title
stringlengths
4
162
content
stringlengths
0
186k
author
stringlengths
0
173
teasertext
stringlengths
16
1.92k
created_at
unknown
first_published_at
unknown
url
stringlengths
43
158
__index_level_0__
int64
0
92.1k
Springer spaltet noch immer
In der kritischen Würdigung schwingt ein Hauch von Selbsterkenntnis mit. "Was wären wir ohne unsere Wut auf Springer? Und was wären die Springerleute ohne ihre Verachtung der außerparlamentarischen Opposition?" Diese Fragen stammen von dem Bestsellerautor und Fernsehjournalisten Tilman Jens. Pünktlich zum Jubiläumstag widmet er sich in seinem neuen Buch dem "deutschen Feindbild" Axel Cäsar Springer . Doch was ist übrig geblieben von diesem Feindbild? Von dem Hass auf den größten Verleger der Nachkriegszeit, den Studenten in einem Flugblatt mit dem nationalsozialistischen Hetzer Julius Streicher verglichen? Von dem Zorn Heinrich Bölls, der Springer wegen Volksverhetzung verklagen wollte? Tilman Jens ist selbst erstaunt, dass seine Antwort so eindeutig ausfällt, schließlich war Bild-Chefredakteur Kai Diekmann 1967 gerade einmal drei Jahre alt."Das Feindbild existiert."."Die Wut und der Hass, mit dem etwa Kai Diekmann gegen die 68er schießt, und die sind an allem Schuld: an den Windrädern und an der anti-autoritären Erziehung, am Werteverfall und so weiter -, da sieht man schon, da sitzt noch sehr viel, sehr tief."Inmitten von Tilman Jens' Lehrstück über Schurken und Helden ertappt sich der Bestsellerautor dabei, wie ein Stück seiner eigenen Hassidentität, wie er es nennt, ins Rutschen gerät. Nach der Durchforstung des Medienarchivs 68, das der Springer Verlag im Jahr 2010 öffentlich zugänglich machte, kam er zu der Erkenntnis, dass bei Bild und BZ nicht nur "abgerichtete Gesinnungsschreiber", wie er es nannte, am Werke waren. Der politisch von der 68er Bewegung geprägte Tilman Jens nähert sich damit dem jüngeren Autor Tim von Arnim an. Der 1975 geborene Wirtschaftswissenschaftler hat sich anlässlich des Jubiläums ebenfalls mit Axel Springer beschäftigt - allerdings nicht mit seinen politischen Missionen, sondern mit seiner Leistung als Unternehmer. In seiner Biografie mit dem bezeichnenden Titel "Und dann werde ich das größte Zeitungshaus Europas bauen" zeichnet von Arnim den Aufstieg Springers nach. Von den Anfängen im Bendestorfer Schweinestall bis zum größten Zeitungshaus der Bundesrepublik mit einem Umsatz von 2,5 Milliarden Mark und über 10 000 Beschäftigten. Doch anders als der 1954 geborene Jens kennt von Arnim die Wut auf Springer nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus dem Archiv. Die Woge der Empörung, ausgelöst durch die einseitige Berichterstattung über die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg, erscheint ihm aus heutiger Sicht fremd. Die aufgebrachten Studenten, von BZ und Bild damals als "linksradikale Randalierer", "rote Agitatoren" und "unrasierte Wegelagerer" verunglimpft, erscheinen wie Lebewesen von einem anderen Planeten."Der Springer Verlag ist natürlich nicht mehr dieser polarisierende Brennpunkt, der er Ende der 60er Jahre als größtes Zeitungshaus und größtes Zeitschriftenhaus in Deutschland war. Ganz im Gegenteil, ich würde sogar sagen, dass bestimmte Qualitäten Springers heute (...) wiederum einen ganz anderen Stellenwert haben. Man viel stärker seine unternehmerische Leistung sieht, seine verlegerische Leistung, seine Kreativität, seine Innovation, und die ein Stück weit auch bewundert."Zwei Autoren, zwei Meinungen. Springer spaltet noch immer. 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, für die der Verleger vergeblich kämpfte, gilt der Konzern weiterhin als Inbegriff publizistischer Doppelmoral. Als mediale Großmacht zwischen Busen und Bundestag, zwischen Millionären und Mindestlohnverdienern. Auch in den Büchern von Jens und von Arnim spiegelt sich diese Polarisierung wider. Genau das macht die Lektüre jedoch interessant. Die Autoren ergänzen einander durch ihre unterschiedliche Ausrichtung und verhelfen dem Leser zu einem umfassenderen, weniger aufgeregtem Springerbild. Während von Arnim dem Verlag eine Öffnung bescheinigt, steht für Autor Tilman Jens die geistige Emanzipation vom Gründervater noch aus."Das ist ja das Spannende an dem Mann. Dass er von beiden Seiten überschätzt wurde. Die einen haben ihn (...) als gefährlichen Manipulator gesehen, und die anderen glorifizieren ihn jetzt als Stifter der Einheit. Das ist viel, viel zu hoch. Ich glaube, bei Springer hält man schon noch sehr an diesem Mythos fest, ohne ihn beschreiben zu können, was daran so einmalig war, an diesem Mann, der ein guter Unternehmer war, aber bestimmt weder noch ein großer Journalist, noch ein bedeutender Redner noch etwa ein Mann mit Utopien."Unterschiedlicher könnte die Bewertung Springers nicht ausfallen. Autor Tilman Jens beschreibt süffisant, wie Springer in all seinen politischen Missionen scheitert. Tim von Arnim hingegen macht aus seiner Bewunderung für den Verleger keinen Hehl, auch wenn diese sich manchmal hinter langatmigen Schilderungen von Umsatzrenditen, Anzeigenquoten, Marketingstrategien und Tiefdruckkapazitäten versteckt. In einem Punkt jedoch sind sich beide Autoren in ihrer Bewertung Springers einig. Der Verleger aus Altona war ein höchst widersprüchlicher Mensch. So kultivierte er eine tiefe religiöse Inbrunst und hasste zugleich linksliberale protestantische Theologen. Er war ein Feind Rudolf Augsteins und stimmte dennoch 1965 einem zehnjährigen Druckauftrag des Spiegels in seiner Tiefdruckerei in Ahrensburg zu. Besonders eklatant war der Widerspruch bei seinem Verhältnis zu Israel. So machte Springer die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen zum verlagsinternen Grundsatz. Gleichzeitig aber beschäftigte er Altnazis wie den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Horst Mahnke und den Stürmer-Karikaturisten Wolfgang Hicks. Tim von Arnim wagt einen Erklärungsversuch: "Vieles in seiner Widersprüchlichkeit liegt in seiner Emotionalität, in seiner Neigung, weniger analytisch zu agieren denn intuitiv, aus dem Bauch heraus. So sind viele Personalentscheidungen zu verstehen, wo er auf für uns teilweise befremdliche Art differenzieren kann zwischen der (...) belasteten Vergangenheit von bestimmten Personen und seinem großen Israel-Ethos."Tilman Jens löst den Widerspruch auf. Nicht die ambivalente Persönlichkeit Springers sei das Problem, sondern die deutsche Gesellschaft, die Schwierigkeiten damit habe, ambivalente Charaktere zu ertragen. Er plädiert für ein bescheidenes "Ecce homo": Seht her, ein Mensch mit Licht und Schatten.Tilman JensAxel Cäsar Springer. Ein deutsches Feindbild, Herder Verlag, 177 Seiten, 16,99 Euro.ISBN: 978-3-451-30542-9Tim von Arnim"Und dann werde ich das größte Zeitungshaus Europas bauen" - Der Unternehmer Axel Springer Campus Verlag, 410 Seiten, 34,90 Euro.ISBN: 978-3-593-39636-1
Von Astrid Prange
Die "Bild"-Zeitung wurde das Zentralorgan seines politischen Gesellschafts- und Weltbildes, an dem sich die Geister schieden und die 68er rieben: Aus Anlass des 100. Geburtstages von Axel Cäsar Springer sind zwei Bücher auf den Markt gekommen, die sich dem Verleger auf ganz unterschiedliche Weise nähern.
"2012-04-30T19:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:09:13.629000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/springer-spaltet-noch-immer-100.html
91,028
Die Waffen ruhen
Die Verhandlungen fanden in Minsk statt. (AFP / VASILY MAXIMOV) Nach dem Treffen der Kontaktgruppe mit Vertretern der OSZE, der Ukraine, Russlands und der Rebellen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ordnete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Feuerpause für das Konfliktgebiet Donbass an. Die Waffenruhe begann am Freitag um 18 Uhr Ortszeit (17 Uhr MESZ). Neben der Waffenruhe wurde Unterhändlern zufolge auch ein Truppenabzug und der Austausch aller Gefangenen vereinbart. Geplant sind auch Hilfstransporte. Poroschenko lobte die jüngsten Vermittlungsbemühungen der EU und hob auch einen Appell von Kremlchef Wladimir Putin hervor, der die Separatisten zum Dialog mit der ukrainischen Regierung aufgefordert hatte. "Die ganze Welt strebt nach Frieden. Nach Frieden strebt die ganze Ukraine - einschließlich der Millionen Bewohner des Donbass", sagte Poroschenko. Die Ukraine hatte zuvor lange Zeit Verhandlungen mit den von Russland unterstützten Separatisten abgelehnt. EU weitet Sanktionen dennoch aus Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte eine Aussetzung der geplanten neuen Sanktionen gegen Russland in Aussicht, falls die Waffen wirklich schweigen und es zu einer deutlichen Entspannung der Lage kommen sollte. Die Europäische Union verständigte sich am Abend dann aber auf neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Nach Angaben von EU-Diplomaten wurde eine "grundsätzliche Einigung auf eine Ausdehnung der Sanktionen gegenüber Russland erzielt". Das Sanktionspaket solle am Montag "im schriftlichen Verfahren" offiziell beschlossen werden. Die verschärften Sanktionen sollen den Zugang Russlands zu europäischen Finanzmärkten betreffen. US-Präsident Barack Obama sieht die Chancen auf eine Waffenruhe in der Ukraine noch mit Skepsis und fordert, an der Sanktionspolitik gegen Russland vorerst festzuhalten. "Wir sind natürlich hoffnungsvoll, was das Abkommen für eine Waffenruhe angeht, aber aufgrund früherer Erfahrungen auch skeptisch", sagte Obama. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte in New York, notwendig sei nun eine glaubwürdige Überwachung des Abkommens. Er forderte die Konfliktparteien auf, weiter den Dialog zu suchen. Heftige Kämpfe in der Ostukraine Unmittelbar vor der Vereinbarung in Minsk wurde in der Ostukraine noch gekämpft. Unklar war die Lage vor allem in der 500.000-Einwohner-Stadt Mariupol. Interfax zitierte einen Angehörigen der Rebellen, wonach die ersten Einheiten bereits in die Hafenstadt vorgedrungen sind. Ein ukrainischer Militärsprecher erklärte dagegen, dass man die Separatisten zurückgedrängt habe. Die Hafenstadt am Asowschen Meer liegt strategisch wichtig auf etwa halbem Weg zwischen der russischen Grenze und der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Zudem ist sie bedeutend für den ukrainischen Stahlexport. Die Kämpfe zwischen den ukrainischen Regierungssoldaten und den prorussischen Separatisten hatten Mitte April begonnen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bislang fast 2.600 Menschen in dem Konflikt ums Leben kamen. Mindestens 340.000 Menschen sind geflüchtet. Die Ukraine und der Westen werfen Russland vor, die Rebellen mit Waffen und regulären Truppen zu unterstützen. Russland bestreitet das und stellt den Konflikt als innerukrainische Angelegenheit dar. (pg/ach)
null
Nach monatelangen Kämpfen in der Ostukraine haben die ukrainische Führung und die prorussischen Separatisten erstmals gemeinsam eine Waffenruhe vereinbart. Beide Seiten bestätigten das Ende der Kämpfe seit dem Abend. Auch sollen Gefangene ausgetauscht werden.
"2014-09-05T11:31:00+02:00"
"2020-01-31T14:02:23.126000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ost-ukraine-die-waffen-ruhen-100.html
91,029
"Bei den Kontrollen nicht nachlassen"
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour bei einer Rede im Bundestag am 14.01.2016. (imago / Jens Jeske) Es sei zwar besorgniserregend, dass der Iran sich derzeit wieder um waffenfähiges Plutonium bemühe, so Nouripour. Gleichzeitig hätte man davon ohne das Abkommen aber gar nichts gewusst - und es hätte auch keine Inspektionen durch die Internationale Atomenergiebehörde gegeben. Deren Bericht müsse nun abgewartet werden, bevor man das Abkommen "bei den ersten Schwierigkeiten beiseite" schiebe. "Auch die kritischen Fragen gehören auf den Tisch" Die Sanktionen der USA sieht Nouripour kritisch. Regierung und Parlament handelten uneinheitlich. Außerdem seien die geschäftlichen Beziehungen zum Iran wichtig. "Die Gesellschaft ist gut ausgebildet und die Leute haben Sehnsucht nach internationalen Kontakten." Das Land sei ein gutes Beispiel für "Wandel durch Annäherung." Gleichzeitig dürften aber auch die Menschenrechte nicht aus dem Blick verloren werden: "Auch die kritischen Fragen gehören auf den Tisch." Das Interview in voller Länge Sandra Schulz: Es könnte ein Land voller Möglichkeiten sein, aber so richtig merkt das im Iran eigentlich kaum einer. Heute vor einem Jahr wurde das als historisch gefeierte Atomabkommen mit dem Iran unterzeichnet, mit dem Ende der Sanktionen jetzt zum Jahreswechsel. Aber inzwischen wächst auf allen Seiten wieder die Unzufriedenheit. Der Westen wirft dem Iran Verstöße gegen das Abkommen vor. Es gab Berichte des deutschen Verfassungsschutzes, dass der Iran 2015 verstärkt versucht habe, illegal Material für Nuklearwaffen zu beschaffen, was Teheran bestreitet, vor allem bestreitet, gegen die Verabredungen verstoßen zu haben, und in Teheran fragen sich vor allem viele, wann kommen die Geschäfte in Gang. Wir wollen darüber in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Guten Morgen. Omid Nouripour: Schönen guten Morgen. Schulz: Sie haben das Atomabkommen mit dem Iran befürwortet. Sie nannten es damals einen historischen Durchbruch. Die Einschätzung steht noch? Nouripour: Es ist richtig, dass ohne dieses Abkommen der schnellste Weg der Iraner bereitet gewesen wäre zu einer Atombombe, und dass auf diplomatischem Wege ein Abkommen erzielt worden ist, ist gut. Schulz: Wie bewerten Sie jetzt die Meldungen, wonach es Versuche gegeben hat aus dem Iran oder vonseiten des Iran, jetzt doch wieder illegal an Nuklearmaterial heranzukommen? Nouripour: Das ist sehr besorgniserregend, aber am Ende ist entscheidend, dass tatsächlich die Internationale Agentur für Atomenergie das beurteilt, und darauf warten wir, dass dort ein Bericht kommt. Aber man muss noch mal wissen: Wenn es kein Abkommen gegeben hätte, hätte es keinerlei Inspektion gegeben und wir hätten diese Meldungen nicht, obwohl die Iraner dann sich weiterhin darum bemüht hätten, möglicherweise waffenfähiges Plutonium zu bekommen. "Man muss abwarten, was die Inspektionen bringen" Schulz: Ist es denn jetzt klar, oder lässt es sich klären, anders als vorher, anders als vor dem Abkommen, ob sich Teheran auch daran hält? Nouripour: Es ist abschließend wahrscheinlich nicht zu klären, es sei denn, es gibt wirklich ein klares Regime von Inspektionen, und das ist Teil des Deals und das ist das Starke daran gewesen. Deshalb muss man einfach abwarten, was die Inspektionen bringen und welchen Bericht es gibt der unabhängigen Stelle der Agentur, die das alles überwachen soll. "Es muss Kontrolle stattfinden" Schulz: Es hat Kritik gegeben an der Fortsetzung des konventionellen Raketenprogramms. Das hat neulich die Kanzlerin im Bundestag auch ganz deutlich gesagt. Ist es klar, dass und ob Teheran seine nuklearen Ambitionen eingestellt hat? Nouripour: Es ist nicht eindeutig, was mit den Ambitionen wird, und es ist ja auch nicht besonders einfach, in ein so fragmentiertes und nicht besonders transparentes Regime auch noch in die Köpfe der Leute zu gucken. Deshalb ist die Antwort, ich weiß es nicht. Ich habe niemals dafür plädiert und das hat auch von denen, die verhandelt haben, niemand gemacht. Niemand hat dafür plädiert, dass wir jetzt sagen, der Iran wird ab morgen unser großer strategischer Partner und es basiert alles auf Vertrauen. Es basiert auf Kontrolle und deshalb muss die Kontrolle auch stattfinden, und dann werden wir weitersehen, wieweit der Iran bereit ist, sich tatsächlich an das zu halten, was vereinbart worden ist bei diesem Abkommen. Schulz: Jetzt sind wir in der Situation, dass die USA teilweise schon wieder neue Sanktionen verhängt haben. Ergibt oder ergäbe es nicht Sinn, dass Europa dann nachzieht, alleine um dieses Fragmentarische, was Sie ja auch gerade schildern, zu vermeiden? Nouripour: Das Problem an den USA ist derzeit, dass die Regierung und das Parlament relativ weit auseinanderliegen in ihrem Handeln. Die Sanktionen, die Sie angesprochen haben, die sind ja vom Kongress vor allem angestrebt worden, während gleichzeitig John Kerry, der Außenminister, sich in London getroffen hat mit Banken, um mit denen darüber zu reden, dass die doch jetzt endlich ins Iran-Geschäft einsteigen sollen, damit die Finanzierungsschwierigkeiten, die wir gerade im Beitrag ja auch gehört haben, endlich beseitigt sind und die Leute im Iran auch was davon haben, dass die Sanktionen weg sind. Das ist nicht ganz einheitlich, was in den USA passiert. Ich kann nur davor warnen, dass man jetzt ein Abkommen, was sehr viel Arbeit mit sich gebracht hat und aus meiner Sicht auch Riesenpotenzial hat, um ein großes Problem zu befrieden im Nahen Osten, jetzt bei den ersten Schwierigkeiten bei Seite schiebt, sondern einfach abwarten, wie es weitergeht und die Kontrolle natürlich nicht nachlassen. "Die kritischen Fragen gehören auch auf den Tisch" Schulz: Jetzt war es ja so, um auf die iranische Seite mal zu kommen, dass es auch allergrößte Hoffnungen gegeben hat, wirtschaftlich zum einen, das ist der eine Punkt, aber auch gesellschaftlich vielleicht hin zu einer gesellschaftlichen Öffnung, zu einer offeneren Gesellschaft. Diese Hoffnungen, sind die denn ansatzweise eingelöst? Nouripour: Jein. Es gibt zwei Dimensionen, die man sich anschauen muss. Erstens muss man sehen, dass wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, die sehr gut ausgebildet ist, und dass es ein Land ist, wo die Leute eine riesige Sehnsucht haben nach internationalen Kontakten und Ende der jahrzehntelangen Isolation. Das ist das eine Land mit der besten Affinität für so was wie Wandel durch Annäherung. Aber das funktioniert natürlich, wenn die Geschäfte laufen, und die Geschäfte laufen zurzeit schleppend, weil es keinen Goldrausch gibt, keine Goldrausch-Stimmung gibt, auch in den deutschen Firmen nicht mehr, allein deswegen schon, weil alle abwarten, wie die nächsten US-Präsidentschaftswahlen ausgehen. Wenn Trump gewinnt, ist das eine ganz andere Angelegenheit auch für das Iran-Geschäft, als wenn Clinton gewinnen würde. Das Zweite ist aber, dass die Isolation natürlich erst recht beendet werden sollte in der Frage des Ansprechens der Menschenrechte. Ich habe viel zu tun mit Menschenrechtsaktivisten und vor allem Aktivistinnen im Iran, die ziemlich enttäuscht sind, dass gerade der Westen jetzt plötzlich nur noch über Geschäfte redet und nicht mehr über die Menschenrechtssituation im Land, die weiterhin dramatisch ist. Das heißt, man darf das eine nicht vergessen und das andere auch nicht lassen. Wir brauchen die geschäftlichen Beziehungen mit dem Iran. Die sind hilfreich, die helfen auch den Leuten im Land, das ist keine Frage. Aber die kritischen Fragen gehören auch auf den Tisch. Schulz: Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk im Interview. Ihnen ganz herzlichen Dank dafür. Nouripour: Ich danke Ihnen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Omid Nouripour im Gespräch mit Sandra Schulz
Der Grünen-Politiker Omid Nouripour warnt davor, das Atomabkommen mit dem Iran trotz nicht eingehaltener Vereinbarungen aufzugeben. "Es hat das Potenzial, ein Riesenproblem im Nahen Osten zu befrieden," sagte er im DLF. In den Beziehungen zum Iran dürfe allerdings die Frage nach Menschenrechten nicht außer Acht gelassen werden.
"2016-07-14T08:20:00+02:00"
"2020-01-29T18:40:57.930000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-atomabkommen-mit-dem-iran-bei-den-kontrollen-nicht-100.html
91,030
Die Uneinigkeit bleibt
In einem Schlauchboot erreichen Flüchtlinge die griechische Insel Lesbos: Über ihr Schicksal wird auf dem EU-Gipfel entschieden (picture alliance / dpa / Yannis Kolesidis) "Die Entscheidungen sind alle da – wir müssen jetzt alle mitmachen, dass das europäisch auch gelöst wird. Dann sehe ich keine Probleme, dass wir das auch schaffen können." Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn gibt sich optimistisch. Aber die Umsetzung von Beschlossenem ist eben in den EU-Ländern teilweise mehr als mangelhaft, kritisierte EU-Kommission-Vizepräsident Frans Timmermans: "Offen gesagt – die EU-Länder sollten jetzt einfach tun, was sie beim letzten Gipfel versprochen haben." Versprochen haben sie, die von der EU-Kommission bereit gestellten Mittel in Milliarden-Höhe durch nationale Mittel zu ergänzen, um Syriens Nachbarländer und die Vereinten Nationen dabei zu unterstützen, die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern zu verbessern. Umsetzung? Weitestgehend Fehlanzeige. Nur wenige Länder haben das bis jetzt getan. Verpflichtet haben sie sich, weitere 1.000 nationale Experten zur Verfügung zu stellen, die beim Aufbau der sogenannten "Hotspots" in Griechenland und Italien zur geordneten Registrierung der ankommenden Menschen helfen sollen, beziehungsweise die EU-Grenzschutzagentur Frontex verstärken sollen. Frontex soll deutlich mehr Aufgaben übernehmen, etwa bei der Rückführung von möglichst schon an den Außengrenzen als nicht asylberechtigt identifizierten Ankömmlingen. "Die EU-Kommission beunruhigt die Lücke zwischen den Verabredungen im September und dem, was jetzt auf dem Tisch liegt." Auch was die hart errungene Verteilung von 160.000 Schutzbedürftigen in den kommenden zwei Jahren aus Italien und Griechenland auf alle EU-Länder angeht, fehlen noch immer konkrete Angebote von den meisten Ländern, in welchem Zeitraum sie die ersten dieser Menschen aufnehmen. Tusk: Schutz der EU-Außengrenzen hat zentrale Bedeutung Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise kommt nach Ansicht von EU-Ratspräsident Tusk, dem Schutz der EU-Außengrenzen die zentrale Bedeutung zu: "Wir müssen unsere Politik der offenen Türen korrigieren. Der Fokus sollte nun auf der ordentlichen Kontrolle der EU-Grenzen liegen und der ordentlichen Unterstützung der Flüchtlinge in unseren Nachbarländern." Spätestens da kommen die Beziehungen zur Türkei ins Spiel. Die EU-Kommission führt politische Gespräche mit Ankara; die Bundeskanzlerin wird am Wochenende Nämliches tun – alles der Erkenntnis geschuldet, dass der Türkei als Durchgangsland vieler Asylbewerber auf dem Weg in die EU eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise zukommt. Die Regierung Erdogan erwartet von den Europäern Gegenleistungen – politische und finanzielle – wenn sie sich bereit erklären soll, die Lage der über zwei Millionen Flüchtlinge in ihren Grenzen so zu verbessern, dass sich nicht viele von ihnen letztlich auch auf den Weg in die EU machen. Vize-Kommissionspräsident Timmermans: Die EU braucht die Türkei "Die EU braucht die Türkei und umgekehrt. Vielleicht ist jetzt der Moment, Dinge voranzutreiben, über die schon länger intensiver hätte gesprochen werden sollen, zum Beispiel Visa-Erleichterungen für türkische Bürger," meint EU-Vize-Kommissionspräsident Timmermans. Dazu gehört die noch ungeklärte Frage, ob die Türkei künftig als sicheres Herkunftsland gelten kann. Diskussionen: ja. Beschlüsse heute: nein. Das gilt auch für Pläne der EU-Kommission, den Schutz der EU-Außengrenzen perspektivisch weniger national, sondern stärker europäisch zu organisieren. Und das gilt für Reparaturarbeiten am mittlerweile diskfunktionalen Dublin-System, nach dem die Aufnahme von Flüchtlingen prinzipiell einigen wenigen Ländern mit EU-Außengrenzen obliegt. Der grünen EU-Abgeordneten Ska Keller gehen die Diskussionen im Grunde in die falsche Richtung: "Was der Europäische Rat beschließen sollte, ist: Wie verstärken wir die Aufnahmekapazitäten; wie bekommen wir es hin, dass alle Staaten ein ordentliches Asylsystem haben; wie verteilen wir die Flüchtlinge anders und fairer – aber mit diesen Fragen werden sie sich überhaupt nicht auseinandersetzen, sondern einfach nur auf die Grenzen und die Abschottung setzen. Und das wird einfach das Problem nicht lösen." Mangels Beschlussfähigem kann es gut sein, dass aus dem geplanten zweitägigen EU-Gipfel ein eintägiger wird.
Von Annette Riedel
Heute beginnt in Brüssel der Flüchtlingsgipfel. Im Mittelpunkt stehen die Umsetzung der Beschlüsse des letzten Gipfels sowie die Rolle der Türkei in der Flüchtlingsfrage. Nach Ansicht von EU-Ratspräsident Tusk kommt momentan dem Schutz der EU-Außengrenzen eine zentrale Bedeutung zu. Viel Hoffnung auf Einträchtigkeit bei dieser und anderen Fragen besteht aber nicht.
"2015-10-15T06:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:04:21.953000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-fluechtlingsgipfel-die-uneinigkeit-bleibt-100.html
91,031
Brace yourself: Brexit is coming
Blick auf Big Ben in London (imago/Photocase) Die Brexit-Vereinbarung steht, nun kommt es darauf an, ob auch die britische Regierung und das Unterhaus das akzeptieren, was Theresa May in Brüssel verhandelt hat. Unser London-Korrespondent Friedbert Meurer berichtet, wo er die Schwierigkeiten sieht und erklärt, worum es den Brexit-Hardlinern geht. Wir steigern das Bruttoinlandsprodukt Das deutsche BIP ist gesunken - um 0,2 Prozent. Theo Geers, Wirtschaftsredakteur in unserem Hauptstadtstudio, erklärt die Zusammenhänge dahinter, erläutert, warum Wachstum für unsere Gesellschaft wichtig ist, man aber auch die Nachteile nicht vergessen darf.
Von Ann-Kathrin Büüsker
Wird Theresa May ihre eigene Regierung und ihr Unterhaus von der Brexit-Vereinbarung überzeugen können? Der Showdown in London beginnt. Außerdem: Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland sinkt. Warum es der Wirtschaft bei uns trotzdem gut geht und wieso nicht alle davon profitieren.
"2018-11-14T17:00:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:31.357000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-brace-yourself-brexit-is-coming-100.html
91,032
Nationalversammlung verabschiedet französisches Klimagesetz
Demonstranten fordern in Marseille eine andere Klimapolitik (imago / ZUMA / Denis Thaust) Dass das Klimagesetz für so viel Diskussion in der Gesellschaft sorgt, war im Halbrund der Nationalversammlung kaum spürbar. Noch weniger Abgeordnete als zugelassen waren bei den Debatten anwesend. Ohnehin darf wegen der Coronaregeln nur die Hälfte persönlich erscheinen. Dennoch versuchte Umweltministerin Barbara Pompili Enthusiasmus zu verbreiten: "Dieses Gesetz in eine echte, umfassende kulturelle Wende! Es wird aus der Ökologie eine alltägliche Realität machen. Der Text liegt jetzt vor Ihnen. Ich glaube, er ist eine Chance für ein Erbe, auf das wir alle stolz sein können!" Der Abgeordnete Matthieu Orphelin hat die Präsidentenpartei "La République en Marche" verlassen, weil ihm deren Umweltpolitik zu wenig fortschrittlich ist. Auch von dem neuen Gesetz hält er nichts, wie er in der Nationalversammlung versicherte. "Sie haben in diesem Gesetz alle guten Maßnahmen verpasst. Ich glaube das ist ein Fehler, aber es ist eine politische Entscheidung." Erfolgreiche Klimaklagen - Deutsches Klimagesetz in Teilen verfassungswidrigDem deutschen Klimaschutzgesetz fehlen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Maßgaben, wie der Treibhausgas-Ausstoß nach 2031 reduziert werden solle. Bis Ende 2022 müsse der Gesetzgeber hier nachbessern. Auslöser für das Urteil waren mehrere Klimaklagen. Umweltaktivisten enttäuscht Was den einen nicht weit genug geht, ist den anderen schon zu viel. Die rechte und konservative Opposition wollte vor allem möglichst viele Artikel verhindern. Wirtschaft und Gesellschaft sollen nach der Pandemie nicht noch durch zusätzliche Auflagen belastet werden – so das Argument. Das umfassende Gesetz betrifft so gut wie alle Bereiche des Lebens: Reisen, Wohnen, Essen oder die Arbeit. Die meisten der 7.000 Änderungsanträge, die auf eine Verschärfung der Maßnahmen zielten, wurden abgelehnt. Delphine Batho, ehemalige Umweltministerin und heute fraktionslose Abgeordnete, zeigt sich enttäuscht. "Das Projekt der Regierung hatte, als es hier angekommen ist, den 149 Vorschlägen des Bürgerkonvents schon den Rücken gekehrt. Die einzige Frage, die sich stellte, war: Wird das Parlament dem abhelfen? Die Antwort ist leider: Nein! Die Veränderungen sind marginal. Sie haben die Grundlage eines Gesetzes nicht verändert, das nicht einmal zehn Prozent der Vorschläge des Bürgerkonvents konkretisiert. Man hat uns hier gesagt: Wir haben Zeit, wir machen das später – erst kommen Wachstum und Konsum." Ausnahmen und Abschwächungen Erweitert haben die Abgeordneten die Gesetzesteile für die Renovierung schlecht isolierter Wohnungen. Nach dem neuen Gesetz könnte die Regierung über vier Millionen Mietobjekte verbieten. "Augenwischerei" sagen Opposition und Umweltverbände. Mieter müssten sich dafür gegen ihre Vermieter stellen. Das würde kaum passieren. Heftig diskutiert und schließlich verschärft wurden die Regeln zu vegetarischen Gerichten in staatlichen Kantinen. Ab 2023 müssen die Küchen in Verwaltung, Armee oder staatlichen Krankenhäusern täglich eine fleischlose Mahlzeit anbieten. Entgegen der Vorschläge des Bürgerkonvents für das Klima bleibt auch die Werbung für Produkte, die die Umwelt verschmutzen, weiter erlaubt. Lediglich Werbung für fossile Energie wird verboten. Auch Ausnahmen und Abschwächungen mindern die Effizienz des Gesetzes, sagen Kritiker. So haben die Abgeordneten zwar beschlossen, dass große Geschäftszentren, die viel Fläche in Anspruch nehmen, nicht mehr gebaut werden dürfen. Allerdings gilt dies nicht, wenn sie kleiner als 10.000 Quadratmeter sind. Genau diese Geschäfte jedoch machen laut Umweltverbänden 80 Prozent der Neubauten aus. Die neue Klimadiplomatie der USAUS-Präsident Joe Biden will die Vereinigten Staaten zurück auf das Parkett der internationalen Klimadiplomatie führen. Er hat ambitionierte Klimaziele ausgegeben und einen internationalen Klimagipfel einberufen, an dem auch China und Russland teilnehmen. Ein Überblick. Opposition will Druck machen Auch aus dem viel zitierten "Verbrechen Ökozid" wird nichts. Besonders schlimme Umweltverschmutzung wird nur noch als einfaches Vergehen eingestuft. Und schließlich werden auch nur die Inlandsflüge über Strecken gestrichen, die man genauso gut in zweieinhalb Stunden mit einem Schnellzug zurücklegen kann. Die Mitlieder des Bürgerkonvents hatten dies für Strecken von vier Stunden mit dem Zug verlangt. Sylvain Burquier, Mitglied des Bürgerkonvents warnt. "Die Regierung hat erklärt, dass sie den CO2-Ausstoß um 40 Prozent verringern will. Die Europäische Union will sogar um 55 Prozent und China um 65 Prozent verringern. Das Gesetzesvorhaben kommt allenfalls auf etwa 20 Prozent. Wir hinken hinterher. Und die Dringlichkeit dieses Themas duldet kein Hinterherhinken." Viele von Burquiers Kolleginnen und Kollegen sind von den Abgeordneten der Nationalversammlung enttäuscht. Sie hatten erwartet, die Parlamentarier würden den Gesetzestext der Regierung im Sinne der ursprünglichen Fassung des Bürgerkonvents wieder verschärfen und sprechen jetzt von einer verpassten Chance. Nun richten sich die Hoffnungen auf den Senat. Dort wird das Gesetz im Juni diskutiert. Außerdem – so heißt es bei Klimaschützern – gebe es auch noch andere Druckmittel: künftige Wahlen oder Demonstrationen.
Von Christiane Kaess
Das in der Nationalversammlung debattierte Klimagesetz soll helfen, Frankreichs Klimaziele zu erreichen. Kritiker monieren, dass von den aus einem Bürgerkonvent hervorgegangenen Vorschlägen kaum etwas übrig geblieben ist. Und so geht der Kampf um das Gesetz, das noch durch den Senat muss, weiter.
"2021-05-04T11:35:00+02:00"
"2021-05-05T13:04:54.303000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-nationalversammlung-verabschiedet-franzoesisches-100.html
91,034
"Keine Kapitulation vor rechten Pöblern"
Konstantin von Notz, Fraktionsvize von Bündnis 90 / Die Grünen (privat) Jan Maleike: Facebook hat eine europaweite Kampagne gegen Hassreden im Internet gestartet und will Nichtregierungsorganisationen mit gut einer Million Euro fördern, die sich im Kampf gegen Online-Extremismus engagieren. Was kann eine solche Initiative überhaupt leisten? Konstantin von Notz: Sicherlich ist es zunächst begrüßenswert, dass Facebook endlich mehr gegen menschenverachtenden Hass und eine ausufernde Hetze tun will. Das war lange überfällig. Die Situation in den sozialen Netzwerken war zuletzt besorgniserregend und nicht mehr hinnehmbar. Organisationen wie die Amadeo-Antonio-Stiftung haben zweifellos viel Know-How bezüglich des richtigen Umgangs mit "Hate Speech" im Netz. Es ist daher gut, dass Facebook auf diese Kompetenz zurückgreift. Jan Maleike: In der vergangenen Woche hatte Facebook bereits bekannt gegeben, dass es mit sogenannten "Löschteams" von Deutschland aus gegen rassistische Einträge vorgehen will. Wie ernst ist das zu nehmen? Der bisherige Umgang des sozialen Netzwerks mit Hass-Kommentaren wurde ja wiederholt als recht schleppend kritisiert ... Konstantin von Notz: Es war dringend notwendig, dass zukünftig klar strafbare Inhalte in Deutschland überprüft werden. Das haben wir immer gefordert und an das Unternehmen appelliert, die bisherige Praxis dringend zu überprüfen. Das Ergebnis der bisherigen Überprüfungen war alles andere als zufriedenstellend: Klar strafbare Inhalte blieben viel zu oft im Netz. Es reicht eben nicht aus, wenn Mitarbeiter in den USA, ohne spezifische Kenntnis der deutschen Rechtslage, Inhalte überprüfen. Das ändert sich nun hoffentlich. Wer in den letzten Tagen in den sozialen Netzwerken unterwegs war, konnte eine gewisse Verbesserung bereits spüren: Bereits überprüfte und vormals für nicht beanstandet erklärte Inhalte wurden plötzlich doch gelöscht. Das zeigt: Offenbar ist es mit ausreichend Willen plötzlich doch möglich, mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Dass es hierfür erst eines enormen öffentlichen Drucks bedurfte, ist bedauerlich. Man würde sich von milliardenschweren Unternehmen wünschen, dass sie von sich aus die deutsche Rechtslage respektieren. Denn hierum geht es im Kern bei der Bekämpfung von "Hate Speech". Jan Maleike: Das Entfernen von Inhalten in sozialen Netzwerken kann ja bestenfalls ein Teil der Lösung sein; wo sehen Sie weitere Ansatzpunkte? Konstantin von Notz: Inhalte müssen nicht nur entlang der deutschen Rechtslage überprüft und schnellstmöglich gelöscht werden, sondern gelöschte Kommentare auch umgehend an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden. Ob dies nun tatsächlich geschieht, ist derzeit noch unklar. Hier werden wir nachhaken. Auch werden wir uns genau anschauen, wie viele Mitarbeiter Facebook tatsächlich in Deutschland angestellt hat und nach welchen Kriterien diese nun Löschungen vornehmen. Genauso werden wir uns anschauen, wie erfolgreich die Strafverfolgung in diesen Fällen ist. Klar ist aber auch: Die Bundesregierung ist weiterhin in der Pflicht, nicht nur die Unternehmen an ihre Verantwortung und geltende Gesetze zu erinnern, sondern auch selbst klare rechtliche Vorgaben zu machen, beispielsweise, was den Datenschutz in den sozialen Netzwerken angeht. Hier gibt es weiterhin extrem viel zu tun. Das hat nicht zuletzt ein von den Verbraucherzentralen jüngst erstrittenes Urteil des Bundesgerichtshofs zur "Friends-Finder-Funktion" von Facebook noch einmal unterstrichen. In Richtung Bundesregierung sagen wir sehr deutlich: Auch der nationale Gesetzgeber ist weiterhin in der Pflicht, klare gesetzliche Vorgaben zu machen und diese auch nötigenfalls durchzusetzen. Vorschläge wie von CDU-Generalsekretär Peter Tauber, "Hate Speech" und damit klar strafbare Inhalte im Netz zu belassen, würden die Kapitulation des Rechtsstaates vor rechten Pöblern bedeuten. Genauso wenig dürfen wir Antidemokraten entgegenkommen, indem wir Freiheitsrechte abbauen und die Diskussion um die Anonymität im Netz wieder aufmachen, wie dies zuletzt Ralf Stegner von der SPD getan hat. Ich halte wenig davon, offen rechtsextreme, homophobe und antisemitische Hetze nicht nach rechtsstaatlich klaren Kriterien zu löschen und erneut längst beendet geglaubte Debatten um ein Vermummungsverbot im Netz zu führen. Die Große Koalition sollte nicht weiter ablenken, sondern die Anbieter endlich an ihre klaren rechtlichen Verpflichtungen erinnern! Entsprechende Vorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch. Dass es durchaus erfolgsversprechend ist, am Ball zu bleiben, haben die letzten Wochen gezeigt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Konstantin von Notz im Gespräch mit Jan Maleike
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Konstantin von Notz, hält die von Facebook gestartete Initiative gegen Hasskommentare für längst überfällig und sieht zugleich bereits eine "gewisse Verbesserung". Den Vorschlag von CDU-Generalsekretär Tauber, strafbare Inhalte einfach im Netz zu lassen, weist von Notz deutlich zurück.
"2016-01-19T12:06:00+01:00"
"2020-01-29T18:09:23.735000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/facebook-kampagne-keine-kapitulation-vor-rechten-poeblern-100.html
91,035
Stromrechnung senken
Die Dortmunder Caritas hat für die 56 Energiesparberater Computerarbeitsplätze und ein kleines Warenlager eingerichtet. Dort vereinbaren Schwerbehinderte mit den Kunden Termine oder geben Soforthilfepakete aus. Mitarbeiter ohne Handicaps machen die Hausbesuche. Alle waren Langzeitarbeitslose und sind für diesen Job qualifiziert worden. Caritas-Projektleiterin Barbara Skindziel:"Dortmund ist von 80 Projekten in ganz Deutschland das größte Projekt und wir werden gefördert durch die Stadt Dortmund - Sozialdezernat, Umweltdezernat - die ARGE ... und die Energieagentur Deutschland. Wir haben im vergangenen Jahr 1800 Haushalte abgerechnet und im Schnitt haben die Haushalte 125 Euro eingespart..."...manche sogar 200 oder 300 Euro. Pasqual Barczyk arbeitet seit einem halben Jahr als Energiesparberater. In dieser Zeit hat der gelernte IT-Systemelektroniker schon einige ungewöhnliche Stromfresser gefunden. Zum Beispiel die teure Festbeleuchtung für’s Reptilien-Terrarium oder das Strom fressende Wasserbett:"Da lief die Heizung für das Wasserbett den ganzen Tag durch und die Heizleistung war erstaunlich ... und die muss ja tagsüber nicht unbedingt laufen. Da kann man mit einer Zeitschaltuhr ganz wunderbar arbeiten."Mal ist es die Spielleidenschaft am Computer, die mit zwei bis drei Euro täglich zu Buche schlägt, mal die falsch eingestellte Tiefkühltruhe. Auch Geräte im Stand-by-Betrieb, Deckenfluter und Großbild-Fernseher treiben den Energieverbrauch in die Höhe, sagt Barczyk. Heute besucht er mit einem Kollegen zum zweiten Mal Ralf Diel. Der Hartz-IV-Empfänger lebt in einer bescheiden eingerichteten 42 Quadratmeter kleinen Wohnung und muss unbedingt Strom sparen, denn:"Ich hab’ die Abrechnung von der DEW bekommen und musste 370 Euro nachzahlen..."Eine Horrorsumme, die er jetzt in kleinen Raten bei den Stadtwerken abstottern muss. Damit das nicht noch einmal passiert, hat er sich die Energiesparberater der Caritas ins Haus bestellt:"Dann waren die hier und haben sich alles angeguckt und auch Strommessungen durchgeführt." Die Übeltäter waren schnell gefunden: Ein betagter Kühlschrank, der dreimal so viel Energie verbraucht wie ein Neuer. Ein alter Warmwasserboiler und die Elektro-Heizung, die der Arbeitslose notgedrungen benutzt hat, als die Zentralheizung ausgefallen war. Ralf Diel kennt seine Stromfresser und ist machtlos, denn... "...der Vermieter meinte, er würde da nichts dazu tun, weil: Hab ich natürlich versucht, dass er bei der Stromrechnung was zuzahlt. - Hat er 'Nö' gesagt. Genau wie bei dem Warmwasserboiler, da hab ich ihn auch schon drauf angehauen, meinte er so: Ja, funktioniert doch noch." Einen neuen Kühlschrank kann Diel sich auch nicht leisten. Der Mann ist frustriert – und hofft auf die Stromsparhelfer. Pascal Barzcyk und Bastian Bott haben eine detaillierte Verbrauchsanalyse mitgebracht. Während Bott im Hintergrund Zählerstände abliest und Birnen austauscht, übernimmt Barzcyk das Reden. Zunächst erklärt er das Stromspar-Starterpaket, das Diel kostenlos erhält:"Da sind ein paar Energiesparlampen und abschaltbare Steckerleisten drin, mit diesen Mitteln liegt ihr Energiesparpotenzial bei 645 Kilowattstunden, was etwa 135 Euro im Jahr ausmachen dürfte. Vorausgesetzt, die Strompreise erhöhen sich nicht wesentlich."Im Beratungsgespräch warnt er davor, Fernseher, Computer andere Geräte im Stand-by-Betrieb laufen zu lassen. Außerdem rät er seinem Kunden, den Stromtarif zu wechseln:"...da sparen sie 70 Euro bei gleichem Stromverbrauch."Ralf Diel freut sich über die Mitbringsel und plant bereits, seinen Stromtarif zu wechseln. Die Männer trinken noch zusammen Kaffee, danach verabschieden sich die Stromsparhelfer. Der nächste Kunde wartet bereits. Die kostenlose Energiesparberatung dürfen alle so genannten Hilfebezieher in Anspruch nehmen. Also: Hartz-IV - und Sozialhilfeempfänger, Senioren mit kleiner Rente und Aufstocker.Weitere Informationen über die Aktion und die teilnehmenden Städte finden Sie unter www.stromspar-check.de
Von Ilka Platzek
Wer wenig Geld hat, der ist froh über jeden Euro, den er sparen kann. Eine Möglichkeit ist hier die Stromrechnung zu verringern. Familien, die wenig Geld haben, bekommen eine Energiesparberatung oft kostenlos. In Dortmund beispielsweise bietet die Caritas diesen Service an.
"2010-03-08T11:35:00+01:00"
"2020-02-03T18:11:18.674000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stromrechnung-senken-100.html
91,036
16 - 24 - 29 - 33 - 35 - 37
Lotto-Kugeln (dpa / picture alliance / Fredrik von Erichsen) Superzahl: 7 "Spiel 77": 7 - 9 - 1 - 2 - 9 - 9 - 1 "Super 6": 9 - 9 - 2 - 0 - 9 - 6 Alle Angaben sind ohne Gewähr. Diese Nachricht wurde am 10.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Die Lottozahlen: 16 - 24 - 29 - 33 - 35 - 37
"2023-08-10T23:42:12+02:00"
"2023-08-09T23:35:26.405000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/16-24-29-33-35-104.html
91,038
"Jott ist doch schon lange tot, wat wolln' Se hier"
Das Bibelmobil auf dem Parkplatz eines Discounters in Görlitz-Königshufen (Deutschlandradio / Bastian Brandau) "Gucken Sie mal, wir legen jetzt hier so ein Blatt ein…" / "Ja…" / "Einen Datenträger, der ist aus Papier, heute sind das ja solche Scheiben" / "Oder Sachen, die man gar nicht versteht... und dann kommt hier die Farbe drauf, mit solchen Walzen. Hat man ursprünglich mit solchen Lederballen gemacht." Sie sieht aus wie ein großer hölzener Schraubstock. Hinter dem weißen Doppeldecker unter einem ebenfalls weißen Pavillon steht eine Druckerpresse wie zur Zeit Martin Luthers. Ein echter Hingucker und so etwas wie der Menschen-Magnet des Bibelmobils. Bibelmobil-Mitarbeiter Andreas Schmidt, weißes Hemd und Schnurrbart, bedient die Druckerpresse mit der Routine jahrzehntelanger Arbeit. Und schockiert seine Kundschaft immer wieder mit der Tatsache, dass die Farbe früher mit Hundeleder aufgetragen wurde. Mit dem großen Holzhebel erzeugt die Seniorin auf dem Weg zum Einkaufen den schwarz-roten Druck, den sie im Anschluss in einem Umschlag mitnehmen kann. Garniert mit Details zur Arbeit in Druckerwerkstätten und der Bedeutung des Buchdrucks auch für die Verbreitung der Bibel. "Sieht das gut aus. Darf ich das mal lesen?" / "Können Sie machen, bitte schön." / "Danke. Ach, das ist bekannt." / "Das ist ein ganz bekannter, berühmter Psalm aus der Bibel." Kant am Rand Vier Texte stehen zur Auswahl. Sehr beliebt auch an diesem Tag auf dem Parkplatz eines Discounters in Görlitz: der Psalm 23: "Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Wer mehr Zeit mitbringt, kann auch eigene Texte setzen, doch das findet an diesem Nachmittag nicht statt. Schmidt und die Seniorin verschwinden durch den Seiteneingang im Bibelmobil. 1992 zum Jahr der Bibel auf die Straße gesetzt, ist der aktuelle Doppeldecker der dritte Bus, der als Bibelmobil unterwegs ist. Drei Sitze zum Reisen sind geblieben, im Obergeschoss ist Platz für die Arbeit mit Gruppen oder Schulklassen. Im Untergeschoss befindet sich die mobile Bibelausstellung. Wachstafeln, Papyrus und Schilfrohre veranschaulichen die Techniken, mit denen die Bibel verfasst wurde. Es gibt Filme und Bücher, und natürlich die Bibel in verschiedensten Sprachen und Ausführungen. Unter anderem die kleinste Bibel der Welt für Astronauten. Die hat auch Rita Jakob, die eben den Psalm 23 gedruckt hat, beeindruckt, sagt sie beim Verlassen des Busses. "Ich bin nicht unbedingt ein Christ. Aber es hat mich interessiert. Und dieses Drucken, das fand ich einmalig schön." Bibelmobil-Mitarbeiter Andreas Schmidt (Deutschlandradio / Bastian Brandau) Jakob wohnt gleich ums Eck in Görlitz Königshufen. Einem DDR-Neubaugebiet in Plattenbauweise. Es ist eine Gegend, in der Christen eine Seltenheit sind. Und in der auch das Wissen über das Christentum und die Bibel oft nicht besonders ausgeprägt ist. Genau deswegen stehe das Bibelmobil ja heute hier, sagt Mitarbeiter Andreas Schmidt. Um auf die Menschen zuzugehen und ins Gespräch zu kommen. "Also ich hatte vorhin einen Mann, der sagte, ich halte es lieber mit Immanuel Kant. Selber denken ist besser. So nach dem Motto 'Die Christen sollen mal drüber nachdenken, dann werden sie das schön sein lassen.' Das ist natürlich eine Meinung, die ich nicht so teile. Aber man muss sie sich mit anhören, und manchmal kommt man auch in tiefere Gespräche darüber." "Der Sozialismus hat gute Arbeit gemacht. Die Entkirchlichung ist da" Die Gemeinde der nahen Hoffnungskirche hat das Bibelmobil eingeladen. Zum 300-jährigen Jubiläum der Kirche war das Mobil beim Festgottesdienst vor Ort, nun steht es einen Tag später auf dem Parkplatz einige hundert Meter entfernt. Die Hoffnungskirche musste zu DDR-Zeiten einem Tagebau weichen, als Kopie ist sie im Neubaugebiet wieder auferstanden. Rund 7500 bis 8000 Menschen leben in Görlitz-Königshufen, davon seien etwa 750 Mitglied einer Kirche, sagt Pfarrer Frank Hirschmann. "Manche sagen ja, der Sozialmus hat eine gute Arbeit gemacht. Also die Entkirchlichung ist da. Und es ist schwierig, an die Menschen heranzukommen. Das war vor 20 Jahren noch anders. Da konnte man noch an den Haustüren klingeln. Und man wurde noch gehört und es wurde noch aufgemacht. Das hat sich in der heutigen Zeit auch geändert. Also es ist schwieriger, überhaupt ins Gespräch zu kommen mit Menschen und in Kontakt zu kommen, über den Glauben zu reden. Aber wir versuchen es auf verschiedene Art und Weisen, und eines ist das Bibelmobil." Bibelmobil-Mitarbeiter Stephan Naumann vor der Druckerpresse mit Gästen des Bibelmobils (Deutschlandradio / Bastian Brandau) Viele Menschen hasten an diesem sonnigen Nachmittag einfach am Bibelmobil vorbei, nicht wenige mit kritischen Blicken. Bibelmobil-Mitarbeiter Stephan Naumann kennt Görlitz zu gut, um von solchen Reaktionen enttäuscht zu sein. Er lebt hier, kennt die Geschichte des Viertels. In der restaurierten Görlitzer Innenstadt sei der Glaube durchaus präsent. Aber das Leben im Neubaugebiet Königshufen habe die Bewohner über die Jahrzehnte geprägt, sagt er: "Ja man merkt das an wenig Interesse für manche Dinge, zum Beispiel auch für Religionen. Man kann ja auch Interesse zeigen, warum mancher noch religiös ist. Aber da ist auch gleich eine ablehnende Haltung. Das ist eigentlich schade und ich habe das auch gemerkt heute, dass auch eine gewisse Menschenscheuheit da ist gegenüber etwas, was man nicht kennt. Ich hatte eine junge Frau angefragt, ob sie nicht mit der Druckerpresse einfach mal was drucken wöllte, ob sie Lust hätte. Da ist sie also zu Tode erschrocken, ist gleich weitergerannt. Als wenn ich etwas Unanständiges gesagt hätte. Da ist ein völlig eigenständiges Klientel hier gewachsen." Görlitz ist nicht das härteste Pflaster Die Ziel-Klientel des Bibelmobils. Jahrzehntelang war die Berliner Stadtmission Trägerin des Bibelmobils. Die Zusammenarbeit endete zum vergangenen Jahr, nun hat ein neu gegründeter Görlitzer Verein die Trägerschaft übernommen. Und so wollen Andreas Schmidt und Stephan Naumann ab Juni wieder vermehrt unterwegs sein. Auf Volksfesten, an Schulen und vor Supermärkten vor allem in Ostdeutschland. Denn Görlitz sei bei weitem nicht das härteste Pflaster gewesen, sagt der stets gut gelaunte Naumann: "Da erleben wir also auch solche Städte, die ganz stark atheistisch geprägt waren wie Strausberg. In Strausberg, da sind wir angekommen mit dem Bibelmobil da geht schon das Fenster oben auf, weil an unserem Bus stand Bibelmobil dran: 'Also wissen Sie wat, Jott ist doch schon lange tot, wat wollen Sie denn hier?'. Und da merkt man also, da ist man richtig."
