khachen. Heute residiert der Erzbischof von Nagorny-Karabach hier. Dicke Mauern schützen die Klosteranlage. Über Jahrhunderte musste der Bau dem ständigen Hin-und-Her zwischen muslimischen und christlichen Eroberern im Südkaukasus trutzen. Der Kirchenbau ist eine mustergültige armenische Kirche mit einem polygonen, mittigen Turm. Es sei einer der wichtigsten armenischen Sakralbauten des Mittelalters, erklärt Narek. Nun kämen jeden Sonntag um Elf die Gläubigen aus Berg-Karabach hierher, um zu beten. Für die Republik Berg-Karabach ist es ein geradezu mythischer Ort, erklärt Narek. Ein breitschultriger Mann in tarnfarbener Uniform und mit gewaltigem Schnauzbart eilt herbei. Auf seiner Brust glänzen anderthalb Dutzend Orden. "Stendal!", ruft er und zeigt eine verblasste, diffuse Tätowierung auf dem rechten Unterarm. Als junger Soldat sei er in Deutschland, in Stendal, stationiert gewesen. Dann zieht er einen Ausweis hervor. Die Mitgliedskarte der Union der Veteranen des Karabach-Krieges. Aragat Mkrtchyan steht da. Aber alle nennen ihn nur bei seinem Kampfnamen: Bondo. Dass er heute mit einigen Kameraden auf dem Klosterberg sei, das habe Tradition, erklärt Bondo. "Wir haben dieses Kloster verteidigt. Sie haben es immer wieder bombardiert. Die Aserbaidschaner griffen mit Suchoi-25-Kampfjets an. Gerade einmal eine Bombe traf, eine 500 Kilobombe, sie fiel auf das Haus da drüben. Aber: Sie explodierte nicht. Es ist ein Wunder. Wir waren nur ein paar Mann, auch der Priester hat mitgekämpft." Reichlich Wodka und Tränen Und heute Abend wollen Sie feiern, sagt Bondo. Veteranen des Karabach-Kriegs, Freiheitskämpfer, wie sie sich nennen, von überall her kommen sie heute Abend nach Shushi. Auf den Tag genau vor 23 Jahren hätten sie die Stadt von den Aserbaidschanern erobert. "Befreit", im hiesigen Sprachgebrauch. Deswegen wird heute ein Lamm geschlachtet. Dafür haben sie sich gerade im Kloster Gandzazar den Segen abgeholt. Ich bin eingeladen. Heute Abend in Shushi. "Wach auf und sattel' dein weißes Pferd, ruf deine Kämpfer. Und rette dein schönes Heimatland." Reichlich Wodka und Tränen fließen im Festsaal eines Hotels in Shushi. Rund 50 Veteranen, fast alle in Tarnfleck, sind gekommen. Das Lamm ist geschlachtet, alles was das Tier hergibt ist auf den Tisch gewandert; dazu reichlich Lavash, das dünne armenische Fladenbrot, Gurken, Tomaten und herber Ziegenkäse. Alles wird mit Wodka heruntergespült. General Varsham Gorian, Chef des Veteranen-Verbands, erhebt sein Glas. "Uns allen ein glückliches Festmahl! Ehre sei unseren Kameraden. Ihr Blut war der Preis dafür, dass wir hier heute friedlich zusammensitzen dürfen. Zum Wohle! Glückwunsch. Auf den Frieden." "Diese Männer hier haben an der Befreiung von Shushi teilgenommen. Shushi ist das Zentrum der armenischen Kultur. Armenien ist ein von Gott gemachter Himmel - und Shushi ist ein strahlender Stern darin. Unser Alphabet, das armenische Alphabet ist das Taschentuch Gottes. Noahs Arche ist auf dem Berg Ararat gestrandet, auf dem wichtigsten Symbol der armenischen Nation. Also hat die Geschichte mit dem armenischen Volk begonnen." Shushi, oder Shusha, wie die Stadt auf Aserbaidschanisch heißt: In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1992 erklommen armenische Einheiten die Felsen um die 1.500 Meter hochgelegene Feste und überwältigten die aserbaidschanischen Truppen. Ein Wendepunkt des Krieges. Der nächste Toast wird ausgebracht. Es gibt sehr gute Neuigkeiten, ruft einer der Veteranen. Der US-Bundesstaat Kalifornien habe Berg-Karabach als unabhängiges Land anerkannt! Draußen vor der Tür ruht Shushi. Strahlender Stern im armenischen Himmel, so hatte der General die Stadt genannt. Strahlend: nicht der erste Begriff, der einem unterhalb des Hotels in den Sinn kommt. Graubraun die Häuser zu beiden Seiten der menschenleeren Straße. Bis auf das verblasste Rosa des einstigen Sowjetkinos. Dahinter, wie Ausrufezeichen, die Minarette einer in Trümmern liegenden Moschee. Historisches Zentrum Als Jerusalem des Kaukasus gilt Shusha beziehungsweise Shushi. Historisches Zentrum der aserbaidschanischen Kultur - und der armenischen. Hier konnte er lange besichtigt werden: der Kaukasus als Berg der Völker, als Nahtstelle zwischen Nord und Süd, Ost und West, Christentum und Islam. Doch immer wieder wurde die Stadt zerstört, wurde mal der armenische und mal der aserbaidschanische Teil der Bevölkerung vertrieben oder gar massakriert. Nun, seit dem letzten Krieg. Ist Shushi - so wie ganz - Berg-Karabach rein armenisch. Ethnisch bereinigt, wenn man dieses Wort benutzen möchte. "Oh, du geliebtes Heimatland, oh, Ihr meine hohen Gipfel", singen die Männer drinnen im Hotel Und doch schauen die meisten mit nachdenklichem, vor allem aber müdem Blick auf das Geschehen. "Heute Abend wollen wir nur an die schönen Dinge denken." Das sagt mir ein Veteran in Panzergrenadier-Uniform. Auf dem Weg zurück ins Hotel nach Stepanakert. Gleich am Ortseingang ist ein Banner gespannt. Auf Russisch und auf Englisch ist es beschrieben, mehrsprachig, wie in der Schweiz: "Wir glauben an unsere Zukunft", steht da trotzig. Informationen zu Reisen in die "Republik Berg-Karabach"Das Auswärtige Amt rät von Reisen in die "Republik Berg-Karabach" ab. Entlang der Waffenstillstandslinie zu Aserbaidschan kommt es regelmäßig zu Schusswechseln und Scharmützeln, außerdem muss hier mit Minen gerechnet werden. Im Landesinneren war die Lage zum Zeitpunkt der Recherche ruhig. Die Einreise nach Berg-Karabach ist nur über Armenien möglich. Aserbaidschan betrachtet Reisen ohne vorherige Zustimmung als illegal. Näheres dazu auf der deutschen Seite der Botschaft der Republik Aserbaidschan, Berlin.Weitere Informationen bietet die Seite der Tourismusverwaltung von Berg-Karabach.
Von Sven Töniges
Berg-Karabach, eine Region im Südkaukasus, ist seit fast 25 Jahren eine selbsternannte Republik. Seit Jahrhunderten streiten Armenier und die heutigen Aserbaidschaner um die Bergregionen. Bis 1994 wurde dort Krieg geführt, seitdem halten armenische Truppen Berg-Karabach und rund ein Sechstel Asaerbaidschans besetzt. Ein Lösung ist nicht in Sicht, eine Reise war es trotzdem wert.
"2016-01-10T11:30:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:59.521000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/region-berg-karabach-in-einem-land-das-es-nicht-gibt-100.html
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Grünes Paradies mit Aussicht
Wenn Paul Ingenbleek auf das Flachdach über seiner Wohnung in Berlin-Kreuzberg steigt, dann steht er mitten im Grünen."Es gibt verschiedene Bereiche: es gibt einmal meine Obstplantagen, das sind alle möglichen Arten an Johannisbeeren, Stachelbeeren, Heidelbeeren gibt's hier oben, Erdbeeren, bisschen Gemüse, dann gibt es ein Kräuterbeet und einen Obstbaumgarten mit Apfelbäumen, Kirschbäumen, Pfirsichbäumen."Dazu kommen noch zahlreiche Blumen und Gräser und eine Buchsbaumhecke als Windschutz. Damit hat sich der Architekt zwar sein eigenes grünes Paradies geschaffen, mit einem herrlichen Blick über die Dächer, aber auch eine ordentliche Portion Gartenarbeit. Paul Ingenbleek hat sich sozusagen für die Luxusvariante einer Dachbegrünung entschieden. Es geht aber auch ein paar Nummern kleiner, indem nur pflegeleichte niedrige Pflanzen aufs Dach aufgebracht werden. Fachleute sprechen dann von Extensivbegrünung - so wie Bauleiter Ralf Spiegel von Kusche und Partner, einem Berliner Dachbegrünungsunternehmen."Die Vegetationsschicht liegt so bei circa zehn Zentimetern, fängt bei Minimum acht an, und dadurch bedingt hat man auch eine begrenzte Pflanzenauswahl, die man nehmen kann, wir reden über Kräuter, Sedumsprossen, Fetthennegewächse zum Beispiel, Salbei und Lavendel und bestimmte Gräser, Schwingelgräser und so weiter." Ein bepflanztes Dach hat viele Vorteile – für die Hausbesitzer und für die Umwelt. Martin Küster von der Fachvereinigung Bauwerksbegrünung nennt die wichtigsten Punkte."Ökologische Vielfalt, man hat hohe Artenvielfalt, man hat eine höhere Verdunstung, ein besseres Kleinklima, man hat Schallschutz, man hat Feinstaubbindung, man kann eventuell sogar die Dachfläche nutzen als erweiterten Wohnraum für eine Fläche, die schon bezahlt ist." Das grüne Dach verbessere das Klima sogar in der Wohnung, berichtet Paul Ingenbleek. Möglich mache das unter anderem der bis zu 90 Zentimeter hohe Aufbau seines Pflanzendaches."Durch die Bewässerungsanlage fließt das Wasser durch den Boden runter bis zur Dichtung, die auf einer Betondecke aufgeklebt ist und kühlt damit gleichzeitig die Betondecke. Darüber hinaus kommt eine gewisse Verdunstungsenergie mit Sonnenwärme und hält im Sommer die Wohnung relativ kühl unten." Doch nicht jedes Dach lässt sich zur grünen Oase machen. Zu allererst sollte es flach oder nur leicht bis zu 40 Grad geneigt sein. Neben Hausdächern kommen dafür deshalb auch Garagen oder Carports in Frage. Dann muss das Dach statisch ausreichend tragfähig sein für eine Begrünung. Außerdem braucht jedes Gründach ein Mindestmaß an Pflege, schon allein damit Flugsamen nicht auf einmal einen Ahorn oder eine Eiche dort Wurzeln schlagen lassen. Ralf Spiegel:"Auf jeden Fall muss man eine Pflege mit einkalkulieren, Minimum würde ich sagen, sind zwei Pflegegänge pro Jahr, die man machen muss: man sollte gucken wegen Fremdanflug, irgendwelche Samen und meist hat man ja außenrum einen Kiesstreifen oder irgendwelche Abläufe, die sollten kontrolliert und gereinigt werden, damit auch eine Funktionalität für viele Jahre gewährleistet ist." Neben der Pflege sind die Kosten ein Faktor: Gründächer sind bei der Installation und Pflege teurer als herkömmliche Dächer, weil beispielsweise eine Dränage, ein Durchwurzelungsschutz und ein besonderes Substrat verbaut werden müssen. Das rechne sich aber langfristig, betonen die Fachleute."Erstmal ist es ein wunderbarer Schutz der Dachdichtung, wenn eine Dachbegrünung drauf ist, weil dann die ganzen Einflüsse wie Wärmeausdehnungen, die dann reduziert sind, auch der Hagelschlag ist reduziert, das ist erstmal ein hervorragender Dachschutz die Dachbegrünung und die Wurzelfestigkeit ist gegeben, wenn ganz normale Dachbegrünungspflanzen dort wachsen. Sie sind nicht aggressiv, aggressiv sind nur die Sämlinge, die dann wirklich durch die regelmäßige Pflege, wenn das durchgeführt und die rausgezogen werden, dann für die Dachdichtung keine Gefahr darstellt. Unsere längsten Dächer gibt es schon seit 30 Jahren." Viele Städte und Gemeinden fördern Dachbegrünungen durch Zuschüsse bei der Installation oder durch Ermäßigungen bei den Abwassergebühren. Für geschickte Heimwerker noch interessant: die nötigen Utensilien kann man auch zum Selberbauen kaufen.
Von Daniela Siebert
Ein Garten muss nicht unbedingt neben dem Haus liegen; er kann auch obendrauf grünen und blühen. Allerdings sollte der Untergrund gut abgedichtet sein, und zu schwer darf das Ganze auch nicht werden.
"2012-06-25T11:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:14:34.121000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gruenes-paradies-mit-aussicht-100.html
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Expertenkommission präsentiert Masterplan für Standortsuche
Der Salzstock in Gorleben: Die Suche nach einem Endlager beginnt von vorn. (Deutschlandradio / Axel Schröder) "Wir haben hier schon eine gute und relativ konkrete Ausgangsbasis, mit der man diesen Suchprozess dann beginnen kann", sagt die Leiterin des Bereichs Nukleartechnik und Anlagensicherheit des Ökoinstituts Darmstadt. "Wir haben mit diesem Bericht aus meiner Sicht einen ganz entscheidenden Schritt vorwärts gemacht." Jetzt sei die Politik am Zug. Doch selbst wenn Berlin den Ball zügig aufnimmt: Vor 2050 dürfte das künftige Atommüll-Endlager in Deutschland kaum in Betrieb gehen.
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Wie sollte die Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll in Deutschland am Besten organisiert werden? Die 34 Experten der Endlagerkommission hatten zwei Jahre lang Zeit, sich einig zu werden. Die Eckpunkte ihres nun vorgelegten Abschlussberichts erläuterte Beate Kallenbach vom Ökoinstitut Darmstadt im DLF.
"2016-06-28T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:38:39.027000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlager-fuer-atommuell-expertenkommission-praesentiert-100.html
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New-Orleans-Funk im Münsterland
Grammygewinner im Münsterland: Der britische Pianist und Sänger Jon Cleary (stagepixel.de/Peter Bernsmann) "Du musst Soul in die Noten geben" - Jon Cleary im Interview "Danke, danke, ja ich war überrascht, denn meine Art von Musik wird in der Grammy-Welt nicht wirklich unterstützt - daher habe ich überhaupt nicht daran gedacht und war entsprechend überrascht. Die Musik von heute Abend passt überallhin, denn es ist New Orleans-Musik, Musik für eine gute Zeit. Die Jungs in der Band sind fähige Musiker und Sänger, und ich glaube, wenn es all diese verschieden Stile gibt, und man in der Lage ist, alle möglichen Richtungen zu spielen, ist es wichtig, einen roten Faden zu behalten: und der ist bei mir immer New Orleans! Man muss eine Menge Energie in die Musik stecken, um Energie herauszubekommen - wenn die Musik gut ist, macht es nicht müde. Und wenn dann noch das Publikum gut ist, gibt es die Energie zurück. Wie bei einer Autobatterie, die aufgeladen wird, wenn Du den Fuß aufs Gaspedal drückst. New Orleans Funk: Jon Cleary & The Absolute Monster Gentleman (stagepixel.de/Peter Bernsmann) Am Bass ist Cornell William, längst ein guter Freund von mir, denn wir spielen seit 25 Jahren zusammen. Der Trommler dagegen ist gerade erst zu uns dazu gekommen, er ist super, und er ist auch ein fantastischer Bassist, und zudem ein toller Sänger: Er heißt AJ Hall! "Weniger ist mehr" Manchmal haben wir noch einen Gitarristen dabei: Big D, manchmal spielt auch Nigel Hall noch die B3-Hammondorgel - aber der Kern der Band besteht nur aus Klavier, Bass und Schlagzeug, das ist die Maschine und das gibt den dicken Sound, wie das Klischee sagt: Weniger ist mehr. Wenn jetzt die Gitarre noch dabei wäre, würden wir anders spielen, Raum für die Gitarre schaffen - dann muss man gut auf einander hören, Aber in der Triobesetzung muss ich mehr auf dem Klavier spielen. Und das ist auch eine wichtige Tradition: Der New Orleans-Klavier-Stil. Leider spielen den nicht besonders viele Leute, aber ich hatte Glück und habe von einigen der Großen lernen können, als ich als Kind in New Orleans aufwuchs. Ich bin in England geboren und die englische Popmusik damals: ich habe sie gehasst. Aber ich hatte eine Menge Musiker in meiner Familie, und Glück hatte ich auch, denn seit ich sehr klein war, bekam ich eine gute Ausbildung in Sachen New Orleans-Rhythm & Blues. "Du musst die Musik erleben" Man kann das zwar nach Noten spielen, aber wenn Du es richtig lernen willst, dann musst Du in New Orleans leben, die Luft dort atmen, das Wasser trinken. Du musst in Second Line-Paraden mitlaufen, also in den typischen New-Orleans-Umzügen hinter einer Band her tanzen und mit dem großen Ganzen aufwachsen, denn Du musst die Musik erleben - das geht nicht nur aus Noten, sondern Du musst Soul in die Noten geben. Entspannt nach der Show beim Interview: Jon Cleary im Gespräch mit DLF-Musikredakteur Tim Schauen. (stagepixel.de/Peter Bernsmann) Was für eine Seele ich auch immer habe: Sie wurde von den Menschen aus New Orleans geprägt. Und ich hatte das Glück, als Teenager nach New Orleans zu ziehen - das Gefühl, dieses spezielle Feeling wächst in Dir heran. Ich liebe den Blues, aber wenn es nur um Blues geht, fehlt mir etwas. Ich mag gerne Kartoffeln, aber esse eben nicht ausschließlich Kartoffeln. Es muss für mich gar nicht kompliziert sein, sondern im Gegenteil: ganz einfach. Aber in der Musik aus New Orleans und bei Musikern aus der dieser Stadt geht rhythmisch noch mehr ab, und auch harmonisch. Die Rhythmen sind mehr funky und die harmonischen Strukturen gehen weit über die Blues-Akkordfolge hinaus. Klar, das kann so kompliziert sein, wie Du es haben willst, aber das wichtige ist, dass es sich richtig anfühlt, dass Du tanzen willst, dass die Leute sich glücklich fühlen und aufstehen." Aufnahme vom 14.5.16 beim Bluesfestival Schöppingen Das Konzert finden Sie auch in unserer Mediathek.
Am Mikrofon: Tim Schauen
Seit Jon Cleary mit dem Klavierspielen begann, ist er von New-Orleans-Funk fasziniert. Als Teenager zog er aus England in die Stadt am Mississippi und startete eine Weltkarriere, die Anfang 2016 mit einem Grammy gekrönt wurde. Und mit New Orleans-Funk faszinierte Cleary, der auch Gitarre spielt und singt, beim Bluesfestival Schöppingen die Zuhörer.
"2019-08-16T21:05:00+02:00"
"2020-01-26T23:05:30.697000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grammy-gewinner-jon-cleary-new-orleans-funk-im-muensterland-102.html
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Geschichten von Adolf H.
Hitler im September 1943: Mit seiner neuen Biografie will Thomas Sandkühler vor allem junge Menschen über den Diktator und seine Gräueltaten aufklären. (dpa / picture alliance / Ullstein) Ein Gespräch mit seiner Tochter habe ihn auf die Idee zu diesem Buch gebracht, schreibt Thomas Sandkühler im Vorwort. Das Mädchen, damals Schülerin der Mittelstufe, hatte ihn auf einer langen Autofahrt ausgefragt: über Hitler. Seine Antworten waren die Grundlage für das Buch, das Sandkühler jetzt, Jahre später, vorgelegt hat. Das Gesagte aufzuschreiben, sei schwieriger gewesen, als anfangs gedacht, gibt der Autor zu. Das Ergebnis aber ist ein Gewinn: weil Sandkühler sich nicht zu schade ist, das zu erklären, was man bei dieser Zielgruppe nicht voraussetzen darf. Zugleich schreibt er mit der großen Ernsthaftigkeit und Genauigkeit des Historikers. "Der Titel dieses Buches, 'Adolf H.', soll darauf aufmerksam machen, dass zwischen Hitlers persönlicher Lebensgeschichte und seiner Wirkung als Politiker ein erheblicher Unterschied bestand. Man kann durchaus daran zweifeln, ob dieses Leben alssolches überhaupt erzählenswert ist." Sandkühler nimmt seinen Lesern gleich zu Anfang die Sorge, die komplexe NS-Geschichte vielleicht nicht zu verstehen. Das Monster Hitler war ein Mensch und zwar nicht einmal ein besonders beeindruckender. Und so schildert der Autor, wie aus dem gescheiterten Kunststudenten, dem Außenseiter im Männerwohnheim ein "zwanghafter Antisemit" wurde, der im "Dunstkreis rechtsradikaler Ideologien" aufblühte, der mit "Intrige und Gewalt" die Macht in der zunächst unbedeutenden NSDAP an sich riss. "Hitlers blitzartiger Aufstieg (...) zum Starredner der NSDAP verwandelte auch seine Ideologie und sein Selbstverständnis. Mit der Zeit glaubte er selbst an die antisemitischen Botschaften, die er von sich gab. Und da er ungeheuren Erfolg hatte, fühlte Hitler sich (.) zu Höherem berufen – zum Führer." Dem die Verführten bald massenweise folgten. Sein Herrschaftsinstinkt machte ihn zum Hoffnungsträger für Millionen. Und das Führerprinzip brachte zahllose "kleine Führer" hervor: "Man wusste (.), dass Hitler stets die radikalste Lösung bevorzugte. Daher war die Verfolgung von Gegnern das Gebiet, auf dem man sich am besten hervortun konnte. Im Streben um Macht und Einfluss überboten sich die Funktionäre gegenseitig mit Vorschlägen für die Verschärfung der Politik. Im Führerstaat Hitlers fielen sämtliche Sicherungen fort, die als Bremse gegen diese Radikalisierung hätten wirken können. Dies ist ein wichtiger Teil der Erklärung, warum der NS-Staat so verbrecherisch war." Erstklassige Empfehlung für junge Leser Sandkühler unterfüttert den "Lebensweg eines Diktators", wie sein Buch im Untertitel heißt, mit dem historischen Wissen, das jüngere Leser brauchen, um die Biografie Hitlers zu erfassen: Knapp und verständlich schildert er den Niedergang der Weimarer Republik und die Machtergreifung der Nationalsozialisten, den SS-Staat und die Kriegsvorbereitungen. Er fasst zusammen, verdichtet und verzichtet trotzdem nicht auf neueste Ergebnisse und Kontroversen der historischen Forschung. Besonders eindrücklich ist das Kapitel über den "Massenmörder" Adolf Hitler, in dem Sandkühler die Verbrechen der Nationalsozialisten beschreibt: Euthanasie, Vernichtungskrieg, Holocaust. "Alles in allem kann man sagen, dass die meisten Deutschen viel über das Schicksal der Juden hätten wissen können, überwiegend aber nicht daran interessiert waren, mehr zu erfahren. Denn dies hätte zur Voraussetzung gehabt, die verbrecherische Rolle des 'Führers' und die eigene Verstrickung schonungslos zu betrachten." Der Mann, der für unerträgliche Menschheitsverbrechen verantwortlich ist und die Welt in einen zerstörerischen Krieg stürzte, war zugleich ein Mensch mit merkwürdigen Lebensgewohnheiten. Es wirkt wie ein schmerzhaftes Kontrastbild, wenn Sandkühler über den privaten Hitler schreibt, über den faulen Kriegsherrn, der nachts Micky-Maus-Filme anschaute, über seine Beziehungsunfähigkeit, die Liebe zu seinem Hund "Blondi" und seine Weigerung, auch nur eine einzige von Bomben zerstörte Stadt zu besuchen. Am Ende ist aus dem frenetisch bejubelten Führer ein angeschlagener "Höhlenbewohner" geworden, der seinem Leben im Bunker ein Ende setzt. Wirklich tot ist er aber nicht – im Gegenteil. Hitler sei mittlerweile zu einem Popstar geworden: "Der 'Führer' führt längst ein Eigenleben. Er ist aus dem geschichtlichen Zusammenhang des NS-Staates herausgetreten. Hitler ist zu einem Untoten geworden und wird, wenn nicht alles täuscht, auch in Zukunft durch die Köpfe der Nachgeborenen geistern." Doch wer wird das Hitler-Bild in diesen Köpfen zukünftig prägen? Sandkühler setzt sich in seinem letzten Kapitel mit dem untoten Hitler auseinander, der Quote und Auflage bringt. Geschichtsfernsehen, Kitsch-Kino und Comics: Das dürfen nicht die dominierenden Informationsquellen bleiben, wenn künftige Generationen eine ernsthafte Vorstellung von der NS-Zeit bekommen sollen. Thomas Sandkühlers Buch ist deshalb eine erstklassige Empfehlung für junge Leser, die Fragen an die deutsche Geschichte haben – so wie einst seine eigene Tochter. Thomas Sandkühler: "Adolf H., Lebensweg eines Diktators", Hanser Verlag, 350 Seiten, 19,90 Euro
Von Monika Dittrich
Bücher über Adolf Hitler gibt es schon viele. Etwas wirklich Neues wurde lange nicht veröffentlicht. Was bisher allerdings fehlte, war eine Hitler-Biografie explizit für junge Leser. Thomas Sandkühler, Experte für geschichtswissenschaftliche Didaktik, versucht mit "Adolf H., Lebensweg eines Diktators", diese Lücke zu schließen.
"2015-08-10T19:15:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:54.459000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hitler-fuer-junge-leser-geschichten-von-adolf-h-100.html
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Filmregisseur Ernst Lubitsch geboren
Ernst Lubitsch stieg in Hollywood schnell zu den bestbezahlten Regisseuren auf. (dpa / picture alliance / UPI) "O sole mio …" Im nächtlichen Venedig ist ein Gondoliere unterwegs, doch er hat kein Liebespaar, sondern den Müll an Bord. Auch die folgenden Bilder irritieren. Eine Person, die über eine Brüstung springt, ein Schatten, ein verwüstetes Zimmer, ein Mann, der reglos am Boden liegt. Der Ort eines Verbrechens? Die Kamera zieht unbeeindruckt weiter, bis - erneut auf einem Balkon - ein Mann ins Bild gerät. Es ist der Baron mit seinem Butler. "Yes, Baron. What shall we start to eat, Baron?" "That’s not so easy. Beginnings are always difficult." "Yes, Baron." Alle Lubitsch-Filme verbreiten ein unverwechselbares Flair Schon der Anfang von "Trouble in Paradise" von Ernst Lubitsch, gedreht 1932, zeigt den formvollendeten Stilisten. Die Bilder sagen alles. Der Handlungsablauf ist bis ins letzte Detail durchdacht, bis das Liebes- und Diebespärchen, das in diesem "Paradies" sein Unwesen treibt, endlich beim Souper vereint ist. Alle Lubitsch-Filme verbreiten ein unverwechselbares Flair. Es ist der "Lubitsch-Touch". Elliptisches Erzählen, doppelbödige Dialoge, die oft eine lockere Einstellung zum Sex propagieren. Seine Filme entstehen erst im Kopf. Nur ein intelligenter Zuschauer sei in der Lage, die sophisticated comedy zu verstehen, meinte er selbst. Der Tonfilm kam zur rechten Zeit. Ernst Lubitsch 1932: "Es ist der größte Fortschritt, den jeder Regisseur begrüßen muss. Sehen Sie: Der stumme Film war keine völlig in sich abgeschlossene Kunstgattung. Er musste Filmtitel zu Hilfe nehmen, wenn er eine Geschichte erzählen wollte. Dieser Titel war ein Fremdkörper, den der Tonfilm ausmerzte. Und schon diese Tatsache allein genügt, um die Existenz des Tonfilms zu rechtfertigen." Der am 29. Januar 1892 in eine jüdische Familie in Berlin geborene Ernst Lubitsch, der bereits 1922 nach Amerika übersiedelte, war ein Naturtalent. Er gehörte zum Max-Reinhardt-Ensemble, stieß früh zum Film, drehte Sketche, Einakter, bald in eigener Regie. Er war ein Komiker. Sein derbes Auftreten, Slapstick, massiver Körpereinsatz begeisterte das Publikum. Aus der Erinnerung zitiert Statist Willi Schneider, wie er Lubitsch im Berliner Apollo Theater erlebt hatte. Sein Lebenslauf in Versen: Alle, die Rang und Namen hatten, spielten in seinen Komödien "Mich legte sanft wie’n Hühnerei einst mitten auf die Hausvogtei Freund Adebar im kalten Januar. Meschugge wurde ganz Berlin, als ich so plötzlich hier erschien, denn mein Dasein und mein Nahsein ein Ereignis war." Die Gründung der Ufa 1917 bescherte Lubitsch einen Karrieresprung. Er setzte ganz auf die Regie und bewies sein Talent für Dramen, Massenszenen und pompöse Ausstattungsfilme. "Madame Dubarry" mit Pola Negri, Emil Jannings - 1919 ein Bombenerfolg - wurde zum Türöffner für den amerikanischen Markt. "Carmen", Anna Boleyn" zogen nach. Kein Wunder, dass Ernst Lubitsch in Hollywood schnell zu den bestbezahlten Regisseuren aufstieg. Sein Einfluss auf den amerikanischen Film war enorm, bei Hitchcock unübersehbar. In seinen Gesellschaftskomödien der Dreißiger spielten alle, die Rang und Namen hatten, sogar die göttliche Greta Garbo als "Ninotchka" (1939), mit dem herben Charme einer sowjetischen Kommissarin. "What a charming idea from Moskau to surprise us with a lady comrade. If we had known we would have greeted you with flowers." "Don’t make an issue of my womanhood." Nach dem sechsten Herzinfarkt starb er Ähnlich "Ninotchka", seinem erfolgreichsten Film, enthüllte die umstrittene Politsatire "To be or not to be" 1942 einen Lubitsch, der über die Beziehung zwischen Illusion und Realität nachdachte. Seine Ausflüge in die mondäne Filmwelt ließen den Privatmann Lubitsch offenbar unberührt. Seine Tochter Nicola Lubitsch. "Er war ein sehr einfacher Mann. Wenn er aus dem Studio nach Hause kam, setzte er sich ans Klavier - Noten lesen konnte er nicht - und erzählte mir eine Geschichte. Er hörte Radio, die Quiz Shows und fing an zu raten." Ernst Lubitsch ereilte während der Dreharbeiten zu dem Musical "That Lady in Ermine" sein sechster und letzter Herzinfarkt. Er starb am 30. November 1947 in seinem Haus in Hollywood mit der obligatorischen Zigarre in der Hand. Er wurde 55 Jahre alt.
Von Marli Feldvoß
Ernst Lubitsch schuf die raffiniertesten und amüsantesten Gesellschaftskomödien des amerikanischen Kinos. Der einstige Star des deutschen Stummfilms hatte ein feines Gespür fürs Komische. Heute vor 125 Jahren wurde er in Berlin geboren.
"2017-01-29T09:05:00+01:00"
"2020-01-28T09:32:23.380000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-125-jahren-filmregisseur-ernst-lubitsch-geboren-100.html
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Dramatischer Fachkräftemangel
Die Zahl der unbesetzten Stellen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) ist im vergangenen um über 30 Prozent gestiegen (picture alliance / dpa) Irgendwie scheint das Thema nicht neu, das muss auch Thomas Sattelberger zugeben. "Ihr jammert ja schon seit 10 Jahren über diese Lücke. Das Problem ist ja nicht, dass sich nichts verändert, es entwickelt sich ja auch vieles gut. Nur die Wachstumsdynamik der Wirtschaft ist so groß, dass jedes Mal, wenn wir die Lücke schließen, eine neue Öffnung passiert." Sattelberger spricht als Vorsitzender der Initiative "MINT Zukunft schaffen" und obwohl er für die FDP seit dem Herbst im Bundestag sitzt, merkt man ihm seine Zeit als Personalvorstand der Post noch deutlich an. Seit 2011 erheben der Arbeitgeberverband, der Bundesverband der deutschen Industrie und die Arbeitgeber der Metall- und Elektro-Industrie, kurz Gesamtmetall, Zahlen zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt in MINT-Berufen im sogenannten Frühjahrsreport. "Die Lücke hat einen Allzeithöchststand erreicht" In diesem Jahr sieht es besonders düster aus. 490.000 unbesetzte Arbeitsplätze gibt es im MINT-Bereich derzeit. Und selbst wenn alle Arbeitslosen mit naturwissenschaftlicher oder IT-Qualifizierung sofort wieder arbeiten gehen würden, bliebe immer noch eine Lücke von 314.000 offenen Stellen. "Die Lücke hat damit einen Allzeithöchststand erreicht. Und ist 32 Prozent höher als im April des Vorjahres", stellt Axel Plünnecke, Bildungsforscher beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln fest. Und nein, es betrifft nicht nur Akademiker. "Die Struktur der Lücke hat sich verändert, der Anteil der nicht-akademischen Berufskategorien an der Lücke steigt und liegt mittlerweile bei 67 Prozent. Als Ursachen hält der MINT-Frühjahrsreport fest, dass viele ältere Fachkräfte in Rente gehen und zu wenige nachkommen würden. Hinzu käme, dass der Bedarf nicht nur durch die gute Wirtschaftslage steige. Digitale Geschäftsmodelle, stärkerer Einsatz von Elektromobilität oder vernetztem Fahren führten dazu, dass immer mehr Firmen vor allem Informatiker einstellen wollen. Hier ist der Mangel besonders deutlich, 40.000 Stellen sind offen, doppelt so viel wie vor drei Jahren. Abbrecherquoten von bis zu über 40 Prozent "Die digitale Vernetzung in den Werkhallen, das Internetgeschäft verlangt IT-Spezialisten, seien sie nun akademisch oder nicht-akademisch ausgebildet, beide Gruppen sind notwendig", so Stahl. Nach wie vor gibt es in MINT-Fächern deutlich mehr Männer als Frauen, das bleibt ein dauerhaftes Problem. Genauso wie die hohen Abbrecherquoten in Mintfächern - in Informatik sind es über 40 Prozent an Unis und FHs. Was also tun, um diesen Mangel zu beheben? Auf der Wunschliste der Wirtschaftsforscher und Verbände steht einiges. Neben besseren Vorbereitungskursen für das Studium hat Thomas Sattelberger unter anderem die Berufsschulen im Blick, die er die "Stiefkinder" des Bildungswesens nennt, die müssten unbedingt moderner ausgestattet werden. Verbände setzen auf qualifizierte Zuwanderung "Dass die auf dem neuesten Stand sind, dass die 3-D-Drucker haben, dass mit digitalen Tools im Unterricht gearbeitet wird. Dass mit Industrie 4.0 und Robotics-Anlagen gearbeitet wird, das sind ja alles sehr teure Anlagen." Auch Menschen, die schon im Berufsleben stehen, sollen die Möglichkeit zur Weiterbildung bekommen, um in MINT-Berufen arbeiten zu können. Außerdem setzen die Verbände auf qualifizierte Zuwanderung - und zwar nicht nur von Akademikern, sondern auch von Menschen mit einer Berufsausbildung. Die sollten mehr Zeit für die Jobsuche in Deutschland bekommen, findet Axel Plünnecke. Der Koalitionsvertrag sieht derzeit vor, dass ein Arbeitsplatz schon bei der Einreise nachgewiesen sein muss - das sollte seiner Ansicht nach gelockert werden.
Von Nadine Lindner
Mit knapp 490.000 unbesetzten Stellen hat der Fachkräftemangel in den MINT-Fächern ein Allzeithoch erreicht. Ältere Arbeitskräfte gehen in Rente und zu wenige rücken nach, so der Befund des MINT-Frühjahrsreports. Der Bedarf an Fachkräften steige aber nicht nur aufgrund der guten Konjunktur.
"2018-05-14T14:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:52:17.742000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mint-fruehjahrsreport-2018-dramatischer-fachkraeftemangel-100.html
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Konfrontationen zwischen radikal orthodoxen und säkularen Juden
Wenn Eve Finkelstein Besuchern zeigen will, was in Beit Schemesch passiert, dreht sie mit ihnen eine Runde durch ihre Stadt. Das erste Ziel: ein unbebautes Grundstück. Die 52-jährige Ärztin stapft über einen Schotterweg vorbei an einem brüchigen Bauzaun auf die freie Fläche. "Dieser Ort wäre perfekt gewesen, um hier ein Kulturzentrum zu errichten, mitten in der Stadt." Die Finanzierung für das Kulturzentrum stand längst. Es gab Spenden aus der Schweiz. Doch die Pläne wurden durchkreuzt. Ein Rabbi erklärte, dass sich hier alte Gräber befänden, die nicht einfach so überbaut werden dürfen. Seitdem passiert hier nichts mehr. "Sie haben nie Knochen gefunden, niemand hat sie zumindest bisher wirklich gesehen, selbst wenn man danach fragt, es sind virtuelle Knochen." Auf der einen Seite dieses freien Grundstücks leben vorwiegend säkulare Juden. Sie wünschen sich das Kulturzentrum, sie wollen in ihrer Stadt ein Schwimmbad und auch einen Fußballplatz. Auf der anderen Seite des Feldes leben ultraorthodoxe Juden. Die Haredim - die Gottesfürchtigen, wie sie sich selbst nennen. Sie lehnen dieses weltliche Vergnügen strikt ab. Das Schwimmbad hat der ultraorthodoxe Bürgermeister vor einigen Jahren geschlossen, angeblich sollte es renoviert werden, doch es wurde nie wieder geöffnet. In Beit Schemesch tobt ein Krieg der Religionen, es geht um unterschiedliche Glaubens- und Lebensvorstellungen. Eve Finkelstein ist selbst sehr gläubig. Ein olivfarbenes Kopftuch verdeckt lose ihre braunen Locken, sie trägt einen grauen langen Rock. Blockierte Straen und brennende Mülltonnen "Ich achte den Schabbat, ich bin orthodoxe Jüdin, esse koscher. Ich fahre während des Schabbats kein Auto, aber wenn mein Nachbar das macht, warum sollte mich das stören? Es ist seine Entscheidung, das muss er selbst mit Gott ausmachen. Das hat nichts mit mir zu tun." Für die Haredim glaubt Eve Finkelstein nicht ernsthaft genug. An einem Nachmittag vor ein paar Jahren wollte sie ihren Sohn von der Schule abholen. Sie geriet in eine der zahlreichen Demonstrationen der "Gottesfürchtigen", bei der sie ihrer Wut gegen die sündigen Menschen in Beit Schemesch freien Lauf ließen. "Sie haben die Straße blockiert, Mülltonnen angezündet. 300 ultraorthodoxe Juden haben mit Steinen nach mir geworfen. Das war wirklich traumatisch. Ich arbeite als Ärztin in dieser Gegend und als ich mich umschaute, habe ich sogar Leute erkannt und trotzdem hat mir niemand geholfen." Verletzt wird sie nicht, sie rettet sich in ihr Auto, ist geschockt. Für die orthodoxe Jüdin hat das nichts mehr mit ihrer Religion zu tun. Eve Finkelstein ruft die Polizei, aber auch die kommt nicht zur Hilfe. Sie haben Angst, sie wollen keine Probleme mit den Haredim, ärgert sie sich. Vor 13 Jahren ist Eve Finkelstein mit ihrer Familie von Australien nach Beit Schemesch gezogen. Sie liebt die hügelige Landschaft. Die bunte Vielfalt von Einwandern aus Äthiopien, Russland und den USA. Ein guter Ort, um ihre vier Kinder groß zu ziehen. "Wir wollten das Land aufbauen. Es ist einfach eine wunderschöne Gegend. Und es ist so praktisch gelegen – zwischen Tel Aviv und Jerusalem, egal wo man hin will, man steigt in den Zug und ist nach einer halben Stunde da." Der israelische Traum platzt gerade. Viel hat sich in den letzten Jahren in der Stadt verändert. Mehr und mehr ultraorthodoxe Juden ziehen nach Beit Schemesch. Sie folgen unterschiedlichen Rabbis, darunter auch sehr radikale, die sich in ihrem Glauben untereinander übertrumpfen wollen. "Es war ein langsamer Prozess. Sie sind irgendwann in Massen gekommen und nun wollen sie uns ihren Lebensstil aufdrängen. " "Frauen dürfen nicht auf dieser Seite des Bürgersteigs laufen." Eve Finkelstein fährt mit ihrem weinroten Wagen durch ein ultraorthodoxes Viertel, sie will zeigen, nach welchen Regeln hier gelebt wird. Männer in schwarzen Anzügen und Hüten auf dem Kopf, laufen auf dem Bürgersteig. Ihre Schläfenlocken flattern im Wind. Im Durchschnitt bekommen die frommen Paare sieben Kinder. 75 Prozent der Schulanfänger sind in Beit Schemesch mittlerweile ultraorthodox. Die meisten Familien leben von Sozialhilfe. Sie erobern Straßen und Viertel, besetzen Schulen, um sie für sich zu beanspruchen, weil es zu wenige Klassenräume in der Stadt gibt. Sie spucken auf Frauen, die an ihnen vorbeijoggen, und Schulmädchen, weil ihre Röcke nur knapp über die Knie reichen, erzählt Eve Finkelstein. Sie bremst kurz ab. Am Rande der Straße taucht eine Synagoge auf. Davor hängt ein Schild. Sie liest empört vor, was dort in großen Lettern geschrieben steht. "Frauen dürfen nicht auf dieser Seite des Bürgersteigs laufen." Solche Schilder gibt es nicht nur dort, wo die Ultrafrommen leben, sie wurden auch schon vor einem Supermarkt postiert, sogar dort, wo sie arbeitet, vor ihrer Klinik. Schilder auf denen geschrieben steht, dass sich Frauen züchtig kleiden sollen: lange Ärmel, geschlossene Blusen, schwarz. Für Eve Finkelstein war das der Gipfel. Sie hat sich mit drei weiteren Frauen aus Beit Schemesch zusammengetan und die Stadt wegen Diskriminierung verklagt. Es gab einen Mediationstermin, der hat allerdings nichts gebracht. Nili Phillipp ist eine Mitstreiterin. Einige Mal hat sie schon überlegt, selbst Hand anzulegen und die Schilder abzumontieren, die Idee aber wieder verworfen. "Ich miete mir doch keinen Pickup, montiere die Schilder ab und riskiere dabei noch mein Leben. Es ist die Aufgabe der Stadt, das zu erledigen. Sie müssen mich auf der Straße davor schützen, dass niemand mit Steinen nach mir schmeißt, und auch dafür sorgen, dass meine Tochter und ihre Mitschüler nicht von diesen Hooligans in der Schule belästigt werden." Doch der, der verantwortlich ist in dieser Stadt, hat gerade andere Sorgen. Der ultraorthodoxe Bürgermeister Moshe Abutbul wurde zwar bei den Wahlen vor einigen Wochen wieder im Amt bestätigt, allerdings ermittelt nun die Staatsanwaltschaft wegen Wahlfälschung, es wurden u. a. 200 gefälschte Pässe in einer Wohnung gefunden, es geht um systematische Kriminalität, mit vielen Beteiligten, heißt es. Für den Knesset-Abgeordneten der Meretz-Partei Nitzan Horowitz wird sich am Beispiel Beit Schemesch zeigen, wie belastbar die Demokratie in Israel ist, erklärt er am Rande einer Demonstration für Neuwahlen. "Die ultraorthodoxen Parteien hier in Beit Schemesch, der Bürgermeister, sie wollen ihre religiösen Vorstellungen mit Zwang durchsetzen. Aber dieser Ort muss offen bleiben für alle: für religiöse Menschen, säkulare Juden, für Alte, für Junge, Schwule und Heteros. Wenn wir hier nicht schaffen, diese Entwicklung zu stoppen, dann wird es auch an anderen Orten in Israel passieren." Für viele Menschen in Beit Schemesch stellt sich die Frage: bleiben oder wegziehen. Eve Finkelstein ist vor 13 Jahren gekommen, um zu bleiben, einen Plan B gibt es nicht. Sie hat mittlerweile ihren Heimweg angetreten, lenkt ihren Wagen vorbei an einer ultraorthodoxen Mutter mit Kinderwagen, die offensichtlich auf der Seite des Bürgersteigs läuft, die für Frauen tabu ist. Eve Finkelstein triumphiert. "Sie steht einfach da und ignoriert das Schild, das gefällt mir, weiter so!"