Von Bastian Brandau
Mit einem Doppeldeckerbus fährt Andreas Schmidt durch den Osten Deutschlands, um auf die Bibel neugierig zu machen. Seine Psalm-Druckerei ist beliebt. Aber es sei schwierig geworden, über den Glauben zu sprechen, sagt Schmidt. Ein Ortstermin in Görlitz.
"2018-06-18T09:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:16.353000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mission-jott-ist-doch-schon-lange-tot-wat-wolln-se-hier-100.html
91,039
Während der Restaurierung verstummt
Die Kathedrale in Mariana, die "Catedral Basilika Nossa Senhora da Assunção". In ihr steht die einzige Arp Schnitger-Orgel außerhalb Europas. (imago stock&people) Die Sonne dringt durch die offenen Fenster der Kathedrale von Mariana. Durch die Scheiben erahnt man die grünen Wälder und die Roten Berge in der Landschaft von Minas Gerais, im bergigen Herzen Brasiliens. Es ist warm, der Himmel wolkenlos. Doch trotz des schönen Wetters ist das kühle Kirchenschiff voller Menschen, die gekommen sind um die Orgel von Mariana zu hören."Ich habe zwar schon Konzerte in Kirchen besucht, aber noch nie mit einer Orgel. Mit so einem alten Instrument wie diesem." sagt eine Besucherin. In Brasilien sind Orgeln eine Seltenheit und wenn es welche gibt, dann stehen sie oft unnütz in der Ecke und fallen dem Zahn der Zeit zum Opfer. Es fehlt an Organisten, die sie spielen können. Aber das soll sich ändern - hier in Mariana, dank der Organistin Elisa Freixo:"Wir haben hier fast 2700 Konzerte gemacht in den dreißig Jahre, seit die Orgel restauriert ist. Letztes Wochenende war ein langes Wochenende mit Feiertag. Wir haben in vier Tagen neun Konzerte gehabt. Das ist schon ganz besonders – und die waren sehr voll." Besuchermagnet Orgelkonzerte - bis 2016 So wie auch jetzt. Mit schnellen Schritten kommt Elisa Freixo in die Kathedrale - ganz bescheiden durch den Besuchereingang. Sie begrüßt die etwa 70 Zuhörer und erzählt ihnen, dass sie etwas Außergewöhnliches hören werden. Elisa Freixo: "Ich spiele heute ein Stück von einem Lehrer von mir, einem Alten Lehrer, das ist ein Tanz was hier sehr schön klingt. Das ist ein sehr lustiges Stück, Kreisel heißt das und das Solo ist im Pedal und die Hände bewegen sich sehr rhythmisch." Musik: Kreisel Diese Orgelkonzerte von Elisa Freixo waren lange ein wichtiger Anker für den Tourismus in Mariana. Aber seit Januar 2016 hat die Orgel keinen Ton mehr von sich gegeben, denn die Kathedrale wird renoviert. Eigentlich sollte alles ganz schnell gehen, ein Jahr war eingeplant, aber mittlerweile sind schon dreieinhalb ins Land gestrichen. Elisa Freixo ist gerade auf Konzertreise in Europa, deswegen sprechen wir mit ihrer Kollegin Josineia Godinho: "In diesem einen Jahr wurden nämlich nur strukturelle Änderungen durchgeführt. Teile des Daches wurden ausgetauscht, ein Turm wurde vor dem Einsturz bewahrt. Allerdings waren die neuen Stromleitungen und Blitzableiter nicht Teil des Projekts. Und erst im Frühjahr hat die schwierigste Phase begonnen - die Restaurierung der Kunstwerke." Josineia Godinho am Spieltisch der Orgel in der Kathedrale in Mariana. (Niklas Rudolph) Es kann also noch etwas dauern, bis die Orgel wieder zugänglich sein wird. Solange liegt sie, sorgsam in ihre Einzelteile verpackt, im Museumsarchiv. Musik: Dietrich Buxtehude, Praeludium in D minor BuxWV 140, Rainer Oster an St. Jacobi, Hamburg Eine Orgel aus Hamburg Die Geschichte der Orgel von Mariana im Herzen Brasiliens beginnt in Hamburg. Um 1700 entsteht sie in der Werkstatt des berühmten Orgelbauers Arp Schnitger. Dieser hatte gerade die größte jemals in Deutschland gebaute Orgel fertiggestellt. In der Hamburger Jacobikirche steht seitdem ein Koloss mit über 4000 Pfeifen. Die Hamburger Kaufleute erzählten auf ihren Reisen von dem Instrument. So gelangte Schnitgers Ruf mit den Handelsrouten bis ins ferne Lissabon. Zu der Zeit waren die Portugiesen eine reiche Seefahrernation und schmückten sich mit prunkvoll verzierten, teuren Orgeln. Gerade mit einem Instrument aus Deutschland ließ sich die weltweite Vorherrschaft der Portugiesen unterstreichen. Der portugiesische König Dom Pedro II. bestellte also zwei Orgeln bei Schnitger. Eine davon steht heute in der Kathedrale von Mariana. Gar nicht so ungewöhnlich, wie es klingt, erzählt Elisa Freixo: "Es gab Orgeln in Brasilien seit 1557, also immer hat es Orgeln gegeben und die Orgeln existieren nicht in reiche Nummer, wie in Europa, aber es gibt zahlreiche interessante Orgeln." Verschifft nach Brasilien - ein Glück für die Orgel Ganze Instrumente wurden über den Ozean bewegt, so wie die Orgel in Mariana. Der portugiesische König machte sie 1754 der brasilianischen Goldgräberstadt zum Geschenk. Gerade rechtzeitig - denn nicht mal ein Jahr später verwüstete ein Erdbeben große Teile Lissabons. Die Orgel wäre wohl unwiederbringlich verloren gegangen. Elisa Freixo: "Die Orgel ist eigentlich in einem ziemlich guten Zustand gewesen. Immer. Die hat ungefähr 60-65 der Elemente Original. Aber die war dann sehr schmutzig, die kleinen Flöten waren weg, die Zungen haben auch große Probleme gemacht. Termiten waren an den Hölzer, eben Probleme wie jede andere Orgel, wo man anfängt, die Restaurierung kann natürlich eine große Arbeit sein." In den 70er-Jahren entdeckte der deutsche Organist und Dirigent Karl Richter das Instrument. Die klare Bauweise, die symmetrischen Pfeifen und der kompakte Kasten ließen nur auf einen Hersteller schließen – Arp Schnitger. Das war eine Sensation. Richter sorgte dafür, dass die Orgel in einer Hamburger Werkstatt restauriert wurde – fast ausschließlich mit Originalteilen. Portugiesische Renaissance-Orgel-Musik Seitdem ist die Orgel in Deutschland bestens bekannt. Einer der sich besonders intensiv mit ihnen befassst hat, ist der Organist und Arp-Schnitger-Experte Harald Vogel. Dass heute eine Orgel in Marianna steht, verdanken wir vor allem Arp Schnitgers Sinn für gute Geschäfte. Arp Schnitger-Orgeln - ein besonderes Kulturerbe Harald Vogel: "Das war ja nach Schnitger so, dass Instrumente weiter exportiert worden, übrigens auch auf die kanarischen Inseln. Wenn die Schiffe von Hamburg nach Südamerika fuhren, hatten sie eben Platz um etwas mitzunehmen. Und so hatten sie ein Handelssystem, in dem Orgeln eine Rolle spielten." Ginge es nach Harald Vogel, dann sollten die Arp-Schnitger-Orgeln in diesem Jahr von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt werden. Das erste, das sich über zwei Kontinente erstreckt. Doch bisher ist daraus nichts geworden. Aber alles halb so wild, sagt Elisa Freixo, in Brasilien ticken die Uhren sowieso langsamer, das gilt auch für den Verfall der neu restaurierten Orgel in Mariana. Und die Orgelmusik ist jung in Brasilien, sie beginnt gerade erst damit, ihre eigene, nicht-europäische Sprache zu finden.
Von Niklas Rudolph
Nur ein einziges Instrument des berühmten Orgelbauers Arp Schnitger steht nicht in Europa, sondern in Brasilien, in der Kathedrale in Mariana. Die Orgelkonzerte dort waren beliebt bei Touristen. Seit 2016 schweigt die Orgel aber.
"2019-08-19T20:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:48.620000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arp-schnitger-orgel-in-brasilien-waehrend-der-restaurierung-100.html
91,040
Wie Spitzensportler sich durchs Studium kämpfen
Marathonläuferin Fabienne Königstein hatte zu Beginn ihres Studiums Probleme mit der Vereinbarkeit von Studium und Leistungssport. (imago images) Wie schwer Studium und Leistungssport vereinbar sein können, hat Langstreckenläuferin Fabienne Königstein selbst schmerzlich erfahren müssen: „Im ersten Semester hat's mir auch die Wettbewerbssaison komplett zerhauen, weil ich einfach ziemlich kaputt war, sodass ich da keine gute Leistung bringen konnte.“ Während ihrer Sportkarriere hat Königstein insgesamt sechseinhalb Jahre an der Uni Heidelberg studiert. Vielen ihrer Kameraden ging es dabei ähnlich – auch sie kamen durch die Doppelbelastung an ihr Limit. „Wer's probiert hat, Marathon zu laufen neben dem Studium oder Beruf, war nach einem halben Jahr verletzt. Weil du zwar die Trainingszeit noch unterkriegst, aber die Regenerationszeit fällt halt weg.“ Leistungssportlerinnen und -sportler haben keine Wahl Richtige Pausen gibt es bei dem Pensum kaum. Doch die meisten Leistungssportler haben keine andere Wahl: Sie müssen sich während des Leistungssports auf den Berufseinstieg vorbereiten. Fast die Hälfte aller deutschen Olympia-Teilnehmer sind oder waren an einer Universität eingeschrieben. Bei der Umsetzung helfen sogenannte Karriereberater. Eine von ihnen ist Annika Reese am Olympiastützpunkt NRW/Rheinland. Ihre Aufgabe ist es, die Spitzensportler bei der Planung und Umsetzung der dualen Karriere zu unterstützen: „Die Erfahrung, die wir machen, ist, dass es den Sportlern sehr bewusst ist, dass sie parallel was machen und nach der sportlichen Karriere ganz regulär in einen Beruf einsteigen müssen.“ Fast jeder Leistungssportler hat laut Annika Reese irgendwann Kontakt mit Karriereberatern. Ihre Erfahrung zeige, dass für die meisten Leistungssportler ein Studium neben dem Leistungssport gut möglich ist. In sportlich schweren Zeiten könne ein Studium auch Halt geben. Sie glaubt,… „…dass sich das auch gut ergänzen kann. Wenn eine Verletzung da ist, dann gar nichts zu machen, das macht dann auch unzufrieden und ich glaube, das sehen die Sportler dann auch alle so.“ Schwethelm: Anfangs großer Respekt vor der Doppelbelastung Diese Erfahrung hat auch der ehemalige Basketball-Nationalspieler Philipp Schwethelm gemacht. Anfangs hatte er noch großen Respekt vor einem Studium während der Leistungssportkarriere. Doch mit der Zeit lernt er, mit der richtigen Planung und dem richtigen Studium kann es gut gelingen. Um anderen Sportlern dabei zu helfen, schreibt er schon während seiner Karriere als Mitautor ein Buch - über die duale Karriere und die Vorbereitung auf das Leben nach dem Profisport. „Da wollten wir einfach was schaffen, was Spielern hilft. Wo sie sich dann orientieren können, was gibt es für Möglichkeiten, um sich auf die Zeit nach der Karriere vorzubereiten.“ Auch bei ihm hat alles mit einem Karriereberater angefangen: „In einem Sommer bin ich morgens aufgewacht und dachte, ich muss was machen, ich habe da Lust zu. Bin am selben Tag ins Leistungszentrum nach Köln gefahren und er hat mir das Studium empfohlen.“ Das Fernstudium ist extra für Spitzensportler ausgelegt: kaum Präsenzpflicht und Prüfungstermine, die mit dem Sport vereinbar sind. Durch die enge Zusammenarbeit der Hochschule mit dem Leistungssport konnte Schwethelm so das Studium und Basketball gut miteinander kombinieren. „Da ging's dann um Kleinigkeiten, dass Prüfungen nicht am Wochenende geschrieben werden.“ Große Mehrheit glaubt, dass duale Karriere möglich ist Insgesamt 80% der Sportler finden, dass eine duale Karriere im Leistungssport möglich sei. So eine Befragung der Stiftung Deutsche Sporthilfe von über 1.000 Athleten aus dem Jahr 2021. Vor allem der Anteil der Studierenden wird im Leistungssport immer größer. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 waren laut Athleten Deutschland etwa 45 Prozent der deutschen Delegation aktive oder ehemalige Studenten. Ein Grund für die hohe Studierendenquote ist die Flexibilität des Studiums: Mehr als 200 Kooperationsverträge hat der Deutsche Olympische Sportbund mit Hochschulen abgeschlossen. Diese sollen dabei helfen, Spitzensport und Studium besser kombinieren zu können. Trotzdem finden Spitzensportler an sogenannten Partnerhochschulen des Spitzensports überall unterschiedliche Bedingungen vor, kritisieren Sportwissenschaftler. Sportler seien deshalb weiterhin vom Wohlwollen einzelner Professoren abhängig. Als Mutter zurück in den Spitzensport  "Schwani, gestehe es dir ein. Es ist noch nicht vorbei." Als Mutter zurück in den Spitzensport  "Schwani, gestehe es dir ein. Es ist noch nicht vorbei." Nach der Geburt wieder zurück in den Leistungssport? Topathletinnen müssen wie andere Frauen viel organisieren, um Kind und Karriere zu verbinden. Inzwischen gibt es immerhin Vorbilder, etwa Christina Schwanitz. Das helfe durchaus, sagt eine Olympiasiegerin. Hockey-Nationalspielerin Hannah Krüger Wenn Staatsexamen und Olympia vor der Tür stehen Studium und Leistungssport zu verbinden ist eine Herausforderung: Die Hockeyspielerin Hannah Krüger muss Training, Uni-Alltag und die Reisen zu den Ligaspielen unter einen Hut kriegen. Jetzt kommt mit der Nationalmannschaft auch noch die Vorbereitung auf Olympia dazu. Spitzensport und Familie Zwischen Kind und Stadion Kind und Karriere unter einen Hut kriegen: Für Hochleistungssportlerinnen ist dieser Spagat oft extrem schwierig. Wer in der Weltspitze mithalten will, muss alles geben - und jede Menge Hindernisse überwinden. „Man ist dann halt doch irgendwie eine kleine Ausnahme und die Profs wissen nicht so richtig, wie sie mit einem umgehen sollen“, sagt auch Marathonläuferin und Athletensprecherin Fabienne Königstein. Auch ihre Uni gehörte theoretisch zu den Partnerhochschulen, in der Praxis hatte sie aber nicht viel davon. So stoßen viele Athleten trotz Beratung und Unterstützung auf Probleme. Die Kommunikation könnte generell noch besser werden, findet auch Rennrodlerin Dajana Eitberger von „Athleten Deutschland“. Sie ist bei der unabhängigen Athletenvertretung Teil der AG „Duale Karriere“ und spricht dort die Probleme aus Sicht der Athleten an. Auch viele Trainer und Verbände hätten zu wenig Verständnis für die Situation der Sportler, meint Eitberger. „Von daher glaube ich schon, dass es sehr viel Potential im Bereich der Kommunikation gibt. Das heißt, dass Verbände, Trainer und alle Sportfunktionäre verstehen, dass das Thema duale Karriere unfassbar wichtig ist und den Athleten einen gewissen Sicherheitsaspekt gibt.“ Wintersportler vor besonderer Herausforderung Insbesondere Wintersportler haben wegen der langen Abwesenheitszeiten während ihrer Weltcupsaison große Probleme einem geregelten Studium nachzugehen. Viele Sportler fühlen sich deshalb irgendwann gezwungen, sich zwischen der sportlichen und beruflichen Karriere zu entscheiden. Ein weiteres Problem ist die finanzielle Unterstützung. Denn die bereits erwähnte Studie der Deutschen Sporthilfe zeigte auch: Ein Drittel aller Sportler kann sich wegen des niedrigen Einkommens nicht genug auf den Sport konzentrieren. Viele junge Athleten fragen sich deshalb, ob sie nicht lieber mit dem Leistungssport aufhören sollten, erzählt Dajana Eitberger. „Da wird es für jemanden, der von einer kleinen Summe im Monat lebt und nicht mal nebenbei etwas ansparen kann, echt schwer, wenn man Lebensunterhalt und Sport in einer Summe miteinander kombinieren muss.“ Der Bund hat erst in den vergangenen Jahren die Grundförderung an Nachwuchs- und Spitzenathleten substanziell erhöht. Ob es in den kommenden Jahren eine weitere finanzielle Erhöhung geben wird, ist fraglich. Dajana Eitberger erhofft sich diese trotzdem. Denn nur ohne Geldsorgen könne eine berufliche Ausbildung für Leistungssportler problemlos funktionieren.
Von Simon Stolz
Der Leistungssport ist eigentlich ein Vollzeitjob. Dennoch ist fast jeder zweite Olympiateilnehmende aus Deutschland an einer Hochschule eingeschrieben. Das bedeutet eine zeitliche Doppelbelastung, mit denen die Athletinnen und Athleten unterschiedlich gut klarkommen.
"2023-04-15T19:10:00+02:00"
"2023-04-15T17:02:06.977000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sport-am-samstag-duale-karriere-spitzensport-102.html
91,041
Amiri: "Die Verzweiflung der Menschen wird immer größer"
Natalie Amiri, Diplom-Orientalistin, Moderatorin des ARD-"Weltspiegels" und Kennerin Afghanistans, über das sie gerade auch ein Buch vorbereitet (IMAGO / Eventpress / Stauffenberg) Nach dem Abzug der internationalen Truppen konnten die Taliban in überraschender Geschwindigkeit die Macht in Afghanistan erobern. Ortskräfte, Frauenrechtlerinnen aber auch Medienschaffende sind nach dem Siegeszug der radikalislamistischen Bewegung in akuter Lebensgefahr. Laut dem Deutschen Journalistenverband machen die Taliban Jagd auf unabhängige Journalistinnen und Journalisten und sogenannte Stringer, die für westliche Medien gearbeitet haben. Auch von gezielten Hinrichtungen sei die Rede. Ohne schnelles Handeln drohen laut der Organisation Reporter ohne Grenzen weitere Opfer. Diese Strategie verfolgen die Taliban Die überraschend schnellen militärischen Erfolge sind auch auf Fehler des Westens zurückzuführen. Wie organisieren sich die Taliban und was kommt nun auf die afghanische Bevölkerung zu? Ein Überblick. "Es gab keine Exit-Strategie" Die Journalistin Natalie Amini steht mit mehreren Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen vor Ort in Kontakt. Sie berichtet von erschütternden Szenen, teilt auf ihren Social-Media-Kanälen Video und Tonmaterial der Menschen vor Ort. Die Namen ihrer Kontaktpersonen habe sie an die deutschen Behörden weitergegeben, hier zeigt sich aus Sicht von Amiri aber vor allem Hilflosigkeit und Chaos - "das ist nicht vorhergesehen worden, es gab keine Exit-Strategie", sagte sie im Deutschlandfunk. Es seien vor allem Frauen, die sie schon früher begleitet hatte, so Amiri: Menschenrechtsaktivistinnen und Journalisten, die nun fliehen müssten. Viele hätten keinen Zugang zum Flughafen, "die kommen einfach nicht mehr rein". Daher werde die Verzweiflung dieser Menschen immer größer. Feature-Reihe: Deutschlands Einsatz in Afghanistan - Der verlorene Frieden (1/6) Nation Building (2/6) Terror und Taliban (3/6) Aufstandsbekämpfung (4/6) Es gärt in den Provinzen (5/6) Die falschen Freunde vom Petersberg (6/6) Countdown Ähnlich beschreibt es die deutsch-afghanische Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi, Reporterin, Moderatorin und Leiterin des Sprachangebots Dari/Paschtu bei der Deutschen Welle. Viele afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden verzweifelte Nachrichten schreiben, ihre Häuser seien durchsucht worden, ihr Leben sei in Gefahr, schreibt Hasrat-Nazimi auf Twitter. Medien fordern Visa-Notprogram Mehrere deutsche Verlage, Redaktionen, Sender und Medienhäuser haben aus Sorge um ihre Mitarbeiterinnen und Helfer vor Ort in einem Offenen Brief die Bundesregierung gebeten, sich für die Helfer einzusetzen, darunter Deutschlandradio, "Spiegel", "Zeit", Deutsche Welle, dpa und der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger. Sie fordern ein Visa-Notprogram für Mitarbeitende in Afghanistan. Man befürchte Racheakte der Taliban gegenüber den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, heißt es im Brief. Selbst das Leben in Kabul sei für Beschäftigte internationaler Medienorganisationen extrem riskant geworden.
Natalie Amiri im Gespräch mit Brigitte Baetz
Nach dem Siegeszug der Taliban sehen Journalistenorganisationen Medienschaffende in Afghanistan in akuter Lebensgefahr. Mehrere deutsche Medien fordern nun ein Visa-Notprogram. Die Journalistin Natalie Amiri steht mit mehreren Personen vor Ort in Kontakt. Diese würden fliehen wollen, kämen aber kaum noch durch, sagte sie im Dlf.
"2021-08-17T15:35:00+02:00"
"2021-08-18T08:49:27.505000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/journalisten-in-afghanistan-amiri-die-verzweiflung-der-100.html
91,042
Hass auf Ausländer
In Südafrika kommt es immer wieder zu Hetzjagden auf Ausländer. 2008 kamen 64 Menschen bei den Ausschreitungen ums Leben. Seitdem saßen zunächst 3000 Simbabwer in einem vom UNHCR gestellten Zeltlager. Doch das wird nun aufgelöst. Die Hintergründe schildert Dagmar Wittek: Im Lager von de Doorns herrscht Angst. 376 Simbabwer kauern abends zwischen den Zelten am offenen Feuer und machen sich Sorgen über ihre völlig ungesicherte Zukunft. Die Erinnerungen der 29-jährigen Joyce an das, was ihnen im November 2009 hier eineinhalb Stunden außerhalb von Kapstadt im idyllischen Weinanbaugebiet passierte, sind noch frisch: "Die haben uns weggejagt und bedroht. Sie schrien, dass wir ihnen ihre Jobs wegnehmen und dann haben sie unsere Hütten eingerissen und unsere Lebensmittel und alles was wir hatten geklaut. Die Polizei unternahm nichts, die unterstützen die noch, weil sie auch Südafrikaner sind. Ich hatte solche Angst, bis heute habe ich furchtbare Angst." 3000 Simbabwer verloren alles: ihre Wellblechhütten, sämtliches Eigentum. Erst nach drei Tagen Gewalt und Terror griff die Polizei ein und das obwohl einige Monate zuvor genau dort in der Siedlung bereits sieben Simbabwer auf grausamste Art in ihren Hütten verbrannt worden waren. Die Koordinatorin des Katastrophenschutzes und Chefin der Kommunen im Westkap, Hildegard Fast, entschuldigt dies mit "Kinderkrankheiten" einer jungen Demokratie:"Unsere Verfassung ist erst 1996 in Kraft getreten. Sie stellt die Zuständigkeiten nicht eindeutig fest, um sicherzustellen, dass solche Ausschreitungen nicht landesweit vorkommen." Der missglückte Versuch einer Entschuldigung dafür, dass die Polizei bei Ausschreitungen, Plünderungen und Hetzjagden untätig zugesehen hat – wie 2008 und 2009 geschehen. Fast gibt zu, dass Ausländerfeindlichkeit in Südafrika ein weitverbreitetes und ernst zu nehmendes Problem sei. Sie nennt zwei Gründe:"Der Erste ist eine Angst vor dem Anderen, dem Unbekannten und der Zweite und ist Armut kombiniert mit dem Wettstreit um Ressourcen." Eine Studie der Witwatersrand-Universität hat ergeben, dass die seit 2008 immer wieder aufflammenden Ausschreitungen häufig durch politische Interessen und Manipulation hervorgerufen werden. Braam Hanekom, von der Nichtregierungsorganisation Passop, die sich um die Xenophobie-Opfer von de Doorns kümmert, meint, dass Stadtverordnete der Regierungspartei ANC regelrecht zu Ausländerfeindlichkeit angestiftet hätten, indem sie Ausländer als schwarze Schafe und Schuld an der schlechten Situation in der Region gemacht hätten:"Der örtliche Stadtrat trägt eine Mitschuld an den ausländerfeindlichen Übergriffen. Wir haben eidesstattliche Aussagen von Opfern, die besagen, dass er sie zwei Wochen vor den Ausschreitungen verbal angegriffen habe und drohte, dass man sie in zwei Wochen dran kriegen würde. Es ist ganz klar, dass die Regierung beteiligt ist. Der Polizei wird zudem vorgeworfen bestimmten Stadtverordneten und deren Handlangern vor Ort politisch nahe zu stehen, die dann tatsächlich die gewalttätigen Ausschreitungen angezettelt haben."Afrikanische Migranten werden schnell zu Sündenböcken gemacht, an ihnen wird der Frust und die Wut über die eigene Armut und die Lebenssituation ausgelassen. Die Regierung schaut indessen zu, denn das ist leichter, als sich offen mit einer wütenden, unzufriedenen Masse auseinanderzusetzen, die sich über mangelnde staatliche Dienste beklagt – insofern haben die staatlichen Stellen ihren Teil zur wachsenden Xenophobie beigetragen. Ausländerfeindlichkeit als staatliches Ablenkungsmanöver. Besonders lässt sich dies in sozialen Brennpunkten beobachten. In dicht besiedelten Armensiedlungen zum Beispiel, in denen einheimische Ladenbesitzer in starker Konkurrenz mit meist somalischen oder simbabwischen Händlern stehen. Eine Studie der Witwatersrand-Universität hebt hervor, dass , je jünger die Siedlungen und Slums sind, es dort umso weniger gewachsene soziale Strukturen gebe, das berge Konfliktpotenzial. Zudem gebe es an diesen Orten mit hoher Fluktuation nur selten gewählte oder allgemein anerkannte Sprecher. Rund um Südafrikas Großstädte, um die sich mehr und mehr Slums bilden, ist genau das der Fall, daher gab es hier bislang auch die meisten ausländerfeindlichen Übergriffe. Im Fall de Doorns kommen alle Faktoren zusammen, die zu Reibungen führen können. Jedes Jahr ziehen Tausende Wanderarbeiter in die Weinregion, um während der Saison und Ernte zu arbeiten. Ein Pulverfass, meint Lucy Holbourn vom südafrikanischen Institut für Rassenbeziehungen. Zudem habe die Regierung seit Jahren zu einer weitgehend akzeptierten ausländerfeindlichen Stimmung beigetragen: "Seit dem Ende der Apartheid hat die Regierung immer betont, wie anders Südafrika im Gegensatz zum Rest des afrikanischen Kontinents sei. Die Rhetorik suggerierte, dass Südafrika das wirtschaftliche Zugpferd des Kontinents ist und es besser als die anderen afrikanischen Länder ist. Dies hat sicherlich zum Teil die Vorurteile gegenüber anderen Afrikanern, dass sie weniger zivilisiert und gebildet sind, hervorgerufen."Hildegard Fast sagt dies müsse sich ändern."Teil eines Lösungsansatzes müsste es sein, den Leuten klar zu machen, wie viel Ausländer zu unserem Land und unserer Wirtschaft beisteuern. Unter ihnen sind qualifizierte Ärzte, Lehrer und Rechtsanwälte aus dem südlichen Afrika die hier arbeiten. Und die, die Unternehmen gründen, schaffen Jobs. Jeder ausländische Unternehmer schafft im Schnitt 1,5 bis 2 Jobs, das müssen wir unseren Leuten mal mehr klarmachen, damit sie verstehen, dass ihr ausländischer Nachbar zu einer Verbesserung ihres Lebens beisteuert."Und in den Konfliktzonen, den extrem armen Wellblechsiedlungen? Da müsse, so Fast, auf mehr Kommunikation, Austausch und Integration geachtet werden, man müsse versuchen, Vertreter aus allen Gruppen, die dort zusammenleben an einen Tisch zu holen. Schöne Worte, die allerdings bislang im Fall de Doorns nicht sonderlich gefruchtet haben, denn der 34-jährige Simbabwer Tendai meint, während er vor seinem Flüchtlingslagerzelt mit klammen Händen in der Glut eines Feuers stochert, dass es jederzeit wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen könne. Vor ein paar Tagen war er in der Hüttensiedlung, in der er und 3000 weitere Simbabwer vor neun Monaten noch wohnten:"Sie drohten und beschimpften uns dort und sagten, dass sie uns zusammenschlagen würden, falls wir zurückkommen und dass sie uns in unseren Hütten verbrennen würden. Ich traue mich nicht zurückzugehen. Ich habe viel zu viel Angst. Aber mir bleibt jetzt, wo das Lager aufgelöst wird, nichts anderes übrig, ich kann nicht nach Simbabwe zurück, da gibt es keine Jobs. Hier habe ich einen und ich muss für meine siebenköpfige Familie in Simbabwe aufkommen." Auch Joyce, die früher - als Simbabwe noch eine funktionierende Wirtschaft ohne galoppierende Inflation hatte - als Empfangsdame gearbeitet hat, sagt sie bleibe hier:"In Simbabwe ist die Situation doch immer noch nicht gut."Sie ist Teil eines Komitees des Lagers, das mit Vertretern der Siedlung in de Doorns eine Rückkehr auszuhandeln versucht, aber bislang sehe es nicht vielversprechend aus:"Sie sagen, es wäre unser eigenes Risiko, wenn wir zurückkämen, niemand würde uns helfen. Auch die Regierung sagt, sie würden uns nicht beschützen. Ich habe Angst zurückzugehen. Ich wünschte, die Regierung könnte uns eine sichere Bleibe anbieten."
Von Dagmar Wittek
Nur fünf Stunden Autofahrt liegen zwischen Simbabwe und Johannesburg. Viele Simbabwer sind deshalb ins nahe Südafrika geflohen, vor der Gewalt in ihrem Land, vor den Gräueltaten des Regimes von Präsident Mugabe. Doch bei ihren Nachbarn herrscht ebenfalls Gewalt, zumindest gegen sie.
"2010-10-02T13:30:00+02:00"
"2020-02-03T17:38:18.456000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hass-auf-auslaender-100.html
91,043
Die Klubs müssen warten
Der Alarmzustand der spanischen Regierung verbietet aktuell ausdrücklich den Sport, egal ob für Amateure oder Profis. (Andreas Gebert / dpa ) Die Klubs der ersten beiden Profiligen in Spanien haben es eilig. Medienberichten zufolge wollten sie schon in den kommenden Tagen sämtliche Spieler auf das Coronavirus testen und wieder trainieren. Im Rahmen einer Videokonferenz mit Sportjournalisten hat Javier Tebas, Präsident von La Liga, am Freitag vorgerechnet: "Wir kalkulieren den finanziellen Schaden auf eine Milliarde Euro, wenn wir die Saison nicht zu Ende spielen. Das bedeutet 700 Millionen Verluste für die entgangenen Ligaspiele und 300 Millionen zusätzlich, wenn die Klubs nicht mehr an den europäischen Wettbewerben teilnehmen. Wenn wir dagegen in leeren Stadien spielen, wären die Verluste bei 300 Millionen Euro." Die Marschrichtung ist für Tebas klar: Die Liga sowie auch die UEFA-Wettbewerbe sollen ohne Zuschauer zu Ende gespielt werden. Dafür sollten die Spieler der ersten beiden Ligen und die Spielerinnen der ersten Frauen-Liga regelmäßig auf das Coronavirus mit dem sogenannten PCR-Verfahren getestet werden, das als besonders zuverlässig gilt, zumindest, wenn Fachpersonal die Proben entnimmt. Betroffen wären mehr als 1.200 Spieler und Spielerinnen, im Monat wären es mehr als 10.000 Tests. Der spanische Gesundheitsminister Salvador Illa sagte dazu am Freitag: "Das Gesundheitsministerium bestimmt, in welcher Form die PCR-Tests durchgeführt werden können und auch, wer solche Tests durchführen kann. Private wie auch öffentliche Institutionen, die über Tests verfügen, ganz egal ob PCR- oder Schnelltests, müssen dies den Behörden mitteilen. Die Tests dürfen nur auf ärztliche Verschreibung durchgeführt werden. Viele Verantwortliche im Profifußball haben auch anerkannt, dass es die Gesundheitsbehörden sind, die entscheiden, wer und in welcher Reihenfolge Tests durchführt." Medizinisches Personal hat bei Tests Vorrang Das heißt: Die Klubs müssen warten. Denn das Ministerium hat ganz andere Prioritäten. Gegenwärtig werden in Spanien nicht einmal Ärzte und Pfleger, Polizeibeamte oder die Bewohner von Altenheimen regelmäßig getestet. Da ist das Vorhaben nicht besonders populär, tausende Tests an Profifußballern durchzuführen. Liga Chef Tebas meint dazu: "Ich will nicht über das öffentliche Gesundheitssystem spekulieren. Ich verweise aber auf die privaten Unternehmen. Seat oder die Bank BBVA wollen ihre Angestellten auch testen. Auch wir müssen wieder arbeiten, Reichtum erwirtschaften, wieder produktiv sein. Wir müssen aber auch die Gesundheit unserer Beschäftigten so gut wie möglich schützen. Damit machen wir nichts anderes als die übrigen privaten Unternehmen auch." Allerdings hatte das Ministerium bei der spanischen Siemenstochter Gamesa auch schon 3.000 Tests beschlagnahmt. Die Befürchtung der Behörden: Die massiven Tests könnten die begrenzten Laborkapazitäten in Spanien erneut überfordern. Auch viele Fans denken, dass das Land derzeit andere Sorgen hat als die der Fußballvereine. Emilio Abejón ist Anhänger von Atlético Madrid und Sprecher der vereinsübergreifenden Faninitiative FASFE: "Um einen Saisonabschluss zu erzwingen und damit Fernsehgelder zu kassieren, kaufen die Klubs jetzt Tests. Ok, es sind private Veranstalter. Aber dennoch sollte das in der Prioritätenliste doch ganz weit unten stehen. Das ist ein Irrsinn, da üben jetzt Manager Druck auf die Regierung aus. Was sind das für Leute, die den Fußball repräsentieren, der für uns so wichtig ist. Er gehört zu den Dingen, die wir am meisten lieben." Ligapräsident warnt vor Verschuldung Ligapräsident Tebas warnt hingegen vor einer Überschuldung der Vereine, womit sie in Europa nicht mehr wettbewerbsfähig wären, auch vor Entlassungen in den Geschäftsstellen. Abejón hält das nicht für glaubwürdig, immerhin habe Tebas immer wieder versichert, den Vereinen gehe es wirtschaftlich gut. Der Fansprecher fordert: So lange keine Zuschauer in die Stadien dürften, solle gar nicht gespielt werden: "Ein im Fernsehen übertragenes Trainingsspiel hat nichts mit Fußball zu tun – ganz ohne Publikum. Es würde ja auch niemand behaupten, dass eine Theaterprobe ohne Publikum eine Aufführung wäre, die Probe einer Rockband ohne Zuschauer ein Konzert. Ohne die soziale Komponente, das Treffen der Fans, ist der Fußball etwas anderes." Wie es nun weitergeht, ist völlig offen. Das spanische Parlament hat gerade erst einer weiteren Verlängerung des Alarmzustands bis zum 10. Mai zugestimmt. Damit ist der Zugang zu allen Sportstätten weiterhin ausdrücklich verboten – auch für Profisportler.
Von Hans-Günter Kellner
Die spanische Liga will die Saison ohne Zuschauer zu Ende spielen, sobald es die Politik erlaubt. Um wieder trainieren zu können, sollen alle Spieler regelmäßig auf das Coronavirus getestet werden. Ein Vorhaben, das angesichts der knappen Testkapazitäten im Land Kritik hervorruft.
"2020-04-25T19:28:00+02:00"
"2020-04-26T08:46:47.843000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-tests-in-spanien-die-klubs-muessen-warten-100.html
91,044
Russland meldet Abschuss von ukrainischer Drohnen in Regionen Kursk und Belgorod
Zunächst meldete das Verteidigungsministerium, man habe im Gebiet Belgorod nahe der ukrainischen Grenze eine Drohne zerstört und damit einen Angriff verhindert. Später teilte das Ministerium mit, es sei eine weitere Drohne abgeschossen worden, diesmal in der benachbarten Region Kursk. Unterdessen berichten ukrainische Medien, dass der gestrige Drohnenangriff auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim einem Logistikstützpunkt des russischen Militärs gegolten habe. Das Portal "Ukrajinska Prawda" meldet unter Berufung auf ukrainische Geheimdienstquellen, dabei seien 17 Drohnen eingesetzt worden. Es habe zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. Russland hatte auch nach diesem Angriff erklärt, man habe die ukrainischen Drohnen zerstört. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen. Diese Nachricht wurde am 13.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Das russische Militär hat nach eigenen Angaben zwei ukrainische Drohnen abgeschossen.
"2023-08-13T22:23:54+02:00"
"2023-08-13T11:12:30.801000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-meldet-abschuss-von-ukrainischer-drohnen-in-regionen-kursk-und-belgorod-100.html
91,045
Hartmut Dorgerloh "keine große Wow-Personalie"
Hartmut Dorgerloh ist Wunschkandidat der Kulturstaatsministerin für den Posten des Intendanten. (imago / Martin Müller) In dieser Woche bewegt sich Einiges an der Spitze des Humboldt Forums: Nachdem am Montag bekannt wurde, dass Musikethnologe Lars-Christian Koch in Zukunft die Sammlungen leiten soll, hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters nun Hartmut Dorgerloh für den Posten des Intendanten vorgeschlagen. Dorgerloh ist seit 2012 Generaldirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, die durch die Fusion der ost- und westdeutschen Schlösserverwaltungen entstand. In seiner Amtszeit setzte er unter anderem zwei umfangreiche Sonderinvestitionsprogramme durch, mit denen die Baudenkmäler der Stiftung bis 2030 für insgesamt 565 Millionen Euro saniert werden. Bodenständige Töne Grütters sehe in ihm aus zwei Gründen einen guten Kandidaten, meint Kulturkorrespondentin Christiane Habermalz aus Berlin. "Erstens, weil er als Leiter der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg über Jahre einfach einen guten Job gemacht hat - in einer Institution, in der auch Bund und Bundesländer mitmischen, und die auch komplizierte Binnenstrukturen hat. Er ist also in Grütters Augen gerüstet für die Untiefen des deutschen Kulturföderalismus." Zweitens habe Dorgerloh die Stiftung entstaubt und modernisiert - mit mehr Publikumsnähe und mehr Vermittlung. Das wünscht sich Monika Grütters auch für die Aufgabe als Intendant: "Wir müssen dieses große Projekt jetzt endlich an ein breites Publikum heranbringen", sagte die Kulturstaatsministerin, "sozusagen vom Papier in die Praxis. Diese intellektuellen Diskussionen, die wir im Feuilleton über dieses Projekt geführt haben, in der Breite sinnlich vermitteln." Dorgerloh habe als Chef der Preußischen Schloß- und Gartenstiftung "hervorragend" bewiesen, dass er genau das umsetzen könne, so Grütters. Laut Christiane Habermalz sind das allerdings "andere, bodenständige - man könnte auch sagen: kleinlautere - Töne als noch vor zwei Jahren, bei der Ernennung der Gründungsintendanz um Neil MacGregor." Positive Reaktionen MacGregor selbst steht "mit großer Begeisterung" hinter Grütters Personalvorschlag. Bei einer Ausstellungseröffnung in der Humboldt-Box fügte er mit einem kleinen Seitenhieb auf die Berliner Realpolitik hinzu: Dorgerloh kenne "aus dem FF das Labyrinth der deutschen föderalen Demokratie" und kenne "sich im freundlichen Dschungel der Berliner Kulturpolitik sehr gut aus." Der Deutsche Kulturrat begrüßte den Vorschlag ebenfalls, und sogar Bénédicte Savoy, die durch ihren Weggang die Kolonialismus-Debatte um das Humboldt Forum angestoßen hatte, zeigte sich begeistert - "mehr kann man nicht erwarten", meint Christiane Habermalz. Dorgerloh sei aber "eindeutig nicht die große Wow-Personalie wie damals Neil Mac Gregor". Etwas mehr Realismus tue dem Projekt aber vielleicht ganz gut, so Habermalz. "Etwas weniger Weltmuseum mit Weltgeltungsanspruch - und etwas mehr Eingeständnis, dass das Humboldt Forum am Ende vielleicht auch doch nur ein ethnologisches Museum unter anderen sein wird."
Christiane Habermalz im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Monika Grütters hat Hartmut Dorgerloh als ihren Wunschkandidaten für das Amt des Intendanten des Humboldt Forums vorgestellt. Darauf gab es viele positive Reaktionen, meint Dlf-Kulturkorrespondentin Christiane Habermalz - aber ein großer Wurf sei die Personalie nicht.
"2018-03-21T17:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:27.506000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/intendanten-kandidat-fuer-das-humboldt-forum-hartmut-100.html
91,046
Auf Verbrecherjagd quer durch Europa
Drogenlabore wie dieses werden werden vor allem in Polen, Deutschland, Belgien und den Niederlanden entdeckt, sagen die Fahnder von Europol (picture alliance / dpa / Patrick Pleul) Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein unscheinbarer grauer Lieferwagen. Auf den zweiten wie ein Wohnmobil. Doch dann fällt der Blick in den hinteren Teil des Fahrzeugs. Hier hängen weiße Schutzoveralls und Gasmasken, eine Wärmebild-Kamera, Atemschutzgeräte, Gasmelder. Und zwei Laserpoint-Geräte, erklärt Europol-Drogenexperte Werner Verbruggen: "Sobald einer dieser Laserpointer mit einer Droge in Kontakt gebracht wird, versucht er, sie zu identifizieren. Dieses eine Gerät hier, das kann Hunderte von verschiedenen Substanzen erkennen, das andere tausende. Es kostet auch dementsprechend mehr, bis zu 40.000 Euro." Mit diesem Einsatzbus fahren Drogenfahnder durch ganz Europa, spüren Drogenlabore auf und unterstützen Kollegen (Europol) Der Bus, der "Operational Van", wie er offiziell heißt, wurde speziell gebaut, um den Produzenten von synthetischen Drogen das Handwerk zu legen. Europol-Experte Verbruggen fährt darin kreuz und quer durch Europa. Für Trainingskurse für Polizisten. Oder um Labore für synthetische Drogen zu identifizieren und zu zerlegen. Je nach Größe des Labors dauert das einen oder einen halben Tag, so der 61 Jahre alte Belgier. "Wir helfen Kollegen, die mit synthetischen Drogen nicht so viel Erfahrung haben wie wir. Die Deutschen und die Niederländer haben selbst einen Drogenbus, die sind weniger auf unsere Unterstützung angewiesen als Länder wie etwa Schottland oder Spanien. Wer Hilfe nötig hat, braucht sich nur zu melden, und wenn's geht, fahren wir sofort los und sind am nächsten Tag vor Ort." Dieser Beitrag ist Teil der Reportagereihe "Europa im Rausch – Den Drogen auf der Spur". Die meisten Labore werden zufällig entdeckt. Versteckt im Wald. In Kellern, unterirdischen Garagen, Bunkern. Oder auf Schiffen - so wie vor kurzem in Amsterdam: "Unsere Kollegen von der Amsterdamer Polizei hatten mit ihrem Polizeischiff zufällig neben dem Drogenschiff angelegt. Sie wollten sich schnell einen Kaffee kaufen. Da fiel ihnen der seltsame Geruch auf. Manchmal muss man halt einfach Glück haben." Ecstasy-Pille: 15 Cent fürs Material, Verkaufswert 20 Euro Das Schiff war gut 80 Meter lang: "An Bord befanden sich Mexikaner, die als Lehrmeister eigens eingeflogen worden waren, um belgischen und niederländischen Kriminellen das Handwerk beizubringen." Das lohne sich, so Verbruggen, denn mit synthetischen Drogen lasse sich sehr schnell und leicht sehr viel Geld verdienen. Nur 15 Cent kosten die Zutaten für eine Ecstasy-Pille. [*] In Australien werden für eine Pille bis zu 20 Euro gezahlt. Und in den Drogenlaboren können bis zu drei Millionen Pillen auf einmal hergestellt werden. Es gehe um enorme Beträge. Die meisten synthetischen Drogen-Labore in Europa werden in Polen entdeckt, in Deutschland, in Belgien. Und in den Niederlanden. Nirgendwo werden so viele synthetische Drogen hergestellt - aus gutem Grund. Erstens sind die Strafen niedriger: "Warum sollten die Drogenproduzenten woanders hin, wo sie zehn, 15 oder 20 Jahre bekommen, wenn sie hier in Holland schon nach zwei, drei Jahren wieder rauskommen?" Benelux-Gebiet logistisch optimal für Drogenhändler Die Folge: Verbruggen begegnet immer wieder denselben Gesichtern. Noch heute treffe er auf Kriminelle, denen er vor Jahrzehnten schon mal begegnet sei. Der zweite Grund ist die gute Infrastruktur in diesem Teil Westeuropas: schnelle, breite Autobahnen, gute Zugverbindungen, kurze Abstände. Moderne Flughäfen in Brüssel und Amsterdam, die Häfen von Antwerpen und Rotterdam. Das mache das Benelux-Gebiet ideal – sowohl für den Export von hier produzierten Drogen als auch für den Import. Zum Beispiel von Kokain. Es kommt längst nicht mehr nur aus Kolumbien, sondern auch aus Ecuador und Peru und erreicht Europa sowohl über die Häfen im Norden, als auch von Süden aus, über Spanien. Auch mit Cannabis aus Nordafrika wird Europa regelrecht überschwemmt. "Eine Drogenschwemme in Europa" Und mit Heroin aus Afghanistan und Pakistan, berichtet Europol-Sprecher Jan Op Gen Orth: "Wir haben noch nie so viel Heroin nach Europa reinbekommen wie im Moment. Das heißt, wir haben eigentlich eine Drogenschwemme in Europa." Früher gab es Wellenbewegungen: Die eine Droge war in, die andere out. Mal gab es mehr Heroin, mal mehr Kokain, Anfang der 90er-Jahre dann die erste große Welle der synthetischen Drogen: "Und was wir heutzutage sehen, ist, dass eigentlich alle Drogen auf einem Allzeithoch sind." Denn, und das dürfte eine der Ursachen sein, so der Europol-Sprecher: Noch nie waren Drogen so leicht erhältlich wie heute im Internetzeitalter: "Man muss halt nicht mehr, wenn man jetzt zehn Gramm Kokain will oder Ecstasy-Tabletten, irgendwo in eine dunkle Seitenstraße gehen oder auf eine Party, sondern man kann eigentlich zu Hause auf dem Sofa sitzen bleiben, und man geht ins Darknet und bestellt sich was." "Nichtstun ist keine Option" Drogenbosse, Drogenschwemme, Drogen-Allzeithoch: Verlässt einen da als Drogenbekämpfer nicht manchmal der Mut? Europol-Drogenexperte Werner Verbruggen widerspricht. Er sei nach wie vor motiviert, betont er, als er aus seinem Drogenbus klettert: "Es gelingt uns regelmäßig, dem organisierten Verbrechen einen schweren Schlag zu versetzen. Es ist also nicht so, dass wir keine Erfolge hätten. Nichtstun ist keine Option. Und deshalb machen wir weiter." [*] Anmerkung der Redaktion An dieser Stelle haben wir eine zwischenzeitliche Zahlenkorrektur wieder rückgängig gemacht: Wie in der Sendefassung ursprünglich berichtet, liegen die Materialkosten für Ecstasy-Pillen laut Nachfrage bei Europol bei 15 Cent.
Von Kerstin Schweighöfer
Noch nie gab es so viele Drogen auf dem europäischen Markt. Besonders das Angebot an synthetischen Drogen bereitet Europol Sorgen. Um illegale Ecstasy-Labore aufzuspüren, machen sich die Fahnder mit einem hochspezialisierten Bus auf den Weg.
"2019-09-02T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:08:23.735000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-europol-drogenbus-auf-verbrecherjagd-quer-durch-europa-100.html
91,047
Ostern ohne Gemeinschaft
Das orthodoxe Osterfest ist normalerweise ein Gemeinschaftserlebnis: Frauen und Männer im April 2019 bei der Feier des "Heiligen Feuers" in Jerusalem (dpa) "Mich hat diese Krankheit dazu gebracht, mehr nachzudenken. Wie abhängig wir sind von anderen Menschen." In seinem Gemeindehaus am Düsseldorfer Stadtrand sitzt Bischof Grigorije vor einem Laptop. "Ich scherze manchmal, dass dieser Virus die gesamte Welt dazu getrieben hat, zu fasten. Besonders uns Christen, die wir mehr und mehr angefangen haben, das Fasten als etwas Formales zu begreifen und schlimmer noch: die heilige Liturgie als eine Routine." Grigorije Duric, serbisch-orthodoxer Bischof von Düsseldorf und Deutschland (Deutschlandradio / Benedikt Schulz) Grigorije Duric ist Bischof der Eparchie von Düsseldorf und ganz Deutschland. Damit ist er das geistige Oberhaupt aller serbisch-orthodoxen Christen hierzulande. "Ich rede derzeit viel mit meinen Priestern, sage ihnen, dass sie viel mit ihren Gläubigen sprechen sollen, über das Telefon oder andere Kommunikationswege, dass sie ihnen sagen, macht euch keine Sorgen." "Daran leiden viele Orthodoxe" Für die meisten orthodoxe Christen ist diese Woche die wichtigste Zeit im Jahr, die heilige Woche vor Ostern und das anschließende Osterfest. Doch hier wie an anderen Orten der Welt auch, dürfen sich die Mitglieder der Kirchengemeinden nicht physisch treffen. Für orthodoxe Gläubige ist das besonders hart, sagt Assaad Elias Kattan, orthodoxer Theologe am Centrum für religionsbezogene Studien an der Uni Münster: "Weil dieses Gemeinschaftsgefühl ein integraler Bestandteil der Gottesdienste in der Karwoche im Allgemeinen und des Ostergottesdienstes im Besonderen ist. Die Osterliturgie lebt von diesem Gemeinschaftsgefühl. Einfach von der Tatsache: dass, wenn man zur Liturgie geht, dort Menschen begegnet. Und ich denke, gerade diese Unmöglichkeit, jetzt die Liturgie in der Gemeinschaft zu feiern und dieses Gemeinschaftsgefühl zu haben, daran leiden viele Orthodoxe, und ich gehöre dazu." Assaad Elias Kattan, Professor für christlich-orthodoxe Theologie an der Universität Münster. (Assaad Elias Kattan ) Das seien Gottesdienste, die nur einmal im Jahr erlebt werden könnten, sagt Kattan. Es handle sich auch um musikalische Erlebnisse, in der westlichen Tradition am ehesten vergleichbar mit dem Besuch der Matthäus- oder der Johannespassion von Bach: "Da ändert sich ja auch die ganze Liturgie, die Gottesdienste nehmen einen völlig anderen Charakter an. Das ist auch einer der Faktoren, die eine Rolle spielen, warum die Orthodoxen diesen Eindruck haben, dass das Ostergeschehen für sie etwas Besonderes ist. Und deshalb verschiebt sich auch die Liturgie. Sie ändert sich ganz radikal. Und ich denke, das prägt die Orthodoxen, auch die Orthodoxen, die nicht unbedingt dauernd in die Kirche kommen, sondern zu bestimmten Anlässen, zu bestimmten Gottesdiensten." Die Kirche als "Stück Heimat" Dass dieses gemeinschaftliche Erlebnis fehlt, das ist für die orthodoxen Christen in Deutschland nochmal ein besonderes Problem, so Kattan: "Weil die Kirche ein Stück Heimat ist, die Sprache, die im Gottesdienst verwendet wird, für viele Menschen, gerade für ältere Herren und für ältere Damen, ein Stück Heimat ist." Für die orthodoxen Kirchen ist Deutschland ein Diasporaland. Es gibt russisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, rumänisch-orthodoxe und viele weitere Kirchen, die in Deutschland Gemeinden haben – deren Mutterkirchen aber im Ausland liegen. Fast überall feiern die Gemeinden die Liturgie in der jeweiligen Landessprache oder einer dieser Sprache ähnlichen Liturgiesprache wie Kirchenslawisch. Für viele eine doppelte Identität, meint der Ostkirchenexperte Thomas Bremer von der Uni Münster: "Zum einen die des Landes, der Kultur und der Religion, aus der man kommt, zum anderen der Gesellschaft, in der man lebt. Die Sprache, die in der Regel nicht Deutsch ist, ruft den Kontext der Kindheit, der Jugend oder der Heimatstadt hervor. Es ist nicht allein die Sprache, aber die Sprache ist ein Element davon, dass etwas reproduziert wird, was zu meiner Vergangenheit gehört, aus der ich komme und zu der ich mich noch zugehörig fühle." Thomas Bremer ist Professor für Ostkirchenkunde an der Universität Münster (Niina Into, Helsinki) Wie andere Religionsgemeinschaften stehen die orthodoxen Kirchen vor der Frage, ob es andere Wege, digitale Wege gibt, das Osterfest zu feiern. Kattan: "Ich kenne es zum Beispiel von meiner eigenen Kirche hier in Deutschland, das Patriarchat von Antiochen: Sowohl aus Köln als auch aus Berlin werden Gottesdienste übertragen. Es ist völlig berechtigt, dass man das versucht. Es ist auch völlig berechtigt, die Menschen dazu aufzufordern, mitzumachen. Und diesen Gottesdienst auch digital zu erleben." "Ich bin dagegen, dass die Liturgie auf digitalem Wege übertragen wird" Aber der orthodoxe Theologe Assaad Elias Kattan ist dennoch skeptisch, ob das reicht. Bischof Grigorije aus Düsseldorf wird deutlicher: "Ich bin dagegen, dass die Liturgie auf digitalem Wege übertragen wird. Liturgie setzt voraus, dass die Menschen präsent sind. Stellen sie sich vor, sie versuchen, digital an einer Hochzeit teilzunehmen. Man kann nicht sagen, man nimmt teil, man ist mehr Beobachter als Teilnehmer. Wir übersetzen Liturgie mit: Das gesamte Volk nimmt teil." Grigorije Duric fordert aber nicht, dass Gottesdienste stattfinden sollten trotz Corona, ganz im Gegenteil. Diejenigen Stimmen in der orthodoxen Welt, die sich lange gegen das Verbot der Gottesdienste gewehrt haben, kritisiert er scharf, nennt sie Glaubensfanatiker. Ideen vom Kirchenfasten, wie sie etwa vom Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück formuliert wurden, stehen seinem Denken nahe, sagt der orthodoxe Bischof: "Bei diesen Glaubensfanatikern kommt es mir vor, als ob man ihnen einfach die Routine genommen hätte. Wie bei schlecht erzogenen Kindern, die sauer sind und sagen, ich will unbedingt dieses oder jenes Geschenk haben, so ist das bei diesen Fanatikern, die sagen: ich will aber unbedingt meine Liturgie haben. Jetzt aber ist die Zeit der Enthaltsamkeit." "Das wäre, wie Gott unter Versuchung zu stellen" Dass sich manche orthodoxen Kirchen, etwa in Griechenland, lange auch gegen das Verbot der heiligen Kommunion gewehrt haben – mit Verweis auf den Leib Christi, der ja nicht ansteckend sein könne – kritisieren der Bischof und der orthodoxe Theologe Kattan gleichermaßen. Kattan begründet seine Kritik – neben dem medizinischen – auch mit einem theologischen Argument: "Wenn man diese Logik bis zum äußeren Ende führt, dann erwartet man bei jedem Abendmahl sozusagen ein kleines Wunder von Gott. Das wäre, wie Gott unter Versuchung zu stellen. Das sind die Worte Jesu an den Satan: Du darfst Gott deinen Herrn nicht unter Versuchung stellen." Inzwischen haben alle orthodoxen Kirchenleitungen die Einschränkungen akzeptiert – die orthodoxen Bischöfe in Deutschland hatten dies von Anfang an getan – und mit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz bereits Ende März eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Auch das orthodoxe Osterfest wird in diesem Jahr also kein Gemeinschaftserlebnis.
Von Benedikt Schulz
Am Wochenende feiern die meisten orthodoxen Christen weltweit das Osterfest. Es ist für sie noch wichtiger als für die meisten anderen christlichen Kirchen. Doch wegen der Corona-Krise fällt Ostern praktisch aus. Auch für die Diaspora in Deutschland ist das ein großer Verlust.
"2020-04-17T16:45:00+02:00"
"2020-04-18T09:33:25+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/orthodoxe-kirche-in-deutschland-in-der-corona-krise-ostern-100.html
91,048
Aktuelle Stunde zum No-Spy-Abkommen
Die stockenden Verhandlungen für ein Geheimdienstabkommen mit den USA beschäftigen nun auch den Bundestag, die Linksfraktion hat dazu eine Aktuelle Stunde beantragt. Wir übertragen die Debatte aus dem Bundestag ab 15:30 Uhr als Livestream unter www.deutschlandradio.de sowie im Digitalradio. Das Europäische Parlament will zudem über die Abhöraktionen der NSA in Europa debattieren. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments, Elmar Brok, kritisierte bereits vorher die Weigerung der US-Regierung, ein Datenschutzabkommen abzuschließen. Mit Blick auf Washingtons Verhandlungen drohte der CDU-Politiker mit Konsequenzen. Diese Entwicklung gefährde den Abschluss des Freihandelsabkommens, sagte er der Zeitung "Neue Westfälische". Und ergänzte: "Die Haltung der US-Administration ist unakzeptabel im Umgang zwischen Freunden." Auch der SPD-Politiker Michael Hartmann hatte am Dienstag im Deutschlandfunk mit Konsequenzen gedroht, sollten die Berichte zutreffen. Ausgang der Verhandlungen offen Nach Medienberichten steht das Anti-Spionage-Abkommen wegen der Verweigerungshaltung der USA vor dem Scheitern. Das bilaterale Abkommen über die künftige Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten der USA und Deutschlands sollte eine Konsequenz aus der NSA-Spionageaffäre sein. Auf US-Seite gibt es aber große Vorbehalte gegen weitreichende Einschränkungen der Spionage - nicht allein in Deutschland. Daher ist offen, wie die geplante Vereinbarung aussehen wird und ob es überhaupt eine geben wird. Das deutsche-amerikanische Verhältnis hat gelitten (picture alliance / dpa / Arno Burgi) Die von Obama eingesetzte Expertengruppe sprach sich am Dienstag vor einem Kongressausschuss in Washington zwar für Änderungen zum Schutz der Privatsphäre aus, doch das Programm an sich soll aus ihrer Sicht fortgesetzt werden. Merkel: Gespräche gehen weiter Nach Angaben von Kanzlerin Merkel bemühen sich Deutschland und die USA weiterhin um das Abkommen. "Die Gespräche werden fortgesetzt", sagte sie nach Teilnehmerangaben in einer Sitzung der Unionsfraktion. Es müssten aber Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt werden. Für die Bundesregierung gelte weiterhin, dass die USA auf deutschem Boden deutsches Recht einhalten müssten. Die NSA hat einem neuen Medienbericht zufolge unter anderem in knapp 100 000 Computern weltweit Software eingespeist. Angela Merkel (dpa / picture-alliance / Maurizio Gambarini) Der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger räumte ein, die Verhandlungen zum sogenannten No-Spy-Abkommen seien "an einem schwierigen Punkt". Gleichwohl müsse weiter verhandelt werden. Jedoch seien die Verhandlungsmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden beider Seiten seien an einem Punkt angelangt, wo es nur schwer weitergehe. Binninger soll neuer Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag werden.
null
Angela Merkel stellt klar: Die Gespräche zum geplanten Geheimdienst-Abkommen mit den USA werden fortgesetzt. Ob die Debatte damit endet, ist fraglich. Im Bundestag geht sie erst mal weiter.
"2014-01-15T06:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:46.959000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundestag-aktuelle-stunde-zum-no-spy-abkommen-100.html
91,049
Kunden überwiegend zufrieden mit der Bahn
Der ICE aus München fährt in den Berliner Hauptbahnhof - auf die Minute pünktlich. Selbstverständlich ist das nicht. Jeder dritte Zug im Fernverkehr der Deutschen Bahn ist bei der Ankunft verspätet. Das ist zwar schon ein etwas besseres Ergebnis als vor zwei Jahren, gestiegen ist aber die Zahl der Reisenden, die aufgrund von Zugverspätungen ihre Anschlusszüge verpasst haben, ergibt eine vom Verkehrsclub Deutschland VCD in Auftrag gegebene Untersuchung. Ein untragbarer Zustand findet Michael Ziesak vom VCD:"Dass ich in der Hauptverkehrszeit, also an Freitagen, Sonntagen, Montagen, dann mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent nicht meinen Anschlusszug bekomme, das ist eine sehr ärgerliche Sache, weil das heißt zwischen einer halben Stunde und zwei Stunden Warten am Bahnhof, bis man dann den nächsten Zug bekommt, wenn die eigentliche Verspätung nur sechs oder zehn Minuten gewesen sind."2010 hatte die Bahn eine große Kunden- und Qualitätsoffensive gestartet. 330 Millionen Euro sollen bis 2015 investiert werden, um die Zufriedenheit der Kunden zu verbessern. Am Berliner Hauptbahnhof fällt den Bahnkunden aber einiges ein, was noch nicht ihren Vorstellungen entspricht."Laufend Verspätung und mistig manchmal innen in den Zügen und schlechte Ansagen im Bahnhof.""Also ich finde dafür, wie viele Millionen da täglich transportiert werden müssen, geht es. Mit der Sauberkeit geht es auch.""Bin sehr zufrieden.""Zugausfall, Verspätung und trotz dessen Preiserhöhung.""Also ich war eigentlich sehr zufrieden, muss ich sagen, auch das Personal war nett.""Mäßig, mäßig.""Dann war entweder die Klimaanlage ganz aus und es war megaheiß da drin oder sie ging zu viel und man hat sich dann einen abgefroren.""Die Klos sind ja manchmal sehr mistig, als ob da wochenlang keiner sauber gemacht hat.""Pünktlichkeit ist das Hauptthema."Dennoch beurteilen die Kunden das Angebot der Bahn insgesamt überwiegend positiv, so das Ergebnis der VCD-Umfrage. Verbessert hat sich bei der Deutschen Bahn nämlich einiges, sagt Michael Ziesak - in zwei Drittel aller Verspätungsfälle würden heutzutage die Fahrgäste im Zug über die Ursachen informiert:"Die Bahn tut gut daran, diese Informationen bereitzustellen, denn wenn der Kunde weiß, warum es diese Verspätungen gibt, dann hat er auch mehr Verständnis dafür." Wenig Verständnis haben die Fahrgäste laut Umfrage für schmutzige Toiletten und verdreckte Sitzpolster. Besonders die EC- und IC-Züge werden als veraltet empfunden. Neue Züge sind also dringend erforderlich, fordert der VCD. Dass das so schleppend geht, habe mehrere Ursachen:"Die sind viel zu spät bestellt worden vonseiten der Deutschen Bahn. Wir stellen fest, dass die Eisenbahnindustrie leider nicht nachliefert und zum Dritten, diese Zulassungsverfahren sind so heftig, dass es heutzutage schon zwei bis drei Jahre dauert, obwohl der Zug fertiggestellt ist, bis er seine Zulassung bekommen hat. Dieses Zulassungsverfahren müssen sie dringend verändern. Denn nichts ist ärgerlicher, als wenn wir in einem uralten Intercity sitzen müssen, während draußen dann auf der Strecke neue ICEs oder Intercitys stehen, die wir nicht verwenden können."Der VCD fordert nun von der Politik ein einheitliches Zulassungsrecht auf europäischer Ebene. Die Ergebnisse der Umfrage werden an die Deutsche Bahn weitergeleitet - damit Bahnfahren als umweltfreundliches Verkehrsmittel in Zukunft für noch mehr Kunden noch attraktiver wird.Mehr auf dradio.de:Zugfahrtdaten in den Händen von Hotels - Deutsche Bahn bestreitet Handel mit Daten ihrer KundenWie im Flugzeug - Bahn hat neues Reservierungssystem gestartetMehr Service, aber auch höhere Preise - Die Deutsche Bahn wird zum Fahrplanwechsel wieder teurer Grün geworden oder grün gewaschen - Bahn kündigt höheren Ökostromanteil im Fernverkehr an
Von Anja Nehls
Verspätungen, Zugausfälle, Preiserhöhungen: Die Deutsche Bahn muss um ihren Ruf kämpfen. Eine Umfrage des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) hat nun ergeben, dass die Kunden trotzdem größtenteils zufrieden mit den Leistungen des Unternehmens sind. Dennoch sieht der VCD Modernisierungsbedarf.
"2013-05-07T11:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:17:14.211000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kunden-ueberwiegend-zufrieden-mit-der-bahn-100.html
91,050
DFL-Taskforce setzt große Ziele
Christian Seifert, Sprecher des Präsidiums der DFL Deutsche Fußball Liga (picture alliance/dpa | Arne Dedert) Es geht um nichts weniger als "um die Zukunft", sagt Christian Seifert. Um nichts weniger als eine neue Bundesliga. "Das ist ein Schritt, der deutlich macht, dass das nächste Kapitel Bundesliga aufgeschlagen wird." Große Worte vom DFL-Boss. So groß wie das, was die Taskforce Zukunft Profifußball da tatsächlich vorgestellt hat: "Das ist schon ein relativ großer Schritt, in einen solchen Prozess überhaupt zu gehen." 37 Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft hatten seit Oktober die Köpfe zusammengesteckt und sich gefragt, unter welchen Rahmenbedingungen der Profifußball zukünftig stattfinden soll: "Ein solches Format ist meines Wissens bisher einzigartig im gesamten Weltsport", sagt Seifert. Herausgekommen ist eine Idealvorstellung, eine Vision, ein Fußballtopia. Handlungsempfehlungen, die umgesetzt werden sollen "Wie sieht der Profifußball 2030 aus? Bitte fangen sie an, mit mir zu träumen", so Psychologieprofessorin Heidi Möller, die Moderatorin der Taskforce. Und der Traum vom Bundesliga-Fußball 2030 umfasst eine Menge: "Sportlich erfolgreich, wirtschaftlich gesund, Klimaschutz, Geschlechtergerechtigkeit, Vorbild für eine inklusive Gesellschaft", zählt Möller auf. 2030 gibt es vor allem mit Blick auf die Fans partizipative Strukturen. Es gibt fairen Wettbewerb, und die Bundesliga ist natürlich Weltspitze. Ein echter Traum, der aber Wirklichkeit werden soll mit Hilfe von Handlungsempfehlungen, die die Taskforce erarbeitet hat. Handlungsempfehlungen, die, so DFL-Boss Christian Seifert, umgesetzt werden sollen. Bundesliga - "Taskforce Zukunft Profifußball" beendet - und nun?Zu hohe Spielergehälter, zu wenig wirtschaftliche Stabilität bei den Vereinen – solche Missstände sollte die mit großer Öffentlichkeitswirkung installierte "Taskforce Profifußball" angehen. Deren Beratungen sind beendet, klare Ergebnisse wurden nicht benannt. "Das wird, das sage ich vorweg, einige Zeit in Anspruch nehmen." Keine Frage: wirtschaftliche Stabilität, Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, Fandialog, Geschlechtergerechtigkeit, ein Menschenrechtskonzept, Regulierung der Beraterbranche und, und, und; es sind zweifellos sehr ehrgeizige Handlungsempfehlungen. "Werden an der Umsetzung gemessen" "Hat das jetzt eine Alibifunktion? Ist das jetzt eine Debatte für die Kameras? Und ich darf Ihnen sagen ganz sicher war es das nicht", sagt Seifert. Ein fortlaufender Review-Prozess soll die Implementierung dieser Handlungsvorschläge in den Profifußball begleiten. "Gemessen werden wir, damit die DFL, damit auch die Clubs, hinterher an der Umsetzung." Und so will sich die Bundesliga nun im Spagat zwischen nationalen Regelungen und internationaler Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg machen in eine schier traumhafte Zukunft.
Von Tim Brockmeier
17 Reformvorschläge hat die Taskforce "Zukunft Profifußball" der Deutschen Fußball Liga unterbreitet. Die deutschen Proficlubs sollen nicht nur sportlich erfolgreich sein, sondern weitere Schwerpunkte setzen. Dazu gehören zum Beispiel nachhaltige Entwicklungen, Förderung von Frauen und finanzielle Stabilität.
"2021-02-03T22:53:00+01:00"
"2021-02-08T16:56:06.181000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zukunft-profifussball-dfl-taskforce-setzt-grosse-ziele-100.html
91,051
Druck und Anfeindungen
Donald Trump: Der 45. Präsident der USA und Kritiker zahlreicher Medien (picture alliance / Consolidated News Photos) Nach dem Treffen von Donald Trump mit dem Verleger der "New York Times", Arthur Gregg Salzberger, sind die Fronten zwischen dem US-Präsidenten und den Medien weiterhin verhärtet. Nach Einschätzung von Washington-Korrespondent Thilo Kößler hätte das Treffen ein fruchtbarer Gedankenaustausch werden können. Stattdessen habe sich das Klima weiter verschärft. Für Journalisten in den USA wird die Arbeit somit immer schwieriger. Zwar sei ihre Situation nicht mit der in Russland oder Venezuela vergleichbar, sagte Kößler in @mediasres. Aber: Die Journalisten litten inzwischen unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck und Anfeindungen - und damit auch unter einem Sorgfältigkeitsdruck. Trump berichtete in einem Tweet von der Unterredung im Weißen Haus und bezeichnete die Medien erneut als "Feinde des Volkes". Zeitungsverleger Arthur Gregg Sulzberger erklärte daraufhin, er habe Trump in dem Gespräch für dessen verbale Ausfälle kritisiert. Er habe dem Präsidenten gesagt, dass er dessen Sprache "nicht nur als spalterisch empfinde, sondern auch mehr und mehr als gefährlich", erklärte Sulzberger in einer Stellungnahme auf der Internetseite seiner Zeitung. Er habe "ihn gewarnt, dass diese hetzerische Sprache zu einem Anstieg der Drohungen gegen Journalisten" beitrage und "zu Gewalt führen" werde. Trump legte daraufhin mit einer neuen Tirade nach und griff die Zeitung erneut verbal an. Vergangene Woche war nach einem Fototermin im Weißen Haus eine CNN-Reporterin wegen ihrer Fragen von einer anschließenden Pressekonferenz ausgeschlossen worden.
Thilo Kößler im Gespräch mit Stefan Fries
Ein als vertraulich deklariertes Treffen hat zu einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen US-Präsident Trump und dem Verleger der "New York Times" geführt. Der Streit wirft erneut ein Schlaglicht auf die Situation für Journalisten in den USA.
"2018-07-30T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:58.329000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trump-und-die-medien-druck-und-anfeindungen-100.html
91,052
Bedenken statt Leichtigkeit
Nach dem Vorfällen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind die Erwartungen an die Polizei während der Karnevalstage hoch. (picture alliance / dpa / Maja Hitiji) "Wat für en Stadt, wat für e' Panorama. Die Bröcke, dä Dom, die Jivelle vun dä Altstadt. Nä, wie schön! Nä, wat für en Stadt." "Tief drinnen empfindet ein Kölner sehr kosmopolitisch. Wir müssen schon nach unseren Werten leben, aber es stimmt schon, unsere Zivilisation, unsere Kultur ist in Gefahr. Wenn wir uns spalten lassen, fliegt Europa auseinander. Wir stehen vor einer großen Bewährungsprobe. Was am Dom Silvester passiert ist, das sehe ich praktisch als so eine Art Weckruf. Das wird nicht noch mal passieren." Wolfgang Niedecken, das Kölner Rock-Urgestein, bekannt durch BAP, nachdenklich und entschlossen zugleich. Es geht um seine Heimatstadt. Köln steht für Weltoffenheit und nun aber auch dafür, wie dem Staat Recht und Ordnung entgleiten können. Die Silvesternacht hat die Stadt verändert und ihre Bewohner aus deren Unerschütterlichkeit gerissen. "Et hätt noch emmer joot jejange" - dieses rheinische Selbstverständnis ist zumindest angekratzt. "Ich bin vor allen Dingen beunruhigt, wenn ich sehe, wie schnell dann tatsächlich innerhalb so einer Woche die Gesellschaft spaltbar ist, ja, es ging ja auf einmal, war ja komplett polarisiert. Und da kann man sich schon Sorgen machen." "Die Gesellschaft muss stärker zusammenstehen" "Dass in den letzten Jahren sich so viele schlimme Vorkommnisse auf Köln konzentriert haben, führt schon nach meiner Auffassung dazu, dass in der Bevölkerung doch eine gewisse Schockempfindung da ist. Man hat sich nicht vorstellen können, dass es ausgerechnet hier so eine Konzentration gibt. Es gibt die einen, die sagen, das sind reine Zufälle, und die anderen, die durchaus analysieren, dass es hier auch nicht besser ist als anderswo und deshalb die Gesellschaft auch noch stärker zusammenstehen muss," sagt der Fraktionschef der Kölner SPD, Martin Börschel. Köln muss einiges aufarbeiten. Schon im Jahr 2004 gab es im türkisch geprägten Stadtteil Mülheim einen Anschlag, der das Kölsche "Jeföhl" für Toleranz zutiefst infrage gestellt hat. Es hat allerdings bis 2011 gedauert, bis der Nagelbombenangriff von damals der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugeordnet werden konnte. "Bei einer Explosion von einem Wohn- und Geschäftshaus in Köln sind heute Nachmittag 17 Menschen verletzt worden, einige von ihnen schwer. Die Polizei geht davon aus, dass vor dem Gebäude im Stadtteil Mülheim ein mit Nägeln gespickte Bombe detoniert ist." "In Köln ist es bei einer Demonstration gegen Islamisten zu schweren Ausschreitungen gekommen. Unter den etwa 2.500 Teilnehmern waren viele Neonazis und gewaltbereite Fußball-Hooligans." "Einen Tag vor der Oberbürgermeisterwahl in Köln ist die parteilose Kandidatin Henriette Reker bei einem Messerangriff schwer verletzt worden. Der mutmaßliche Täter soll fremdenfeindliche Motive angegeben haben." "Die Übergriffe auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht haben Konsequenzen. Solche Vorfälle dürfe es nie wieder geben, sagte Oberbürgermeisterin Reker nach einem Krisentreffen." Der Psychologe Stephan Grünewald, Geschäftsführer des Rheingold-Instituts für Markt- und Medienanalysen, beschäftigt sich mit Gesellschaftsforschung und hat die Seele der Kölner analysiert. Er beobachtet, dass Menschen in dieser Stadt genauso Angst vor Überfremdung haben wie überall in Deutschland. Manche hätten eben auch das Gefühl, dass sie die Quittung für die Politik von Angela Merkel bekommen hätten. "Die große Frage, wen liebt Mutter Merkel eigentlich mehr, die eigenen oder die fremden Kinder, diese Frage stellen sich die Kölner auch." Vor allem aber stellen sich viele die Frage, ob die Ursache dafür, dass es so weit kommen konnte, in der Kölschen Mentalität selbst liegt. In der Stadt neigt man dazu, Dinge laufen zu lassen und sich dem Schicksal hinzugeben: "Et kütt, wie et kütt" – "es kommt, wie es kommt". Stephan Grünewald nennt das "optimistische Schicksalsergebenheit". "Köln ist eine Mutterstadt, und man erwartet von der Stadt eine grundlegende Versorgtheit. Sicherheit soll da sein, und das soll den Raum für eine Unbeschwertheit eröffnen. Und in der jüngsten Vergangenheit gab es Ereignisse, die dieses schlafwandlerische Vertrauen wirklich desaströs erschüttert haben. Das fing an mit dem Einsturz des Stadtarchivs, und der jüngste Moment war, dass mitten im Zentrum an den heiligen Domtürmen diese sexuellen Übergriffe passieren." "In Köln wird auch nur mit Wasser gekocht" Die Kölner, heißt es, fühlen sich der Perfektion wenig verpflichtet. Dieser Charakterzug dient immer wieder als willkommene Vorlage für Kabaretteinlagen und Büttenreden, so auch bei der Stunksitzung, der Institution des alternativen Karnevals am Rhein. Sprecher Winni Rau: "Köln ist die große Pannenstadt, egal, was es ist. Wir haben ja eine Nummer in der Stunksitzung, Köln kann gar nix, Köln kann nur Karneval, und so ist das ja in Köln. Bei uns im Programm heißt es dann, niemand hatte in Köln die Absicht, eine Oper zu bauen, niemand hatte die Absicht, eine OB-Wahl durchzuführen, niemand hatte die Absicht, eine U-Bahn zu bauen, weil alles, was die Kölner anpacken, wird irgendwie schwierig." Lale Akgün, liberale Muslimin, Psychologin und SPD-Politikerin lebt seit mehr als 30 Jahren in Köln. Auch sie zieht ein schonungsloses Resümee: "Die Dinge, die jetzt vorgefallen sind, die zeigen uns, auch in Köln wird nur mit Wasser gekocht. Das ist ein gutes Aufschlagen auf der Realitätsebene. Wir leben hier nicht auf der Insel der Glückseligen, wo alle den ganzen Tag schunkeln und ‚trink' doch eene mit' und all diese Sentimentalitäten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Auch wir müssen uns mit der Realität auseinandersetzen." "Neue Impulse durch die Oberbürgermeisterin" Vor allem die Politik ist jetzt gefordert. Bernd Petelkau, Fraktionsvorsitzender der Kölner CDU, will die Sanierung der Infrastruktur vorantreiben und sich für mehr Sozialwohnungen einsetzen. Jahrelang seien beschlossene Maßnahmen liegengeblieben. Nun sieht Petelkau aber Licht am Ende des Tunnels. "Die Kölner Mentalität ist so wie sie ist, und das ist auch gut so, aber wo ein Umdenken schon stattgefunden hat, ist Richtung Verwaltung. Da merkt man schon die neuen Impulse auch durch die neue Oberbürgermeisterin, da wird jetzt doch stärker angepackt und die Probleme auf den Tisch geladen. Diesen neuen Wind im Rathaus, den merkt man schon." Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker mit Ex-Polizeipräsident Wolfgang Albers auf der Pressekonferenz der Stadt nach der Kölner Silvesternacht. (picture alliance / dpa / Oliver Berg ) Henriette Reker ist parteilos und wurde bei der Oberbürgermeisterwahl im vergangenen Jahr gemeinsam von Grünen, CDU und FDP unterstützt. Dass die neue Frau im Amt engagiert, Dinge in Angriff nehmen will, glaubt auch Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, der seinen Wahlkreis in Köln hat. Vor allen Dingen sollten sich die Menschen wieder sicher fühlen: "Wir haben eine Zunahme von Gewalt, und es gibt offensichtlich eine Herabsenkung der Schwelle zur Gewalt und auch eine stärkere Billigung von Gewalt. Wichtig ist halt natürlich auch, dass die Polizei in Zukunft in dieser Stadt auch ihre Arbeit macht, weil die Fehler der Einsatzleitung, die es beim Hogesa-Aufmarsch schon gab, haben sich im Prinzip in der Kölner Silvesternacht wiederholt. Man hat die Lage zunächst falsch eingeschätzt, das kann passieren, aber man hat dann auch nicht darauf reagiert, als man gemerkt hat, die Lage entwickelt sich anders als prognostiziert." "Die Unsicherheit bei Frauen ist gestiegen" "Dass man da sicherlich in Köln auch polizeitaktisch schlauer hätte reagieren können, das ist völlig klar. Trotzdem muss man zum Schutz der Polizeikräfte, vor allem der Polizeikräfte vor Ort, deren Schuld das ja nie ist, sagen, es hat so was noch nicht gegeben," meint Karnevalist Winni Rau. Inzwischen hat Köln einen neuen Polizeipräsidenten. Die Beamten stehen gerade während der tollen Tage vor einer harten Bewährungsprobe. Es gilt Urlaubsstopp, und der Druck sei enorm, sagt Markus Szech, Kölner Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Man wolle Vertrauen zurückgewinnen: "Die Unsicherheit ist insbesondere bei Frauen gestiegen nach diesen Vorfällen. Andererseits ist natürlich auch sehr viel in den Medien berichtet worden, auch über die steigende Polizeipräsenz, die natürlich aktuell jeder wahrnehmen kann. Ich behaupte mal, der Hauptbahnhof ist jetzt einer der sichersten Gebiete in Nordrhein-Westfalen, wenn man sich das anguckt. Umgekehrt gibt es leider diese traurige Angewohnheit von einigen, das zu instrumentalisieren. Und wir haben aktuell erlebt, dass hier einige durch die Stadt gezogen sind, um Ausländer zu verprügeln - als Bürgerwehr getarnt - und das für ihre Zwecke missbrauchen." Gegen Hooligans und Rechtsradikale muss die Polizei zusätzlich noch mehr Einsatzkräfte bereitstellen. Eigentlich habe Köln keine große rechtsradikale Szene, so Markus Szech, viele kämen aber zum Beispiel aus Dortmund an den Rhein. Zu kämpfen habe die Polizei außerdem mit einem weiteren Phänomen - das allerdings bundesweit: mit laschen Urteilen der Justizbehörden. "Das ist sehr intensiv, jemanden mit Zivilkräften zu beobachten, jemandem eine Tat nachzuweisen, gerade bei so einem Antanztrick beispielsweise oder so einem Sexualdelikt. Das ist nicht ganz einfach. Und wenn ich jetzt so jemanden habe, und den dann vor Gericht stelle, und der wird freigesprochen oder der bekommt nur Sozialstunden, dann ist das für die Polizei ein Problem, weil dieser Täter wird uns immer wieder begegnen, und da brauchen wir also eine konsequente Rechtsprechung." Zunehmende Kriminalität auch in Einwanderervierteln Ab Mitte Februar soll im Landtag von Nordrhein-Westfalen ein neu eingesetzter Untersuchungsausschuss herausfinden, warum an Silvester nicht ausreichend Polizisten im Einsatz waren und wer dafür verantwortlich war. Und da hofft der Kölner GdP-Sprecher Markus Szech: "Insbesondere, wenn es um den Untersuchungsausschuss geht, dass jetzt hier kein parteipolitisches Geschacher ausbricht, sondern dass man sich wirklich auf die Basics konzentriert und jetzt Justiz, Sozialarbeit und Polizei Hand in Hand arbeiten, damit die Bürgerinnen und Bürger hier wieder sicher leben können." Ärger über zunehmende Kriminalität ist nicht nur im Zentrum Kölns zu spüren, sondern auch in dem Viertel, in dem viele Einwanderer aus Marokko leben. Das kann Bernd Petelkau, Kölner CDU-Fraktionschef, gut nachempfinden: "Die Polizei hat weitestgehend weggeschaut, das ist der eigentliche Skandal, gerade die Nordafrikaner, die sogenannten Antänzer, das war jetzt kein Problem von Silvester, sondern das ist eine Entwicklung, die sich in den letzten drei Jahren immer mehr aufgebaut hat. Die Polizei hat nichts dagegen unternommen. Jetzt weht da Gott sei Dank ein anderer Wind, und ich hoffe, dass das auch dazu führt, dass sich die Dinge hier normalisieren." Händler Ahmed wohnt seit 26 Jahren in Köln. Nie habe es in der Nachbarschaft Schwierigkeiten gegeben. Doch dann hätten junge Männer die Gegend unsicher gemacht. Ahmeds Tochter wurde das Handy gestohlen: "Von einmal dieses Jahr ist alles gewechselt, ich wissen gar nix, warum, weil wir haben so viele Leute, die kommt überall jetzt. Haben keine Papiere und so was, was suchen jetzt in Deutschland? Hat nichts zu tun, die müssen das schicken, in Heimat oder egal was. Die Polizei jetzt, normalerweise sie machen ihre Arbeit, die machen Kontrolle und so, das ist richtig so. Jetzt ist ganz gut. Drei, vier Wochen vorher war schlimmer hier." Seit den Vorfällen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht hat sich die Stimmung in der Stadt verändert. (picture-alliance / dpa / Oliver Berg) Die Situation im Viertel hat sich beruhigt. Aber die Sorge, dass im Kölner Zentrum Frauen belästigt oder angegriffen werden könnten, ist geblieben, und hat den Lebensrhythmus von Ahmeds Familie durcheinandergebracht. "Ich habe zwei Töchter, die arbeiten nachts manchmal, spät und so, früher war schon allein, die kommt mit Bahn oder die kommt mit Taxi oder so, jetzt ist schlimm, ich muss selber meine Tochter, ich muss selber dahin und ich muss mitbringen nach Hause, weil wir haben Angst mit diesen Sachen." Akgün: Es gibt weiterhin die liberale Stadt Besonders die Silvester-Übergriffe haben dem Ruf der Stadt auch über Deutschland hinaus geschadet und viele Besucher verunsichert. Stornierungen im großen Ausmaß habe es bislang aber nicht gegeben, sagt der Geschäftsführer von Köln Tourismus, Josef Sommer. Auf jeden Fall müsse sich die Stadt auf ihre Stärke besinnen. "Weltoffen, tolerant auf alle Fälle, das ist der Markenkern, wenn man so will, von Köln, und daran wird sich und kann sich auch nichts ändern nach diesen Vorfällen. Dieser Markenkern, denke ich, muss eher noch gestärkt werden, als dass man ihn jetzt schleifen lässt." Das sehen auch die meisten Kölner so. Es gibt weiterhin die liberale Stadt, Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen und gegen rechtes Gedankengut und Frauenfeindlichkeit ankämpfen, wie Lale Akgün. "Ich persönlich zum Beispiel habe mich entschlossen, mich überhaupt nicht ins Bockshorn jagen zu lassen, wenn die Leute sagen, ja, ist doch gefährlich, nein, ich komme immer noch abends um halb zwölf, zwölf am Bahnhof an, marschiere durch den Bahnhof, um zu zeigen, es geht doch." Der Kölner SPD-Fraktionsvorsitzende Martin Börschel meint, dass sich inzwischen Bürger engagierten, die früher nicht auf die Straße gegangen seien. "Es gehört ja mitunter so ein bisschen zur aufgeklärten Folklore, gegen Rechts und gegen Gewalt zu sein, aber es war nicht wirklich immer in der Mitte der Gesellschaft angekommen und dieses Bewusstsein ist, glaube ich, in den letzten ein, zwei Jahren schon gewachsen." "Eine ganz wichtige Initiative ist in diesem Zusammenhang das Bündnis von "Köln stellt sich quer", was bei allen rechten Bewegungen immer wieder klar macht, ihr seid nicht das Volk, ihr seid nicht Köln, wir sind die Stadtgesellschaft," sagt der Kölner Bundestagsabgeordnete von den Grünen Volker Beck. Es habe nach den Übergriffen sogar spontane Solidaritäts-Demonstrationen gegeben. "Ich habe bei dem Flashmob auch junge syrische Männer gesehen mit Schildern auf Arabisch und Englisch: "Syrer gegen Sexismus", also die haben selber sagen wollen, das sind nicht wir, und wir verurteilen das genauso und sind genauso darüber entsetzt." Gedenkfest für Keupstraßen-Opfer "Arsch huh, Zäng ussenander", auf Hochdeutsch "Arsch hoch, Zähne auseinander" - ist das Motto einer Kölner Kampagne von Künstlern und Musikern gegen rechte Gewalt, die seit über 20 Jahren aktiv ist. Das ganze Jahr über sind Aktionen und verschiedene Projekte geplant. Eines hatte schon einen Probelauf, so Arsch-huh-Vorstand Manfred Post: "Nämlich ein Musikbus, da versucht man eben halt mit dem Bus die einzelnen Flüchtlingsstationen anzufahren und mit Kindern und Jugendlichen Musik zu machen. Was auch in der Überlegung ist, also im Anfangsstadium, eine Internetjobbörse für Flüchtlinge aufzubauen, vor allen Dingen in dem kreativen künstlerischen Bereich." Tausende Menschen drängen beim Kulturfest "Birlikte - Zusammenstehen" durch die Kölner Keupstraße. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser) Meral Sahin ist Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße. Dort explodierte 2004 die Nagelbombe. Ihr Verein wirbt für ein Miteinander und hatte 2014 - zehn Jahre nach dem Anschlag - mit einem großen Fest der Opfer gedacht, an dem auch Bundespräsident Gauck teilnahm. "Birlikte" heißt dieses Fest, auf Deutsch "Zusammenstehen", das Meral Sahin nun weiter organisiert: "Das ist sehr notwendig in der heutigen Zeit, damit man die Fehler, die vor 30 Jahren passiert sind oder vor 40 Jahren mit den Gastarbeitern, dass wir das nicht wiederholen, dass wir mit unseren neuen Bürgern ein Zusammenleben bilden, was nicht diese Folgen hat wie zum Beispiel die Nagelbombe. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Und wenn ich sage gemeinsam, dann meine ich wirklich quer Beet alle Nationalitäten." "Karnevalsunterricht" für Flüchtlinge Prominente haben vor zwei Wochen die "Kölner Botschaft" verfasst, die in vielen Zeitungen veröffentlicht wurde. Sie rufen dazu auf, sich zum Beispiel gegen sexuelle Gewalt und fremdenfeindliche Hetze zu wenden. Zu den Unterzeichnern gehört neben vielen Künstlern und Politikern auch Kardinal Woelki. Der Erzbischof von Köln gilt als moralische Instanz der Stadt. Er setzt sich für Flüchtlinge ein. 2015 wurde während einer Pegida-Demonstration in Köln aus Protest sogar die Dombeleuchtung abgeschaltet. "Wir werden heute noch einmal kurz einen Flyer erklären." Der Jugendmigrationsdienst der Katholischen Jugendagentur kümmert sich um junge Flüchtlinge. Gerade bereiten der Leiter der Einrichtung, Peter Scholz, und seine Kollegin, Janine Heupel, einige auf den Karneval vor. "Wir wollen ihnen einerseits erklären, was Karneval passiert, auf der anderen Seite können sie selber den Karneval mitgestalten, dass es dann auch wirklich Spaß macht." "Wenn man das nicht kennt, ist das natürlich eine neue Erfahrung, deshalb finde ich, ist es auch sehr wichtig, ganz einfach zu erklären, was ein Bützchen ist, dass das was Unverbindliches ist oder dass man zusammen schunkelt, ja, wie man Karneval zusammen feiert." Auch die Caritas hat eine Unterrichtsstunde "Karneval für Anfänger" gegeben. (Deutschlandradio / Moritz Küpper) "Dausende vun Heimwehleeder handle vun dä Stadt, Treueschwüre, kölsch jesunge, vun charmant bess platt. Em Karneval, em Stadion, dä Voodoo funktioniert." "Das ist natürlich ein Fest, wo die ganze Stadt unbeschwert wieder ihre Kindheit feiern will. Wenn es gelingt, letztendlich dieses Karnevalsfest sicher ablaufen zu lassen, wenn sagen wir mal, auch die Gäste und Fremden realisieren, dass es in diesem freizügigen Fest strenge Spielregeln gibt, dann ist viel gewonnen," sagt der Psychologe und Köln-Kenner Stephan Grünewald. Und sogar auf der Stunksitzung wünscht sich Sitzungspräsidentin Biggi Wanninger strenge Spielregeln herbei: "Es wäre doch schön, wenn es in Zukunft auch so Dinge gäbe, die einen positiv überraschen, zum Beispiel das rechte Nazipack wird mit der gleichen Härte verfolgt, wie damals die RAF im deutschen Herbst." Niedecken: "Wir sind nicht voreingenommen" Die Kölner, letztlich doch im Karneval versöhnt, so kann sich auch Rockmusiker Wolfgang Niedecken ein Kölsches Happy-End vorstellen. "Gemütlich, bekloppt, verklüngelt und der Rest katholisch, so sind wir. Wir sind nicht voreingenommen, wir sind manchmal ein bisschen sehr, sehr, sehr Köln-besoffen, die Liebe zu der Stadt ist manchmal auch für einen Kölner unerträglich, aber es ist schon ok. Ich lebe gern in der Stadt." "Do mähste nix draan."
Von Susanne Grüter
Der Nagelbombenanschlag in Köln-Mülheim, die Ausschreitungen bei der Hogesa-Demo, das Attentat auf die Bürgermeister-Kandidatin und nun die Übergriffe in der Silvesternacht: Köln ist offenbar nicht so gemütlich, wie es gern tut. Nun steht Karneval vor der Tür - und die Polizei unter Druck.
"2016-02-03T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:00.749000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/koeln-nach-silvester-und-vor-karneval-bedenken-statt-100.html
91,053
Schwerpunkt: Wenn's für Medizin nicht reicht
Vor allem in Mangelfächern wie Psychologie, Architektur und vor allem Medizin. Viele Abiturienten sehen aber nicht ein, dass ihre Abschlussnote über ihren Lebensweg entscheiden soll - und gehen ins Ausland. Sie studieren komplett in Österreich, Ungarn, oder den Niederlanden, oder gehen für einige Semester weg, und versuchen danach, an einer deutschen Hochschule weiterzumachen. Campus & Karriere fragt: Ist das ein empfehlenswerter Umweg? Wird das Medizinstudium in Ungarn überhaupt anerkannt? Und was sagen die ausländischen Unis zu den NC Flüchtlingen? Gesprächsgäste sind:* Leonie Zühlke, sie hat einen Teil des Medizin Studiums in Ungarn absolviert und studiert nun an der TU Dresden.* Christiane Schmeken vom Deutschen Akademischen Austauschdienst* Prof. Hans Sünkel, Rektor der TU Graz und Leiter der österreichischen Universitäten-KonferenzBeiträge: Birgit Johannsmeier: Geld verdienen mit NC-Flüchtlingen - Lettland bietet ein teures Medizinstudium an Moderation: Manfred Götzke
Moderation: Manfred Götzke
Zwei Buchstaben sorgen für schlaflose Nächte, lassen Abituriententräume platzen, werfen Lebenspläne über den Haufen. NC: Numerus Clausus. Ist er zu hoch, war's das mit dem Traumstudium. Aber es gibt Auswege, zum Beispiel ins Ausland zu gehen.