Von Anne Demmer
Die Fronten zwischen gemäßigteren säkulären und ultraorthodoxen Juden in Israel verhärten sich. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Glaubens-, sondern vor allem Lebensvorstellungen. In der Stadt Beit Schemesch tobt ein Krieg der Religionen.
"2013-12-12T00:00:00+01:00"
"2020-02-01T16:50:32.470000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/israel-konfrontationen-zwischen-radikal-orthodoxen-und-100.html
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Brexit stellt Lebensentwürfe infrage
Viele EU-Ausländer lebten bislang gerne in ihrer britischen Wahlheimat - jetzt haben sie Angst vor der Zukunft (dpa / Michael Kappeler) Vor gut zwei Jahren beantragte meine beste deutsche Freundin in Großbritannien einen britischen Pass. Ich war erstaunt. Über 30 Jahre lang hatten wir auf der Insel gelebt und gearbeitet. Ich fühlte mich zwar nie sonderlich deutsch, aber erst recht nicht britisch, sondern definierte mich schlichtweg als Europäerin. Ihr Argument für den Antrag auf britische Staatsbürgerschaft. "Einfach nur, um mündig zu bleiben. Es war weniger der Fall, dass ich mir einen Austritt aus der EU vorstellen konnte, oder Angst vor den Folgen für mich selber haben würde, sondern eher nur wirklich der Wunsch, teilnehmen zu können und wählen zu können." Der Brexit hat mich tief verunsichert. Ich lebe in Lewes, südlich von London, einem aufgeschlossenen Städtchen voller liberaler "Guardian"-Leser. In den Fenstern hängen Plakate: "Migranten welcome". Und doch fühle ich mich seit dem Brexit nicht mehr als Weltbürgerin, sondern als Migrantin. Die deutsche Journalistin und Korrespondentin Ruth Rach in ihrer britischen Wahlheimat (Deutschlandfunk/Ruth Rach) Ich empfinde meinen Status als prekär, auch wenn – oder vielleicht gerade weil - britische Politiker gar so häufig versichern, bereits auf der Insel lebende EU-Bürger müssten sich – vorerst jedenfalls - keine Sorgen machen. Viele meiner Freunde sind Nicht-Briten. Alle sind tief beunruhigt. Das politische Chaos, die bizarren Rücktritte, die ständig neuen Turbulenzen fördern das Katastrophendenken. Werde auch ich als Deutsche womöglich ausgewiesen? Als Erstes frage ich den Mann, der gerade den Abguss in meiner Küche repariert. Auch er hat übrigens für den Brexit gestimmt: Das wird bestimmt nie passieren, betont Klempner Keith Stoner. Großbritannien sei eine offene Gesellschaft. Die Tatsache, dass sein Land einen politischen Länderblock verlasse, werde nichts daran ändern. Menschen aus aller Welt seien weiterhin willkommen. "Bekannte kommen auf mich zu, um sich für den Brexit zu entschuldigen" Seit dem Brexit sind auch auf dem sonst so friedlichen Wochenmarkt in Lewes bitterböse Streitgespräche zu hören. Über Europa, die Klüfte innerhalb der Labour Partei, die Zukunft der Tories. Gleichzeitig kommen Bekannte auf mich zu, um sich für den Brexit zu entschuldigen. Und von meinen unmittelbaren Nachbarn werde ich seit dem Brexit geradezu demonstrativ häufig zu Dinnerparties eingeladen - unabhängig davon, ob sie Gegner der Europäischen Union sind oder nicht. Mary Chandler hat für die EU gestimmt, ihr Mann Malcolm für den Brexit. Er will nicht, dass Großbritannien von irgendwelchen ungewählten Leuten in Brüssel regiert wird. Aber was soll denn nun mit Ausländern wie mir geschehen? Malcolm Chandler streichelt seinen Dackel Freddie, und blickt mit Wohlwollen auf seine Schwarzwälder Kuckucksuhr. "Keine Sorge, du bist eine von uns" Er hat nichts gegen die Deutschen, er hat sein halbes Leben bei einer deutschen Fluggesellschaft gearbeitet, fester Händedruck. Und dann die Versicherung von Malcolm und Mary Chandler: Keine Sorge, du bist eine von uns. Deutlich schroffer die jüngsten Eindrücke meiner Tochter: Sie arbeitet in einer Boulevardzeitung in London. In der britischen Hauptstadt hat zwar eine klare Mehrheit für die EU gestimmt. Aber in ihrer Redaktion weht ein kalter Wind. In ihrer Zeitung erklärte ein Kollege, er habe für den Brexit gestimmt, weil es in seiner Stadt vor Migranten wimmle und sich seine Schwester nachts nicht mehr auf die Strafe traue. Meine Tochter fühlt sich seit dem Referendum nicht mehr wohl in Großbritannien. Auch wenn in ihrem britischen Freundeskreis durchweg für die EU gestimmt wurde. "Ich wurde hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, ich zahle Steuern, Englisch ist meine erste Sprache – aber ich habe einen deutschen Pass und kein automatisches Recht auf die britische Staatsbürgerschaft. Und ich will wirklich nicht in einem Land leben, das mich nicht haben will."
Von Ruth Rach
Die deutsche Journalistin Ruth Rach lebt seit über 30 Jahren in Großbritannien. Ihre Tochter wurde hier geboren und hat nie in Deutschland gelebt. Jetzt hat Ruth Rach Angst vor einer Ausweisung. Die Versicherung der Politiker, dass sich am Status von EU-Ausländern vorerst nichts ändern werde, hilft da nicht wirklich weiter.
"2016-07-07T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:39:37.326000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angst-vor-ausweisung-brexit-stellt-lebensentwuerfe-infrage-100.html
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"Die Werthaltigkeit der Aktien wird steigen"
Lufthansa steigt aus Dax ab (dpa/Arne Dedert) In der Nacht haben sich die Deutsche Lufthansa und die Flugbegleitergewerkschaft Ufo bereits auf ein 500-Millionen-Sparpaket zur Bewältigung der Folgen der Corona-Krise geeinigt. Heute nun stimmen die Lufthansa-Aktionäre bei der außerordentlichen Hauptversammlung darüber ab, ob sie den Staat für rund 300 Millionen Euro als Anteilseigner einsteigen lassen wollen oder nicht. Damit fest verbunden ist das neun Milliarden Euro schwere Rettungspaket, das in den Wochen zuvor mühsam zwischen Frankfurt, Berlin und Brüssel ausgehandelt worden ist. Auch Großaktionär Heinz Herrmann Thiele hat angekündigt, zustimmen. Er habe sich sicherlich ganz genau überlegt, was es bedeute, wenn der Staat jetzt mit einer 20-prozentigen Beteiligung in das Unternehmen mit einsteigt, betonte Andreas Lämmel, CDU-Obmann der Unions-Bundestagsfraktion im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages im Dlf-Interview. "Ich glaube, durch dieses Hilfspaket wird der Grundstein gelegt, damit die Lufthansa wieder erfolgreich wird und Aktionäre Sicherheit haben", so Lämmel. Wie viel Staat muss sein?Mit neun Milliarden Euro will die Bundesregierung die Lufthansa retten. Linken-Politiker Thomas Lutze begrüßte im Dlf das Hilfspaket. Der Bund müsse aber mehr Einfluss bekommen. Dem widerspricht Michael Theurer (FDP). Er befürchtet den Einstieg in eine Verstaatlichungsserie privater Unternehmen. Das Interview in voller Länge: Heinemann: Herr Lämmel, wie erklären Sie sich Herrn Thieles Ankündigung, dass er jetzt doch zustimmen möchte? Lämmel: Das ist erst mal eine gute Nachricht. Ich denke, Herr Thiele - - Ich kann den Worten von Frau Dröge nicht folgen, dass sie sagt, er wäre ein schlechter Unternehmer. Er ist ein sehr guter Unternehmer und er hat sich sicherlich schon ganz genau überlegt, was es bedeutet, wenn der Staat jetzt mit einer 20-prozentigen Beteiligung in so ein Unternehmen mit einsteigt. Wenn man jetzt die aktuelle Lage sich ansieht, dann kann man ja sehen: Das Grundprinzip in der sozialen Marktwirtschaft, dass sich Tarifpartner einigen, um eine Gesellschaft, um ein Unternehmen in die Zukunft zu führen, das hat bis heute Nacht wieder gewirkt. "Staat hat sich ein Stück weit Maulkorb von der Lufthansa auferlegen lassen"Die Grünen-Wirtschaftspolitikerin Katharina Dröge kritisierte im Dlf das Vorgehen von Lufthansa-Großaktionär Heinz Herrmann Thiele. Es habe wie ein Erpressungsversuch gewirkt, die Insolvenz des Konzerns in den Raum zu stellen, sagte sie. Der Staat hätte sich zudem mehr Mitspracherecht sichern sollen. Heinemann: Herr Lämmel, wenn die Hauptversammlung heute zustimmt, was bekommen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dann für ihr Geld? Lämmel: Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bekommen erst mal ein großes deutsches Unternehmen, ein großes erfolgreiches deutsches Unternehmen, was jetzt wieder Zukunftsperspektiven hat, Arbeitsplätze sichert und letztendlich nicht bloß im Bereich der Luftfahrt, sondern auch im Bereich der Flugzeugindustrie und in ganz anderen Bereichen wieder ein großer Nachfrager wird. "Lufthansa muss erst einmal wieder Geld verdienen" Heinemann: Herr Lämmel, Sie kennen den Satz: "Wer zahlt, schafft an." Warum sollte der Bund keine ökologischen Zugeständnisse vom Unternehmen fordern? Lämmel: Die Lufthansa ist ja schon lange auf dem Weg hin zu einer Wandlung in bessere ökologische Transportmöglichkeiten. Man braucht sich bloß mal die Entwicklung der Triebwerke anzuschauen. Man kann sich mal anschauen, wie viele Projekte es gibt über alternative Treibstoffe. Und es kommt eigentlich jetzt darauf an, dass wir in den nächsten Jahren diese Projekte, die meistens noch im Forschungsstadium stecken, jetzt auch in die Praxis überführen. Ich glaube, die Lufthansa ist auf ihrem guten Weg, aber sie muss jetzt erst mal wieder Geld verdienen, damit dieser Wandel auch finanziert werden kann. Heinemann: Bezogen auf den Einstieg des Bundes gilt jetzt für Sie der Grundsatz, wir haben eine Chance und deshalb nutzen wir sie nicht. Warum nicht? Lämmel: Ich habe das jetzt nicht ganz verstanden, was Sie damit meinen. Audios zum Thema Lufthansa Wie wird die Lufthansa weiterfliegen? - Gespräch mit Dlf-Wirtschaftsexperte Klemens Kindermann Audio Player Porträt: Lufthansa-Großaktionär Heinz Hermann Thiele Audio Player Heinemann: Bezogen zum Beispiel auf ökologische Zugeständnisse oder sonstige Zugeständnisse. Lämmel: Ich habe es ja gerade gesagt. Die Lufthansa muss erst mal wieder Geld verdienen. Dann wird sie auch in diesen ökologischen Wandel eintreten. Da braucht nicht der Staat Restriktionen oder Druck zu machen, sondern das weiß das Unternehmen selbst, dass sie auf diesem Feld weiter voranschreiten muss. Aber letztendlich muss alles finanziert werden und das ist, glaube ich, jetzt erst mal der Grundstein, der jetzt gelegt wird, um die Zukunft der Lufthansa zu sichern. Heinemann: Wieso bekommt der Bund die Aktien so billig? Lämmel: Es sind ja Vorzugsaktien und es ist ja ein Gesamtpaket. Man darf ja nicht bloß die Aktien sich betrachten, die Aktienoptionen, sondern der Bund gibt ja einen Kredit und beteiligt sich am Unternehmen. Insofern ist das, glaube ich, ein gerechtfertigtes Verfahren. Man muss ja auch sagen: Wenn jetzt dieses Paket nicht zustande kommt, wird das für alle Aktionäre sicherlich kein gutes Erwachen werden. Sicherheit für die Aktionäre Heinemann: Das Ganze sind ja kommunizierende Röhren. Kritikerinnen und Kritiker monieren, dass der Staat mit den besonders günstigen Aktien nur Geld verdienen möchte. Warum bedient sich der Bund zulasten der anderen Anteilseigner, für die die Bedeutung ihres Aktienpaketes ja sinkt? Lämmel: Ich glaube, die Geschichte ist gerade anders herum, denn wenn der Bund das Hilfspaket nicht geschnürt hätte, gemeinsam mit der Lufthansa, wären die Aktien in den nächsten Jahren immer wertloser geworden, weil Lufthansa nicht mehr am Markt agieren kann. Ich glaube, durch dieses Hilfspaket wird die Werthaltigkeit der Aktien steigen und damit auch der Grundstein wieder gelegt, damit die Lufthansa wieder erfolgreich wird, und ich glaube, das ist der beste Beitrag, den der Staat dazu beitragen kann, um Aktionären Sicherheit zu geben. Heinemann: Bleibt, Herr Lämmel, die Grundsatzfrage in dieser Auseinandersetzung. Sollten Großaktionäre die staatlichen Rettungsmaßnahmen für grundsätzlich gesunde Unternehmen verhindern können? Lämmel: Na ja. Es gilt nun mal das Aktienrecht und wer die Mehrheit der Aktien besitzt, hat erst mal entsprechend auch Stimmrechte. Insofern muss man sich auch bei einer staatlichen Beteiligung oder bei einem Hilfspaket, wie jetzt im Falle der Lufthansa, natürlich mit den Großaktionären auch an den Tisch setzen, um die Dinge zu besprechen. Ich denke, wir sind ja auch erst am Lernen, dass man Großaktionäre nicht einfach links liegen lassen kann und sich nur mit dem Unternehmen einigen muss. Insofern, glaube ich, ist das Verfahren der letzten Tage auch lehrreich für alle weiteren Fälle und der Wirtschaftsstabilisierungsfonds steht ja auch erst am Anfang. Ich glaube, das ist für beide Seiten ein gutes Projekt, um daran zu lernen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Lämmel im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die Lufthansa-Aktionäre stimmen heute darüber ab, ob sie den Staat für 300 Millionen Euro als Anteilseigner einsteigen lassen wollen. Dadurch würde die Werthaltigkeit der Aktien steigen, sagte der CDU-Politiker Andreas Lämmel im Dlf. Es sei der Grundstein, dass die Lufthansa wieder erfolgreich werde.
"2020-06-25T07:16:00+02:00"
"2020-06-26T09:31:08.460000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-der-lufthansa-aktionaersversammlung-die-werthaltigkeit-100.html
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EZB bereitet sich auf neue Aufgabe vor
In Frankfurt entstehen 1000 neue Arbeitsplätze. Die Europäische Zentralbank bereitet sich mit Hochdruck auf die Übernahme der europäischen Bankenaufsicht vor. 78 Mitarbeiter der nationalen Aufsichtsbehörden sind schon in den letzten Monaten zur EZB abgestellt worden, sie haben inzwischen einen Einjahres-Vertrag – der aber in vielen Fällen auch verlängert werden dürfte. Sie erarbeiten die Regeln, das Handbuch für die Arbeit der neuen Behörde. Ohnehin wirken die EZB und die nationalen Aufseher schon jetzt eng zusammen, erklärt EZB-Präsident Mario Draghi: "Wir profitieren schon von der Erfahrung der nationalen Bankenaufseher, denn es gibt eine sogenannte hochrangige Aufsehergruppe, deren Treffen ich leite. Sie sind sehr aktiv, was die Vorbereitung der Bankenaufsicht betrifft, und sie arbeiten intensiv am anstehenden Bilanztest. Das sind also die beiden Handlungsfelder – die Grundlagen der gemeinsamen Aufsicht und die Vorbereitung des Bilanzchecks und des Stresstests." Denn die EZB will, bevor sie im November die Aufsicht für die 124 größten Banken des Währungsraums übernimmt, genau wissen, wie es um diese steht. Das geschieht in mehreren Schritten, erläutert Ignazio Angeloni, in der EZB für Finanzstabilität zuständig: "Diese Überprüfung umfasst alle europäischen Banken, und sie ist von der technischen Seite her betrachtet sehr ausführlich, weil sie alle Risikoelemente der Banken umfasst. Wir analysieren die Qualität der Vermögenswerte, die Bilanzstruktur, die Organisationsweise der Bank. Alle diese Elemente beeinflussen die Risikolage der Bank. Es ist also die vollständigste und umfassendste Überprüfung ihrer Art, die je versucht wurde." Als letzter Schritt folgt dann ein Stresstest. Allein 24 deutsche Geldhäuser müssen sich diesen Tests durch die EZB unterziehen, neben Deutscher Bank und Commerzbank auch die Spitzeninstitute der Genossen und der Sparkassen, DZ-Bank und WGZ-Bank als auch Dekabank, aber auch Landesbanken - und Förderbanken wie die KfW, die Landwirtschaftliche Rentenbank, die L-Bank oder die NRW-Bank. Die aber haben besondere Geschäftsmodelle. Stephan Rabe, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Verbands öffentlicher Banken: "Sorge haben wir da nicht, weil wir schon Gelegenheit hatten, im EZB-Direktorium diese Besonderheiten der Förderbanken zu erläutern. Die haben uns auch verstanden und haben uns zugesagt, dass sie das künftig berücksichtigen werden. Die Frage der tatsächlichen Aufsichtsintensität wird sich ja dann in der künftigen Praxis zeigen, das können wir heute noch gar nicht prognostizieren. Ich gehe aber davon aus, dass der Fokus der EZB bei der künftigen Aufsicht nicht bei risikofreien Banken liegen wird." Grundsätzlich aber halten die deutschen Banken die Schaffung einer europäischen Bankenaufsicht für einen richtigen Schritt, sagt Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands deutscher Banken: "Ein internationales, grenzüberschreitendes Geschäft braucht auch eine internationale Beaufsichtigung der Banken. Das wird ein schwieriges Jahr werden 2014, die umfassende Überprüfung wird sowohl den Aufsehern als auch den Banken selber einiges abfordern. Das ist eine mühsame Übung, aber es ist eine notwendige und sinnvolle Übung." Bis dahin aber muss die EZB noch weitere Mitarbeiter finden. Die Präsidentin Danièle Nouy ist bestellt, die Vizepräsidentin könnte Sabine Lautenschläger heißen, sofern die Noch-Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank in das Direktorium der EZB einzieht. Wenn die obersten Manager erst bestellt sind, wird eine große Welle an Einstellungen folgen. Wie gut, dass die EZB im Sommer ihr neuen Turm im Frankfurter Osten bezieht. Denn das alte Domizil benötigen dann die etwa 1000 Mitarbeiter der neuen Bankenaufsicht.
Von Brigitte Scholtes
Bei der Europäischen Zentralbank laufen die Vorbereitungen auf die Übernahme der Bankenaufsicht auf Hochtouren: Dafür muss das Organ der Europäischen Union neue Mitarbeiter finden und ein Handbuch für die Arbeit der neuen Behörde verfassen.
"2014-01-09T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:05.042000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-bankenaufsicht-ezb-bereitet-sich-auf-neue-100.html
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Polnische Regierungschefin verlangt Entschuldigung von EU-Parlamentspräsidenten
Beata Szydlo im Parlament in Warschau (dpa/picture alliance/Die TAZ ist zuversichtlich:) Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo hat Vorwürfe von Schulz an ihre Regierung als "nicht hinnehmbar" zurückgewiesen. Der Sozialdemokrat hatte im Deutschlandfunk gesagt, was sich in Polen derzeit abspiele, habe Staatsstreich-Charakter und sei dramatisch. "Ich erwarte, dass Martin Schulz nicht nur derartige Aussagen unterlässt, sondern sich auch bei den Polen entschuldigt", sagte die nationalkonservative Regierungschefin daraufhin dem Nachrichtensender TVP Info. Heftiger Streit zwischen Regierung und Opposition In Polen hat sich an der Besetzung des Verfassungsgerichts ein heftiger Streit zwischen Regierung und Opposition entzündet. Kritiker werfen der seit gut einem Monat mit absoluter Mehrheit regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vor, die Justiz unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Sie verweisen darauf, dass die Regierungskanzlei ein Urteil des höchsten Gerichts anfänglich nicht veröffentlichen wollte, weil es ihr nicht passte. Am vorigen Wochenende gingen in Warschau Zehntausende für und gegen die neue Regierung auf die Straße.
null
Eine Äußerung von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Deutschlandfunk hat Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo in Rage versetzt. Der deutsche Europa-Politiker hatte ihre Regierung kritisiert und muss sich dafür rechtfertigen.
"2015-12-14T18:39:00+01:00"
"2020-01-30T13:14:13.511000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-interview-im-dlf-polnische-regierungschefin-verlangt-100.html
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Taxi-Gesänge mit Paul McCartney
Paul McCartney und Showmaster James Corden bei der "Carpool Karaoke" in Liverpool (Deutschlandradio / Screenshot) James Cordon ist der bekannteste britische Comedian. Für seine Show lädt er unter anderem Künstler ins Auto und fährt mit ihnen singend durch die Gegend – Carpool Caraoke heißt der Fachausdruck. Die jüngste Ausgabe ist eine ganz besondere: mit Paul McCartney durch Liverpool. Zurück in die Penny Lane Paul McCartney ist nicht oft in Liverpool, wirklich frei bewegen kann sich der Weltstar, der vor ein paar Tagen 76 wurde, ohnehin kaum irgendwo. Auch nicht daheim, in der Penny Lane. "Hier war diese Krankenschwester", sagt McCartney. "Und da, das ist der Frisörladen, der Barbershop in der Penny Lane." Zum ersten Mal ist Paul McCartney auch wieder in dem Haus, in dem er als Teenager gelebt hat, von 13 bis 18, sagt er. Hier entstanden die ersten großen Beatles-Songs, She loves you zum Beispiel, das er und John dann gleich seinem Vater vorgespielt haben. McCartney: "Mein Vater saß hier, vor dem Fernseher, und wir kamen rein und haben es ihm vorgesungen. Er hörte sich den ganzen Song an und sagte: Ja, ganz nett, aber müssen all diese Amerikanismen sein? Könnt ihr nicht singen: Yess Yess Yess statt yeah yeah yeah?" Überraschungsauftritt mit Sogwirkung Am Ende der Carpool Caraoke mit James Cordon spielt Paul McCartney live in einem Pub in Liverpool, in dem die Beatles ganz am Anfang auftraten. Das Publikum weiß von nichts, begreift aber schnell, die Überwältigung ist den Pub-Besuchern anzusehen und die Bar ist in kürzester Zeit rappelvoll Paul McCartneys Reise in die Heimat fand in dieser Woche statt. Es war eine Reise weit zurück in seine Vergangenheit, zurück in eine Welt, deren Freude und Gelassenheit ihn durchs Leben getragen hat. Die schönste aller Geschichten McCartney: "Ich hatte einen Traum, das war in den Sechzigern. Da kam meine Mutter, die tot war, auf mich zu und versicherte mir: Es ist okay, lass es einfach geschehen." Seine Mutter habe ihm seine positive Lebenshaltung mit auf den Weg gegeben, erinnert sich Paul McCartney: Lass es einfach geschehen. McCartney: "Sie hat mir diese positiven Worte gegeben. Lass es einfach geschehen." Cordon: "Das ist die schönste Geschichte, die ich je gehört habe!"
Von Thomas Spickhofen
Für "Carpool Karaoke" mit dem britischen Comedian James Cordon hat sich Paul McCartney durch die Stationen seiner Kindheit in Liverpool gesungen. Dabei war er zum ersten Mal seit seiner Teenager-Zeit auch wieder in dem Haus, in dem er damals wohnte.
"2018-06-23T17:00:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:34.911000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ueberraschungsbesuch-in-liverpool-taxi-gesaenge-mit-paul-100.html
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Architektur-Wettstreit am Ku-Damm
Bikini-Haus an der Budapester Straße (rechts) – gegenüber liegt der Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche. (Foto: Deutschlandradio, Marietta Schwarz) Christoph Schmitz: In Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin" läuft der alte Curt Boi als Poet Homer vollkommen verloren über eine endlose Brache. Dort, auf dem Todesstreifen, hatte einst das Leben des Potsdamer Platzes pulsiert, daneben das des Leipziger Platzes. Auf dem Potsdamer Platz ist nach der Wende schnell die hochfahrende Postmoderne gewuchert. Auf dem Leipziger Platz in den letzten Jahren ein strenges Oktogon mit Büros, Wohnungen und Einkaufszentren. Soweit der ehemalige Berliner Osten. Rund um die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche im Westen wurde es nach 1989 immer trüber. Bis auch sich auch hier seit Kurzem einiges verändert. Das Kino Zoo-Palast ist in seinem alten Glanz herausgeputzt worden, das neue Luxushotel Waldorf-Astoria ist entstanden. Und morgen wird nach umfangreicher Sanierung das sogenannte "Bikini-Haus" wiedereröffnet. 1957 war es nach Plänen der Architekten Paul Schwebes und Hans Schozsberger errichtet worden, sechs Etagen, Flachdach, wobei die mittlere Etage offenblieb, wodurch der Eindruck einer zweiteiligen Anlage erweckt wurde, Bikini-artig eben. Der belgische Künstler Arne Quinze hat den Sanierungsplan entwickelt. Was ist aus dem vermufften 50er-Jahre-Bikini geworden? Das habe ich den Architekturkritiker Nikolaus Bernau zuerst gefragt. Nikolaus Bernau: Ja, ob das so vermufft war, das ist schon mal die große Frage, weil der Bau war einfach runtergekommen. Der war auch richtig runtergewirtschaftet worden, zum letzten Mal Ende der 70er-Jahre richtig durchgreifend restauriert oder überarbeitet worden. Damals wurde übrigens auch diese berühmte Bauchschnalle geschlossen, also das Stück, wo man durchgucken konnte, zumindest nach der Idee der Architekten. Zweifellos: Dieser Bau ist erfrischt worden. Die Fassaden glänzen wieder wie neu, wie man so schön sagt. Und er ist auch erheblich verändert worden, unter anderem dadurch, dass die gesamte Rückfassade abgerissen wurde. Die war aber eines der berühmtesten Teile, die wurde sogar in Broschüren mal abgebildet, mit ganz tollen dramatisch-plastischen Treppenhäusern im Stil von Le Corbusier. Die breite Passagenhalle ist jetzt nur noch so ein schmales Gängli, und ganz wichtig ist natürlich: Oben auf das Dach kamen Aufbauten drauf. Das heißt, der ehemalige Sechsgeschosser ist heute ein Achtgeschosser. Schmitz: Die Rückfassade ist eine große Glaswand, durch die man in den Zoo hineinschaut. Bernau: Die Glasfassade rückwärts, da kann man in den Zoo auch reingucken. Das ist ein wunderbares Gimmick, ein wunderbares Element, und das ist eben Teil einer großen Shoppingmall, was da entstanden ist im Zentrum der Stadt – ganz klar! Schmitz: Jetzt allgemeiner gefragt: Wie entwickelt sich der Berliner Westen, dort an dieser Stelle, an der Gedächtniskirche und am Zoo, mit Kino, Zoo-Palast und Waldorf-Astoria-Hotel und jetzt dem neuen Bikini-Haus? Bernau: Es ist natürlich eine große Restaurierung und Rehabilitierung des Westens. Wie Sie schon sagten: Der ist nach 1989 ziemlich abgeschmiert, auch ökonomisch. Er hatte auch vorher übrigens schon erhebliche Probleme. Über den Niedergang des Kurfürstendamms wurde schon lange gelästert und geklagt. Und nach 1989 konzentrierte sich plötzlich alles auf Mitte. Das verlagert sich jetzt zurück in den Westen, nämlich schlichtweg auch das ökonomische Kapital, das sucht neue Anlagepunkte, und im Osten ist praktisch alles zugebaut. Deswegen will man da jetzt was machen und da sind natürlich auch die wohlhabenden Leute, die gute Geschäfte wie jetzt im Bikini-Haus zum Beispiel überhaupt goutieren können. Rehabilitierung der Fünfzigerjahre-Architektur Schmitz: Ist das eine Rehabilitierung der 50er-Jahre-Architektur im Westen? Bernau: In Westberlin auf jeden Fall. Die 50er- und 60er-Jahre sind in Berlin – das ist ein bisschen ein großer Unterschied zum Beispiel zu Köln – nicht so gut angesehen gewesen. Das hat sehr lange gedauert, bevor man entdeckt hat, was für tolle Bauwerke da entstanden sind, wie schön die Details sind, wie schön die Farben sind, wie elegant die Materialien sind. Das ist jetzt auch so eine Wiederentdeckung der alten Westberliner Geschichte. Es hat natürlich auch was damit zu tun, dass in den letzten 20 Jahren die Ostberliner Geschichte so im Vordergrund stand, also die Stalin-Allee. Und plötzlich entdeckt man: Hallo, das Hansa-Viertel ist eine ganz tolle Angelegenheit gewesen, oder das Zentrum rund um die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, die ja – man darf es auch nicht vergessen – gerade mit großem Aufwand saniert wird und ihren ganzen Glanz der 60er-Jahre wiederkriegt – dieser irrwitzige blaue Innenraum! Schmitz: Am anderen Ende des Tiergartens ist ein Oktogon-Komplex am Leipziger Platz, inklusive Shoppingmalls entstanden. Welcher architektonische Geist weht dort im ehemaligen Ostteil der Stadt? Bernau: Na ja, das ist auch das Schöne! Da ist wieder so ein Widerspruchsgeist sozusagen, weil im Westen wird die Moderne der 50er- und 60er-Jahre wiederentdeckt und im Osten wird in wager Anlehnung an das, was man als Preußen kaiserzeitlich bezeichnen könnte, gebaut: mit Pilastern und teilweise sogar mit Säulen und Gesimsen und hübsch gerahmten Fensterchen etc. Das ist ebenfalls eine riesige Shoppingmall, die ebenfalls in harter Konkurrenz stehen wird auch mit dem Westzentrum, weil es auch dort um Luxus-Shopping geht. Schmitz: Konkurrieren in Ost und West zwei Baukonzepte? Bernau: Ganz klar – zwei architektonische Konzepte, die gegeneinander stehen. Der Westen besinnt sich auf seine große Tradition der 50er-, 60er-Jahre, die ja auch eine Tradition war, zu sagen, wir sind der freie Teil der Stadt, wir sind der Teil, der amerikanisch, der französisch, der skandinavisch geprägt ist, im Gegensatz zur stalinistischen Hauptstadt der DDR. Und der Osten pflegt weiterhin diese, in den 1990er-Jahren angelegte Idee, wir wollen deutsche Hauptstadt sein mit dem Bewusstsein, wir waren mal preußische Hauptstadt. Das sind schon zwei Konzepte, die da gegeneinander stehen und die unterschiedlich auch um Kunden werben. Schmitz: …, sagt Nikolaus Bernau über neue Berliner Architekturen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Nikolaus Bernau im Gespräch mit Christoph Schmitz
Im Berliner Westen lebt der architektonische Charme der Fünfzigerjahre wieder auf, während am Leipziger Platz im ehemaligen Ostteil der Stadt in der Tradition der Neunzigerjahre aufgehübscht wird. Die deutsche Hauptstadt erlebe einen kulturellen Wettstreit, sagt der Architekturkritiker Nikolaus Bernau.
"2014-04-02T17:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:34:13.251000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berlin-architektur-wettstreit-am-ku-damm-100.html
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"Gettoartige Zustände verhindern"
Michael Fuchs: "Deutschland ist stark genug. Wir können das." (imago/Michael-Stauffenberg) Fuchs forderte an erster Stelle Sprachkurse für die Flüchtlinge. Zu diesem Zweck könne man beispielsweise versuchen, pensionierte Lehrer zu gewinnen, sagte der CDU-Politiker. Zudem müssten in den Aufnahmelagern Mitarbeiter der Arbeitsagenturen sitzen, um festzustellen, welche Qualifikationen die Flüchtlinge mitbringen. Dabei sollten sich die Behörden "großzügig" zeigen, verlangte Fuchs. "Es muss nicht alles unbedingt so sein, wie es in Deutschland über Jahrzehnte mit großer Bürokratie aufgebaut wurde." Unter anderem Ärzte und Auszubildende würden hierzulande gebraucht. Deshalb seien die vielen Flüchtlinge "auch eine Chance für uns", betonte der CDU-Politiker. Deutschland müsse die Migranten schnell integrieren: "Es macht keinen Sinn, dass sie ewig in den Lagern hocken. Das könnte zu gettoartigen Zuständen führen, und die müssen wir unbedingt verhindern." Fuchs zeigte sich zuversichtlich, dass die Herausforderungen gemeistert würden. "Deutschland ist stark genug. Wir können das." Das Interview in voller Länge: Jasper Barenberg: Gestern haben die Behörden in Ungarn das Ventil geöffnet und Hunderte Flüchtlinge machten sich daraufhin in überfüllten Zügen auf den Weg Richtung Österreich. Hunderte sind inzwischen auch in Süddeutschland eingetroffen. Ein Dach über dem Kopf, Sicherheit, etwas zu essen, ein Arztbesuch möglicherweise - das ist es vor allem, was für Flüchtlinge am Anfang zählt. Sie müssen registriert, untergebracht, verpflegt und betreut werden, und schon das ist eine große Herausforderung. Doch längst wird in Ministerien in Berlin daran gearbeitet, wie es danach weitergehen kann, und das heißt auch, denjenigen, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind, hier die Möglichkeit zu geben zu arbeiten, auf eigenen Beinen zu stehen. Da ist auch in den Augen der Kanzlerin noch einiges zu tun. Vorschläge dazu gibt es reichlich. Über einige wollen wir in den nächsten Minuten mit Michael Fuchs sprechen, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Fraktion im Bundestag. Schönen guten Morgen. Michael Fuchs: Guten Morgen, Herr Barenberg. Barenberg: Herr Fuchs, müssen wir es anerkannten Flüchtlingen in Deutschland viel leichter machen, hier auch einen Job zu finden, den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können? Fuchs: Ich halte es für notwendig, dass wir so schnell wie möglich handlungsfähig werden. Das ist das allererste. Es gibt einen riesigen Ansturm an Flüchtlingen, aber wir müssen es bewältigen. Deutschland ist stark, Deutschland kann das auch bewältigen und wir sollten es auch tun. Dazu müssen aber Veränderungen geschehen. Die Kanzlerin hat ja gestern ein ganzes Paket an Veränderungen genannt. Aber ich will die wesentlichen Dinge einfach nennen. In den Aufnahmelagern müssen sofort auch die Arbeitsagenturen Platz finden, damit für diejenigen, die arbeitsfähig und willig sind, sofort auch eine Möglichkeit gefunden wird. Das geht ja. Wir müssen ganz dringend Sprachunterricht organisieren. Vielleicht kann man es auch so machen, dass man den einen oder anderen älteren Lehrer, der in Pension ist, fragt, ob er nicht noch Lust hat, eine Zeit lang mitzuhelfen. Ich kann mir gut vorstellen, dass bei der Hilfsbereitschaft, die man ja in Deutschland Gott sei Dank sehr intensiv spürt, auch da Möglichkeiten sind. Jedenfalls wir werden eine Reihe von Flexibilitäten machen müssen, die wir vielleicht so in den letzten Jahren nicht mehr gewohnt waren, aber notwendig ist das. Ich glaube aber, dass wir das schaffen können. "Ohne vernünftige Sprache und Qualifikationen wird es natürlich schwer" Barenberg: Das heißt, nicht nur das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration muss mehr Entscheider bekommen, mehr Stellen, sondern auch die Bundesagentur für Arbeit. Fuchs: Ich denke, beide ja, und die Bundesagentur für Arbeit ist sicher gefordert, denn wir müssen ja auch die Qualifikationen feststellen und auch da muss eine gewisse Großzügigkeit herrschen. Es muss nicht alles unbedingt so sein, wie es in Deutschland über Jahrzehnte vielleicht auch mit einer großen Bürokratie aufgebaut wurde. Da ist es Zeit, dass wir schnelle Qualifikationsüberprüfungen schaffen. Es gibt ja Ärzte, die aus Syrien zu uns kommen, es gibt Leute aus allen Berufssparten, die kommen. Bei der großen Anzahl kann man ganz sicher davon ausgehen, dass sehr viele auch sofort im Arbeitsmarkt unterkommen können. An allererster Stelle kommt aber für mich Sprachbildung. Da müssen wir schnelle Kurse machen und da gibt es ja Möglichkeiten. Das sind Crash-Kurse, die gemacht werden müssen. Ich halte das aber für die notwendigste Maßnahme, die ergriffen werden muss, denn ohne vernünftige Sprache und Qualifikationen wird es natürlich schwer, die Leute in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und wir brauchen sie sogar im Arbeitsmarkt. Das ist auch eine Chance für uns, das sollten wir auch so verstehen. Barenberg: Da geben Sie also Ulrich Grillo Recht, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der sagt, wenn wir Flüchtlingen möglichst schnell die Möglichkeit geben, einen Job zu finden, helfen wir den Flüchtlingen und uns selbst auch. Fuchs: Das sehe ich ganz genauso wie Herr Grillo. Er hat vollkommen recht. Denn Sie wissen, dass es ja in vielen Regionen Deutschlands - gehen Sie mal ins Hohenloher Land oder selbst in meinem Wahlkreis - beispielsweise kaum noch oder gar keine Jugendarbeitslosigkeit mehr gibt. Das heißt mit anderen Worten, da bestehen Bedarfe, und zwar in allen Berufszweigen, und da sehe ich auch durchaus Chancen für die jungen Leute, die zu uns kommen. Die sind ja auch in aller Regel willig, möglichst schnell was zu tun, denn es macht ja nun keinen Sinn, dass die ewig in den Lagern hocken, und deswegen muss das auch so schnell wie möglich verändert werden, denn das könnte dann auch zu gettoartigen Zuständen führen und die müssen wir unbedingt verhindern. "Die wirtschaftliche Situation unseres Landes war ja selten so gut, wie sie jetzt ist" Barenberg: Lassen Sie uns kurz noch über Geld sprechen. Aus dem Arbeitsministerium hört man, dass es zusätzliche Mittel von bis zu drei Milliarden Euro brauchen wird, um all das zu bewältigen, was Sie angesprochen haben: bessere Deutschkurse, mehr Deutschkurse, Sprachunterricht und auch die Berater aus den Arbeitsagenturen, die schon von Anfang an die Qualifikation systematisch prüfen und aufnehmen. Ist das eine realistische Größenordnung? Fuchs: Das kann ich schwer einschätzen. Da existieren ja immer ganz flott gewaltige Zahlen. Wir sollten uns jetzt erst mal die Mühe machen, sauber durchzurechnen, was denn wirklich gebraucht wird und was es dann auch wirklich kostet. Ich weiß, dass bei der Arbeitsagentur zurzeit ein Überschuss da ist. Ich hoffe, dass der nicht aufgebraucht wird. Aber wir müssen dann unter Umständen auch als Bund da mithelfen. Es ist ja auch schon von der Kanzlerin deutlich gemacht worden gestern, dass sie bereit ist, sowohl der Arbeitsagentur als auch den Ländern bei der Integration der Flüchtlinge zu helfen, und die wirtschaftliche Situation unseres Landes war ja selten so gut, wie sie jetzt ist. Wir werden in diesem Jahr ganz sicher im Bund einen deutlichen Überschuss haben, dank Wolfgang Schäuble, der eine hervorragende Politik im Haushalt gemacht hat. Barenberg: Sie haben davon gesprochen, dass es Chancen bietet, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie groß sind denn aus Ihrer Sicht die Hürden, die auf diesem Weg noch aus dem Weg zu räumen sind? Fuchs: Es gibt sicherlich eine ganze Reihe von Hürden. Erst mal müssen wir natürlich auch klarstellen, dass diejenigen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, so schnell wie möglich wieder zurückgeführt werden müssen. Das muss schneller gehen, als es bis jetzt der Fall ist. Das darf nicht fünf, sechs Monate dauern, bis das beschieden oder entschieden ist. Das muss sofort geschehen. Es sind ja vor allen Dingen die Länder des Westbalkans, wo kein Recht auf Bleibe hier besteht. Das sollten wir dann organisieren. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist aber, dass wir alles, was bis jetzt an Flexibilität nicht da ist, möglichst bald einführen. Die Kanzlerin hat ja gesagt, dass noch im September dazu Gesetze gemacht werden sollen, in denen wir bestimmte Maßnahmen neu ergreifen, um den Flüchtlingen so schnell wie möglich zu helfen. Das fängt schon an damit, dass wir vernünftige Unterkünfte brauchen. Der nächste Winter kommt bestimmt. "Wir können nicht hingehen und nehmen die ganze Welt auf" Barenberg: Sprechen wir über die Menschen, die vor allem etwa aus den Westbalkan-Ländern zu uns kommen. Macht es denn Sinn, einen Asylantrag, der offensichtlich unbegründet ist oder so jedenfalls gewertet wird, negativ zu bescheiden? Dann geht, sagen wir, ein Mann aus dem Kosovo wieder zurück, um sich dann als Arbeitsmigrant zu bewerben, und da sagen sie, den können wir auch gut gebrauchen. Macht das Sinn, diesen Umweg zu gehen? Fuchs: Ich glaube, ja, weil es momentan einfach nicht bei der Menge, die da momentan kommt, anders zu händeln ist. Ich halte es für sinnvoll, wenn er hier hin will und als Arbeitsmigrant tatsächlich hier hinkommen kann, weil entsprechende Bedarfe bestehen, dann soll er das doch bitte gleich machen und nicht erst als Asylant herkommen, wohl wissend, dass er als Asylant überhaupt keine Chance hat. Das halte ich nicht für vernünftig und ich bin der Meinung, wir sollten da auch sehr deutlich werden, denn wir können nicht hingehen und nehmen die ganze Welt auf, sondern diejenigen, die wirklich Asyl brauchen, wie beispielsweise die Syrer, aber auch Menschen aus Eritrea, Nigeria et cetera, wo Boko Haram wütet, die müssen bei uns eine Chance haben. Das Grundgesetz, der Artikel 16, gibt das ganz klar her und das sollten wir auch als unsere Aufgabe sehen. Deutschland ist ein Land, was die Menschenwürde ganz hochhält, und das gehört dazu. Barenberg: Welche andere Chance als den Antrag auf Asyl hat ein Mann, sagen wir, ein Mensch aus dem Kosovo, um hier Arbeit zu suchen? Fuchs: Wenn er qualifiziert ist und in Bereichen, wo qualifizierte Arbeitskräfte gesucht werden, tätig sein kann, dann kann ich mir vorstellen, dass der auch eine Arbeitserlaubnis bekommt. Das ist ja mit unserem Aufenthaltsrecht, was wir jetzt haben, schon vereinbar. Wir haben ja viel mehr, als eigentlich allgemeinhin bekannt ist. Das sollte dann aber auch ordnungsgemäß ablaufen und nicht über den Umweg von Asyl, was er nicht bekommen kann, weil er beispielsweise in Serbien keine Verfolgung hat. Der serbische Ministerpräsident, Herr Vucic, hat ja völlig zurecht gesagt, jetzt raubt uns nicht unsere jungen Leute, die brauchen wir selbst. "Wir müssen jetzt erst mal das große Problem der berechtigten Asylsuchenden lösen" Barenberg: Nun schlagen die Grünen vor, beispielsweise Arbeitssuchenden Visa auszustellen, die sechs Monate gültig sind, und solange sie sich selbst finanzieren können und ausreichend krankenversichert sind, Menschen die Möglichkeit zu geben, hier einen Arbeitsplatz zu suchen. Was halten Sie von diesem Vorschlag? Fuchs: Ich halte nichts davon, jetzt Sonderregelungen zu machen. Wir müssen jetzt erst mal das große Problem der berechtigten Asylsuchenden lösen. Das ist die drängendste Aufgabe. Die Kanzlerin hat das ganz deutlich gemacht. Aber Länder, nach EU-Recht sichere Länder, da sollten wir dann auch ganz klar machen, dass wir kein Asyl gewähren können, und dementsprechend die Leute auch zurückführen. Barenberg: Nehmen wir einen anderen Vorschlag; der kommt vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Da sagt der Präsident Eric Schweitzer, es soll einen Abschiebestopp für Flüchtlinge geben, die in Deutschland gerade eine Ausbildung machen. Er fordert auch, dass danach mindestens zwei Jahre im Beruf keine Abschiebung erfolgt, und wenn sich jemand zu einer Fachkraft dann weiterbilden lässt, dann soll er auch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Sind Sie dafür zu haben? Fuchs: Das muss man überlegen bei all den Vorschlägen, die zurzeit gemacht werden. Für mich ist der wesentliche Punkt der, dass wir für die Leute, die da sind und die bleiben können und dürfen und wollen und müssen, weil sie in ihren Ländern verfolgt werden, für die müssen wir an erster Stelle Lösungen schaffen und dann können wir uns um die anderen von Ihnen genannten Probleme kümmern, wenn es denn wirklich Bereiche gibt, in denen wir erheblichen Fachkräftebedarf haben. Barenberg: Aber auch für die, die bleiben dürfen, gilt ja, dass sie oft erst nach 15 Monaten überhaupt sich auf die Suche machen können nach einem Arbeitsplatz, weil so lange muss geprüft werden, ob nicht auch ein Deutscher oder ein EU-Bürger diesen Job übernehmen kann. Das ist die sogenannte Vorrangprüfung. Auch da verlangt die Wirtschaft ja oder regt an, dass man das noch mal überdenkt. Sind Sie dazu bereit? Fuchs: Dazu bin ich durchaus bereit und wir müssen sehen, dass wir die Leute so schnell wie möglich integrieren in Deutschland. Dazu gehört Sprache an erster Stelle, aber natürlich auch die Chance auf einen Arbeitsplatz. Und gerade da, wo wir erheblichen Bedarf haben - da gibt es ja eine ganze Reihe von Bereichen in Deutschland. Wir haben eine sehr niedrige, jedenfalls im internationalen Bereich sehr niedrige Arbeitslosigkeit -, da sehe ich durchaus Chancen und das sollten wir dann auch tun. Weil nur wenn die Leute vernünftig integriert werden, wird das dann auch zu Lösungen für diese Leute in Deutschland führen. "Einwanderungsgesetz, falls nötig" Barenberg: Wenn es auf Flexibilität ankommt und auf durchaus pragmatische Lösungen in der jetzigen Situation, ist es dann nicht umso mehr Zeit, auch darüber zu diskutieren, ob man all das nicht in ein Einwanderungsgesetz gießt, damit allen klar ist, wie die Spielregeln in Deutschland sind? Fuchs: Am Ende kann man das machen, aber wir sollten erst mal die Gesetze, die wir bereits haben, wie das Aufenthaltsrecht, in Deutschland anwenden und die vernünftig diskutieren, wie weit wir da noch Veränderungen machen können und müssen. Ich gehe mal davon aus, dass das, was wir bis jetzt haben, eigentlich reicht. Aber wenn es dann am Ende des Tages sich als notwendig erweist, auch noch ein Einwanderungsgesetz zu machen, so werden wir sicherlich darüber diskutieren können und dann was Vernünftiges dazu machen. Barenberg: Die Kanzlerin hat ja gestern gesagt, das hielte sie nicht für vordringlich, ein Einwanderungsgesetz. Fuchs: Genau. Barenberg: Andere in der Partei sehen das anders, beispielsweise der stellvertretende Parteichef Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen. Der will das im Vorstand bei der Sitzung am 14. September diskutieren, dafür werben. Was werden Sie ihm am 14. September sagen? Hat alles noch Zeit? Fuchs: Ich werde mir das bis dahin sehr genau überlegen. Wir werden es ja auch noch in der Fraktion diskutieren. In der nächsten Sitzungswoche werden wir ganz sicherlich dazu Diskussionen haben. Wir wissen alle, dass auch überraschend eine Aufgabe auf uns zugekommen ist, mit der wir so nicht gerechnet haben. Ich rufe einfach mal ins Gedächtnis, dass wir am Jahresanfang von 200.000 Leuten gesprochen haben. Ich habe gestern eine Zahl von einer Million gehört. Das geht ja in einer Weise rasant nach oben, wie wir uns das haben nicht vorstellen können. Und wir dürfen auch nicht glauben, dass am Jahresende dieser Zustrom beendet ist. Das könnte durchaus im nächsten Jahr so weitergehen. Deswegen hat die Kanzlerin auch zurecht gesagt, wir brauchen eine europäische Lösung. Wir können nicht als Deutschland das Problem Europas alleine lösen. Das wird nicht funktionieren. Wir müssen mit den anderen Ländern reden und werden mit den anderen Ländern auch Lösungen finden müssen und wir müssen gemeinsam dann die Situation in Deutschland schultern. Eine schwere Aufgabe, aber Deutschland ist stark genug dafür, wir können das. Barenberg: Michael Fuchs, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Fuchs. Fuchs: Danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Fuchs im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Michael Fuchs, hat mehr Anstrengungen gefordert, um Flüchtlinge in Deutschland in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Es macht keinen Sinn, dass sie ewig in den Lagern hocken", sagte er im DLF. Das könne zu "gettoartigen Zuständen" führen.