"2011-04-22T14:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:14:16.135000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwerpunkt-wenn-s-fuer-medizin-nicht-reicht-100.html
91,054
"Die Risiken werden wieder stärker"
Der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU). (imago / Schreyer) Die geplanten Staatsanleihenkäufe von EZB-Präsident Mario Draghi seien eher "Medikamente mit gefährlicher Nebenwirkung als eine ernsthafte Therapie", sagte Söder im DLF. "Ein unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen lässt das ganze System ins Wanken bringen." Die EZB-Politik habe eine gefährliche Wirkung, sagte Söder. "Jetzt erneut einzusteigen in ein 500-Milliarden-Karussell, billiges Geld auf den Markt zu schmeißen, führt ja nicht dazu, dass der Reformdruck schneller wird, besser wird, dass mehr geleistet wird, sondern dass eher nachgelassen wird", sagte der Finanzminister. "Ein Nachlassen der Reformen wird von den Märkten am Ende negativ goutiert." Eine Staatenfinanzierung gehöre nicht zum Mandat der Zentralbank. In den Staaten seien weitere Reformen nötig, der Druck auf die Regierungen müsse erhöht werden. "Es hat ja keinen Sinn, wenn Du zwei Eimer Wasser ausgießt auf den Boden, wenn der Boden nicht bereitet ist, damit was wachsen kann." Söder sagte, deutsche Sparer seien schon mit Niedrigzinsen belastet. "Weil die Niedrigzinsen nicht mehr funktionieren, kommt jetzt zusätzlich noch die Möglichkeit, Ramschanleihen oder zumindest wertlosere Anleihen zu kaufen zu einem überhöhten Preis, der auch wiederum nichts anderes bedeutet, als dass sich Haftungsrisiken erhöhen ohne wirtschaftliche Effekte." Niedrigzinsen "führen dazu, dass die Risiken wieder stärker werden, die einmal zu der Finanzkrise geführt haben". Das Interview in voller Länge: Dirk Müller: "Typisch Italiener", raunen schon die traditionsbewussten Finanzpolitiker in Berlin und anderswo hinter vorgehaltener Hand. Es ist wieder einmal Mario Draghi, der Ärger macht, nicht nur für viele in Berlin, sondern auch für zahlreiche Bundesbanker zum Beispiel in Frankfurt. Der Chef der EZB will Hunderte Milliarden ausgeben, um die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, um eine höhere Inflation zu erreichen, um Unternehmen zu bewegen, endlich wieder mehr Geld zu investieren. So schön, so gut! Das Problem dabei: Mario Draghi will dies erreichen, indem die Zentralbank Staatsanleihen aufkauft, auch Anleihen von Ländern, die ihr Geld vielleicht gar nicht wert sind. Für die Kritiker an den Plänen steht ein Schlagwort Pate: Unerlaubte Staatsfinanzierung. Unser Thema jetzt auch mit dem bayerischen Finanzminister Markus Söder (CSU). Guten Morgen nach München! Markus Söder: Guten Morgen! Grüß Gott. Müller: Herr Söder, sind Sie Draghi-Fan? Söder: Es ist nicht eine Frage, ob ich ein Fan von Draghi bin oder nicht, sondern ob ich die Entscheidungen der EZB für richtig halte, und ich schließe mich dem Bundesbankpräsidenten an. Am Ende hat das mehr gefährliche Wirkungen, denn die entscheidende Herausforderung ist doch, dass wir in Europa, in der Euro-Zone weitere Reformen in den Staaten brauchen. Und die Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, führen in erster Linie dazu, dass der Reformdruck nachlässt, die Staaten sich günstig refinanzieren können, obwohl die Substanz dafür nicht da ist, und damit ist die Wirkung genau die gegenteilige: Es wird eher schwächer für die Wirtschaft werden. Müller: Sie würden alles so lassen wie es ist? Söder: Ich würde eher dafür sorgen, dass in den Staaten selber die Reformen weiter angekurbelt werden. Es hat doch keinen Sinn, wenn Du zwei Eimer Wasser ausgießt auf den Boden, wenn der Boden nicht bereitet ist, damit was wachsen kann, und es hat auch keinen Sinn, die Geschwindigkeit zu erhöhen wenn die Richtung, die falsche ist. Die EZB-Politik kommt nicht mehr zum Ergebnis. Niedrigzinsen und Staatsanleihenkäufe, die sind der falsche Weg. Müller: Aber wer macht das denn, wenn Sie das fordern? Das fordern ja viele, den Reformdruck aufrecht zu erhalten, gerade auch im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in Griechenland, die dieses Wochenende anstehen. Warum ist die Politik nicht stark genug, das durchzusetzen? Söder: Die Politik ist ja stark genug. Aber wenn die Europäische Zentralbank diesen Weg geht, dann verführt sie sozusagen oder verleitet oder gibt die Möglichkeit, dass genau diese falsche Richtung weiter betrieben wird. Man darf ja nicht vergessen: Das kann ja auch dann dazu führen, dass quasi deutsche Notenbanken indirekt portugiesische Staatsanleihen kaufen müssen, oder andere Staatsanleihen, die weniger wert sind, und damit der deutsche Steuerzahler zusätzlich haftet. Wir sind hier mit den Niedrigzinsen schon so belastet, die deutschen Sparer, die die gesamte Finanzierung dabei tragen, obwohl die Niedrigzinsen ja nicht funktionieren. Es wurde ja versprochen, mit den Niedrigzinsen kurbeln wir die Wirtschaft an. Außer dass sie die Sparer belasten, ist wenig passiert. Weil die Niedrigzinsen nicht mehr funktionieren, kommt jetzt zusätzlich noch die Möglichkeit, Ramsch-Anleihen oder zumindest wertlosere Anleihen zu kaufen, zu einem überhöhten Preis, der auch wiederum nichts anderes bedeutet, als dass sich Haftungsrisiken erhöhen ohne wirtschaftliche Effekte. "Man müsste zumindest noch mehr Sicherheitsrisiken einbauen" Müller: Für Sie ausgemachte Sache, dass jetzt Schrottpapiere aus Südeuropa auf den Markt kommen? Söder: Na ja. Wenn Papiere, wie es ja in dem vorigen Beitrag schon angemahnt wurde, wenn Papiere zu einem weniger hohen Wert, den sie eigentlich haben, auf den Markt kommen, dann aber überhöht bezahlt werden, dann ist das natürlich ein Missverhältnis, ökonomisch nicht sinnvoll und führt dazu, dass die Staaten billiges Geld zwar bekommen, aber das nützt ihnen letztlich nichts, weil ein Investment dort eh nicht funktioniert ohne Reformen, so wie es in Deutschland übrigens auch war. Die damalige Prozessagenda 2010 hat erst dazu geführt, dass Investitionen dann rentierlich wurden. Müller: Ich möchte das so Sie noch mal klar fragen, Herr Söder. Sie haben es zwar schon indirekt beantwortet. Für Sie ist das ganz klar: Mario Draghi macht mit großer Wahrscheinlichkeit heute einen folgenschweren Fehler? Söder: Ich glaube, dass das eine falsche Entscheidung ist, in der Tat, und ich schließe mich denen an, die warnen. Man müsste zumindest noch mehr Sicherheitselemente einbauen, zum Beispiel eine begrenzte Zeit. Denn für Deflation übrigens sehe ich auch zu keinem Zeitpunkt die Gefahr. Man müsste sagen, was weiß ich, drei, vier, fünf Monate maximal. Aber ein unbegrenzter, unlimitierter Ankauf von Staatsanleihen, der lässt letztlich das gesamte System ins Wanken bringen und wird am Ende nicht dazu führen, dass deutsche Steuerzahler entlastet, sondern eher belastet und die Wirtschaft in Südeuropa deswegen nicht anspringen wird. Müller: Wir kennen die Details ja noch nicht genau. Sie sagen, es muss irgendwie begrenzt werden. Medien berichten heute Morgen, dass es um 50 Milliarden Euro pro Monat geht im Schnitt, und insgesamt sollen es 500 Milliarden sein. Das wäre ja begrenzt. Söder: Ja, 500 Milliarden. Um welche Beträge es sich hier handelt! Man muss auch mal überlegen, dass es das Wichtigere wäre, jetzt nicht einfach billiges Geld wieder erneut auf den Markt versuchen zu schmeißen, sondern endlich hart arbeiten dafür. Ich glaube, dass das ganze Programm in die falsche Richtung geht, zur falschen Zeit, und eher, wie es angesprochen wurde, Medikamente sind mit gefährlichen Nebenwirkungen als eine ernsthafte Tat. Müller: Bereuen Sie jetzt, dass Mario Draghi als Chef der EZB unabhängig ist? Söder: Das Problem ist, dass möglicherweise diese Unabhängigkeit, die wichtig ist, dass die gerade deswegen überschritten wird, weil das eigentlich nicht mehr vom Mandat gedeckt ist. Die EZB sollte eigentlich eine europäische Bundesbank sein und keine Federal Reserve Bank auf deutschem Boden. Müller: Das müssen Sie uns aber noch mal erklären. Das heißt, er ist noch unabhängig, oder nicht mehr wirklich unabhängig? Söder: Die Europäische Zentralbank handelt unabhängig im Rahmen ihres Mandats. Das was sie jetzt macht, eine Staatenfinanzierung zu betreiben, gehört aber nicht mehr zu ihrem Mandat. Söder: Mit Anleihekäufen überschreitet die EZB ihr Mandat Müller: Die europäischen Richter sehen das offenbar anders. Söder: Das ändert nichts daran, dass man - ob sie das wirklich so anders sehen, weiß man nicht. Es sind ja erst diesen Anwaltschaften Vorträge gemacht worden. Aber es gibt sehr, sehr viele kluge und gewichtige Stimmen, viele Volkswirte, gerade in Deutschland ist die Stimmung da relativ eindeutig, wenn man die Bundesbank beispielsweise ansieht, die sehen das anders. Müller: Dann ist das definitiv ein Nachteil, dass Mario Draghi jetzt diese Kompetenz hat, über 500 Milliarden Euro zu entscheiden? Söder: Die Frage ist ja nicht, ob die Kompetenz an der Stelle richtig ist, oder ob er die hat, sondern die Frage ist, ob die Entscheidung im Rahmen der Möglichkeiten ist, die ursprünglich der EZB gegeben wurden. Da, bin ich der festen Überzeugung, wird das Mandat jetzt so ausgedehnt, dass es am Ende überschritten wird. Müller: Und damit würden die Deutschen auch niemals wieder Mario Draghi noch ein Mandat geben? Söder: Ja das ist jetzt eine Kindergarten-Diskussion zu sagen, würde, hätte, könnte, sollte, sondern es geht um die heutige Entscheidung. Die EZB hat ja vor zwei Jahren in der Tat einen wichtigen Beitrag geliefert. Sie hat den Staaten Zeit verschafft, um Reformen zu machen. Jetzt stellt sich aber offenkundig heraus, dass diese Reformen offensichtlich nicht gemacht werden. Jetzt dann erneut einzusteigen in ein 500-Milliarden-Karussell, billiges Geld auf den Markt zu schmeißen, führt ja nicht dazu, dass der Reformdruck besser wird, schneller wird, dass mehr geleistet wird, sondern dass eher nachgelassen wird. Und ein Nachlassen dieser Reformen, das wird am Ende von den Märkten auch negativ goutiert. Müller: Und die Banken profitieren? Söder: Profitieren tun zunächst mal die Staaten. Die Staaten profitieren davon, denn sie können sich damit besser refinanzieren. Sie haben mehr Möglichkeiten, Geld aufzunehmen. Das heißt aber umgekehrt auch, dass sie weniger tun werden, um ihre Haushalte in Ordnung zu bringen, und auch weniger schwierige Reformen im eigenen Land, die zwar am Anfang schwierig, am Ende aber ökonomisch erfolgreich sind. Müller: Aber die Banken kommen auch wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück, können beispielsweise - das ist ja ein Argument der Befürworter - wieder viel mehr Kredite ohne Probleme vergeben, die auch noch billig sind. Söder: Ja, das könnte ein Argument sein. Allerdings wenn man sieht, dass die bisherige Politik mit niedrigen Zinsen, mit extrem niedrigen Zinsen nicht dazu geführt hat, dass mehr normale Wirtschaftskredite vergeben werden, sondern dass umgekehrt wieder sehr risikoreiche Investitionen an den Finanzmärkten anspringen - das ist der Effekt, weil es liegt in der DNA des Geldes, sich stärker vermehren zu wollen -, also wenn die normalen rentierlichen Wirtschaftsinvestitionen sich wegen dieser Zinsen nicht lohnen, dann geht man wieder in riskante Finanzmarktrisiken. Am Ende wird zwar gut gemeint, aber dieselben Risiken beschworen, die uns schon einmal in extremste Turbolenzen gebracht haben. Müller: Aber, Herr Söder, sie sagen jetzt häufig ja auch, die Niedrigzinspolitik hat nichts gebracht. Das haben Sie bei uns auch im Deutschlandfunk gesagt. Für Sie als Finanzpolitiker, auch für Wolfgang Schäuble als Bundesfinanzminister ist das doch traumhaft. Sie bekommen ganz billig Geld. Söder: Für den bayerischen Finanzminister ist das nicht das Problem, weil der macht keine Schulden, der baut Schulden ab. Für mich sind Niedrigzinsen nicht entscheidend. Ich finde Niedrigzinsen eine Katastrophe, weil damit die deutschen Sparer und damit die deutsche Stabilitätskultur belastet wird. Ich finde Niedrigzinsen keine Lösung und sie bringen auch am Ende genau das Negative. Sie führen dazu, dass die Risiken auf den Märkten wieder stärker werden, die einmal zu der Finanzkrise geführt haben. Ich kann an der Niedrigzinspolitik der EZB keinen wirklich guten Effekt auf Dauer erkennen. "Das einzige was hilft, sind Reformen, Reformen, Reformen" Müller: Jetzt sagt ja Jens Weidmann, Sie haben das auch gesagt, Sie sehen diese Deflationsgefahr nicht, also sinkende Preise. Dabei ist die Inflation gerade mal noch 0,2 Prozent. Da ist man doch ziemlich nahe dran an der Null oder an der minus 0,1. Söder: Es gibt aber keinen ernsthaft, der eine Deflation befürchtet, zum einen. Zum anderen haben wir ja auch die Inflation. Man darf das nicht vergessen. Inflation ist ja nicht per se etwas Gutes. Ganz im Gegenteil! Verteuerung, Geldschwierigkeit ist ja nichts, was auch die Sparer, was die Menschen in Deutschland wirklich gut finden. Insofern: Da wird hier versucht zu sagen, Inflation sei was Tolles. Helmut Schmidt hat ja mal gesagt, lieber fünf Prozent mehr Inflation als fünf Prozent mehr Arbeitslosigkeit. Das war einer der wenigen großen ökonomischen Fehlaussagen, die Helmut Schmidt damals traf. Also ich sehe: A, das Gespenst der Deflation nicht und B, sehe ich auch keine echte heilwirksame Situation durch die Inflation. Das Einzige was hilft sind Reformen, Reformen, Reformen. Müller: Das ist die Aufgabe der Politik. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe und verstanden habe, ist es so: Die EZB ist mit ihrer Geldpolitik, mit den geldpolitischen Instrumenten, die zur Verfügung stehen, am Ende? Söder: Die Strategie, die sie hat, in der Tat, die führt nicht mehr sehr viel weiter. Man versucht, das Rad noch eine Runde zu drehen, die Geschwindigkeit noch etwas zu erhöhen, aber das hat alles keinen großen Effekt, wenn in den Staaten sich nichts verändert, wenn Frankreich und Italien nicht ihre Reformen stärker voranbringen, wenn in den südeuropäischen Ländern der Reformprozess, der ja schon gut funktioniert hat - es ist ja nicht so, dass da nichts passiert ist, aber der muss fortgesetzt werden. Man kann da nicht mittendrin aufhören. Die Anleihenpolitik führt einfach dazu, dass etwas Druck von diesem Reformprozess genommen wird und damit am Ende möglicherweise der Effekt deutlich geringer ist. Müller: Jetzt warten wir alle noch auf den Satz der Kanzlerin, die da sagt, das ist alles Murks, was Mario Draghi jetzt machen will. Söder: Ich finde es zumindest gut, dass man aus der Bundesregierung mehr Rückendeckung für Weidmann, deutlich mehr Kritik an dem Kurs spürt. Ich glaube, das ist notwendig. Wir brauchen keine deutsche Dominanz, wir brauchen kein deutsches Oberlehrertum, aber schon eine klare Politik, denn Deutschland ist das Land, das die größten Haftungsrisiken übernimmt und das der Währungsanker schlechthin ist in Europa. Insofern haben wir auch die Aufgabe, da den Finger in die Wunde zu legen. Müller: Aber den klaren Satz von Angela Merkel haben wir noch nicht gehört. Söder: Für Angela Merkel, was man so hört, auch für die Bundesregierung, insbesondere Wolfgang Schäuble, hat man schon sehr mahnende Worte gehört. Ich halte das für sehr wichtig und richtig. Müller: Bei uns heute Morgen der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU). Danke für das Gespräch, auf Wiederhören. Söder: Danke. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Söder im Gespräch mit Dirk Müller
Der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) hat die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) kritisiert. Sie "kommt nicht mehr zum Ergebnis", sagte Söder im Deutschlandfunk. Der Reformdruck auf die Staaten sinke. Die EZB beschwöre dieselben Risiken, "die uns schon einmal in extremste Turbulenzen gebracht haben".
"2015-01-22T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T12:18:03.546000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ezb-politik-die-risiken-werden-wieder-staerker-100.html
91,055
Abschied von Südafrikas Mutter der Nation
Der Sarg mit dem Leichnam der verstorbenen Anti-Apartheidskämpferin Winnie Madikizela-Mandela steht im Orlando-Stadion während des Staatsbegräbnisses. (dpa / picture alliance / Themba Hadebe) Südafrika nimmt Abschied von der "Mutter der Nation". Tausende werden sich heute im Orlando-Stadion in Soweto zu einem Trauergottesdienst versammeln. Nur wenige Kilometer entfernt von ihrem Haus im Stadtteil Orlando West, wo sie bis zuletzt gewohnt hat. Im Anschluss wird Winnie Madikizela-Mandela mit militärischen Ehren und 19 Salutschüssen auf einem Friedhof im Norden Johannesburgs beigesetzt. Für viele Südafrikaner das Ende einer Ära. "Ruhe in Frieden, Mama Winnie. Du hast gekämpft! Ich weiß noch, wie Du während der Apartheid verhaftet wurdest. Ich erzähle meinen Kindern und Enkeln und Ur-Enkeln davon. Wir werden Dich nie vergessen." "Mama Winnie Mandela hat für uns gekämpft. Ich wurde 1977 geboren. Alles, was ich heute bin, habe ich ihr zu verdanken. Ich bin so traurig. Es ist, als hätte ich meine eigene Mutter verloren. Denn sie war die Mutter der Nation." Dunkle Punkte im Lebenslauf Genau um diese Rolle ist seit Winnie Madikizela-Mandelas Tod am Ostermontag in Südafrika heftig diskutiert worden. Denn in ihrem Lebenslauf finden sich auch viele dunkle Punkte. So werfen ihr einige vor, sie sei eine gewalttätige Egomanin gewesen, die mitverantwortlich war für die Entführung und den brutalen Tod von vermeintlichen Verrätern im Befreiungskampf. Winnie Madikizela-Mandela (EPA/AFP) Die Mehrheit der Südafrikaner allerdings will sie nach ihrem Tod vor allem als furchtlose Kämpferin für Gerechtigkeit in Erinnerung behalten. Finanzminister Malusi Gigaba steht stellvertretend für eine Haltung in der Gesellschaft und vor allem in der Mandela-Partei ANC, die die "Mutter der Nation" verklärt und Kontroversen ausblendet. "Manche Menschen sind so überlebensgroß, dass man nicht damit rechnet, dass sie von uns gehen. Solche Ikonen hinterlassen eine Riesenlücke in unseren Herzen. Eine Leere, die nicht gefüllt werden kann." Suche nach Balance Nur wenige prominente Stimmen in der Öffentlichkeit suchen nach einer Balance: Die Kolumnistin Palesa Morudu forderte in der Zeitung Business Day, trotz Madikizela-Mandelas Heldentums dürften historische Realitäten nicht geleugnet werden. Südafrika müsse sowohl ihr glorreiches Erbe feiern als auch die Gräueltaten verurteilen, mit denen sie in Verbindung gebracht wurde. Doch in Südafrika ist der Blick auf "Mama Winnie" in den vergangenen Jahren zunehmend weichgezeichnet worden. Enkel und Ur-Enkel erinnern an "Big Mommy" Mit dem heutigen Begräbnis endet in Südafrika eine knapp zweiwöchige Staatstrauer. Dutzende Trauerfeiern im ganzen Land hat es in den vergangenen Tagen gegeben. Bei der größten in Soweto in dieser Woche sind auch einige von Madikizela-Mandelas acht Enkeln und elf Ur-Enkeln aufgetreten. Und haben viele Besucher mit ihren Erinnerungen an "Big Mommy" zu Tränen gerührt. "Meine Oma war die Beste! Sie hat mich geliebt. Und sie war lieb und nett. Und voller Freude. Sie war die Beste, die ich mir vorstellen konnte."
Von Jan-Philippe Schlüter
In Johannesburg wird die am Ostermontag verstorbene Winnie Mandela beerdigt. Viele Südafrikaner verehren die Widerstandskämpferin als "Mutter der Nation" für ihren furchtlosen Einsatz gegen den rassistischen Apartheid-Staat. Doch es gibt auch dunkle Seiten in ihrem Lebenslauf.
"2018-04-14T06:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:45.225000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/staatsbegraebnis-fuer-winnie-mandela-abschied-von-100.html
91,056
Einführung des Achtstundentags für Arbeiter
Arbeiter demonstrieren im November 1918 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin: Der Achtstundentag sollte nicht nur die Lebensqualität der Arbeiter verbessern, sondern mit seiner Hilfe sollten auch Frontrückkehrer wieder ins Arbeitsleben integriert werden (dpa/picture-alliance) "Arbeiter und Soldaten: Der unglückselige Krieg ist zu Ende, das Morden ist vorbei, die Folgen des Kriegs, Not und Elend werden noch viele Jahre lang auf uns lasten." Am 9. November 1918 verkündete der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann das Ende des deutschen Kaiserreichs. "Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!" Doch wie genau sollte der neue Staat aussehen? Vor allem die Unternehmer, deren Interessen im Kaiserreich fast uneingeschränkt die Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmt hatten, waren überaus besorgt. Drohte ihnen, wie es in Russland bereits geschah, Enteignung und Zwangssozialisierung? Arbeitgeber lenken aus Angst vor einer Räterepublik ein In ihrer Not besannen sie sich auf die Gewerkschaften. Schon in Kriegszeiten hatten diese sich als verlässliche Partner bewährt und soziale Forderungen zurückgestellt - auch die nach einem Achtstundentag. "Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Muße, das sei unsere Parole, die wir mit mächtiger Stimme herausschreien wollen." Bereits 1897 hatte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Heinrich Peus diesen Slogan formuliert. Damals waren Arbeitszeiten von 11 bis 16 Stunden normal. Nun, im November 1918, schien man endlich am Ziel. Denn aus Angst vor einer Räterepublik nach russischem Vorbild waren die Arbeitgeber zu einigem bereit. "Vivat, hoch die neue Zeit, herrlich ist’s auf Erden./ Jeder kann jetzt Präsident und Minister werden. ..." Abkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern Am 15. November 1918 unterzeichneten der Gewerkschaftsführer Carl Legien und der Industrielle Hugo Stinnes stellvertretend für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Abkommen, das die vormaligen Kontrahenten in einem Zweckbündnis vereinigte: Die Gewerkschaften bekannten sich ausdrücklich zur freien Unternehmerwirtschaft. Dafür erkannten die Arbeitgeber sie als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner an. Außerdem durften Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten Arbeiterausschüsse bilden. Und der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich sollte endlich Wirklichkeit werden. "Vivat, hoch die neue Zeit. / Arbeitszeit acht Stunden / Auch der Präsident ist an die Zeit gebunden. / Also brauchen wir jetzt drei, wenn ich‘s recht betrachte, 24 Stunden sind‘s, kommen auf jeden achte." Integration der Frontrückkehrer ins Arbeitsleben Das Stinnes-Legien-Abkommen war die Vorlage für die Arbeitszeitverordnung, die das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung am 23. November 1918 erließ. Der Achtstundentag sollte nicht nur die Lebensqualität der Arbeiter verbessern, sondern mit seiner Hilfe sollten auch die Frontrückkehrer wieder in das Arbeitsleben integriert werden können. Doch sobald sich die Wogen der Novemberrevolution geglättet hatten, drängten die Unternehmer wieder auf mehr Spielraum bei der Festlegung der Arbeitszeit. Enorme Belastungen durch den Versailler Vertrag und die Inflation saßen der Weimarer Republik im Nacken. Und so war die Regierung bald bereit, dem Druck nachzugeben. In der "neuen Verordnung über die Arbeitszeit" vom Oktober 1923 hieß es: "Mehrarbeit kann durch den Arbeitgeber, durch behördliche Anordnung oder durch Tarifvertrag angeordnet werden. Kleine Betriebe werden durch sogenannte freiwillige Mehrarbeit entlastet. Bis zu 11 Stunden pro Tag sind möglich." Zahl der Arbeitslosen steigt Ab 1924 stabilisierte sich die deutsche Wirtschaft wieder. Es gab einen Modernisierungsschub und viele Arbeitsplätze wurden wegrationalisiert. Die Weltwirtschaftskrise Ende 1929 ließ die Arbeitslosenzahlen noch weiter in die Höhe schnellen. Im Dezember 1932, als in Deutschland 5,6 Millionen Menschen ohne Arbeit waren, sagte der Gewerkschaftsführer Theodor Leipart: "Als wir 1918 den Achtstundentag errungen hatten, haben wir ihn als großen Erfolg begrüßt. Besonders bedauerlich aber ist, dass viele Arbeiter und Arbeiterinnen auch jetzt noch länger als 48 Stunden arbeiten müssen, wo Millionen ganz ohne Arbeit sind. Die Verkürzung der Arbeitszeit - das ist mein Weihnachtswunsch." Erfüllen sollte sich dieser Wunsch erst nach dem Zweiten Weltkrieg: 1946 führte der Alliierte Kontrollrat den Achtstundentag wieder ein - er galt von Montag bis Samstag.
Von Monika Köpcke
Der Achtstundentag, eine Kernforderung der Arbeiterbewegung, steht heute wieder in der Kritik - zumindest von Seiten vieler Arbeitgeber. Zu unflexibel sei er, um auf Herausforderungen der globalisierten und digitalisierten Wirtschaft einzugehen. Vor 100 Jahren bedeutete seine Einführung einen Fortschritt.
"2018-11-23T09:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:21:57.914000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-einfuehrung-des-achtstundentags-fuer-arbeiter-100.html
91,057
"Die Situation ist problematisch"
Thomas Müller (l.) und Manuel Neuer bejubeln die Meisterschaft mit dem FC Bayern München. (IMAGO / Sven Simon) Solch eine Dominanz hatte die Bundesliga noch nie: Bereits drei Spieltage vor Schluss ist klar: Der FC Bayern München ist Deutscher Meister. Schon wieder, wird sich der oder die eine oder andere da denken. Denn die Bayern schafften das Kunststück, zum zehnten Mal in Folge die Meisterschale zu holen. Was den Verein, die Fans in Bayern und der ganzen Republik freut, ruft bei anderen Fußball-Begeisterten nur ein müdes Gähnen hervor. "The same procedure as every year" ist man geneigt zu sagen. In den letzten Jahren hatten die Bayern meistens sogar mindestens zehn Punkte Vorsprung auf den ersten Verfolger gehabt in der Bundesliga. Drei Runden vor Schluss steht in der Saison 2021/22 wieder einmal der nächste Meistertitel fest - mit 12 Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Borussia Dortmund. Miasanrot-Bloggerin Lahr-Eigen: Bayern Dominanz ist Schade für die Liga "Mich als Bayern-Fan interessiert es natürlich trotzdem - jedes Spiel. Die Bayern haben sich ja durchaus auch etwas schwieriger geschlagen als noch manches Mal in der Vergangenheit. Von daher ist es für mich immer noch packend", sagt Jolle Lahr-Eigen, die für den Bayern-Blog "Miasanrot" schreibt. Doch auch die Bloggerin will sich angesichts der Dominanz ihres Herzensclubs nicht vormachen: "Es ist schade für die Liga, dass da sonst oben nicht so richtig jemand angreift." Sportschau-Experte Bark: "Wir haben schon Langeweile" Sportschau-Autor Marcus Bark redet nicht lange drumherum. Bis auf Dortmund seien alle Mannschaften zu weit weg von den Bayern. Fußball-Experte Bark spricht das aus, was viele denken: "Wir haben schon Langeweile". Das Spiel gegen Dortmund am 31. Spieltag ist in seinen Augen nur Durchschnitt gewesen - und auch sonst hätte das Team von Julian Nagelsmann in dieser Saison nur wenige richtig attraktive Spiele geliefert. Mehr Spannung durch Play-offs in der Bundesliga? Die Frage, die man sich angesichts der langjährigen Bayern-Dominanz und des immer größer werdenden Leistungsgefälles zu den anderen Bundesliga-Teams stellen muss: Könnten Play-offs die Bundesliga spannender machen? In den meisten US-Profiligen wie NHL, NBA, NHL, MLB werden die Meisterschaften so entschieden. Play-off-Vorschlag wurde "kaputtgeredet" Hierzulande sind es vor allem die Basketballer und Eishockey-Profis, die nach der Hauptrunde den Meistertitel in den Play-offs ausspielen. Wäre dies auch für die Bunesliga denkbar? Vorschläge in diese Richtung gab es schon - unter anderem auch vom ehemaligen technischen Direktor des FC Bayern, Michael Reschke. Doch meist wurden diese "kaputtgeredet" und weiter mit 18 Vereinen gespielt, sagt Marcus Bark. "Jedes Mal, wenn man versucht irgendetwas zu ändern, dann kommen sofort alle und sagen: 'Bundesliga, das klappt doch". Richtig diskutiert über Play-offs wurde nie, kritisiert Bark. "Es war Play-offs, wollen wir nicht, abhaken. nächster Punkt. Aber wo ist der nächste Punkt? Ich habe nichts gehört", sagt Bark. Der Verstand sagt Play-offs, das Herz will ein Herzschlagfinale Die meisten würden sich ein Herzschlagfinale am letzten Spieltag mit Konferenzschaltung wünschen, meint Bloggerin Jolle Lahr-Eigen. Dass die Meisterschaft nicht am letzten Spieltag entschieden wurde, haben auch an den anderen Teams gelegen, kontert sie. "Einerseits denke ich mir, man muss mal was ändern. Aber mir ist es eigentlich immer am liebsten, man ändert nichts am Spiel, lässt es einfach so, wie es ist, ohne sozusagen neuen Firlefanz einzuführen. Aber dann ändert sich an der Situation nichts, und die ist ja durchaus problematisch", weißt auch Jolle Lahr-Eigen, die Play-offs beim Basketball durchaus gut findet. 20 Bundesliga-Teams sind keine gute Idee Zur Diskussion stand auch die Bundesliga auf 20 Mannschaften aufzustocken. Doch das hält Sportschau-Experte Marcus Bark wegen des Leistungsgefälles für keine gute Idee. "Ich habe jetzt, ehrlich gesagt bis auf Play-offs keine weitere Idee." Bleibt ansonsten noch der wenig innovative "biologische Lösungsansatz" wie Bark ihn nennt: "Irgendwann werden Manuel Neuer, Robert Lewandowski und Thomas Müller so alt, dass die Bayern halt nicht mehr so gut sind." Werden sie nicht ersetzt, dann hätten auch wieder andere Mannschaft eine Chance.
Matthias Friebe im Gespräch mit Jolle Lahr-Eigen und Marcus Bark
Der FC Bayern München ist zum zehnten Mal in Folge Deutscher Fußball-Meister geworden. Die fehlende Konkurrenz schadet der Liga, sind sich Bayern-Bloggerin Jolle Lahr-Eigen und ARD-Journalist Marcus Bark einig. Ob eine Umverteilung des Geldes oder die Einführung von Play-offs die Bundesliga wieder interessanter machen würden, diskutieren sie im Dlf-Sportgespräch.
"2022-04-24T23:30:00+02:00"
"2022-04-24T22:41:39.810000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bayern-muenchen-zehnte-meisterschaft-wettbewerb-100.html
91,058
"Wir brauchen gemeinsame Aktivitäten auf europäischer Ebene"
"Es reicht nicht nur, Daten zu haben; man muss sie im Zweifel auch richtig einordnen können": Wolfgang Kubicki, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, zum Thema Terrorabwehr. (imago stock&people) Stefan Heinlein: Noch immer läuft die Fahndung nach dem mutmaßlichen Haupttäter von Barcelona auf Hochtouren. Unsicher ist, ob der gesuchte 22-jährige Marokkaner sich überhaupt noch in Spanien aufhält. Nach dem Fund von 120 Gasflaschen geht die Polizei inzwischen davon aus: Die Terrorzelle von Barcelona plante einen gewaltigen Bombenanschlag. Während die Fahndung nach dem Haupttäter also noch läuft, hat nicht nur in Spanien eine Debatte begonnen: Wie konnte sich eine Terrorzelle bilden, ohne dass die Behörden im Vorfeld davon Notiz nehmen konnten? Ein Schwachpunkt auf nationaler und auf europäischer Ebene, so wird immer deutlicher, ist die fehlende Vernetzung der Behörden. Im Klartext: Ein mangelhafter Datenaustausch macht offenbar den Terroristen ihr blutiges Handwerk leichter - so das vernichtende Fazit vieler Experten. Darüber möchte ich jetzt reden mit dem stellvertretenden FDP-Parteivorsitzenden Wolfgang Kubicki. Guten Morgen, Herr Kubicki. Wolfgang Kubicki: Guten Morgen. "Radikalisierung von Muslimen fällt nicht vom Himmel" Heinlein: Mehr Datenaustausch, mehr Überwachung, so an diesem Wochenende die Forderungen, gemeinsam von Union und SPD. Sind das die richtigen Reflexe auch für Sie als liberalen Politiker? Kubicki: Zunächst einmal freue ich mich darüber, dass der normale Reflex, wir brauchen neue, stärkere und andere Gesetze, nicht eingreift, sondern dass erkannt worden ist, dass wir mehr Personal in diesem Bereich brauchen mit analytischen Fähigkeiten und eine definitiv bessere Vernetzung. Wir brauchen genauso wie in Deutschland ein europäisches Terrorabwehrzentrum, denn die Grenzen spielen für Terroristen keine Rolle, wie wir aus dem jüngsten Anschlag auch wieder wissen. Und wir brauchen einen Datenaustausch zwischen den Behörden, den es auf deutscher Ebene, auf nationaler Ebene ja bereits gibt, auch wenn er noch nicht so richtig funktioniert, wie wir im Fall Amri gesehen haben. Aber entscheidend ist, dass man Erkenntnisse über Radikalisierung von Personen analysieren muss und ernst nehmen muss und notfalls auch konsequent sein muss. Der Imam, der wahrscheinlich getötet worden ist, war den Sicherheitsbehörden bekannt als jemand, der radikalisiert ist und andere radikalisiert. Er hätte beispielsweise ausgewiesen werden können, und ich plädiere auch in Deutschland dafür, dass wir uns genauer anschauen, was in Moscheen in Deutschland passiert. Denn die Radikalisierung von Muslimen fällt nicht vom Himmel, die ist menschengemacht. Kubicki: Mehr Überwachung bedeutet nicht mehr Sicherheit Heinlein: Mehr Datenaustausch auch die Forderung der Liberalen, der FDP. Muss der Datenschutz - das ist ja ein Thema eigentlich der FDP, Ihrer Partei - jetzt erst mal kleingeschrieben werden für mehr Sicherheit? Kubicki: Nun hindert Datenschutz nicht daran, Informationen über Gefährder auszutauschen. Das sieht die Gesetzeslage ausdrücklich vor. Entscheidend ist die Zusammenarbeit. Wir fordern als Freie Demokraten auch so etwas wie ein europäisches FBI, was sich konzentriert auf die Terrorismusbekämpfung und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die ja auch an Grenzen nicht Halt macht. Wir erfahren gerade, dass die Mafia sich in Deutschland ausweitet. Das kann nur bekämpft werden mit ausreichend Informationen auch aus Italien - und wir brauchen gemeinsame Aktivitäten auf europäischer Ebene, das heißt auch den Zusammenschluss von Polizeibehörden. Und was mich besonders wütend macht mittlerweile ist: Wir geben in Europa Milliardenbeträge für Verfassungsschutz aus und für Geheimdienste. Und wenn man sieht, dass in den letzten zwei Jahren alle Attentäter den Sicherheitsbehörden bekannt gewesen sind vorher als Gefährder, dann fragt man sich, warum man sich nicht konzentriert auf diejenigen, die potenzielle Attentate verüben, anstatt sich mit der Frage zu beschäftigen, ob wir durch Vorratsdatenspeicherung oder mehr Videoüberwachung mehr Sicherheit schaffen können, was definitiv nicht der Fall ist. Ich erinnere daran: Frankreich hat seit 2006 die konsequente allumfassende anlasslose Vorratsdatenspeicherung, ohne dass Attentate verhindert werden konnten, und London ist die Stadt mit den meisten Videokameras, aber der höchsten Attentatsdichte. Insofern müssen wir darauf schauen: Wir brauchen vor allen Dingen Menschen, die sich mit den potenziellen Gefährdern beschäftigen, analysieren und auf die Art und Weise Attentate verhindern, statt anschließend hinterherzulaufen. Plädoyer für staatliche Maßnahmen Heinlein: Herr Kubicki, das hört sich so an, als ob auch die FDP, Ihre Partei inzwischen eingesehen hat, dass ein Teil der Freiheit geopfert werden muss auf dem Altar der Sicherheit. Kubicki: Wir opfern damit keine Freiheit, denn Freiheit muss geschützt werden. Wir werden ja bedroht in unserer Freiheit durch Attentäter, durch organisierte Kriminelle. Das Vorurteil, was Sie gerade wieder provozieren, die Freien Demokraten seien grundsätzlich gegen staatliche Maßnahmen, ist falsch. Im Gegenteil! Wir fordern seit Jahren schon deutlich mehr Polizei, deutlich mehr Verfassungsschützer und deutlich mehr Analysefähigkeiten. Das ist ja das Entscheidende. Es reicht ja nicht nur, Daten zu haben; man muss sie im Zweifel auch richtig einordnen können. Daran mangelt es, und wir brauchen definitiv eine stärkere nationale Zusammenarbeit und eine stärkere internationale Zusammenarbeit. Denn noch einmal: Attentäter, gerade Dschihadisten und Islamisten, machen an Grenzen keinen Halt. Heinlein: Haben Sie eine Erklärung, Herr Kubicki, warum die Politik jetzt so lange zögert, warum das nicht möglich ist, auf nationaler und auf europäischer Ebene diese Forderungen umzusetzen, denn es ist ja nicht allein Ihre Partei, die FDP, die das fordert, sondern Union und SPD und eigentlich auch alle anderen Parteien fordern das. Warum schafft es nicht die Politik, diese Forderungen umzusetzen? Kubicki: Weil die Politik ja nur die Rahmen vorgeben kann. Umsetzen müssen das im Zweifel die jeweiligen Behörden, die für Sicherheit zuständig sind, und da wissen wir aus der eigenen Vergangenheit in Deutschland, dass es eine Reihe von Egoismen gibt, Informationen nicht auszutauschen. Ich erinnere nur daran, dass das NPD-Verbotsverfahren das erste Mal gescheitert ist, weil die Ämter untereinander nicht mitgeteilt hatten, wer denn in welchen Vorständen als V-Mann sitzt, und zum Schluss der Verdacht aufkam, die Führungsetage der NPD sei vollständig vom Verfassungsschutz finanziert. So was Ähnliches haben wir auch im Terrorabwehrzentrum bei uns in Deutschland. Es ist noch nicht reibungslos. Man hortet eigene Informationen und will sich abgrenzen von anderen Behörden. Nur ist das der falsche Weg. Wir brauchen eine sehr intensive Zusammenarbeit, denn die Bedrohungslage wird nicht abnehmen; sie wird eher zunehmen. In dem Maße, in dem der IS in Syrien und im Irak ins Hintertreffen gerät, wird er versuchen, in Europa Attentate zu begehen, und unsere Aufgabe besteht darin, dieses zu verhindern. Ost- und Mitteleuropa besser geschützt gegen Terror? Heinlein: Attentate in Europa, Herr Kubicki, das ist das Stichwort. Blicken wir auf die blutige Landkarte des Terrors in den letzten Monaten: Berlin, Manchester, Paris und jetzt Barcelona. Dann fällt auf: Das sind allein westliche Metropolen, die sind im Fadenkreuz des Terrors. Städte wie Warschau, Prag oder Budapest sind davon völlig unberührt. Warum ist man in Ost- und Mitteleuropa offenbar besser geschützt vor Terrorangriffen als bei uns im Westen? Kubicki: Zunächst einmal stimmt diese Analyse nicht, denn es gab ein böses Attentat in St. Petersburg. Es gab jetzt auch ein Attentat in Sibirien, für das der IS seine Herrschaft reklamiert. Es gibt also auch im asiatischen Bereich, auch in diktatorischen Ländern entsprechende Attentate. Aber es fällt selbstverständlich auf: Der IS versucht, in einer Welt, in der die Medien frei operieren können, sich deshalb Informationen möglichst schnell und möglichst weit verbreiten, aktiv zu werden. Heinlein: Aber Medienfreiheit gibt es auch in Ungarn oder Tschechien. Kubicki: Es ist das, was der IS eigentlich will. Er will sozusagen einen Spalt treiben in die Gesellschaft, zwischen westlichen Gesellschaften, in denen auch Muslime wohnen, in Spanien 1,9 Millionen, in Deutschland über drei Millionen. Er will diesen Spalt hineintreiben und damit die Gesellschaft chaotisieren und unsicher machen. Aber ich finde es bemerkenswert, dass die westlichen Gesellschaften darauf nicht reagieren, wie der IS sich das vorstellt. Hunderttausende von Menschen gehen auf die Straße und erklären, wir haben keine Angst, und das ist doch auch ein ermutigendes Zeichen. Wir finden uns wieder zusammen, auch in der Abwehr von solchen Anschlägen, die der IS begeht. Nicht mehr Sicherheit durch Aufnahmestopp von Flüchtlingen Heinlein: Herr Kubicki, aber hat Viktor Orbán oder Milos Zeman, der tschechische Präsident nicht Recht, wenn er sagt, wir lassen keine Flüchtlinge ins Land, wir lassen keine muslimische Gemeinde bei uns im Land entstehen und sind dadurch sicherer vor Terroranschlägen als in Brüssel oder Berlin? Kubicki: Ich will es mal so formulieren: Vielleicht hat Herr Orbán bisher nur Glück gehabt, dass in Ungarn nichts passiert ist, und wir wünschen den Ungarn, dass es so bleibt. Das heißt aber nicht, dass man mit der Erklärung, wir lassen keine Muslime ins Land, wir lassen keine Flüchtlinge ins Land, entsprechende Attentate abwehren kann. Denn wir wissen beispielsweise auch aus der eigenen deutschen Geschichte, dass ein Teil der Attentäter Deutsche waren, die hier radikalisiert worden sind. Wir haben auch Deutsche, die zum Islam übertreten. Das heißt, das Problem wird nicht alleine dadurch bewältigt, dass wir erklären, wir wollen keine Flüchtlinge, wir nehmen keine Flüchtlinge auf. Nein! Viel entscheidender ist, dass wir den Menschen, die zu uns gekommen sind, die Integration erleichtern in die Gesellschaft und dass wir sie auch bitten und auffordern, überall dort, wo sie feststellen, dass in den eigenen Glaubensräumen Menschen sich radikalisieren, sie die Behörden unterrichten, damit dagegen gearbeitet werden kann. Noch einmal: Herr Orbán und vielleicht die Polen haben gerade Glück gehabt, aber wir hoffen, dass es bei ihnen so bleibt. Es ändert aber nichts daran, dass offene Gesellschaften für Attentate schlicht und ergreifend anfälliger sind als geschlossene Gesellschaften. Islamistische Terroristen sind oft westliche Staatsbürger Heinlein: Glück - das ist sicherlich eine Argumentation, die Viktor Orbán oder Milos Zeman oder auch der slowakische Präsident Fico nicht übernehmen werden, sondern sie sagen: Die Abwesenheit von Terror in Ost- und Mitteleuropa ist auch eine Folge unserer rigiden Asyl- und Flüchtlingspolitik. Kubicki: Die Behauptung kann man ja gerne in den Raum stellen. Aber die Annahme, dass die Attentate in Spanien oder die Attentate in Paris, die ja von französischen Staatsbürgern begangen worden sind, zwar mit Migrationshintergrund, aber trotzdem von Jugendlichen, die in Frankreich aufgewachsen und groß geworden sind, dass sie nicht geschehen wären, wenn man sich abschotten würde, diese These halte ich nicht nur für gewagt, sondern für falsch. Erdogans Einmischung in den deutschen Wahlkampf Heinlein: Herr Kubicki, reden müssen wir an diesem Montagmorgen noch über ein anderes Thema ganz kurz. Am Wochenende hat sich das deutsch-türkische Verhältnis erneut eingetrübt. Kann man mit Erdogan jetzt noch reden, oder muss man ihm nun knallhart die Grenzen aufzeigen? Kubicki: Ich finde, Letzteres ist auch eine Frage der Selbstachtung. Herrn Erdogan muss ganz klar gezeigt werden, dass seine Äußerungen, mit denen er versucht, eine Einmischung in den deutschen Wahlkampf zu betreiben, mit der Behauptung, er fordere seine Mitbürger auf - das sind deutsche Staatsbürger, die hier wählen -, nicht zur Wahl zu gehen beziehungsweise demokratische Parteien nicht zu wählen, dass diese Form der Einmischung nicht hingenommen werden kann. Ich erinnere daran, dass in den Vereinigten Staaten eine ganze Kommission sich mit der Frage beschäftigt, ob Russland versucht hat, sich in den amerikanischen Wahlkampf einzumischen - verdeckt. Hier ist das ganz offen. Das muss zurückgewiesen werden. Und wenn Herr Erdogan den deutschen Außenminister in der Form angeht, in der er es die letzten Tage getan hat, dann muss man erklären: Lieber Herr Erdogan, Sie sind gerade dabei zu verhindern, dass es Visafreiheit für türkische Staatsbürger geben kann. Und eine vernünftige Reaktion der Bundesregierung wäre vielleicht auch mal, keine Visa mehr für Regierungsmitglieder der Türkei auszustellen, wenn sie nach Deutschland und Europa einreisen wollen. Das wäre eine sehr ordentliche Maßnahme, die auch, glaube ich, Konsequenzen haben würde in den eigenen Reihen. Wenn türkische Regierungsmitglieder nicht mehr nach Deutschland reisen dürfen, keine Visa bekommen, sie sozusagen auf eine Art schwarze Liste kommen, dann wird, glaube ich, auch der Innendruck auf Herrn Erdogan steigen, sich künftig anders zu benehmen als gegenwärtig. Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Herr Kubicki, ich danke für das Gespräch, danke für Ihre Zeit. Kubicki: Vielen Dank auch an Sie. Heinlein: Ich wünsche Ihnen noch einen guten Wochenstart. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Kubicki im Gespräch mit Stefan Heinlein
Nach dem Anschlag von Barcelona zeige sich, dass die Gesellschaft sich nicht spalten ließe, sagte Wolfgang Kubicki im Dlf. Die Menschen reagierten nicht auf den Terror, wie der IS sich das vorstelle, so der FDP-Vizechef. Für die Terrorbekämpfung brauche man indes mehr Zusammenarbeit, nicht mehr Überwachung.
"2017-08-21T07:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:46:54.187000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fdp-vize-wolfgang-kubicki-wir-brauchen-gemeinsame-100.html
91,059
"1984" - vom Großen Bruder und der Gedankenpolizei
George Orwell bei der BBC (imago / Leemage) Big Ben klang vertraut wie immer, aber ansonsten war London eine fremde Stadt geworden. An jeder Straßenecke und Häuserfront erblickte der 39-jährige Winston Smith, als er an einem kalten Apriltag im Jahr 1984 von seiner Arbeit im "Ministerium für Wahrheit" nach Hause ging, auf einem Plakat das "ein Meter breite Gesicht eines etwa 45-jährigen Mannes mit wuchtigem schwarzem Schnurrbart". Darunter die Warnung: "Der Große Bruder sieht dich."Auf anderen Plakaten die drei Parolen der Partei:"Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke."Nicht nur in seinem Büro und in Parkanlagen, sogar in seiner Wohnung hörte Smith Tag und Nacht auch eine Lautsprecherstimme:"Sie kam aus einer Metallplatte, die wie ein blinder Spiegel in die Wand eingelassen war … Man konnte das Gerät zwar leiser stellen, aber ganz ausschalten ließ es sich nicht …" John Hurt in einer Szene des Films "1984" nach George Orwell (Regie: Michael Radford) (imago) Wissend um die Macht der Gedankenpolizei, vertraute Winston Smith seinen inneren Widerstand gleichwohl einem Tagebuch an und schrieb an imaginäre Leser:"Grüße! – aus dem Zeitalter der Uniformität, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des Großen Bruders … – Grüße!" Polizist, Gelegenheitsarbeiter, Clochard, Autor Die wirklichen Leser von George Orwells 1949 erschienenem Roman "1984" gerieten sofort in Alarmstimmung – bis heute gilt das Buch als wirkungsmächtigster Warnruf vor einem totalen Überwachungsstaat. Der Stoff beruhte dabei auf lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Autors. Geboren 1903 unter dem bürgerlichen Namen Eric Arthur Blair als Sohn eines englischen Kolonialbeamten in Indien, arbeitete er, nach der Schulzeit in England, von 1921 bis 1927 ebenfalls in der Kolonialverwaltung, als Polizist in Burma – er habe "die Drecksarbeit des Empire" erledigen müssen, notierte er später. Zurück in Europa lebte er als Gelegenheitsarbeiter und Clochard in Paris und London und schrieb über diese Erlebnisse sein erstes, 1933 erschienenes Buch: "Down and Out in Paris and London". Da war aus Eric Arthur Blair George Orwell geworden, den es als politisch links außen stehenden Beobachter der Zeitläufte 1936 in den spanischen Bürgerkrieg trieb. Wandbild von "Big Brother": Szene aus der britischen Verfilmung von George Orwells "1984" in den 1950er-Jahren. (imago / United Archives ) "Animal Farm" - Kritik am Verrat der russischen Revolution Natürlich wollte er den Kampf gegen die Faschisten auch gewinnen. Stattdessen erlebte er aber den Verlust seines Glaubens an die "große Revolution", als man sich innerhalb des linken Lagers aus ideologischen Gründen bis aufs Blut zu bekämpfen begann – die gleichzeitig von Stalin befohlenen Moskauer Schauprozesse offenbarten Orwell den ganzen Hintergrund des Geschehens. Später, in seiner als anti-stalinistischen Satire konzipierten und 1945 erschienenen Fabel "Animal Farm" geißelte er den Verrat der russischen Revolution getreu der gewonnenen Einsicht: "Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören möchten." Die Schauspieler Richard Burton und John Hurt in der Verfilmung von "1984". (imago/United Archives International) Gehirnwäsche und Verrat an der Liebe George Orwell hat viel und Verschiedenartiges geschrieben, neben Prosa und Essays auch Reportagen für Zeitungen und die BBC. Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit durch eine früh diagnostizierte Lungentuberkulose gab er seine journalistische Arbeit auf und zog sich 1947 in einen halbverfallenen Bauernhof auf der schottischen Hebrideninsel Jura zurück und schrieb seinen Roman "1984". In dem perfekten Überwachungsstaat kommt Winston Smiths Verfassen eines Tagebuchs ebenso ans Tageslicht wie seine verbotene Liebesbeziehung zu der Arbeitskollegin Julia – die er zur Rettung seines eigenen Lebens in einem brutalen Verhör verrät. Durch eine Gehirnwäsche als Mensch neu formatiert, ist seine alte Person dadurch ausgelöscht worden. Hier der Schluss einer frühen Hörspielfassung: Erzähler: "Der Große Bruder sieht ihn an. Die dunklen Augen bohren sich tief in Winstons Blick.Winston Smith: "Ich liebe den Großen Bruder!" Das Leben und Schreiben im kalten Bauernhof auf Jura hatte die Gesundheit George Orwells weiter zerstört. Kurz nach Erscheinen des Romans starb er am 21. Januar 1950. Er wurde nur 46 Jahre alt.
Von Christian Linder
George Orwells 1949 erschienener Roman "1984" gilt bis heute als wirkmächtigster Warnruf vor einem totalen Überwachungsstaat. Der Stoff beruhte auf biografischen Erfahrungen des Autors, der als Polizist in Burma arbeitete. Dort habe er "die Drecksarbeit des Empires" erledigen müssen, wie er später notierte.
"2020-01-21T09:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:48:05.932000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/70-todestag-von-george-orwell-1984-vom-grossen-bruder-und-100.html
91,060
Südafrikanische Männer emanzipieren sich langsam vom Patriarchat
Eine Strasse in Khayelitsha. Das Township am Rande von Kapstadt ist eines der größten in Südafrika. Über eine Million Menschen leben hier. Die meisten von Ihnen sind schwarz, ihre Muttersprache ist isoXhosa. Manche wohnen in einfachen Steinhäusern aber die meisten Menschen haben sich Hütten aus Wellblech, Brettern und Planen gezimmert. Männer schlendern die Strassen hinauf und hinunter. Nicht mal jeder Zweite hier hat einen Job. Aus einer Steinbaracke tönt Hip Hop Musik. Es ist Samstag Mittag und drinnen wird bereits getrunken. Nebenan wohnt Dumile. Der 64jährige trägt den Spitznamen "Grauer Elefant", weil er so alt, gutmütig und gleichzeitig stark ist. "Ich bin Dumile, der graue Elefant. Es ist ein schöner Tag, um euch alle zu treffen, meine Brüder. Ich bin Fraser Jacob. Ich bin sehr nervös und gleichzeitig freue ich mich, denn es ist lange her, dass ich mich mit Männern getroffen habe, so wie jetzt. Ich bin Sipho und ich bin glücklich. Ich hoffe, dass ich heute noch mehr Informationen bekomme, die ich brauche." Sechs Männer sitzen in dem kleinen Wohnzimmer von Dumile. Auf 10 Quadratmetern stehen zwei alte, abgewetzte Sofas, daneben zwei braune Sessel. Die gesamte Einrichtung ist alt und abgenutzt. In der dunkelbraunen Anbauwand steht eingerahmt eine Urkunde. Darauf ist Dumile besonders stolz. Auf der Urkunde steht, dass Dumile erfolgreich am Mankind-Project-Training teilgenommen hat. Jeder der Männer hier hat so eine Urkunde. Das Mankind-Project ist eine Art Selbsthilfegruppe für Männer. Es geht dabei um ihr Verhalten als Männer und um ihre Rolle in der Gesellschaft. Einmal pro Woche treffen sie sich um über ganz spezielle Fragen und Probleme zu diskutieren. Sie alle möchten sich, wollen ihr Verhalten als Männer ändern. "Ich war früher anders. Ich habe meine Freundin misshandelt. Auch mein Vater hat meine Mutter verprügelt. Das hat mich geprägt. Ich habe mich ständig geprügelt, ich habe viele negative Dinge gemacht. Seitdem ich beim Mankind-Projekt bin hab ich mich geändert. Hier habe ich die Unterstützung bekommen, die ich brauchte, um ein besserer Mensch zu sein. Heute bin ich aufrichtig, man kann mir vertrauen, ich bin mitfühlend und energisch.""Die meisten Männer hier sind arm. Sie misshandeln ihre Kinder, ihre Frauen. Aber das Mankind-Projekt ändert ihre Mentalität. Wir denken jetzt über unsere Mitmenschen nach und schlagen sie nicht. Wir denken nach – so fangen wir an." Es fällt den Männern schwer sich zu öffnen und über ihre Gefühle zu reden. Ein echter Mann ist stark, er bringt Geld und Essen nach Hause und hat das Sagen in der Familie – nach diesen Maßstäben sind sie erzogen worden. Und wenn Männer ihre Frauen schlagen, dann um zu zeigen, wer der Herr ist. Was viele Frauen als Vergewaltigung bezeichnen, ist für die Männer ehelicher Geschlechtsverkehr, denn mit der Hochzeit haben sie ihrer Meinung nach gleichzeitig das Recht erhalten, Sex zu haben, wann immer sie wollen, ohne das ihre Frauen zustimmen müssen.Sikhangele Mabulu kennt diese Probleme genau. Er arbeitet als Projektleiter bei Brothers for Life, einer Initiative, die sich ähnlich dem Mankind-Project um das Rollenverständnis und Verhalten von Männern kümmert. Sogar die südafrikanische Regierung hat mittlerweile die Notwendigkeit dieser Projekten erkannt, und fördert Brothers for Life. "In Südafrika hatten wir schon immer ein patriarchalisches Gesellschaftssystem. Weil dieses System aber unser Land zerstört, ändert sich das jetzt langsam. Uns Männern wurde immer gesagt, dass wir nicht weinen dürfen, dass wir uns verteidigen müssen, wenn wir geschlagen werden, dass ein echter Mann Kinder zeugen muss und dass wir nichts mit Frauen gemeinsam machen dürfen. Aber wenn jemand keine Kinder zeugen kann oder will, ist er deshalb doch nicht weniger männlich. Niemand darf jemanden zu etwas zwingen, jeder darf für sich allein entscheiden. Das wollen wir den Menschen vermitteln." Doch die meisten Männer tun sich schwer damit, ihr Verhalten zu ändern. Für sie sind Begriffe wie Gleichberechtigung Nonsens, den ihnen die westlichen Länder einreden wollen. Mandla Mandela etwa, einer der Enkel des ehemaligen südafrikanischen Präsidenten und Nationalhelden Nelson Mandela, findet es auch heute richtig, das minderjährige Mädchen an Männer zwangsverheiratet werden. Sein Argument: Das sei Teil seiner Kultur, und Kultur kenne kein Alter. Durch Männer wie ihn, die große Anerkennung unter den schwarzen Südafrikanern genießen, werden Projekte wie Brothers For Life immer wieder zurückgeworfen. Sikhangele Mabulu hat am eigenen Leibe erfahren, wie schwer es sein kann sich ändern zu wollen. Denn sowohl der eigene Kopf als auch die Menschen in der Nachbarschaft, haben es ihm schwer gemacht. "Ich hätte nie gedacht, dass ich heute nichts dabei finde abzuwaschen. Das war wirklich eine Herausforderung für mich. Die anderen Männer haben mich gefragt: Was ist denn mit dir los? Sie haben gesagt, ich würde unsere Kultur verraten, ich sei eine Schwuchtel, kein echter Mann. Für viele Männer ist so etwas wie Abwaschen einfach unvorstellbar. Deshalb wasche ich jetzt immer ganz früh am Morgen ab, damit mich keiner sieht."Die sechs Männer sitzen immer noch um den Wohnzimmertisch in Khayelitsha und diskutieren. Nebenan in der illegalen Kneipe sind die ersten Männer betrunken. Die Meisten in Khayelisha wissen zwar vom Mankind-Project, aber sie würden nie zu einem der Treffen gehen. Auch Projektleiter Jerome Jacobs hat festgestellt, wie schwer es ist, Männer zu motivieren, mitzumachen. Dabei ist Jacobs sich sicher, dass Südafrikas Männer mit einer weiterentwickelten Einstellung, dem Land endlich den notwendigen Aufschwung bringen würden."Ich liebe es, ein Mann in Südafrika zu sein. Das war aber nicht immer so. Es gab eine Zeit, da war es eher etwas, wofür ich mich geschämt habe. Das ist unsere eigentliche Herausforderung: selbstbewusst zu sagen, wir sind etwas Wert."
Von Kerstin Poppendieck
Das schwere Erbe der Apartheid wirkt sich noch immer aus. Es herrscht ein tief verwurzeltes Rollenverständnis zwischen Mann und Frau. Der Mann befiehlt, die Frau muss folgen. Doch einige Südafrikaner machen sich daran, ihr Verhalten zu überdenken und zu verändern.
"2012-03-24T13:30:00+01:00"
"2020-02-02T14:01:54.237000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suedafrikanische-maenner-emanzipieren-sich-langsam-vom-100.html
91,061
Der Mondabsturz des Weißen Hasen
Das hat nur in der Illustration geklappt: Die Sonde Hakuto-R, wie sie sicher auf dem Mond gelandet ist. (ispace)
Lorenzen, Dirk
Das japanische Unternehmen ispace setzt auf Frachtflüge zum Mond. Ende April sollte seine Sonde Hakuto-R als erste private Mission auf dem Begleiter der Erde landen. Allerdings wurde die Sonde beim harten Aufprall zerstört.
"2023-07-09T02:05:09+02:00"
"2023-07-09T00:00:00.079000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sternzeit-9-juli-2023-der-mond-absturz-des-weissen-hasen-dlf-efb33cd6-100.html
91,062
Überfordert der Zuzug von Flüchtlingen das Land?
Die Unterbringung und Versorgung von Flüchlingen ist ein zunehmendes Problem für Deutschlands Städte, Landkreise und Kommunen. (picture alliance / SULUPRESS.DE / Torsten Sukrow )
Geers, Theo
Auf der einen Seite Millionen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Land verlassen – auf der anderen Seite Städte und Kommunen in Deutschland, die nicht mehr wissen, wie sie die Flüchtlinge unterbringen sollen: das Thema in Kontrovers.
"2023-02-13T10:08:00+01:00"
"2023-02-13T12:49:23.071000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kontrovers-deutschland-unter-druck-ueberfordert-die-fluechtlingswelle-das-land-dlf-f288f37c-100.html
91,063
"Rockmusik wird nicht aussterben"
"Wir haben 23, 24 Songs für ein neues Album geschrieben, müssen nun darüber streiten, welche auf das Album kommen. Das Album wird etwas weniger funky klingen als früher, etwas aggressiver, vermutlich mehr Metal als Funk. Wir werden sehen. Einen Song wollen wir dieses Jahr noch herausbringen, das Album kommt dann Anfang des nächsten Jahres", sagte Nuno Bettencourt.
Nuno Bettencourt im Gespräch mit Tim Schauen
Mit der Akustik-Ballade "More Than Words" landete die Band Extreme 1990 einen Welthit. Ansonsten spielen die US-Amerikaner knallharten Funk Rock - der sich allerdings weitaus schlechter verkauft. Rockmusik werde dennoch nicht aussterben, so Gitarrist Nuno Bettencourt - und verkündet ein neues Album von Extreme für das Jahr 2018.
"2017-08-06T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:41.283000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gitarrist-nuno-bettencourt-rockmusik-wird-nicht-aussterben-100.html
91,064
"Es sind nicht unsere Erfolge, sondern die Misserfolge der anderen"
Alexander Gauland, stellvertretender Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender der AfD im Brandenburgischen Landtag. (imago stock&people) Viele Leute lehnten die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ab, sagte Gauland. Es gebe "eine tiefe Unzufriedenheit in der Bevölkerung" über die Art, wie Kanzlerin Merkel Deutschland verändern wolle, so Gauland. Die Menschen, die nach Deutschland kämen, machten den Leuten Angst. Diesen verängstigten Menschen gebe die AfD eine Stimme. Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Die CDU auf Platz drei, AfD Platz zwei und ganz oben mit 30 Prozent die SPD. Sie stellt weiter den Ministerpräsidenten mit Erwin Sellering. Das ist ganz kurz zusammengefasst das Ergebnis der Landtagswahlen gestern in Mecklenburg-Vorpommern. Aber was heißt das alles nun für diese Parteien? Wir bleiben bei diesen Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern, bei diesem Wahlergebnis, und wir wollen noch mal etwas genauer auf den Gewinner blicken: die Alternative für Deutschland. Aus dem Stand mehr als 20 Prozent, das ist bisher noch keiner Partei in Deutschland gelungen. Am Telefon jetzt der stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD. Schönen guten Morgen, Alexander Gauland! Alexander Gauland: Guten Morgen, Herr Armbrüster. Armbrüster: Herr Gauland, gibt es etwas, das die anderen Parteien jetzt von der AfD lernen können? Gauland: Ja. Sie könnten von uns lernen, dass man keine Politik machen kann gegen einen großen Teil der Menschen. Das ist ja das Problem, dass viele Leute zum Beispiel die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zutiefst ablehnen, wir aber immer wieder hören, dazu gibt es keine Alternative und das müssen wir weiter machen, und das hat natürlich dazu geführt, dass wir so große Erfolge haben. Also es sind nicht unsere Erfolge, es sind die Misserfolge der anderen. "Wir geben denjenigen, die Angst haben, eine Stimme" Armbrüster: Das heißt, der Erfolg beruht auch darauf, dass man Wahlkampf macht mit einem Thema, das mit dieser speziellen Wahl eigentlich gar nichts zu tun hat? Gauland: Was mit dieser Wahl auch zu tun hat, aber nicht nur. Natürlich gibt es in Mecklenburg-Vorpommern auch andere Themen, aber es gibt eine tiefe Unzufriedenheit in der Bevölkerung gegen den Versuch, Deutschland in der Weise zu verändern, wie die Kanzlerin das offenbar will. Und da kommt es jetzt gar nicht darauf an, ob nun so viele Flüchtlinge direkt in Mecklenburg-Vorpommern angekommen sind, sondern es ist einfach das Gefühl vieler, dass hier ihre Heimat allmählich verloren geht. Das wird ja auch von Politikern ganz deutlich gesagt, wie von Wolfgang Schäuble, der sagt, ihr müsst euch öffnen, das ist der Preis der Globalisierung. Und nun gibt es Menschen, die sagen, das ist nicht der Preis der Globalisierung, denn mazedonische Dorfpolizisten halten Flüchtlinge auch auf und ihr habt nur nicht mehr den Willen, als Staat, als deutscher Staat das zu tun, und dagegen wehren sie sich. Armbrüster: Herr Gauland, das heißt, Sie sagen auch selber ganz klar, es gibt in Mecklenburg-Vorpommern kaum Flüchtlinge, aber trotzdem sagen Sie den Leuten, ihr müsst vor ihnen Angst haben? Gauland: Wir sagen nicht, ihr müsst vor ihnen Angst haben. Die Menschen haben vor ihnen Angst und wir geben ihnen, denjenigen, die Angst haben, eine Stimme. Armbrüster: Die haben vor ihnen Angst, auch wenn sie keine sehen? Gauland: Das ist nicht der Punkt. Sie sehen natürlich im Fernsehen und wo sie sonst sind Flüchtlinge, und es gibt natürlich auch in Mecklenburg-Vorpommern welche. Aber Sie haben mich gefragt, ist es dort das eigentliche Problem, und da gebe ich Ihnen Recht, dass der Resonanzboden für diese Politik ja ganz Deutschland ist und Mecklenburg-Vorpommern hier nicht an der Spitze steht. Armbrüster: Aber Sie können an diesem Problem, wenn Sie es denn als Problem bezeichnen, mit dieser Wahl und mit diesem Wahlergebnis ja nichts ändern. Es ist eine Landtagswahl, keine Bundestagswahl. Gauland: Das ist völlig richtig. Aber Sie wissen ja, dass die Menschen diese Wahlen nutzen, um deutlich zu sagen - und hier kommt dazu, dass es das Land der Kanzlerin ist, dass es der Wahlkreis der Kanzlerin ist, um der Kanzlerin deutlich zu sagen, wir wollen das nicht, was Du da machst. Und da nutzen die Menschen die Landtagswahlen und sie nutzen manchmal auch Kommunalwahlen. Das ist immer so gewesen und das wird sich auch nicht ändern. "Wir alle wollen einen Politikwechsel" Armbrüster: Nun hat die AfD das aber ja in Perfektion beherrscht, dieses Thema zu einem Thema zu machen, obwohl es mit diesem Bundesland eigentlich nichts zu tun hat. Ist da denn die Enttäuschung der Wähler nicht programmiert, die jetzt die Hoffnung darauf haben, wir haben jetzt der AfD 20 Prozent gegeben, jetzt soll sie bitte auch an diesem ganzen Fall etwas ändern? Gauland: Die Wähler wissen sehr genau, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern nicht Flüchtlinge an der bayerischen Grenze aufhalten können. Sie wissen sehr wohl, dass hier nur ein Schritt vollzogen werden kann zu einem Politikwechsel. Und dieser Politikwechsel, der nun auch wieder von der CSU gefordert wird, ist ja das, was wir alle wollen, und da ist auch die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern ein Schritt dahin. Denn die 21,5 Prozent sind natürlich ein Schritt zu einer anderen Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, und die Wähler sind nicht dumm. Sie haben diese Möglichkeit genutzt, der Kanzlerin zu sagen, was Du machst wollen wir nicht. Ob das in Mecklenburg-Vorpommern ist, oder in Nordrhein-Westfalen ist, das ist jetzt erst mal die zweite Frage und nicht die erste. Die Wähler wollen einfach eine andere Politik. Armbrüster: Das heißt, Sie sagen auch ganz klar, wir haben da gestern gepunktet, weil wir als Protestpartei aufgetreten sind, nicht so sehr als eine Partei, die sich wirklich Gedanken macht zum Beispiel über Straßenbau oder über Schulpolitik? Gauland: Das spielt natürlich eine Rolle. Es gibt ein Landtags-Wahlprogramm, das gab es in Brandenburg, das gab es in Stuttgart, das gab es in Mecklenburg-Vorpommern. Aber natürlich überlagern die nationalen Themen immer wieder diese Themen des Landes. Das ist so. Wahrscheinlich außer bei der Schulpolitik, die ein Thema ist, das wirklich durchschlägt, sind es die nationalen Themen, die auch Landtagswahlen bestimmen. Armbrüster: Herr Gauland, und es gibt nun keine andere Partei außer Ihrer, die das in solcher Perfektion beherrscht, dieses Protestpotenzial auszunutzen. Wie lang können Sie denn eigentlich noch weiter machen als Protestpartei, ohne richtige Inhalte, ohne Inhalte zumindest, die nicht wahrgenommen werden? "Wenn ich sage, Grenzen zu, dann sind das Inhalte" Gauland: Das sehe ich überhaupt nicht so. Das ist der entscheidende Inhalt. Wir sagen, jawohl, ihr habt Recht, wir wollen eine andere Politik. Wir wollen eine Politik, die die Kanzlerin bis jetzt zutiefst ablehnt. Das sind Inhalte. Wenn ich sage, Grenzen zu, keine Flüchtlinge nach Deutschland, der Islam gehört nicht nach zu Deutschland, dann sind das Inhalte. Armbrüster: Herr Gauland, gut. Wenn das Ihr Inhalt ist, dann fragen sich doch wahrscheinlich viele: Moment, es hat sich doch in den letzten Monaten, eigentlich im letzten Jahr gewaltig viel geändert. Es kommen kaum noch Flüchtlinge, sowieso nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, aber auch nicht mehr nach Deutschland insgesamt. Die Route ist ja geschlossen. Außerdem gibt es inzwischen ein Abkommen mit der Türkei, das diese Zahlen deutlich reduziert hat. Warum muss man dieses Thema noch weiter ausschlachten? Gauland: Erstens sehen wir nicht mehr so viele Flüchtlinge, weil sich die Routen verändert haben. Da haben Sie völlig Recht. Aber das Problem beginnt ja überhaupt erst. Es beginnt jetzt das, was die Parteien … Armbrüster: Moment! Ganz kurz zu den Routen. Glauben Sie den Zahlen nicht, die wir da hören? Ist das zweifelhaft? Gauland: Ich stelle fest, dass wir im Moment dadurch, dass die anderen etwas getan haben, nämlich zum Beispiel die Balkan-Route geschlossen, gegen den Wunsch der Kanzlerin, die das auch noch für völlig falsch gehalten hat, dass in der Tat der Druck nachgelassen hat. Aber der Druck hat nicht intern nachgelassen. Das heißt, die Frage, was machen wir denn jetzt mit der Million Menschen, die hier ist, die beginnt ja erst. Die ganze Frage der Integration, ist das eine Bereicherung oder ist das eine Belastung auf Generationen, die Fragen stellen sich erst. Und in den Gemeinden, wo die Flüchtlinge jetzt angekommen sind, muss man ja mit dem Problem umgehen. Das heißt, das Problem ist ja nicht dadurch weg, dass sie keine Menschen mehr auf der Balkan-Route im Fernsehen sehen, sondern es beginnt jetzt erst als ein mühseliges sozusagen Versuchen, auf der Ebene mit dem Strom fertig zu werden. Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Alexander Gauland, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Alternative für Deutschland. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Gauland. Gauland: Danke schön, Herr Armbrüster.
Alexander Gauland im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die AfD ist bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zweitstärkste Kraft geworden. Viele hätten das Gefühl, dass ihre Heimat allmählich verloren gehe, sagte der Vize-Vorsitzende Alexander Gauland im Deutschlandfunk. Die anderen Parteien könnten von der AfD lernen, keine Politik gegen den großen Teil der Menschen zu machen.
"2016-09-05T06:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:51:23.751000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afd-vize-zur-wahl-in-mecklenburg-vorpommern-es-sind-nicht-100.html
91,065
Illegal und lukrativ
Ein Wertstoffhof in Nürnberg – ein Container steht neben dem anderen. Getrennt wird nach weißer Ware, Kühlschränken oder Elektrokleingeräten. Hier entsorgen täglich hunderte Menschen ihre alten oder kaputten Elektroartikel."Das war eine Lautsprecherbox." – "Ein Bildschirm für den Computer, der war im Keller gestanden und wir hatten Hochwasser, das hat er nicht überlebt."Diese Beiden hier hoffen, dass sich der Weg zum Wertstoffhof auch gelohnt hat und die Geräte ordentlich entsorgt werden. Doch was mit dem Bildschirm passieren wird, weiß keiner von ihnen so recht."Wenn ich solche Kisten hier sehe, sieht zwar alles geordnet aus, aber trotzdem denkt man am Ende, viel kann damit eigentlich niemand anfangen, außer es wird vielleicht nach Indien geschippert und dort fein zerlegt." Gut 800.000 Tonnen Elektroschrott fallen in Deutschland jährlich an. Die Stiftung Elektro Altgeräte Register - kurz EAR - mit Sitz im mittelfränkischen Fürth hat alle offiziellen kommunalen Sammelstellen im Blick. Sie ist eine Gründung der Elektrogerätehersteller. Denn laut Gesetz müssen diese nicht nur die Produktion, sondern auch die Entsorgung ihrer Geräte verantworten. Sind ausreichend viele Altgeräte irgendwo in einem deutschen Wertstoffhof gesammelt, wird dies nach Fürth gemeldet. Die EAR wiederum beauftragt die bei ihr gelisteten Hersteller, den vollen Container abzuholen und weiter an spezialisierte Recycle- und Entsorgungsunternehmen zu liefern. Je nach Gerätegruppe mittlerweile ein gutes Geschäft, weiß EAR-Vorstand Alexander Goldberg:"Wenn der Dienstleister die Altgeräte bekommt, kann man sicher heute in den einzelnen Fraktionen Erlöse erzielen. Das spiegelt sich auch in den Eigenvermarktungen – wir nennen das Optierungen - der Kommunen wieder, das ist die Berechtigung der Kommunen, ein Sammelbehältnis selbst zu vermarkten. Diese Tendenz ist in vielen Gruppen, wo Erlöse erzielbar sind, insbesondere bei den Haushaltsgroßgeräten, wo Sie viele Metalle, Eisen haben, zunehmend und weiterhin steigend zu verzeichnen."Mit einem PC lässt sich mehr Geld verdienen als mit einem Kühlschrank, und so werden inzwischen vier Fünftel der abgegebenen Haushaltsgroßgeräte von den Kommunen selbst an die Recyclefirmen weiterverkauft.Auch ökologisch macht das Recyceln Sinn: In der Natur müsste man 200 Tonnen Erz abbauen, um eine Tonne Kupfer zu gewinnen. Beim Recycling reichen 14 Tonnen Elektroschrott.Aber was mit dem Inhalt der Sammelbehälter nach der Abholung beim Recycler passiert, kann die Stiftung EAR nicht sagen. Nur so viel ist ihr bekannt: Oft kommen Geräte an, die so gut wie ausgeschlachtet sind, verwertbare Dinge wie Kupfer oder Metall wurden schon vorher entfernt. Mehr als den Rest dann zu verschrotten, bleibt meist nicht. Der EAR-Vorstand bestätigt illegale Machenschaften:"Wir verzeichnen mit den zunehmenden Wertstoffpreisen auch eine gewisse Möglichkeit, dass Behältnisse und deren Inhalte – wir nennen es – beraubt werden. Wir selber nehmen Sortierungen bestimmter Container vor und untersuchen sie auf ihre Zusammensetzung und müssen immer wieder feststellen, dass einzelne Fraktionen recht stark beraubt sind, wir sprechen von 20 bis 30 Prozent und das wird sicher auch noch zunehmen – das gab es aber schon immer."Geschätzte 150.000 Tonnen deutsche PCs, Bildschirme und Fernseher landen jährlich außerhalb der EU – häufig illegal, denn eigentlich dürfen nur gebrauchsfähige Altgeräte exportiert werden. In Ghana oder Pakistan werden dann zum Beispiel aus Glaseinsätzen von Waschmaschinen Kochtöpfe gemacht oder Computerbildschirme gewinnbringend zerlegt. Der Rest wird einfach verfeuert, zu Lasten der Umwelt und der Gesundheit der Menschen.Dass Elektrogeräte, die auf einem Wertstoffhof gelandet sind, anschließend illegal ins Ausland exportiert werden, hält Christina Schepel vom Umweltbundesamt für unwahrscheinlich. Sie ist sich sicher, dass hier überwiegend private Sammler ihre Hände im Spiel haben."Also wenn zum Beispiel gewerbliche Unternehmen Zettel in Haushalte einwerfen und sagen "Ich sammle Ihre alten Produkte, unter anderem ein altes Elektrogerät, dass noch gebrauchsfähig ist oder leicht defekt", dann stellen die Bürger die Geräte dann auf die Straße, und die gewerblichen Sammler holen das, das ist dann eine Grauzone zwischen Abfall und Produkt."Ein Zustand, der dem Bundesumweltministerium nicht gefällt. Minister Norbert Röttgen forderte unlängst die zuständigen Behörten auf, die Sammelplätze sowie Exporte stärker zu kontrollieren.Um die Recyclingquote und die Rohstoffausbeute zu erhöhen, plädiert das Ökoinstitut für einen globalen Ansatz. Statt wie bislang die Altgeräte maschinell in Europa zu recyceln und dabei in Kauf zu nehmen, dass ein Teil illegal in Entwicklungsländern landet, sollten die ausrangierten Geräte lieber gleich offiziell nach Afrika transportiert werden, so der Vorschlag. Dort könnten die Arbeiter PCs und Fernseher manuell und kontrolliert zerkleinern und die nicht verwerteten Teile wieder nach Europa zurückschicken.Schätze vom Schrottplatz - fünfteilige Sendereihe zum Recycling in "Umwelt und Verbraucher" (DLF)
Von Andreas Ebert
Ob Handys, PCs, Staubsauger oder Kühlschränke: Das Geschäft mit Elektroschrott boomt. Der Handel findet oft in rechtlichen Grauzonen statt - und kann, weit enfernt von Deutschland, auch zur Belastung von Umwelt und Menschen führen.
"2011-08-17T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:22:54.687000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/illegal-und-lukrativ-100.html
91,066
"Anti-Kriegs-Deklaration könnte ein Ausweg für gesperrte Athleten sein"
Viele Athleten wollen nicht mehr unter der offiziellen Flagge von Belarus starten. "Das ist die Flagge von Lukaschenko" (www.imago-images.de) Alexander Apeikin hat sich mit einigen anderen belarussischen Sportlern und Sportlerinnen in der Athletenorganisation BSSF zusammengeschlossen. Einige von ihnen mussten wegen der öffentlichen Kritik an Machthaber Alexander Lukaschenko ins Gefängnis. Dennoch protestieren sie weiter gegen das Regime in ihrem Land und den Krieg in der Ukraine. Nach Olympia Belarus: regimekritische Sportler unter Druck Nach Olympia Belarus: regimekritische Sportler unter Druck Nach der Flucht der belarussischen Leichtathletin Kristina Timanowskaja während der Olympischen Spiele nach Polen gehen die USA mittlerweile mit Sanktionen auch gegen das belarussische NOK vor. Die Situation für Sportler im Land entspannt sich jedoch nicht - jedenfalls nicht für die, die sich kritisch gegenüber dem Regime äußern. Leichtathletin Kristina Tsimanouskaja In Belarus kann sie sich nicht mehr sicher fühlen Der Fall um die Leichtathletin Kristina Tsimanouskaja zeigt erneut, unter welchem Druck Athleten in Belarus stehen. Viele hätten mittlerweile Angst, "und können auch entscheiden, dass sie nach Belarus nicht zurückkommen", sagte der Vorsitzende der belarussischen Sport-Solidaritätsstiftung, Apeikin, im Dlf. Sportereignis als Chance zur Flucht Geflüchtete Athleten: "Keiner hat es bereut" Die belarussische Springerin Kristina Timanowskaja ist nur ein Beispiel für Athleten, die während der Olympischen Spiele geflohen sind. Auch aus der DDR flohen Sportler. Das Sportlerschicksal stehe dabei symbolisch für politische Auseinandersetzungen, sagte Sporthistorikerin Jutta Braun im Dlf. BSSF richtet sich dazu mit einer Deklaration an die internationale Sportgemeinschaft. "Wir haben mehr als 300 Unterschriften von Athleten aus der Ukraine, Belarus und anderen Ländern gesammelt, die gegen den Krieg auftreten", sagte Apeikin im Dlf. "Aus unserer Sicht könnte diese Deklaration für gesperrte Athleten ein Weg zurück in den internationalen Sport sein." Apeikin: Deklaration als Weg aus der Sperre Diese Deklaration sei stärker als ein Statement in den sozialen Netzwerken, betont der ehemalige Handball-Profi. Es gebe Athleten, die seit zwei Jahren offen gegen Lukaschenko auftreten. Viele seien im Ausland und hätten Pläne, bei internationalen Wettbewerben zu starten, seien aber noch gesperrt. "Diese Anti-Kriegs-Deklaration könnte ein Ausweg für diese Athleten sein." Apeikin hofft, dass die internationalen Verbände damit ein Argument hätten, belarussische Athleten doch wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen zu lassen, weil mit der Deklaration klar werde, dass diese Athleten demokratische Werte und Anti-Kriegs-Werte teilen. Viele Athleten wollten nicht mehr unter der offiziellen Flagge von Belarus antreten, so Apeikin. "Das ist die Flagge von Lukaschenko." Reaktionen auf Krieg in der UkraineDie Isolierung des russischen Sports 05:19 Minuten28.02.2022 Meinungen zum Russland-BoykottSollte es Sanktionen gegen russische Sportler geben? 06:40 Minuten06.03.2022 Sportangebote für Russen und Ukrainer Skepsis bei Sanktionen in kleinen Vereinen 07:25 Minuten13.03.2022 Athleten in Belarus haben Angst vor Verfolgung Olympiasieger, Weltmeister, Europameister seien unter den Unterzeichnern der Deklaration, die zusammen mit Juristen entworfen wurde. Einige Sportlerinnen und Sportler, die noch in Belarus wohnen, hätten dagegen Angst, die Deklaration zu unterzeichnen, berichtet Apeikin. Sie hätten Angst vor Verfolgung. Für alle gilt: Die jahrelange Sperre gefährdet ihre sportliche Karriere. Die Deklaration, so hofft Apeikin, könnte ein Weg zurück in den Spitzensport sein.
Alexander Apeikin im Gespräch mit Marina Schweizer
Alexander Apeikin ist einer der größten Kritiker des belarussischen Regimes. Dennoch sind er und auch alle anderen oppositionellen Athleten aus Belarus von der Kollektivsperre gegen Russland und Belarus betroffen. Eine Anti-Kriegs-Deklaration soll das nun ändern.
"2022-06-06T19:10:00+02:00"
"2022-06-06T15:47:24.246000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alexander-apeikin-oppositionelle-belarussische-athleten-100.html
91,067
Der Trompeter und Komponist Markus Stockhausen
Trompeter und Komponist Markus Stockhausen (dpa / picture alliance / Horst Ossinger) Ab 1975 studierte er an der Kölner Musikhochschule Klavier und Trompete. Aktuell spielt er im Duo Inside Out mit dem Jazzpianisten Florian Weber, im Duo Landscapes mit dem Gitarristen Ferenc Snétberger, sowie im Quartett Quadrivium. Mit dem indischen Filmmusikkomponisten Sandesh Shandilya brachte er im Februar 2015 dessen symphonisches Werk "Search for Buddha" beim WDR zur Aufführung. Von 2000 bis 2010 etablierte Markus Stockhausen unter dem Titel "Klangvisionen" eine eigene Konzertreihe mit 118 Konzerten mit intuitiver Musik in der Kölner Maternuskirche. Beim evangelischen Kirchentag 2007 erklang sein "Abendglühen" mit mehr als 1500 Blechbläsern und Solotrompete. 80 CDs hat er veröffentlicht, 2017 erschien "Far into the Stars" mit Quadrivium. Stockhausen gibt Seminare, unter anderem zu Themen wie Improvisation, Singen und Stille oder auch Transformation und Klang.
Im Gespräch mit Klaus Pilger
25 Jahre lang hat er mit seinem Vater, dem Komponisten Karlheinz Stockhausen, intensiv zusammengearbeitet: Markus Stockhausen, 1957 in Köln geboren. Heute gehört er zu den vielseitigsten Musikern unserer Zeit.
"2018-07-01T13:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:55:56.787000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musik-und-fragen-zur-person-der-trompeter-und-komponist-100.html
91,068
Drogen nehmen für die Wissenschaft
Ein Molekular Modell von Lysergsäurediethylamid, kurz auch LSD (imago stock&people) Der erste Kuss, eine wichtige Entscheidung oder die eine Begegnung: Jeder kennt einen Song, den man mit solchen Erfahrungen verbindet, der Gänsehaut macht. Fast ohne es zu merken, haben sich Musik und Erinnerung verknüpft. Das Gehirn bewertet den Song als bedeutungsvoll. Wie genau es das macht, wollten Züricher Wissenschaftler näher untersuchen – und behalfen sich dabei mit einer Droge. "Jetzt ist es aber so, dass die Prozesse relativ schwierig zu untersuchen sind, weil sie eben mehr oder weniger unbewusst und automatisch ablaufen. Und LSD hat uns jetzt die Möglichkeit gegeben quasi in diese Prozesse einzugreifen und dann die pharmakologischen Mechanismen darunter zu untersuchen." Musik hören und Drogen nehmen für die Wissenschaft. So könnte man den Ablauf der Studie zusammenfassen, die Dr. Katrin Preller mit ihrem Team durchgeführt hat. 22 Probanden durchliefen ihr Experiment an der Universität Zürich. Sie hatten die Aufgabe sechs Lieder mitzubringen, die für Sie persönlich von besonderer Bedeutung sind. Die Wissenschaftler hielten eine Palette weiterer Songs bereit, die die Teilnehmer bewerten sollten – entweder als bedeutungsvoll, wie ihre Lieblingslieder, als neutral oder als bedeutungslos, wie sie beispielsweise Freejazz einstuften. "Gerade die Stücke, die die Leute selber mitgebracht haben, die fallen wirklich in quasi jede Kategorie. Da war jetzt von klassischer Musik und Beethoven bis irgendwie Muse, Radiohead und Sound of Silence alles dabei." Belangloses wird auf Droge bedeutungsvoll In einem funktionellen Magnetresonanztomographen bewerteten die Probanden 30 dieser Musiktitel erneut, diesmal unter Droge. Das Ergebnis: Auf LSD wurden zuvor als belanglos eingestufte Lieder plötzlich zu bedeutenden Musikstücken. Auf den Hirnscans konnten die Forscher sehen, welche Regionen unter LSD stärker aktiv waren als ohne Droge. Die bunten Flecken auf den Bildern liegen entlang Mittellinie des Gehirns und spielen bei der Selbstwahrnehmung des Menschen eine Rolle. Ihre Ergebnisse veröffentlichten Katrin Preller und Kollegen im Fachblatt "Current Biology". Überrascht waren sie, dass LSD über einen einzelnen Rezeptor für Serotonin wirkte. Bisher dachte man, dass mehrere Rezeptortypen beteiligt sind. Diese Erkenntnis könnte für die Behandlung psychischer Erkrankungen wichtig werden, denn wie auf LSD nehmen auch Patienten mit Schizophrenie oder einer Phobie ihre Umwelt bedeutungsvoller wahr. "Wir machen Grundlagenforschung, wir entwickeln keine neuen Medikamente, aber wir hoffen natürlich in dem Moment Hilfestellungen zu geben, die dann bei der Entwicklung von neuen und effektiveren Medikamenten hilfreich sind." Strenge Auflagen für Halluzinogen-Experimente Damit Wissenschaftler solche Studien mit Drogen wie LSD überhaupt realisieren können, sind einige bürokratische Hürden zu nehmen. In Deutschland treiben strenge Auflagen die Kosten für eine solche Studie so hoch, dass hierzulande kaum noch an Halluzinogenen geforscht wird. Die Schweiz steht solchen Studien offener gegenüber. Das Bundesamt für Gesundheit in Bern hat LSD für die Forschung am Menschen zugelassen, die Kantonale Ethikkommission von Zürich hat die Studie von Katrin Preller genehmigt. "Wir müssen natürlich auch die entsprechenden Bewilligungen einholen, ganz klar. Die Schweiz hat ‘ne lange Tradition in der Forschung mit den Substanzen und die Studien waren immer problemlos und erfolgreich. Von daher, die Bewilligungen müssen wir alle einholen und es ist auch entsprechend aufwendig, aber es ist möglich."
Von Marleen Halbach
Bekannt ist LSD als Partydroge aus der Hippie-Ära. Die bewusstseinsverändernde Substanz geriet in Verruf und verschwand daher - auch aus dem wissenschaftlichen Kontext. In der Schweiz nutzen Forscher seit einiger Zeit die Droge, um zu untersuchen, wie Bedeutung im Gehirn entsteht. Ihre Erkenntnis könnte für die Behandlung psychischer Erkrankungen wichtig werden.
"2017-02-02T16:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:03.144000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gehirnforschung-mit-lsd-drogen-nehmen-fuer-die-wissenschaft-100.html
91,069
53 Millionen Euro für die Spitzensportreform
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (r) und DOSB-Präsident Alfons Hörmann planen die Spitzensportreform (picture alliance / dpa, Britta Pedersen) Die Reform der Spitzensportförderung - für die Grünen ist das noch nicht erledigt. Sie wollen das Thema auf die Agenda des Bundestags setzen. Das von DOSB und Bundesinnenministerium erbarbeitete Konzept benötige eine fundierte Überarbeitung, begründet Özcan Mutlu den Antrag der Grünen: "Das, was gerade vorliegt, fokussiert sich voll auf die Medaillen- und auf die Finalplätze. Das ist unserer Meinung nach schädlich für den Sport." Trainer und Athleten sollen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, zudem fordern die Grünen ein Transparenzportal, um mehr Licht in die unübersichtliche Verbandsförderung zu bringen. Derzeit fördert die Bundesregierung den Sport mit rund 300 Millionen Euro jährlich. Eine weitere Forderung der Grünen: internationale Initiativen von Staat und Sport gegen Korruption, Doping und Spielmanipulation, so Mutlu. "Der Sport ist in einer weltweiten Krise, und wir in Deutschland müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Das alles wird unberücksichtigt gelassen, genau wie das Thema Breitensport, was sich in dieser Spitzensportreform gar nicht wiederfindet." Linke sieht "massiven Änderungsbedarf" Zustimmung zur Reform oder alternativ nicht mehr Geld, das war die Wahl, vor die die Vertreter der Sportverbände bei der DOSB-Mitgliederversammlung im Dezember gestellt wurden. In der verabschiedeten Beschlussfassung heißt es ausdrücklich, dass die Reform einer Weiterentwicklung und Spezifizierung bedarf. Alles andere als ein klares Bekenntnis des Sports zur Reform von DOSB und BMI. Das sieht auch der Linke André Hahn so. Es gebe weiter massiven Änderungsbedarf. Grundsätzliche Fragen, etwa eine dauerhafte Finanzierung von Trainern, habe man nicht berücksichtigt. Der Bundestag sei bei der Konzeptentwicklung von vornherein übergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt worden, kritisiert Hahn: "Wir müssen doch deutlich sagen, welche Ausrichtung des Sports wir wollen. Wir führen keine gesellschaftliche Debatte über die Rolle des Sports. Was wollen wir mit Spitzensport, den wir jährlich mit einem dreistelligen Millionenbetrag fördern? Wichtig ist, dass wir öffentlich und im Plenum des Bundestags darüber diskutieren. Die Bundesregierung will das offenbar nicht, und von der Koalition habe ich immer nur das große Grummeln gehört und die Unzufriedenheit, dass man übergangen worden ist im Sportausschuss. Aber ansonsten ist Schweigen im Walde." Eine öffentliche Debatte? Bisher ist sie nicht geplant. Die Große Koalition sieht die Reform weit weniger kritisch. Der SPD-Politiker Matthias Schmidt: "Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Sport wird etwas straffer organisiert. Gute Leistungen werden honoriert, Anreizsysteme werden geschaffen. Wir wollen etwas tun für die Trainer. Trainer sind der Schlüssel zum Erfolg. An der Stelle wollen wir noch ein bisschen nachdenken. Und auch - insgesamt für die Gesellschaft sehr wichtig - die duale Karriere." Informationen zur Umsetzung der Reform sind weiter rar Aus der Großen Koalition heißt es, dass man an einem gemeinsamen Antrag arbeite. Wann der kommt? Ungewiss. Der zum 13. Sportbericht der Bundesregierung dauerte über 16 Monate. Doch auch ohne Antrag: Der sportpolitische Sprecher der Union versprach schon einmal in der letzten Bundestagsdebatte zum Sport, sich für mehr Steuergeld einzusetzen. Ganz im Sinne des Bundesinnenministers. Allgemein sind die Informationen der Abgeordneten zur Umsetzung der Reform weiter rar. Etwa zu der vorgesehenen Potas-Kommission. Die soll zukünftig die einzelnen Disziplinen bewerten. Die Basis für die finanzielle Förderung. Dafür bewilligte das Parlament schon für dieses Jahr 700.000 Euro. Doch die Kommission hat ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Ein Vorsitzender ist immer noch nicht gefunden. Das BMI teilte mit, dass die Kommission erst nach der Unterrichtung des Kabinetts mit ihrer Arbeit anfangen könne, diese ist bisher für Mitte Februar vorgesehen. Fraglich ist zudem, wie sich die Reform im Wahljahr 2017 weiter umsetzen lässt. Schließungen von Olympia- und Bundesstützpunkten etwa werden kaum geräuschlos über die Bühne gehen. Währenddessen versucht der DOSB aber weiter, Fakten zu schaffen: Auf Deutschlandfunk-Anfrage teilte das BMI erstmals mit, dass der DOSB Vorschläge zum aus seiner Sicht erforderlichen Mehrbedarf für den Haushalt 2018 schon unterbreitet hat. Die Höhe: 53 Millionen Euro.
Von Robert Kempe
Die geplante Spitzensportreform von DOSB und Bundesinnenministerium hat noch einen weiten Weg vor sich: Nicht nur die Grünen, auch die Linksfraktion im Bundestag sehen "massiven" Änderungsbedarf. Der DOSB versucht derweil weiter, Fakten zu schaffen: Er fordert für die Reform einen Mehrbedarf im Haushalt von 53 Millionen Euro.
"2017-01-28T19:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:32:36+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dosb-53-millionen-euro-fuer-die-spitzensportreform-100.html
91,070
Wozu noch Rechtschreibung?