"2015-09-01T07:15:00+02:00"
"2020-01-30T12:56:57.491000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/integration-der-fluechtlinge-gettoartige-zustaende-100.html
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Warner lebenslang gesperrt
Sepp Blatter und Jack Warner herzen sich bei der U17-WM in Südkorea 2007 - gegen Warner gibt es zahlreiche Korruptionsvorwürfe (imago Sportfoto) Von seinen Ämtern war Warner 2011 wegen der Korruptionsvorwürfe ohnehin bereits zurückgetreten. Bis dahin war er Vize-Präsident der FIFA, Präsident des Nord- und Mittelamerikanischen Kontinentalverbandes CONCACAF sowie Präsident des karibischen Verbandes CFU. Die von dem deutschen Richter Hans-Joachim Eckert geleitete Kommission teilte mit, dass Warner "in seiner Position als Fußballfunktionär eine Schlüsselrolle beim Anbieten, Annehmen und dem Empfangen von geheimen und illegalen Zahlungen" eingenommen habe. Das schweizerische Bundesamt für Justiz (BJ) bewilligte derweil die Auslieferung von Eduardo Li Sanchez an die USA. Der frühere Präsident des costa-ricanischen Fußballverbands war Ende Mai zusammen mit sechs weiteren Funktionären aufgrund der Ermittlungen der US-Justiz in Zürich festgenommen worden. Allerdings kann er die Entscheidung innerhalb von 30 Tagen anfechten. Viele Korruptionsvorwürfe gegen Warner Zuletzt kam ein weiterer Fall um Warner an die Öffentlichkeit. Laut eines Berichts des Schweizer Rundfunk und Fernsehens (SRF) zufolge soll Warner vor zehn Jahren TV-Übertragungsrechte deutlich unter dem Marktwert von der FIFA gekauft haben. Der - wahrscheinlich - im Februar 2016 aus dem Amt scheidende FIFA-Präsident Sepp Blatter soll den Vertrag mit dem damaligen Chef der karibischen Fußball-Union (CFU), Jack Warner, abgeschlossen und laut des Berichts des SRF auch unterzeichnet haben. Demzufolge verkaufte Blatter die Übertragungsrechte für die WM in Südafrika für 250.000 Dollar, die für die WM in Brasilien für 350.000 Dollar. Warner soll die TV-Übertragungsrechte zwei Jahre später nach Schätzungen in Medien dann für 15 bis 20 Millionen Dollar wieder weiterverkauft haben. Warner ist in den USA zudem wie mehrere weitere FIFA-Funktionäre im jüngsten Skandal um den Weltverband angeklagt. Am 16. September hatte der neue Generalstaatsanwalt in Warners Heimat Trinidad und Tobago darauf verzichtet, dem zuständigen Gericht in der Hauptstadt Port of Spain fristgerecht die Papiere zuzustellen, mit denen das von den USA beantragte Auslieferungsverfahren gegen den ehemaligen Fußball-Funktionär Jack Warner angeschoben worden wäre. Gegen Blatter ermittelt das Schweizer Bundesamt für Justiz, wie am vergangenen Freitag bekannt wurde. Dem Präsidenten wird unter anderem "eine treuwidrige Zahlung von zwei Millionen Schweizer Franken im Februar 2011 zu Lasten der FIFA" vorgeworfen. Europas Kandidat Platini als Topfavorit auf die Nachfolge Blatters. Sollte auch Platini zum Beschuldigten werden, wäre seine Bewerbung hinfällig.Platini und Blatter beteuern ihre Unschuld. Blatter hat bislang einen Rücktritt ausgeschlossen und will bis zu dem bislang für den 26. Februar geplanten FIFA-Kongress und einer Neuwahl im Amt bleiben. Ethikkommission selbst oft in der Kritik Die Ethikkommission, die nun auch gegen Blatter und Platini ermittelt, hat schon zahlreiche FIFA-Funktionäre wie Chuck Blazer gesperrt, steht aber selbst in der Kritik. Oft wird ihr mangelnde Unabhängigkeit vorgeworfen. Als der US-amerikanische Anwalt Michael J. Garcia die Hintergründe der Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an Russland und Katar im Auftrag der Kommission ermittelte, gab es hinterher große Differenzen. Am 5. September hatte Garcia seinen Abschlussbericht an die FIFA geschickt, die diesen jedoch nicht veröffentlichte. Daraufhin trat Garcia als Chefermittler zurück. So sprach sich die FIFA am Ende selbst von den Vorwürfen um die WM-Vergaben frei. 2011 war der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofes, Günter Hirsch aus der Ethikkommission zurückgetreten und warf ihr mangelndes Interesse, sich an ethische Regeln zu halten. (nch/tzi)
null
Der Fußballfunktionär Jack Warner ist von der FIFA-Ethikkommisssion lebenslang gesperrt worden. Dem früheren Vizepräsidenten des Weltverbandes wurde in der Vergangenheit häufig Korruption vorgeworfen, zuletzt bei einem Geschäft um TV-Rechte, an dem auch FIFA-Präsident Sepp Blatter beteiligt gewesen war. Die Schweiz will derweil einen verhafteten Funktionär an die USA ausliefern.
"2015-09-29T13:17:00+02:00"
"2020-01-30T13:01:54.473000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-skandal-warner-lebenslang-gesperrt-100.html
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"Ich gehe aktiv auf Spieler zu, wenn mir Dinge auffallen"
Martin Meichelbeck ist Sportdirektor von Greuther Fürth - und Psychologe. (imago sportfotodienst) Vor jedem Spiel habe sein Körper mit Durchfall und Brechreiz auf den hohen Erwartungs- und Leistungsdruck reagiert: Dass der 33-jährige Weltmeister Per Mertesacker sich gegenüber einer Spiegel-Journalistin geöffnet und über Druck und Ängste in seiner Karriere als Profifußballer gesprochen hat, findet Martin Meichelbeck gut. "Überrascht haben mich diese Aussagen nicht", sagte der Sportdirektor von Greuther Fürth in der Sendung "Sport am Sonntag". Das seien "psychosomatische Reaktionen", die er auch aus seinem Arbeitsalltag kenne. "Sportpsychologie nicht so etabliert wie es sein müsste" Als studierter Psychologe setze er sich bei seinem Verein dafür ein, dass Psychologie zum selbstverständlichen Bestandteil in der Betreuung von Fußballern werde: So wie es zum Beispiel bei der Ernährungsberatung oder Physiotherapie längst der Fall sei, müsse man auch "aktiv mit dem Kopf arbeiten, der letztlich alles steuert." Im Profibereich sei die psychologische Betreuung jedoch nach wie vor mangelhaft: "Sportpsychologie ist im Profifußball bei weitem nicht so etabliert wie es sein müsste." Zwar hätten viele Vereine ein psychologisches Angebot, das Spieler bei Bedarf nutzen können - er versuche jedoch in seinem Verein "einen anderen Weg" zu gehen: "Ich gehe auch aktiv auf Spieler zu, wenn mir Dinge auffallen", erklärte Meichelbeck. Das Problem: "Profifußball ist wahnsinnig ergebnisorientiert." Dadurch gebe man Entwicklungen oft nicht die nötige Zeit "und darunter leiden viele Menschen". Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Meichelbeck im Gespräch mit Klaas Reese
Durchfall und Brechreiz vor jedem Spiel: Solche psychomatische Reaktionen auf Druck, wie sie Per Mertesacker im Spiegel beschrieben hat, kennt Martin Meichelbeck. Der Sportdirektor von Greuther Fürth ist auch Psychologe und kritisierte im Dlf die mangelhafte psychologische Betreuung im Profifußball.
"2018-03-11T19:23:00+01:00"
"2020-01-27T17:42:53.200000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportpsychologe-meichelbeck-ich-gehe-aktiv-auf-spieler-zu-100.html
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Bund soll Bildung finanzieren dürfen
Mehr Investitionen des Bundes in die Bildung: ja. Aber nur, wenn die Möglichkeit erweiterter Finanzhilfen im Grundgesetz verankert werde. Sagt Joachim Wieland von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer: "Einzige Bedingung ist: Achtung der Bildungshoheit der Länder, das Ganze muss einstimmig erfolgen, und Grundlage wird eine Vereinbarung."Das schaffe größere Rechtssicherheit, so der Jurist, denn damit könne der Bund verfassungsrechtlich absichern, was er in den vergangenen Jahren sowieso immer schon praktiziert habe: Gelder für einzelne Bildungsprojekte zur Verfügung zu stellen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft unterstützt diese Idee. Die notwendige Einstimmigkeit der Länder sieht sie nicht als Problem."Schauen Sie auf die Exzellenzinitiative, das muss keine Hürde sein, manchmal ist es ein Stück weit vernünftiger, wenn man sich gemeinsam auf den Weg macht. Nur das Risiko bei Nicht-Einstimmigkeit liegt für uns Länder darin, dass es zur Begünstigung einiger politisch kommoder Länder kommt für bestimmte Maßnahmen, und das wollen wir natürlich ausschließen."Die Ministerpräsidentin ist zuversichtlich, dass mit Hilfe der Verfassungsänderung die Neuordnung der Bildungsfinanzierung klappen wird.
Von Wolf-Sören Treusch
Eine Neuordnung der Bildungsfinanzierung ist nötig. Dafür plädieren die beiden Gutachter, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung die Studie erstellt haben.
"2011-09-24T14:05:00+02:00"
"2020-02-04T02:07:28.327000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bund-soll-bildung-finanzieren-duerfen-100.html
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Türkische Nato-Offiziere hoffen auf Asyl
Die Flaggen Deutschlands und der Nato (picture alliance / dpa / Marcus Führer) Die türkische Regierung wirft den Soldaten vor, in den Militärputsch vergangenen Sommer verwickelt gewesen zu sein. Zwei der Betroffenen haben jetzt zum ersten Mal öffentlich über ihre Situation gesprochen. Dem ARD-Magazin "Report Mainz" und dem "Spiegel" sagten die beiden Offiziere, sie hätten aus Angst Asyl für sich und ihre Familien beantragt. Nach eigenen Angaben fürchten sie, in der Türkei verhaftet und womöglich auch gefoltert zu werden. Mit dem Putschversuch hätten sie nichts zu tun und erst aus der Zeitung davon erfahren. Wenige Wochen nach dem Umsturzversuch waren die Soldaten aus dem Dienst entlassen worden - ohne nähere Begründung, wie sie sagen. Sie selbst vermuten, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gehe es darum, prowestliche und säkulare Haltungen von Türken im Militär systematisch zu bestrafen. Aber auch in Deutschland haben die Soldaten Angst um sich und ihre Familien. Denn in der Türkei schlägt der Fall längst hohe Wellen. "Report Mainz" liegt nach eigenen Angaben ein Beitrag des türkischen Nachrichtenkanals "Al Haber" vor. Darin werden die NATO-Mitarbeiter als Terroristen bezeichnet und beschuldigt, Anhänger des Predigers Gülen zu sein, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Heikle Angelegenheit für Merkel Wie der "Spiegel" berichtet, wurden die Asylanträge der Betroffenen zum Teil schon vor Monaten gestellt, getan habe sich bisher aber nichts. Der Fall ist heikel, denn mit den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei steht es nicht zum Besten. Bundeskanzlerin Merkel plant für Donnerstag einen Besuch in der Türkei. Sie will, dass der Flüchtlingsdeal hält, ein Streit um türkische Soldaten käme da äußerst ungelegen. Denn wie sensibel die türkische Regierung bei dem Thema reagiert, zeigt das Beispiel Griechenland. Dort hatte der oberste Gerichtshof am vergangenen Donnerstag die Auslieferung von acht türkischen Militärs verweigert. Sie waren während des Putschversuchs in der Türkei per Hubschrauber nach Griechenland geflohen und hatten dort Asyl beantragt. Die türkische Regierung stuft die Militärs als Putschisten ein und fordert die Auslieferung. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte bereits mit Konsequenzen bis hin zur Beendigung eines Rücknahmeabkommens. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu (dpa/picture alliance/Maja Hitij) Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos geht davon aus, dass die Zahl der türkischen Offiziere, die in Europa Asyl beantragt haben, noch viel höher ist. "Es sind mehr als 400 (türkische) Offiziere, die Asyl beantragt haben", sagte er dem griechischen Sender Skai am Samstag. Das habe er aus NATO-Kreisen in Brüssel erfahren. Ein Asylfall wie jeder andere? Das Bundesinnenministerium erklärte dem ARD-Magazin "Report Mainz" zufolge, der Fall werde behandelt wie andere Asylfälle auch. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, sagte dem "Spiegel", es handele sich um ein rechtliches Verfahren, politische Erwägungen dürften dabei keine Rolle spielen. Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, spricht sich im "Report Mainz" für ein generelles Bleiberecht für die ehemaligen NATO-Soldaten aus: "Ich bin persönlich der Auffassung, dass es sich um eine besonders sensible Personengruppe handelt, und deshalb würde ich es auch sehr begrüßen, wenn man diese auch einheitlich behandeln würde und sie insgesamt nicht in die Türkei zurück schicken würde. Das wäre aus meiner Sicht nicht verantwortbar." Mayer ist überzeugt, dass die Soldaten in ihrer Heimat im Gefängnis landen würden. Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Bartels, sagte im Deutschlandfunk, er habe großes Verständnis dafür, wenn türkische Soldaten im Ausland Angst hätten, in ihre Heimat zurückzukehren. In der Türkei herrsche ein Klima der Angst und Unsicherheit, insofern hätten Soldaten hätten jedes Recht auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren. Der griechische Verteidigungsminiter Panos Kammenos geht davon aus, dass die Zahl der türkischen Offiziere, die in Europa Asyl beantragt haben, noch viel höher ist. "Es sind mehr als 400 (türkische) Offiziere, die Asyl beantragt haben", sagte er dem griechischen Sender Skai. Das habe er aus NATO-Kreisen in Brüssel erfahren. (rm/tzi)
null
Die angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei werden erneut auf die Probe gestellt: Dutzende türkische NATO-Soldaten hoffen auf Asyl in Deutschland. Zurück in ihre Heimat wollen sie nicht, aus Angst vor Gefängnis und Folter. Für Kanzlerin Merkel kommen die Berichte über den Fall zur Unzeit.
"2017-01-28T13:44:00+01:00"
"2020-01-28T09:32:30.840000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutschland-tuerkische-nato-offiziere-hoffen-auf-asyl-100.html
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Aus Fukushima lernen
Vom Strahlenschutz her seien bei Fukushima zwei Dinge positiv gelaufen, urteilt Wolfgang Weiss vom Bundesamt für Strahlenschutz und Vorsitzender der UNSCEAR: "Was die Bevölkerung angeht, da ist es ja so, dass in Übereinstimmung mit den Verfahren, die man im Notfallschutz macht, die japanische Regierung sehr schnell evakuiert hat, in den 20 Kilometern, das ist positiv. Was bisher auch gemacht worden ist, das war eine Empfehlung, die wir unmittelbar nach dem Ereignis abgegeben haben: Es wurden etwa 1000 Kinder untersucht, was die Schilddrüsenaufnahme von Jod angeht."Denn Tschernobyl lehrt, dass radioaktives Jod während der ersten Wochen die größte Gefahr darstellt - und dass Kinder am empfindlichsten darauf reagieren. Für diese Aktionen mitten im Chaos nach dem Tsunami gibt es Lob von den Strahlenschützern. Sie äußern jedoch auch Kritik, denn es lief nicht alles "nach Handbuch": So müsse, wer evakuiere, auch verhindern, dass belastete Lebensmittel verzehrt würden…"Das zweite waren die Jodtabletten. Die wurden ja verteilt. Es ist aber bis heute, für mich jedenfalls, nicht 100 Prozent klar, ob die Leute sie auch genommen haben, ob man gesagt hat, nehmt sie nicht, wer sie genommen hat, was da passiert ist."Außerdem offenbarte die Nuklearkatastrophe eine große Schwäche des japanischen Strahlenschutzes: das Fehlen eines engmaschigen Messnetzes für Radioaktivität: "Wir haben nach Tschernobyl sehr viel Geld in die Hand genommen, in ganz Europa, und haben sowohl Messeinrichtungen als auch Methoden, um dann Ausbreitungsrechnungen zu entwickeln. Das ist in Japan in diesem Falle nicht gemacht worden, war weit weg. Das ist so. Und hat dann halt auch dazu geführt, dass am Anfang eben nicht die Methoden da waren und auch die Daten da waren, die man gerne gehabt hätte, um zum Beispiel ein Gebiet im Nordwesten wirklich sehr schnell auszumessen."Mit einem gut ausgebauten Messnetz hätte etwa die Evakuierung in der Gegend um den Ort IItake schneller erfolgen können. Bei dem UNSCEAR-Treffen in Wien soll auch ein wissenschaftliches Messprogramm entworfen werden. Das soll erfassen, wie stark Menschen, Tiere und Umwelt belastet wurden. Weiss: "Dies ist beim jetzigen Stand der Erkenntnis schwierig, weil die bisher mehrheitlich durchgeführten Messungen nicht dazu dienten, wissenschaftlich ausgewertet zu werden, sondern Grundlage waren, um Schutzmaßnahmen einzuleiten. Das ist ein Unterschied: für Schutzmaßnahmen braucht man qualitativ weniger anspruchsvolle Daten als für wissenschaftliche Untersuchungen."So beruhigt zwar, dass bei keinem der untersuchten Kinder die Radiojod-Dosis über dem Grenzwert gelegen hat. Fraglich jedoch ist, ob die Qualität der Daten ausreicht, um die möglichen Folgen auch kleiner Dosen zu erkennen. Auch bei anderen Gruppen ist die Datenlage derzeit dürftig:"Das Problem, was wir hier in Japan speziell haben, ist, dass es da bis zu fast 100.000 Menschen gab, die evakuiert worden sind, die zum Teil im Land verteilt worden sind. Und es wird schwierig sein, retrospektiv die ganzen individuellen, ja, Geschichten dieser Menschen nach zu verfolgen…"… um daraus epidemiologische Schlüsse zu ziehen. Deshalb läuft in der Präfektur Fukushima eine Pilotstudie an den Personen, die wahrscheinlich die höchsten Expositionen erhalten haben. Diese Studie ist die Vorbereitung für die große epidemiologische Studie, die die Evakuierten erfassen soll. Auf jeden Fall müssten auch die Arbeiter näher untersucht werden. Einige von ihnen haben Dosen erhalten, die das Krebsrisiko erhöhen. Weiss:"Die Unsicherheiten bestehen darin, dass da zum Teil nur externe Exposition gemessen wurde, dass man jetzt damit angefangen hat, auch Inkorporationen in Ganzkörperzählern zu messen, dass man die Gesamtdosis über biologische Dosimetrie ermitteln will, das wird noch einige Zeit dauern."Im kommenden Jahr soll ein erster Bericht vorliegen, in zwei Jahren hofft UNSCEAR eine Abschätzung der Folgen von Fukushima fertig zu haben.
Von Dagmar Röhrlich
UNSCEAR ist das wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen, das sich mit den Folgen Strahlung befasst. Daher wurde das Gremium auch in Fukushima aktiv und gab den Behörden vor Ort Handlungsempfehlungen. Auf einem Treffen in Wien hat UNSCEAR jetzt den Grundstein gelegt, die Betroffenen des Reaktorunfalls langfristig zu beobachten, um Informationen über die Folgen der Strahlenbelastung zu erhalten.
"2011-07-01T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:13:04.014000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aus-fukushima-lernen-102.html
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Schreiben statt Tippen - gut fürs Hirn
Mit einer leserlichen Handschrift haben immer mehr Kinder Probleme (ure alliance / dpa) Die Verteidiger des Schreibens mit der Hand im Bildungswesen argumentieren bei der Tagung in der TU Darmstadt mit neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Aktuelle Studien hätten gezeigt, dass das Handschreiben Verknüpfungen und Prozesse im Gehirn auslöst, die es beim Tippen auf einer Computertastatur nicht gibt. Marianela Diaz Meyer, Ergonomie-Expertin und Leiterin des Schreibmotorik-Instituts in Heroldsberg bei Nürnberg: "Ja, das ist ein wichtiges Thema in der Neurowissenschaft. Es wird ganz aktiv untersucht, wie die Gehirnaktivitäten dann laufen. Dabei wurde herausgefunden in einer Metaanalyse in 2013, dass 12 Gehirnareale beim Handschreiben aktiviert werden. Und beim Handschreiben werden auch Spuren im Gehirn abgelegt und die können abgerufen werden, wenn die Kinder zum Beispiel die Buchstaben wiedererkennen sollen, aber auch bei Erwachsenen, wenn sie sich etwas merken sollen oder wenn sie etwas verarbeiten." Handschreiben auf dem Tablet Das Schreiben mit der Hand und die Benutzung etwa eines Tablet-Computers müssen in Zukunft allerdings kein Widerspruch mehr bleiben. Das ist das Thema mehrerer Vorträge der Darmstädter Tagung. Denn zunehmend werden Techniken entwickelt, die es erlauben, das mit der Hand Geschriebene unmittelbar im Computer zu Druckbuchstaben zu verarbeiten. Dr. Christian Marquardt, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des fränkischen Schreibmotorik-Institutes: "Jetzt haben wir eben neue Medien wie Tablets oder sogar autarke Stifte, wo in dem Stift selber digitalisiert wird und diese Information wird dann ausgewertet." Analoge und digitale Welt im Schreibunterricht verbinden Also Schreiben auf dem Touchscreen oder mit einem Stift, der einen Chip eingebaut hat und die Handschrift in Druckbuchstaben übersetzt: Wo solche neuen Kombinationstechniken noch nicht zur Verfügung stehen, kann eine klare Aufteilung der Arbeit zwischen mit der Hand Geschriebenem und Tippen auf der Computertastatur sinnvoll sein. Vor allem in der Schule. Djoke Mulder, die ehemalige Direktorin einer Grundschule in der niederländischen Provinz Friesland berichtet in Darmstadt davon, wie man an ihrer Schule das Beste aus der digitalen sowie der analogen Welt im Schreibunterricht verbindet: "Wir haben eine Leitlinie, die Tablet-Computer nur anderthalb Stunden täglich zu benutzen und inhaltlich vor allem für die Themen, bei denen es Sinn macht - etwa, um direkt Arbeitsergebnisse zu überprüfen. Dann können die Kinder die Computer für ihr jeweiliges Level benutzen. Und für andere Übungen werden Handschreiben und Buchlektüre wie an jeder anderen Schule eingesetzt. So haben wir das Beste aus zwei Welten." Häufige Probleme mit leserlicher Handschrift Damit aber diese beiden Welten wirklich kombiniert werden können, müssen die Kinder erst einmal die Handschrift so gut erlernen, dass die später auch leserlich ist. Das Handschreiben ist auch wichtig für die Entwicklung der Feinmotorik, so der Tenor der Tagungsteilnehmer in Darmstadt. In der Schulpraxis zeigen sich dabei große Probleme, so Marianela Diaz Meyer vom Schreibmotorik -Institut: "2015 haben wir eine repräsentative deutschlandweite Umfrage gemeinsam mit dem Deutschen Lehrerverband gemacht und wir haben herausgefunden, dass jedes dritte Mädchen und jeder zweite Junge Probleme mit dem Handschreiben haben. Und das war nicht nur in der Grundschule, sondern auch bei Kindern in den weiterführenden Schulen. Und wir sagen, dass bis zum 16. Lebensjahr die Kinder die Schrift automatisieren können." Bessere Erinnerung durch analoges Schreiben Doch brauchen Jugendliche und junge Erwachsene dann später das Handschreiben überhaupt noch? Selbst an der Universität spielt das Schreiben mit der Hand noch eine gewisse Rolle, etwa bei Exzerpten aus Büchern oder bei Vorlesungs-Mitschriften. Professor Ralph Bruder, Arbeitswissenschaftler an der TU Darmstadt: "Ob es in der Prüfung analog oder digital ist, ist eine Frage. Aber die Mitschriften beispielsweise in Vorlesungen, da halte ich sehr viel von, die noch analog zu machen. Denn was wir alle wissen, ist, dass sich Dinge noch besser erinnern lassen, wenn ich sie mitgeschrieben habe, als wenn ich sie eintippe."
Von Ludger Fittkau
Sie ist ein Dauerbrenner: die Diskussion um die Zukunft der Handschrift im digitalen Zeitalter. Doch das Schreiben mit der Hand fördert die kognitive Entwicklung, so der Tenor einer aktuellen Tagung an der TU Darmstadt. Tippen und mit der Hand schreiben müssen sich im Schulaltag aber auch nicht ausschließen.
"2017-11-10T14:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:00:31.536000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/handschrift-schreiben-statt-tippen-gut-fuers-hirn-100.html
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Ein Mann für Wunder
Narendra Modi hat mit seiner hindu-nationalistischen Partei BJP die Wahlen in Indien gewonnen. (Picture Alliance / dpa / EPA / Divyakant Solanki) Im verschlafenen Tempelstädtchen Vadnagar trotten die heiligen Kühe gemächlich durch die engen Gassen. Junge Männer hocken mitten am Tag in Gruppen zusammen und spielen Karten. Das Leben plätschert dahin - entrückt vom Lärm und Stress einer indischen Großstadt. Vadnagar mit seinen bunten, zweigeschossigen Steinhäusern liegt im westindischen Bundesstaat Gujarat und hat heute knapp 30.000 Einwohner. Hier hat Indiens 15. Premierminister Narendra Modi seine Wurzeln. Hier kam er im September 1950 zur Welt. Die meisten Menschen sind stolz auf den berühmtesten Sohn ihrer Stadt. Viele trauen ihm wahre Wunder zu. "Modi wird aus Indien die Nummer 1 der Welt machen. Er will ein Indien, das so entwickelt ist wie die USA und Japan. Sein Schicksal war vorbestimmt. Er stammt aus ganz einfachen Verhältnissen, und jetzt ist er ein so wichtiger Mann." "Ich halte ihn für einen großartigen Mann. Das sehen auch viele Menschen in anderen Teilen Indiens so. Sie haben ihn gewählt, weil er ein ehrlicher und harter Arbeiter ist. Er macht das nicht für Geld. Modi würde für Indien sterben. Er ist unbestechlich." Als Schüler im Debattier-Klub Modis Vater betrieb einen Teestand am Bahnhof von Vadnagar, Sohn Narendra musste oft mit anpacken - vor der Schule und nach der Schule. Sein ehemaliger Lehrer Prahlad Patel erinnert sich an einen aufgeweckten Jungen. Er zeigt stolz auf ein Foto mit Goldrahmen. Der Schnappschuss hält den Moment fest, in dem sich Narendra Modi vor ein paar Jahren bei seinem Lehrer bedankte. "Narendra war sehr aufmerksam. Er interessierte sich besonders für Debatten und für die Theater-AG. Er war auch ein guter Sportler. Ich bin stolz auf ihn. Er ist ein fähiger Mann. Ich weiß nichts über das politische Geschäft. Aber ich weiß, dass er ein großartiger Redner ist. Als Schüler hat er an jeder Veranstaltung meines Debattier-Klubs teilgenommen." "Ihr müsst mit Jassud sprechen", sagt der alte Lehrer zum Abschied und weist den Weg durch die engen Gassen der Tempelstadt. Jassud Pathan war einer der besten Jugendfreunde des heutigen indischen Premierministers. Die Beiden gingen elf Jahre lang zusammen zur Schule. Ihre Wege trennten sich erst, als sie erwachsen wurden. Jassud wurde Bankangestellter, heute ist er pensioniert. Er schreibt seinem alten Freund noch immer regelmäßig Briefe - per Hand. Es sind Briefe über Korruption, Armut und über die marode indische Infrastruktur. Eine Antwort hat er nie bekommen. Der pensionierte Bankangestellte Jassud Pathan ging elf Jahre gemeinsam mit Narendra Modi zur Schule. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio) Zuvor Regierungschef im Staat Gujarat "Ich finde es schade, dass Narendra für mich so unnahbar geworden ist. Ich habe ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob meine Nachrichten ihn überhaupt erreichen. Er wird sie wohl nur bekommen, wenn sein Sekretär sie weiterreicht." Modi verließ Vadnagar mit knapp 18 Jahren, ohne zurückzublicken. Er flüchtete damals vor einer Ehe, die seine Eltern für ihn arrangiert hatten. Sein einziges Bindeglied zu seinem Heimatort ist heute sein ältester Bruder Sombhai. Sombhai, bald 70, betreibt in Vadnagar ein Altenheim. Die Brüder sind sich sehr ähnlich. Beide haben einen auffallend breiten Brustkorb, aus dem eine volle Stimme dröhnt. "Mein Bruder Narendra ist ein sehr emotionaler Mann. Er ist höflich, zuvorkommend, und er kann andere nicht leiden sehen. Er hat sein Leben seinem Land gewidmet. Er lebt nur für seine Nation." Von 2001 bis zur Wahl 2014 war Narendra Modi Regierungschef im wirtschaftlich erfolgreichen Bundesstaat Gujarat. Als er erst wenige Monate im Amt war, brachen schwere Unruhen zwischen Hindus und Muslimen aus. Mehr als 1200 Menschen verloren damals ihr Leben, überwiegend Muslime. Bis heute gibt es den Vorwurf, dass der gläubige Hindu Modi den mordenden Hindu-Mob in Gujarat wüten ließ. International war es deswegen rund zehn Jahre lang isoliert. Der indische Premierminister bestreitet, für die Gewalt von 2002 verantwortlich zu sein. Mohammed Bhai, ein junger muslimischer Schmied, zuckt mit den Schultern. Er musste als Kind das Blutbad mit ansehen. Er sah, wie Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Der Optimismus kennt kaum Grenzen "Modi steht jetzt an der Spitze der Regierung, das Land gehört ihm. Wir Muslime können nichts mehr gegen ihn sagen. Modi wird sich entscheiden müssen, ob er die Reichen reicher machen will oder ob er den Armen helfen will. Ich denke, er wird sich für die Reichen entscheiden. Die Mehrheit der Muslime ist arm. Er ist gegen uns. Wir Muslime existieren für ihn nicht." Das sehen sie in den Zentralen der indischen Wirtschaft ganz anders, zum Beispiel im reichen Gurgaon, einer Satellitenstadt bei Neu-Delhi. Die großen Werkshallen der Firma Jumps Industries sind heraus geputzt. Arbeiter stehen an Schweißmaschinen, in einem anderen Abschnitt verpacken sie Anlasser für Autos und Armaturen. "So wie auf diesen Paletten gehen die Produkte dann raus, nach Europa oder den USA. Hier ist zum Beispiel ein Einzelteil für einen Traktor. Der geht nach Frankreich. Traktoren gehen immer. Denn Essen müssen wir ja egal, ob Krise ist, oder nicht." Sanjay Malhotra zeigt stolz den Betrieb, den er aufgebaut hat. Sanjay ist Mitte 40, seine Firma Jumps beliefert die Autoindustrie - Jumps ist ein klassisches mittelständisches Unternehmen mit 200 Beschäftigten. "Wir haben uns bisher auf den Export konzentrieren müssen, weil es in Indien nicht gut lief. Die Konjunktur wird aber bald hier anziehen, und davon werden wir profitieren. Unser Ziel ist 200 Prozent mehr Geschäft auf dem indischen Markt." 200 Prozent Wachstum. Bei Sanjay Malhotra kennt der Optimismus seit der Verkündung der Wahlergebnisse Mitte Mai keine Grenzen. Indien für ausländische Investoren öffnen "Erstens wird Modis Amtszeit Wachstum versprechen. Zweitens werden wir durch das Wachstum mehr Autos verkaufen, was gut ist für meine Firma. Und drittens, glaube ich, dass Modi die Korruption genau so bekämpfen wird wie er es in seinem Heimatstaat Gujarat getan hat." Vor rund einem Jahr schien sich die indische Wirtschaft noch im Zustand der Panik zu befinden. Die Inflationsrate stieg. Die Rupie brach jeden Tag ein wenig mehr ein. All dies plus die überbordende Korruption führte letztlich zu Modis großem Wahlsieg. Die Menschen hatten die Nase voll von der Kongresspartei, die seit zehn Jahren regierte. Und Modi galt als derjenige, der aus seinem Heimatstaat Gujarat ein beliebtes Ziel für Investoren gemacht hat. Große Reformen hat er als Regierungschef aber noch nicht angekündigt. Modi will das Land ein bisschen mehr für ausländische Investoren öffnen. Er hat ihnen mehr Rechtssicherheit versprochen, um Vertrauen zu gewinnen. Aber das war es auch schon. Sanjay Malhotara stört der zögerliche Start nicht. "Naja, es ist noch etwas früh, über die neue Regierung zu urteilen. Aber sie haben noch keine Fehler begangen. Das finde ich gut. Die letzte Regierung hat die Wirtschaft in einem ziemlich schwierigen Zustand hinterlassen. Das muss die Regierung jetzt ändern, und deshalb geht sie eher vorsichtig vor." Die Erwartungen sind beängstigend hoch Im Winter, glaubt Sanjay, wird Modi seine großen Reformen ankündigen. Wachstum gleich Jobs gleich weniger Armut, dafür steht der neue Premierminister. Aber kann diese einfache Formel aufgehen? Dafür müssten vor allem Mittelständler wie Sanjay Malhotra neue Jobs schaffen. Auf die Frage danach, ob er in Arbeitsplätze investieren will, gibt Malhotra eine klare Antwort: "Arbeitsplätze? Nein. Wir werden mehr Maschinen kaufen." Sanjay überlegt daraufhin kurz. Vielleicht ist da doch ein Haken. Ihm kommt Barack Obama in den Sinn, von dem zu viele Menschen zu viel erwartet haben. So etwas, meint Sanjay, könnte Narendra Modi auch passieren. "Ja, die Erwartungen sind beängstigend hoch. Die Leute glauben, dass Modi ein Zauberer ist, ein Messias. Aber die Erwartungen kann er nicht erfüllen. Das ist ein großes Risiko." Wie groß die Herausforderungen für Modi tatsächlich sind, das zeigt sich nicht in den Glastürmen und in den klimatisierten Chefbüros, sondern vor allem auf dem Land, wo die meisten Inder leben. Zum Beispiel im Dorf Soda in Rajasthan, dem Zuhause von 7000 Menschen. Chhavi Rajawat passt auf den ersten Blick nicht so ganz hierher. Sie trägt türkisfarbene Sportschuhe, eine weiße Hose, darüber ein langes, blau-weißes Hemd und eine lässige Sonnenbrille. Chhavi springt über eine breite Pfütze, der Monsunregen hat einen staubigen Weg unter Wasser gesetzt. Eine alte Frau und ein junger Mann beklagen sich bitter. Eine ehrliche Bürgermeisterin mit vielen Feinden Ein paar Minuten diskutiert Chhavi mit der Alten. Dann erklärt sie das Problem. "Wir haben dort drüben die Straße ausgebessert, weil die früher immer unter Wasser stand. Jetzt will sie, dass wir auch den Weg hier ausbessern. Ich habe sie gebeten, geduldig zu sein. Wir brauchen Geld für den Ausbau. Aber das fehlt uns." Chhavi ist Bürgermeisterin von Soda, sie stammt aus einer einflussreichen Familie. Vor vier Jahren hat sie ihren gut bezahlten Job in einem Mobilfunk-Unternehmen aufgegeben, Chhavi war damals 33 Jahre alt. Jetzt erhält sie 40 Euro pro Monat, ein mickriges Gehalt für einen Posten, der nervenaufreibender kaum sein kann. Chhavi führt zu einem einfachen Rohbau an einem Wasserreservoir. Arbeiter haben gerade das Dach fertiggestellt. Dies soll ein Regierungsgebäude werden. Hier soll eines Tages ein Beamter sitzen, der Arbeiter aus der Staatskasse bezahlt, wenn sie zum Beispiel Dorfstraßen ausbauen. So will es die Regierung in Neu-Delhi. Chhavi soll den Beschluss eigentlich nur umsetzen. Aber sie und ihr Vater haben dies vor wenigen Wochen um ein Haar mit ihrem Leben bezahlt. Die Bürgermeisterin des indischen Dorfes Soda, Chhavi Rajawat (r), gab für ihr Amt einen gutbezahlten Job auf. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio) Der Mordversuch ereignete sich an einem Sonntag. Es war der 6. Juli. Chhavi und ihr Vater wollten den Fortschritt am Bau kontrollieren. "Es waren fünf Frauen und drei Männer. Sie griffen meinen Sekretär mit einer Axt an, er konnte das aber abwehren. Mein Vater war hier, weil er mich berät. Er wurde angegriffen und von einem Stein getroffen. Er sank bewusstlos zu Boden. Dann griffen sie mich an. Die Polizeistation ist nur fünf Minuten entfernt. Aber die Polizei ist nicht eingeschritten." Bei dem Angriff trug Chhavi blaue Flecken davon, ihr Vater kam mit einem Kieferbruch und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Chhavi ist davon überzeugt, dass die Angreifer angestachelt wurden - von Politikern, die befürchten, dass die junge Bürgermeisterin selber in die große Politik gehen könnte. Oder von ihrem Vorgänger, dem sie Korruption vorwirft. Chhavi will eine ehrliche Bürgermeisterin sein. Aber damit hat sie sich mächtige Feinde geschaffen. Nicht nur wegen des kleinen Verwaltungsgebäudes muss Chhavi stets mit allen Mitteln kämpfen. Sie erzählt mehrere Stunden lang von Vorhaben, die stocken, von immer neuen Steinen, die ihr in den Weg gelegt werden. Sogar, wenn es um das wichtigste und sehr rare Gut für die Menschen in Soda geht: ums Wasser. Ein Damm mit der Hilfe von Coca-Cola "Wir sind abhängig von den höheren Behörden. Was uns bleibt, ist mit den Dorfbewohnern zu beschließen, was wichtig für uns ist. Für Soda waren das Projekte wie der Ausbau der Bewässerungssysteme. Also habe ich versucht, das den höheren Behörden klar zu machen. Das Geld floss dann aber für einen Kindergarten, den wir nicht benötigen. Wir haben viele Vorhaben nicht umsetzen können, weil es den Distrikt-Beamten, die die Anträge oder bewilligtes Geld weiter leiten sollen, einfach egal war." Chhavi steht auf einem Erdwall am Rande eines der Wasserbecken. Vor wenigen Jahren, als es den Wall noch nicht gab, hatte ein heftiger Monsunregen große Überschwemmungen verursacht und viele Lehmhäuser in Soda einstürzen lassen. Der Damm soll das Dorf schützen. "Jede Familie wollte sogar freiwillig arbeiten. Aber die Ingenieure der Regierung sagten, dass der Aushub des Reservoirs und der Dammbau ohne schwere Maschinen nicht möglich sind." Die Regierung in Neu-Delhi gibt Geld für solche Projekte aber nur frei, wenn ausschließlich Dorfbewohner im Einsatz sind und nicht schwere Maschinen. So wollte die alte, abgewählte Kongress-Regierung Arbeitsplätze für die arme Landbevölkerung schaffen. Chhavi hatte genug von dem Irrsinn, sie wollte einfach nur eine neue Flutkatastrophe vermeiden. Also sammelte sie in den großen Städten private Spenden. Am Ende bezahlte der Coca-Cola-Konzern den Großteil des Geldes für den Bau des Dammes. Manchmal fragt sich Chhavi, wie es um die Millionen Dörfer steht, die keine gebildete und gut vernetzte Bürgermeisterin haben. Die Folgen der ländlichen Vernachlässigung zeigen sich jeden Tag – in den Armenvierteln der großen Städte. Hierher ziehen Millionen junge Menschen, die in ihren Dörfern keine Perspektive mehr sehen. Arbeit, egal welche Endstation für viele ist Bara Tooti Chowk in der Altstadt von Neu Delhi: Mehrere Hundert Männer stehen am frühen Morgen dicht gedrängt in einer Schlange. So haben sie sich das Leben in der Stadt nicht vorgestellt. Die Männer warten auf dem Tagelöhnermarkt mit knurrendem Magen auf Arbeit. Auf dem Bau oder auf dem Großmarkt. Ganz egal, Hauptsache Arbeit. Shahid hat schon seit Tagen keinen einzigen Cent mehr verdient. Heute würde er für 100 Rupien arbeiten – für etwas mehr als einen Euro. "Als Tagelöhner findest du eben nicht jeden Tag Arbeit. Ich schaffe es zurzeit ein bis zweimal in der Woche. Ich sitze hier und warte solange ich kann. Und wenn keiner kommt, lege ich mich schlafen." Shahid und seine Freunde leben schon seit Wochen auf der Straße. Sie konnten die Miete für ihr winziges Zimmer nicht mehr bezahlen. Ihr ganzes Leben spielt sich rund um den Bara Tooti Chowk ab. Die meisten Männer haben ihre Familien in ihren Heimatdörfern zurückgelassen. Es wird erwartet, dass sie Geld nach Hause schicken. "Wir vertrauen keiner Regierung mehr. Was tut die Regierung denn für Menschen wie uns? Wieso bekämpft sie nicht die Korruption und die Macht der reichen Mafiabosse?" Ohne Lohn von der Baustelle gejagt Der Markt der Tagelöhner in Delhi spiegelt eine nationale Entwicklung wider: Die Bevölkerung ist extrem jung und wächst schnell. Gleichzeitig entwickelt sich Indien von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Doch die indischen Boomjahre haben in den Städten nicht genug Arbeitsplätze geschaffen. Fast 90 Prozent aller indischen Arbeitskräfte schuften im informellen Sektor. Ohne Schutz. Ohne Krankenversicherung. Ohne Arbeitnehmerrechte. "Wenn auf der Baustelle ein Unfall passiert, dann bist du geliefert. Und wenn du stirbst, dann bist du nicht mehr wert als ein toter Straßenköter. Es gibt kein System. Jeder kann uns ausbeuten." Nawabs linker Arm hängt schlaff in einer dreckigen Schlinge, die er aus einem alten Stück Stoff zusammengeknotet hat. Er ist vor ein paar Tagen von einem Baugerüst gefallen. Arm und Schulter sind mit Blutergüssen übersät. Die Hand ist geschwollen, vielleicht ist etwas gebrochen, doch Nawab war nicht beim Arzt. Er sagt, dass er es sich nicht leisten kann, morgens in der Schlange zu fehlen. Er muss vier Kinder ernähren. Sein letzter Auftraggeber jagte ihn nach dem Unfall ohne Lohn von der Baustelle. Bara Tooti Chowk in der Altstadt von Neu-Delhi: Männer warten auf dem Tagelöhner-Markt auf Auftraggeber. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio) Die indische Hauptstadt Neu Delhi und ihr Hinterland sind heute mit rund 22 Millionen Einwohnern das zweitgrößte Ballungsgebiet der Welt - nach Tokio. Delhis Bevölkerung wächst jährlich um drei Prozent. Viele Neuankömmlinge aber sind entweder gar nicht oder nur für ein paar Jahre zur Schule gegangen. Die Baubranche boomt nicht mehr Plötzlich werden die Männer unruhig. Zwei Arbeitgeber sind vorgefahren und wollen drei Leute anheuern. Sie suchen Lastenschlepper für eine Baustelle. Einer der Auftraggeber untersucht Schultern, Hände, Füße und Zähne. Die Männer müssen ihn auch anhauchen. Die, die nach Alkohol riechen, schickt er sofort weg. Von Modi ist der Auftraggeber enttäuscht: "Modi hat allen eine bessere Zukunft versprochen. Aber davon merken wir in der Baubranche nichts. Der Markt boomt nicht mehr so wie früher, und die Tagelöhner stehen sich die Beine in den Bauch. Vor ein paar Jahren konnten wir hier gar nicht genug Arbeiter finden. Wenn die Wirtschaft sich auch nur ein bisschen erholen würde, dann würden diese Männer hier nicht arbeitslos stehen." Der verletzte Nawab geht leer aus. Es ist der vierte Tag ohne Arbeit und ohne Geld. Indiens Premierminister Narendra Modi hat sich in seiner Startphase weder als radikaler Hindu-Nationalist noch als radikaler Wirtschaftsreformer präsentiert. Befürchtungen sind nicht eingetreten aber Hoffnungen bisher ausgeblieben. Und niemand weiß, wie viel Geduld vor allem die vielen jungen Menschen in Indien mit Modi haben werden.