Ist Rechtschreibung überhaupt noch wichtig? (imago / Shotshop / Lutz Wallroth) Wie steht es um die deutsche Rechtschreibung? Warum tun sich viele schwer mit Rechtschreibung? Wozu ist Rechtschreibung gut? Wer ist zuständig für deutsche Rechtschreibung? Seit wann gibt es eine verbindliche deutsche Rechtschreibung? Es fängt schon an mit diesem Fremdwort: "Orthographie" oder "Orthografie"? Früher schrieb man es mit ph, heute mit f, aber es geht eben beides. Allerdings ist da immer noch das h hinterm t, das man eigentlich nicht braucht. Warum also nicht gleich „Ortografie“? Das wäre am einfachsten. Und konsequent. So weit geht die Liebe zur Eindeutschung dann doch nicht. Da bleibt man besser beim deutschen Wort: Rechtschreibung. Doch die hat in letzter Zeit ziemlich gelitten. Im Jahr 1996 gab es eine Rechtschreibreform, die Regeln vereinfachen sollte, dagegen gab es auch Widerstand, unter anderem von Schriftstellern. Im Jahr 2006 wurde die Reform erneut reformiert. Das sorgte wieder für Kritik und auch Verwirrung. Die zugelassenen Varianten trugen zu einer Schreibunsicherheit bei, wie es im Sprachreport 1/2022 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache heißt. Und das ist nur ein vergleichsweise kleines Problem, denn Schüler tun sich zunehmend schwer mit dem Schreiben nach Regeln, wie neueste Studien zeigen. Wie steht es um die deutsche Rechtschreibung? Viele Schüler haben Probleme mit Orthografie. Fast jeder dritte Viertklässler in Deutschland erreicht nicht den Mindeststandard der Kultusministerkonferenz, nur 44 Prozent den Regelstandard – und damit deutlich weniger als noch in den Jahren 2011 und 2016. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in ihrer Studie „IQB-Bildungstrend 2021“. Ein „besorgniserregendes Bild“, so das Fazit. Der dritte Bericht zur Lage der Deutschen Sprache von 2021, herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, kommt zu einem differenzierten Bild. Einerseits haben manche Fehler seit den 70er-Jahren zugenommen. Zum Beispiel hat sich der Fehlerquotient von 1972 bis 2012 bei der Großschreibung verdreifacht (von 3,1 auf 11,2). Der Sprachwissenschaftler Dirk Betzel hat das herausgefunden, als er 1.000 Texte von Grundschülern aus Nordrhein-Westfalen untersuchte. Rechtschreibung Duden-Leiterin: Viele wollen Eindeutigkeit Rechtschreibung Duden-Leiterin: Viele wollen Eindeutigkeit Delfin oder Delphin? Was ist richtig? Beides ist möglich! Viele Menschen wünschten sich bei der Orthografie eher Eindeutigkeit als Varianten, sagt Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Duden-Redaktion. Zeichensetzung besser als gedacht Bei der Zeichensetzung hingegen sieht es gar nicht so schlecht aus, zumindest was manche Kommaregeln angeht. „Kommas bei subordinierten Nebensätzen werden in Abiturarbeiten fast immer gesetzt“, schreibt Kristian Berg, Professor für Germanistische Linguistik, in seiner Untersuchung. „Solche bei Relativsätzen sind etwas seltener, ihr Anteil liegt aber bei rund 90 Prozent.“ Gleiches gilt für Kommas bei Infinitivgruppen. Allerdings werden seit den 80ern bei mit "und" konnotierten Verbzweitsätzen seltener Kommas gesetzt, seit den 50ern kommen Fehler wie sogenannte Vorfeldkommas vermehrt vor. Bergs Fazit: „Je verlässlicher ein Komma allein mit Rückgriff auf bestimmte Wörter gesetzt werden kann (dass, weil, um zu usw.), desto höher ist der Anteil systemgerechter Kommas.“ Und dann gibt es immer noch die Tücke von „das“ und „dass“. Obwohl grammatisch der Unterschied klar ist, bleibt es laut dem Forscher Helmuth Feilke nach wie vor Deutschlands „Rechtschreibfehler Nr. 1“. Offenbar fehlt immer noch ein Ansatz, den Schülern diese Regel so zu erklären, dass sie beherzigt wird. Warum tun sich viele schwer mit Rechtschreibung? Die Rechtschreibreform von 1996 und 2006 habe gezeigt, dass Regeln veränderlich seien, sagt Henning Lobin, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache. In dieser „Ur-Erfahrung“ finde sich die Willkür, die sich bei manchen mit Rechtschreibregeln verbindet. Ein anderer Grund sei der Deutschunterricht. Dieser konzentrierte sich mehr auf inhaltliche Aspekte der Sprache, weniger auf formale. Auch sei das Thema Rechtschreibung in der Vergangenheit nicht intensiv in der Forschung berücksichtigt worden. Das habe sich in den letzten Jahren geändert. Durch die Reform sei das Thema in den Vordergrund gerückt. „Das Thema gewinnt an Bedeutung, und man sollte deshalb auch hoffen, dass bei der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an den Universitäten auch zukünftig bessere Materialien und Herangehensweisen zur Verfügung stehen und vermittelt werden können.“ Wozu ist Rechtschreibung gut? Die Rechtschreibung hat eine wichtige Funktion für das Lesen. Durch sie lassen sich Texte besser verstehen. Andersrum gilt auch: Wer Rechtschreibung beherrscht, versteht auch Texte besser. Gleichzeitig zeigen sich auch Probleme, wenn verschiedene Schreibweisen zugelassen sind. „Je mehr Variation im Gebrauch herumschwirrt, also je uneinheitlicher ein Wort geschrieben wird, desto länger brauchen wir, um es zu lesen, um es zu erkennen“, so Kristian Berg. Für Henning Lobin gilt grundsätzlich: „Die Beherrschung von Rechtschreibung ist ein Indiz dafür, dass man sich überhaupt mit Sprache intensiv auseinandersetzen kann. Insofern bildet die Rechtschreibung einen unveräußerlichen Teil der sprachlichen Bildung, sodass man diese auch stärken kann.“ Wer ist zuständig für die deutsche Rechtschreibung? Im Jahr 2004 wurde der Rat für deutsche Rechtschreibung gegründet, um die begonnenen Reformen von 1996 abzuschließen. Er setzt sich aus 41 Menschen aus sieben deutschsprachigen Ländern und Regionen zusammen. Der Rat gibt Empfehlungen für die amtliche Rechtschreibung ab und orientiert sich dabei zum einen an der Forschung, zum anderen aber auch am Sprachgebrauch. Ziel ist es, die Regeln zu vereinfachen, also einprägsamer zu gestalten. Rat für deutsche Rechtschreibung Orthografie, ein heißes Eisen? Rat für deutsche Rechtschreibung Orthografie, ein heißes Eisen? Sabine Krome ist Geschäftsführerin des Rates für deutsche Rechtschreibung. Sie hat die Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache mitorganisiert, die sich dem Thema "Orthographie in Wissenschaft und Gesellschaft" widmet. Seit wann gibt es eine verbindliche deutsche Rechtschreibung? Die deutsche Rechtschreibung blieb lange unreguliert. Es gab regionale und auch individuelle Unterschiede, was Schreibweisen von Wörtern, aber auch Interpunktion angeht. So setzte selbst ein Klassiker wie Goethe - aus heutiger Sicht - gerne mal ein Komma zu viel und mal eins zu wenig. Manche seiner Zeitgenossen schrieben seinen Namen auch mal mit "ö". Im 18. Jahrhundert vertrat Johann Christoph Adelung den Grundsatz "Schreibe, wie du sprichst", im 19. Jahrhundert plädierten die Brüder Grimm dafür, sich beim Schreiben an der Wortgeschichte zu orientieren (historisch-etymologisch). Auch hielten die Grimms nicht viel vom "missbrauch großer buchstaben für das substantivum, der unserer pedantischen unart gipfel heissen kann", so Jacob Grimm. Daher schrieben sie auch in ihrem Deutschen Wörterbuch konsequent klein, außer bei Absatzanfängen, in denen das Lemma in Großbuchstaben steht. Versuche zur Vereinheitlichung scheiterten, in jedem Land wurden andere Regeln gelehrt. Erst mit dem Wörterbuch von Konrad Duden (Erstauflage 1880) wurde die Grundlage für allgemeinverbindliche Normen gelegt. Diese basierten auf den Regeln des Germanist Wilhelm Wilmanns für preußische Schulen. Nach einer (zweiten) Orthografischen Konferenz im Jahr 1901 wurde im Jahr darauf das neue Regelwerk im Deutschen Reich, Österreich und der Schweiz für verbindlich erklärt.
null
Schüler haben zunehmend Probleme mit Rechtschreibung. In manchen Bereichen nehmen Fehler stark zu. Wie groß ist das Problem wirklich? Woher die Unsicherheit? Und ist Orthografie überhaupt noch wichtig?
"2023-03-16T20:10:00+01:00"
"2023-03-17T15:38:16.285000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtschreibung-immer-schlechter-100.html
91,071
Der „Kaiser“ der Weimarer Republik
Hugo Stinnes war mächtiger Montanunternehmer, Krisengewinner und Strippenzieher in der Weimarer Republik (dpa / picture-alliance / Ullstein) "Einige nennen ihn einen aufgeblasenen Kapitalisten, der Deutschland in ein gigantisches Kartell verwandeln will, andere halten ihn für einen sozialistischen Pionier…" "Niemand in Nachkriegsdeutschland wird so gefürchtet, bewundert und verflucht wie Stinnes." So schrieb die New York Times 1921 über Hugo Stinnes aus Mülheim an der Ruhr. Eine ganze Seite widmete sie dem Montanunternehmer, Strippenzieher und Krisengewinner, nannte ihn gar "Czar of New Germany", "Kaiser" der jungen deutschen Republik. Doch wie konnte der solche Bedeutung gewinnen? "Nur vorwärts, vorwärts kommen wollen wir!" Als Hugo Stinnes, am 12. Februar 1870 in Mülheim an der Ruhr geboren wurde, schien ihm zumindest ein Unternehmerleben vorbestimmt. Sein Großvater verdiente sein Geld damit, Kohle aus dem Ruhrgebiet nach Holland zu verschiffen. Der Vater ließ schon in großem Stile selbst nach Kohle graben. Doch Hugo war erst 17 als dieser starb – und keineswegs angetan von der Vorstellung, das Unternehmen zusammen mit seinem Vetter fortzuführen. Der Vetter schien ihm schlicht nicht tüchtig genug, weshalb Hugo der Familie bald eine Zeche abkaufte und einen eigenen Kohlehandel aufzog. "Du glaubst nicht, was es mir eine Freude sein wird, wenn wir immer mehr selbstständig werden. Nur vorwärts, vorwärts kommen wollen wir", schrieb er 1894, ein Jahr vor seiner Hochzeit, an die Verlobte Cläre. Auch in ihrer Ehe sollten die beiden viel per Brief kommunizieren. Denn Stinnes war ständig unterwegs. Die Entstehung von RWE Er eröffnete weltweit Niederlassungen. Er kaufte neue Kohlefelder und baute Stahlwerke, direkt daneben – um Transportkosten zu sparen. Und als die Elektrizität aufkam, überredete er die Stadt Essen 1898 Generatoren unmittelbar über einer seiner Gruben aufzustellen – so entstanden die Rheinisch-Westfälischen Energiewerke – an denen er natürlich Anteile hielt. Dann kam der Erste Weltkrieg – den das Unternehmen überraschend gut überstand. Kohle und Stahl wurden dringend gebraucht. Sorgen mussten sich Stinnes– und die anderen Ruhrbarone – eigentlich erst nach dem Krieg machen. "Arbeiter und Soldaten, der unglückselige Krieg ist zu Ende, das Morden ist vorbei. Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik." Vor 100 Jahren / Einführung des Achtstundentags für Arbeiter Der Achtstundentag, eine Kernforderung der Arbeiterbewegung, steht heute wieder in der Kritik – zumindest von Seiten vieler Arbeitgeber. Zu unflexibel sei er, um auf Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft einzugehen. Am 9. November 1918 rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann im Reichstag die Republik aus. Stunden später am Berliner Schloss verkündete auch Karl Liebknecht vom Spartakusbund das Ende der Monarchie. "Es war die revolutionäre Situation am Ende des Ersten Weltkrieges, die dazu führte, dass den Arbeitgebern klar war, wenn sie jetzt nicht der Stimme der Besonnenheit, nämlich den Gewerkschaften Zugeständnisse machen, dann werden sie von der Revolution hinweggefegt und die Eigentumsordnung gleich mit", urteilt der Historiker Michael Schneider. Die Arbeitgeber schickten Stinnes vor. Er verhandelte mit dem obersten deutschen Gewerkschafter, Carl Legien, um zu ergründen, wie die Arbeiter zu besänftigen seien. Das Stinnes-Legien-Abkommen Schneider: "Und da war der Acht-Stunden-Tag eben wegen seiner hohen symbolischen Bedeutung das Mittel der Wahl. Wenn der garantiert wird, konnte man vor die Arbeiter hintreten und sagen: Auch ohne eine gewaltsame Revolution führt der gewerkschaftliche Erfolg zu sozialen Verbesserungen." Nach wenigen Tagen wurde das Stinnes-Legien-Abkommen unterzeichnet. Die Arbeitgeber erfüllten darin die alte Forderung, die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden zu reduzieren. Und sie erkannten die Gewerkschaften als Gesprächspartner bei Tarifverhandlungen an. Während sich erstaunte Beobachter noch fragten, ob der Kapitalist zum Kommunismus konvertiert sei, wuchs Stinnes weiter. Dank gewaltiger Kredite profitierte er selbst von der Inflation. Doch kurz bevor die Geldentwertung 1923 ihren Höhepunkt erreichte, nutzte er die Krisenstimmung, um mit einer Rede im Reichswirtschaftsrat die Wiederabschaffung des Acht-Stunden-Tags durchzusetzen: "Es ist höchste Zeit dem deutschen Volk zu sagen, dass es nicht gleichzeitig einen Krieg verlieren und zwei Stunden weniger arbeiten kann." Im Jahr darauf war er mit 600.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Welt – und starb 54-jährig an einem Gallenleiden. Seinen Kindern fehlte die Fortune, das Imperium des Hugo Stinnes zerfiel.
Von Jutta Hoffritz
Der deutsche Industrielle Hugo Stinnes hat es nach dem Ersten Weltkrieg zum größten Arbeitgeber der Welt gebracht. Dazu ist er mal einen Pakt mit dem Proletariat eingegangen – und mal in den Kampf gegen die Arbeiterschaft gezogen. Die New York Times nannte ihn gar „Kaiser“ der jungen deutschen Republik.
"2020-02-12T09:00:00+01:00"
"2020-02-18T15:29:02.385000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/150-geburtstag-des-industriellen-hugo-stinnes-der-kaiser-100.html
91,072
Feinstaub auch aus Benzinmotoren
Es geht zuallererst um die generellen Feinstaubemissionen des Verkehrssektors. Sie haben die Dieselfahrzeuge angesprochen - hier gibt es ja inzwischen gesetzliche Vorgaben für eine bessere Luftreinhaltung. Aus Sicht der beiden Umwelt- und Verkehrsverbände verschärft sich derzeit allerdings dieses generelle Problem, weil inzwischen viele Benziner mit Direkteinspritzung boomen, sprich diese werden vermehrt produziert und auch verkauft. Und hier würden großen Mengen an ultrafeinen Partikeln in die Luft geschleudert, ohne dass jedoch bislang eine gesetzliche Regelung zur Vermeidung bestünde. Der Verkehrsclub Deutschland und die Deutsche Umwelthilfe haben sich heute Vormittag sozusagen wissenschaftlichen Beistand geholt. Erich Wichmann ist Leiter des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum in München. Er machte darauf aufmerksam, dass dieser Verkehrsfeinstaub direkt in den menschlichen Körper gelangen kann."Wir haben im Körper einen komplizierten Lungenbaum mit sehr verästelten Atemwegen. Damit haben wir auch ein gutes Reinigungssystem der Lunge. Und immer dann, wenn die Partikel relativ groß sind, werden sie durch diese Reinigungswege langsam, aber sicher auch wieder ausgeschieden. Das gilt aber überhaupt für die feineren, die ultrafeinen Partikel. Die gehen nämlich in die Lungenbläschen, und da gibt es diese Reinigungsmechanismen nicht mehr. Die Kleinst-Partikel bleiben dort also eine gewisse Zeit, treten dann aber in das Gewebe ein, sie können in die Blutbahn übergehen." Die gesundheitlichen Folgen dieses Feinstaubs, dieser Nano-Partikel, seien nachweisbar gravierend, sagt der Wissenschaftler. So steige die Gefahr eines Herzinfarktes um das 3fache für jene Menschen, die sich in direkter Straßennähe bewegen würden. Eine aktuelle Studie würde dies auch beweisen. In Augsburg wurden in einem Versuch Verkehrsteilnehmer mit Messgeräten verkabelt."So gab es teilweise innerhalb von 5 Minuten, auf jeden Fall aber im Bereich einer halben Stunde, Veränderungen beim EKG. Die sind zwar auch wieder geringer geworden, es wird aber aufgezeigt, dass hier doch ein deutliches Risiko besteht."Auf diese Sachverhalte müsse nun reagiert werden, so die Forderung der beiden Umweltverbände. Denn auch Messungen des ADAC, im Auftrag von Verkehrsclub Deutschland und Deutscher Umwelthilfe durchgeführt, hätten kürzlich ergeben, dass moderne Benzinmotoren das Problem verschärfen würden, der Ausstoß von ultrafeinen Partikeln liege 30-mal über dem für Diesel zulässigen Wert. Und gleichzeitig nehme die Anzahl der Benziner mit Direkteinspritzung in Deutschland zu. Michael Müller-Görnert vom Verkehrsclub Deutschland, VCD:"Wir erleben derzeit eine Art Schub. Seit Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung zur CO2-Reduzierung bei neuen PKW ist dies so. Der Grund dafür ist, dass Direkteinspritzer Verbrauchsvorteile von bis zu 20 Prozent gegenüber herkömmlichen Benzinern haben. Deswegen führen die Hersteller diese Technologie auch nach und nach ein. Damit können sie ja die gesetzlichen CO2-Grenzwerte auch gut einhalten. Somit wird wohl der Direkteinspritzer bei Benzinern die herkömmliche Technik ablösen." Allerdings sei bis heute politisch nichts passiert. Die beiden Verbände fordern nun, dass auch für die modernen Benziner die derzeit gültigen Grenzwerte für Dieselmotoren gelten sollten. Die EU plant dies für den Zeitraum ab 2014. Doch sei hier konkret noch nichts beschlossen worden. Allerdings gebe es hier auch Widerstand, vor allem von der deutschen Automobilindustrie, so der Experte des VCD.Erich Wichmann, der Fachmann des Helmholtz Instituts, unterstützt die politische Forderung. "Wenn Benzinmotoren mit Direkteinspritzung die Euro-5-Emissionsgrenzwerte für die Partikelzahl und auch teilweise für die Masse überschreiten, dann müssen sie aus gesundheitlicher Sicht genauso streng behandelt werden, wie Diesel-Fahrzeuge."
Von Dieter Nürnberger
In der Feinstaubproblematik geraten nun auch Benzinmotoren ins Visier der Umweltschützer und Mediziner. Der Verkehrsclub Deutschland und die Deutsche Umwelthilfe warnen, dass die beliebter werdenden Benziner mit Direkteinspritzung große Mengen an ultrafeinen Partikeln in die Luft schleudern.
"2011-09-23T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:23:07.243000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/feinstaub-auch-aus-benzinmotoren-100.html
91,073
„Zur Krisenbewältigung brauchen wir gut ausgebildete Leute“
In Deutschland fehlen gut ausgebildete Jugendliche (imago images / Westend61 / Daniel Ingold)
Zurheide, Jürgen
Wegen fehlender qualifizierter Mitarbeiter sei die Lage vieler Betriebe inzwischen kritisch, sagte Martin Wortmann, Generalsekretär der Bildungsallianz Mittelstand im Dlf. Die Abbrecherquote in der beruflichen Ausbildung liege bei rund 30 Prozent. (Anm. d. Red.: Wir haben den Namen der Organisation, für die Martin Wortmann arbeitet, korrigiert.)
"2022-10-29T06:50:00+02:00"
"2022-10-29T07:09:24.023000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ntl-bildungsintiative-jetzt-interview-mit-martin-wortmann-dlf-931f1a8d-100.html
91,074
Inflation im Euroraum bei 0,5 Prozent
Die Inflation im Euroraum ist so niedrig wie in der Finanzkrise. (dpa/Daniel Reinhardt) Einen weiteren Preisrutsch in der Eurozone hatten bis vor einigen Tagen die wenigsten Beobachter erwartet. Die Inflationsrate ist im März auf 0,5 Prozent gefallen nach 0,7 Prozent im Februar. Viel weiter sollte es aber nicht heruntergehen, hofft Rolf Schneider, Volkswirt der Allianz: "Ich glaube, wir sind im Vorjahresabstand ziemlich nah am, Tiefpunkt. Zu der Vorjahresinflationsrate hat wohl auch beigetragen, dass saisonabhängige Nahrungsmittel in diesem Jahr etwas früher auf den Markt gekommen sind und die Preisentwicklung gedrückt haben. Ich rechne damit, dass wir am Jahresende wieder bei einer Inflationsrate sind von einem Prozent im Euroraum oder sogar etwas mehr." Die aktuelle Inflationsrate von 0,5 Prozent liegt zwar weit unter dem Ziel der EZB, nach dem die Preise um knapp zwei Prozent steigen sollen, damit Preisstabilität gewährleistet ist. Eine Deflation kann Schneider aber nicht erkennen: "Wir sehen in vielen europäischen Ländern, dass die Konsumentenstimmung sich verbessert, das ist nun wirklich kein Anzeichen von Deflation. Bei Deflation würden Käufe zurückgestellt, weil man glaubt, dass die Preise weiter fallen, aber im Augenblick ist das sicherlich eine gesunde Disinflationsentwicklung, die auch einher geht mit einer höheren preislichen Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Länder. Und wir sehen in all diesen Ländern eine Konjunkturerholung. Und sie dürfte im ersten Quartal eher stärker ausgefallen sein, als wie es bisher dachten." Ohnehin richtet sich die EZB nicht nach dem Wert von ein oder zwei Monaten in ihrer Geldpolitik, sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. Ihre Aufgabe sei es, mittelfristig, also über sechs Monate bis hin zu ein oder zwei Jahren den Trend zu erkennen, bevor sie über mögliche Schritte entscheide: "Die Frage, ob sie noch gegen einen dann eventuell dann festzustellenden Trend zu schwacher Preisentwicklung oder sogar Deflation, ob sie da was tun muss, die wird in den nächsten Monaten fallen." Volkswirte rechnen nicht mit Zinssenkung Deshalb rechnen die meisten Volkswirte nicht damit, dass die Notenbank auf ihrer Ratssitzung am Donnerstag über eine Zinssenkung befindet. Der wichtigste Leitzins liegt ohnehin bei niedrigen 0,25 Prozent. Rolf Schneider von der Allianz hofft jedenfalls, dass die EZB in ihrer Geldpolitik am Donnerstag stillhält: "Ich glaube, sie ist wirklich expansiv genug, um die wirtschaftliche Erholung im Euroraum auch weiterhin zu unterstützen, und überstürzte Maßnahmen bringen da meiner Ansicht nach nichts. Also, insbesondere, was diskutiert wird, der Ankauf von Staatsanleihen oder anderen festverzinslichen Wertpapieren im breiten Umfang, halte ich nicht für sinnvoll und erwarte ich auch nicht." Es gäbe weitere Möglichkeiten, etwa die Auflage eines neuen langfristigen Refinanzierungsgeschäfts, weil die bisherigen allmählich auslaufen. Wenn die Notenbank glaubt handeln zu müssen, dann müsste das aber auch Wirkung zeigen, sagt Dekabank-Chefvolkswirt Kater: "Wenn man gegensteuert, dann nicht einfach mal ein bisschen, sondern dann muss auch kräftig gegengesteuert werden, dann müssen kräftige Geschütze aus dem Arsenal geholt werden." Die aber dürfte sie auch noch etwas zurückhalten, damit sie bei einer möglichen Verschlechterung der geopolitischen Lage noch wirkungsvoll reagieren kann.
Von Brigitte Scholtes
Der Anstieg der Verbraucherpreise in der Eurozone ist im März so niedrig gewesen wie zuletzt im Oktober 2009. Die Inflationsrate in den 18 Mitgliedsländern betrug 0,5 Prozent, erklärte die EU-Statistikbehörde Eurostat. Am Donnerstag wird der EZB-Rat über die Zinsen im Euroraum entscheiden.
"2014-03-31T17:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:33:51.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eurostat-inflation-im-euroraum-bei-0-5-prozent-100.html
91,075
Anlagenbau mit langer Familientradition
Ingo Kramer, Chef der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier) Im Bremerhavener Fischereihafen liegt festvertäut die 120 Meter lange Mary Arctica, ein Frachtschiff einer grönländischen Reederei. Die rot lackierte Bordwand, die aus dem Wasser ragt, das weiße Brückenhaus und die beiden Kräne an Bord werfen ihre Schatten auf das Firmengelände gegenüber der Kaje. An der Stirn der Stahlbauhalle steht in weißen, großen Buchstaben auf grünem Untergrund JHK – Johann Heinrich Kramer. Der Großvater des heutigen Firmeninhabers gründete das Unternehmen 1901. Ingo Kramer trat 1986 das Erbe an: "Das war die Zeit, als auf der Fischdampferflotte, die in Bremerhaven seit langer Zeit beheimatet war, aufgrund der Dampfenergie auf den Schiffen Kältetechnik an Bord stattfand. Man konnte Kälte produzieren, man musste kein Eis mehr aus Bremerhaven mitnehmen. Kupfer war ein Werkstoff, den man sehr gut formen konnte, also Heiz- und Kälteschlangen bauen, Apparate bauen. Daher wurde die Firma als Kupferschmiedehandwerksbetrieb gegründet." Beginn als Kupferschmiedebetrieb Sein Vater, erzählt Ingo Kramer, war ebenfalls Kupferschmiedemeister. Er selbst ist Wirtschaftsingenieur. Nach dem Studium arbeitete er für kurze Zeit bei Mannesmann und stieg Anfang der 80er-Jahre in den Familienbetrieb ein: "Gut, wollen wir hier durchgehen? Ich geh mal vor ... " Ingo Kramer verlässt das zweistöckige Verwaltungsgebäude, geht über das Firmengelände. Neben kleineren Lagerhallen stehen dort zwei große Montagehallen: "Das ist der Standort, den wir seit etwa 1990 haben. Sie sehen Schiffe direkt an der Kaje. Hier können wir auch die Vorteile nutzen, die der Standort Bremerhaven gegenüber anderen Standorten hat, eben am seeschifftiefen Wasser zu liegen. Wir gehen hier jetzt rein." Breit aufgestellt ist das Unternehmen. Nicht weniger als 21 Betätigungsfelder listet der Internetauftritt auf. Forschung und Entwicklung, Mess- und Fördertechnik, Schiffsbetriebstechnik, Industrieanlagenbau: "Ja, aber alle Felder gehen zurück auf die vier Kernbereiche Rohrleitungsbau, Stahlbau, Behälterbau und elektrotechnische Installation, aus denen sich dann bis zu 21 verschiedene Felder aufspalten. Aber im Kern sind es die vier ursprünglichen Felder, die wir heute noch bedienen.- Hier machen wir Großbauteile bis zu 100 Tonnen Stückgewicht, die wir mit zwei Kränen bewegen. Zum Beispiel haben wir hier bis zu einigen Wochen große Komponenten für die Windkraftanlagen gebaut. Im Moment sind wir mit der Montage solcher Tätigkeiten auf hoher See beschäftigt, dann ist hier Ruhe und das beruhigt mich sehr, weil ich weiß, wir haben viel zu tun." 300 Mitarbeiter an drei Standorten 300 Mitarbeiter arbeiten an drei Standorten. Am Hauptsitz hier in Bremerhaven sind es 120 Mitarbeiter, die gleiche Zahl ist am Standort in Ahlhorn südlich von Oldenburg beschäftigt, 60 sind es in Hamburg-Bergedorf. Der Umsatz schwankt stark, wie es für ein Unternehmen im Anlagebau nicht ungewöhnlich sei, merkt Ingo Kramer an. In einem Jahr seien es 70 Millionen Euro, in dem darauffolgenden 30 Millionen: "Ich habe das Glück, keine Quartalsberichte zum Maßstab meiner Entscheidungen machen zu müssen. Wir denken nicht in Quartalsberichten, sondern in Generationen, das gibt etwas mehr Möglichkeiten. Meine Aktionäre sind meine Familie. Ich kann das nicht beklagen. Ganz im Gegenteil." Ingo Kramer möchte nicht falsch verstanden werden. Von börsennotierten Großunternehmen, die permanent unter Gewinndruck stehen, auf dem Finanzmarkt aber das nötige Kapital erhalten, um weltweit zu expandieren, würde auch der deutsche Mittelstand profitieren und somit die gesamte deutsche Wirtschaft, deren tarifpolitischen Interessen er seit einem Jahr als Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände vertritt. Genug Zeit für den eigenen Betrieb bleibt da gleichwohl. Dank E-Mail und Internet. "Ich nehme mir vor, ein bis zwei Tage im Schnitt für das Amt zur Verfügung zu stehen. Aber die anderen drei Tage damit auch fürs Unternehmen. Das geht im Schnitt auch auf. Ich weiß nicht, ob ich Anfang der 90er-Jahre, wo es diese Technologien noch nicht gab, mit meinen Vorstellung, drei Tage im Unternehmen, das Amt hätte wahrnehmen könne, aber heute ist es technisch ganz gut möglich." 1901, als sein Großvater das Unternehmen gründete, lag das Tarifrecht, wie wir es heute kennen, noch in ferner Zukunft. Dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einen Tisch setzen und unter weitgehendem Ausschluss staatlicher Vorgaben die Löhne eigenverantwortlich aushandeln, ist für Ingo Kramer das A und O der florierenden deutschen Wirtschaft in den zurückliegenden 60 Jahren. Vierte Generation steht in den Startlöchern Den gesetzlichen Mindestlohn, den die Regierung über die Köpfe der Arbeitgeber hinweg bundesweit und in allen Branchen eingeführt hat, lehnt er ab. Im Unternehmen des Arbeitergeberpräsidenten werden bestehende Tarifverträge selbstverständlich strikt eingehalten. Und in den Startlöchern wartet auch schon die nächste, die vierte Generation. Ingo Kramer ist guter Dinge, dass der großväterliche Betrieb weiterhin in Familienhand bleibt: "Da alle Kinder eine mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung haben, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass der eine oder andere später auch in die Firma kommen wird."
Von Godehard Weyerer
Ingo Kramer ist Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Daneben führt er auch seine eigene Firma. Das Familienunternehmen aus Bremerhaven gibt es schon seit 1901 - und bietet eine breite Angebotspalette im Anlagenbau.
"2014-11-28T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:04.126000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/firma-des-bda-chefs-anlagenbau-mit-langer-familientradition-100.html
91,076
Hitlers "letztes Aufgebot"
Adolf Hitler zeichnet Mitglieder der Berliner Hitler-Jugend aus, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Volkssturm-Einheiten zusammengefasst wurden (picture alliance / dpa / Heinrich Hoffmann) "Der Vorhang ist aufgegangen über dem letzten Akt der deutschen Tragödie." Der britische Journalist Hugh Carleton Greene am 18. Oktober 1944 im Deutschen Dienst der BBC. "Die heutige Bekanntmachung, dass alle deutschen Männer von 16 bis 60 Jahren zum "Volkssturm" aufgerufen und in den Kampf geworfen werden sollen gegen die Panzer und Flugzeuge der Alliierten, bedeutet, was von Anfang an kaum anders zu erwarten war: dass Hitler und Himmler beschlossen haben, das ganze deutsche Volk mitzureißen in einen selbstmörderischen Untergang." Was Greene, der später in der englisch besetzten Zone Deutschlands zum Organisator des Nachkriegsrundfunks werden sollte, hier so treffend charakterisiert, war ein letzter verzweifelter Akt des NS-Regimes zur Massenmobilisierung. Die Geburtsstunde dieser Idee lag indes im Oktober 1944 schon weit zurück: "Nun Volk steh auf, und Sturm brich los!" …die letzten Worte der berüchtigten Sportpalast-Rede, mit der Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 die Bevölkerung an der Heimatfront auf den "Totalen Krieg" einschwor. Spurensuche - Wenn NS-Täter in der Familienchronik stehenTäter, Mitläufer, Zuschauer: Immer mehr Enkel wollen wissen, welche Rolle ihre Großeltern im Nationalsozialismus eingenommen haben. Kämpften ihre Eltern noch mit Loyalitätskonflikten bei der familiären Spurensuche, können Junge freier fragen. "Der Satz ist auf jeden Fall schon ein Hinweis darauf, allein deswegen, weil Goebbels schon von Anfang an ein Verfechter dieser Idee ist. Er trifft da zunächst aber noch auf Widerstände, nicht zuletzt auch bei Hitler selbst, weil der durch so eine Mobilisierung in der großen Breite von Jugendlichen, von alten Männern auch, fürchtet, Unruhe an die Heimatfront zu tragen - und das will Hitler zunächst noch vermeiden, während Goebbels da schon viel radikaler unterwegs ist zu der Zeit." So Sven Keller, Leiter der Dokumentation Obersalzberg beim Münchner Institut für Zeitgeschichte und Experte für die Endphase des Zweiten Weltkrieges. Mobilisierung an der Heimatfront Doch angesichts der desolaten Lage an allen Fronten zählen derartige Bedenken im Herbst vor 75 Jahren nicht mehr: "Im Herbst 1944 standen die alliierten Truppen sowohl im Westen als auch im Osten schon an den Reichsgrenzen, überschritten diese teilweise auch schon, etwa in der Nähe von Aachen und in Ostpreußen. Von den deutschen Eroberungen war zu diesem Zeitpunkt kaum noch etwas übrig - und vorangegangen war diesem Herbst ein Sommer der militärischen Albträume, kann man sagen. Das ist einmal die gelungene Invasion der West-Alliierten in Frankreich und vielleicht noch mehr der Zusammenbruch eines ganzen Frontabschnitts im Osten." Goebbels organisiert das Unternehmen "Volkssturm" gemeinsam mit dem Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann und Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Befehlshaber des Ersatzheeres. Die Wehrmacht, seit dem Attentat auf Hitler vom 20.Juli in den Augen der NS-Führung als politisch unzuverlässig diskreditiert, bleibt dabei zunächst außen vor. Obwohl der Führererlass zur Bildung des Volkssturms vom 25. September datiert, wird er erst drei Wochen später der Öffentlichkeit präsentiert; auch dies ein propagandistischer Schachzug von Goebbels, der inzwischen "Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz" ist: (Wochenschau:) "Am 18. Oktober, am 131. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, verkündet der Reichsführer SS den Erlass des Führers über die Bildung des ‚Deutschen Volkssturmes‘. In Ostpreußen sind die ersten Volkssturm-Männer angetreten. Eiserne Entschlossenheit prägt den Ausdruck ihrer Gesichter." (Heinrich Himmler:) "Unsere verfluchten Feinde werden es feststellen und einsehen müssen, dass ein Einbruch in Deutschland, selbst wenn er irgendwo gelänge, für den Angreifer Opfer kostet, die für ihn dem nationalen Selbstmord gleichkommen!" Der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler (l), beim erstem Appell an Mitglieder des "Volkssturms" in Ostpreußen (picture-alliance / dpa) Mit der Rekrutierung des "letzten Aufgebots", bestehend aus rund sechs Millionen Männern zwischen 16 und 60 Jahren, werden die Gauleiter der NSDAP beauftragt. Den regionalen Statthaltern des Regimes ist das durchaus willkommen, verfügen sie doch damit über eine Art Privatarmee, die ihrem direkten Kommando untersteht. Zudem werden durch die Mobilisierung auch politisch unzuverlässige Elemente an der Heimatfront erfasst - und dadurch leichter kontrollierbar. Untergliedert ist der "Volkssturm" in vier Aufgebote: "Das erste Aufgebot umfasste alle kampffähigen Männer ab 20 Jahren, die nicht aus kriegswichtigen Gründen unabkömmlich waren; und auch nur dieses erste Aufgebot sollte außerhalb der engeren eigenen Region überhaupt eingesetzt werden. Das zweite Aufgebot sind die Männer gleichen Alters, die aber unabkömmlich sind, also zum Beispiel als Rüstungsarbeiter in der Industrie eingesetzt waren. Das dritte Aufgebot waren die Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren, und das 4. Aufgebot umfasste schließlich noch all diejenigen, die nicht mehr als tauglich für den Kampfeinsatz galten." Bis in die obersten Parteikreise hinein setzt sofort der Kampf um sogenannte "Zuweisungskarten" ein, die den Rekrutierten den Verbleib im "Zweiten Aufgebot" sichern - und damit den Einsatz daheim, ohne Kasernierung. Allein im Reichspropagandaministerium erhalten fast die Hälfte von 2.459 Volkssturmpflichtigen eine Z-Karte, die in der Bevölkerung bald auch "Zurückstellungskarte" genannt wird. Letzte große Propagandaoffensive der Nazis Betriebe, Ämter und Fabrikleitungen versuchen mit allen Mitteln, ihre Arbeitskräfte als unabkömmlich einstufen zu lassen - selbst Fleischbeschauer und Mitarbeiter der Branntweinverwertungsstelle üben plötzlich "kriegswichtige" Tätigkeiten aus. (Appell 9.11.1944 München:) "Volkssturm und Fahnenblock stillgestanden! Standarten und Fahnen hoch! Volkssturm-Abordnung zur Blutfahne marsch!" Auf verschachtelte Hierarchie- und Kommandostrukturen wie bei der Wehrmacht verzichtet der "Volkssturm" weitestgehend - in seinen Kompanien und Bataillonen sollen alle Teile der Bevölkerung Seite an Seite kämpfen, angespornt durch eine letzte große Propagandaoffensive der Nazis: "Der Führer wird dieses Schiff ‚Deutschland‘ mit seiner tapferen, getreuen, anständigen und sturmbewährten Besatzung glücklich in den Hafen des Friedens steuern…" Der Gauleiter von München-Oberbayern, Paul Giesler, bei der Vereidigung von "Volkssturm"-Männern am 9. November 1944 vor der Münchener Feldherrenhalle. "Aber noch, meine Parteigenossen, ist Sturm! Sturm auf uns. Sturm auf alles, was uns teuer ist. Sturm auf Deutschland. Aber es ist auch Sturm unseres Volkes gegen und auf alles, was uns vernichten und auslöschen will. Es ist Volkssturm gegen die anbrandende Gefahr!" "Aber natürlich nehmen die meisten Menschen doch wahr, wo da die Widersprüche liegen: Also man hat hier diesen Volkssturm mit Jugendlichen und alten Männern, der kaum Waffen hat - und dieses letzte Aufgebot soll jetzt plötzlich schaffen, was der Wehrmacht offensichtlich ja nicht gelingt." "Es kam ein Bannführer mit einem deutschen Soldaten, die haben mich aufgefordert, mich am nächsten Tag im Volkssturmlager unter Abmeldung der Lebensmittelkarte zu melden. Das hab ich natürlich gemacht und bin in Dreihof dann eingekleidet worden - nein, nicht eingekleidet: mit HJ-Uniform, und habe dann Ausbildung von deutschen Wehrmachtsausbildern bekommen. MG, Handgranate und Scharfschießen, das waren ungefähr vier Tage…" Ein anonym gebliebener Zeitzeuge aus der Saarpfalz, im Januar 1945 als Hitlerjunge für den "Volkssturm" rekrutiert, 1954 in einem Rundfunkinterview. "…Dann haben wir einen Marschbefehl mit drei Mann bekommen, uns selbständig nach dem Saargebiet, nämlich nach Baltersweiler bei St. Wendel (zu begeben und) uns dort zu melden. In St. Wendel sind wir eingesetzt worden, um Igelstellungen zu bauen für die deutsche Wehrmacht, und im Februar dann sind wir ausgebildet worden als Panzerjagdkommando, Ausbildung an Panzerschreck und Panzerfaust." "Eigentlich ist der Volkssturm hauptsächlich in der Heimat eingesetzt worden. Ausnahme waren die so genannten Volkssturm-Bataillone zur besonderen Verwendung. Die sind teilweise vor allem an der Ostfront geschlossen zum Einsatz gekommen. Ansonsten sind die "Volkssturm"-Einheiten tatsächlich vor allem am eigenen Wohnort dann eingesetzt worden - und auch nicht unbedingt in geschlossenen Bataillonen und der Wehrmacht unterstellt, sondern in kleineren Verbänden am jeweiligen Heimatort." "Siehst Du im Osten das Morgenrot / Ein Zeichen zur Freiheit, zur Sonne / Wir halten zusammen auf Leben und Tod / mag kommen was immer da wolle…" "Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr" Auch wenn Im Osten neben dem Morgenrot inzwischen die anrückende Rote Armee zu besichtigen ist, wird dieses NS-Lied von 1931 zur inoffiziellen Hymne des "Volkssturms" - aufgrund seines Refrains: "Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr", …genau genommen: ans "Volkssturmgewehr". Dieses aus Teilen alter, unbrauchbarer Waffen zusammengesetzte und in etwa 55.000 Exemplaren produzierte Gewehr, mit dem ein gezielter Schuss kaum möglich ist, kann symbolisch für die desolate Ausrüstung des Volkssturms stehen. Denn Rüstungsminister Albert Speer, der für die Wehrmacht die letzten Ressourcen zusammenkratzen muss, verweigert Heinrich Himmler jede materielle Unterstützung. Eine Statistik des "Führungsstabes Deutscher Volkssturm beim Reichsführer SS" weist im November 1944 einen Bestand von ganzen 181 Maschinengewehren in den feindbedrohten Gauen aus - gegenüber 75.000 benötigten. Ungeachtet dessen tönt die Deutsche Wochenschau: "Mit dem bolschewistischen Massenansturm aus dem Osten ist für den Volkssturm-Soldaten die Stunde der Bewährung da. Bekleidungskammern und Waffenarsenale werden geöffnet. Die Bataillone des Volkssturms sind zum Einsatz bereit." Hitlers Rüstungsminister Albert Speer (picture alliance / dpa) Schon ab Oktober 1944 hatten "Volkssturm"-Männer in Ostpreußen Stellungen für die Wehrmacht ausgehoben, also Gefechts- und Rückzugsorte vorbereitet. Doch als sich die Front nähert, bleiben diese zum Großteil unbesetzt - die zurückweichenden deutschen Truppen sind derart dezimiert, dass die Rote Armee hier nur wenig Widerstand vorfindet. Nachdem im Januar 1945 auch die Verteidigung des Warthegaus (heute vor allem Westpolen zugehörig) durch mangelhaft ausgerüstete und geschulte "Volkssturm"-Männer in einem Desaster endet, werden im Inneren des Reiches 20 Bataillone "zur besonderen Verfügung" aufgestellt und - relativ vollständig uniformiert und ausgerüstet - an die Ostfront geschickt. Doch sie kommen zu spät: Teilweise fahren die Transporte direkt in die sowjetischen Panzerspitzen hinein, ein anderer Teil verschanzt sich in den zu Festungen erklärten Städten wie Küstrin, Kolberg und Breslau. "Im Osten wird viel ausdauernder, viel motivierter gekämpft - was natürlich mit den jeweiligen Gegnern an diesen beiden Fronten zu tun hat. Im Osten weiß man natürlich sehr genau, wie die eigene Kriegführung gelaufen ist, was für Verbrechen im Osten passiert sind. Und man fürchtet die Rache dieser Roten Armee, auch mit einigem Recht, während im Westen auch in der Bevölkerung die Amerikaner vielerorts ja fast schon begrüßt werden. Man nimmt es zumindest hin - man hat da wenig Motivation, denen jetzt noch Widerstand zu leisten." "Am 26. März bekamen wir abends den Befehl, die Kompanie sollte einen Zug abstellen, der die Rheinstraße von Ehrenbreitstein nach Urbach gegen die anrückende Panzerarmee verteidigen soll. Das Kommando bekam ich mit drei Unteroffizieren und 17 Mann. Als Waffen hatte ich zwei alte Maschinengewehre 08/15, zwei, drei Panzerfäuste und dann alte tschechische Gewehre. Und dann alles alte Landsturmmänner, teilweise bis zu 60 Jahre alt. Die Amis kamen dann erstmal mit einem Jeep die Rheinstraße runtergefahren, der Wagen kam so auf 50 Meter an uns ran. Ich rief dem Amerikaner zu, ‚speak you German?‘, er sagte, ‚a little‘ - und mittlerweile kam er nun rangefahren. Und ich sagte, ich hätte drei Unteroffiziere, 17 Mann und Maschinengewehre. Da hat er gleich gebrüllt, ‚hands up!‘. ‚Ach‘, sag ich, ‚das sind alles so alte Männer, die schießen nicht mehr.‘" Desaströse Ausstattung Die kriegsmüde Bevölkerung im Westen sieht in den vom "Volkssturm" errichteten Panzersperren oft eine sinnlose, zusätzliche Gefährdung ihrer Wohngebiete: Wo immer den Gauleitern die Kontrolle entgleitet, werden diese demontiert, um die Kampfhandlungen zu verkürzen. "Von Mut oder Siegeszuversicht war keine Spur vorhanden. Einige wünschten offen und laut: Wären doch bloß die Amerikaner da, dann hätten wir doch mindestens Ruhe." Ein desertierter deutscher Soldat schildert aus dem im Herbst 1944 durch US-Alliierte befreiten Luxemburg seine Eindrücke von der Kampfmoral der "Volkssturm"-Aufgebote in der Eifel: "Andere sagten: Wir kommen nicht mehr hier hin. Es hat keinen Zweck, hier herumzulungern. Dann bleib ich schon lieber zu Hause und säubere den Kuhstall. Von Waffen war keine Spur vorhanden. Ich fragte noch einen Mann von etwa 50 Jahren, der etwas hinkte: ‚Was würden Sie tun, wenn Sie mit einer Waffe hinter einer Böschung lägen, und die Amerikaner kämen in Ihrer Nähe vorbei?‘ Er antwortete: ‚Ich würde zunächst in ein Freudengeheul ausbrechen, die Waffe wegschmeißen und die Befreier begrüßen.’" Das vom Krieg zerstörte Berlin (imago/ITAR-TASS) Während weite Teile Westdeutschlands bereits befreit sind, richtet Joseph Goebbels am 21. April 1945 einen weiteren Durchhalteappell an die Verteidiger des eingekesselten Berlin, darunter gut die Hälfte Volkssturmmänner. Seine Rundfunkansprache wird untermalt vom Kanonendonner der Roten Armee: "In heldenhafter Abwehr haben unsere tapferen Divisionen und Volkssturmmänner in den vergangenen Tagen den Sowjets schwerste Verluste zugefügt. Ihr aufopferungsvoller Einsatz hat jedoch nicht verhindern können, dass die Bolschewisten an die äußeren Verteidigungslinien der Reichshauptstadt herangekommen sind. Damit ist Berlin zur Frontstadt geworden. Mit allen Mitteln werde ich die Verteidigung der Reichshauptstadt aktivieren." An der Ostfront fordert die desaströse Ausstattung des "Volkssturms" in den letzten Kriegstagen mancherorts noch einen ebenso grotesken wie tödlichen Tribut. Denn nach der Haager Landkriegsordnung kann nur derjenige auf eine völkerrechtskonforme Behandlung als Kriegsgefangener hoffen, der als Kombattant kenntlich ist: "Also um als Kombattant anerkannt zu werden, braucht's ja eine Uniform. Die waren aber knapp. Also in der Regel sind Volkssturm-Männer nicht mit einheitlichen Uniformen ausgestattet worden: Die haben stattdessen ihre Parteiuniformen, SA-Uniformen, Hitlerjugend-Uniformen getragen, haben eigene Zivilkleidung umgefärbt. Und um das auszugleichen, sollte es eine einheitliche Armbinde geben. Selbst die waren häufig improvisiert. Trotzdem haben zumindest die West-Alliierten das anerkannt und haben den Volkssturm-Männern, die gefangen genommen worden sind, diesen Kombattanten-Status auch zuerkannt. Das sah im Osten teilweise anders aus: Da gab es durchaus Fälle, wo Volkssturm-Männer auch als Partisanen erschossen worden sind." Die Geistermiliz Eindeutig als Partisanen - mit den entsprechenden Konsequenzen - stufen alle Alliierten indes jene von Himmler konzipierte Geistermiliz ein, die in bereits besetzten Gebieten Sabotageakte und Morde an Angehörigen oder Statthaltern der Besatzungstruppen verüben sollte: den "Werwolf". (Sender Werwolf:) "Werwölfe, ihr dürft niemals vergessen, dass die ganze Nation ihre Hoffnung auf euch setzt! Die ersten Schüsse, die in den besetzten Gebieten landesverräterische Kreaturen niederstreckten, haben das Feindlager schon in erhebliche Verwirrung gebracht. Der Werwolf wird nicht ruhen und nicht rasten, bis jeder deutsche Gau wieder vom Feind gesäubert ist. Dann kommt die große Abrechnung mit denen, die gemein genug waren, mit dem Feind zusammenzuarbeiten!" Tatsächlich verübt Himmlers Guerillatruppe, die sich auch aus versprengten Volkssturm-Angehörigen rekrutiert und erst am 5.Mai 1945 vom letzten Reichspräsidenten Karl Dönitz aufgelöst wird, einzelne Morde in den befreiten Gebieten. So etwa im März 1945 an Franz Oppenhof, der nach der Eroberung Aachens von den Alliierten als Oberbürgermeister eingesetzt worden war. Und - im bayrischen Penzberg kommt es noch am 28. April zu einem regelrechten Massaker durch ein Heeresregiment und den "Werwolf Oberbayern" an so genannten "Verrätern", dem 16 Menschen zum Opfer fallen. Dennoch: Weder der "Werwolf" noch die Bataillone des "Volkssturms", die besonders in den eingekesselten sogenannten "Festungsstädten" im Osten, in Breslau gar noch bis in den Mai 1945 hinein Widerstand leisten, können den Untergang des so genannten "Dritten Reiches" auch nur einen Tag aufhalten. Sven Keller: "Da bin ich überzeugt: Der Volkssturm hatte auf die Dauer des Krieges und auf den Kriegsverlauf keinerlei Einfluss. Ich würde eher die Rolle des Volkssturms in der Heimat betonen. Denn die allermeisten Volkssturm-Leute kamen eben nicht an der Front zum Einsatz, sondern sie waren zum Beispiel mit Wachdienst in der Heimat beschäftigt, mit dem Ausheben von Befestigungsanlagen - Stichwort Ostwall und Westwall. Und gerade im Zusammenhang mit diesen Wachdiensten sind die Volkssturm-Männer eigentlich sehr häufig dann auch mit so genannten ‚Endphasenverbrechen’ in Verbindung zu bringen. Also wir haben auch häufig Fälle, wo Volkssturm-Männer zum Beispiel so genannte Plünderer erschießen oder an der Bewachung von Todesmärschen beteiligt sind, auch an der Erschießung von Häftlingen beteiligt sind, die von solchen Todesmärschen fliehen können. Das ist für mich die eigentliche Signifikanz dieses Volkssturms: nämlich die Verbreiterung der Täterschaft, die in der Kriegsendphase auf diese Weise noch einmal stattfindet." Die eigentlichen Initiatoren dieser Verbrechen aber - Goebbels, Bormann und Himmler - entziehen sich im April und Mai 1945 ihrer Verantwortung: durch Selbstmord.
Von Marcus Heumann
Im Herbst 1944 wurden mit dem "Volkssturm" letzte Reserven an der Heimatfront mobilisiert. Etwa sechs Millionen Männer von 16 bis 60 Jahren sollten schaffen, was der Wehrmacht nicht gelungen war: Die vorrückenden Alliierten und damit den Untergang Nazi-Deutschlands aufzuhalten.