Von Sandra Petersmann und Jürgen Webermann
Auf dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, der nun seit hundert Tagen im Amt ist, ruhen große Hoffnungen. Aus ganz einfachen Verhältnissen schaffte er bis ganz nach oben. Auf große Reformen hat er aber bislang trotz drängender Probleme verzichtet.
"2014-08-30T18:40:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:16.403000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/indien-ein-mann-fuer-wunder-100.html
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"Merz ist der Markenkern der CDU"
CDU-Politiker Christian Freiherr von Stetten hält Kandidat Friedrich Merz für einen geeigneten CDU-Parteivorsitzenden (imago / Müller-Stauffenberg) Der oder die neue Vorsitzende müsse zugleich Teamplayer und Alphatier sein, meint von Stetten. Es brauche jemanden, der eine klare und auch junge Sprache spreche. Außerdem erwarte er, dass die Person die CDU aus dem Umfragetief hole. Dass Friedrich Merz über 60 ist, spielt für von Stetten keine Rolle. "Mit 62 ist man kein Methusalem". Er glaubt, Merz könne mobilisieren und ältere und jüngere Menschen hinter sich versammeln: "Das ist der Aufbruch, den die CDU braucht". Dass Merz in den vergangenen zehn Jahren sein Geld außerhalb der Politik verdient hat, steht für von Stetten seiner Kandidatur nicht im Weg. "Wenn jemand als Rechtsanwalt beruflich erfolgreich ist, ist das kein Schaden." Es sei von Vorteil, dass er den politischen Betrieb eine Weile von außen betrachtet habe. Von Stetten ist überzeugt, dass Merz mit den CumEx-Geschäften nichts zu tun habe, wie es etwa die NGO Transparency International nahe gelegt hatte. Sandra Schulz: Aufbruch und Neustart - das sind die Versprechen der beiden Kandidaten, die eigentlich als konservativ gelten, die Ankündigungen von Jens Spahn und Friedrich Merz. Mit Annegret Kramp-Karrenbauer hat die CDU jetzt drei prominente Bewerber um den Parteivorsitz für den Parteitag im Dezember, wenn Angela Merkel das Amt an der Parteispitze ja abgeben wird und will. Vor allem der Auftritt von Friedrich Merz Mitte der Woche, der hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt, gut 20 Minuten in der Bundespressekonferenz. Klaus Remme in Berlin, der Kandidat Jens Spahn, der hat da mit einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" seinen ersten Aufschlag gemacht, und jetzt legte er gestern nach mit einem Clip auf Facebook, ungefähr eine Minute lang. Mitgehört hat einer, der noch relativ Wenigen, die sich schon positioniert haben. Christian von Stetten, der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand in der Unionsfraktion, will Friedrich Merz unterstützen und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen! Christian von Stetten: Guten Morgen, ich grüße Sie! "Merz spricht eine jugendliche Sprache" Schulz: Ralph Brinkhaus hat ja noch einen anderen interessanten Satz gesagt in seinem Interview jetzt gegenüber der Funke Mediengruppe. Er sagt, die Zeit der Alphatypen sei vorbei. Ist das die Festlegung auf Annegret Kramp-Karrenbauer? von Stetten: Nein, ich glaube, es ist wichtig, dass wir ein Parteivorsitz kriegen, der im Team spielt, aber natürlich wählen die Menschen auch Personen, und die wollen auch Menschen haben, die kantig sind, die eine klare Sprache sprechen, die eine junge Sprache sprechen, und von daher ist es, glaube ich, die Kombination, teamfähig sein, aber auch ein klares Profil haben. Schulz: Also für alle, die das gedacht haben könnten, Friedrich Merz - halten wir hier ganz klar fest - ist kein Alphatyp. von Stetten: Ich glaube, wer sich um den Parteivorsitz einer großen Partei in Deutschland bewirbt, muss eine Art Alphatier sein, der aber auch ausgeprägt ist und guter Teamplayer sein muss. Schulz: Inwiefern steht denn ein jetzt noch 62er, bald 63-Jähriger für Aufbruch? von Stetten: Na ja, jetzt sollten wir nicht so tun, als ob ein 62-Jähriger ein Methusalem ist. Friedrich Merz ist topfit, er spricht eine klare Sprache, eine jugendliche Sprache. Er bietet die Möglichkeit, dass sich die Älteren und die Jüngeren hinter ihm versammeln. Ich glaube, das ist der Aufbruch, den die CDU momentan braucht. Er wird sicherlich in der Lage sein, zu mobilisieren und das alles zusammenzuhalten. Schulz: Aber wie er das machen wird, das haben Sie jetzt noch nicht gesagt. Er sagt ja auch, die Partei brauche mehr Jüngere und mehr Frauen. Bitte möglichst konkret: Warum sollte eine CDU unter Friedrich Merz für die attraktiv sein? "Es geht um die Zukunft" von Stetten: Jetzt ist drei Tage her, dass die Parteivorsitzende erklärt hat, dass sie nicht mehr kandidiert. Das Wettrennen ist jetzt eröffnet. Die Kandidaten werden ihre Programme vorlegen, und bei Friedrich Merz ist das relativ klar: Er ist der Markenkern der CDU, er hat sich vor zehn Jahren eine Pause von der Politik gegönnt. Die, die ihn damals erlebt haben, die wissen, zu was er steht, und die Jüngeren, die ihn politisch noch nicht erlebt haben, die möchte er jetzt in den nächsten sechs Wochen auch für sich begeistern. Schulz: Wo soll denn der Aufbruch hingehen? von Stetten: Nun ja, wir haben momentan Umfragewerte von 24 Prozent, und, das ist klar, vom neuen Parteivorsitzenden erwartet man ein Konzept, das wir aus diesem Keller rausgehen können, und deswegen sind die Anhaltspunkte, die auch Herr Friedrich Merz und Jens Spahn diese Woche gebracht haben. Das hat nicht mit rechts und links zu tun oder mit konservativ oder modern. Das, was die beiden angesprochen haben, ist schlichtweg gesunder Menschenverstand, wird bei der Bevölkerung so gesehen und auch bei der Partei, und das lässt jetzt auch diesen Hype, den es momentan gibt, auch erklären. Schulz: Okay, ich verstehe, Sie hätten gerne bessere Umfragewerte - das kann, glaube ich, jeder nachvollziehen -, aber sagen Sie noch mal Genaueres zu diesem Aufbruch, der da jetzt beschworen wird. Was konkret soll denn sich jetzt verändern oder zurückgenommen werden? Die Ehe für alle, muss das korrigiert werden? Wollen Sie die Wehrpflicht zurück? Wollen Sie wieder Atomkraftwerke bauen? Soll das Elterngeld wieder weg? Machen Sie es konkret. von Stetten: Nein, es geht um die Zukunft. Wir haben momentan eine sensationelle wirtschaftliche Entwicklung, wir haben fast Vollbeschäftigung in Deutschland, wir haben die Jugendarbeitslosigkeit fast ausradiert, aber die Frage ist, was kommt, wenn wirtschaftliche Eintrübung ist, und da gehört immer zum Markenkern der Union, dass erst erwirtschaftet werden muss, was ausgegeben werden muss. Schulz: Nennen Sie einen konkreten Schritt. von Stetten: Na ja, wir werden auf dem Bundesparteitag uns mit intensiven Anträgen auch beschäftigen, und da ist ein Punkt, wenn Sie den ansprechen wollen, was auch Konflikt in der Union geben wird beziehungsweise bei dem Koalitionspartner: Wir werden einen Antrag haben zur vollständigen Abschaffung des Solidaritätsbeitrages, und da geht es auch drum um Redlichkeit, um Ehrlichkeit. Wir haben den Bürgern versprochen, dass er vorübergehend eingeführt wird, und jetzt nach 24, 25 Jahren sind viele in der Union der Auffassung, diesen jetzt endgültig abzuschaffen. Da wird es Konflikte geben mit dem Koalitionspartner. Wir brauchen einen Vorsitzenden, der auch bereit ist, das einzugehen. Schulz: Okay, das wäre auch die Messlatte, dass Sie davon ausgehen, das würde Friedrich Merz durchsetzen. von Stetten: Die Kandidaten werden ihre Positionen bringen. Nur, ich glaube, der Bundesparteitag wird dieses beschließen mehrheitlich, und dann erwarten wir von einem Vorsitzenden, dass er dies dann auch umsetzt. Merz ein "politischer Kopf" Schulz: Friedrich Merz sagt ja auch, die Partei müsse wieder verstehen, was die Menschen bewegt. Wie soll das ein Mann leisten, der jetzt in den letzten knapp zehn Jahren zu den absoluten Spitzenverdienern dieses Landes gehört hat? von Stetten: Ich glaube, das hat einer Partei noch nie geschadet, wenn sie einen Vorsitzenden hat, der auch außerhalb der Politik beruflich erfolgreich war. Schulz: Woher weiß Friedrich Merz, was die Menschen bewegt? von Stetten: Ich glaube nicht, dass wenn Sie außerhalb der Politik nicht mehr mit der Politik Ihr Geld verdienen, dass Sie dann kein politischer Mensch sind. Friedrich Merz hat sich immer in den politischen Debatten eingeschaltet. Er ist ein politischer Kopf. Nur die Tatsache, dass er jetzt zum Beispiel zehn Jahre praktisch in der Wirtschaft war, auch von außen auf den Politikbetrieb draufgeschaut hat, ist kein Nachteil. Ich glaube, das ist ein Vorteil. Schulz: Von außen sagen Sie. Zuletzt hat er von Blackrock, von dem Aufsichtsratsvorsitz von Blackrock, der weltweit größten Vermögensverwaltung, auf die Politik geschaut hat. Die Sorge, dass sich dieses Amt oder auch seine anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten, dass sich die noch als Klotz am Bein erweisen werden, die haben Sie nicht? von Stetten: Nein, wenn jemand als Rechtsanwalt beruflich erfolgreich ist, ist das nicht sein Schaden, im Gegenteil. Friedrich Merz hat ja auch klargemacht, dass wenn er Parteivorsitzender werden würde, dass er dort seine Arbeit drauf konzentriert und die anderen Punkte abgibt. "Kein Manager oder Vorstandsvorsitzender" Schulz: Er sagt der "Süddeutschen Zeitung" ja auch, dass er keine Interessenskollisionen sieht, aber wenn ich mir vor Augen führe, dass Blackrock ja bei etlichen Konzernen der größte Aktionär ist in Deutschland, auch in vielen DAX-Konzernen, und wenn Merz jetzt sagt - das hat er auch am Mittwoch gesagt -, Deutschland habe eine viel zu kleine Zahl von Aktionären, schwingt nicht schon da eine alte Verbundenheit mit? von Stetten: Nein, die Tatsache, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern viel zu wenig Aktionäre hat, ist ja keine Erfindung von Friedrich Merz, sondern das sagen alle Ökonomen und alle, die der Meinung sind, die Bevölkerung muss eine breite Anlageform auch im Aktienbereich haben. Das beeinflusst aber dann am Ende des Tages nicht der Bundestag oder die Bundesregierung. Blackrock ist ein Vermögensverwalter, das heißt, hunderttausende von Arbeitnehmern haben diesem Konzern ihr Vermögen angegeben, um anschließend, wenn sie in Rente gehen, auch ein gutes Auskommen zu haben. Ich glaube, das ist nicht ehrenrührig, wenn man in diesem Bereich arbeitet. Wichtig ist nur, selbstverständlich, wenn man eine Spitzenposition hat, geht die Verbindung nicht mehr. Schulz: Das heißt, die Frage, ob da jetzt noch Geschäftspraktiken bekannt werden von Blackrock, einem ja wirklich auch sehr einflussreichen Aktionär in vielen Unternehmen, oder auch, wenn wir auf den Aufsichtsratssitz von Friedrich Merz bei der Privatbank HSBC Trinkaus, die auch in Zusammenhang gebracht wird mit Cum-Ex-Geschäften, also Sie schließen komplett aus, dass Friedrich Merz da noch mal was politisch auf die Füße fällt? von Stetten: Nein, Friedrich Merz ist - zumindest müssen wir da unterscheiden - kein Manager oder kein Vorstandsvorsitzender eines solchen Unternehmens, die überhaupt nicht ehrenrührig sind, sondern er ist auch fair. Schulz: Sondern der Kontrolleur. von Stetten: Er ist Aufseher. Was die Cum-Ex-Geschäfte angeht, ist völlig klar, dass er damit auch nichts zu tun hat und dies auch immer sozusagen bekämpft hat und auch immer für nicht gut geheißen hat in allen Diskussionen in der Vergangenheit, sicherlich in seiner Firma auch. Jetzt auch hat er noch mal klargestellt, dass Cum-Ex-Geschäfte nichts mit einer normalen anständigen, moralischen Tätigkeit zu tun hat. Schulz: Christian von Stetten, ich sehe, dass wir schon wieder gleich auf die Nachrichten zulaufen, aber eine Frage muss ich jetzt noch loswerden, bevor die Nachrichten kommen: Sollte Friedrich Merz Parteivorsitzender werden, kann Angela Merkel dann Kanzlerin bleiben? von Stetten: Nun, Friedrich Merz hat in der Pressekonferenz deutlich gemacht, dass er die Zusammenarbeit mit Angela Merkel sich gut vorstellen kann, und Angela Merkel hat am Montag, nachdem sie wusste, wer die drei Kandidaten sind für den Parteivorsitz, ihren Vorschlag der Ämtertrennung in der Öffentlichkeit begründet. Wenn also die Beteiligten dies für machbar halten, warum soll ich dann daran zweifeln. Schulz: Christian von Stetten, CDU-Bundestagsabgeordneter und Chef des Parlamentskreises Mittelstand, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen! von Stetten: Danke schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian von Stetten im Gespräch mit Sandra Schulz
Christian von Stetten (CDU), Vorsitzender des Parlamentskreises Mittelstand, hält Friedrich Merz für geeignet, den CDU-Vorsitz zu übernehmen. Der 62-Jährige könne jüngere und ältere Mitglieder hinter sich versammeln, sagte von Stetten im Dlf. Merz' wirtschaftliche Karriere stehe dem Amt nicht im Weg.
"2018-11-02T07:15:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:30.881000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cdu-parteivorsitz-merz-ist-der-markenkern-der-cdu-100.html
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Angst vor dem bösen Wolf
Biologin Vanessa Ludwig steht vor einer großen Karte der Lausitz, die an der Eingangstür zu ihrem Büro hängt. Die Lausitz, das ist das Gebiet, was sich vom Süden Brandenburgs bis in weite Teile Ostsachsens erstreckt. "Insgesamt gibt es in ganz Deutschland jetzt nachgewiesen 29 Wolfsrudel oder Paare und drei Einzelwölfe, die dort bislang ohne Partner leben." Pro Rudel müsse man mit etwa fünf bis sechs Tieren rechnen, je nachdem, ob es Nachwuchs gebe. Es war ein positives Jahr für den Wolf, so das Fazit. Hier im kleinen Ort Rietschen liegt sozusagen die Wiege der Wölfe in Deutschland, wie Ludwig erklärt: "Das erste Wolfsrudel gab es hier in Sachsen auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, direkt nördlich von Rietschen. Im Jahr 2000 gab es dort den ersten Wolfsnachwuchs. Nachdem schon 1998 zwei erwachsene Wölfe nachgewiesen wurden." Von hier aus breitet sich der Wolf weiter in Mitteldeutschland aus. In Sachsen- und Sachsen-Anhalt haben sich im vergangenen Jahr neue Rudel gebildet. Ausgehend von der Keimzelle Lausitz wandern die Wölfe vor allem in die Bundesländer im Nordosten Deutschlands. "Die Lausitz ist immer noch das größte Verbreitungsgebiet. Aber es gibt auch mittlerweile in anderen Teilen Brandenburgs, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder auch Niedersachsen schon Wolfs-Rudel, Paare oder Einzelwölfe." Aber auch in Hessen bei Gießen gab es eine Wolfssichtung. Wie DNA-Analysen ergaben, wanderte das Tier nicht aus Polen, sondern aus dem Süden, aus der Schweiz oder Frankreich ein. Im Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz im beschaulichen Rietschen laufen alle Informationen über das Vorkommen der streng geschützten Tiere zusammen. Ganz ausgerottet war der Wolf in Deutschland nie, sagt Biologin Ludwig. Doch zu DDR-Zeiten durfte er noch geschossen werden. Und wer manchem Wolfs-Gegner zuhört, der bekommt den Eindruck, dass sich einige ärgern, dass diese Zeiten vorbei sind. In vielen Teilen Sachsens sind die Tiere ein Ärgernis für Jäger und Bauern. Ob alleine oder im Rudel, die Tierhalter fürchten sich vor Angriffen auf ihre Nutztiere. Sie betrachten den Wolf als Sicherheitsproblem. Der Kreisjagdverband Meißen hat sich mittlerweile in einem Brandbrief an die Landesregierung gegen die unkontrollierte Ausbreitung des Raubtiers ausgesprochen. Heinz Baacke, Vizepräsident des Landesjagdverbandes Sachsen und Wolfsexperte sagte im ZDF, dass ab einem gewissen Punkt auch Gegenmaßnahmen erforderlich sein könnten: "Man muss ihn so betrachten wie anderes Wildtier auch. Wenn Schalenwild zu sehr den Wald schädigt, dann muss man gegensteuern. Und warum soll das Gegensteuern beim Wolf auch nicht manchmal notwendig sein an bestimmten Stellen." Doch der Wolf ist streng geschützt, darf nur in absoluten Ausnahmefällen getötet werden. Raubtierattacke in Hoyerswerda: Hund von Wolf tot gebissen – Schreckliches Tier-Drama in Hundepension. Neun tote Pferde nach Auto-Kollision auf Bundesstraße 6– Scheuchten Wölfe die Pferde auf? Es waren Meldungen wie diese, die in Sachsen in diesen Wochen zuletzt für eine emotionale Debatte rund um den Wolf gesorgt haben. So häuften sich mutmaßlich die Vorfälle, bei denen der Wolf eine Gefahr für Mensch und Nutztiere darstellte. Mit den Wölfen kommen oft Ängste und Streit. Im zuständigen Umweltministerium in Dresden ist man um die Versachlichung der Debatte bemüht. Umweltminister Frank Kupfer nahm den Wolf kürzlich in einem Interview in Schutz. Bernd Dankert ist Referent für Artenschutz und Ansprechpartner für den Wolf. "Die Gefahr für den Menschen ist eher eine theoretische. Denn wir wissen ja aus unseren nunmehr 16 Jahren Wolfs-Anwesenheit, wir hatten noch nicht einen Fall, wo es zur Bedrängnis eines Menschen durch den Wolf kam." An Schäfer und Bauern appelliert er noch einmal, geeignete Schutzmaßnahmen wie Elektrozäune aufzubauen, "denn die Zeit, ohne Wölfe zu leben, wird es nicht mehr geben. Und mit Wölfen zu leben und den Schaden zu minimieren, das ist die eigentliche Aufgabe, der sich jetzt die Tierhalter stellen." Nachtrag: Nach Angaben des Naturschutzbundes NABU hat eine DNA-Analyse inzwischen eindeutig ergeben, dass der im Beitrag erwähnte Schäferhundmischling nicht von einem Wolf sondern von einer Boxerhündinangegriffen wurde, die im Nachbargehege untergebracht war.
Von Nadine Lindner
Spätestens seit Rotkäppchen war sein Ruf ein für alle Mal ruiniert: Der Wolf ist ist für viele Menschen nur noch der Inbegriff des Bösen. Zu Unrecht, sagen Tierschützer. In der Lausitz macht die Rückkehr des Wolfs dennoch vielen Menschen Angst.
"2014-01-24T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:23:08.799000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sachsen-angst-vor-dem-boesen-wolf-100.html
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Alles andere als idyllisch
Eva Löbau als Hauptkommissarin Franziska Tobler und Hans-Jochen Wagner als Hauptkommissar Friedemann Berg. (SWR /Alexander Kluge) Der Tatort beginnt mit einem Schuss. Doch man weiß nicht, wen er trifft. In einer langen Einstellung blickt die bewegungslose Kamera nur auf verschneite Wipfel des Schwarzwalds, der unbeeindruckt weiter in der Gegend herumsteht: dunkel und stoisch, so als wäre nichts passiert. In diese dunkle Idylle hat es den Arzt und Familienvater Jens Reutter gezogen, eindrucksvoll gespielt von Godehard Giese. "Da zieht man hier her an den Arsch der Welt. Denkt, das ist gut. Jeden Tag 40 Kilometer in die Klinik und zurück - und dann liegt dein Kind tot im Wald." Die Idylle trügt Die Kommissare Franziska Tobler und Friedemann Berg, dargestellt von Eva Löbau und Hans-Jochen Wagner, überbringen Jens Reutter und seiner Frau die Nachricht, dass ihre elfjährige Tochter tot im Wald liegt. Zwei weitere Kinder aus befreundeten Familien im Schwarzwald-Dorf Goldbach waren mit dem Opfer unterwegs. Ein Junge kommt heil zurück, weiß aber von nichts. Der andere bleibt verschwunden. Dafür finden die Ermittler in der Nähe des Tatorts ein Erdlager mit fabrikneuen Waffen. Kommissar Berg: "Die Waffen stammen alle vom selben Hersteller. Kommissarin Tobler: "Und das ist ein großer Steuerzahler hier." Berg: "Genau!" Der Hersteller der Gewehre und Pistolen wird zwar nicht genannt, aber es wird auf einen schwäbischen Flecken Erde auf der Landkarte des Kommissariats gezeigt, wo ein bekannter Waffenhersteller seinen Firmensitz hat. Polizist: Mir könnet alles außer Hochdeutsch! Regisseur Robert Thalheim und Drehbuchautor Bernd Lange verhandeln in diesem Krimi zwei Themen: Zum einen das Geschäft mit Waffen, an denen hiesige Firmen sehr gut verdienen. Zum anderen geht es um die Gemeinschaft dreier Familien, die aufgrund gegenseitiger Vorwürfe und Verdächtigungen auseinanderfällt: Gut gebildete Städter, die tief in den Schwarzwald gezogen sind, damit ihre Kinder hier ruhig und naturnah aufwachsen. Es ist alles andere als ein friedvolles Bild, das der Berliner Robert Thalheim vom Schwarzwald zeichnet. Robert Thalheim: "Wenn man sich da im Schwarzwald umguckt, diese auf der einen Seite noch so raue Natur, auf der anderen Seite aber auch dieser große Reichtum - also gerade, wenn man so in Berlin und Brandenburg unterwegs ist, dann ist es wirklich ein Unterschied: Diese Größe der Häuser, der Grundstücke, der Autos. Da ist eine große Saturiertheit und die basiert natürlich auf der Autoindustrie, aber auch auf der Waffenindustrie." Die Freiheit wird zum Horrorszenario Thalheim ist kein Krimispezialist. Er wurde mit, psychologischen Beziehungsdramen wie "Netto", "Am Ende kommen Touristen" oder "Eltern" bekannt. Zuletzt drehte er die Agentenkomödie "Kundschafter des Friedens". Auch Thalheims "Tatort: Goldbach" ist viel mehr Beziehungsdrama denn Krimi. In dunklen Bildern zeigt der Regisseur die Selbstzerfleischung der Stadtaussteiger-Familien in ihren hübsch zurechtgemachten, aber plötzlich klaustrophobisch wirkenden Schwarzwaldhäusern. Die Freunde fangen an, sich zu misstrauen. Welches der Kinder hat was getan? Und wer von den Eltern weiß mehr, als er sagt? Das Drehbuch konzentriert sich voll auf den Fall. Private Geschichten der zurückhaltend, aber präzise gespielten Kommissare bleiben - vorerst - außen vor. Robert Thalheim und Autor Bernd Lange haben mit "Goldbach" einen ungemütlichen Schwarzwald-Film erschaffen. Ihr Landleben ist winterlich kalt bis bis matschig, die hier gesuchte Freiheit wird zum Horror-Szenario. Auch in Zukunft will der SWR für den Schwarzwald-Tatort mit besonderen Regisseuren und Autoren arbeiten, die eher vom Arthouse-Kino kommen als vom Fernsehkrimi-Fließband. Dass der neue Tatort aus dem Südwesten Deutschlands humoristisch werden sollte, war nie geplant. Selbst zu jenen Zeiten nicht, als noch Entertainer Harald Schmidt auf der Besetzungsliste stand. Er wird in diesem Tatort nicht vermisst, der zu den besten im bisherigen deutschen Fernsehjahr 2017 zählt.
Von Eric Leimann
Am Sonntag feiert das neue Ermittlerteam vom Schwarzwald-Tatort seinen Einstand. Eva Löbau und Hans-Jochen Wagner lösen als Kommissare das abgesetzte Team vom Bodensee ab. Und ihr Auftaktfall ist sehr stark.
"2017-09-28T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:17.360000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwarzwald-tatort-feiert-tv-premiere-alles-andere-als-100.html
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Launig und bestens informiert
Der Brexitcast der BBC blickt jede Woche hinter die Kulissen der britischen Politik (BBC) Brexitcast heißt der Podcast der BBC. Vier bekannte Politikreporter schalten sich einmal in der Woche zusammen und besprechen, was sich in der Causa Brexit getan tat. Aus Westminster in London melden sich Laura Kuenssberg und Chris Mason und aus Brüssel klinken sich die Korrespondenten Katya Adler und Adam Fleming ein. Die vier sind echte journalistische Schwergewichte - im Politikbetrieb bestens vernetzt. Laura Kuenssberg etwa ist das Brexit-Gesicht der BBC. Sie steht morgens in den regulären Radiosendungen ihren Kollegen Rede und Antwort, bleibt über den Tag dauerpräsent und fasst am Abend in der Hauptausgabe der Fernsehnachrichten den Tag zusammen. Wie im Nachrichtenjournalismus üblich sind ihre Beiträge und Schalten im Ton sachlich und auf das Wesentliche beschränkt. Im Brexitcast schlagen die Journalisten einen anderen Ton an: "Wer weiß, womöglich ist es verrückt hier solche Spekulationen anzustellen. Aber der Wind hat sich spätestens seit den Kommunalwahlen gedreht. Und Downing Street Nummer 10 scheint festzustecken." Redakteur: "So reden sie tatsächlich miteinander" Hier geht es eher informell zu. Sie führen die Brexitcaster - wie sie ihre treuen Hörer nennen - hinter die Kulissen des Politikbetriebs und greifen Fragen auf, die sie zum Beispiel über Twitter erhalten. Dino Sofos ist der Redakteur der Sendung: "Die vier sind miteinander befreundet, das ist hilfreich. Sie kennen einander gut und die Unterhaltungen im Podcast ähneln den Gesprächen, die sie ohnehin vielleicht bei einem Drink nach den Zehn-Uhr-Nachrichten führen würden. Sie reden dann über das, was passiert ist. Das ist weder aufgesetzt, noch ziehen sie eine Show ab. So reden sie tatsächlich miteinander." Dino Sofos ist Redakteur des Brexitcast (Deutschlandfunk/Ada von der Decken) Die Podcaster sprechen sich per Whatsapp-Gruppe ab. Angesichts voller Terminkalender klappt es manchmal erst um Mitternacht, alle zusammenzukriegen. Da ist es auch schon mal vorgekommen, dass jemand vor Müdigkeit beim Reden den Faden verliert. Inhaltlich bleibt in den meist halbstündigen Sendungen Zeit für die Zwischentöne des zähen Brexit-Ringens. Dies- und jenseits des Ärmelkanals. Das macht wahrscheinlich das Erfolgsgeheimnis aus. Mehr als eine Million Mal wurde jede Folge etwa im März im Durchschnitt heruntergeladen. Unter den Zuhörern angeblich auch Berater von Theresa May Dino Sofos: "Es geht um die Zukunft unseres Landes und um die Zukunft der Europäischen Union, und die Leute machen sich wirklich Sorgen. Das ist uns sehr wohl bewusst. Die Menschen wollen wissen, was los ist." Wenn etwas Unerwartetes passiert, erscheinen über die wöchentlichen Podcasts hinaus noch "Emergency"-, "Dringlichkeits"-Ausgaben. Sobald Dino Sofos eine Episode zusammengeschnitten hat, stellt er sie online. Später werden sie auch im klassischen Radio gesendet, einige Ausgaben wurden auch gefilmt und im Fernsehen gezeigt. Unter den Zuhörern sind Sofos zufolge auch Berater von Theresa May und Mitarbeiter von Michel Barnier - dem Verhandlungsführer der EU. Kommentare wie beim Pferderennen Das Bestechende ist die Kunst der Macher, sich selbst und auch den Politik-Alltag nicht immer allzu ernst zu nehmen. So luden sie etwa in der jüngsten Ausgabe den bekanntesten britischen Kommentatoren für Pferderennen, Cornelius Lysaght ein: "The favorites are beginning to bunch. There's Boris Johnson and Dominic Raab on the outside..." In diesem Fall geht es nicht um das berühmte "Grand National"-Pferderennen. Nein, der Kommentator schaut sich an, welche Politiker aus der konservativen Partei sich schon für das Rennen auf den Posten der Premierministerin in Stellung bringen. Schon mehr als hundert Folgen Der Podcast ist vor zwei Jahren aus dem "Electioncast" zur Wahl hervorgegangen. Seither sind mehr als hundert Folgen erschienen. Man mag sich über die zähen Brexit-Verhandlungen in Brüssel und Westminster ärgern und bedauern, dass mit der Verschiebung des Austritts das leidige Thema weiterhin die Schlagzeilen bestimmen wird. Einen schönen Nebeneffekt hat es immerhin: Es wird noch viele launige und informative Brexitcast-Folgen geben. "Adam, are you asleep?" - "No, he is drunk!" - "No, I was listening..."
Von Ada von der Decken
Statt bei einem Feierabend-Drink besprechen vier britische Top-Journalisten den Brexit lieber in einem wöchentlichen Podcast - locker, entspannt und mit fundierten Einblicken hinter die Kulissen. Das BBC-Format gilt als Publikumsliebling.
"2019-05-22T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:53:16.455000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-podcast-der-bbc-launig-und-bestens-informiert-100.html
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Für die Tradition, gegen die Engstirnigkeit
Wie geht haute cuisine auf Türkisch? "Mikla"-Gründer Mehmet Gürs wehrt sich vor allem gegen erzwungene Festlegungen. Beim Kochen und in Fragen kultureller Identität. (AFP / Ozan Kose) Chefkoch Mehmet Gürs, tätowierte Unterarme, Struwwelfrisur und Schlabberjeans, bindet die dunkelblaue Schürze um den Bauch, überfliegt ein letztes Mal die Speisekarte des Abends. Ein Dutzend Angestellte wuseln bereits um den Chef herum, Hilfsköche mit weißen Kochmützen rühren in riesigen Edelstahltöpfen, garnieren Vorspeisenteller mit Granatapfelsirup und Ziegenkäse, braten Fleisch an. Alles läuft rund im "Mikla", Mehmet Gürs' Lebenswerk im 17. Stock des Marmara-Pera-Hotels hoch über den Dächern von Istanbul. "Ein typisches Mikla-Gericht besteht aus sehr einfachen Zutaten. Tarhana zum Beispiel, eine Trockensuppe aus fermentiertem Weizen, wie türkische Hausfrauen sie seit Jahrhunderten verwenden. Oder Hamsi ekmek, eine Art Fischbrötchen, wie sie sie in Istanbul überall kriegen. Mit Sardellen aus dem Schwarzen Meer, dem so genannten Arme-Leute-Fisch." Westliches Fine-Dining und anatolische Bauernküche Wer Mehmet Gürs zuhört, die Lebensmittel sieht, die sich in seiner Küche türmen, käme nicht auf den Gedanken, dass das "Mikla" gerade zum zweiten Mal in Folge unter die besten fünfzig Restaurants der ganzen Welt gewählt wurde. Ein Spitzenklasselokal mit Fischbrötchen und Trockensuppe auf der Speisekarte? "Warum nicht? Warum sollte Kaviar mehr wert sein als einfache Schwarzmeersardellen? Gerade habe ich gelesen, dass die Trüffel im italienischen Alba dieses Jahr 3000 Euro pro Kilo kosten. Aber sind sie deswegen wirklich besser als eine erstklassige, unter besten Bedingungen aufgezogene und gepflückte türkische Tomate? Die Linsen, die wir hier verwenden, sind die besten, die Sie finden können. Von einer alten Bäuerin im Norden der Türkei angebaut. Und unser Tahin kommt von einer Familie, die seit zehn Generationen Sesammus herstellt. Solche Dinge sind für mich wertvoller als Kaviar." Gürs nimmt drei im hauchdünnen Teigmantel gebratene Sardellen aus einer Pfanne, steckt sie behutsam in drei eingeritzte schwarze Steine. Wie kleine Fähnchen ragen sie in die Luft ... Seit zwölf Jahren entstehen im "Mikla" allabendlich Kreationen irgendwo zwischen westlich geprägtem Fine-Dining und anatolischer Bauernküche. Grenzen überschreiten und Traditionen bewahren "Am Anfang war unsere Idee, ein Istanbul-Restaurant zu eröffnen. Also einen Ort, der nach dieser Stadt schmeckt und riecht. Aber schnell kam die Frage auf, was heißt das eigentlich genau? Ich hab mich also auf eine Reise durch ganz Anatolien und Teile Europas begeben, einen Ethnologen eingestellt, der seitdem mit mir arbeitet. Wir mussten die Regionen und Kulturen, die in dieser Stadt zusammenfließen, wirklich verstehen. Mussten die Zutaten sehen, die die Menschen im Alltag benutzen." Monatelang reiste Mehmet Gürs umher, saß bei kurdischen Hausfrauen und griechisch-türkischen Bauern in der Küche, ignorierte Grenzen und Kontinente, fragte und lernte. Das Ergebnis landete zuerst in einem so genannten "Mikla"-Manifest mit dem Titel "New Anatolia" und dann auf den Tellern seiner Gäste. Mehmet Gürs reiste monatelang umher, auch über Landes- und Kulturgrenzen, um seine neue anatolische Küche zusammenzutragen (AFP / Floran Choblet) "Wir wagen etwas völlig Neues. Und natürlich gefällt das nicht jedem. Wenn Sie den Hausfrauen in den Dörfern sagen, sie nehmen ihr uraltes Rezept und kombinieren es ganz neu, dann rütteln sie ja an deren ganzer Lebensgrundlage. Aber wir respektieren die Traditionen und das Wissen dieser Menschen! Nur eben nicht die Engstirnigkeit und den Konservatismus, die dahinter stecken. Nur so kann man eine Kultur weiterbringen – sie leben lassen, anstatt sie irgendwann ins Museum zu verbannen …" "In Antakya würden sie es uns ins Gesicht klatschen" Ein Beispiel muss her. Mehmet Gürs durchquert die von Duft und Dampf durchzogene Küche und bleibt neben zwei wäschekorbgroßen Becken stehen. In einer weißgrauen, blubbernden Brühe schwimmen orangene Kürbisstücke. "Hier entsteht eine typisch türkische Kürbissüßigkeit. Die Kalklösung sorgt für eine ganz besondere Kruste. Wir sind zu einem der berühmtesten Meister im südtürkischen Antakya gegangen und haben gesagt: Dein Kürbis ist köstlich. Aber mir ist er einfach zu süß. Verrat uns, wie wir es schaffen, dass die leckere Kruste genauso knusprig wird, das Ganze aber weniger süß. Unmöglich, sagte er. Und warum? Weil es eben schon immer so gemacht wurde … Wir sind also zurück nach Istanbul gefahren, haben allein monatelang mit Zucker und Kalk herumexperimentiert. Das Ergebnis ist für mich weiter 100 Prozent typisch türkisch. Aber die Leute in Antakya würden es uns wahrscheinlich ins Gesicht klatschen." Als knusprige, hauchzarte Röllchen, garniert mit grünen Pistazien und Safran-Eis, kommt der Kürbis heute als Nachtisch auf den Teller. Mehmet Gürs balanciert das Kunstwerk zur Tür und drückt auf eine Klingel. In Sekundenschnelle erscheint ein weiß livrierter Kellner, trägt die Bestellung in den Speisesaal. Wenn eine Biene aus Georgien in der Türkei Honig macht ... Schneeweiße Tischdecken und blitzende Weingläser auf den Tischen, eine moderne Cocktailbar mit Edelstahltresen in der Mitte des Raums. Vor allem aber: Ein schier endloser Panorama-Blick über das abendliche Istanbul. Hier die historischen Altstadtgässchen, der Galata-Turm, die Süleymaniye-Moschee mit ihren Kuppeln und Minaretten. Dort die moderne Megametropole mit ihren glasverkleideten Wolkenkratzern, den Bosporusbrücken, Hotels und Shoppingmalls. Mehmet Gürs lächelt. Ein Ausblick ganz nach seinem Geschmack. "Unsere Küche beruht auf anatolischen Traditionen. Aber unsere Tischdecken sind weiß und die Designerstühle kommen aus Schweden. Na, sind wir jetzt ein eher westliches oder östliches Restaurant? Wenn wir uns auf diese Diskussion einlassen, egal ob beim Essen oder bei anderen Themen, können wir nur verlieren. Wenn eine Biene aus Georgien in die Türkei fliegt und dann hier Honig produziert, ist das dann türkischer oder georgischer Honig?" Bitte keine Festlegungen Mehmet Gürs' Mutter ist Finnin. Sein Vater Türke. Die Frage, wohin er gehört, hat der 48-Jährige von Geburt an mit sich herumgetragen. Lange wie einen schweren Stein, gibt er zu. Erst in der Küche fand er eine Antwort. Seine Antwort: "Ich glaube nicht, dass ich und die Türken uns unbedingt der einen oder anderen Seite anschließen müssen. Wir waren immer in der Mitte, gehörten weder ganz hier hin noch dort hin. Weder Europa noch Asien, weder West noch Ost. Uns diese Entscheidung aufzuzwingen, ist zerstörerisch. Nicht nur in der Küche. Wir sind, was wir sind. Fertig."
Von Luise Sammann
Viele junge Türken glauben nicht mehr an den EU-Beitritt. In den Russland- und China-Ambitionen ihres Präsidenten finden sie sich aber auch nicht wieder. Dieses "weder-noch" weckt Kreativität. Mit weltweitem Erfolg, wie sich in der Küche zeigt.