"2019-10-18T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:15:18.140000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/volkssturm-im-zweiten-weltkrieg-hitlers-letztes-aufgebot-100.html
91,077
Liebäugeln mit der Linken
Einige Bewerber-Duos vertreten linke Programmatik (picture alliance/Wolfgang Kumm/dpa) Scholz, Pistorius, Köpping. Gestern Vormittag kam plötzlich Schwung in das Rennen um den SPD-Parteivorsitz. Erst wurde die Kandidatur von Boris Bistorius und Petra Köpping durchgestochen. Er niedersächsischer Innenminister, sie sächsische Integrationsministerin. Und nur zwei Stunden später vermeldete der Spiegel, dass mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz auch das erste echte politische Schwergewicht in das Rennen um den Parteivorsitz einsteigt. Eine faustdicke Überraschung, hatte Scholz eine Kandidatur doch vor wenigen Wochen auf dem Sofa von Anne Will noch ausgeschlossen: "Es wäre völlig unangemessen, wenn ich das als Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen machen würde. Zeitlich geht das gar nicht." Nun kommt alles anders. Das bringt uns wieder nach vorn, so der erste euphorische Kommentar von Niels Annen, Staatsminister im Auswärtigen Amt. "Olaf Scholz übernimmt Verantwortung und gibt der SPD eine klare Perspektive", schrieb Annen auf Twitter. Doch ob der als bürokratisch und wenig emotional geltende Scholz tatsächlich eine Perspektive für die zuletzt gescholtene sozialdemokratische Seele bietet? Fraglich. Auch das Duo aus Boris Pistorius und Petra Köpping steht eher für ein Weiter-so – zumindest was den Erhalt der großen Koalition angeht. Einige Bewerber-Duos vertreten linke Programmatik In eine ganz andere Richtung würde das Duo aus Gesine Schwan, Vorsitzende der Grundwerte-Kommission, und Ralf Stegner, SPD-Vize, die Sozialdemokraten führen. Sie stehen für ein dezidiert linksliberales Projekt, das sie mit SPD-Kernthemen verbinden: soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Frieden und eine sozial-ökologische Wende, die ihren Namen verdient. Diese linke Programmatik vertreten einige der bisherigen Bewerber-Duos aus der zweiten Reihe. Auch die beiden Bundestagsabgeordneten Nina Scheer und Karl Lauterbach, die klar gegen die große Koalition sind und die SPD auf Bundesebene nicht nur für Bündnisse mit Grünen, sondern auch, ja mit der Linken öffnen wollen. Hier Karl Lauterbach am Donnerstagmorgen im Deutschlandfunk: "Wenn man einen wirklichen Politikwechsel in der Sozialpolitik und insbesondere auch in der Umweltpolitik wünscht, dann sind solche Bündnisse in meiner persönlichen Einschätzung mit der Union nicht zu machen, weil dort der Aspekt der Wirtschaftspartei zu stark im Vordergrund steht." Zur Freude von führenden Linken-Politikerin wie der Ko-Parteichefin Katja Kipping hatte auch die kommissarische Parteichefin Malu Dreyer eine Koalition mit Grünen und Linken kürzlich ins Spiel gebracht, wenig später zeigten auch erst SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und dann Umweltministerin Svenja Schulze ihre Sympathien. "Verhandlungen können durchaus geführt werden" Doch so viele Gemeinsamkeiten es auch bei Sozial- und Klimapolitik mit der Linken geben mag - was ist mit der Außenpolitik? Viele Linke lehnen die NATO genauso ab wie Bundeswehreinsätze im Ausland. Unter diesen Voraussetzungen eine Regierungs-Koalition aus SPD und Linken? Kein Problem, sagt Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach: "In der Linkspartei ist eine Bewegung auch unterwegs in Richtung mehr Pragmatismus, dass Verhandlungen durchaus geführt werden können." Ob sich die SPD-Basis nach den 23 anstehenden Regionalkonferenzen für ein Weiter-So entscheidet, für Beständigkeit, wie sie Olaf Scholz bietet, oder etwas Neues wagt - die Linke wird sicherlich ganz genau hinschauen.
Von Mathias von Lieben
Ein Weiter-so oder ein Neuanfang jenseits der Großen Koalition? Die Zukunft der SPD ist zur Zeit völlig offen, die Kandidatenliste für den Vorsitz wird immer länger. Dabei gehen die Bewerber-Duos in unterschiedliche Richtungen - und schließen ein Bündnis mit der Linken nicht aus.
"2019-08-17T06:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:34.809000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zukunft-der-spd-liebaeugeln-mit-der-linken-100.html
91,078
In der deutschen Nachkriegszeit
Das Forum neuer Musik 2023 beschäftigt sich mit der Musik der Nachkriegsgeneration. (deutschlandradio / Anja Enders (DRS) ) Realitätsflucht, mangelnde Trauer, ja allgemeine Gefühlskälte konstatieren Zeitzeugen, die das Deutschland nach 1945 beschreiben. Die zweifellos traumatisierte Bevölkerung ist jetzt mit dem Weiterleben beschäftigt: mit Wiederaufbau, Wiedereingliederung der aus Krieg und Lagerhaft Heimkehrenden, mit Klärung oder Vertuschung des eigenen Tuns in Nationalsozialismus und Krieg. Viele Deutsche sehen sich selbst als Hauptopfer des Kriegs.  Annäherung an eine verschlossene Zeit Wir nähern uns dieser uns heute fernen, verschlossenen Zeit über ihre musikalischen Äußerungen. Das Forum 2023 besichtigt ernste und Unterhaltungsmusik, die vor, während und nach der NS-Diktatur in Deutschland entstand und deren Urheber eher Angepasste, innerlich Emigrierte, auch Mitläufer waren. Was sagen ihre Musikwerke aus, was verschweigen sie? Und was an Unerledigtem spricht aus ihnen, wenn wir sie heute hören und re-politisieren? Förderung und Forumsstruktur Zum 15. Mal wird das Forum von der Kunststiftung NRW gefördert. Es wird als Radio-Festival produziert und in acht Sendungen ausgestrahlt: im Programm des Deutschlandfunks sowie Online. In unserem Kammermusiksaal heißen wir Sie zu zwei Live-Abenden herzlich willkommen! Künstlerische Projekte Wir bieten zwei Konzerte im Radioforum an, bei denen Sie in Köln dabei sein können. So spiegeln Studierende der Musikhochschulen Hannover und Mannheim das Jahrzehnt ab 1923 in einem explosiven Liederprogramm. Die Frankfurter Oliver Augst und Marcel Daemgen dekonstruieren Filmschlager und Lieder der 1930er bis 1950er Jahre. Und: Olaf Reitz und das Essener E-MEX Ensemble verbinden scheinbar wirklichkeitsferne Klavierwerke und Lieder mit Berichten aus einer höchst widersprüchlichen gesellschaftlichen Realität. Im Auftrag des Deutschlandfunks schreibt der israelisch-deutsche Komponist Eres Holz eine große Ensemblemusik, die verdrängte Kriegserfahrungen thematisiert. Eintritt frei. Anmeldung: hier. Radioforum Die künstlerischen Projekte werden von musikjournalistischen Formaten flankiert. Zur Debatte stehen Komponisten von Hitlers „Gottbegnadeten-Liste“, Frauenfiguren in Opern der Nachkriegszeit, Anfänge kompositorischer Reflexion von Vernichtung und Trauma, musikpolitische Experimente in der Frühzeit der DDR. Eine Sendung gilt der Zusammenarbeit von Karlheinz Stockhausen und Recha Freier. Frank Kämpfer Ruinen sind die Städte und die Beziehungen zwischen den Menschen. (Unsplash/ Library of Congress) Einladung: Zwei Abende live im Kammermusiksaal Konzert Donnerstag, 26.10.2023 / 19:30 Uhr / Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Köln) Auf der verzweifelten Suche nach Normalität  Musikalisch-literarischer Abend mit Olaf Reitz, Amira Elmadfa, Martin von der Heydt, Eres Holz und dem E-MEX Ensemble Leitung: Christoph Maria WagnerZur Anmeldung für den Konzertbesuch: hier.Welche Gefühlslagen kursieren – angesichts der Ruinen, der Lager, angesichts Hitlers Ende und der Gegenwart der Besatzungsarmeen? Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ bringen das eindrucksvoll auf den Punkt. Verbunden mit Texten von Hannah Arendt, Inge Müller und Hans Magnus Enzensberger artikuliert sich deutsche Nachkriegswahrnehmung als bestürzend unabgegolten, ja aktuell. Auch scheinbar harmlose Kompositionen von Hermann Reutter, Boris Blacher und Ernst Hermann Meyer werden in solchem Zusammenhang plötzlich beredt. Der Abend mit Schauspieler Olaf Reitz, Mezzosopranistin Amira Elmadfa und dem E-MEX Ensemble mündet in die Uraufführung eines Ensemblewerks des israelisch-deutschen Komponisten Eres Holz, das verdrängte Kriegserfahrungen thematisiert.Ausstrahlung am: 27.11.2023, 21:05 Uhr, Musik-Panorama  Konzert Samstag, 28.10.2023, 19:30 Uhr / Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Köln)Davon_geht_die_Welt_nicht_unterLieder Schlager der Angepassten – neu interpretiertMit: Oliver Augst (Gesang), Marcel Daemogen (Elektronik), Sophie Agnel (Inside Piano), Jörg Fischer (Schlagzeug)Zur Anmeldung für den Konzertbesuch: hier.Seit 25 Jahren arbeiten Oliver Augst und Marcel Daemgen an ihrem Projekt „Archiv Deutschland“. Liedgut verschiedener Epochen und politisch-ästhetischer Sphären wird künstlerisch dekonstruiert und auf verschüttete Kernaussagen hin untersucht. In diesem Fall werden bekannte Lieder und Schlager der 1930er bis 1950er Jahre neu interpretiert und um Wirklichkeit, die sie beschweigen, ergänzt: Ein Programm zwischen neuer Musik, Pop und Improvisation: verstörend, dunkel, manchmal auch tanzbar.Ausstrahlung am: 26.11.2023, 22:05 Uhr, Konzertdokument Übersicht aller Sendungen: Das Forum 2023 im Radio 04.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer MusikVernichtung, Trauer, Traumatabei Karl Amadeus Hartmann, Rudolf Mauersberger, Hans Werner HenzeVon Egbert HillerDie Sendung betrachtet Hartmanns „Klaviersonate 27. April 1945“, Mauersbergers „Dresdner Requiem“, Henzes Funkoper „Der Landarzt“ nach Kafka und die ost-west-deutsche Kollektiv-Komposition „Jüdische Chronik“. 11.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer Musik             Wandlung der „Gottbegnadeten“Ottmar Gerster, Karl Höller, Gottfried MüllerVon Klaus GehrkeDie so genannte „Gottbegnadeten-Liste“ des NS-Staats bewahrte Künstler vor dem Fronteinsatz. Nach Kriegsende mussten sich die einst Bevorzugten neuen gesellschaftlichen Verhältnissen stellen. Die Sendung beleuchtet verschiedene individuelle Strategien dabei. 18.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer MusikRetterin, Nutznießerin, Anklägerin                   Frauenfiguren in deutschen NachkriegsopernVon Ingo Dorfmüller  Vier von ihnen haben viel Zukunft vor sich, eine hat alles verloren: nur sie verurteilt den Krieg. Die Sendung vergleicht weibliche Opernfiguren bei Boris Blacher, Carl Orff, Rolf Liebermann und Paul Dessau. 25.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer MusikMichaels andere ReisenKarlheinz Stockhausen trifft Recha FreierVon Georg Beck Stockhausens Oper „Michaels Jugend“, 1979 in Israel uraufgeführt, erzählt von Diktatur und Gewalt. Für die Initiatorin, Regisseurin und Shoah-Überlebende Freier und den Komponisten, der in Krieg und NS-Zeit beide Eltern verlor, ein Versuch, erlittene Traumata im Dialog künstlerisch zu artikulieren. 26.11.2023, 21:05 Uhr, Konzertdokument              1923–1933: Tanz auf dem VulkanLied-Duos von Eisler, Wolpe, von Schillings, Pfitzner u.a.   Mit: Sängerinnern und Sängern der Hochschulen Hannover und Mannheim       Leitung: Jan Philip Schulze, Axel BauniStudierende der Liedklassen der Musikhochschulen in Hannover und Mannheim erarbeiteten ein explosives Lieder-Programm. Es verdeutlicht künstlerische Positionen für und gegen den Nationalsozialismus inklusive Mitläufertum. Eine Kooperation zwischen der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und dem Deutschlandfunk. 26.11.2023, 22:05 Uhr, KonzertdokumentDavon_geht_die_Welt_nicht_unterLieder Schlager der Angepassten – neu interpretiertOliver Augst (Gesang), Marcel Daemgen, Elektronik), Sophie Agnel (Inside Klavier), Jörg Fischer (Schlagzeug)Oliver Augst und Marcel Daemgen dekonstruieren Lieder und Filmschlager der 1930er bis 1950er Jahre. Sie untersuchen ihr Material auf verschüttete Kernaussagen hin und ergänzen die Titel um jene Wirklichkeit, die diese beschweigen.Aufzeichnung aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal vom 28.10.23 (siehe Live-Konzert) 27.11.2023, 21:05 Uhr, Musik-Panorama Auf der verzweifelten Suche nach Normalität  Musikalisch-literarischer Abend mit Olaf Reitz, Amira Elmadfa, Martin von der Heydt, Eres Holz und dem E-MEX Ensemble. Leitung: Christoph Maria WagnerZwischen Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefen“ und Eres Holz‘ neuer Ensemblemusik entfaltet sich ein Panorama bestürzender Texte und Kompositionen. Vermeintlich Harmloses wird plötzlich beredt und rückt die Nachkriegszeit in ihren Widersprüchen emotional nah.  Aufzeichnung aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal vom 26.10.23 (siehe Live-Konzert) 28.11.2023, 22:05 Uhr, Musikszene              Vision vom neuen MenschenMusikpolitische Entwürfe der frühen DDRVon Gisela NauckUnter dem Motto „Die Kunst dem Volke“ wagt man sich in den 1950er Jahren an soziokulturelle Experimente: Kultur soll nicht mehr marktorientiert funktionieren, sondern für alle gestaltbar und zugänglich sein. Restriktive Kulturpolitik wird diese Versuche alsbald ersticken.
null
In der Krisenwahrnehmung der Gegenwart strecken sich uns beredte Jahreszahlen deutscher Geschichte entgegen: 1923, 1933, 1943, 1953. Das diesjährige Forum befragt und kommentiert musikalische Zeugnisse aus jener Zeit. Was haben sie uns heute zu sagen? Eine Übersicht über das Radio-Festival.
"2023-11-04T22:05:00+01:00"
"2023-07-11T15:35:43.852000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forum-neuer-musik-2023-100.html
91,079
"Anstatt Hörsäle zu besetzen, sollte man Rathäuser besetzen"
Regina Brinkmann: "Campus & Karriere" hier im Deutschlandfunk an diesem bundesweiten Bildungsstreiktag. Ungewöhnlich wohlwollend fallen viele Reaktionen auf die Streik- und Protestbewegung der Studierenden aus. Vertreter aus Wissenschaft und Politik beklagen selbst die handwerklichen Mängel der Studienreform und drängen auf schnelle Verbesserung. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Philologenverbandes, beispielsweise beklagt das diffuse Bild, das diese Proteste abgäben. Und auch Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger WeltWirtschaftsInstitutes kann den Protesten nicht wirklich viel abgewinnen. Was haben Sie dagegen einzuwenden, Herr Straubhaar?Thomas Straubhaar: Genau, wie Sie es eben angesprochen haben, denke ich, dass viele diese jetzt vorgetragenen Vorwürfe letztlich inhaltsleer bleiben. Sie sind zum Teil auch banal und rückwärtsgewandt, weil sie alte Themen, die eigentlich gerade zum Beispiel auch mit neuen Finanzierungsmodellen angesprochen waren, wieder aufgreifen. Zum Beispiel geht es gleichermaßen um Abschaffung von Studiengebühren, es geht um soziale Fragen, es geht um die Frage von Bachelor und Master und den Bologna-Prozess, und das wird dann alles vermengt in eine sehr diffuse Gemengelage.Brinkmann: Aber das klingt so, als ob Sie die Lage der Studierenden nicht wirklich ernst nehmen. Die leiden ja offensichtlich unter diesen Studienbedingungen, unter dieser Studienreform. Das kann man doch nicht als inhaltsleer abtun.Straubhaar: Die leiden auf jeden Fall drunter, und ich denke, es ist höchste Zeit, dass eben nicht nur über Bildungsreformen gesprochen wurde und im Prinzip immer wieder vertröstet wird, dass es jetzt besser werden soll und dass allgemeiner Konsens besteht, dass das deutsche Bildungssystem sehr, sehr stark unterfinanziert ist. Wenn man aber dann beginnt, wie in den 68er-Tagen Hörsäle zu blockieren und Professorinnen und Professoren abzuhalten, ihre Vorlesungen zu halten, dann schadet man ja nicht der Politik, die sich dann umso mehr wieder draus heraushalten kann, sondern man schadet dem universitären Lehrbetrieb. Und das, denke ich, ist eben ein völlig falscher Ansatz. Anstatt Hörsäle zu besetzen, sollte man Rathäuser besetzen.Brinkmann: Aber was soll das bewirken? Sollen sich die Studenten in den Regen stellen?Straubhaar: Also ich denke, ob man jetzt nass wird oder nicht nass wird, ist nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist, dass sich der Protest an jene richten müssen, die letztlich dafür verantwortlich sind. Und das sind nun einfach heute – und das ist anders als in den 68er-Jahren – nicht die Professorinnen und Professoren, sind nicht die Universitätsleitungen, im Gegenteil. Von den Sachfragen her stehen wir durchaus, also stehe ich auf jeden Fall, durchaus hinter den Anliegen der Studierenden, aber die gewinnen überhaupt nichts, wenn sie diesen Protest jetzt auf Hörsäle und Audimax der Universitäten beschränken, sondern die müssten, wie gesagt, die müssten vor die Rathäuser gehen, sie müssten vor den Bundestag gehen, sie müssten auf die Straße gehen und nicht den Lehrbetrieb sozusagen noch wieder hindern, weil das führt in eine falsche Richtung.Brinkmann: Aber Herr Straubhaar, geht es nicht eigentlich darum, dass diejenigen, die jetzt angesprochen werden sollen, eigentlich überhaupt erst mal zuhören müssten, egal ob sich die Studierenden in einem Hörsaal treffen oder vor einem Rathaus? Es geht ja erst mal darum, dass die Botschaft ankommt, und die kommt ja offensichtlich seit, ja, Wochen, seit Monaten, seit Jahren nicht an in der Politik. Was müsste da passieren?Straubhaar: Da, denke ich, wäre es völlig richtig, die Anliegen, die ja durchaus von vielen Kreisen geteilt werden, auch von mir, bezüglich der Kritik zum Beispiel am Bolognaprozess, zum Beispiel am föderativen Aufbau des deutschen Bildungssystems, das ursprünglich gut gemeint, aber mittlerweile eben schlecht gemacht wurde in dem Sinne, dass es zwar den Wettbewerb fördern möchte, aber letztlich genau diesen Wettbewerb jetzt verhindert, dass man sehr viel stärker auch die bundesweiten Kompetenzen stärken sollte, dass viel, viel mehr Geld anstatt in Schulden und zugunsten ... Brinkmann: Aber da wiederholen Sie doch eigentlich die Forderung der Studierenden, muss ich an dieser Stelle mal sagen.Straubhaar: Ja, aber ich würde sagen, dass es eben viel sinnvoller wäre anstatt dann als Konsequenz die Abschaffung der Studiengebühren zum Beispiel zu proklamieren, was genau dem Bildungssektor Geld entzieht, dass man eben sagt, wir brauchen eine ganz grundsätzliche Neuorientierung von Steuersystemen, das eben letztlich durchaus Studiengebühren mit beinhaltet, aber dort, wo es Hilfe nötig macht für die Ärmsten der Studierenden, dass die leichter zu finanzieller Hilfe kommen, dass es Darlehen gibt, dass es Stipendien gibt, dass es Bildungsgutscheine gibt, dass es kostenlose Schulmahlzeiten in den Schulen gibt, kostenlosen Kindergartenbesuch gibt. All diese Vorschläge sprechen nicht gegen das, was die Studierenden sozusagen im Fokus jetzt haben, wenn es hier um die Abschaffung von Studiengebühren reden.Brinkmann: Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger WeltWirtschaftsInstitutes, vielen Dank für das Gespräch!
Thomas Straubhaar im Gespräch mit Regina Brinkmann
Die Praxis der Hörsaalbesetzungen zielt nach Ansicht des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Straubhaar in die falsche Richtung. Die Studierenden sollten nicht den universitären Lehrbetrieb behindern, sondern die Politik zum Handeln auffordern.
"2009-11-17T14:35:00+01:00"
"2020-02-03T10:00:09.517000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anstatt-hoersaele-zu-besetzen-sollte-man-rathaeuser-besetzen-100.html
91,080
Die Normalität des Wechsels
Bundespräsident Joachim Gauck vor der Entscheidung: Wohin geht die Reise? (Bundespresseamt) Vieles lässt sich an diesem Tag erahnen, aber nur eines ist wirklich gewiss. Daran hat auch Joachim Gauck selbst erst vor kurzem im Deutschlandfunk Interview der Woche keinen Zweifel gelassen. "Am 12. Februar nächsten Jahres findet in Berlin eine wichtige Veranstaltung statt, in der darüber entschieden wird, ob der neue Bundespräsident der alte sein soll oder ob sich die Wahlfrauen und Wahlmänner eine neue Kandidatin, einen neuen Kandidaten auswählen." Nur wenig beachtet von der Öffentlichkeit hatte Bundestagspräsident Lammert bereits Mitte Dezember letzten Jahres per "Anordnung über Zeit und Ort der 16. Bundesversammlung" den Wahltag bestimmt. Erst in den vergangenen Wochen aber war das Rumoren immer lauter geworden: Tritt Gauck noch mal an oder nicht? "Lassen Sie uns mal den Frühsommer kommen und dann werde ich mich entschieden haben und werde das auch dann öffentlich kundtun." Astronomisch ist Sommeranfang am 21. Juni. Meteorologisch begann der Sommer schon am 1 Juni. Der politische Frühsommer – das verdichtete sich in der vergangenen Woche in Berlin immer mehr – steht unmittelbar bevor. Heute Abend kommt der Bundespräsident zu einem turnusmäßigen Treffen mit der Kanzlerin zusammen. Am nächsten Vormittag werde er die Öffentlichkeit über seine Entscheidung informieren, hatte die "Bild"-Zeitung am Wochenende berichtet. Für Dienstagvormittag aber ist im offiziellen Terminkalender des Bundespräsidialamtes bereits die Eröffnung der "Woche der Umwelt", einer großen Ausstellung mit Veranstaltungen im Park von Schloss Bellevue angekündigt. Auffällig dagegen ist, dass für den heutigen Montag bislang keine Termine angekündigt wurden. Da könnte sich ein Zeitfenster öffnen. Gauck hätte sich Spekulationen und Nachfragen ersparen können Absehbar aber ist, wie die Entscheidung Joachim Gaucks ausgefallen ist. Würde er noch einmal antreten, hätte er das längst unter dem Beifall von Politik und Öffentlichkeit mitteilen können und sich damit wochenlange Spekulationen und Nachfragen ersparen können. Nur bei einem Verzicht auf eine weitere Kandidatur macht das lange Zögern Sinn. Gauck wusste, dass der Rest seiner Amtszeit von Nachfolgediskussionen überlagert sein würde. Diesen Moment galt es deshalb, so lange wie möglich hinauszuzögern. Nach außen indes gab sich der Bundespräsident noch Ende April hin und her gerissen: "Wie auch immer ich mich entscheide, es wird eine schwere Entscheidung sein. Und ich werde vielleicht dann auch nicht so glücklich aus der Wäsche gucken, sondern wenn ich sie dann getroffen habe, wird sich noch vielleicht ein paar Wochen oder auch länger so ganz geheim die Frage einschleichen: Oh, war das jetzt richtig?" In der Tat war Gauck bis zuletzt bedrängt worden, noch einmal anzutreten. Spitzenvertreter von Union, SPD und Grünen hatten öffentlich deutlich gemacht, dass sie eine zweite Amtszeit unterstützen würden. In den Medien war spekuliert worden, Gauck könne bedrängt werden, den Parteien im Jahr der nächsten Bundestagswahl nicht auch noch die Wahl eines Staatsoberhauptes mit den dafür nötigen Koalitionsbildungen zuzumuten. Gauck allerdings dürfte bei seiner Entscheidung nicht nur das eigene Alter, sondern auch sein tiefes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie im Auge haben. Vielleicht dachte er in den letzten Tagen auch an einen seiner ersten heiklen Auftritte zurück, als er – wenige Wochen nach seiner Wahl – im Angesicht einer versteinerten Kanzlerin dem von Merkel gefeuerten Bundesumweltminister Norbert Röttgen die Entlassungsurkunde überreichte. Gauck sagte damals: "Auch in schwierigen Entscheidungssituationen existiert so etwas wie eine republikanische Normalität des Wechsels." Die republikanische Normalität des Wechsels dürfte Gauck heute auch für sich selbst in Anspruch nehmen.
Von Stephan Detjen
Union, SPD und Grünen hätten eine zweite Amtszeit von Joachim Gauck wohl gerne unterstützt. Aber es scheint, als ob der Bundespräsident darauf verzichten will, im nächsten Jahr noch einmal zu kandidieren. Das wird er - vielleicht schon heute - auch öffentlich machen. Für die Parteien wird das Jahr, in dem auch Bundestagswahlen anstehen, damit noch schwieriger.
"2016-06-06T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:33:26.271000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gauck-vor-verzicht-auf-zweite-amtszeit-die-normalitaet-des-100.html
91,081
Frauenförderung mit Ivanka Trump
Ivanka Trump mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin (Michael Kappeler/dpa) Ziel der Veranstalter ist es, Frauen in eine bessere wirtschaftliche Lage zu versetzen, ihnen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen sowie eine größere Beteiligung am Unternehmertum zu ermöglichen. Bundesfrauenministerin Manuela Schwesig von der SPD beklagte in einem Vortrag zum Auftakt des Gipfels: "In keinem einzigen Land der Welt ist tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreicht." In Russland sei gerade die Strafe für häusliche Gewalt herabgesetzt worden, in Indien sei Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar, in Saudi-Arabien dürften Frauen nicht Auto fahren, in den USA gebe es keine bezahlte Elternzeit nach der Geburt. Frauenrat: Hausarbeit ist noch immer Frauensache Mona Küppers, die dem deutschen Frauenrat vorsitzt und das Treffen eröffnete, sagte zuvor in einem Interview mit heute.de, dass "Frauen keinen wirklich freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben". Ein Hauptproblem sei die unbezahlte Sorge- und Hausarbeit. "Sie bleibt immer noch zum größten Teil an Frauen und Mädchen hängen", sagte Küppers. "Die Kinderbetreuung ist oft nicht gesichert. Die öffentliche Hand muss sich stärker für die soziale Infrastruktur engagieren." Sie forderte, dass die wirtschaftliche Stärkung von Frauen zu einem integralen Bestandteil der G20-Prozesse werden müsse. Auch die selbständige Arbeit bleibt oft von Männern dominiert. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG errechnete in seinem "Deutschen Startup-Monitor 2016", dass im vergangenen Jahr nur 13,9 Prozent der Unternehmensgründungen von Frauen erfolgte. In den drei Jahren zuvor - 2015 (13,0 Prozent), 2014 (10,7) und 2013 (12,8) - waren es noch weniger. W20 Die W20 sind offizielle Treffen frauenpolitischer Vertreterinnen und weiblicher Führungskräfte mit Repräsentanten der großen Industrie- und Schwellenländer (G20). Die Women20, also Frauen20, wollen dabei Themen der Weltwirtschaft auf die G20-Agenda setzen, die besonders für Frauen relevant sind. Dabei geht es etwa um gleiche Löhne, Frauen in Führungspositionen, Förderung in Ausbildung, Beschäftigung und Unternehmertum sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eines der W20-Ziele ist es, die Kluft bei der Erwerbsquote zwischen Männern und Frauen bis 2025 um 25 Prozent zu verringern und die Überwindung der geschlechtsspezifischen Kluft im digitalen Bereich. Das erste W20-Treffen fand im Oktober 2015 in Istanbul unter dem türkischen G20-Vorsitz statt, im darauffolgenden Mai trafen sich Vertreterinnen im chinesischen Xi'an. Prominente Teilnehmerinnen Um den Anliegen der Frauen Gehör zu verschaffen, haben sich prominente Teilnehmer angekündigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nimmt an diesem Dienstag gemeinsam mit der Beraterin und Tochter des US-Präsidenten, Ivanka Trump, teil. Auch die niederländische Königin Máxima und die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland sowie die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, kommen zu der Tagung. Insgesamt werden rund 100 Delegierte aus zahlreichen Ländern erwartet. Die Teilnehmerinnen der Diskussion:Bundeskanzlerin Angela MerkelMáxima, Königin der NiederlandeIWF-Direktorin Christine LagardeKanadas Außenministerin Chrystia FreelandIvanka Trump, Tochter und Beraterin von US-Präsident Donald TrumpJuliana Rotich vom kenianischen Telekommunikationsunternehmen BRCKAnne Finucane, stellvertretende Vorsitzende der Bank of AmericaDr. Nicola Leibinger-Kammüller, Geschäftsführerin der Trumpf GmbH Ivanka Trump will "von Deutschland lernen" Ivanka Trump, die "First Daughter", wird als Person mit wachsendem Einfluss in der Trump-Regierung betrachtet. Obwohl sie sich bereit erklärt hat, alle ethischen Regeln für Regierungsmitarbeiter einzuhalten, beklagen Kritiker ihre Funktion. Diese gehe zulasten von Transparenz und ethischer Vorschriften, bemängeln sie. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Klingbeil twitterte: "Bin ich der Einzige, der es völlig absurd findet, dass die Bundeskanzlerin jetzt Außenpolitik mit der Tochter von Donald Trump macht?" Merkel lud Ivanka Trump ein, nachdem sich beide bei einem Treffen Merkels mit Donald Trump im März kennengelernt hatten. Ivanka Trump sagte, dass sie von den "Erfolgen Deutschlands" lernen wolle, "um unsere traditionellen Berufsausbildungsmodelle zu modernisieren". Auch die Unternehmerin Nicola Leibinger-Kammüller, Chefin des Werkzeugmaschinenbauers Trumpf, sagte den "Stuttgarter Nachrichten" und der "Stuttgarter Zeitung", dass Deutschland bei dem Treffen "seine beispielgebenden Erfahrungen unter anderem mit der dualen Ausbildung einbringen" könne. Es sei zu begrüßen, dass es Interesse in den USA gebe, sagte Leibinger-Kammüller weiter. "Die Aufmerksamkeit für das Thema hoch qualifizierte Facharbeiter in der Industrie oder flexible Arbeitszeitmodelle, die insbesondere Frauen bei der Karriereplanung entgegenkommen, ist dort deutlich geringer ausgeprägt als bei uns." (nch/am)
null
Wie lassen sich weltweit mehr Frauen in Führungspositionen bringen und wie stärkt man weibliches Unternehmertum? Das sind Fragen, die Frauen aus den führenden Industrie- und Schwellenländern auf dem W20-Gipfel in Berlin besprechen. Neben der Tochter des US-Präsidenten nimmt auch Kanzlerin Merkel teil.
"2017-04-25T10:17:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:47.128000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/women20-in-berlin-frauenfoerderung-mit-ivanka-trump-100.html
91,082
"Schuld ist einzig und allein die Hamas"
Israelische Luftwaffe beschießt Ziele im Gaza-Streifen (AFP / JACK GUEZ) Sandra Schulz: Mitgehört hat Arye Sharuz Shalicar. Er ist einer der Sprecher des israelischen Militärs. Guten Morgen. Arye Sharuz Shalicar: Einen wunderschönen guten Morgen. Schulz: Sie haben die Berichte gerade gehört. Wie wirken die auf Sie? Shalicar: Ich leide mit dem Arzt im Gazastreifen und mit ungefähr fünf Millionen Israelis, die da auch in Bunkern leben und nicht in die Schulen gehen können, nicht sich auf die Straße trauen, genau wie der Arzt. Das ist eine Realität, die sehr traurig ist, sowohl für die Palästinenser als auch für ein Großteil des israelischen Volkes. Wir sprechen gerade über eine Situation, wo circa fünf Millionen Israelis in Angst und Schrecken leben. Das wären in deutschen Maßstäben circa 40 Millionen Deutsche, wenn nicht mehr, 40 bis 50 Millionen Deutsche, die jetzt im Bunker sitzen würden statt im Café Fußball gucken, und das ist eine Realität, die super traurig ist. Deswegen mein Herz blutet sowohl für die israelische als auch für die palästinensische Seite, und Schuld an dieser Sache ist einzig und allein die Hamas-Terrororganisation. Wie der Arzt schon angesagt hat: Sie müssen keine Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Zivilisten schießen, sie können stoppen damit. Aber das ist das Problem der Terrororganisationen, ob das Hamas, Hisbollah oder die Isis ist. Mit denen hat man absolut keinen Dialog zu führen, mit denen kann man nicht reden. Schulz: Sie haben gerade die Rolle der Hamas angesprochen, darauf kommen wir möglicherweise noch. Aber jetzt wollen wir natürlich erst mal über Israel und das israelische Militär sprechen, und da würde mich gerne interessieren: Wünschten Sie sich Frieden? Shalicar: Israel wünscht sich Frieden, und das schon seit eh und je, und auch in diesen Tagen wollen wir nichts anderes als Frieden. Wir sind uns auch sicher, dass ein Großteil der Palästinenser Frieden will. Aber beide Seiten sind leider terrorisiert vom Hamas-Terror, vom Hamas-Terror, der Hunderte von Raketen über die letzten drei Tage auf israelisches Territorium abgeschossen hat, mit dem einzigen Ziel, Zivilisten zu töten. Es spielt keine Rolle, ob das Alte, Junge, Kinder, Frauen, Männer sind. Es spielt für die absolut keine Rolle. Und das Traurige an der ganzen Situation ist, dass sie nicht nur auf der einen Seite die Israelis töten wollen, sondern auch im eigenen Gazastreifen ihre eigenen Familien als Schutzschilde benutzen, indem sie Raketen aus Hintergärten abschießen, aus Moscheen abschießen, vor Schulen abschießen, dass sie Waffen bunkern in eigenen Häusern, in Tunneln unter Häusern. Das ist ein doppeltes Kriegsverbrechen der Hamas. "Terror muss man aktiv bekämpfen" Schulz: Herr Sharuz Shalicar, auch an der Stelle möchte ich gerne noch mal einhaken. Sie sagen, Sie wünschen sich Frieden. Den wollen Sie schaffen durch Bombardement? Shalicar: Wir sind ein demokratisches Land, genauso wie Deutschland, in dem ein Großteil des Landes gerade in Angst und Schrecken lebt. Wenn Deutschland 300 Raketen in drei Tagen abbekommen würde, ich glaube nicht, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel da sitzen würde und sagen würde, gut, Schwamm drüber, der Terror wird sich schon von alleine einstellen. Terror muss man aktiv bekämpfen, Hamas, Isis, Hisbollah. Wie gesagt: Heute ist schon eine Rakete aus dem Norden, von der Hisbollah wahrscheinlich, auf uns abgeschossen worden. Das ist eine traurige Realität. Wenn man Terror nicht bekämpft, dann lebt man im Raketenhagel, und das können wir nicht ausmachen. Wir sind ein freies Land. Wir wollen in Freiheit leben, wir wollen in Frieden leben und wir lassen uns nicht vom Terror kaputtmachen. Schulz: Das israelische Militär hat ja jetzt schon mehrfach über die vergangenen Jahre immer wieder probiert, mit Waffen Frieden zu schaffen und die Hamas kampfuntauglich zu machen. An dieses Ziel sind Sie ja nie gekommen, was man auch jetzt an dieser Eskalation sieht. Bisher sind gut 80 Palästinenser gestorben. Wie hoch darf der Preis sein? Shalicar: Die Hamas ist die einzige Organisation, die verantwortlich dafür ist, dass Menschen leider mit dem Leben bezahlen müssen, sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite. Wir haben in den letzten Tagen Hunderte von Angriffen gestartet und jedes Mal vor Angriffen rufen wir sogar in den Wohnungen an, oder wir klopfen ans Dach, indem man wirklich die Leute warnt, alle die nicht involviert sind, bitte entfernt euch. In diesem Haus befindet sich ein Waffenlager, von hieraus wird geschossen, oder das Haus wird als Zentrale, als Computerzentrale benutzt von Hamas-Militanten. Es ist eine traurige Realität, dass die Hamas feiert, wenn ihre eigenen Zivilisten ums Leben kommen. Sie stellen Fotos ins Internet und feiern, weil sie wollen zeigen, dass Israel was Schlimmes macht. Schulz: Aber es sind ja durch die israelischen Angriffe auch zahlreiche Zivilisten auf palästinensischer Seite gestorben. Wofür sind die gestorben? Shalicar: Das muss die Hamas beantworten. Wenn Sie jetzt einen Hamas-Sprecher raufbringen würden, der sagen könnte, warum er seine eigene Familie als Schutzschild benutzt in der Wohnung, oder neben einer Raketen-Abschussrampe, warum er dort seine Schwester und seine Mutter hinstellt. Warum muss das sein! "Terroristen verstecken sich hinter ihrer eigenen Bevölkerung" Schulz: Aber sie sind gestorben durch israelisches Bombardement! Shalicar: Richtig, weil die Hamas schießt Hunderte von Raketen auf Israel ab. Noch mal: Hunderte von Raketen auf einen Großteil Israels. Und das ist eine Sache, die ein demokratisches freies Land niemals dulden kann, dass eine Terrororganisation ein freies Land beschießt. Man muss eine Antwort auf Terror finden. Wir schießen nur auf Terroristen und diese Terroristen verstecken sich hinter ihrer eigenen Bevölkerung und das in Häusern, in Tunneln, in Kindergärten, in Moscheen. Das ist eine sehr schlimme, dreckige, fiese Kriegsführung, aber dafür stehen Terroristen. Wie gesagt: Hamas ist auch in Deutschland eine Terrororganisation, genauso wie Isis, genauso wie Hisbollah. Die reden eine andere Sprache und mit denen kann man einfach keinen Dialog führen, und das ist eine traurige Realität. Ich habe gesagt, das Herz blutet für jeden. Schulz: Sorry, wir haben auf dieser Strecke leider keine Zeit für viele Wiederholungen. Sie wiederholen sich jetzt schon ein paar Mal. Sagen Sie uns noch: Ist eine Bodenoffensive in Vorbereitung? Shalicar: Ich wiederhole mich gerne, indem ich klar machen will, dass die Zuhörer verstehen, worum es hier geht. Schulz: Ist eine Bodenoffensive in Vorbereitung? Shalicar: Es geht um ein freies Land gegen eine Terrororganisation, die versucht, ein ganzes Land in Angst und Schrecken zu versetzen. Wir haben absolut kein Interesse an einer Bodenoffensive. Wir hoffen, dass die Hamas aufhört mit Terror, dass sie aufhören, Raketen abzuschießen. Dann würde es ja auch absolut keinen Grund geben, weiter irgendwelche Attacken durchzuführen. Bodenoffensive sowieso nicht! Aber es liegt wie gesagt in der Hand der Terroristen, ob sie Terror wollen oder ob sie Ruhe wollen. Hamas muss entscheiden fürs Wohl aller Zivilisten in unserer Umgebung, sowohl für die Israelis als auch für die Palästinenser. Schulz: Arye Sharuz Shalicar, Sprecher des israelischen Militärs und heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Arye Sharuz Shalicar im Gespräch mit Sandra Schulz
Die Gewalt im Nahen Osten eskaliert. Der israelische Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar sieht die Verantwortung dafür allein bei der radikal-islamischen Hamas. Israel könne einen Beschuss seines Gebietes nicht dulden. "Terror muss man aktiv bekämpfen", sagte Shalicar im DLF.