"2018-01-05T09:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:33:00.942000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-zwischen-ost-und-west-5-5-fuer-die-tradition-gegen-100.html
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Israel, Russland und der Krieg in Syrien
Israels Sorge gilt einem anderen Akteur in Syrien: Dem russischen Militär. (imago/Xinhua) Nach Berichten über israelische Luftangriffe auf Ziele in Syrien kommt im israelischen Radio immer die Frage nach den Konsequenzen. Man müsse sich keine Sorgen über eine syrische Reaktion machen, beruhigt der frühere Chef des militärischen Geheimdienstes Giora Eiland. Israels Sorge gilt einem anderen Akteur in Syrien: Dem russischen Militär. "Israel hat einen sehr feinen Mechanismus zur Koordination mit Russland. Bis jetzt mit Erfolg. Russland versteht und akzeptiert Luftschläge, so lang sie zielgerichtet sind und es nicht zu viele werden. Wir wollen keine Konfrontation mit Russland. Schauen sie nur, was mit Erdogan passiert ist." Eiland sprach nur wenige Stunden nach einem Angriff der Luftwaffe auf Ziele in der Nähe der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ein Konvoi sei getroffen worden, der Waffen an die libanesische Hisbollah-Organisation liefern sollte, hieß es in Berichten aus Syrien. Auch von einem Angriff auf einen Posten oder ein Lager der syrischen Armee war die Rede. Russland unterstützt auch die Hisbollah Und an der Stelle wird es spannend: Denn anders als Israel unterstützt Russland mit seinem Militär die syrische Armee und deren Verbündete im Bürgerkrieg, also auch die Hisbollah. Es ist ein Konflikt unterschiedlicher politischer Interessen. Auch wenn der russische Regierungschef Medwedjew versuchte, bei seinem Besuch Anfang November die Differenzen zu überspielen: "Ich erinnere mich, dass mir während meiner Treffen mit der israelischen Führung meine Mitarbeiter vorsichtig sagten, die Israelis seien nicht für Bashar Al Assad. Aber ich denke es ist besser, wenn es jemanden gibt, der die Situation und das Land beherrscht als wenn wir uns mit einer unkontrollierbaren Zerteilung des Landes und der Gründung terroristischer Enklaven auseinandersetzen müssen. Und soweit ich mich erinnere, entspricht das auch der israelischen Position, die ich für richtig halte." Medwedjew unterstellt der israelischen Regierung eine Position. Dabei sehen die Überlegungen in Jerusalem ganz anders aus: Dort gilt Syriens Machthaber mit seinen Verbündeten Iran und der libanesischen Hisbollah-Organisation als größere, als strategische Bedrohung. Der IS sei dagegen eine taktische Gefahr, mit der man umgehen könne, sagt zum Beispiel der Politikwissenschaftler Modechai Kedar. Israelisches Militär zeigt sich bedeckt Die erste Auseinandersetzung mit dem sogenannten Islamischen Staat meldete Israel am letzten Novemberwochenende. Mitglieder der Gruppe Shuhada al-Yarmouk hatten nach Angaben des Militärs von syrischer Seite aus auf israelische Soldaten auf den von Israel annektierten Golanhöhen geschossen. Israel tötete die mutmaßlichen Angreifer und zerstörte am Tag drauf den früheren Stützpunkt 86 der UN-Schutztruppe UNDOF. Denn von dort seien die Schüsse gekommen, erklärte Israels Verteidigungsminister Liebermann: "Jeder Angriff auf Soldaten der israelischen Armee und auf souveränes Staatsgebiet wird mit Stärke erwidert und muss mit niemandem abgestimmt werden. Ein Angriff auf unsere Kräfte ist nicht hinnehmbar. Auf so etwas wird sofort und mit Stärke reagiert und nicht vorher abgesprochen." Die Frage, wann Israel militärische Angriffe mit Russland abstimmt, wann Russland über Kampfflugzeuge informiert, die israelisches Gebiet überfliegen, lässt sich im Moment nicht beantworten. Mitglieder der israelischen Armee verweisen auf Nachfrage immer an die nächsthöhere Stelle. Angriffe auf einzelne Ziele konzentriert Niemand in Israel bestätigt Luftangriffe auf Ziele in Syrien. Aber es gebe feste Regeln für mögliche Einsätze, so Geheimdienstler Eiland. "Wir greifen nur in zwei Fällen an. Entweder weil auf unser Gebiet geschossen wird, wie vor ein paar Tagen auf den Golanhöhen. Oder bei Waffenlieferungen an die Hisbollah, die das Gleichgewicht verändern." Die Angriffe seien auf einzelne Ziele konzentriert und man spreche nicht darüber, damit der Gegner nicht unter Druck gerät, reagieren zu müssen. Für Israel sei das russische Militär in dieser Situation ein kalkulierbares Risiko, sagt Eiland. Aber es bleibe ein Risiko, räumt er im Radio-Interview ein: "Und das zweite Risiko ist die Hisbollah. Heute versinkt die Organisation im Bürgerkrieg in Syrien. Aber wenn der Krieg einmal endet, könnte sie auf Angriffe, wie die Luftschläge auf Ziele bei Damaskus, reagieren." In Israel hat offenbar das Nachdenken darüber eingesetzt, wie es weiter gehen soll, wenn Assad mit russischer Hilfe die Kontrolle über sein Gebiet wieder herstellt.
null
Israel greift immer wieder Ziele in Syrien an. Wie reagiert Russland darauf? Denn Russland verfolgt in Syrien andere Interessen und unterstützt Machthaber Assad. Russland, sagen Geheimdienst-Experten, ist ein Risiko. Aber ein kalkulierbares.
"2016-12-03T13:30:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:03.750000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/militaerpolitik-israel-russland-und-der-krieg-in-syrien-100.html
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Zu sauber für einen guten Fang
Ein großer Fischereibetrieb in Friedrichshafen: Vor einem großen Wasserbehälter mit Saiblingen steht Berufsfischerin Anita Koops. Sie erweckt keinen glücklichen Eindruck."Wir hatten vom Jahr 2011 auf das Jahr 2012 Fangeinbußen von 47 Prozent. Und dieses Jahr ist es noch massiv weniger."Daneben steht Wolfgang Sigg, Vorsitzender des Internationalen Bodensee-Fischereiverbandes. Er kennt die Ursache dafür, warum den Mitgliedern seiner Vereinigung immer weniger Fische ins Netz gehen: Der Bodensee ist aus der Sicht der Berufsfischer zu sauber geworden. "Die wichtigste Ursache ist die Tatsache, dass der Phosphatgehalt im See stark zurückgegangen ist, inzwischen auf fünf Milligramm pro Kubikmeter Wasser. Und das führt dazu, dass eben die Nahrungsgrundlage der Fische stark reduziert wurde."Weil nämlich Phosphate das Algenwachstum anregen und damit für mehr Futter für die Fische sorgen. Die Klage der Bodenseefischer hält seit Jahren an – und blieb bei Experten weitgehend ungehört – bisher. Doch das hat sich nun geändert. Alexander Brinker ist Leiter der Fischereiforschungsstelle des Landes Baden-Württemberg in Langenargen am Bodensee. Er will sich selbst als Ökologe und Gewässerschützer verstanden wissen, blickt stolz auf die Listen mit Phosphatwerten. Noch vor wenigen Jahren waren die Experten stolz, den Phosphatgehalt im Trinkwasserspeicher von ursprünglich 80 Milligramm pro Kubikmeter Wasser auf 15 Milligramm abgesenkt zu haben."Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, wo das als toller Erfolg gefeiert wurde. Und dann hatte man schon eine Situation, die für die Ökologie des Gewässers und für die Trinkwasserqualität hervorragend gewesen ist."Doch die Phosphatausfällungsstufen in den Kläranlagen wurden weiter perfektioniert, sodass der Gehalt derzeit bei rund fünf Gramm pro Kubikmeter liegt. Das bedeutet aber auch: Wichtige Fischarten im Bodensee wie die Felchen bekommen nichts mehr zwischen die Kiemen – und die Berufsfischer in der Folge nichts mehr in die Netze."Der Hauptfisch des Bodensees, das Felchen, ist eigentlich an Gewässern mit wenig Nährstoffen angepasst und kann daher bei wenig Nährstoffen sehr gute Bestände ausbilden. Erst ab 10 Milligramm sieht man einen Ertragsrückgang."Deshalb hält der Fischereiforscher eine leichte Anhebung des Phosphatgehaltes für sinnvoll und ökologisch vertretbar. "Hier hat man eigentlich eine ganz elegante Lösungsmöglichkeit. Und das wäre, nicht ganz so viele Phosphat-Fällungsmittel zuzugeben. Und dann würde wieder automatisch mehr Phosphor in den See gelangen. Und er würde sich langsam an die zehn Milligramm angleichen."Folge wäre, so Alexander Brinker von der Fischereiforschungsstelle Langenargen, ein Ansteigen des Felchenbestandes bei gleichzeitiger Wahrung einer sehr guten Trinkwassergüte; selbst zehn Milligramm Phosphat pro Kubikmeter entspricht gerade mal der Hälfte dessen, was die europäische Trinkwasserrichtlinie vorschreibt. Dennoch sorgen die Überlegungen des Fachmannes für einen Aufschrei bei den Umweltverbänden. Den Phosphatgehalt wieder anheben – ein Unding, kritisiert Hannes Huber, Sprecher des Landesverbandes Baden-Württemberg im Naturschutzbund Deutschland:"In unseren Augen kann es nicht sein, dass man den Bodensee jetzt wieder künstlich dreckig macht, nur damit die Erträge wieder steigen. Da sagen wir ganz klar: Fische sind keine Kartoffeln. Der Bodensee ist kein komplexer Lebensraum, der wertvoll ist. Er ist kein Kartoffelacker, wo wir sagen: Die Erträge stimmen nicht mehr, da müssen wir eine Schippe Dünger drauf schmeißen. Das wäre mit uns nicht zu machen."Der grüne baden-württembergische Agrarminister Alexander Bonde, in dessen Ressort auch die Fischerei fällt, möchte sich mit dem Gedanken auch nicht so recht anfreunden, mehr Phosphate in den See zu lassen."Also wir haben den Wasserschutz am Bodensee ja nicht zum Spaß gemacht. Es geht ja um die Frage der Reinheit des Wassers. Und das hat zu Recht auch gesetzlich Priorität."Alexander Brinker, der Leiter der Fischereiforschungsstelle Langenargen, warnt dagegen auf einem Beharren des derzeit niedrigen Phosphatgehaltes um den Preis des Rückgangs bei den Fischbeständen. Dies bringe in der Gesamt-Öko-Bilanz eher Nachteile denn Vorteile."Irgendwo muss der Fisch herkommen, der gegessen wird. Das heißt: Die Herstellung wird einfach nur verlagert. Anstatt eines regionalen Produktes, was einen ökologisch hervorragenden Fußabdruck hat, werden dann Fische aus weit entfernten Ländern eingeflogen mit Transportkosten und ähnlichen Dingen. Auch die Aspekte des Verbraucherschutzes – was bekomme ich an Qualität auf den Teller? - werden auf dem Heiligen Gral des Phosphors geopfert. Und das wäre schwer nachvollziehbar. Und ein kleiner Schritt zurück würde insgesamt auch der Umwelt guttun."
Von Thomas Wagner
Viele Badegäste und auch Menschen, die Trinkwasser aus dem Bodensee beziehen, profitieren davon, dass das Wasser in den vergangenen Jahren immer sauberer geworden ist. Doch Berufsfischer wollen, dass der Phosphatgehalt im See wieder erhöht wird - denn den Fischen fehlt sonst die Nahrung.
"2013-08-01T11:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:28:58.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zu-sauber-fuer-einen-guten-fang-100.html
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Klimaforschung in der Eifel
Das Wüstebach-Areal an der deutsch-belgischen Grenze: Der Wüstebach schlängelt sich den Hang entlang, Wissenschaftler stapfen durchs Unterholz. Vor drei Jahren wurde das Gebiet zum Nationalpark erklärt. Die Schützengräben und Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg sind längst zugewachsen, die Fichten mittlerweile 25 Meter hoch. Nun sollen sie weg, erklärt Gert Ahnert, Dezernent für Waldentwicklungsmaßnahmen vom Nationalpark Eifel:"Ich hole am liebsten ein bisschen weiter aus und weise darauf hin, dass durch menschlichen Einfluss hier die Natur sehr stark verändert ist. Und einfach die Natur jetzt sich selbst zu überlassen, würde dazu führen, dass weitere 80 Jahre, vielleicht auch noch zwei-, dreimal 80 Jahre Fichtengenerationen, also wieder reine Fichtenbestände, auf diesen Buchenstandorten stehen würden."Die Nationalparkverwaltung will die Fichten abholzen und Laubbäume pflanzen. Seit 20 Jahren werden so Fichtenmonokulturen in der Eifel wieder in Laubwälder umgewandelt. Zum ersten Mal jedoch sind Forscher mit dabei. Sie wollen untersuchen, wie sich die Renaturierung auf ein komplexes Ökosystem wie das Wüstebachgebiet auswirkt, wie sich der Nährstoffgehalt in Bach und Boden verändert, die Fließgeschwindigkeit des Wassers und vor allem das Klima. Auf dem Boden zwischen Nadeln, Moos und Zapfen sind Messgeräte vergraben, grüne Ringe, Metallstäbe und Plastiktrichter, eine Wetterstation ragt zehn Meter in die Höhe:"Ganz oben haben Sie zum Beispiel einmal einen Windgeschwindigkeitsmesser, Windrichtungsgeber, Luftfeuchte, Lufttemperatur, das Ganze wiederholt sich dann hier noch mal in zwei Metern Höhe. Und dann haben wir hier noch mal auf der Bodenoberfläche auch noch einige Messsensoren, auch wieder Temperatur, dann wird die Wärmeleitfähigkeit gemessen, dahinten haben wir in 1,50 Meter Höhe ein Einstrahlungsmessgerät, und dann in ein Meter Höhe einen Regenmesser","sagt Thomas Pütz vom Forschungszentrum Jülich. Pütz interessiert sich vor allem für Kohlendioxid im Waldboden. Das Treibhausgas wird von den Bäumen aufgenommen und in Fichtennadeln oder Zapfen gespeichert. Im Waldboden werden sie dann von Mikroorganismen zersetzt. Dabei kommt auch ein Teil des Kohlendioxids wieder frei. Wie viel, das misst Pütz an grünen Ringen, die aus dem Boden ragen. Sie sind die Andockstationen für ein Kohlendioxid-Messgerät: ""Das Brummen ist eine Pumpe, und diese Pumpe saugt kontinuierlich das Gas aus dem Raum raus, und da wird dann Gas aus dem Boden herausgezogen, und da messen wir jetzt CO2. Der Punkt ist ja der, wir produzieren CO2 in großen Maßen, indem wir eben fossile Brennstoffe umwandeln zur Energienutzung und dabei CO2 freisetzen. Und es ist eine wichtige Größe, ob der Boden als Puffer für CO2 in Form von organischem Kohlenstoff fungiert. Sie sehen es selber, wenn Sie hier drüber gehen, ist es hier richtig schön weich, man läuft wie auf einem dickflorigen Teppich, wenn man jetzt hier Bäume entnehmen würde, würde diese organische Substanz auch noch mal umgesetzt, das heißt, das würde noch zusätzlich zu dem fossilen CO2 freigesetzt werden."Wenn die Fichten abgeholzt sind, knallt die Sonne ungehindert auf den Waldboden. Die Wärme kurbelt den Stoffwechsel der Mikroorganismen an. Sie zersetzen mehr Pflanzenmaterial und geben mehr Kohlendioxid aus dem Boden ab:"Und man muss jetzt eben schauen, ob das eine geeignete Maßnahme ist, diese Waldumstrukturierung, um Wald neu zu gestalten, oder ob das noch zu einer zusätzlichen Belastung des Klimas durch CO2 kommt."Umweltforscher schätzen, dass weltweit 1500 Gigatonnen Kohlendioxid in Böden gespeichert sind. Durch Waldrodungen könnten etwa 60 Gigatonnen pro Jahr freigesetzt werden, das ist zehnmal mehr als durch fossile Brennstoffe. Die Ergebnisse aus dem Wüstebachgebiet sollen helfen, Modellrechnungen in der Klimaforschung zu präzisieren.Die Forschung im Wald hat auch ihre Tücken. So dürfen die Wissenschaftler zum Beispiel nur mit Metalldetektoren graben, um nicht auf Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg zu treffen. Einmal im Monat fahren Pütz und seine Kollegen aus Jülich zur Station, um die Daten auf Notebooks zu überspielen. In der Zwischenzeit kümmern sich Nationalpark-Ranger um die Station. Sie tauschen Batterien aus oder befreien Trichter von Fichtennadeln. Der Nationalpark profitiere enorm von dieser Zusammenarbeit, sagt Gert Ahnert:"Erstmals wird ein Status festgehalten. Wie ist es jetzt, und was passiert im Detail, wenn die Fichten weg sind? Wir haben Einzelaspekte schon immer gewusst, das Wasser kann wärmer werden, die Lebewesen im Bach nehmen zu, aber es wird noch viele andere Dinge geben, es wird sehr viel mehr passieren als wir glauben und wissen, und deshalb ist diese Flut an Daten, die hier gesammelt wird, für uns ganz besonders spannend."
Von Marieke Degen
Seit 20 Jahren werden Fichtenmonokulturen in der Eifel wieder in Laubwälder umgewandelt. Forscher untersuchen, wie sich die Renaturierung auf ein komplexes Ökosystem auswirkt, und haben dabei besonders das Klima im Auge.
"2007-04-10T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T13:48:42.933000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaforschung-in-der-eifel-100.html
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Hillary Clintons Gegner und Befürworter formieren sich
Matt Rhoades hat viel Erfahrung mit Wahlkämpfen. Seine letzte war allerdings keine gute: Er war der Wahlkampfmanager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney, der seine Kampagne bekanntlich verlor. Doch Rhoades hat jetzt ein neues Projekt: Er will diesmal keinen Wahlkampf zum Erfolg führen, sondern er will die Kandidatur Hillary Clintons zur demokratischen Präsidentschaftsbewerberin verhindern. StopHillary2016.org – so heißt die Website der Anti-Hillary-Clinton-Kampagne, mit der bereits jetzt Spenden gegen eine Kandidatur gesammelt werden sollen, die noch gar nicht erklärt ist. Der Politikwissenschaftler Charles Cushman von der Georgetown University zu den Gründen dafür."Es ist noch viel zu früh, um vorherzusagen, wer 2016 antreten wird. Aber: Hillary Clinton macht zumindest den Eindruck, dass sie darüber nachdenkt. Und ich glaube, die Republikaner attackieren sie jetzt schon, weil sie Angst vor ihr haben. Sie wissen, dass Sie ein ernstzunehmender Gegner ist, dass sie eine erfahrene Wahlkämpferin ist, sie hat sich als Senatorin und Außenministerin eine sehr gute Reputation erarbeitet. Ich denke, die Republikaner wollen jetzt schon das Fundament für eine Kampagne gegen sie legen."Hillary Clinton selbst hält sich zurück. Nachdem sie ihren anstrengenden Job als Außenministerin an den Nagel gehängt hatte, hat sie sich erst einmal eine Ruheperiode verordnet. Einzig ihr neues Twitter-Konto gilt als Hinweis auf weitere Ambitionen. Doch nicht nur Hillary Clintons Gegner, auch ihre Unterstützer sind ungeduldig. Kirsten Gillibrandt ist als Senatorin von New York Nachfolgerin Hillary Clintons in diesem Amt. "I am personally urging Secretary Clinton to run in 2016."Zuvor hatte sich die Senatorin von Missouri, Claire McCaskill, als erstes Kongressmitglied hinter eine Clinton-Kandidatur gestellt."Sie ist bei weitem der stärkste, fähigste und bestqualifizierte Kandidat für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Und ich gehöre zu einer großen Gruppe von Leuten, die wollen, dass sie antritt."Ready for Hillary – "Bereit für Hillary" heißt die Kampagne für die ehemalige Außenministerin. Die Republikaner versuchen seit dem Überfall auf das amerikanische Konsulat in Bengasi Ende letzten Jahres, diesen Vorfall als groben Fehler der Außenministerin Hillary Clinton zu zeichnen. Mit wenig Erfolg, meint Charles Cushman. Die Republikaner würden die gleichen Angriffe auf die Clintons fahren, wie in den 1990ern. "Sie machen das, weil sie wissen, dass die Clintons intelligent sind und weil sie sehr gute Politiker sind. Sie verkörpern einen Teil der Demokratischen Partei, der als sehr realitätsnah und unideologisch gilt. Das spricht Wähler der Mitte an, die sich nicht parteipolitisch festlegen wollen. Und das macht es für die Republikaner so schwer, gegen sie erfolgreich zu sein. Die Republikaner reagieren zum Teil so paranoid auf Hillary Clinton, weil sie Grund haben sie zu fürchten. Sie wäre ein sehr guter Kandidat und würde schwer zu schlagen sein."
Von Marcus Pindur, Studio Washington
US-Präsident Barack Obama darf 2016 nicht mehr erneut kandidieren. Als mögliche Bewerberin fürs Präsidentenamt gilt Hillary Clinton. Doch noch hält sich die ehemalige Außenministerin zurück. Ihre Unterstützer werden allmählich ungeduldig - ihre Gegner auch.
"2013-06-22T06:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:23:25.097000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hillary-clintons-gegner-und-befuerworter-formieren-sich-100.html
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"Stromberg liebt nicht mal sich selbst"
Christoph Maria Herbst als Stromberg (m.) umringt von Film- und Firmenkollegen. (picture alliance / dpa) Timo Grampes: Christoph Maria Herbst, es hat ein beliebtes Ritual gegeben in Ihrem Leben: Immer, wenn Sie eine Stromberg-Staffel zu Ende gedreht hatten, dann haben Sie die Stromberg'sche Halbglatzen-Frisur und den Klobrillen-Bart abgesäbelt, und dann beides in der Kloschüssel versenkt und runter gespült. Jetzt ist es ja vorbei mit Stromberg. Wie froh sind Sie denn, nicht mehr aussehen zu müssen wie der Typ? Christoph Maria Herbst: Gar nicht froh, eigentlich. Die Figur hat mir über zehn Jahre sehr viel Freude gemacht. Meinem sozialen Umfeld nicht immer zwingend, weil das schon eine Vollmaske war, in der ich während der Dreharbeiten rumlaufen musste. Aber mir schon. Das war eine ganz besondere Zeit, auf die ich da jetzt zurück gucke. Mit immer dem selben Team, weil wir von der ersten Staffel an das Team niemals gewechselt haben. Und das lässt man dann nicht so leichtfertig gehen. Also, wir lagen uns schon mit Tränen in den Augen am letzten Drehtag in den Armen. Nicht mehr so aussehen zu müssen wie Stromberg in der nächsten Zeit, das erfüllt mich schon mit Freude, das stimmt. Aber auch da will ich mich nicht beklagen, es war meine eigene Idee. Ich war derjenige, der damals gesagt hat: 'Ich muss den Stromberg mit Halbglatze und Kinderschänder-Bart spielen!' Und deshalb will ich jetzt da im Nachhinein nicht lamentieren. Grampes: Also, ein bisschen Trennungsschmerz schwingt durchaus mit, höre ich raus. Mit Vollmaske während der Dreharbeiten, da waren Sie gefordert. Und das war eine Herausforderung auch vor den Dreharbeiten. Sie haben mal erzählt, dass sozial nicht viel mit Ihnen anzufangen gewesen ist, jeweils schon ein paar Wochen vor den Dreharbeiten zu Stromberg. Wie dürfen wir uns denn Ihre ganz normale Stromberg-Asozialität vorstellen? Herbst: Ja, wenn ich dann auf einmal aussehe wie der Papa, bin ich es natürlich auch für viele auf der Straße oder wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe. Dafür gibt es ja die gute alte Baseball-Kappe mit dem Schirm oben. Und die zieht man sich dann einfach ein bisschen weiter ins Gesicht. Ich kann da schon ganz gut mit leben. Und in dem Veedel, in dem ich lebe in Köln, die Menschen auch. Die wissen, wer ich bin und da wird dann kein großes Aufheben mehr drum gemacht. Aber ich stelle schon fest, dass es während der Dreharbeiten sehr anstrengend ist. Komödie, gerade wenn sie so leicht daherkommt ... Das bedarf schon besonderer Arbeit, das so weit zu kriegen, dass sie so leicht daher kommt. Und in der Zeit bin ich schon besonders zart besaitet und ziehe mich dann schon eher zurück. Aber das ist, glaube ich, ein ganz normaler Vorgang, wenn man eine Doktorarbeit schreibt oder irgend einen Job hat, der einen gerade massiv einspannt. Das kann, glaube ich, jeder nachvollziehen. Und wenn ich Stromberg drehe, dann ist das so, als würde ich gerade eine Doktorarbeit schreiben oder hätte gerade einen Managerberuf, im mittleren oder oberen Management. Bei mir ist es Gott sei dank immer endlich, eine überschaubare Zeit. Und insofern: 'Et hätt noch emmer joot jejange', wie wir in Köln sagen. Ein fleischgewordener Schrei nach Liebe Grampes: Rückzug gehört also dazu. Sie haben mal gesagt, Stromberg sei ein ganz einsamer Mensch. Wie meinen Sie das? Herbst: Ich habe an einer anderen Stelle auch mal gesagt, dass er ein fleischgewordener Schrei nach Liebe sei. Ich glaube schon, dass der sich windet in seinem Alltag. Dass der gerne sozialen Kontakt hätte, zu dem es aber einfach nicht kommt. Das ist ja mit ein Grund, warum er sich selbst immer als 'Papa' bezeichnet. Er wird von allen anderen aber als 'Papa' nicht gesehen, sondern nur er sieht sich so. Also, der lebt schon in seiner ganz eigenen Welt. In seinem ganz eigenen Kosmos. Und das macht ihn zu einer sehr tragikomischen Figur. Grampes: Der Typ, der will Liebe, haben Sie gesagt. Und die versucht er ja auch zu bekommen, indem er ganz vielen Menschen nach dem Mund redet. Und da fragt man sich ja auch: Wer ist der Typ eigentlich? Weiß der Typ eigentlich, wer er ist und was sein wahres Selbst ist? Wenn wir jetzt mal davon ausgehen: Das wahre Selbst ist ein Mensch, der Selbstbewusstsein hat, der eine Gewissheit hat, dass er geliebt wird. Davon mal ausgehend, was meinen Sie: Wie viel wahres Selbst kann der Mensch eigentlich haben? Herbst: Hui, jetzt wird's philosophisch! Wenn Stromberg etwas nicht hat, dann ein Bewusstsein seiner selbst. Deswegen ist er auch eigentlich in jeder Szene, in jeder Folge, auch im Kinofilm in vielen Momenten wieder irgendjemand anderes. Er ist wie so ein Stück Seife, wie ein Pudding, den man versucht, an die Wand zu nageln. Es gelingt Ihnen einfach nicht. Er sagt von sich selbst, und das meint er positiv, er wäre wie ein Wiesel oder wie ein Chamäleon, das in jeder Situation einfach in einer anderen Farbe oder in einer anderen Erscheinungsform daher kommt. Das klingt nach schwerer Psychose, nach multipler Persönlichkeit. Grampes: Oder nach etwas, das man im Alltag ganz oft erlebt: eine gewisse Anpassung, eine Biegsamkeit. Also, noch mal zurück zum Philosophischen: Wie viel Selbst können wir eigentlich sein, wie viel wahres Selbst? Herbst: Das ist eine gute Frage. Das muss, glaube ich, jeder für sich selbst rauskriegen. Wenn wir den Satz aus der Bibel nehmen: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst' - da ist das ja auch so ein bisschen verankert. Sich selbst so zu lieben, sich selbst so anzunehmen, wie man den anderen annimmt und wertschätzt. Das setzt natürlich erst mal voraus, dass wir uns selbst annehmen und selbst wertschätzen. Das Maß, in dem wir das schaffen, muss glaube ich jeder für sich selbst finden. Stromberg, der liebt nicht mal sich selbst. Deshalb ist der auch nicht liebesfähig. Mach erst mal die Banklehre! Grampes: Wer hat Sie denn ermutigt, Sie selbst zu sein? Herbst: Ich glaube, mein Elternhaus hat dafür gesorgt, dass ich der werden durfte, der ich jetzt bin. Und ich fühle mich wohl als der, der ich bin. Und das habe ich erst mal meinem unmittelbarsten Umfeld, das mich am stärksten geprägt hat und auch über die meiste Zeit meines Lebens, zu verdanken. Und es widerspricht sich nicht, wenn ich sage, dass meine Eltern erst mal wollten, dass ich eine Banklehre mache. Und ich habe ihnen immer gesagt: 'Ich möchte aber Schauspieler werden!' - 'Ja, nun mach erst mal die Banklehre!' Dann habe ich diese Banklehre gemacht. Und der Deal war, dass ich danach das mache, worauf ich Bock habe - und das war dann eben Schauspielerei. Meine Eltern sind dann meine größten Fans geworden und sind mir dann in jede Klitsche und jede Provinz, in der ich Theater gespielt habe, hinterher gereist. Und haben selbst in den schlimmsten Inszenierungen, die ich gespielt habe, es ganz toll gefunden, was ich da mache. Das hat auch was mit Liebe zu tun! Grampes: Und im Rückblick fanden Ihre Eltern die Banklehre immer noch sinnvoll? Herbst: Nicht nur sie, sondern auch ich. Und das sind auch nicht zwei Jahre gewesen, wo ich sage: Boah, die sind mir geraubt worden! Weil, zur selben Zeit hatte mich die Bundeswehr untauglich geschrieben. So hat mir das Schicksal wieder zwei Jahre in den Schoß gespült. Und die habe ich dann fast gerne bei der Deutschen Bank in Wuppertal verbracht. Grampes: Sehr gut, dass die hier auch noch ihren Platz findet. Aber Sie haben Ihren Platz und Ihre Bestimmung dann doch im Schauspiel gefunden. Da da sind Sie Sie selbst. Wann fällt es Ihnen denn schwer, Sie selbst zu sein? Herbst: Mir fällt es eigentlich überhaupt nicht schwer, ich selbst zu sein, weil ich weiß, wer ich bin. Ich weiß auch, wo ich hin gehöre. Und ich glaube, nur aus dem Bewusstsein seiner Selbst kann man dann auch andere Rollen spielen. In dem Moment, wo ich dieses Potenzial nicht hätte, mir meiner Selbst klar zu sein, würde ich mich in anderen Rollen so verlieren, dass es pathologisch wäre. Gerade im Falle Strombergs möchte ich die Zügel in der Hand behalten und genau wissen, wer hier wen spielt. Grampes: Herr Herbst, schauen wir abschließend auf Ihre völlig selbstbestimmte und stromberg-freie Zukunft. Was da raus fällt ist: Lesereise machen mit einer Doktorarbeit zum Thema 'Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern.' Die haben Sie nämlich schon gemacht. Dschungelcamp-Moderation wollten Sie nicht. Was wollen Sie denn noch? Herbst: (Lacht) Eine Corso-Moderation, so eine schöne Corso-Moderation! Die würde mir noch ... nein, Quatsch. Hat aber alles Spaß gemacht zu seiner Zeit. Es hat Spaß gemacht, die Dschungel-Moderation abzusagen. Es hat Spaß gemacht, mit Charlotte Roche damals diese Dissertation von einem bis heute anonym gebliebenen Urologen vorzulesen. Ich bin sicher, dass es mich, in welcher Form auch immer, auch nach Stromberg noch geben wird. Allein, wie das aussehen wird - da lassen Sie mir noch ein bisschen Zeit.
Christoph Maria Herbst im Gespräch mit Timo Grampes
Mit der Figur Stromberg spielt Christoph Maria Herbst einen Charakter so komisch und so aus dem Leben gegriffen, dass man den Darsteller und seine Rolle leicht verwechseln könnte. Im Deutschlandfunk verrät Herbst, wie er es mit der "Vollmaske" Stromberg zehn Jahre lang ausgehalten hat.
"2014-02-19T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T13:27:02.786000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/christoph-maria-herbst-stromberg-liebt-nicht-mal-sich-selbst-100.html
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Kleinere Haushaltslöcher, größere Schuldenberge
Das Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main spiegelt sich im Eurozeichen-Kunstwerk des Künstlers Otmar Hoerl. (dpa picture alliance / Mauritz Antin) Vom Umgang mit dem Kapitalmarkt verstehen die Portugiesen was. Der Hunger nach Rendite ist so groß, dass ein kleines Angebot auf große Nachfrage treffen muss. Also boten die Portugiesen heute nur Anleihen mit zehn Jahren Laufzeit für 750 Millionen Euro an. Die Nachfrage lag beim Dreifachen. Die erwünschte Folge: Der Preis fürs Geld sank. Portugal muss nur 3,57 Prozent Zins zahlen. Das kommt den portugiesischen Renditetiefs von 2005 nahe, ist also wenige als Vorkrisenniveau. Im Januar 2014 lag die Rendite noch bei gut sechs Prozent. Das Comeback Portugals auf dem Kapitalmarkt ist also gelungen. Aber das, so Christoph Rieger, der Zinsstratege der Commerzbank, habe sie vor allem der Europäischen Zentralbank zu verdanken: "Der Renditerückgang, den wir ja schon seit einiger Zeit in vielen Peripherieländern beobachten, der fußt natürlich ganz klar auf der Unterstützung Geldpolitik, der Politik insgesamt." Bonität nicht heraufgesetzt Portugal will am 17. Mai das Rettungsprogramm des europäischen Rettungsfonds ESM verlassen, das ihm in den vergangenen drei Jahren Notkredite von 78 Milliarden Euro hatte zukommen lassen. Doch die großen Ratingagenturen haben Portugals Bonität noch nicht heraufgesetzt. So entschied die EZB vorige Woche, notfalls auch portugiesische Staatsanleihen mit der schlechten Bonität als Sicherheit für Kredite zu akzeptieren. Das war zwar schräg, aber wirksam: "Nun, es ist richtig, dass die EZB ihre Regeln etwas intransparent letzten Monat geändert hat dahingehend, dass die Anleihen weiter EZB-fähig sein werden. Ich denke, das Vorgehen unterstreicht noch einmal, ja, die pragmatische Haltung der EZB." Lob heute auch für Griechenland. Zwar meldete heute die europäische Statistikbehörde, Griechenlands Staatsdefizit sei voriges Jahr von 8,9 auf 12,7 Prozent der Wirtschaftsleistung hochgeschnellt. Zugleich sei der Schuldenstand auf 175,1 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Doch selbst der Sprecher von EU-Währungskommissar Olli Rehn, Simon O'Connor, hob etwas anderes hervor: "Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds berechneten Griechenlands Primärüberschuss im Jahr 2013 mit 1,5 Milliarden Euro oder 0,8 Prozent der Wirtschaftsleistung." Kleiner Gewinn Griechenlands Ohne die Lasten des Schuldendienstes hat Griechenland also das Jahr mit einem kleinen Gewinn abgeschlossen. Das, so Christian Schulz, der für die Berenberg Bank von London aus das Geschehen bewertet, sei für den Markt wichtiger als der wachsende Schuldenstand gewesen: "Und da gibt es ja gute Nachrichten. Denn das griechische Staatsdefizit, wenn man mal die Bankenrettung im vergangenen Jahr, die ja nur einmalig ist, herausrechnet, war nur noch 2,1 Prozent vom BIP. Das ist weniger als im Eurozonendurchschnitt. Und lässt hoffen, dass in den kommenden Jahren der griechische Schuldenstand zusammen mit eine wachsenden Wirtschaft dann zurückgehen wird. Und das ist für die Märkte viel wichtiger als wo der aktuelle Schuldenstand ist." In allen 18 Euroländern zusammen sank das Haushaltsdefizit voriges Jahr von 3,7 auf 3,0 Prozent der Wirtschaftsleistung, also auf den in den Maastrichter Verträgen zulässigen Wert. Der staatliche Schuldenberg stieg damit aber weiter von 90,7 auf 92,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – erlaubt sind nur 60 Prozent. Neben Griechenland zeigen vor allem Italien, Portugal, Irland und Zypern deutlich höhere Schuldenstände. Deutschland hat im vergangenen Jahr einen ausgeglichenen Haushalt erreicht. Der Schuldenstand sank leicht auf 78,4 Prozent. Estland als Musterschüler der Eurozone zeigt nur einen Schuldenstand von zehn Prozent. Luxemburg hat voriges Jahr sogar einen kleinen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet.
Von Michael Braun
Lichtblick für Portugal. Das Euro-Krisenland will ab Mitte Mai wieder gänzlich ohne internationale Hilfen auskommen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat das Land heute geschafft, mit der erfolgreichen Rückkehr an die Anleihemärkte.
"2014-04-23T17:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:19.273000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugal-kleinere-haushaltsloecher-groessere-schuldenberge-100.html
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"Atomwaffen gehören verboten!"
"Es war klar, es musste was mit Atom sein": ICAN-Geschäftsführerin Beatrice Fihn und Koordinator Daniel Hogstan jubeln über den Friedensnobelpreis, der ihrer Organisation verliehen wird. (AFP / Fabrice COFFRINI) Mario Dobovisek: Die nukleare Aufrüstung als Relikt des Kalten Krieges, sie gibt es noch immer, etwa wenn wir auf den akuten Nordkorea-Konflikt blicken, auch wenn gerade erst 122 Länder bei den Vereinten Nationen einen Vertrag gegen Atomwaffen unterzeichnet haben, ein Meilenstein, wie UNO-Generalsekretär Guterres ihn im Juli noch genannt hat, allerdings mit dem nicht unerheblichen Schönheitsfehler, dass die bekannten Atommächte und sämtliche NATO-Staaten den Vertrag ablehnen. Just in dieser Zeit setzt das Nobel-Komitee in Oslo ein Zeichen und vergibt den Friedensnobelpreis an die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, kurz Ican. Und deren Chefin in Genf kann es kaum fassen: "Wir waren schockiert, als der Anruf kam", sagt sie. "Wir haben gelacht und gedacht, es wäre ein Scherz. Am Telefon begrüße ich Jan van Aken, scheidender Bundestagsabgeordneter der Linkspartei. Abrüstung ist ihm ein Anliegen. Er selbst war als Waffeninspekteur für die Vereinten Nationen unterwegs. Guten Tag, Herr van Aken! Jan van Aken: Einen schönen guten Tag. Dobovisek: Als wir Sie um kurz nach elf heute angerufen haben, um Sie für das Interview hier zu gewinnen, haben Sie gleich gesagt, Sie hätten auf die Ican gewettet. Warum waren Sie sich so sicher? van Aken: Eigentlich war ich mir gar nicht sicher. Ich mache das seit 15 Jahren und immer lag ich so was von daneben, wenn es um den Friedensnobelpreis ging. Diesmal dann doch und es war klar, es musste was mit Atom sein, angesichts des Nordkorea-Konfliktes, wo es um Atomwaffen geht. Nun ist in diesem Sommer dieses weltweite Atomwaffenverbot beschlossen worden. Aber die Frage war, wen kann man dafür auszeichnen, und eigentlich kam da nur Ican in Frage. Und ja, ich habe mich total gefreut. "Diese Ächtung von Atomwaffen drohte wirklich kaputt zu gehen" Dobovisek: Wie wichtig ist das Zeichen, das Sie in dieser Vergabe des Friedensnobelpreises sehen? van Aken: Unglaublich groß! Die ganzen Atomwaffen-Fragen sind ja in den letzten zwei Jahrzehnten eigentlich komplett ins Hintertreffen geraten. Es hat sich kaum mehr jemand darum gekümmert. Alle haben sich damit abgefunden, dass es Atomwaffen-Staaten gibt, und dabei gab es weltweit eine ganz gefährliche Entwicklung, dass immer mehr Staaten das Gefühl hatten, na ja, wenn die anderen haben, kann ich ja auch. Diese Ächtung von Atomwaffen drohte, wirklich kaputt zu gehen, und da kam diese Kampagne von Ican und jetzt dieser Beschluss der UNO-Generalversammlung im Sommer genau richtig, um noch mal deutlich zu machen, die Atomwaffen sind die schlimmsten aller Waffen und die gehören verboten. Dobovisek: Sie haben den Beschluss der Vereinten Nationen angesprochen. 122 Staaten haben ihn unterschrieben, gegen Atomwaffen. Die Atommächte und alle NATO-Staaten weigern sich. Ist es denn naiv, dann noch an die atomare Abrüstung zu glauben? van Aken: Natürlich ist es immer naiv, in einer Situation, wo eigentlich es immer mehr Staaten gibt, die Atomwaffen entwickeln und haben wollen. Auf der anderen Seite: Wenn man immer nur Sachen tun würde, die realistisch sind und in zwei Jahren zu gewinnen sind, dann hat man eh schon verloren. Ich finde, das ist ein völlig richtiges Zeichen von Ican gewesen, in einer Zeit, als niemand daran geglaubt hat, darauf zu setzen, jetzt versuchen wir es noch mal mit dem Atomwaffenverbot. Es hat geklappt und ich bin mal gespannt. Dobovisek: Es hat ja nur zum Teil geklappt, weil es nur 122 Länder sind, und die entscheidenden sind nicht dabei. van Aken: Aber das kommt. Wissen Sie, das Landminenverbot hat auch mal so angefangen und bis heute sind die entscheidenden Länder, die großen Länder, Russland, China, USA, nicht mit beim Landminenverbot. Aber die Ächtung ist so stark, dass sogar die Amerikaner sich, ich glaube, zu 90 Prozent an dieses Verbot halten, obwohl sie es nie ratifiziert haben. Und ich glaube, dieses können wir jetzt auch mit den Atomwaffen erreichen. Noch zögert ja die Bundesregierung, noch weigert sie sich, sie ha nicht mal mitverhandelt. Ich bin mir aber sicher, dass wir irgendwann in den nächsten Jahren auch mal eine deutsche Bundesregierung haben werden, die das unterzeichnet, die das ratifiziert, trotz NATO-Mitgliedschaft. "Ein totales Verbot ist immer sicherer als das, was wir heute haben" Dobovisek: Egon Bahr hat einmal gesagt, es gibt nur Frieden gemeinsam und nicht gegeneinander. Jetzt könnte man auch argumentieren, Sie haben es ein bisschen anklingen lassen, dass gerade Atomwaffen es sind, die Frieden schaffen, denn wer sie besitzt, wird nicht angegriffen. Ist dieses Kalkül so falsch, Herr van Aken? van Aken: Na ja, was so richtig falsch daran ist, wenn wir uns an den Kalten Krieg erinnern, wird ja immer mehr klar, wie oft wir eigentlich in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren am nuklearen Desaster vorbeigeschrammt sind, und zwar einfach auch wegen technischer Defekte, weil plötzlich angezeigt wurde in Russland, die Amerikaner greifen an, wir schlagen zurück. Ich glaube, da haben wir mehrfach wirklich in Sekundenbruchteilen vorm Atomkrieg gestanden, und wenn es erst mal losgeht mit einem Atomkrieg, dann ist es, glaube ich, alles vorbei. Insofern ist ein totales Verbot immer sicherer als das, was wir heute haben. Dobovisek: Jetzt haben wir aber nun mal den nuklearen Patt, die gegenseitige Abschreckungsblockade. Wie kommen wir da raus? van Aken: Ja, das ist ein mühsamer Weg. Ich glaube, es fängt damit an, dass wir einen Atomwaffen-Staat brauchen, der als erstes mal aussteigt, und ich setze da eigentlich auf England. Ich glaube, in England ist das nicht so eine Frage des nationalen Stolzes wie in Frankreich. Und wenn erst mal ein Staat rausgebrochen ist, dann kann es, glaube ich, wieder mal eine Bewegung geben wie auch in den 70ern, als damals die Sowjetunion und die Amerikaner doch relativ viel atomar abgerüstet haben. Wir brauchen erst mal den ersten Kick und ich glaube, der geht jetzt vom Nobelpreis aus. Der geht auch von diesem UNO-Vertrag aus. Vielleicht schaffen wir das ja in den nächsten fünf Jahren, die Briten dazu zu bewegen, wenn sie schon aus der EU aussteigen, auch aus dem Atombomben-Programm auszusteigen. "In solchen Stellvertreterkonflikten, da wird es immer schwierig, von außen einzugreifen" Dobovisek: Sie blicken da recht weit in die Zukunft. Gemessen an dem, was wir gerade erleben auch im Korea-Konflikt, wie kann der Preis den aktuellen Konflikt beschwichtigen? van Aken: Ich glaube, jetzt direkt im Nordkorea-Konflikt wird das relativ wenig Einfluss haben. Denn in Nordkorea geht es ja leider nur zur einen Hälfte ums atomare Programm, zur anderen Hälfte ist es der Wirtschaftskonflikt zwischen China und den USA. In solchen Stellvertreterkonflikten, da wird es immer schwierig, von außen einzugreifen. Ich glaube, wir müssen hier wirklich langfristig denken. In fünf, 15, 25 Jahren hoffe ich, dass dieser Preis seine Auswirkungen haben wird. Dobovisek: Jan van Aken von der Linkspartei scheidet gerade auf eigenen Wunsch aus dem Bundestag aus. Vielen Dank für das Gespräch. van Aken: Ich danke Ihnen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jan van Aken im Gespräch mit Mario Dobovisek
Der Friedensnobelpreis 2017 geht an die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican). Er habe sich über diese Nachricht sehr gefreut, sagte der Linken-Politiker Jan van Aken im Dlf. Allerdings glaube er nicht, dass der Preis Auswirkungen auf aktuelle Konflikte wie im Fall Nordkorea haben werde.
"2017-10-06T13:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:42.518000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/friedensnobelpreis-atomwaffen-gehoeren-verboten-100.html
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Wenn die Finger schlafen
"Der Karpaltunnel ist eine Struktur, die röhrenartig ist am Übergang zwischen Unterarm und Handwurzel, und in diesem Tunnel laufen neun Sehnen, die zu den Fingern führen und ein Nerv, der nervus medianus."Zu Deutsch: der Mittelnerv, ungefähr so dick wie eine Kugelschreibermine. Dieser Nerv verläuft vom Rückenmark über den Arm bis in die Hand und steuert dort die Muskeln, mit denen Hand und Finger bewegt werden. Und der Medianus – wie sich das halt so für Nerven gehört – leitet auch Empfindungen ans Gehirn. Dass die Sensorik gestört sein kann, haben viele Menschen schon buchstäblich in den Fingerspitzen gespürt: beim Karpaltunnelsyndrom. Beschwerden vor allem in der Nacht"Die typischen Beschwerden am Anfang des Karpaltunnelsyndroms treten nachts auf, die Leute werden wach und haben das Gefühl, dass einige Finger, meistens die ersten drei Finger der Hand, eingeschlafen sind, und sie schütteln dann die Hand aus und nach einiger Zeit verschwindet das wieder, morgens ist es dann oft so, dass sie das Gefühl haben, die Finger erst in Gang bringen zu müssen, und haben dann oft tagsüber viel weniger Beschwerden als in der Nacht."Dr. Walter Raffauf, Sprecher des Berufsverbandes Berliner Nervenärzte, erläutert auch die Ursachen des Karpaltunnelsyndroms:"Der Karpaltunnel ist schon bei vielen Menschen anlagebedingt sehr eng, und wenn dann dazu eine mechanische Belastung kommt durch kräftige Arbeit mit der Hand oder eine Entzündung in dieser Region oder häufig hormonelle Veränderungen, dann kommt es zu einer Schwellung in diesem Tunnel und damit zu einem Druck auf den Nerven mit entsprechenden neurologischen Erscheinungen." Selbst dauerhafte Lähmung kann vorkommenWerden diese Ausfälle im Nervensystem der Hand nicht behandelt, können die Folgen bis zur dauerhaften Lähmung reichen. Dann kommt sogar eine Operation zu spät. Vor der aber scheuen die Betroffenen oft zurück, obwohl die Komplikationsgefahr sehr gering ist."In der Regel ist das ein ambulanter Eingriff, und in der Regel wird auch keine Vollnarkose benötigt, sondern eine Betäubung des Armes, und es ist ein Routineeingriff in der Handchirurgie, vor dem man eigentlich keine Angst haben muss." Das sagen nicht nur Chirurgen wie Dr. Matthias Schulz vom Berliner Emil von Behring-Krankenhaus, sondern auch niedergelassene Nervenärzte, die in vielen Fällen allerdings zunächst versuchen, das Karpaltunnelsyndrom ohne Operation zu behandeln. Davor aber hat der Gott der Medizin die mitunter unangenehme Diagnostik gesetzt. "Man bestätigt die Diagnose durch Messung des Nerven, indem man ihn elektrisch reizt und die Geschwindigkeit der Nervenleitung im Bereich des Karpaltunnels bestimmt und kann dadurch die Diagnose sehr sicher bestätigen." Konservative Behandlung als erster SchrittDie hier geschilderte Neurographie ist die am häufigsten eingesetzte Untersuchungsmethode. Die meisten Menschen empfinden dabei die kleinen elektrischen Schläge als etwas unangenehm, aber erträglich. Neurologe Walter Raffauf erzählt schmunzelnd, dass ausgerechnet Elektriker solche Untersuchungen schlechter vertragen als der Nerven-Normalbürger. Woher mag das kommen?"Ich weiß es nicht, die haben offenbar bei aller Routine im Umgang mit Strom auch sehr viel Respekt vor Strom, ich hatte einmal einen Patienten, der sehr stromempfindlich war, und ich habe gesagt, sie sind bestimmt Elektriker, er war es nicht, aber er war Lobbyist der Stromindustrie, insofern passte auch das."Wenn feststeht, dass es sich um ein Karpaltunnelsyndrom in einem nicht allzu fortgeschrittenen Stadium handelt, kann und sollte man – wie gesagt – zunächst eine konservative Behandlung versuchen."Die gängigste Therapieform des Karpaltunnelsyndroms ist die Lagerungsschiene für die Nacht, die dafür sorgt, dass beim Schlafen das Handgelenk gerade bleibt, die Hand nicht abknicken kann, und dadurch werden – vor allem am Anfang der Erkrankung – häufig die Beschwerden komplett gelindert und es tritt auch, wenn die Schiene regelmäßig getragen wird, eine grundsätzliche Besserung ein und führt dazu, dass die Beschwerden abklingen und man nicht operieren muss."Zusätzlich spritzt der Arzt unter Umständen sehr kleine Mengen Kortison in die Nähe des Karpaltunnels."Mit dieser Behandlung bekommt man häufig die Patienten über Wochen und Monate schmerzfrei, man sollte das nicht zu oft wiederholen, wenn nach drei, vier Injektionen kein dauerhafter Erfolg da ist, dann sollte man den Patienten doch zur Operation überweisen, aber es gibt ja viele Patienten, die sich aus rein praktischen Gründen, zum Beispiel, dass sie beruflich eingespannt sind oder dass sie Angehörige pflegen, gar nicht zur Operation bewegen lassen, und für die ist das eine gute Hilfe, einfach mal für ein paar Monate eine schmerzfreie Überbrückung zu haben." Operation soll Kanal öffnenWie sieht der chirurgische Eingriff aus, wenn er dann doch unumgänglich wird? Handchirurg Matthias Schulz:"Was man bei dieser Operation macht ist letztlich, diesen Kanal eröffnen, damit eine Druckentlastung auf den Nerven erzielt wird, der mit den Beugesehnen durch diesen Kanal läuft. Die klassische Methode ist die offene Operation, verbunden mit einem Schnitt, man hat die aber weitgehend schon so modifiziert, dass nur noch ein sehr kleiner Schnitt notwendig wird, um genau dieses Ziel auch sicher zu erreichen."Noch schonender – so mag man denken – ist die minimalinvasive Chirurgie, also die Operation über ein Endoskop. In diesem Fall aber stimmt das nicht."Das gute an der offenen Methode ist, dass man eine sichere Dekompression und auch eine sichere Nervenschonung vornehmen kann, weil man den Nerven ständig vor sich sieht. Es gibt aber auch noch die endoskopische Methode, man schneidet dort diesen Tunnel auf und sieht dabei den Nerven nicht. Und wenn es dort zu Komplikationen kommt, was dann Teilverletzungen oder sogar komplette Verletzungen des Nervens wären, dann sind das sehr, sehr ernste Komplikationen, und deswegen sind wir mit der endoskopischen Methode zurückhaltend, aber auch alle sind es inzwischen geworden nach der Euphorie in den 90er Jahren."Bei der "normalen" OP inklusive Hautschnitt also sind Komplikationen äußerst selten. Allenfalls kann die Narbe eine Zeit lang schmerzen, dies geht aber spätestens nach einigen Monaten von alleine weg. Zuverlässige Untersuchungen darüber, welche Menschen mehr gefährdet sind, an einem Karpaltunnelsyndrom zu erkranken, gibt es kaum. Man weiß nur, dass Frauen häufiger daran leiden als Männer und dass das Syndrom bei Menschen mit bestimmten Grunderkrankungen wie Diabetes, Schilddrüsenüberfunktion oder einigen Rheuma-Formen öfter vorkommt als bei anderen. Bei den meisten Karpaltunnelsyndromen aber lässt sich gar keine Ursache finden. Die oft geäußerte Vorstellung, die Erkrankung hänge mit Computerarbeit zusammen, hat sich bisher nicht bestätigt. Und so tut sich Nervenarzt Walter Raffauf auch schwer damit, Ratschläge zur Vorbeugung zu geben."Es gibt wohl bestimmte Übungen, die vor allem darin bestehen, das Handgelenk etwas zu überstrecken, die helfen sollen, verlässliche Studien darüber, was prophylaktisch wirken kann, gibt es, so weit ich weiß, nicht; aber es gibt bestimmte Vermeidungsstrategien – also sehr häufiges Zugreifen mit den Fingern, mit gebeugtem Handgelenk fördert das Karpaltunnelsyndrom – und wenn man merkt, dass bestimmte Arbeiten zum Beispiel beim Hausrenovieren, ständiges Benutzen eines Pinsels, zu Beschwerden führen, dann sollte man einfach diese Aktivität vermindern."
Von Justin Westhoff
Der Mittelnerv verläuft vom Rückenmark über den Arm bis in die Hand und steuert dort die Muskeln, mit denen Hand und Finger bewegt werden. Der sogenannte Karpaltunnel ist bei vielen Menschen anlagebedingt sehr eng. Beschwerden können vorliegen, wenn sich die Finger morgens eingeschlafen anfühlen.
"2015-06-16T10:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:42:28.785000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/karpaltunnelsyndrom-wenn-die-finger-schlafen-100.html
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Provenienz-Forschung noch immer ein heikles Thema
Im Pariser Louvre lagern rund 2.100 NS-Raubkunst-Exponate in zwei Sälen - doch kaum jemand weiß davon (imago stock&people, 81768398 ) Der Louvre ist eines der größten Museen der Welt, man kann sich endlos in den Gängen verlieren, und Kunst bestaunen. Eines aber wird man dort nicht finden: einen festangestellten Vollzeit-Provenienz-Forscher, der prüft, ob und welche Louvre-Kunstwerke aus jüdischem Besitz stammen. "Ich denke, es gibt keine grundsätzlichen Vorbehalte oder einen Widerstand gegen diese Provenienz-Forschung in den Museen, nicht mehr", erklärt David Zivie, der die Rückgabe-Mission im Kulturministerium leitet. "Aber es gibt auch keine Mittel dafür – wir versuchen, die Konservatoren weiterzubilden, und in den Museen sollte es Stellen für diese Art der Forschung geben." Noch viele Fragen offen Frankreich und die NS-Raubkunst, das ist eine lange, eine seltsame Geschichte. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 60.000 der 100.000 Kunstwerke, von denen man annahm, dass die Nazis sie geraubt und nach Deutschland oder Österreich verbracht hatten, zurück nach Frankreich geholt. 45.000 von ihnen konnten direkt an ihre früheren Besitzer beziehungsweise deren Angehörige zurückgegeben werden. Blieben 15.000. "13.000 davon", erklärt die Provenienz-Forscherin und Kunsthistorikerin Emmanuelle Polack, "sind damals vom französischen Staat verkauft worden, weil man die Besitzer nicht ausfindig machen konnte, ohne dass das archiviert wurde. Man hat dadurch Raubkunst in den Kunstmarkt gebracht – und die taucht heute gelegentlich wieder auf." Die restlichen 2.100, zum Teil sehr bedeutenden herrenlosen Kunstwerke, wurden Anfang der 50er-Jahre mit dem Vermerk "MNR" in französischen Museen untergebracht, die allermeisten im Louvre: Seit einem Jahr hat das Museum den MNR, also Werken, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Museen mit dem Auftrag übergeben wurden, die rechtmäßigen Eigentümer herauszufinden, zwei Säle gewidmet. Werbung aber macht man damit nicht. Und dann gibt es da noch eine dritte Kategorie: "Wir wissen nicht, wie viele das sind", gesteht David Zivie. "Objekte, die von den Museen während des Krieges oder danach aufgekauft wurden, die in die Kollektionen gekommen sind, ohne dass man die Herkunft geklärt hat, und die sich später manchmal als Raubkunst erweisen, und dazu haben wir bis jetzt noch gar nicht geforscht." Während des Zweiten Weltkriegs mussten viele französische Juden und Galeristen unter dem Zwang der NS-Besatzer ihre Werke verkaufen, oft deutlich unter Marktpreis. Viele Besitzer aber wurden einfach enteignet und später deportiert. Der Pariser Kunstmarkt jedoch boomte. Und die Profiteure waren allzu oft auch französische Museen und Galerien. "Die Frage der Herkunft stellte sich damals, zwischen 1940 und 44 überhaupt nicht", erklärt Emmanuelle Polack. "Dabei stand ganz oft die Herkunft bei den Gemälden dabei: zum Beispiel 'dieses Objekt ist ein israelitisches Objekt, ein jüdisches Objekt'. Das konnte man nicht ignorieren. Aber niemand fragte danach." "Die Familien interessieren sich wieder mehr" David Zivie, der die Anfragen zur Restitution auf den Tisch bekommt, spricht von aktuell insgesamt 70 offenen Dossiers, darunter sind auch viele Anfragen von Privatleuten, meistens die Enkel- oder Urenkel-Kinder der ehemaligen Besitzer. "Die Familien interessieren sich wieder mehr, die Enkel und Urenkel bringen ganz oft neue Aspekte mit, neue Fakten aus den Archiven über den Ursprung der Gemälde, also das Interesse der Familien, der Museen und des Kunstmarkts lässt nicht nach." Im Kulturministerium will man darüber hinaus verstärkt pro-aktiv tätig werden. Also auch ohne konkrete Anfragen die Kunstwerke prüfen. Viel Geld steht dafür nicht zur Verfügung, etwa 200.000 Euro pro Jahr habe er, sagt David Zivie. Im Ministerium hofft man auf das Engagement privater Stiftungen und der Museen. Es ist höchste Zeit.
Von Barbara Kostolnik
In Frankreich ist die Herkunft von rund 2.100 Raubkunstwerken bis heute ungeklärt. 2018 hatte Premierminister Macron die Restitution zur Chef-Sache erklärt. Doch Geldmangel und fehlende Experten behindern die Provenienz-Forschung. Jetzt will das Kulturministerium verstärkt pro-aktiv tätig werden.
"2019-07-30T05:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:03:58.067000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ns-raubkunst-in-frankreich-provenienz-forschung-noch-immer-100.html
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Coronakrise als Chance für lebenswerte Städte
Die Corona-Pandemie hat zu Beginn Verkehrsgewohnheiten verändert: Wenig Autoverkehr, viel Platz für Radfahrer und Radfahrerinnen (dpa/Robert Michael) Die 50-seitige Studie untersucht, was Städte und Gemeinden, die ihren Verkehr menschen- und klimafreundlich umbauen wollen, aus der Coronakrise lernen können. Zunächst zieht das Papier aber ein Zwischenfazit: Wie hat Corona eigentlich den Verkehr in unseren Städten und auch auf dem Land verändert? Corona verändert Fortbewegungsgewohnheiten Tilman Bracher vom Deutschen Institut für Urbanistik und Co-Autor der Studie sagt, die Wissenschaft sei bisher immer davon ausgegangen, dass die Fortbewegungsgewohnheiten der Menschen kaum oder nur ganz langfristig zu verändern sind. Das sei jetzt widerlegt: "Wir haben vor allem beim Fußgängerverkehr überraschend große Zuwächse gehabt. Das waren Zahlen, die wir so nicht kannten." Auch der Radverkehr sei zumindest an einigen Orten stark gewachsen. Stadtentwicklung - Wie die Corona-Pandemie unsere Städte verändert Plötzlich entstanden Pop-up-Radwege, der Autoverkehr wurde eingeschränkt und das öffentliche Leben in den Städten verlagerte sich in die Parks. Was die Corona-Pandemie für Stadtentwicklung und Architektur bedeuten könnte, zeichnet sich schon jetzt ab. Ob die Veränderungen von Dauer sind, muss sich noch zeigen. Diesen Trend gelte es aufzunehmen und zu stützen, sagt Anne Klein-Hitpaß vom Thinktank "Agora Verkehrswende": "Wir brauchen einen sicheren und schnellen Ausbau der Infrastruktur für Rad- und Fußwege. Der Fußverkehr muss viel stärker in das Bewusstsein rücken von den Menschen und den Verwaltungen, die das umsetzen. Entsprechende Mittel sind hierfür bereitzustellen." Eine gerechtere Verteilung des öffentlichen Raums sei einer der wichtigsten Pfeiler für eine Verkehrswende. Deutscher Städtetag will Autos zurückdrängen Das sieht auch der Lobbyverband der Städte und Gemeinden so. Hilmar von Lojewski vom Deutschen Städtetag will Autos zurückdrängen: "Wir werden auch zu einer Flächenneuzuordnung kommen müssen. Zumindest im städtischen Verkehr wird sich das nicht vermeiden lassen. Und damit auch zu harten Entscheidungen, die das Parken vor der Haustür im öffentlichen Raum, die das Hineinfahren in die Städte bis vors Geschäft und die motorisierte individuelle Mobilität als ein Menschenrecht wahrnehmen." Doch durch Corona steigen die Menschen wieder mehr ins Auto und fahren massiv weniger Bus, Bahn, U-Bahn, Straßenbahn. Dieser so genannte öffentliche Personennachverkehr, ÖPNV, sei im Frühjahr teilweise um über Zweidrittel geschrumpft. Dabei sollen S-Bahnen, Busse und Straßenbahnen das Rückgrat der Verkehrswende sein. Dafür müsse der ÖPNV aber ausgebaut werden, so die Studie: Mehr Strecken ins Umland, mehr Züge, mehr Personal, massive Investitionen in Digitalisierung und clevere Ticketsysteme. Änderung der Straßenverkehrsordnung notwendig Wie soll das gehen, wenn jetzt weniger Menschen fahren und damit eine wichtige Säule der Finanzierung bröckelt? Die Studie fordert mehr Steuergeld. Nur so sei der Umbau zu stemmen. In der Krise, so die Studie, hätten sich viele Kommunen aber auch erstaunlich agil und flexibel gezeigt: Improvisierte Pop-Up-Radwege in Berlin, München, Köln und anderswo; temporäre Spielstraßen und Fußgängerzonen. Mehr davon, fordert Anne Klein-Hitpaß vom Thinktank "Agora Verkehrswende": "Denn erfolgreiche Experimente sind immer auch ein Multiplikator-Effekt: Was in der einen Stadt funktioniert, möchte die andere Stadt auch haben." Städte könnten über höhere Parkgebühren und teure Bewohnerparkausweise Autos heute schon zurückdrängen, sagt Hilmar von Lojewski vom Deutschen Städtetag. Um aber wirklich den Stadtverkehr für Fahrrad und Fußgänger zu optimieren, müsse die Straßenverkehrsordnung geändert werden, die aktuell vor allem noch die reibungslose Fahrt von Autos im Blick hat: "Natürlich hat die heutige Botschaft auch den Zweck, klar zu machen: Da muss jetzt wirklich schnell etwas passieren." "Corona kann ein Kickoff, die Städte wirklich lebenswerter zu machen" Wie sich der Stadtverkehr in Zukunft entwickelt, hängt aber von vielen offenen Fragen ab: Wird das Homeoffice wirklich dauerhaft zu einem Massenarbeitsplatz? Und ziehen dann die Leute alle aufs Land und pendeln? Die wichtigste Erfahrung der Corona-Zeit sei aber, sagt Timm Fuchs vom Deutscher Städte- und Gemeindebund: Die Menschen hätten erlebt, wie leise, schön und sicher eine Stadt sein kann mit wenig Autos, viel Platz für Radfahrerinnen und Orten der Erholung: "Da sind wir erst am Anfang einer Reise, aber ich glaube, Corona kann ein Kickoff, ein Impuls dafür sein, die Städte wirklich lebenswerter zu machen."
Von Philip Banse
Die Coronakrise hat Fortbewegungsgewohnheiten schnell verändert. Das ist ein Ergebnis einer Studie, die der Deutsche Städtetag, der Städte- und Gemeindebund und der Verband deutscher Verkehrsunternehmen in Auftrag gegeben haben. Die Verbände wollen den Trend nutzen, und Autos aus den Städten zurückdrängen.
"2020-09-15T11:47:00+02:00"
"2020-09-16T09:27:29.939000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verkehrswende-coronakrise-als-chance-fuer-lebenswerte-100.html
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Bleibt die junge Generation auf der Strecke?
Finanzminister Christian Lindner (FDP), Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) und Kanzler Olaf Scholz (SPD) am 29. März 2023 im Bundestag: Nach den Beschlüssen des Koalitionsausschusses ging es vor das Parlament. (picture alliance / Flashpic / Jens Krick)
Theo Geers; Olaf in der Beek; Jan-Niclas Gesenhues; Antje von Broock
Die Ampelkoalition hat sich auf Reformen in der Klimapolitik geeinigt. Die klimapolitischen Sprecher von FDP und Grünen diskutieren mit BUND-Geschäftsführerin Antje von Broock. Sie sagt, Vertagung heute führe in Zukunft zu enormen Zumutungen.
"2023-04-03T10:08:00+02:00"
"2023-04-03T12:49:09.516000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kontrovers-ampelbeschluesse-bleibt-der-klimaschutz-auf-der-strecke-dlf-36a4bbed-100.html
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"Nicht geschafft, von innen heraus Aufklärung zu betreiben"
Will die Hoffnung auf eine "Selbstreinigung im System" nicht aufgeben: der Theologe Magnus Striet von der Universität Freiburg (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Britt Schilling) "Es muss klar sein, dass die Kirche angesicht dieser abscheulichen Taten nicht ruhen und alles Notwendige tun wird, um jeden, der so ein Verbrechen begangen hat, den Gerichten zu überstellen. Die Kirche wird niemals versuchen, einen Fall zu vertuschen oder zu verharmlosen." (Papst Franziskus bei der Weihnachtsansprache vor der Kurie) Christiane Florin: Amen. So sei es, möchte man den päpstlichen Worten anfügen, im Konjunktiv. Dass die Zeit der Vertuschung vorbei ist, ist eher eine Frage des Glaubens als der Gewissheit. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist das beherrschende Thema einer katholischen Jahresbilanz, es begleitete schon den Papstbesuch in Chile im Januar 2018, es bestimmte – wie gerade gehört – die Weihnachtsansprache an die Mitarbeiter in der Kurie. In dieser Ansprache forderte Franziskus Missbrauchs-Täter auf, sich selbst anzuzeigen. "Bekehrt euch, stellt euch der menschlichen Justiz und bereitet euch auf den göttlichen Richter vor", sagte er wörtlich. Was solche Appelle bewirken, wie in der katholischen Kirche Macht ausgeübt wird und wie das Verhältnis zu weltlichen Autoritäten ist, dazu habe ich den katholischen Fundamentaltheologen Magnus Striet interviewt. Er lehrt an der Universität Freiburg. Das Gespräch haben wir gestern aufgezeichnet. Ich habe Magnus Striet zuerst gefragt, ob er nun, nach diesen Papstworten eine Welle von Selbstanzeigen erwartet. Magnus Striet: Nein, das ist überhaupt nicht zu erwarten. Wenn tatsächlich hier ein Schuldbewusstsein vorhanden wäre, dann wäre diese Welle schon deutlich vorher spürbar gewesen. Nein, ich erwarte das überhaupt nicht. Ich glaube, das weiterhin die Presse die Instanz sein wird, die sozusagen scheibchenweise diese Skandale aufdecken wird. Florin: Wenn es darum geht konservatives Profil zu schärfen oder zu zeigen, dann werden Politiker nicht müde, Muslime zur Rechttreue zu ermahnen. Das konnte man ja beim Wettbewerb um den CDU-Vorsitz besichtigen. Müssten nicht auch katholische Geistliche von Politikern zum Rechtsgehorsam ermahnt werden? Striet: Das ist ja auch durchaus der Fall, dass hier ermahnt wird, die Frage ist, in welchem Tempo jetzt – die Verantwortungsträger sind immer noch die Bischöfe, die es tun. Es ist schon zu beobachten, dass jetzt die Kooperation mit den Staatsanwaltschaften intensiviert wird. Aber das ist auch nur auf einige Bistümer zu beziehen. Es gibt immer noch, sozusagen, Bistümer, die doch sehr verhalten agieren. "Kultivierung von systemischer Abschottung" Florin: Und wie erklären Sie sich, dass diese Bereitschaft, sich der Justiz zu stellen, sich eben auch als Priester, als Staatsbürger zu begreifen, dass diese Bereitschaft nicht von innen kam, sondern erst durch den Druck, ja durch den Druck der Medien, durch den Druck der Öffentlichkeit? Striet: Ja, es hat über viele Jahrzehnte so eine Kultivierung von systemischer Abschottung gegeben. Einerseits waren es theologische Denkfiguren, die das begünstigt haben, man hat das Amt hoch sakralisiert, sodass tatsächlich hier eine sozusagen Institution in der Gesellschaft aufgebaut wurde, die der Gesellschaft gegenüberstand. Und sozusagen diese Schutzmechanismen des Systems ja nicht von sozusagen Einblicken von außen zu gewähren, die sind bis heute zu spüren. Anders kann ich mir das letztlich nicht erklären, also, es geht am Ende um den Schutz des sakramentalen – oder ich bin da vorsichtig – des sakramentalisierten Amtes. "Missbrauch des Missbrauchs" Florin: Ist es damit in der Theologie vorbei? Also, wie ist die Mehrheitsmeinung im Puncto Amt? Striet: Man kann deutlich beobachten, dass die Amtsfrage jetzt nach vorne geschoben wird, nachdem genau an diesem Punkt eine jahre-, jahrzehntelange Stagnation zu verzeichnen war. Es gibt auch inzwischen Gegenreaktionen, wo vom Missbrauch des Missbrauchs gesprochen wird und da wird dann offensichtlich deutlich gespürt, dass jetzt, sozusagen, sehr grundsätzlich Theologie getrieben werden muss, um Missbrauch künftig zu verhindern. Florin: Ist denn die Theologie darauf vorbereitet, auf eine Debatte dieser Art? Striet: Ja, ich meine, dass die Theologie seit vielen Jahren da auch vorbereitet ist. Das große Problem ist, dass man theologische Einsichten auf der Lehramtsebene nicht rezipiert hat und an dieser Stelle tut man sich bis heute sowohl in den entsprechenden Institutionen im Vatikan, aber auch auf örtlicher Bischofsebene sehr schwer. Florin: Welche Empfehlungen – ganz konkreter Art – kommen denn von der Theologie? Was muss sich am Amt verändern? Striet: Ja, das Amt muss nüchtern betrachtet werden. Das heißt, um es deutlich zu sagen, wir müssen darüber nachdenken, ob tatsächlich dieses Gegenüber des Amtes zur Welt noch eine Denkmöglichkeit für die Zukunft ist. Wir wissen, wie sich das historisch aufgebaut hat, wie aus dem 19. Jahrhundert heraus die Impulse kamen, das waren alles Impulse, die die Gegenmoderne inszenierten und an dieser Stelle muss gearbeitet werden. Aber das stellt natürlich dann das Selbstverständnis von Priestern, von Klerikern radikal in Frage. Aufbau der Gegenmoderne Florin: Gegenwelt, was heißt das? Striet: Ja, nach der Französischen Revolution hatte ja die katholische Kirche ihre eigentliche Identität verloren. Die politischen Säkularisierungsprozesse liefen und es war, es ist sozusagen im Nachhinein deutlich zu rekonstruieren, wie man jetzt tatsächlich eine Gegenwelt gegen alles aufbaute, was mit Moderne identifizierbar war. Man verurteilte schließlich die Menschenrechte, die Rechte auf Gewissens- und Religionsfreiheit und so weiter und so fort. Und, sozusagen, es gehörte zu dieser Gegenwelt, dass man auch in ein entsprechendes Amtsverständnis etablierte, sodass der Priester, der Kleriker ein striktes Gegenüber zur Welt, zur Gesellschaft darstellte. Florin: Aber trotzdem ist doch ein Priester ein Bürger dieses Staates. Und wenn wir jetzt mal Deutschland nehmen, er muss sich an die deutschen Gesetze halten, warum ist das nicht angekommen? Striet: Das dürfen Sie mich nicht fragen. Offensichtlich ist es systemisch bedingt gewesen, dass man Priester anders oder Priesteramtskandidaten anders erzogen hat, dass sie sich als dieses Gegenüber verstanden haben. Dass das Ganze absurd ist und vor allem auch gefährlich war, zeigt sich jetzt angesichts der Aufdeckung der Missbrauchsskandale. Florin: Auch der Papst bleibt im Appellativen. Es gibt ja Forderungen, zum Beispiel von Klaus Mertes, dem Jesuitenpater, es müsse eine Gewaltenteilung geben, es müsse eine Gerichtsbarkeit geben, der auch der Papst – also eine innerkirchliche Gerichtsbarkeit – der auch der Papst unterworfen ist. Warum keine Gewaltenteilung? Warum wieder nur ein Appell? Striet: Ja, das hängt mit dem starken hierarchischen Amtsverständnis und Kirchenverständnis überhaupt zusammen. Also, wenn man erst einmal Kirche so strukturiert denkt, wie das über viele Jahrzehnte jetzt der Fall gewesen ist, also, vor allem seit dem ersten vatikanischen Konzil – also Ende des 19. Jahrhunderts –, dann hat man große Schwierigkeiten damit, sich aus diesem Verständnis zu verabschieden. Aber in der Tat, Klaus Mertes ist zuzustimmen, man wird zu Prinzipien von Gewaltenteilung übergehen müssen, aber das bedeutet eben, dass die katholische Kirche endlich in der Moderne ankommen muss. "Katholische Schizophrenie" Florin: Andererseits haben Sie vorhin gesagt, wenn der Papst aufruft, Leute stellt euch, dann ist überhaupt nicht damit gesagt, dass die Priester, die Kleriker, das auch tun. Also, so wahnsinnig autoritär oder, ja, so wahnsinnig ausgeprägt scheint ja dieses System von Befehl und Gehorsam im Puncto Papst nicht zu sein. Wenn er ein Schreiben zur Ehe verfasst und sagt, ihr könnt auch wiederverheiratet Geschiedene zur Kommunion zulassen, dann gibt es ja einige Bischöfe, die dann auch laut daran zweifeln. Also, der Papst befiehlt, alle gehorchen, das scheint doch nicht mehr so zu sein. Striet: Ja, ich nenne das inzwischen katholische Schizophrenie. Solange es für bestimmte Milieus, Personen, günstig ist, sich auf den Papst zu berufen, tun sie es. Stimmen sie nicht mit ihm überein, tun sie es nicht. Das bedeutet aber am Ende nichts anderes, als dass die katholische Kirche längst in der Moderne angekommen ist, die auf eigene Meinung, eigene Positionen, Autonomie und so weiter setzt, aber das bedeutet eben für das System Kirche, dass man das dann auch systemisch umsetzen muss. Und an der Stelle müssen Prinzipien von Gewaltenteilung eingeführt werden. Hans Zollner, der päpstliche Kinderschutzpräventionsbeauftragte, hat immer gesagt, wenn wir durchgreifen könnten, auf der Ebene der Bischofskonferenzen, würden wir es tun. Aber faktisch ist, Fakt ist, dass das nicht im Moment machbar ist. Aber da sind, da stehen Lernprozesse an, die vermutlich, ja, die vermutlich sozusagen so verzögert worden sind, dass tatsächlich, ja, dass auch weiterhin es sehr, sehr schwierig sein wird. Florin: Wie stark ist dieser Papst? Striet: Das ist schwer zu sagen, wie stark dieser Papst tatsächlich ist. Das wird sich erst nach seinem Rücktritt bzw. nach Ende seiner Amtsdauer zeigen. Der Verdacht steht im Raum, dass er große Schwierigkeiten hat, sich tatsächlich gegenüber Bischofskonferenzen, aber auch gegenüber den Kurialen im Vatikan zu behaupten. Florin: An Weihnachten hat es an Predigten von Bischöfen nicht gemangelt, die zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung bezogen haben – Zusammenhalt angemahnt haben. Warum glauben katholische Bischöfe eigentlich, sie könnten in der Öffentlichkeit noch als moralische Autorität auftreten? Striet: Ja, ich habe das auch beobachtet, ich bin aber alles andere als sicher, ob das in der Öffentlichkeit überhaupt noch gehört wird. Die Resonanzen waren ja auch eher spärlich. Ich kann mir das nicht anders erklären, als dadurch, dass das Amt tatsächlich – Männer in diesem Fall – so prägt, dass sie tatsächlich der Ansicht sind, dass das gehört würde. Aber nach sozusagen diesem Skandal jetzt 2018 wird man damit rechnen müssen, dass das Gehör von Bischöfen deutlich abgenommen hat. "Wird sich weiter auseinander entwickeln" Florin: Kann es nicht auch sein, dass diese Autorität darauf basiert, dass Politik und Kirchen immer noch recht eng zusammenhalten? Vielleicht auch aus dem Gedanken heraus, dass weder Politik noch Kirchen möchten, dass alle Institutionen, ja, auseinanderbrechen, erodieren, dass man sich sozusagen aneinander klammert? Striet: Ja, das ist sicherlich der Fall, aber die Frage ist, ob das, sozusagen, in der Realität so noch funktioniert. Denn klar ist, nach diesem Jahr, dass Bischöfe doch zunächst einmal mit einer Institution identifiziert werden, die es nicht geschafft hat, von innen heraus, Aufklärung zu betreiben. Und von daher bin ich sehr skeptisch, wie stark eigentlich die moralische Autorität der Kirchen noch ist. Mein Verdacht ist, dass sich das in den nächsten Jahren, Jahrzehnten weiter auseinander entwickeln wird. Klar ist, dass diese Gesellschaft Zerreißproben durchmacht, dass sie nicht so recht weiß, auf welchem Fundament sie beruht, aber ich bin da etwas skeptisch, ob die Kirchen, die Institutionen sind, die an der Stelle tatsächlich für den gesellschaftlichen Zusammenhang sorgen können. "Die nächsten Konflikte werden ausbrechen" Florin: Ein Fall, in dem der Vatikan seine Autorität unter Beweis gestellt hat, verbindet sich mit dem Namen Ansgar Wucherpfennig, er war – und ist auch jetzt wieder – Rektor der Jesuitenhochschule in St. Georgen. Er bekam zunächst mal nicht das "Nihil Obstat", also, die Unbedenklichkeitsbescheinigung. Dann bekam er sie aber doch mit der Auflage, das Lehramt treu auszulegen. Ist jetzt alles wieder gut? Striet: Nein. Es ist nicht alles wieder gut, weil Ansgar Wucherpfennig schlicht und einfach Einsichten wissenschaftlicher Theologie rezitiert hat und sie auch in die Öffentlichkeit hinein kommuniziert hat. Alles wieder gut ist es dann, wenn diese Einsichten tatsächlich auf der Ebene der Lehre anerkannt werden und insofern muss weiter gearbeitet werden. Und ich bin mir auch relativ sicher, dass die nächsten Konflikte ausbrechen werden. Das ist genau das vorhin bereits, sozusagen, angedeutete Problem, wir verzeichnen eine Nichtrezeption von wissenschaftlicher Theologie auf der Ebene des Lehramtes und solange das nicht der Fall ist, werden die Konflikte auch wieder ausbrechen. Florin: Aber, diese Nichtrezeption, die wird schon seit 20, 30, 40 Jahren beklagt und daran hat sich überhaupt nichts geändert. Kann das nicht auch an den Theologinnen und Theologen liegen? Striet: Da bin ich sehr skeptisch. Man muss sehen, dass Theologinnen und Theologen in den letzten Jahrzehnten immer wieder sanktioniert worden sind und in der Tat ist es so, dass dadurch eine gewisse, sozusagen, Resonanzlosigkeit in der Öffentlichkeit, aber auch in den Kirchen entstanden ist. Aber, dass die wissenschaftliche Theologie heute nicht mehr das Niveau habe, wie in den 60er, 70er Jahren, kann ich überhaupt nicht erkennen. Mir scheint das, wie gesagt, ich kann mich da nur wiederholen, mir scheint das viel größere Problem zu sein, dass diese nicht rezipiert wird. Ermüdungen zwischen Konflikttheologie und Lehramt Florin: Ihr Kollege aus Köln, Joachim Höhn, wollte eine Art katholisches Me-Too anstoßen, in dem Sinne, dass sich Theologinnen und Theologen melden, die von Rom eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden. Also, entweder vom Vatikan unter Druck gesetzt oder von Bischöfen. Nach meiner Wahrnehmung ist das versandet. Das lässt doch darauf schließen, dass das Problem gar nicht so groß sein kann mit diesem autoritären Lehramt. Striet: Das weiß ich nicht. Also, mich erstaunt es auch immer wieder, dass sich Theologinnen und Theologen nicht offensiv melden, wir konnten das verzeichnen nach dem Theologen-Memorandum im Jahre 2011, das ja auch bereits ausgelöst wurde durch die Aufdeckung von Missbrauchsskandalen. Da bin ich mir nicht so sicher, es gibt sicherlich eine Gruppe von Theologinnen und Theologen, die in der inneren Emigration leben, die sich Themenfeldern zugewandt haben, die weder kirchlich noch gesellschaftlich allzu große Bedeutung haben, aber es gibt die anderen, die durchaus in den letzten Jahren sich immer gemeldet haben. Warum diejenigen sich nicht melden, die sanktioniert worden sind, das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber mich verwundert es sehr, ja. Florin: Aber was ist aus der Solidarität mit Ansgar Wucherpfennig geworden, nachdem er das Nihil Obstat wieder hatte, war es doch still – als gäbe es gar kein Problem mehr. Striet: Das dürfen Sie mich nicht fragen, weil, sozusagen, ich für mich kann nur beanspruchen, dass ich mich stetig geäußert habe in den letzten Jahren, auch während des Pontifikates von Benedikt XVI. – das in der deutschsprachigen, für die deutschsprachige Theologie sehr, sehr schwierig war – ich habe eher den Eindruck, dass es eine gewisse Resignation gibt. Wie häufig sollen Erkenntnisse nochmals wiederholt werden, sodass sich das Problem dann tatsächlich wieder auf die Ebene der Nichtrezeption durch das Lehramt verschiebt. Florin: Bei prominenten Theologinnen und Theologen, denen die Lehrerlaubnis entzogen wurde, bei Hans Koenen, bei Uta Ranke-Heinemann, bei Eugen Drewermann, da gab es eine breite gesellschaftliche Resonanz, die saßen ja dann auch in vielen Talkshows, in allen Medien stand darüber etwas zu lesen, wurde berichtet. Heute ist das anders. Heute ist das eher ein Nischenthema. Liegt das an der Theologen- / Theologinnen-Zunft oder am Bedeutungsverlust der Kirche? Striet: Das liegt an Letzterem. Wenn nicht zuvor die MHG-Studie, also die Missbrauchsstudie publiziert worden wäre, wäre die Causa Wucherpfennig vermutlich gar nicht so in die Öffentlichkeit hineingedrungen, sondern vermutlich wäre diese Causa abgehakt worden. Insgesamt scheint es schon so zu sein, dass das Thema, sozusagen Konflikttheologie und Lehramt so zu solchen Ermüdungen geführt hat, dass es kaum noch wahrgenommen wird. Das liegt, also, tatsächlich dann am Ende am Bedeutungsverlust der Kirchen, ja. Kritische Texte würden "im kirchlichen Milieu kaum zur Kenntnis genommen" Florin: Aber im Zusammenhang mit der MHG-Studie, mit der Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche wurde danach sehr oft der Klerikalismus kritisiert, es wurde von Machtmissbrauch gesprochen. Wenn man dann aber etwas gesucht hat von Seiten der Theologie zum Thema Macht und Kirche, da muss ich ehrlich sagen, da wurde man nicht besonders fündig, sondern da muss man ja eher zu Foucault gehen oder zu politikwissenschaftlichen Studien, zu institutionskundlichen Studien, aber man findet in der Theologie nichts. Also, warum ich nehme das jetzt mal als Beispiel für ein relevantes Thema, das meiner Ansicht nach nicht beackert wird oder wurde. Striet: Ja, da würde ich Ihnen widersprechen. Also, wenn man zum Beispiel die Studien sich von Hans-Joachim Sander in Salzburg anschaut, die Foucault-Rezeption ist lange, lange im Gang und natürlich ist, sind sozusagen diese Theoriemodelle auch angewandt worden bezogen auf die Frage, was passiert eigentlich im System katholische Kirche. Aber das sind Studien, die liegen, die sind inzwischen zehn, 15 Jahre alt und sie werden dann nicht immer wieder wiederholt, also wiederholt. Und das bedeutet am Ende, dass sie tatsächlich in den Bibliotheken ihr Dasein fristen, ohne rezipiert zu werden. Grundsätzlich kann ich das nicht sehen. Also, wenn ich das mir zum Beispiel anschaue, mit welcher Wucht unsere Reihe "Katholizismus im Umbruch", die ich zusammen mit dem Kollegen Görz aus Mainz herausgebe, eingeschlagen hat, dann wird das schon bearbeitet. Aber ich kann mich an dieser Stelle nur wiederholen, sozusagen im kirchlichen Milieu werden diese Texte kaum noch zur Kenntnis genommen. Auf der Ebene des klerikalen Leitungssystems ohnehin nicht. Und das bedeutet wiederum, dass das alles irgendwo dann versandet – das ist leider die traurige Wahrheit. Gefährliche Bücher? Florin: Nun hat ein Bischof – der Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer – Eugen Drewermann als Propheten bezeichnet. Er meint damit auch dessen Buch über Klerikalismus, das nun schon einige Jahrzehnte alt ist. Was nützen solche späten Rehabilitierungen? Macht das Theologinnen und Theologen Mut? Striet: Ob das Mut macht, wage ich nicht zu beurteilen. Es macht zunächst einmal traurig, denn es ist ganz klar, wenn das Buch "Kleriker" von Eugen Drewermann damals intensiv gelesen worden wäre und zwar von Verantwortungsträgern, dann wäre Missbrauch teilweise verhindert worden. Das wird man klar als systemische Schuld auch beschreiben müssen und dafür tragen Einzelne Verantwortung. Eugen Drewermann ist damals massivst bekämpft worden durch Bischöfe, durch Verantwortungsträger, weil er tiefe, tiefe Einblicke in das Ausbildungssystem von Priestern gegeben hat. Florin: Ja, gelesen worden ist das Buch, es ist nur für gefährlich befunden worden. Also, wird nicht immer das Lehramt am längeren Hebel sitzen, weil es theologische Arbeiten nicht nach dem Kriterium intellektuell redlich oder intellektuell anregend bewertet, sondern gefährdet das ein bestehendes, hierarchisches System oder stabilisiert es das? Striet: Zunächst einmal gefährdet es das, aber da Theologen wie Eugen Drewermann sofort systemisch absorbiert werden, stabilisiert es natürlich am Ende auch wieder. Aber die Theologie hat keine andere Möglichkeit als immer und immer wieder den Finger in die Wunde zu legen in der Hoffnung, dass tatsächlich eine Selbstaufklärung, den Begriff benutze ich nicht so gerne, aber benutze ihn dann jetzt dann doch mal, eine Selbstreinigung im System stattfindet. Die Theologie hat keine andere Möglichkeit als diese fortwährende Aufklärungspraxis zu betreiben. Florin: Herr Striet, vielen Dank! Striet: Ich danke Ihnen, Frau Florin. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Magnus Striet im Gespräch mit Christiane Florin
Es räche sich, dass Bischöfe und Päpste Erkenntnisse der Theologie ausschlügen, sagte der Freiburger Theologe Magnus Striet im Dlf. Wäre das Buch "Kleriker" von Eugen Drewermann damals intensiv gelesen worden - "und zwar von Verantwortungsträgern", hätte der Missbrauch teilweise verhindert werden können.
"2018-12-28T09:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:27:25.846000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katholische-kirche-in-deutschland-nicht-geschafft-von-innen-100.html
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UNO plant größere Friedenstruppe
Regierungssoldaten im Südsudan rücken auf die Stadt Bor vor. (dpa picture alliance / Phillip Dhil) Die Aufstockung der Truppen solle rasch geschehen, sagte der Präsident des Sicherheitsrates, Frankreichs UN-Botschafter Gérard Araud: "Aber wir müssen uns klar sein, dass noch viele Fragen zu klären sind. Das braucht Zeit." UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte, die Einheiten ließen sich aber nicht von heute auf morgen verstärken. Der Sicherheitsrat verurteilte in seiner Resolution außerdem die Kämpfe und die Gewalt gegen Zivilisten sowie Vertreter verschiedener Volksgruppen. Gefordert wird ein sofortiges Ende der Feindseligkeiten. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier begrüßte den Beschluss des Sicherheitsrates. Es müsse verhindert werden, dass aus den Kämpfen ein ethnisch motivierter Bürgerkrieg werde, der das ganze Land erfasse, sagte Steinmeier nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Berlin. Generalsekretär Ban Ki Moon hatte die 15 Ratsmitglieder in einer Sondersitzung am Montagabend um Verstärkung gebeten. In einem Brief schrieb er, die Truppen sollten aus den UNO-Missionen im Kongo, in Darfur, Abyei, der Elfenbeinküste und Liberia abgezogen werden und zur Südsudan-Friedensmission stoßen. Auch mehrere hundert zusätzliche Polizisten sollen eingesetzt werden. Noch ist unklar, aus welchem Land die zusätzlichen Soldaten kommen könnten. Momentan sind vor allem indische Bataillone im Einsatz. Die UNO handelt richtig, wenn sie ihre Truppen im Südsudan aufstockt, sagt Annette Weber, Leiterin der Forschungsgruppe Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Deutschlandfunk. Allerdings würden auch 12.000 Blauhelme wahrscheinlich nicht ausreichen, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Situation weiter kritisch Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als 80.000 Menschen im Südsudan auf der Flucht. Rund 45.000 halten sich in UNO-Einrichtungen auf. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton rief die Konfliktparteien zu einem Waffenstillstand auf. In Brüssel erklärte sie, die Europäische Union sei bereit, einen politischen Dialog zu unterstützen. Hintergrund der vor rund einer Woche ausgebrochenen Unruhen ist ein Machtkampf von Präsident Salva Kiir mit seinem im Juli entlassenen Stellvertreter Riek Machar. Beide gehören verfeindeten Volksgruppen an. Nach UNO-Schätzungen sind seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen vor einer Woche mehr als tausend Menschen getötet worden. Inzwischen hat sich Machar bereiterklärt, mit Präsident Kiir in Verhandlungen zu treten. Seine Bereitschaft zu Gesprächen habe er auch gegenüber US-Außenminister Kerry geäußert, sagte Machar einem französischen Radiosender. Zugleich forderte er freie und faire Wahlen sowie den Rücktritt von Kiir. Die Armee bereitet eine Offensive auf die Stadt Bor vor, die am Mittwoch von den Rebellen erobert wurde. Die USA haben angesichts der Kämpfe Hunderte Ausländer in Sicherheit gebracht. Massengräber im Südsudan entdeckt Offenbar sind Dutzende Opfer der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Massengräbern verscharrt worden. Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, sagte in Genf, ihre Organisation habe ein Massengrab in der Stadt Bentiu im Bundesstaat Unity entdeckt. Außerdem gebe es Berichte über mindestens zwei weitere Massengräber in Juba. Der UNO zufolge wurden bisher mehr als 70 Tote gezählt. Bei den Opfern soll es sich um Mitglieder der Dinka-Ethnie handeln, die mehrheitlich die Regierung von Präsident Kiir unterstützt.
null
Wegen der Unruhen mit Hunderten Toten wollen die Vereinten Nationen mehr Friedenssoldaten in den Südsudan schicken. Der Sicherheitsrat beschloss einstimmig, die Zahl der Soldaten von derzeit 7.000 auf 12.500 aufzustocken.
"2013-12-25T05:34:00+01:00"
"2020-02-01T16:52:57.872000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suedsudan-uno-plant-groessere-friedenstruppe-102.html
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Sachsens Kultusminister tritt zurück
Dass sich Kultus- und Finanzminister wegen der Finanzierung neuer Lehrerstellen streiten, war kein Geheimnis, spätestens, seitdem Roland Wöller in der vergangenen Woche überraschend in einer CDU-Fraktionssitzung erklärt hatte, dass er das Geld für das vor drei Monaten gemeinsam geschnürte Bildungspaket nicht aus seinem Haushalt aufbringen könne. Damals hatte er den Plan noch gelobt, bis 2015 mit etwa 250 Millionen Euro neue Lehrer einzustellen. Die Hälfte des Geldes sollte ursprünglich aus seinem Ministerium kommen. Ministerpräsident Stanislaw Tillich reagierte sauer auf den rebellischen Ausbruch und stellte sich offen hinter seinen Finanzminister. Er entzog Wöller gestern das Sportressort, schickte dessen fachkompetenten Staatssekretär in den vorzeitigen Ruhestand und versetzte den für Personalfragen zuständigen Abteilungsleiter. Derart gerupft blieb dem 41-Jährigen nur noch der Rücktritt. Wöller wirft Tillich die einseitige Aufkündigung des Bildungspaketes vor. "Wir sollten einen Sparbeitrag bringen von etwa 100 Millionen Euro im Zeitraum bis 2015. Dazu werden auch die freiwilligen Bereiche herangezogen werden wie beispielsweise Schulausbau oder andere Bereiche. Das ist uns untersagt worden. Das war nicht die Vereinbarung im Bildungspaket. Deswegen ist das Bildungspaket aufgeschnürt worden. Wir sind dann verpflichtet worden, im Bereich der Lehrerstellen zu kürzen. Das lehne ich ab. Eine solche Politik ist keine zukunftsgerichtete Politik für den Bildungsstandort Sachsen. Und deswegen habe ich die Konsequenzen gezogen." Der Schritt wird selbst von seinen Kritikern mit Respekt gewürdigt. Allerdings hätte er viel früher die tatsächlichen Zustände an den sächsischen Schulen zur Kenntnis nehmen müssen, sagt Linken-Fraktionschef André Hahn:"Es ist seit Jahren bekannt, dass Unterricht ausfällt, seit Jahren bekannt, wie viele Lehrer in den Ruhestand gehen. Er hat die Probleme immer wieder geleugnet und nichts unternommen. Und es war auch nicht erkennbar, dass er sich deutlich bemüht hat um mehr finanzielle Ausstattung für sein Ministerium." Aber Hahn räumt ein, dass es nicht leicht ist, sich gegen einen - wie er sagt - beratungsresistenten Finanzminister durchzusetzen:"Das Geld ist ja da. Es gab Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro mehr als ursprünglich geplant. Daraus könnte man einen Teil für die Bildung einsetzen, wenn man es denn politisch will. Aber offenbar trägt der Ministerpräsident diesen Kurs mit. Sparen um jeden Preis. Und damit spart man Sachsen kaputt und bei der Bildung ist das ganz besonders schlimm." Bis 2015 werden 4050 Lehrer in den Ruhestand gehen und nach bisherigen Plänen nur 2200 neu eingestellt. Bis 2020 verlassen dann noch mal knapp 4000 Lehrer aus Altergründen den Schuldienst. Schon jetzt ist Unterrichtsausfall an der Tagesordnung. Wegen der katastrophalen Zustände hat der Landesschülerrat kommende Woche zu Protestaktionen aufgerufen. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bereitet sich auf einen heißen Sommer vor, wenn sich nicht schnell etwas tut. Bisher aber habe sich die Staatsregierung einer langfristigen Personalplanung verweigert, stellt GEW-Landesvorsitzende Sabine Gerold fest:"Insofern ist der Kollaps eigentlich schon fast eingetreten. Es muss ganz schnell dafür gesorgt werden, dass der Einstellungsstopp aufgehoben wird. Dass die jungen Leute, die in den letzten Jahren mit viel Hoffnung hier ausgebildet wurden, die jetzt auch im Vorbereitungsdienst in größerer Zahl aufgenommen wurden, dass die auch eingestellt werden in den Schuldienst und dass in den nächsten Jahren auch mehr Lehrer vorübergehend eingestellt werden als rein rechnerisch vielleicht gebraucht werden, weil sie dann sozusagen der Nachwuchs sind für die große Welle der Lehrer, die in Rente gehen ab 2015." Bislang wird der Mangel noch von den verantwortungsvollen Lehrern verwaltet. Aber mit dem PISA-Vorzeigeland Sachsen könnte es ganz schnell vorbei sein. Gerold:"Wir machen uns natürlich Sorgen, dass in einer so schwierigen Situation - die Haushaltsverhandlungen laufen, das Schuljahr muss vorbereitet werden - praktisch das gesamte Kultusministerium auseinandergesprengt wird. Wir haben große Sorge, was in den nächsten Wochen im Schulbereich passieren wird."
Von Claudia Altmann
Wegen geplanter Kürzungen im Lehrerbereich hat Sachsens Kultusminister Roland Wöller sein Amt niedergelegt. Gut 100 Millionen Euro hätte das Ministerium einsparen sollen, mehr als Wöller für verantwortlich hält.
"2012-03-21T14:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:40:43.770000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sachsens-kultusminister-tritt-zurueck-100.html
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"Facebook trägt eine Mitverantwortung"
Facebook-App auf einem Mobiltelefon (dpa / Rolf vennenbernd) Tobias Armbrüster: Facebook hat seit dem Wochenende ein riesen Problem. Es sind schwere Vorwürfe, die da im Raum stehen und die das größte soziale Netzwerk schwer belasten. Der Konzern soll in den USA vertrauliche Daten seiner Nutzer weitergeleitet haben. Am Telefon ist jetzt Peter Schaar, der Vorsitzende der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz. Er war außerdem bis zum Jahr 2013 zehn Jahre lang der Bundesdatenschutzbeauftragte. Schönen guten Morgen, Herr Schaar. Peter Schaar: Hallo, Herr Armbrüster. Rechtliche Schuld wird zu untersuchen sein Armbrüster: Herr Schaar, bei dieser Geschichte geht es ja um mehrere Kontroversen in einer einzigen Erzählung. Fangen wir mal an bei Facebook, das ja im Mittelpunkt dieser ganzen Schuldzuweisungen steht. Trifft diesen Tech-Giganten tatsächlich hier eine Schuld? Schaar: Ob im rechtlichen Sinne Facebook hier eine Schuld trifft, das wird noch zu untersuchen sein. Darum müssen sich die Datenschutzbehörden in Europa und in den USA kümmern. Entsprechende Ankündigungen gibt es ja bereits. Aber eines ist klar: Ohne dieses Geschäftsmodell von Facebook hätte es dieses riesige Datenloch nicht gegeben, durch das dann unvorstellbar viele Daten offensichtlich abgesaugt worden sind. Bis zu 50 Millionen Facebook-User sollen betroffen sein. Insofern muss man einfach sagen: Facebook hat hier auf jeden Fall eine Mitverantwortung. Peter Schaar - "Rechtliche Schuld von Facebook noch zu untersuchen" (dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm) Armbrüster: Das müssen Sie uns ein bisschen genauer erklären. Woran liegt das, dass diese Daten bei Facebook abfließen konnten oder abgezweigt werden konnten? Schaar: Facebook basiert ja darauf, dass man sehr viel über die Nutzer weiß und dass man diese Kenntnisse dann anderen zugänglich macht, und das bedeutet, dass die dann ihre Werbung zielgenau platzieren können. Dafür müssen diese Werbetreibenden viel Geld bezahlen. Das ist das Geschäftsmodell von Facebook, davon leben die ganz wesentlich. Verknüpfung mit Daten aus anderen Quellen Armbrüster: Und das wissen auch die Nutzer, dass das so funktioniert? Schaar: Das wissen im Grundsatz auch die Nutzer. Aber was das jetzt ganz konkret bedeutet und wie dann die Daten auch weiterverwendet werden, darüber gibt dieser Vorfall jetzt schlaglichtartig einen doch erschreckenden Einblick, dass hier diese Informationen offensichtlich dann nicht nur für die Werbung innerhalb Facebooks benutzt wird, sondern dass die Daten offensichtlich verknüpft worden sind mit Daten, die aus anderen Quellen stammen. Und das ist bei Facebook ziemlich einfach, weil man bei Facebook ja die sogenannte Realnamenspflicht kennt. Da werden dann Daten über den Facebook-Nutzer mit Daten, die man irgendwo erworben hat, zum Beispiel bei Kreditauskunfteien oder bei Direktmarketing-Unternehmen, verknüpft oder auch mit Daten aus Wählerverzeichnissen, wie es sie in den USA gibt, die dann auch Auskunft über eine Parteipräferenz geben. Armbrüster: Dann müssen Sie uns jetzt nur noch kurz erklären: Wie kann man mit solchen Datensätzen dann Wahlen manipulieren? So lautet ja der Vorwurf. Schaar: Na ja. Das Interessante ist, dass diese Facebook-Profile ja zum einen, sage ich mal, biographische Informationen enthalten: Wo ist diese Person angemeldet? Wo hält sie sich auf gegebenenfalls? Wie alt ist sie? Welches Geschlecht hat sie? Und darüber hinaus auch eine Vielzahl von anderen Informationen, zum Beispiel Likes auch. Ganz wichtig sind auch die Freunde, die man hat, die Facebook-Freunde. Das sind im Durchschnitt 190 zurzeit. Daraus ergibt sich dann schon so etwas wie ein Persönlichkeitsprofil. In diesem Fall ist es nun noch mal besonders perfide gelaufen. Cambridge-Analytiker oder dieser Professor, der dort genannt wurde, hatte eine App bereitgestellt, also ein kleines Programm, das man nutzen konnte in Facebook, das versprach, einen Persönlichkeitstest vorzunehmen. Einem solchen Programm, das einem widerspiegelt, wo sind die eigenen Stärken, wo sind die eigenen Schwächen, dem erlaubt man natürlich auch relativ viele Zugriffe, und zwar nicht nur auf die eigenen Daten, sondern auch auf die Daten der Facebook-Freunde. Genau das ist offensichtlich geschehen und insofern haben dann nicht nur die Profile der 270.000 Personen, die diese App selbst heruntergeladen haben, den Weg zu Cambridge-Analytikern gefunden, sondern darüber hinaus auch entsprechend viele Profile von den Freunden, und hochgerechnet ergibt sich dann diese horrende Summe von 50 Millionen Menschen. Eine ganze Wahlkampagne darauf einstellen Armbrüster: Kann man mit solchen Daten tatsächlich Wahlen beeinflussen? Schaar: Na ja. Man weiß, wie die Leute im Großen und Ganzen ticken. Man weiß im Großen und Ganzen über ihre wirtschaftliche Situation, über die Sorgen, über ihre politischen Präferenzen, über ihre religiösen Ansichten, und jetzt kann man natürlich nicht nur die Facebook-Werbung, sondern die ganze Wahlkampagne darauf einstellen, dass man diese Personen, die offensichtlich schwankend sind – das ist ja nur eine Teilgruppe, die dann ganz besonders interessant ist, die man vielleicht umstimmen kann, die man zur Wahlurne dann bringen kann -, die kann man mit bestimmten Botschaften bombardieren auf den verschiedenen Kanälen. Das geht dann bis zu Hausbesuchen. Das ist dann nicht nur in der virtuellen Welt, sondern da werden diese Namen dann entsprechend auch verwendet, um in der realen Welt Wahlkampf zu machen. Das ist das Modell, wie solche Wahlkämpfe geführt werden, und das ist im Grunde genommen auch das große Problem, dass man als Betroffener gar nicht mitbekommt, wie man da manipuliert wird. Armbrüster: Herr Schaar, man muss allerdings auch sagen, die Facebook-Nutzer wissen, dass ihre Daten von Facebook auch für andere Zwecke gebraucht werden. Muss uns diese Geschichte jetzt wirklich überraschen? Schaar: Überraschen wird sie die Fachleute natürlich nicht. Aber die Betroffenen sollten sich mal etwas stärker auch Gedanken machen, wie sie mit diesen sozialen Netzwerken umgehen, wie sie mit ihren Privatsphäre-Einstellungen auch umgehen. Hier verweist Facebook ja immer wieder darauf, dass ja die Betroffenen selber es in der Hand hätten, das Ganze sehr viel restriktiver zu handhaben, diese Privatsphären-Einstellungen sehr viel strikter auch zu machen. Aber auf der anderen Seite ist es ja gerade das Interesse von Facebook, dass man das nicht so sehr einschränkt, und insofern werden die Voreinstellungen natürlich von den meisten Leuten auch gar nicht verändert, weil man nicht so genau weiß, welche Konsequenzen man hat, wenn man die eine Klickbox anklickt und dann den Zugang nicht mehr ermöglicht. Insofern würde ich sagen, Facebook hat hier ein Stück auch Mitverantwortung. Die wenigsten garantieren sich für Datenschutz Armbrüster: Was ist denn Ihre Einschätzung oder Ihre Sicht? Interessieren sich Facebook-Nutzer eigentlich wirklich für Datenschutz? Schaar: Na ja, für Datenschutz selbst als großes Thema ihres Lebens garantiert nicht, oder das sind die wenigsten. Aber kaum jemandem ist es letztlich recht, manipuliert zu werden, und diese Manipulation findet ja nicht nur im politischen Bereich statt. Sie findet auch statt im wirtschaftlichen Bereich. Das können Unternehmen verwenden, um zum Beispiel ihre Preiskalkulationen individuell auf die Zahlungsbereitschaft des Kunden einzustellen und dann entsprechend damit sehr viel Geld zu verdienen. Transparenz ist das natürlich nicht. Man kann gar keine Preise mehr richtig vergleichen, weil man immer wieder, sage ich mal, mit diesen Profilen konfrontiert wird. Und denken Sie an die Kreditwürdigkeit. Es gibt schon Unternehmen, die alleine aus den Facebook-Äußerungen, aus den Facebook-profilen bestimmte Aussagen zur Kreditwürdigkeit der Nutzer fällen. Da kriegt man dann möglicherweise keinen Kredit mehr. Nach welchen Kriterien auch immer und wie valide das ist, das ist vielfach Hokuspokus, weil man als nicht kreditwürdig befunden wird. Das hat also erhebliche Nachteile. Da geht es um politische Manipulation, es geht um Gewinnmaximierung und es geht auch darum, Menschen, die sowieso es schwieriger haben im Leben, denen das Leben noch mal schwieriger zu machen. Armbrüster: Ganz kurz noch, Herr Schaar. Diese Geschichte spielt jetzt ja zum allergrößten Teil in den USA. Da hat sich das ereignet. Facebook ist ja auch ein amerikanisches Unternehmen. Gibt es von deutscher Seite aus irgendetwas, wenn man das wirklich kritisiert, wenn man das schlecht findet und wenn man nicht einfach sagt, Facebook ist für mich einfach ein Tool und ich benutze das und Datenschutz ist mir egal. Wenn man das nicht findet, gibt es von deutscher Seite aus irgendetwas, was man dagegen tun könnte, was möglicherweise auch die Bundesregierung tun könnte? Schaar: Ich sehe mit großer Freude dem 25. Mai diesen Jahres entgegen. Dann tritt nämlich die europäische Datenschutzverordnung in Kraft. Dann werden solche Praktiken sehr viel besser untersucht werden können. Da kann man dann auch entsprechende Sanktionen auch in sehr großer Höhe gegen Unternehmen, die sich nicht an das Datenschutzrecht halten, verhängen. Insofern ist Europa da durchaus auf einem guten Wege und da zeigt sich letztlich auch, dass wir da auf nationaler Ebene viel weniger Möglichkeiten haben als auf europäischer. Insofern glaube ich auch, dass wir in Europa die Daten letztlich besser schützen können. Im Augenblick sieht es da allerdings noch nicht so allzu gut aus. Aber wie gesagt, das ist noch eine Übergangszeit bis zum 25. Mai. Dann wird das auf jeden Fall besser. Armbrüster: Das war Peter Schaar, der Vorsitzende der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz, außerdem zehn Jahre lang Bundesdatenschutzbeauftragter. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Schaar. Schaar: Herzlichen Dank meinerseits. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Schaar im Gespräch mit Tobias Armbrüster
In den USA sollen Daten von Facebook-Nutzern widerrechtlich von einer Firma ausgewertet worden sein. Peter Schaar, ehemaliger Datenschutzbeauftragter der Bundesregierung, sieht Facebook in der Pflicht: "Ohne dieses Geschäftsmodell hätte es dieses riesige Datenloch nicht gegeben", sagte Schaar im Dlf.
"2018-03-20T08:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:10.946000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/daten-affaere-facebook-traegt-eine-mitverantwortung-100.html
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Die Welt in mehr als 50 Sekunden erklären
Boxsons-Initiatorin Pascale Clark, lange Jahre eine der bekanntesten Stimmen beim öffentlichen Radiosender France Inter (AFP / Thomas Samson) Nach und nach trudeln die Mitarbeiter von Boxsons zur Redaktionskonferenz ein, zur Programmbesprechung. Es ist Sonntagnachmittag, Kaffeeklatsch-Zeit. Boxsons-Initiatorin Pascale Clark empfängt in ihrer Wohnung, nahe der Métrostation Barbés im Pariser Norden, neue Heimat schwarzafrikanischer Migranten. Für eine Redaktionssitzung ein ungewöhnlicher Ort, eine ungewöhnliche Zeit. Typisch Boxsons. Pascale Clark, lange Jahre eine der bekanntesten Stimmen beim öffentlichen Radiosender France Inter, grinst verschmitzt. "Was wir überall im Radio hörten, hat uns nicht gefallen. Da fehlt uns der Klang des Alltagslebens. Das Basismaterial beim Radio ist doch Ton, Stimmen und Geräusche, das wurde zu sehr vergessen. Die meisten Sendungen kommen heute aus dem Studio, Gesprächsrunden, oft mit bekannten Leuten. Wir wollen andere Töne hören." Reportagen, Reihen und ungewöhnliche Beiträge In einer fünfteiligen Reportage-Serie schildert Sami, wie er sich von seiner Heimat Eritrea bis ins britische Leeds durchgeschlagen hat, 10.384 Kilometer Leidensweg, sensibel zu einer Art Hörspiel der Realität aufbereitet. Drei Jahre lang hat Journalistin Marie Monier Sami immer wieder interviewt, hauptsächlich im 'Dschungel', dem berüchtigten Transitlager im nordfranzösischen Calais. "Als ich zum ersten Mal nach Calais kam, war es sehr, sehr kalt. Als ich den Dschungel gesehen habe, konnte ich es nicht glauben. Da schliefen Leute unter den Bäumen, wie Tiere, schrecklich. Ich sagte mir: Ist das Europa, ist das Frankreich?" In der Reihe 'Wache Erinnerung' lässt eine betagte Französin ihr Leben Revue passieren. Ihr Vater war einer der letzten Strafgefangenen im berüchtigten Lager von Cayenne, in Französisch-Guyana. Des Weiteren bietet das neue Internetportal einen akustischen Bummel durch Beirut. Begleitet einen Klempner, der in Paris verstopfte Toiletten repariert. In der Kalenderblatt-Rubrik am 14. Juni wird ein Treppenwitz des Lebens aufgedeckt. "An einem 14. Juni kam Che Guevara zur Welt. Und Donald Trump." Die beiden Lebenswege werden im Beitrag einander gegenüber gestellt. Informativ und humorvoll, mit astrologischem Seitenhieb. "Der Zwilling ist rational, brillant und giert nach Wissen. Äh, Trump eher nach Macht und Reichtum." Sich Zeit nehmen Bei der Redaktionskonferenz berichtet Emilie Denètre von ihrem aktuellen Projekt: den Werdegang von Kindern, deren Eltern sie aus Frankreich nach Syrien verschleppten, zur Terrormiliz Islamischer Staat. 20 Kinder seien bislang heimgekehrt, ihre Gesamtzahl wird auf 450 geschätzt. Seit Wochen recherchiert Emilie Denètre an dieser Geschichte. "Nur bei Boxsons kann ich mein Thema so lang, so tiefschürfend und so nuanciert aufbereiten, wie ich möchte. In jedem anderen Sender würde mir die Beitragslänge vorgegeben, meine Arbeit formatiert. Bei Boxsons steht die Redaktion voll hinter mir, aber lässt mir freie Hand. Mir als Autorin bringt dies viel intellektuelle Befriedigung." Sich Zeit zu nehmen, Zeit zu lassen ist redaktionelles Credo für die Berichterstattung, bekräftigt Boxsons-Mitgründerin Candice Marchal. "Wir hoffen vor allem, Hörer, Bürger ganz allgemein, mit den Medien auszusöhnen, gegen das unglaubliche Misstrauen unserem Stand gegenüber angehen zu können. Klar, wenn Journalisten sich anmaßen, die Welt in 50 Sekunden zu erklären, dann fühlt sich mancher Hörer einfach nur für blöd verkauft." Die ersten 1500 Hörer fand das Internetportal dank einer Crowdfunding-Aktion. Seither sind einige hundert Abonnenten dazu gestoßen, für neun Euro monatlich. Dafür erhalten sie nicht nur tiefgründige Alltags-Reportagen, sondern ebenso Klangkunst. Zum Team gehört auch ein Geräusche-Macher, der normalerweise für das Kino arbeitet. Gemeinsam mit einem Elektro-Akustiker entwickelte er 'Ododo' - eine digitale Schlaftablette. Ein Renner beim Boxsons-Angebot.
Von Suzanne Krause
Einmal Hype und wieder zurück: Podcasting erfreut sich wieder wachsender Beliebtheit. In Frankreich ist gerade ein neues Projekt an den Start gegangen. "Boxsons" wird über Abonnements finanziert. Seine Macher setzen auf tiefgründige Alltags-Reportagen - und mehr.
"2017-07-03T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:42.400000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/podcasting-in-frankreich-die-welt-in-mehr-als-50-sekunden-100.html
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Geist statt Geld und Gene
Unlängst kündigte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer an, ein Bekenntnis zur deutschen Sprache in die Verfassung seines Landes zu integrieren. "Fördern und fordern" müsse man Migranten, sprach er in Bierdunst und Deutschland-schafft-sich-ab-Angst hinein. Donnernder Applaus. Zafer Senocak ist ein Dichter, den der Kulturbetrieb gern mit der Bindestrich-Identität "deutsch-türkisch" versieht. In seinem neuen Buch "Deutschsein" schreibt er gegen diese Sortier-Routine an. Schon auf der ersten Seite benutzt er eines der deutschesten Wörter überhaupt: das Wort "gemütlich". Er meint damit zunächst die kleine Wohnung in einem oberbayerischen Ort; 1970, als er acht Jahre war, zog seine Familie von Istanbul dorthin. Ein türkischer Junge findet also Oberbayern gemütlich – davon müsste der oberste Bayer begeistert sein. Jetzt noch schnell ein paar Mittelgebirge genannt und den Erlkönig rezitiert – und fertig ist das CSU-kompatible Bekenntnis zur deutschen Sprache. Aber ein Dichter hört genauer hin. Wörter sind für ihn mehr als abfragbare Vokabeln. Eine Sprache beherrschen, ihrer mächtig sein – das fordern Politiker. Künstler jedoch fördern die sinnliche Seite. Eine Sprache kann, wie ein alpenländisches Braustüberl, Geborgenheit und Wärme verströmen. Wörter wie Gastarbeiter und Ausländer, aber auch Integration und Migrationshintergrund klingen kalt und abweisend. "Mach es dir hier bloß nicht zu gemütlich!", signalisieren sie dem Fremden. Zafer Senocak schreibt dazu in seinem Buch "Deutschsein": Sprache fließt, berührt und erzeugt Lust. Nichts ist von dieser Lust spürbar, wenn in Deutschland über Integration und Sprachdefizite gesprochen wird. Es herrscht die kühle Atmosphäre eines Labors. Man spricht über Einwanderung oft so, als ginge es dabei um chemische Formeln. Wo bleiben die Wörter, die schmecken, berühren und berauschen? An Rausch mangelt es beim Thema Integration nicht. Auf dem Debattenmarkt haben sich einerseits Islamkritiker etabliert; anderseits gibt es seit dem Erscheinen von Patrik Bahners' Buch "Die Panikmacher" das Berufsbild des Islamkritiker-Kritikers. Beide Seiten neigen zum Marktgeschrei und pflegen ihre Publikationen als "Streitschrift" zu kennzeichnen. Senocak hat sein Buch im Untertitel "Aufklärungsschrift" genannt, auch deshalb, weil er aus Liebe zur gefühlsmächtigen Sprache einen klaren Kopf bewahren will. Denn ausgerechnet im Dichter- und Denkerland herrscht seiner Meinung nach ein Denknotstand: In Deutschland ist die Fallhöhe zwischen dem hohen geistigen Niveau des philosophischen Erbes und der gegenwärtigen Verflachung öffentlicher Diskurse besonders groß. Eine stark polarisierende Sprache des Kulturkampfes hat an Raum gewonnen, verhinderte eine nüchterne Analyse der Zustände und ersetzt inzwischen mehr und mehr Reflexion und Analyse. Thilo Sarrazins umstrittenes Buch "Deutschland schafft sich ab" strotzt nur so von Statistiken, mit kühlen Daten lässt sich eben gut zündeln. Senocak braucht für sein Deutschsein keine einzige Mikrozensuszahl, dafür viele Gedichte. Er blickt zurück in die Geistes- und Gefühlsgeschichte Deutschlands und der Türkei, eingehend analysiert er Thomas Manns Kulturbegriff. Als "Gebrochen deutsch" umreißt er den Seelenzustand der verspäteten Nation. Den Deutschen fehle es an Selbstbewusstsein. Sie definierten sich selbst nur über die Abgrenzung vom anderen. Deutsch sei das, was der Fremde nicht ist und auch bei größter Anstrengung – Stichwort fördern und fordern – kaum werden kann. Das Exklusive ist den Deutschen wichtiger als das Gemeinsame, die eigene Kultur wichtiger als die universelle Zivilisation. Schon die Romantik reagierte auf die moderne Welt mit Weltflucht. Und heutige Leitkulturdebatten sind in Senocaks Lesart nichts anderes als der Versuch, Einfalt in die allzu vielfältige Welt zu bringen. Aus einer vielschichtigen Weltreligion wird so schlicht "der Islam", dem angeblich eine "christlich-jüdischen Leitkultur" gegenübersteht. Da wächst aus Angst zusammen, was nie zusammengehörte: Dieser tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes bezweckt nur eines: die Abgrenzung gegenüber dem Islam. So wird sie zur schrillen Begleitmusik der Migration von Muslimen nach Europa. In diesem christlich-abendländischen Kulturkreis geht es nicht um Fragen der Spiritualität in der säkularen Gesellschaft, um ein christliches Menschenbild, um das Erbe der Religionskriege, es geht dabei vor allem um die anderen, die angeblich nicht dazugehören. In der islamischen Welt wird eine ähnliche Denkweise von religiösen Fanatikern verfochten. Anti-islamische Fanatiker, die sich digitale Pro-Sarrazin-Buttons auf ihre Homepage heften, sind für die Differenzierung zwischen Kultur und Zivilisation kaum empfänglich; auch der weniger fanatische Politikbetrieb will sich kaum so viel Feinsinn leisten. Natürlich kann man Senocak vorwerfen, er selbst sei romantisch-weltfern in seiner Hoffnung, mit Gedichten die Probleme in Berlin-Neukölln und anderswo zu lösen. Sollen Politiker und Journalisten etwa in Stadtteile gehen, in denen der Migrationshintergrund im Vordergrund steht? Sollen sie dort Zeilen von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Nazim Hikmet rezitieren? Warum eigentlich nicht? Das Buch "Deutschsein" ist mitnichten naiv. Um sich zwischen den Marktschreiern im Integrationsmassengeschäft Gehör zu verschaffen, müsste der Autor wohl wesentlich schlichter argumentieren. Er müsste von Geld und Genen erzählen anstatt von Geist. Geistvolle Sprache ist nun einmal keine Sortiermaschine mit hoher Verletzungsgefahr, sie ist kein Kommunikationsapparat, der nach Lektüre der Betriebsanleitung beherrscht werden kann. Senocak wünscht sich einen Sprachtest der anderen Art: Er fordert von der Mehrheitsgesellschaft heilsame, aufhellende, inspirierende Wörter. Wörter wie die Wunderlampe Aladins. Er selbst hat davon reichlich. Wer die Sprache liebt, sollte "Deutschsein" lesen. Vergelt's Gott, Herr Seehofer.Christiane Florin über Zafer Senocak: "Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift". Das Buch kommt aus der Edition Körberstiftung, umfasst 190 Seiten und kostet 16 Euro, ISBN 978-3-896-84083-7.
Von Christiane Florin
Was heißt eigentlich Heimat, was "Deutschsein"? Das fragt sich der türkischstämmige Dichter Zafer Senoczak, der als Achtjähriger mit seiner Familie nach Deutschland kam - und entdeckt das Deutschsein in einer geistvollen Sprache und nicht in den Genen.
"2011-03-28T19:15:00+02:00"
"2020-02-04T02:09:49.335000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geist-statt-geld-und-gene-100.html
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Von der Leyen will Spezialisierung
"Wir brauchen dringend eine differenzierte Durchhaltetiefe in manchen Schlüsselfähigkeiten," so von der Leyen. (picture alliance / dpa / EPA / JOHN MACDOUGALL) Ursula von der Leyen rüstet auf, zumindest in manchen Bereichen. Und das gilt auch als Reaktion auf die Russland-Krise. "Das Sicherheitsumfeld hat sich seit dem Krisenjahr 2014 deutlich verändert", betont die Verteidigungsministerin. Angesichts der Ausrüstungsmisere bei der Truppe distanziert sie sich von einem wesentlichen Punkt der Bundeswehrreform ihres Vorgängers Thomas de Maizière. "Breite vor Tiefe" war noch dessen Prinzip. Die Bundeswehr sollte nach dem Willen des Christdemokraten alle militärischen Fähigkeiten haben, aber nur in begrenztem Umfang. Davon hält seine Nachfolgerin nicht mehr allzu viel. Von der Leyen drängt auf eine bessere Aufgabenverteilung innerhalb der NATO - deutsche Soldaten müssen in ihren Augen eben nicht alles können, aber in ihren Spezialbereichen besonders gut sein. "Breite vor Tiefe ist zunächst einmal nur ein Schlagwort und das sollten wir mit vernünftigem, angemessenem Leben füllen. Wir brauchen auch dringend eine differenzierte Durchhaltetiefe in manchen Schlüsselfähigkeiten. Und wenn man sich das anschaut, dann ist eigentlich die Zukunft multinational - zum Beispiel unser multinationaler Hubschrauberverband, den wir aufstellen wollen. Oder die wachsende Zusammenarbeit mit Frankreich, mit Polen, den Niederlanden. Wir unterstellen uns gegenseitig Truppenteile. Das ist schon sehr weitgehend, aber das ist die Zukunft für mich." Reduzierung des Leopard 2 gestoppt Natürlich wird von der Bundeswehr eine angemessene Breite an Fähigkeiten verlangt, räumt die Ministerin ein, etwa bei der Ausbildungsmission im Irak oder ihrer Beteiligung an der schnellen Eingreiftruppe der NATO. Aber es macht in ihren Augen wenig Sinn, die Kapazitäten in manchen Gattungen immer weiter zurückzufahren. Konkret wird das für sie am Beispiel des Leopard 2 Kampfpanzers - eine Verringerung der Stückzahl von 350 auf 225 war von de Maizière geplant - seine Parteifreundin stoppt jetzt die Reduzierung. "Wir werden also Leo 2 nicht in andere Länder abgeben oder verschrotten, sondern sie behalten für den Grundbetrieb, den Ausbildungsbetrieb und können damit schon unsere Löcher füllen." Ein derzeit nicht einsatzfähiges Panzerbataillon im niedersächsischen Bergen soll nach den Vorstellungen der Verteidigungsministerin bald reaktiviert werden, möglichst in Zusammenarbeit mit den Niederländern. Auch die sind nämlich dabei, Leopard-Panzer abzuschaffen. Sie könnten nun in der Nähe von Celle wieder gebraucht werden. Für ein aktives Panzerbataillon werden in Deutschland etwa 700 Soldaten und 44 Leopard-Panzer benötigt. Schritt für Schritt will von der Leyen mehr Geld in die Bundeswehr stecken. "Mittel- und langfristig muss der Verteidigungsetat auf gesunden Füßen stehen", fordert die CDU-Politikerin. Im Klartext: Die Ministerin will mehr Geld!
Von Frank Capellan
"Breite vor Tiefe" - von diesem Prinzip ihres Amtsvorgängers distanziert sich Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Deutsche Soldaten müssen in ihren Augen nicht alles können, aber in ihren Spezialbereichen besonders gut sein. Sie drängt auf eine bessere Aufgabenverteilung in der NATO.
"2015-02-27T13:13:00+01:00"
"2020-01-30T12:23:58.054000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundeswehr-von-der-leyen-will-spezialisierung-100.html
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Eine neue Hinrichtungswelle droht
Trotz Protesten: In Indonesien sollen wieder Drogenhändler hingerichtet werden. (picture alliance / dpa - Mast Irham) Jeder Erfolg im Kampf gegen den Drogenhandel wird von der indonesischen Polizei als großes Medienspektakel inszeniert. Rauschgift vor laufenden Kameras in lodernde Verbrennungsöfen geworfen, der Verdächtige mit gesenktem Blick im orangen Overall den Journalisten vorgeführt, und ein stolzer Drogenfahnder posaunt fröhlich in die Mikrofone, was den Gefangenen erwartet: der Tod. Zehn Ausländer und fünf Indonesier sollen in den nächsten Tagen wegen Drogenhandels hingerichtet werden. Der Tod durch die Gewehre eines Erschießungskommandos ist ein roher, archaischer Akt, wie das australische Fernsehen in einer Dokumentation erklärte: "Dem Gefangenen werden die Augen verbunden und er wird gefragt, ob er stehen, sitzen oder knien will. Der Arzt bringt eine Markierung über dem Herzen an; das zwölfköpfige Erschießungskommando steht zehn Meter entfernt, aber nur drei Gewehre sind mit scharfen Patronen geladen. Dann gibt der Kommander den Feuerbefehl. Sollte der Gefangene dann noch am Leben sein, schießt der Kommandeur ihm aus nächster Entfernung hinter dem Ohr in den Kopf." Das ist Indonesiens Kampfansage gegen den Rauschgifthandel. Denn der riesige Inselstaat mit 240 Millionen Einwohnern hat ein gigantisches Drogenproblem: 12.000 Tote jedes Jahr durch Heroin, Ecstasy und Crack; viereinhalb Millionen Süchtige – offiziell. An drakonischen Strafen führe deshalb kein Weg vorbei, erklärt Präsident Joko Widodo: "Wir wollen eine bessere Welt, und deshalb senden wir diese unmissverständliche Botschaft an alle Drogendealer: Ihr müsst hier mit der Todesstrafe rechnen, und es wird keine Gnade geben. Weil wir nicht wollen, dass Indonesiens nächste Generation durch Drogen zerstört wird." Keine Anzeichen für Abschreckung durch Todesstrafe Die 15 nächsten Delinquenten wurden bereits unter starken Sicherheitsvorkehrungen auf die Hinrichtungsinsel Nusa Kembangen gebracht. Insgesamt warten noch 12o Verurteilte auf den Gang vor das Erschießungskommando. Darunter eine Britin und eine Philippinerin, die beide im Prozess erklärten, sie seien als Drogenkuriere missbraucht worden. Die neue Hinrichtungswelle droht fast genau ein Jahr nach der weltweit verurteilten Exekution zahlreicher Ausländer in Indonesien. Vor allem zwei Australier hatten dabei die Herzen der Weltöffentlichkeit bewegt, die Zeuge der dramatischen Läuterung der jungen Männer im Gefängnis wurde. Die Regierung in Canberra hatte protestiert, die Familien der Verurteilten wiederholt dramatische Appelle an Indonesiens Präsident Widodo gerichtet: "Die Todesstrafe ändert nichts am Drogenproblem. Auch wenn mein Bruder heute getötet wird, werden morgen andere mit Drogen handeln und Menschen Drogen nehmen. Ich appelliere an Präsident Widodo: Seien Sie gnädig, damit meine Mutter und meine Geschwister nicht meinen Bruder begraben müssen." Tatsächlich gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Todesstrafe abschreckend wirkt, sie ist womöglich auch Ausdruck der Hilflosigkeit. Unverändert hängen weiterhin Jahr für Jahr Millionen junge Indonesier an der Nadel, sterben Tausende durch Drogen und Dutzende vor den Mündungen von Erschießungskommandos. Dort weiß übrigens keiner der Soldaten, ob sein Gewehr mit tödlicher Kugel oder Platzpatrone geladen war. Damit niemand sich als Henker fühlen muss.
Von Holger Senzel
Viereinhalb Millionen Drogensüchtige gibt es in Indonesien - und jährlich mindestens 12.000 Tote durch den Rauschgiftkonsum. Die Regierung setzt auf Härte und auf die abschreckende Wirkung der Todesstrafe. Hinweise darauf, dass das auch funktioniert, gibt es nicht. Bald sollen aber wieder 15 Menschen exekutiert werden.
"2016-05-17T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:39.751000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/antidrogenkampf-in-indonesien-eine-neue-hinrichtungswelle-100.html
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May fordert mehr Zeit für Brexit
Die neue britische Premierministerin Theresa May (picture alliance / dpa / Andy Rain) In Gesprächen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande habe May gesagt, dass die britische Regierung Zeit zur Vorbereitung der Brexit-Gespräche benötige. Das teilte ihr Sprecher mit. Sie hoffe auf konstruktive Verhandlungen. Merkel lud die neue Premierministerin derweil nach Deutschland ein und sagte: "Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Theresa May." May stellt Kabinett zusammen - Johnson Außenminister Nach iher Amtsübernahme hatte May damit begonnen, ihr Kabinett zusammenzustellen. Damit war sie von Queen Elizabeth II. bei ihrer Ernennung im Buckingham Palace beauftragt worden. Die wichtigsten Posten sind schon besetzt. Der frühere Londoner Bürgermeister und einer der Anführer der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, bekommt zum ersten Mal ein Ministeramt. Nach dem Referendum hatte er es abgelehnt, als Premierminister und Chef der konservativen Tory-Partei zu kandidieren. Jetzt soll er Außenminister werden - was Bundeskanzlerin Merkel nicht kommentieren wollte. Boris Johnson wird nächster britischer Außenminister. (EPA) Neu geschaffener Posten des Brexit-Ministers Premier May besetzt den neu geschaffenen Posten des Brexit-Ministers mit David Davis. Davis wurde zum Staatssekretär für den Austritt aus der Europäischen Union ernannt, wie Mays Büro am Mittwochabend mitteilte. Damit ist er der britische Chefunterhändler in den Verhandlungen mit Brüssel. Bereits ernannt ist Schatzkanzler Philip Hammond, der bisher Außenminister war. Sein Vorgänger George Osborne trat zurück. Osborne war im Brexit-Wahlkampf energisch für einen Verbleib Großbritanniens in der EU eingetreten. Auch die neue Innenministerin wurde ernannt: Amber Rudd war bisher Ministerin für Energie und Klimawandel. (nch/stfr/tzi)
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Die neue britische Premierministerin Theresa May hat für den Austritt Großbritanniens aus der EU mehr Zeit zur Vorbereitung verlangt. Derweil stellt sie ihr Kabinett zusammen, etabliert ein eigenes Ministerium für den EU-Austritt. Der Brexit-Befürworter Boris Johnson wird neuer Außenminister.
"2016-07-14T08:48:00+02:00"
"2020-01-29T18:40:59.408000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-regierung-in-london-may-fordert-mehr-zeit-fuer-brexit-100.html
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Nachhaltige Erfolgswelle
In vielen seiner Songs thematisiert er soziale und gesellschaftliche Fragen (Norman Gadiel) Obwohl die Texte des 41-Jährigen häufig zum Nachdenken anregen, machen seine Lieder glücklich. Auf der Bühne unterstützt hier auch seine Ausstrahlung, wie er barfuß auf der Bühne steht, häufig mit geschlossenen Augen und einem Lächeln im Gesicht singt. Darüber hinaus ist er ein Vorbild dafür, wie man in der heutigen klimageschädigten, konsumüberfluteten Welt ein bewusstes Leben führen kann. Xavier Rudd ist zweifacher Vater, Veganer, Surfer, Umweltaktivist und Multiinstrumentalist, der sich nicht nur in seinen Texten für den Erhalt der Natur und vor allem der Meere einsetzt. Auch die Menschenrechte liegen ihm am Herzen, und auch für die australischen Aborigines setzt er sich ein. Er singt, spielt Gitarre, Blues-Harp und Didgeridoo. Mit diesen Instrumenten bewegt er sich im Reggae-Kosmos. 2002 begann seine Karriere in seiner Heimat Australien. Mittlerweile hat er neun Studio- und acht Live-Alben veröffentlicht und ist in Europa und Kanada, den USA und Südamerika erfolgreich. Vor allem live reißt er die Massen mit. Sein Sound, der treibende Beat und seine Stimme machen seine Musik und Shows einzigartig. Xavier Rudd beim A Summer´s Tale Festival 2019 (Normen Gadiel) Aufnahme vom 3.8.2019 beim ,A Summer's Tale‘-Festival
Am Mikrofon: Manuel Unger
Rock, Reggae, Blues, Dub, tiefgründige Texte: All das vereint der australische Singer-Songwriter Xavier Rudd in seiner Musik. Bei seinen Konzerten strahlt die Lebensenergie des surfenden Australiers auf das Publikum ab.
"2020-02-14T21:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:45:47.407000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/singer-songwriter-xavier-rudd-nachhaltige-erfolgswelle-100.html
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Rad- und Motorsport streiten um Hoheit
Rennen beim E-Bike-Festival in Dortmund (imago images / Cord) E-Bikes sind im Kommen. Auf den Straßen sowieso. Aber auch im Sport werden die Pedelecs mit ihren maximal 250 Watt Zusatzleistung auf den Pedalen immer relevanter. Sportlich bedeuten 250 Watt eine ganze Menge. Tour de France-Fahrer müssen um die 450 Watt aufbringen, um bei Bergetappen ganz vorn zu sein. Freizeitfahrer kommen also gefühlt in diese Liga. Knapp eine Million E-Bikes wurden im letzten Jahr allein in Deutschland verkauft. Das Potential ist groß. So groß, dass der Weltradsportverband UCI und der Weltmotorradsportverband FIM aneinander gerieten. Der Rad-Verband hat für den August 2019 die "UCI E-Mountain Bike World Championships" angekündigt. Der Motorradsportverband - er ist für motorisierte Zweiräder das, was der Automobilverband FIA für vierrädrige Rennmaschinen mit Motor ist - plant für den Juni den FIM E-XBike World Cup. Die einen rüsten auf, bauen Motoren in Räder ein. Die anderen rüsten um, vom Verbrennungsmotor auf elektrischen Antrieb. Eine neue Schnittmenge entsteht - und genau um die buhlen die Weltverbände mit ihren WM-Formaten. "Die erste Meisterschaft ist im Rahmen der E1 Mountainbike-Serie über die Bühne gegangen", erzählt Hubert Stanka, Vorsitzender der Offroad Association International. Sie hat die Deutsche Meisterschaft 2018 organisiert und richtet auch die Deutsche Meisterschaft in diesem Juli aus. Autonomer Event in Deutschland Stanka sagt: "Es wird nicht nur reines Mountainbike/Enduro sein, sondern es werden verschiedene Disziplinen eingebaut. Das ist ja auch die Stärke der E-Bikes. Es gibt zum Beispiel Cross Country, Uphill und Beschleunigungstests." Stanka erwartet jetzt mehr als 100 Teilnehmer, anstelle der 60 im letzten Jahr. Und es wird ein komplett autonomer E-Bike-Event. "Das ist ausschließlich für E-Bikes, da ist nichts für normale Mountainbikes dabei. Das ist jetzt getrennt, denn das war auch eine der Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr. Das beißt sich einfach. Das sind verschiedene Anforderungen", sagt Stanka. Dass sich das beißt, Menschen auf Rädern mit Motoren und Menschen, die Räder nur mit Beinkraft antreiben, hat auch der Tour de France-Ausrichter ASO schon bemerkt, erzählt Vivien Hocquet, Verantwortlicher der ASO für Jedermann-Events: "Es gibt manchmal Leute, die es selbst beim Radtourismus nicht besonders gern sehen, wenn jemand an ihnen fast ohne Kraftanstrengung vorbeifährt." Bei der Roubaix Challenge nahmen kürzlich einen Tag vor den Profis etwa 7.000 Amateure die historischen Pflastersteine unter die Räder. Bei der Etape du Tour fahren 15.000 Teilnehmer eine Tour de France-Etappe ab. Hocquet organisiert auch die Roc d’Azur, eine Art Woodstock der Mountainbikeszene. Er sagt: "Der Roc d’Azur ist ein Event, der im Oktober in Frejus 20.000 Teilnehmer versammelt. Es gibt ihn seit 1984, mit 35 verschiedenen Disziplinen auf allen Niveaus, für Amateure wie Profis, das ist ein Mix." E-Bike-Anmeldungen gehen schnell weg 2018 gab es dort erstmals ein eigenes Event für E-Biker. Die 200 Anmeldungen gingen schnell weg. Für dieses Jahr hat die ASO das Kontingent auf 600 erhöht. "Dieses besondere Feld der E-Bikes fährt auf dem gleichen Parcours wie die anderen, es sind 51 km. Sie passieren dieselbe Strecke. Aber wir lassen sie vor den traditionellen Rädern starten, um die möglichen Störungen auf ein Minimum zu reduzieren", sagt Hocquet. Sogar auf den Straßen des Giro d'Italia sind E-Bikes schon unterwegs. Giro-Veranstalter RCS rief im letzten Jahr den Giro E ins Leben. Er findet auch in diesem Mai statt. Mannschaften aus jeweils sechs Teilnehmern gehen auf die Strecke. Die Etappen sind kürzer als die der Profis, etwa 120 km lang. Anderthalb Stunden vor den Profis passieren die E-Bike-Teilnehmer den Zielstrich, sagt RCS-Manager Paolo Bellino: "Das ist kein Wettkampf, sondern eine Form von Radtourismus, eine Möglichkeit, den Giro d'Italia zu genießen und auch E-Bike-Projekte zu unterstützen. Denn das ist die Zukunft der Mobilität." Internationale Verbände brauchen noch eine Einigung Die E-Bike-Szenerie ist also heterogen. Es gibt bereits Wettkämpfe im E-Mountainbike. Dazu kommt E-Bike-Tourismus auf der Straße und im Gelände, angedockt an Events der großen Veranstalter im Straßenradsport. Das Potential ist groß, meint ASO-Manager Houcquet: "Sicher ist, dass die Entwicklung der E-Bikes zum Nachdenken über neue Formate in der Zukunft führen wird." Damit es zu den neuen Formaten kommt, müssten allerdings der Radsport-Weltverband UCI und der Weltmotorsportverband FIM ihr Kriegsbeil begraben. Anbieten würde sich eine pragmatische Lösung wie hier in Deutschland. Dort fanden der Bund Deutscher Radfahrer und der Deutsche Motor Sport Bund einen Kompromiss, erklärt Hubert Stanka, der Organisator der deutschen E-Bike-Meisterschaft "BDR und DMSB haben sich ja scheinbar geeinigt auf nationaler Ebene. Da will, wenn ich das richtig verstanden habe, der BDR die klassischen Pedelecs, also bis 25 km/h, unter sich haben und der DMSB alles mit E-Motor, was darüber hinausgeht." Der BDR bestätigte dem Deutschlandfunk diese Regelung. Nun liegt es an den internationen Verbänden, sich zu einigen. Sie sollten dies auch deshalb tun, weil das EU-Kartellrecht Sanktionen gegen Sportler, die sich an Wettbewerben anderer Verbände beteiligen, ausschließt. Der Eislauf-Verband ISU bekam deswegen schon einmal eine Rüge. Der neu entstehende Zweiradsport mit E-Motoren könnte auch rechtlich die ganze Rad- und Motorsportszene aufmischen.
Von Tom Mustroph
Im klassischen Radsport sind Elektromotoren als E-Doping verboten. Die E-Bike-Szene aber entwickelt sich. Es gibt erste Wettkämpfe – und einen bizarren Verbandsstreit.
"2019-04-21T19:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:48:20.602000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/e-bike-rennen-rad-und-motorsport-streiten-um-hoheit-100.html
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Barocke Opulenz an Originalschauplätzen
Opulentes Konzerterlebnis: "Salzburg 20:16" im barocken Dom (Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik) Unter diesem Titel standen vier Konzerte, die der Feier zur 200-jährigen Zugehörigkeit Salzburgs zu Österreich gewidmet waren und die Hochzeit der Salzburger Kirchenmusik aufzeigten. Zu Gast waren der Gambist Vittorio Ghielmi und Il Suonar Parlante Orchestra mit namhaften Solisten. Vittorio Ghielmi, der in allen Musikstilen zu Hause ist, lehrt am Institut für Alte Musik am Salzburger Mozarteum und baut mit der Leiterin, der Blockflötistin Dorothee Oberlinger das Institut immer mehr zu einer hochkarätigen innovativen Ausbildungsstätte aus. Auch bei den Salzburger Festspielen hat die Alte Musik inzwischen einen festen Platz bekommen, so Vittorio Ghielmi : "Natürlich widmet sich das Festival traditionsgemäß in erster Linie der klassischen und der modernen Musik, aber ich glaube, dass auch die Rolle der Alten Musik inzwischen absolut angenommen ist. Aber im Zusammenhang gesehen, entspricht es nicht meinem Verständnis, Musik in Schubkästen mit klassischer, moderner oder alter Musik ein zu teilen. Meiner Meinung nach muss Musik immer nach den Quellen beurteilt und verstanden werden, wenn man die Komponisten studiert, dann muss man die ihnen eigene Sprache erkunden, ob sie nun Strawinsky, Bach oder Perotin heißen, das sollte die intelligente Herangehensweise sein. Darüber hinaus ist es ein Disaster für Moderne wie für Alte Musik, wenn man keine guten Interpreten hat, das bleibt sich gleich. Es muss so oder so zusammen passen." Musik: Carl Heinrich Biber, Sonata da chiesa Preziosen aus den ArchivenVittorio Ghielmi und sein Ensemble Il Suonar Parlante haben bei ihrem Konzert Salzburger Kapellmeister vorgestellt, insbesondere den böhmischen Komponisten und Geiger Heinrich Ignaz Franz Biber, der 45 Jahre in Salzburg wirkte, aber auch Zeitgenossen und Nachfolger. Dafür hat Ghielmi die Archive durchstöbert und einige Preziosen gefunden: Johann Adam Karl Georg von Reutter ist zum Beispiel mit einem "Salve Regina" vertreten, es gibt eine Trio-Sonate von Matthias Siegmund Biechteler, eine Kirchesonate des Biber-Sohnes Carl Heinrich Biber und eine Messe von Giovanni Valentini. Musik: Giovanni Valentini, Missa pro sponso et sponsa "Natürlich ist Biber der beste Komponist, der bedeutendste, den wir im Programm haben, aber ich glaube, es ist in jedem Fall wichtig, in der Musik ein bisschen die Fährte nach so sogenannten 'Kleinmeistern' aufzunehmen. Danach versteht man besser, dass auch die großen und die sehr großen Komponisten, wie Mozart zum Beispiel, Teil einer Tradition waren und sich nicht auf einer Insel inmitten von Nichts befanden." Zu den Höhepunkten der kleinen Reihe Salzburg 20.16 im Rahmen der Festspiele gehörte auch die Wiederaufführung der Missa Salisburgensis von Heinrich Ignaz Franz Biber mit Chor und Orchester des Collegium 1704 unter der Leitung von Václav Luks im Salzburger Dom. Es war die erste Wiederaufführung des 53-stimmigen Werkes in seiner originalen Gestalt am Original-Schauplatz mit einer Aufteilung der zwei vokalen und vier instrumentalen Chöre sowie Solisten und Orgeln auf Podium und vier Emporen. Václav Luks: "Ich glaube, wir sind die ersten hier, die auch die Emporen mit den großen Orgeln genutzt haben. Dass wir das wirklich wie zu Zeiten von Biber gemacht haben auch mit den großen Orgeln, dass wir diese Pracht unterstützt haben mit diesen großen Instrumenten, da waren wir die ersten hier." Überwältigendes KlangereignisBei der Uraufführung 1682 aus Anlass der opulenten Feiern zum 1100-jährigen Bestehen des Bischofssitzes Salzburg waren es wahrscheinlich so an die 100 Beteiligten, mit denen Biber die einzigartige Architektur des Salzburger Domes für mehrchöriges Musizieren effektvoll ausnutzte. Václav Luks hat nicht zuletzt aus Kostengründen auf die kleinstmögliche Besetzung zurückgegriffen und kam auch auf gut 80 Musiker. Das war schon rein logistisch kein leichtes Unterfangen und auch der große Nachhall stellte für alle Beteiligten eine Herausforderung dar, doch das Ergebnis war überwältigend. "Es existiert kein Ensemble, was genau diese Besetzung hat, das war auch damals nicht so, da hat man die Musiker extra engagiert für die Aufführung und dann haben wir auch unser Ensemble Collegium, 1704 einfach deutlich erweitert, weil wir im Prinzip ein Barockorchester sind mit Streicherkern, hier braucht man nicht so viele Bläser, hier sind vor allem Bläser gefragt, aber im Prinzip sind das alles auch Musiker, die ich kenne und mit denen ich gerne zusammen arbeite, das Gleiche gilt auch für die Sänger. Ja es ist eine sehr komplizierte Sache, aber eine sehr erfreuliche Sache auch, weil, fast alles Musikerfreunde, die man kennt, kommen auf einmal zusammen." Wenn auch die Musik dieser Salzburger Messe vielleicht nicht über die Maßen anspruchsvoll ist, so macht sie doch für uns heute diese barocke Mehrstimmigkeit, wie sie eine Generation vor Biber schon Monteverdi im Markusdom zu Gehör brachte, sinnlich erfahrbar. Für Václav Luks ist jedenfalls Bibers Messe so etwas wie Mahlers 8.Sinfonie für die Barockmusik: "Biber ist natürlich ein Komponist, dem diese Art diese Art der Musik sehr vertraut war, kam nach Salzburg aus Kremsier und in Kremsier bei dem Erzbischof hat er sehr viele Kollegen gehabt, also vor allem Trompeter, wie unser Pavel Josef Bewanowski, und in Kremsier wurde diese Musik sehr gepflegt, Trompeten, Trombonen, Zinken, das war sehr beliebt, und er hat das sehr gut gekannt und man kann sich vorstellen, dass er auch die Vorliebe für diese Musik nach Salzburg mitgenommen hat und natürlich kann man ohne weiteres sagen, dass Biber der wichtigste Komponist der Salzburger Musik ist vor Mozart." Musik: Heinrich Ignaz Franz Biber, Missa Salisburgensis
Von Christiane Lehnigk
Opern sind immer die spektakulärsten Ereignisse bei den Salzburger Festspielen; aber es gibt auch andere Genres, die nicht weniger opulent ausgestattet, prominent besetzt oder weniger am Puls der Zeit auftreten. Etwa die Reihe "Ouverture spirituelle" oder der Programmpunkt "Salzburg 20.16".
"2016-08-02T22:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:45:00.016000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/salzburg-20-16-bei-den-salzburger-festspielen-barocke-100.html
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Demokratie ist stärker als Terrorismus
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Burkhard Lischka. (imago/Jens Jeske) Christiane Kaess: Als gestern die ersten Meldungen über ein Attentat in der Pariser Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" eintrafen, konnten viele das zunächst nicht glauben, noch weniger, als dann zunächst von zehn, später von zwölf Toten die Rede war. Schnell war dann aber klar: Die Opfer sind traurige Gewissheit. Es ist der größte Terroranschlag in Europa seit fast zehn Jahren. Damals kamen bei einem Anschlag auf Züge und einen Bus im Juli 2005 in London 56 Menschen ums Leben. Dieses Mal hat der Anschlag eine weitere schreckliche Fassette, denn es geht um die Presse- und Meinungsfreiheit, denn es traf die Mitglieder einer Satirezeitschrift, die schon seit längerem bedroht wurde, wegen Karikaturen, die sich über den Islam und den Propheten Mohammed lustig machten. Die Täter sind auf der Flucht. Weltweit wurde gestern den Franzosen Beileid ausgesprochen und es gab viele Zusagen, man stehe an der Seite Frankreichs. So auch aus Deutschland, auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am Telefon ist jetzt Burkhard Lischka. Er ist innenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. Guten Tag, Herr Lischka. Burkhard Lischka: Schönen guten Tag, Frau Kaess. Kaess: Schauen wir erst noch mal auf die Attentäter in Frankreich. Möglicherweise handelt es sich um Rückkehrer aus dem Irak. Diese Diskussion, die gibt es auch bei uns, Herr Lischka. Wie groß ist die Bedrohung in Deutschland? Lischka: Nun, es gibt eine Bedrohung in Deutschland, eine abstrakte Bedrohung zumindest. Davor haben das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz erst im vergangenen Jahr im Herbst gewarnt. Nach allem was ich weiß, gibt es hier in Deutschland derzeit keine konkreten Anschlagsplanungen. Wir haben ja seit 2004 hier in Deutschland ein gemeinsames Terrorismus-Abwehrzentrum, in dem 40 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder zusammenarbeiten, und zwar jeden Tag die Sicherheitslage neu bewerten, Informationen zusammentragen, auch terroristische Aktivitäten aufdecken, und dort ist sicherlich der Ort, jetzt danach zu fragen, was bedeutet dieser Anschlag in Paris, dieser furchtbare Anschlag für die Sicherheitslage hier in Deutschland, bedürfen wir weiterer besonderer Sicherheitsvorkehrungen. Ich glaube, für Entscheidungen ist es heute noch zu früh.Wovor ich allerdings warnen muss, ist jetzt Kopflosigkeit oder blinder Aktionismus oder sogar Panik. Ich glaube, damit würden die Terroristen ihr Ziel erreichen, das sie erreichen wollen, und wir dürfen uns von denen nicht unser Leben bestimmen lassen. "Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht" Kaess: Aber dennoch, Herr Lischka, stellt sich natürlich die Frage nach diesem Attentat gestern, das ja auch überraschend kam, mehr oder weniger, muss man sagen. Es gab ja Drohungen davor und es gab auch entsprechende hohe Sicherheitsvorkehrungen. Trotzdem konnte das passieren. Ändert das etwas für uns, für die Situation in Deutschland? Lischka: Nun, wir haben ja in Deutschland und in allen europäischen Ländern schon seit Jahrzehnten immer wieder terroristische Anschläge von Extremisten und Fanatikern. Ich darf nur erinnern an den RAF-Terror hier in Deutschland in den 70er-Jahren vor allen Dingen, ich darf nur erinnern auch an das fürchterliche Massaker in Norwegen 2011, wo 69 unschuldige Jugendliche ums Leben gekommen sind. Es gibt sicherlich nie eine hundertprozentige Sicherheit vor solchen einzelnen Fanatikern und Kriminellen und Terroristen. Aber ich glaube, die Geschichte des Terrorismus der letzten Jahrzehnte zeigt auch, unsere freiheitlichen Gesellschaften waren immer stärker als dieser Terror. Die Täter wurden verfolgt, sie wurden dingfest gemacht, sie wurden verurteilt. Viele Anschläge konnten auch verhindert werden durch unsere Sicherheitsbehörden. Und am wichtigsten ist: Es sind freie und demokratische und weltoffene Gesellschaften geblieben und daran hat kein Terroranschlag der Vergangenheit etwas ändern können und das wird diesmal auch so sein. Die Demokratie wird stärker sein als der Terrorismus. Kaess: Aber der Anschlag zeigt auch die Machtlosigkeit der Sicherheitsbehörden gegenüber solchen Terroristen. Brauchen wir eventuell doch strengere Gesetze, strengere Regeln? Lischka: Nun, gesetzlich haben wir, glaube ich, alles vorliegen, um Terrorismus zu bekämpfen. Ich habe ja gesagt, diese Terrorgefahr besteht ja nicht erst seit gestern. Ich glaube, dass wir uns alle bestätigt fühlen können, dass wir seit zehn Jahren das gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum hier in Deutschland haben, und dass wir bisher in Deutschland auch von solchen Anschlägen verschont geblieben sind, das ist zumindest auch zu einem kleineren Teil darauf zurückzuführen, dass unsere Sicherheitsbehörden und gerade auch das Terrorismus-Abwehrzentrum hier erfolgreich gearbeitet hat. Insofern bin ich sicher: Vernunft bleibt hier auch in den nächsten Tagen und Wochen weiter angesagt und nicht kopfloses Handeln. Pegida und AfD versuchen das zu auszunutzen Kaess: Ist dieses Attentat Wasser auf die Mühlen der Pegida-Bewegung? Lischka: Ich sehe da im Augenblick die größte Gefahr, dass einzelne diesen fürchterlichen Terroranschlag wirklich nutzen wollen, unsere Gesellschaft zu spalten. Das gilt für Frankreich für eine Partei wie Le Pen; das gilt aber auch für manchen Vertreter von Pegida und AfD, die hier versuchen - das haben ja erste Reaktionen gezeigt -, ihr politisches Süppchen ausgerechnet auf dem Rücken der Terrortoten zu kochen. Ich finde das instinktlos, ich finde das verabscheuungswürdig. Kaess: Was meinen Sie da genau? Lischka: Weil die Flüchtlinge, die ja derzeit zu uns kommen - und die größte Gruppe, die kommen ja aus Syrien -, die sind vor diesem barbarischen Terror in ihren Ländern geflohen, vor diesen barbarischen Islamisten. Und genau diese Menschen, die alles verloren haben, jetzt für Terror hier in Europa verantwortlich zu machen, das halte ich für schäbig und das halte ich auch nicht für akzeptabel. Ich hätte mir gewünscht, auch von Seiten von Pegida oder AfD, dass in den ersten Stunden nach diesem fürchterlichen Anschlag zunächst mal im Mittelpunkt gestanden hätte eine Trauer, gemeinsam mit den Angehörigen der Opfer, und ein Zusammenstehen, ein Zusammenhalt, aber nicht zu versuchen, hier diese Gesellschaft zu spalten. Kaess: Sie sprechen die AfD an. Allerdings hat auch die CSU zuletzt nach schnelleren Asylverfahren gerufen und verlangt auch jetzt Konsequenzen aus dem Attentat in Paris. Wie einig ist sich denn die Regierungskoalition überhaupt noch bei diesen Themen? "Die Täter in Paris sind keine Muslime, sondern Killer und feige Mörder" Lischka: Nun, ich glaube, dass wir hier gemeinsam schnellere Asylverfahren haben wollen, das hat überhaupt nichts mit den Terroranschlägen in Paris zu tun, sondern es geht darum, dass wir schnell Gewissheit schaffen wollen, ob ein Asylant, der hier hinkommt, ob ein Flüchtling anerkannt wird oder nicht. Ich kann hier nur davor warnen, dass alles pauschalisiert wird, auch alles in einen Topf geschmissen wird. Diese Bluttat dort in Paris bedeutet eben nicht, dass vier Millionen hier lebende Muslime potenzielle Gewalttäter werden. Im Gegenteil: Die allermeisten leben hier seit vielen Jahren und Jahrzehnten in unserem Land, sie arbeiten, sie zahlen Steuern, sind friedliche Menschen. Und einige von ihnen sind eben auch in diesen Tagen auf der Flucht vor islamistischer Gewalt und zu uns gekommen. Das ist die Realität hier in Deutschland und nicht irgendwelche kruden Verschwörungstheorien.Die Täter in Paris - das muss man mal so deutlich sagen - sind keine Muslime. Sie sind Killer und feige Mörder. Das hat mit keiner Religion dieser Welt irgendetwas zu tun. Ich habe eben Norwegen angesprochen. Wissen Sie, der Attentäter, der dort 69 Jugendliche umgebracht hat, nannte sich auch „Tempelritter", berief sich auf sein christliches Weltbild. Es wäre niemand auf die Idee gekommen, diesen feigen Mörder und Killer dafür zu benutzen, um alle Christen unter einen Generalverdacht zu stellen. Kaess: Herr Lischka, dennoch haben viele hierzulande das Gefühl, mit der Integration ist vieles schief gelaufen in den letzten Jahren. Der Vorsitzende des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach von der CDU, der hat im Deutschlandfunk gesagt, er halte den Satz für problematisch - ich zitiere -, „Islamismus, Salafismus hat überhaupt nichts mit dem Islam zu tun." Also er zweifelt das an. Würden Sie das unterschreiben? Lischka: Nein, ich würde das so nicht unterschreiben, vor allen Dingen vor dem Hintergrund dieser Terroranschläge. Wenn dort Menschen abgeschlachtet werden gestern wie Vieh, weil man deren Karikaturen nicht ertragen kann, dann hat das mit keiner Religion und auch nichts mit dem Islam zu tun. Kaess: ..., sagt Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. Danke für das Gespräch heute Mittag. Lischka: Herzlichen Dank, Frau Kaess. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Burkhard Lischka im Gespräch mit Christiane Kaess
Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es nie, sagte der SPD-Politiker Burkhard Lischka im DLF. Aber letztlich waren "unsere freiheitlichen Gesellschaften immer stärker als dieser Terror". "Schäbig" nannte er das Verhalten von Le Pen, AfD und Pegida, den Anschlag für die Spaltung der Gesellschaft zu nutzen.
"2015-01-08T12:20:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:00.412000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/islamismus-demokratie-ist-staerker-als-terrorismus-100.html
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CDU im Taunus will Frankfurts Wachstum stoppen
Frankfurts oberster Stadtplaner Mike Josef (l., SPD) will im Umland der Stadt Wohnraum schaffen. Die CDU in Frankfurt unterstützt das grundsätzlich - aber die im besagten Umland nicht. (picture alliance / dpa / Fabian Sommer) Herbst vergangenen Jahres. Ein weitläufiges Wiesengelände an der Stadtgrenze von Frankfurt am Main und Steinbach am Taunus. Mike Josef, der Planungsdezernent und SPD-Vorsitzende von Frankfurt am Main, ist gekommen. Er stellt sich mehreren hundert Bürgern aus dem Umland der Stadt, die gegen seine stadtplanerischen Vorhaben mobil machen. Als Mike Josef zu sprechen beginnt, rollen Traktoren mit Protestplakaten auf den Platz. "Ich begrüße auch die Landwirte, das ist nochmal ein anderes Thema, zu dem komme ich auch noch mal gleich." Landwirte, Bürger von kleinen Taunusgemeinden nordwestlich von Frankfurt am Main, Lokalpolitiker: Sie alle wollen, dass Mike Josef seine Pläne stoppt, am Westrand der Mainmetropole einen neuen Stadtteil für bis zu 30.000 Menschen zu bauen. Bürger: "Die können im Süden, im Osten, im Norden bauen – nur nicht im Westen."Reporter: "Ein St.-Florians-Prinzip?"Bürger: "So ist es."Bürger: "Ich bin ein Gegner davon, weil ich auch die Gefahr sehe, dass die Gemeinden hier eingemeindet werden, weil Frankfurt schon seit Jahren hier auf den Speckgürtel schielt." Die Großstadt nutzen und zugleich auf Abstand halten Der neue Stadtteil von Frankfurt am Main würde in der Tat sehr nahe an die Nachbarorte Eschborn, Steinbach oder Oberursel heranrücken. Das Projekt sorgt deshalb für Kontroversen. Im Hochtaunus-Kreis westlich von Frankfurt profitiert man zwar von der nahen Großstadt, will sie aber gleichzeitig auf Abstand halten. Es geht um den Erhalt der landwirtschaftlichen Flächen zwischen den Taunusgemeinden und der nur wenige Kilometer entfernten Großstadt. Es geht um Frischluftschneisen – vor allem aber um das Landschaftsbild und den dörflichen Charakter der Speckgürtelgemeinden. Man arbeitet gerne in der Stadt, will aber auf dem Land leben, sagt Jürgen Banzer, ehemaliger hessischer CDU-Justizminister und Landtags-Abgeordneter des Main-Taunus-Kreises. Er organisiert gerade für kommenden Sonntag einen Protestmarsch gegen die Frankfurter Pläne für einen neuen Stadtteil: "Das bedeutet, dass wir von fünf Standorten aus dem Main-Taunus-Kreis, dem Hochtaunus-Kreis und auch aus Frankfurt, wenn ich es genau weiß, zu einer Stelle in der Nähe der künftig denkbaren Baugebiete wandern werden, dort wird es dann eine Kundgebung geben." "Kein Sturm auf Frankfurt, aber ein sichtbares Zeichen" Doch anders als der SPD-Ortsverein Steinbach vor einigen Monaten wollen die CDU-Gliederungen des Frankfurter Speckgürtels am Sonntag nicht mit dem Frankfurter Planungsdezernenten über seine Pläne diskutieren – sondern lediglich ihren Unmut ausdrücken. Aber, so Jürgen Banzer: "Dann wird es keinen Sturm auf Frankfurt geben, sondern eine ganz friedliche Demonstration, aber schon ein sichtbares Zeichen, dass die Bürger der betroffenen Nachbarstädte die Idee, dass man direkt an der Stadtgrenze einen neuen Stadtteil errichtet, nicht als eine gute Idee ansehen." Doch nicht überall in der Hessen-CDU ist der Protest der eigenen Parteifreunde gern gesehen. Es ist Landtagswahlkampf und es herrscht riesige Wohnungsnot im Rhein-Main-Gebiet. Außerdem: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Nicht ausgeschlossen, dass nach der Landtagswahl am 27. Oktober eine große Koalition nötig wird. Verschiedene Interessen innerhalb Hessens CDU Zudem unterstützt auch der Frankfurter CDU-Stadtverband im Grundsatz die Konzepte des SPD-Planungsdezernenten Mike Josef. Der hält den protestierenden Bürgern aus dem Umland bei seinem Ortstermin in Steinbach über den Lautsprecher entgegen, dass die Speckgürtelgemeinden längst nicht mehr genug bauen: "Noch vor 20 Jahren war zwischen Frankfurt und dem Umland, was die Fertigstellung angeht, die Situation so, dass Frankfurt 50 Prozent der Fertigstellung gemacht hat und die Region auch 50 Prozent. Das war angesichts der Nachfrage. Heute ist die Situation so, dass Frankfurt zwei Drittel der Wohnbaufertigstellung macht und die Region macht ein Drittel." Auch der Organisator der kommenden Demonstration, und Ex-CDU-Minister Jürgen Banzer, ahnt, dass es nicht gut wäre, wenn die Speckgürtel-CDU nun im Landtagswahlkampf so da steht, als ob sie nur die Interessen der oft wohlsituierten Taunus-Bürger verträte. Zumal, wenn die Großstadt-SPD um neuen, bezahlbaren Wohnraum für die urbanen Geringverdiener und die Mittelklasse kämpft. "Wir wollen selbstständige Orte, wie wir sie jetzt haben" Banzer, der selbst in Frankfurt zur Schule gegangen ist und dort einst Theologie studiert hat, weiß ja, wie stark das Umland von der Metropole profitiert - wirtschaftlich, kulturell oder auch durch hervorragende Kliniken. Aber er setzt dennoch auf klare Abgrenzung, erzählt er in seinem Wahlkreisbüro im mondänen Kurbad Homburg am Taunusrand: "Wir wollen nicht, dass die ganze Region ein einziger Siedlungsbrei wird. Sondern wir wollen selbstständige Orte, wie wir sie jetzt haben. Die Menschen, die in diese Region gezogen sind, wollen das und wünschen sich das und wir wollen das stabilisieren. Es ist sowieso klar, die erhebliche Wohnungsnot, die wir in der Region haben, kann man sowieso nicht lösen. Da könnten wir alles bebauen und hätten immer noch nicht alle Fragestellungen gelöst." Statt an ein neues Quartier am Frankfurter Stadtrand denkt Jürgen Banzer eher an Wohnhochhäuser in der Innenstadt der Mainmetropole – oder an neue Siedlungen ganz weit draußen, aber eben nicht vor den Türen von Eschborn oder Bad Homburg: "Die hessische Landesregierung hat gerade eine Offensive für das Land, für die ländliche Entwicklung aufgelegt. Ich glaube, dass das richtig ist. Wir können in anderen Weltmetropolen, schauen sie mal London, da wird bis zu zwei, drei Stunden zur Arbeit gefahren, das wollen wir gar nicht, aber man muss das schon etwas in größeren Zusammenhängen denken." Pendler-Wohnraum bis nach Fulda oder Gießen? Übertragen auf hessische Verhältnisse hieße das etwa: Neubaugebiete rund um Fulda, Gießen oder im Westerwald für die Pendler ins Rhein-Main-Gebiet anstelle von Neubauten in Frankfurt und Umgebung. Ob das aber wirklich ein Wahlkampfschlager für die CDU bei der Landtagswahl am 27. Oktober sein wird? Jürgen Banzer jedenfalls versteht auch seine Parteifreunde in Frankfurt am Main, die das Thema Wohnungsnot in der Stadt nicht allein der SPD überlassen wollen: "Wir graben ja auch nicht das Kriegsbeil aus und gehen da mit Axt und Stangen aufeinander los." Doch lautstark demonstriert werden soll eben doch – am kommenden Sonntag, im Speckgürtel vor den Toren der Mainmetropole.
Von Ludger Fittkau
Die Wohnungsnot in und um Frankfurt ist eines der großen Wahlkampfthemen vor der hessischen Landtagswahl im Oktober. Auch für die CDU. Doch Ortsverbände aus dem Umland stellen sich gegen eine geplante Ausbreitung der Metropole. Sie verteidigen ihr ländliches Idyll gegen die Pläne aus Frankfurt.
"2018-08-16T19:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:06:28.817000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/protest-gegen-geplanten-wohnraum-cdu-im-taunus-will-100.html
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"Er muss sie kennen, sehr nah und sehr eng"
Stefan Heinlein: Heute ist Angela Merkel zurück von den Höhen der Südtiroler Berge in den Niederungen der Berliner Politik. Eine ihrer ersten Wege führt sie am Mittag in die Bundespressekonferenz. Dort wird die Kanzlerin ihren neuen Regierungssprecher Steffen Seibert persönlich vorstellen. Der bisherige ZDF-Mann und Moderator des "heute Journals", wird künftig die Arbeit der schwarz-gelben Regierung erklären und verkaufen. Angesichts der absehbaren Turbulenzen kein einfacher Job, zumal sein Vorgänger, Ulrich Wilhelm, recht große Fußstapfen hinterlässt. Der künftige Intendant des Bayerischen Rundfunks galt als enger Vertrauter der Kanzlerin und war bei den meisten Hauptstadtjournalisten hoch angesehen. – Über die künftige Arbeit von Steffen Seibert möchte ich jetzt reden mit Uwe-Karsten Heye, von 1998 an vier Jahre lang Regierungssprecher von Gerhard Schröder und heute Chefredakteur des "Vorwärts". Guten Morgen!Uwe-Karsten Heye: Einen wunderschönen guten Morgen!Heinlein: Herr Heye, ist Steffen Seibert der richtige Mann an der Seite der Kanzlerin?Heye: Das kann ich nicht beurteilen, muss ich ehrlich sagen. Ich kann für ihn nur hoffen, dass er sich bei seiner Entscheidung sozusagen der Sache bewusst war, auf die er sich da einlässt, und die Voraussetzungen gut kennt, die man braucht, um in dieser Funktion eine angemessene Funktion zu machen.Heinlein: Auf was lässt er sich denn ein und welche Voraussetzungen muss er erfüllen?Heye: Na ja, ich denke, man muss einfach klar zwei Dinge sehen. Erstens: Die Funktion des Bundeskanzlers, der Bundeskanzlerin ist herausgehoben innerhalb des Kabinetts. Das bedeutet aber auch für den Regierungssprecher, dass er möglichst nah, eng, unmittelbar – wie soll ich sagen? -, vertrauensvoll mit der Regierungschefin in diesem Fall also verbunden sein muss, weil er in ihrer Abwesenheit nicht nur den Eindruck erwecken darf, sondern die klare Funktion hat, für sie zu sprechen. Das heißt, er muss sie kennen, sehr nah und sehr eng, wie sie tickt, nach welchen Regeln sie sich selbst verortet und welchen Wertekanon sie dahinter verbirgt. Das alles muss er wissen, damit er weiß, was er zu tun hat.Heinlein: Muss sich Steffen Seibert dieses Vertrauen, diese Nähe zur Kanzlerin erst in den kommenden Wochen und Monaten erarbeiten?Heye: Das mag sein. Deswegen sage ich ja, ich hoffe, er weiß, was seine Entscheidung auch für ihn selber bedeutet. Wenn die beiden sich jetzt erst kennenlernen, dann ist das nicht einfach. Es ist für beide nicht einfach. Ich meine, diese Kanzlerin ist ja nicht gerade eine, die vor Offenheit sprüht und wo man das Gefühl hat, sie ist zu jeder Zeit einem offenen Buch gleich, in dem man blättern kann. Das ist, glaube ich, nicht der Fall, sondern sie ist, glaube ich, eine sehr schwierig zugängliche Person und ich hoffe sehr, dass Seibert, damit er seine Arbeit machen kann, möglichst schnell einen intensiven Zugang zu ihr findet und ihr Vertrauen erobert, wie umgekehrt er ihr Vertrauen dringend braucht.Heinlein: Sie haben Gerhard Schröder schon lange gekannt, bevor Sie Regierungssprecher für ihn wurden, und waren, wenn ich mich richtig erinnere, eine Zeit lang sogar in einer Art Wohngemeinschaft zusammen mit dem Kanzler. War dieses tägliche Zusammensein ein Vorteil für Ihre Arbeit?Heye: Naja, ich habe ihn als Journalist beobachtet und von daher war er mir immer auf eine bestimmte Weise nahe, wie ein Gegenstand, den man eben beobachtet, einem nahe sein kann. Danach kam von ihm aus die Frage und Bitte, ob ich für ihn arbeiten wollte, und ich habe es geknüpft an die Notwendigkeit, dass das wirklich nur funktionieren kann, wenn sich beide Seiten darauf einlassen wollen, und das heißt, eine Beratungsfähigkeit auch da ist, damit man als Sprecher nicht als Beiboot läuft, das irgendwie funktioniert, zu funktionieren hat, aber sozusagen keine eigenen Inhalte vermittelt.Heinlein: Beratungsfähigkeit, Herr Heye. Heißt das, Sie haben am Frühstückstisch morgens schon Gerhard Schröder auch mal ganz kräftig kritisiert?Heye: So ist es. Wir haben fast jeden Morgen, wann immer es möglich war, es sei denn, wir waren irgendwo auf Auslandsreise, im Kleeblatt bei ihm im Büro zusammengesessen, das heißt der Chef des Kanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, seine Büroleiterin und ich und er selbst natürlich, um sozusagen abzuklopfen, was die politische Landschaft an Themen bereithält. Das ist sozusagen die eine Ebene.Die andere Ebene ist, dass man natürlich in vielerlei Situationen unmittelbaren Kontakt zu ihm haben muss und haben kann, und auch die Bereitschaft, diesen Kontakt zu nutzen. Das ist alles notwendig, um diesem ausgebufften Pressekorps in Berlin deutlich zu machen, da sitzt jemand, der nicht heiße Luft produziert.Heinlein: Herr Heye, Sie haben es erwähnt: die meisten Regierungssprecher – Sie auch – waren vor ihrem Job zumeist Journalisten. Woran liegt das?Heye: Das liegt daran, dass man für die, für die man spricht, in eine Medienlandschaft hinein denken muss, die man kennen muss. Man muss die Gesetzmäßigkeiten drauf haben, die da eine Rolle spielen. Ich weiß, das war bei Wilhelm nicht ganz so der Fall, aber er hat sich dort, glaube ich, ganz gut darauf eingestellt, so weit ich das bewerten und beurteilen kann. Das ist sozusagen die eine Ebene.Die andere Ebene ist, dass man etwas in Berlin bedenken muss, was ganz, ganz notwendig ist. Dort ist man nicht derjenige, der Journalisten zitiert, sondern Journalisten zitieren den Regierungssprecher. Die Bundespressekonferenz als Ergebnis der Schreckenserfahrung der Nazi-Zeit ist das Forum, das die Regierung einlädt, und dort werden die Themen bestimmt und nicht durch die Regierung, wenn es auch natürlich einen inneren Zusammenhang gibt, den ich nicht kleinschreiben will.Heinlein: Herr Heye, Ulrich Wilhelm, wir wissen es, wird zum Jahreswechsel Intendant des Bayerischen Rundfunks. Steffen Seibert wechselt vom ZDF in die Politik. Was ist der Grund für dieses Wechselspiel zwischen Öffentlich-rechtlichem und der Politik?Heye: Das ist schwer zu sagen. Es hängt, glaube ich, an den Personen. Ich bin nicht so sicher, ob man immer unmittelbar aus dem politischen Raum in eine so herausgehobene journalistische Funktion, oder in eine mediale Funktion wie der Intendant einer Rundfunkanstalt, wechseln kann oder wechseln soll. Ich hoffe sehr, dass Wilhelm weiß, dass er da nicht der Zuschläger der CSU ist, sondern derjenige ist, der das öffentlich-rechtliche journalistische System fördern und bewahren muss. Das ist eine andere Rolle. Ich wünsche ihm Glück und hoffe, dass er das kann.Umgekehrt: Seibert ist einfach ein, wie ich glaube, durch das, was man sehen konnte, jemand, der als Ankerman im "heute journal" doch schon auch bewiesen hat, dass er keiner ist, der sozusagen fixiert ist, ideologisch, sondern einer, der sehr offen nachdenklich ist. Das kann ihm helfen in der Landschaft, in die er sich da hinein begibt.Heinlein: Er hat sich dennoch, Herr Heye, ein Rückkehrrecht zum ZDF offen gelassen. Braucht er sich also keine Gedanken machen über seine künftige Karriere, sollte nach drei Jahren oder schon früher Schluss sein?Heye: Na ja, das kommt immer darauf an, wie er in der Funktion, in der er jetzt ist, sich bewährt. Das Rückkehrrecht zum ZDF ist ja kein Rückkehrrecht ins "heute journal", sondern da gibt es viele Möglichkeiten.Heinlein: Intendant zum Beispiel.Heye: Ja, das wäre vielleicht etwas hoch gegriffen. Ich glaube nicht, dass wir diese Art von politisch vorbestimmter Karriere im Journalismus gebrauchen können. Das ist aber eine andere Ebene, ich lasse das mal außen vor. Ich glaube, dass er recht hat. Das ist eine Funktion als Regierungssprecher, wo man auch die Möglichkeit haben muss zu sagen, stopp, ich merke, das funktioniert hier nicht, sei es in der unmittelbaren Beziehung zur Kanzlerin, sei es aus anderen Gründen, und zu sagen, okay, ich bin hier frei genug, um zu sagen, Schluss, das ist der falsche Weg gewesen.Heinlein: Schluss jetzt auch für dieses Interview, Herr Heye. Heute Morgen im Deutschlandfunk der ehemalige rot-grüne Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, heute Chefredakteur des "Vorwärts". Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.Heye: Es war mir ein Vergnügen.
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Steffen Seibert wird heute offiziell von der Kanzlerin als neuer Regierungssprecher vorgestellt. Uwe-Karsten Heye, selbst vier Jahre der Sprecher Gerhard Schröders, sagt Seibert eine nicht ganz einfache Zeit voraus: Die Kanzlerin sprühe ja nicht gerade vor Offenheit.
"2010-08-16T06:50:00+02:00"
"2020-02-03T18:09:55.658000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/er-muss-sie-kennen-sehr-nah-und-sehr-eng-100.html
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