"2014-07-11T08:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:51:58.644000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nahost-konflikt-schuld-ist-einzig-und-allein-die-hamas-100.html
91,083
Der lange Schatten
Das österreichische Bundesland, das hier besungen wird, ist mit seinen 560.000 Einwohnern nicht ganz so groß wie Dortmund. Am Sonntag wird dort gewählt – eigentlich kein Urnengang von besonderer Bedeutung, ginge es dabei nicht um eine grundsätzliche Frage. In Kärnten regiert seit dem Jahr 2000 die Freiheitliche Partei – erst unter dem legendären Jörg Haider und seit dessen Unfalltod vor vier Jahren unter seinem Nachfolger Gerhard Dörfler, dem Landeshauptmann, wie man in Österreich die Regierungschefs der Länder nennt. Wie sich die FPK, die Freiheitliche Partei Kärntens, trotz anhaltender Skandale und wirtschaftlichen Niedergangs an der Macht hält, ist auch den meisten Österreichern unklar."Nach dreizehn Jahren rechtspopulistischer Politik im Land Kärnten ist es so, dass wir überall in den wesentlichen Daten in Schlusslichtposition sind. Wir haben die höchste Erwerbslosenrate, wir haben die geringste Jugendbeschäftigung, wir haben die geringste Frauenerwerbsquote, wir haben die höchste Verschuldung gemessen am Landesbudget, und wir haben als einziges Bundesland eine negative Bevölkerungsentwicklung: Acht österreichische Bundesländer wachsen, Kärnten schrumpft."Sagt Peter Kaiser, der sozialdemokratische Herausforderer des Landeshauptmanns, und seine Mängel-Liste ließe sich weiter fortsetzen. Kurz nach Haiders Tod kam heraus, dass das Bundesland für seine Bank, die Hypo Alpe-Adria, Haftungen übernommen hatte, die den Jahreshaushalt des Landes um das Zehnfache überstiegen. Es war kein isolierter Banken-Skandal, es war ein detailreiches Sittenbild, das nach der Übernahme der Hypo durch die Bayerische Landesbank zum Vorschein kam. Die enormen Haftungen, die das Land sich im Übrigen bezahlen ließ, hatten dem verstorbenen Landeshauptmann erlaubt, das Institut als eine Art schwarze Kasse zu nutzen, um Günstlinge zu bedenken und sich der Bevölkerung als großzügiger Spender zu präsentieren. Eine regionale Fluglinie, ein parteinaher Privatdetektiv, der Kärntner Formel-1-Rennfahrer Patrick Friesacher – sie alle bekamen auf Haiders Zuruf hin Kredite ohne jegliche Sicherheiten. Hätte die Republik Österreich die Bank nicht zurückgekauft, wäre Kärnten auf Generationen hinaus restlos pleite. Etliches ist schon gerichtsnotorisch. Um solche Skandale vergessen zu machen, setzte Jörg Haider vor allem auf Volksnähe. Immer wieder tauchte Haider überraschend auf Festen oder in der Disco auf. Seine Nachfolger haben Haiders Tricks schließlich zum Mythos verklärt. Gernot Darmann, Fraktionsvorsitzender der Freiheitlichen im Landtag: "Jörg Haider hat nicht nur einmal, sondern öfter jedem Kärntner und jeder Kärntnerin die Hand geschüttelt und nicht nur das: Er hat ihm zugehört und auch entsprechend geholfen."Ein geschickter Kniff, meint der Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer, der seit dreißig Jahren in Klagenfurt lebt und lehrt und Gelegenheit hatte, Haider, seine Leute und seine Anhänger aus der Nähe zu studieren."Und die Leute haben sich dann vorgestellt, dass er sie alle kennt. Es gab ja so Gruppenfantasien im Land, die auch der Herr Dörfler verbreitet hat, dass der Haider jedem Kärntner mehr als einmal die Hand gegeben hätte, was ja überhaupt nicht geht. Viele glauben, dass er alle eigentlich gekannt hat, vor allem sie selber. Die haben sich wiedererkannt gefühlt – was man übrigens mit einer ganz einfachen Grußtechnik erreichen kann, indem man sagt: Ach, wie geht’s denn? Hallo! Da tritt sofort die Fantasie ein: Er weiß wahrscheinlich etwas über mich! Einer, der an mich denkt, einer von den Großen, ein Mann, der an mich denkt!"Doch allein damit konnten die Freiheitlichen ihre Wähler nicht über jede Pleite hinaus an sich binden. Sie befolgten eine zweite wichtige Regel: Sie bedienten und verstärkten ein starkes Regionalbewusstsein, nach dem Motto: "Wir hier drinnen, die da draußen". Der amtierende Landeshauptmann Kärntens, Gerhard Dörfler. (AP) In Dauerfrontstellung gegen Wien Kärnten war in der Tat immer etwas Besonderes. Überall sonst im ländlichen Österreich dominiert die katholische ÖVP; in Kärnten dagegen bekam die konservative Volkspartei nie ein Bein auf den Boden. Ein möglicher Grund dafür: die Gegenreformation, die zwar mehr als vierhundert Jahre zurückliegt, aber offenbar untilgbare Spuren hinterlassen hat, wie Kärntens evangelischer Superintendent Manfred Sauer erläutert. "Kurz nach Ausbruch der Reformation ist die Bevölkerung hier evangelisch geworden, und am Ende des 16. Jahrhunderts waren über 90 Prozent der Bevölkerung evangelisch."Heute sind es zwar nur noch zehn Prozent, aber damit immer noch mehr als in den meisten anderen Regionen Österreichs. Die Vorfahren der übrigen neunzig Prozent wurden damals wieder zum Katholizismus zwangsbekehrt. Zurück blieben jedoch ein Widerwille gegen die katholische Obrigkeit und auch eine Solidarität mit der tapferen Minderheit, die ihren Glauben nicht ablegen wollte."Das wurde von der Bevölkerung, so die Theorie, durchaus toleriert, auch von der Obrigkeit, der katholischen, dass eigentlich der Hauptdrahtzieher der Gegenreformation das Haus Habsburg gewesen ist."So entstand die Frontstellung gegen Wien, die die Freiheitlichen später für sich zu nutzen wussten – zumal die Wiener das Spiel gerne mitspielen. Korruption gibt es schließlich auch in Österreichs Hauptstadt. Aber statt sich mit den eigenen Sitten kritisch auseinanderzusetzen, projiziert man im weltstädtischen Wien das Übel lieber auf das rückständige Kärnten. Die Journalistin Eva Weißenberger ist vor einem halben Jahr aus Wien nach Kärnten gezogen und hat sich gewundert. "Die Wiener betrachten wirklich Kärnten als das Witzland Österreichs, und so schlimm ist es bei Weitem nicht."Tatsächlich sind die Rechtspopulisten in Kärnten über 45 Prozent der Stimmen nie hinausgekommen. Auf der anderen Seite hat die Partei selbst im liberalen Wien bei einigen Wahlen deutlich über 30 Prozent eingefahren. Aber je mehr die Kärntner in Wien für alle Übel verantwortlich gemacht werden, desto leichter fällt es den Regierenden in Klagenfurt, sich mit ganz Kärnten zu identifizieren.Das heißt, nicht mit ganz Kärnten, denn eine Trennlinie verläuft durch das Land. Bis heute gibt es im Süden Kärntens eine kleine slowenischsprachige Minderheit. Marjan Sturm, Vorsitzender des Zentralverbands der slowenischen Organisationen: "Kärnten war ein Grenzgebiet, wo schon die Nationalitätenkonflikte in der Monarchie eine große Rolle gespielt haben, wo diese Dinge sehr tief in den Seelen verankert sind. Und Sie wissen ja, ethnische Konflikte bringen mit sich dieses Prinzip: Ich hab immer recht, du hast immer unrecht und umgekehrt auch."Dieses Schema von Freund und Feind haben die Freiheitlichen inzwischen mit neuen Inhalten gefüllt. Nach Wien und den Slawen spielen für die Freiheitlichen heute vor allem Brüssel und die Asylbewerber die Rolle des Außenfeinds. In der Logik des Freund-Feind-Denkens ist auch die Affäre rund um die Hypo-Bank kein Skandal.Das Kärntner Kreditinstitut war schon wegen einer großen Bilanzfälschung im Visier der Behörden, als das Land Kärnten es 2007 an die Bayerische Landesbank verkaufte. Interessant war die Bank für die Bayern, weil sie sich seit den Neunzigerjahren im früheren Jugoslawien eine starke Stellung erworben hatte. Kurz nach dem Verkauf platzten allerdings etliche große Kredite in der Region, und vor allem in Kroatien geriet die Hypo Alpe-Adria wegen Schmiergeldzahlungen an Politiker, ungesicherter Darlehen an Personen aus dem politischen Netzwerk und fiktiver Leasing-Geschäfte in den Strudel großer Korruptionsaffären. Nach und nach entpuppten sich mehr als ein Viertel der Kredite als faul. Noch im Jahr des Ankaufs musste die bayerische Landesregierung der Hypo 440 Millionen Euro zuschießen, im Jahr darauf noch einmal 700, dann sogar 1,5 Milliarden. Die Bank stand vor dem Konkurs, und damit die enormen Haftungen des Landes Kärnten nicht fällig würden, wurde die Hypo schließlich von der Republik Österreich verstaatlicht. Kärnten selbst musste nur 200 Millionen beisteuern und kam so mit einem blauen Auge davon. Der freiheitliche Fraktionschef Gernot Darmann sieht in dem Verkauf an die Bayern trotz allem einen Erfolg: "Die Wahrheit ist, dass die Hypo Alpe-Adria Bank international als eine der erfolgreichsten Banken zu diesem Zeitpunkt, nämlich im Jahr 2007, verkauft wurde, zu einem Zeitpunkt also, als der Bankensektor an sich die höchsten Werte erzielt hat."Peter Kaiser, der Kärntner Oppositionsführer, sieht in solchen Erklärungen lediglich den Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen. Seiner Meinung nach ist das ein festes Muster:"Immer wenn Probleme aufgetaucht sind, wurden diese verniedlicht, wurde mit auf andere verwiesen, und es wurde darüber hinweggefeiert. Bevorzugtes Stilmittel: Event-Veranstaltungen. Und als alles nichts mehr nutzte, ist man daran gegangen, die Substanz des Landes zu verkaufen – ob es Hypo-Anteile waren, bezeichnenderweise immer wieder auch an deutsche Konzerne oder Großbanken. Man hat versucht, sich das Dasein, den Moment, immer noch leisten zu können. Dass man damit die Zukunft des Landes aufs Spiel gesetzt hat, ist ein typisches Entwicklungsszenarium für rechtslastige, nationalistische Parteien."Kaisers Partei tat sich lange schwer, gegen diese Politik zu opponieren. Sie musste sich vor dem Vorwurf fürchten, sie rede das Land schlecht, stehe auf Seiten der anderen, der Gegner. Je ärger das Kärnten von Wien und München aus in Bedrängnis geriet, desto heftiger konnten die regierenden Freiheitlichen von allen anderen Parteien Solidarität oder zumindest Stillhalten einfordern. Immer wieder fanden sich unter den Sozial- und Christdemokraten Politiker, die zu einer engen Zusammenarbeit mit der Regierungspartei bereit waren – eine ganze Riege sozialdemokratischer Bürgermeister und in der Volkspartei sogar die Parteispitze.Die Freiheitlichen bezeichnen sich oft als Gesinnungsgemeinschaft. Aber gefragt, worin die Gesinnung denn besteht, winden sie sich gern heraus. Man sei sozial, betont Fraktionschef Gernot Darmann und grenzt sich so gegen eine neoliberale Abspaltung seiner Partei ab. Zu den Sozialdemokraten aber, dem Hauptkonkurrenten, sieht er allenfalls einen grundsätzlichen Unterschied: "Die Heimatverbundenheit, der Stolz zum Land Kärnten – wenn ich allein das hernehme, bekommen Sie Ihre Differenz darin, dass der Spitzenkandidat der SPÖ Kärnten, Landeshauptmann-Stellvertreter Dr. Peter Kaiser, in jedem Interview stolz darauf ist, keinen Kärntneranzug zu haben und niemals eine Tracht tragen zu wollen in dieser Art und Weise, und unsereins, jetzt spreche ich wieder persönlich für mich, mit Leidenschaft Tracht trägt, um den Stolz zum Land, den man im Herzen trägt, auch nach außen zu zeigen."Er ist einer von uns, aber er steht nicht zu uns, so die Botschaft. Nach den Regeln der Landesverfassung, wie die Freiheitlichen sie auslegen, sollte auch ein Sozialdemokrat Solidarität zeigen, sich mit dem Land identifizieren, statt zu opponieren. Die Journalistin Eva Weißenberger attestiert den Kärntner Politikern einen rüden, ja geradezu brutalen Umgangston: "Die Menschenverachtung und die Brutalität, mit der Gegner niedergemacht werden, das ist das einzige, wo das Vorurteil bestätigt wurde. Man meuchelt nicht, wie in Wien, hinter der Tapetentür, sondern auf offener Bühne."Schon Haider verstand sich darauf, Gegner öffentlich zu verspotten und zu erniedrigen. Der heutige Parteichef Kurt Scheuch beschimpfte, als sein Bruder wegen Korruption verurteilt wurde, den Richter als Kröte. Haiders Büroleiter Stefan Petzner verulkte auf einer Pressekonferenz die frühere sozialdemokratische Parteichefin als "rote Quak-Ente", die "gegen Kärnten schnattert". Die Frau gab auf; das tue sie sich nicht länger an, gab sie zu Protokoll. Sie war nicht die einzige, wie die Klagenfurter Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle erzählt: "Es ist natürlich sehr schwer, mit integren Methoden, mit auch Ethik und Moral, gegen einen politischen Konkurrenten anzutreten, der sich nicht an die Spielregeln halten will und offensichtlich auch Stimmen dann gewinnen kann in jedem Wahlkampf. Auch das ist natürlich dann demoralisierend. Und wenn man sich dann nicht auf dieselbe Stufe begeben möchte und nicht in die gleiche Methodenkiste greifen möchte, haben sich dann viele leider Gottes so entschieden, dass es besser ist, die Politik wieder zu verlassen."Und damit nicht genug: Die Freiheitlichen setzen sogar machtpolitische Grundregeln außer Kraft – zum Beispiel die, dass man sich möglichst nicht offen mit Journalisten anlegen sollte. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass freiheitliche Politiker die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, die "Kleine Zeitung", frontal angreifen würden – wegen angeblicher Falschmeldungen oder Kampagnen. Eva Weißenberger, Leiterin der Kärntner Regionalredaktion: "Die "Kleine Zeitung" wird ständig Opfer solcher Attacken. So war es lange. Jörg Haider war so mächtig schon in Kärnten, dass er keine Gegner mehr hatte, also hat er sich eine Zeitung, die "Kleine Zeitung", als Gegner ausgesucht, weil er keine Opposition hatte, an der er sich reiben konnte, um sich weiter als Kämpfer gegen die Mächtigen, als Robin Hood zu inszenieren." Die Hypo Alpe Adria in Klagenfurt (AP) Haider war Robin Hood, Sheriff, Sportsmann und Big Spender Tatsächlich war Haider ein Meister darin, untergründige Stimmungen aufzufangen und zu bedienen, und er habe bei den Kärntnern zielsicher einen wunden Punkt getroffen, sagt Klaus Ottomeyer. Kärnten, sagt der Psychoanalytiker, sei noch in Potenz die "vaterlose Gesellschaft", wie sie die Eheleute Mitscherlich in den 50er-Jahren für die Bundesrepublik Deutschland diagnostiziert haben. Die Väter gingen in dem armen Bauernland zur Arbeit weit weg, kamen oft nur gelegentlich nach Hause und wurden, wie viele abwesende Väter, von den Daheimgebliebenen idealisiert. Diesen fernen, sprunghaften, aber trotzdem verehrten Vater, sagt Ottomeyer, hat Haider verkörpert – und sich so in viele Kärntner Familien quasi mit eingebaut. "Man sehnt sich nach einem bleibenden Mann – von dem man auch gar nicht allzu viel erwartet, um nicht enttäuscht zu werden, aber es soll doch da einer sein. Und diese Rolle hat Haider ganz gut gespielt in den letzten Jahrzehnten vor seinem Tod. Da hat er immer mit Weggehen gedroht: Ich geh’ weg, wenn ihr nicht nett genug zu mir seid! Aber er war dann doch immer wieder da."Man will keinen Patriarchen, der sich in alles einmischt, aber doch einen Mann, der an einen denkt, einen nicht ganz vergisst, der aber im Grunde keine Verantwortung trägt. Das erklärt auch die enorme Sprunghaftigkeit, mit der Haider seine Konkurrenten zur Verzweiflung trieb – zum Beispiel den Slowenen Marjan Sturm, der gemeinsam mit Josef Feldner, dem Anführer der sogenannten Deutschkärntner, einen Kompromiss im Streit um zweisprachige Ortsschilder gefunden hatte."Also, ich kann mich an eine Geschichte erinnern, da haben wir zum ersten Mal einen Kompromiss ausgehandelt. Und da sind wir mit dem Feldner hereingefahren und zum Haider gegangen ins Büro, und da hat er gesagt: Super! Ihr seid die Heroen, ihr werdet in die Geschichte eingehen, und das ist super, wir machen ein großes Fest! Nächsten Tag in der Früh macht er eine Pressekonferenz und sagt: Das, was diese alten Herren sich da ausgedacht haben, das interessiert mich nicht, das kommt nicht in Frage."Haider war der Robin Hood, aber auch der Sheriff, der fesche Sportsmann, der Big Spender mit der bodenlosen Brieftasche, sagt der Analytiker Ottomeyer, und seine Epigonen haben seine vielen Rollen nur unter sich aufgeteilt. Auf der Ebene des Gefühls kann die Opposition nicht konkurrieren; sie kann nur immer und immer widersprechen – "miesmachen" eben, wie ihr die Regierenden dann vorhalten:"Es ist in Wirklichkeit so, dass du fünf Mal so viele Argumente brauchst, um ein populistisches zu zerstören. Nur, es hat sich lange Zeit niemand diese Mühe gemacht."Dass wenigstens die Geschichte mit der Hypo Alpe-Adria ein monströses Desaster war, dürfte den meisten Wählern inzwischen dämmern – Umfragen signalisieren, dass die Freiheitlichen am Sonntag auf jeden Fall Stimmen verlieren werden. Aber die Wucht des Skandals bildet sich in der Stimmung im Lande bei Weitem nicht ab. Auch wer einsieht, dass Haider sein Land ruiniert hat, mag es sich nicht eingestehen – aus Selbstschutz, wie Klaus Ottomeyer vermutet: "Ich habe ihn mal verglichen mit einem Heiratsschwindler und viele Kärntner mit den Opfern eines Heiratsschwindlers, denen ja dieser Schwindler auch Träume ermöglicht hat, der sie zeitweise glücklich gemacht hat und die dann nachher ihn weiter idealisieren müssen, um die Kränkung auszuhalten, die mit dem Betrug verbunden war."Wer kritisiert, ist bestenfalls ein Spielverderber und womöglich ein Verräter; gegen die Brot-und-Spiele-Politik zu opponieren ist ein undankbares Geschäft. Und so werden die anderen Parteien weniger zum Widerstand als zur Nachahmung angeregt. Noch einmal Klaus Ottomeyer: "Ich glaube, dass eben viele politische Parteien eigentlich auf die Figur eben eines authentischen Führers gesetzt haben. Sie wünschen sich, sie könnten so einen präsentieren, sie kriegen ihn nur meistens nicht zustande. Das ist eben die große Stunde dann von diesen Überzeugungssimulatoren. Und sie möchten eigentlich auch solche Figuren haben. Sie möchten auch Politiker präsentieren, zum Anfassen, im Bierzelt und so weiter, schlagfertig, natürlich. Und da gehen sie auch schon in die Falle, bei der die rechtspopulistischen Parteien viel erfolgreicher sind."Einen solchen "Ausnahmepolitiker", wie Haider von Freund und Feind genannt wurde, haben die anderen Parteien in Kärnten tatsächlich nicht gefunden; noch heute klagt selbst mancher Gegner Haiders über das mangelnde Charisma des Herausforderers Peter Kaiser oder des christdemokratischen Spitzenkandidaten Gabriel Obernosterer. Immerhin: Mehr als vier Jahre nach dem Tod des Charismatikers haben Sozialdemokraten, Christdemokraten und Grüne zum ersten Mal feierlich versichert, keinen Landeshauptmann aus den Reihen der Freiheitlichen mehr zu wählen. Nur wenn sie durchhalten, ist Haider wirklich tot.
Von Norbert Mappes-Niediek
In Kärnten stehen Neuwahlen an. In dem österreichischen Bundesland regiert seit 13 Jahren die rechtspopulistische Freiheitliche Partei (FPK). Gegründet hat sie Jörg Haider, dessen Einfluss auch vier Jahre nach seinem Unfalltod noch deutlich spürbar ist - trotz anhaltender Skandale der Partei.
"2013-03-02T18:40:00+01:00"
"2020-02-01T16:09:29.003000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-schatten-100.html
91,084
"Die Moschee hat einen großen Makel durch diesen Akt"
Fritz Schramma fürchtet eine Spaltung der Kölner Bevölkerung wegen des Erdogan-Besuchs (picture alliance / Horst Galuschka / dpa) Philipp May: Heute gibt es noch mal ein Arbeitsfrühstück mit der Kanzlerin, und dann geht es für Erdogan weiter nach Köln. Gegen 14 Uhr wird er dort erwartet. Zunächst wird er vom Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, empfangen, und dann soll er Deutschlands größte Moschee eröffnen, die Zentralmoschee des türkischen Religionsverbandes Ditib. Auch dort wird das kontrovers diskutiert, denn der Prestigebau galt mal als Zeichen der Integration der türkisch-islamischen Gemeinde in Deutschland, und jetzt wird kein offizieller deutscher Vertreter bei der Einweihung dabei sein offenbar, weder der Ministerpräsident Armin Laschet noch die Oberbürgermeisterin Henriette Reker und auch nicht ihr Amtsvorgänger, der sich seinerzeit sehr für den Bau der Moschee eingesetzt hatte und auch lange im Beirat der Moschee saß, Fritz Schramma, CDU-Oberbürgermeister von 2000 bis 2009. Schönen guten Morgen, Herr Schramma! Fritz Schramma: Schönen guten Morgen, Herr May, ich grüße Sie! May: Hätten Sie Erdogan den roten Teppich ausgerollt? "Ich sehe diesen ganzen Besuch als zu hoch angesiedelt" Schramma: Ich habe gerade mit Interesse Ihre Schilderung vom Bankett gestern Abend mitverfolgt und muss sagen, so ein bisschen konnte ich mich direkt reinleben, weil diese Situation, dass man angesprochen wird auf Türkisch und jemand anders übersetzt und man nicht ganz genau weiß, was denn wirklich gesagt worden ist, das haben wir auch bei uns im Moschee-Beirat immer wieder erlebt in den letzten Monaten, Jahren, und das ist eine sehr schlechte Basis für eine Vertrauensschaffung und für ein Miteinander. Ich sehe diesen ganzen Besuch, für meine Begriffe, als zu hoch angesiedelt. Das hätte auf der Arbeitsebene geleistet werden können, und der Besuch hier in der Moschee und die Eröffnung durch ihn, das konterkariert eigentlich das, was wir über Jahre hin gemeinsam besprochen und geplant haben. May: Und jetzt legt man für einen Autokraten die gesamte Innenstadt einer Millionenstadt lahm. Schramma: Das führt zu großem Ärger in der Bevölkerung, und spaltet auch die Kölner Bevölkerung, sowohl die Deutsch-Türken als auch die einheimischen Kölner hier, das ist ein großes Ärgernis, und ich weiß nicht, ob es die Sache wert ist. May: Und dann geht es weiter zur Moschee-Einweihung. Haben Sie eigentlich eine Einladung von der Ditib erhalten? Schramma: Ja, ich bin ja zwei Tage in Sachen Politik in Brüssel unterwegs gewesen, bin gestern Abend spät nach Hause gekommen, und in der Tat lag da ganz kurzfristig wohl in der Post diese Einladung, die jetzt vor mir liegt, aber ich meine, da müssen wir uns nicht drüber unterhalten. Wenn Sie zwei Tage vor so einem großen Event eine Einladung bekommen, dann muss man ja den Eindruck bekommen, da ist irgendjemand noch kurzfristig abgesprungen. Zu der Party musst du jetzt nicht unbedingt gehen. "Dieses Gebäude birgt in sich viele Chancen" May: Schmerzt Sie das? Sie waren ja lange Vermittler auch im Zwist mit der Ditib, mit dem Architekten. Schramma: Ja, natürlich finde ich das unerhört und undankbar im wahrsten Sinne des Wortes, nicht nur mir gegenüber, wo ich da sicher einen sehr zentralen Beitrag geleistet habe, auch in der Phase der Mediation. Sie wissen, dass das Ganze ja mal auf der Kippe stand, als der Streit mit dem Architekten war und ich dann eine Mediation durchgeführt habe, um sie wieder zusammenzubringen, was dann ja auch gelungen ist. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es ein sehr schönes Gebäude geworden ist. Dieses Gebäude birgt in sich viele Chancen, es ist disponiert dazu, dass man von dort aus in der Tat Integrationsarbeit leisten kann, aber das hat sich in den letzten Jahren leider ganz verschlechtert durch die inhaltliche Konzeption, durch das, wie kommuniziert wird. Ich habe die große Hoffnung, dass wir das wieder mal irgendwie zurückführen können auf einen Normalzustand. Es ist ähnlich wie auch Steinmeier und auch andere jetzt auch auf der oberen Ebene das angesprochen haben. May: Und jetzt wird diese Kölner Moschee von einem türkischen Politiker eröffnet, der von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Autokrat abgelehnt wird, der die deutsche Regierung bis vor Kurzem noch beschimpft hat, deutsche Politiker sind gar nicht beteiligt. Sie haben jetzt nur ganz kurzfristig noch eine Einladung bekommen. Schramma: Werde demzufolge natürlich nicht hingehen. May: Und unser Korrespondent Moritz Küpper, der hat gerade eben hier im Deutschlandfunk von einem türkischen Staatsakt auf deutschem Boden gesprochen. Teilen Sie die Einschätzung? "Es ist richtig, dass Gespräche geführt werden" Schramma: Ja, das ist richtig, was der Herr Küpper da sagt, und ich denke, das ist einfach auch nicht angemessen dem, was hier an der Stelle mit diesem Kulturzentrum und mit der Moschee gemeint war. Wissen Sie, die Architektur selbst hat von vornherein auch Begriffe wie Transparenz, Offenheit, Willkommen an die Bevölkerung, an jedermann, an Muslime aller Art und auch an Andersgläubige, gerade als Plattform für einen Dialog sich angeboten, wurde immer so in Form und Inhalt auch dargestellt, und wir haben alle diese Hoffnung natürlich damit verbunden, dass das dann auch in einem feierlichen Akt eröffnet wird, einmal sicherlich mit geladenen Gästen - die Kapazität gibt da nicht mehr her zunächst einmal -, aber dann konnte man an einem Wochenende zum Beispiel auch einen Tag der offenen Moschee danach machen und ein bisschen Volksfestcharakter dabei, wobei wir auch unsere Kölner Beiträge bereit waren einzubringen. May: Und jetzt ist es tatsächlich nur so, Sie haben es schon angesprochen, dass es vor allen Dingen nur zu Beeinträchtigung für einen großen Teil der Kölner Bevölkerung kommt, sozusagen als einziger an der Beteiligung. Hätte man das Ganze nicht möglicherweise sogar verbieten müssen? Schramma: Das obliegt ja nicht der Stadt. Sie wissen, dass wir in einer solchen Situation auch nach Gesetz und Recht gehen müssen. Wir sind Gott sei Dank in einem Staat, in dem man auch so etwas aushalten muss. Da bin ich froh drum, dass ich hier lebe und diese Freiheit genießen kann. Das ist ja nicht überall so. Erdogan hat ja selbst - das habe ich gestern Abend spät noch in den Nachrichten gehört - auch von zwei unterschiedlichen Auffassungen eines Rechtssystems in einem Staat gesprochen, wir machen unsere Rechtspolitik, ihr macht eure, so nach dem Motto. Das sind natürlich ganz schwierige Voraussetzungen, zum Beispiel für Gespräche, wenn es darum geht, irgendwann einmal Mitglied einer EU zu werden oder so. Nun sind wir aber in der EU leider ja selbst im Moment nicht ganz so einig - das habe ich jetzt gerade in Brüssel auch wieder erfahren müssen -, deswegen obliegt es nicht uns, jetzt hier den Oberlehrer zu spielen gegenüber dem türkischen Staat. Dennoch glaube ich, dass es richtig ist, dass Gespräche geführt werden. Das muss nicht mit diesen Staatsehren passieren, das muss nicht auf diesem hohen Niveau passieren, aber wenn Erdogan mit der deutschen Regierung sprechen will, muss das möglich sein, und wenn Erdogan nach Köln kommen will, muss das auch möglich sein. So tolerant ist die Gesellschaft, aber es ist eben nicht alles möglich, und das, was die Ditib ja sich vorgestellt hat, jetzt deutschlandweit alle Ditib-Anhänger und Mitglieder einzuladen, ohne das entsprechend strukturell vorbereitet zu haben, das geht nun mal gar nicht, und da hat ja die OB und unser Ordnungsamt und die Polizei ja gestern Abend wohl auch einen Riegel vorgeschoben. "Großer Makel durch diesen Akt" May: Jetzt ist diese Kölner Ditib-Moschee die größte in Deutschland. Immer galt sie lange als Symbol der Integration der türkischstämmigen Menschen in Deutschland beziehungsweise sie sollte als solches gelten. Sie haben sich dafür eingesetzt, haben Sie ja gerade noch mal erklärt. Schramma: Ja. May: Kann sie das noch sein oder ist sie schon jetzt ein Symbol verfehlter Integrationspolitik? Schramma: Sie hat zumindest jetzt einen großen Makel durch diesen Akt, und es liegt an der Ditib und auch an unseren Gesprächen, wenn wir sie denn fortführen, wieder zurückzukommen zu dem, wo wir schon mal standen vor sieben, acht Jahren. Ich sage das ganz offen. May: Haben Sie noch Hoffnung? Schramma: Ja, die Hoffnung gebe ich ja am Ende nicht auf. Ich bin deswegen auch vielfach von vielen Kritikern, insbesondere aus der rechten Seite, die ja immer schon dagegen waren, als total naiv bezeichnet worden, aber was bleibt uns anderes übrig, als mit Andersdenkenden zu reden, wenn wir denn zu Lösungen kommen wollen. Ich kann hingehen und sagen, wir reden nicht mehr miteinander. Dann ist die Tür zu, und dann haben wir das, was wir eigentlich nicht wollen, eine parallele Gesellschaft in unserer Stadt, in unserem Land, und das ist das Schlimmste, was wir eigentlich wollen. Dafür steht auch Köln nicht. May: Kölns ehemaliger Oberbürgermeister Fritz Schramma über den Besuch des türkischen Staatspräsidenten Erdogan heute in Köln und die Eröffnung der Kölner Moschee. Herr Schramma, vielen Dank für das Gespräch! Schramma: Vielen Dank auch! Schönen Tag auch! May: Ihnen auch! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Fritz Schramma im Gespräch mit Philipp May
Die Eröffnung der Moschee in Köln durch den türkischen Staatschef Erdogan konterkariere das, was über Jahre hin besprochen und geplant worden sei, sagte der frühere Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) im Dlf. Das Vorgehen des Religionsverbands Ditib sei "unerhört und undankbar im wahrsten Sinne des Wortes".
"2018-09-29T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:17.919000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ex-ob-schramma-zu-erdogan-in-koeln-die-moschee-hat-einen-100.html
91,085
Strack-Zimmermann: Gezielte Tötungen wird es nicht geben
Sie habe sich in Afghanistan ein Bild davon machen können, wie technisch ausgereift und effektiv bewaffnete Drohnen heute seien, sagte die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Dlf. (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen) Das primäre Ziel sei, Einsatzkräfte zu schützen und am besten auszurüsten. Die bewaffneten Drohnen seien ein strategisches Mittel, um die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten zu sichern, sagte die FDP-Sicherheitsexpertin Strack-Zimmermann im Dlf. Der Gegner solle wissen, dass "wir uns wehren könnten". Die Drohnen seien, anders als noch vor ein paar Jahren, heute so technisch ausgereift, dass sie von der Luft aus genau erkennbar machten, wer sich in den Einsatzgebieten befinde. Sie dienten vor allem der Prävention und dem Schutz. Daher sei sie froh, dass nun Bewegung in die Diskussion um die Anschaffung bewaffneter Drohnen komme. CDU-Politiker Tauber - "Bewaffnete Drohnen bieten zusätzlichen Schutz für eigene Truppen"Der Einsatz bewaffneter Drohen wie in den USA sei in Deutschland schon rein rechtlich nicht möglich, sagte Peter Tauber, Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, im Dlf. Strack-Zimmermann: Verfassung schließt gezielte Tötungen aus Eine Gefahr, dass bewaffnete Drohnen vorschnell von Soldaten zur Tötung von Menschen genutzt werden könnten, sieht die FDP-Politikerin nicht. "Kein Soldat, keine Soldatin, wird einfach so auf den Knopf drücken", sagte sie im Dlf. Die gezielte Tötung von Menschen durch die Bundeswehr sei ausgeschlossen, da sie nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und auch nicht durch das Völkerrecht legitimiert sei. Das gelte im Übrigen auch für alle anderen Waffen. Die Soldatinnen und Soldaten lernten in der Ausbildung, dass ein Gewehr nur als Mittel der Notwehr diene und nicht zur gezielten Tötung. Auch Drohnen dienten nur der Prävention. Das Interview in voller Länge: Dirk-Oliver Heckmann: Was halten Sie denn von der Anschaffung bewaffneter Drohnen? Brauchen wir die? Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Ja, Herr Heckmann, die brauchen wir. Und ich bin sehr froh, dass da jetzt Bewegung reinkommt, weil bisher die Sozialdemokratie sich dagegen versperrt hat. Es geht darum, die Soldatinnen und Soldaten in Einsatzgebieten zu schützen. Sie können durch die Drohnen, die ja sehr hoch fliegen, vor allen Dingen sehr weit fliegen können, durch die technische Möglichkeit, schnell verlagert werden, auch unterschiedliche Einsatzschwerpunkte wahrnehmen. Und das ist wichtig, weil unsere Soldatinnen und Soldaten sind in Gebieten, wo sie aus der Luft her geschützt werden müssen, und natürlich macht es Sinn, eine Drohne zu bewaffnen, damit im Falle eines Falles auch geschossen werden kann. Das ist nicht schön, das will keiner hören. Das sind aber einsatzgebiete und Waffen haben Munition. Entscheidend ist, dass die Menschen, die diese Drohnen steuern – die sitzen ja woanders -, so ausgebildet sind, dass sie damit umgehen können, und das sind sie. Insofern ist es sehr, sehr wichtig, dass wir das als strategisches Mittel mit einsetzen, weil eins ist wichtig, dass auch für die Gegner von uns die unmittelbare Reaktionsfähigkeit, dass sie wissen, dass wir uns auch wehren können, unsere Soldatinnen und Soldaten auch schützen können, natürlich auch ein Stück Prävention bedeutet. Die Predator MQ-1 ist eine bewaffnete Drohne, die von der US-Luftwaffe eingesetzt wurde (dpa / Tsgt Effrain Lopez) FDP-Politikerin: Drohnen dienen der Prävention Heckmann: Das heißt, Sie haben da als FDP keinerlei Bedenken, wenn ich mir das Wortspiel erlauben darf, "Feuer frei" für bewaffnete Drohnen von der FDP aus? Strack-Zimmermann: Wissen Sie, Herr Heckmann, wenn Menschen im Einsatz sind, das ist nie komisch, und wir alle, gerade bei den Freien Demokraten, machen uns natürlich sehr viele Gedanken darüber, was ist möglich und was nicht. Aber das primäre Ziel ist es, unsere Soldatinnen und Soldaten, die ja in den Einsatz gehen – und das sind gefährliche Einsätze, um am langen Ende auch unseren Frieden in Deutschland, in Europa zu schützen -, am besten auszurüsten. Deswegen geht es darum, letztendlich diese Mittel zu haben, um sie am besten nicht einzusetzen. Strack-Zimmermann: Deutsche Verfassung schließt gezielte Tötungen aus" Heckmann: Um sie am besten nicht einzusetzen, aber am Ende werden sie eingesetzt. Das zeigt natürlich auch die Praxis. Die Praxis des US-Militärs und der amerikanischen Geheimdienste zeigt auch - dort werden die Drohnen ja schon lange eingesetzt – eine Strategie der gezielten Tötungen. Wie groß ist denn die Gefahr, dass auch die Bundeswehr Drohnen in Zukunft für gezielte Tötungen einsetzen dürfte über kurz oder lang? Strack-Zimmermann: Wir haben eine Verfassung, die dieses ausschließt. Das heißt, in Deutschland werden Soldaten so nicht ausgebildet. Ich nehme an, Sie spielen darauf an, dass die Amerikaner auf irakischem Staatsgebiet eine Drohne eingesetzt haben, um einen General zu töten. "Wir entscheiden, was ist möglich, und was ist nicht möglich" Heckmann: Es gab ja zahlreiche Fälle, wo amerikanische Drohnen eingesetzt wurden, wo dann gezielte Tötungen vorgenommen wurden. Strack-Zimmermann: Dieses war das, was uns jetzt in der Erinnerung am deutlichsten zu Tage trat. Das ist der Bundeswehr nicht erlaubt und wir haben eine Parlamentsarmee. Wir geben die Richtlinien vor. Wir entscheiden, was ist möglich und was ist nicht möglich. Dieses steht nicht auf dem Boden der Verfassung und ist auch völkerrechtlich nicht legitimiert, und deswegen kommt es für die Bundeswehr auch nicht in Frage. Heckmann: Das heißt, da braucht es auch keine Klarstellung? Strack-Zimmermann: Sie müssen bei der Ausbildung bei solchen diffizilen Dingen - - Übrigens auch schon an der Waffe, schon an einem Gewehr, an einer Pistole werden Menschen immer ausgebildet darin, dass es letztlich ein Mittel zur Notwehr ist und nicht ein Mittel der eigentlichen Auseinandersetzung. Und, Herr Heckmann, das ist wirklich sehr wichtig. Wir haben diese Drohnen bereits. Diese Drohnen sind im Einsatz. Ich konnte mir selber vor Ort in Afghanistan ein Bild davon machen, wie unglaublich effektiv Drohnen sind, und zwar primär, um aufzuklären, um in einem Radius von tausend Kilometern zu erkunden, was spielt sich auf dem Boden ab. Und gerade diese hoch ausgeprägte Technik sorgt ja dafür, dass man unterscheiden kann, kommen da Soldaten, kommen da Frauen und Kinder, sondern sehr präzise sieht, was passiert eigentlich auf dem Boden, und genau das zu verhindern, was vor zehn Jahren verhindert werden hätte können. Insofern – ich spreche vom Karfreitagsgefecht in Afghanistan, wo wir auch … Heckmann: Das wollte ich gerade sagen. Es gibt ja nun auch Fälle, wo das überhaupt gar nicht so klar gewesen ist und dadurch zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind. Strack-Zimmermann: Genau deswegen ist diese Drohne so von Bedeutung, weil sie aufgrund des technischen Standards genau runterschauen kann und differenzieren kann, was spielt sich auf dem Boden ab. Ich habe mir wie gesagt das selber vor Ort anschauen können. Es ist unglaublich. Sie können da genau sehen, was passiert, um zu verhindern, dass aufgrund von Verwechslung, aufgrund von Interpretationsspielraum auch falsche Entscheidungen getroffen werden. Automatisierte Waffensysteme - "Nur Menschen können etwas verantworten"Europas neues Kampfflugzeug soll in Geschwadern mit Drohnen fliegen und ab 2040 den Luftraum verteidigen. Ethische Überlegungen müssten die Entwicklung des "Future Combat Air System" von Beginn an begleiten, sagte Fraunhofer-Forscher Wolfgang Koch im Dlf. "Eine exzellente Möglichkeit, unsere Soldatinnen und Soldaten zu schützen" Heckmann: Eine echte Wunderwaffe aus Ihrer Sicht? Strack-Zimmermann: Was heißt hier Wunderwaffe? – Es ist eine exzellente Möglichkeit, unsere Soldatinnen und Soldaten zu schützen. Wir können froh sein, dass wir solche Möglichkeiten haben und eine Drohne zu haben. Und das ist mir auch noch wichtig, das an der Stelle zu sagen, weil die Gegner gerne von Killerdrohne sprechen. Da werden ja so Bilder im Kopf erzeugt nach dem Motto, da ist dann Künstliche Intelligenz, die Drohne macht was sie will. Sondern Sie müssen wissen: Da ist ein Drohnenführer und da sitzt jemand daneben, tausend Kilometer weg von der Drohne, damit auch selbst geschützt, um zu entscheiden, was passiert. Kein Soldat, keine Soldatin wird einfach mal so auf den Knopf drücken. Die Ausbildung ist exzellent und ich glaube, dieses Vertrauen sollten wir haben. Wir sollten uns auch an diesen Kopfspielen nach dem Motto, eine Drohne macht was sie will oder wird eingesetzt wie in einem Computerspiel, nicht beteiligen, weil bei der Bundeswehr so etwas nicht stattfindet. Heckmann: Das mit der Wunderwaffe war jetzt auch ein bisschen provokant von mir formuliert. Ich will es nicht ins Lächerliche ziehen. Aber es hat ja ernsthafte Hintergründe. – Sie haben die Drohnenführer ja angesprochen. Es gibt aber auch Bedenken, dass die Hemmschwelle zu schießen sinkt, wenn die Piloten, diese Piloten der Drohnen selbst nicht vor Ort sind, dass sie das wie ein Video-Game wahrnehmen. Diese Gefahr sehen Sie nicht? Strack-Zimmermann: Nein, diese Gefahr sehe ich nicht. Wissen Sie, Video-Game – bei allem Respekt: Die Soldatinnen und Soldaten, die dort ausgebildet werden, die in einem solchen Steuerstand sind, sind hoch ausgebildete Menschen mit hohem Verantwortungsgefühl auch. Und denen zu unterstellen, sie sitzen an einer Konsole Samstagabend mit der Bierflasche in der Hand und spielen Ballerspiele – ich provoziere jetzt auch mal -, finde ich auch den Soldatinnen und Soldaten gegenüber schon ziemlich dreist, so etwas zu sagen. Heckmann: Nee, nee! Das war jetzt keine Unterstellung, sondern nur eine Frage, ob Sie diese Gefahr sehen, dass dann gewisser Abnutzungseffekt möglicherweise vonstattengeht. Strack-Zimmermann: Die Frage des Abnutzungseffektes – nicht umsonst sind Soldatinnen und Soldaten immer nur einige Monate vor Ort, kommen dann wieder nachhause, damit sie sich nicht an diesen Zustand gewöhnen, in dem sie ja leben, der nichts mit dem normalen Leben in Deutschland zu tun hat, damit das kein Gewöhnungseffekt ist. Deswegen sind ja Standzeiten relativ kurz. Deswegen ist der Austausch da, dass Soldatinnen und Soldaten wieder nachhause kommen beziehungsweise dort hingeschickt werden, und natürlich alles aufgearbeitet werden muss, was man dort erlebt. Denn das sind Situationen, Herr Heckmann, die können wir uns nicht vorstellen. Wir leben hier in Freiheit, in Sicherheit, und was unsere Soldatinnen und Soldaten erleben müssen, sei es in Afghanistan, im Irak, sei es in Mali, da fehlen uns oft die Worte. Wenn man vor Ort ist, kann man das erst ermessen, was dort ist. Ich kann nur sagen, die Freien Demokraten werden alles unterstützen, damit die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sicher sind, vor Ort ihre Arbeit machen können und gesund wieder nachhause kommen. Ehemaliger Wehrbeauftragter - Allgemeine Wehrpflicht kein AllheilmittelDer ehemalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe (SPD) sieht die Ursache für rechtsextreme Vorfälle bei der Eliteeinheit KSK in einem "Auseinanderdriften von Zivilgesellschaft und Bundeswehr". Die Wiedereinführung der Wehrpflicht sei keine Maßnahme gegen Rechtsextremismus, sagte Robbe im Dlf. "Ein verpflichtendes Jahr wird es mit uns nicht geben" Heckmann: Frau Strack-Zimmermann, lassen Sie mich noch ein zweites Thema kurz anschneiden: den Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer, einen neuen Freiwilligendienst einzuführen, das sogenannte Deutschlandjahr. Da sollen junge Männer und Frauen ein halbes Jahr lang militärisch grundausgebildet werden und dann sechs Monate in der Heimat zu Reservediensten herangezogen werden. Das soll in der Bundeswehr stattfinden, aber auch in der Pflege, der Umwelthilfe und der Feuerwehr. Die FDP – das haben Sie klargemacht – ist strikt dagegen. Weshalb? Strack-Zimmermann: Ja! Wir sind deswegen strikt dagegen: Erst mal, Frau Kramp-Karrenbauer nutzt ja die Diskussion, die von der neuen Wehrbeauftragten, Frau Högl, losgebrochen wurde, über eine Dienstpflicht wieder zu sprechen, und sie nutzt jetzt dieses Thema, um dieses sogenannte Deutschlandjahr ins Leben zu rufen. Es ist heute jedem jungen Menschen unbenommen, sowohl zur Bundeswehr zu gehen, auch nur für ein Jahr, oder auch einen Freiwilligendienst in einem sozialen Spektrum zu machen, in der Pflege, in einer Klinik, was Sie gerade aufgeführt haben. Das ist heute möglich und jeder, der das macht, kann ich nur sagen, Chapeau, wer diese Zeit nach der Schule nutzt. Aber ein verpflichtendes Jahr wird es mit uns nicht geben. Erstens ist es verfassungswidrig. Wir müssten unser Grundgesetz ändern, denn Sie können nicht einfach einen Mann und eine Frau dienstverpflichten. Das lässt unser Grundgesetz nicht zu. "Von der Freiwilligkeit und dann zur Diskussion des Verpflichtenden ist es nicht weit" Heckmann: Aber das hat ja die Verteidigungsministerin auch offengelassen, ob es freiwillig sein soll oder verpflichtend. Strack-Zimmermann: Ich sage Ihnen, die Tür ist aufgestoßen. Von der Freiwilligkeit und dann zur Diskussion des Verpflichtenden ist es nicht weit, weil Frau Kramp-Karrenbauer, bevor sie Ministerin wurde, als CDU-Vorsitzende vor zwei Jahren ja das Pflichtjahr bereits ins Spiel gebracht hat, genauso wie den Flugzeugträger, den sie wollte für Deutschland. Der Flugzeugträger, um im Bild zu bleiben, konnte Gott sei Dank versenkt werden. Und diese Pflicht, dass junge Menschen nach der Schule sich sozial engagieren, die lehnen wir ab. Die Diskussion, wie weit sich Menschen einbringen für das soziale Gefüge in Deutschland, die kann man immer führen. Die kann man führen in der Schule, die kann man führen im Elternhaus. Aber ich kann nur sagen: Für uns ist es von hoher Relevanz, dass junge Männer und Frauen selbst entscheiden, was sie in ihrem Leben machen, und zu nichts verpflichtet werden. Und ein Deutschlandjahr, was ja erst mal sehr sympathisch klingt – ich höre schon die Worte: das schadet keinem -, ist das Vorspiel zu einer Verpflichtung, und das wird es mit uns Freien Demokraten nicht geben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) hat die mögliche Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr begrüßt. Diese seien "eine exzellente Möglichkeit, unsere Soldatinnen und Soldaten zu schützen", sagte sie im Dlf. Die Gefahr, dass die Drohnen zur gezielten Tötung eingesetzt werden, sieht sie nicht.
"2020-07-08T08:10:00+02:00"
"2020-07-09T10:04:25.984000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fdp-politikerin-zu-bewaffneten-drohnen-strack-zimmermann-100.html
91,086
Ampel kennzeichnet Risiken
Eine Ampel ist allen Bürgern wohlvertraut. Mit einer Ampel könnte man auch Finanzprodukte kennzeichnen, meint Elke König, Präsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, und so die Gefahr für den Verlust des Kapitals verdeutlichen. Rot stünde dann für hochriskant, gelb für weniger riskant und grün für relativ geringes Risiko. Diese Idee einer Ampel hält auch die Bundesregierung für prüfenswert, auf Anfrage des Deutschlandfunks teilt das Bundesfinanzministerium mit: „Die Schwierigkeiten, die sich bei einer Ampelkennzeichnung stellen, bestehen wie bei jeder vereinfachten Klassifizierung von Produkten in der exakten Grenzziehung. Sie basiert einerseits auf Erfahrungswerten, erfordert andererseits aber auch eine Prognoseentscheidung. Es bedarf deshalb einer besonderen Prüfung, wie verschiedene Aspekte einer Anlage, insbesondere Risiko und Komplexität, in einer Messgröße sinnvoll abgebildet werden können." Klare Definitionen sind nötig So meint auch Klaus Nieding, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht: "Hier benötigen wir dann klare Definitionsvorgaben, beispielsweise von einer neutralen Stelle wie der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die dann auch Produkte ganz bestimmten Kategorien zuordnet. Es darf nicht den Emittenten, nicht dem Anlageberater überlassen sein, in welche Kategorie er jetzt welches Produkt sortiert." Denn das ist komplizierter als gedacht: So besteht bei einer Aktie die Möglichkeit, das eingesetzte Kapital zu verlieren, aber ein Aktienfonds, der den DAX, den Index der 30 größten deutschen Industriewerte abbildet, wäre weniger riskant. Grün wären dann gegebenenfalls nur noch Produkte, die wirklich sicher sind, also Bankeinlagen, die von der Einlagensicherung geschützt sind, oder Staatsanleihen, die ein geringes Ausfallrisiko haben. Andererseits kann ein Bankberater die möglichen Risiken eines Finanzprodukts aber auch schönreden, fürchtet Anlegeranwalt Nieding. Und dann hat der Anleger bisher ein Problem, das man aber entschärfen könnte: "Wird die Ampel nämlich im Vertriebsgespräch vom Anlageberater, Anlagevermittler weggeschwätzt, dann gebe ich dem Anleger durch eine Umkehr der Beweislast die Chance, endlich besser zu stehen in einem Prozess. Dann muss sich nämlich der Anlagevermittler oder Anlageberater exkulpieren. Er muss im Grunde genommen dann darlegen und beweisen, dass er ordnungsgemäß aufgeklärt hat und nicht wie bislang der Anleger eine negative Tatsache beweisen, dass er nämlich nicht richtig aufgeklärt wurde." Schwierigkeiten im Grauen Kapitalmarkt Schwierig wird es vor allem bei den Produkten, die bisher nicht beaufsichtigt werden, im sogenannten Grauen Kapitalmarkt nämlich. Deshalb fordert Klaus Nieding: "Wir brauchen eine klare Regulierung des sogenannten Grauen, also des bislang ungeregelten Kapitalmarktes. Die Anbieter müssen reguliert werden, sie müssen Zulassungsverfahren durchlaufen. Die Bafin muss eben auch durchgreifende Befugnisse bekommen, um im Falle eines Falles ein Kapitalanlagemodell auch sofort stoppen zu können." Verbraucher ist für sein Handeln verantwortlich Bei aller Vorsicht und Fürsorge für den Verbraucher: Er selbst bleibt aber letztlich verantwortlich für das, was er tut - eben auch für die Geldanlage, mahnt Bafin-Chefin Elke König: "Es gibt nun einmal einen Zusammenhang zwischen versprochener Rendite und Risiko. Die Anbieter an den Märkten, egal ob beaufsichtigt oder nicht, sind keine Wohltäter und müssen es auch nicht sein. Man sollte nur in Produkte investieren, die man versteht und dabei eine gesunde Skepsis an den Tag legen. Und: Anlageentscheidungen, für die sollte man vielleicht mindestens soviel Zeit investieren wie für die Anschaffung des nächsten Smartphones." Auch im Straßenverkehr darf man zwar bei Grün fahren. Aber das entbindet trotzdem nicht von der Sorgfaltspflicht. Die Ampel könnte auch umspringen.
Von Brigitte Scholtes
Geldanlagen bergen Risiken in sich. Viele Menschen verstehen die Finanzprodukte nicht vollständig, in die sie investieren. Nun könnte ein Ampelsystem die Gefahren von Geldanlagen kennzeichnen. Rot soll für riskant stehen, Gelb für halbwegs solide und Grün für sicher.
"2014-03-07T11:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:29:42.546000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geldanlagen-ampel-kennzeichnet-risiken-100.html
91,087
Nicht ohne mein Smartphone
Ob an der Bushaltestelle, in der U-Bahn oder in der City: Überall sieht man junge Menschen gedankenversunken auf ihr Smartphone schauen. Isabell, Max und Leon gehören auch dazu. Sie gehen in die 10. Klasse des Martino Katharineum – einem Gymnasium in Braunschweig mit elitärem Anspruch: Wunderknabe Carl Friedrich Gauß drückte hier schon die Schulbank:Isabell: "Naja, das ganze Handy ist natürlich ein super Gesamtpaket. Ich meine WhatsApp ist natürlich klar, da schreibe ich mit meinen Freunden. Und sonst ist verstärkt wirklich mehr Musik, Uhr und halt WhatsApp."Max: "Also durchaus öfter mal zu Hause anrufen. Und sonst einfach mal per WhatsApp den Freunden schreiben, was gerade so ansteht. Ja."Leon: "Größtenteils SMS schreiben, WhatsApp, telefonieren jetzt in letzter Zeit öfters, und im Bus Internet surfen, wenn es einem langweilig wird."In Braunschweig sorgt man sich um das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Kommunikationstechnik. Dort gibt es einen Präventionsrat mit Mitgliedern aus Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt, der nun die Frage untersuchen ließ, ob der Umgang mit den Smartphones süchtig macht? Um das herauszufinden, sollten 35 Schülerinnen und Schüler ihr geliebtes Gerät einfach mal abgeben. Das Ganze freiwillig für eine Woche, erklärt Sarah Winkens vom Jugendamt der Stadt Braunschweig:"Wir haben mehrere Bereiche im Jugendschutz abzudecken. Meiner liegt schwerpunktmäßig auf dem Bereich Medien. Und das bedeutete für mich, diesen in den Kontext Sucht zu bringen und ein Beteiligungsprojekt zu konzipieren. Ich hatte keine Erwartungen. Ich bin ohne Erwartungshaltung in das Projekt gegangen. Und so war es für mich auch sehr interessant zu gucken, wie es verläuft."Ergebnis der ungewöhnlichen Studie: Eine Smartphonesucht sei nicht erkennbar: Das Gros der Jugendlichen erklärte, dass ihnen der einwöchige Verzicht nicht schwergefallen sei. Für Experten ist der Befund wenig überraschend. Die jugendlichen Probanden – erfolgreiche Gymnasiasten und Waldorfschüler – treffen Freunde, sind sozial aktiv, lebensfroh, und damit auch gut gewappnet gegenüber den negativen Einflüssen der digitalen Welt. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Jannik aus Celle, der im Kinderkrankenhaus "Auf der Bult" in Hannover stationär behandelt wird. Bei seiner Therapie spielt auch Computersucht eine Rolle:"Also es fängt an – meiner Meinung nach – wenn man anfängt, das reale Leben zu meiden, indem man sich an den PC setzt, um nicht in der realen Welt zu sein. Und wenn man anfängt, irgendwelche Verabredungen abzusagen, weil man keine Lust hat, sich nach draußen zu bewegen. Ich würde sagen, dann fängt es an, gefährlich zu werden."Für Psychiater wie Prof. Christoph Möller, der Jannik behandelt, ist der Fall klar: Computersucht ist gar keine Krankheit, auch keine Ursache für eine Krankheit, sondern lediglich Symptom. In Wahrheit leiden Betroffene unter einer psychischen Grunderkrankung wie Depressionen oder Angststörungen. Der Computer, sagt Prof. Christoph Möller, ist nur der Ort ihrer Zuflucht:"Es gibt Jugendliche, die im sozialen Miteinander nicht zurechtkommen. Die keine Erfolge in der Schule haben, die sich in der Familie nicht wirklich zu Hause fühlen, die mit sich und ihrem Körper unzufrieden sind. Und diese Jugendlichen erleben manchmal im Internet, dass sie plötzlich in Chatforen Zugang zu anderen Jugendlichen oder Menschen haben, dass sie beim Onlinespiel plötzlich erfolgreich sind, ein wichtiger Teil einer Gilde sind, ohne sie läuft nichts. Und somit ist für manche Jugendliche das virtuelle Leben reizvoller als das reale Leben."In der Fachwelt sind Begrifflichkeiten wie Computersucht, Onlinesucht oder Computerspielsucht höchst umstritten. Aus diesem Grund hatte schon die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen den Begriff Online/Mediensucht 2012 aus dem Jahresbericht gestrichen. "Wenn alle Tätigkeiten zur Sucht deklariert werden können, werde die Sucht banalisiert", so die Begründung. Gleichwohl bieten Computer den psychisch kranken Jugendlichen eine auf den ersten Blick schützende Scheinrealität an, erklärt Dr. Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vivantes Kliniken, Berlin:"Also für Jugendliche ist ja heutzutage die Körperlichkeit die eigentliche Hauptthematik. Die körperliche Unversehrtheit, die Schönheit, aber auch der Trainingszustand. Und wenn ich jetzt ein Medium habe, wo die Entkörperlichung quasi perfekt funktioniert, wo ich ohne meine eigenen körperlichen Gebrechen, Schwierigkeiten, aber auch Ängste, Sorgen, Fehleinschätzungen leben kann, dann ist das gerade für - ich hätte fast schon Patienten gesagt, aber sagen wir mal Jugendliche - die an ihrem eigenen Körper zweifeln, und das tun nun mal gerade sehr viele Mädchen, gerade depressive Mädchen, das ideale Medium eigentlich."Schätzungen über die Zahl der Computersüchtigen werden seit Jahren nach unten korrigiert. Gegenwärtig gehen Experten von 500.000 Betroffenen in Deutschland aus - das entspricht etwa einem Prozent. Oft nehmen sie dann auch noch Aufputschmittel wie Koks oder Ecstasy, um lange "on" bleiben zu können. Schule, Freunde, selbst die Hygiene – spielt dann keine Rolle mehr. Besonders Computerspiele, so Florian Rehbein vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, ziehen die Betroffenen magisch an:"Also, ein erhöhtes Suchtpotenzial kann man allein schon daran festmachen, dass Computerspiele den Spieler ganz stark belohnen. Durch das Erscheinen in irgendeiner Rangliste, die dann plötzlich ein soziales Prestigeobjekt werden kann, durch bestimmte Gegenstände, die man freigespielt hat, die man benutzen kann, durch Ausstattungsmerkmale, dass man sich anders kleiden kann als die anderen. Da sehe ich auch im Kern eine Problematik in den Spielen.""Spezialambulanzen und Stationen zur Behandlung schießen derzeit wie Pilze aus dem Boden, doch die Kliniken haben ein Problem: Weil es sich bei der Computersucht um gar keine Krankheit handelt, gibt es auch keine entsprechende Diagnose im ICD-Tabellenwerk und deswegen dürfen Kassen die Behandlungskosten auch nicht übernehmen. Bezahlt wird nur die Therapie der psychischen Grunderkrankung – zum Beispiel die Persönlichkeitsstörung. Und die Gesunden? Viele Jugendliche sehen sich einer Debatte ausgesetzt, die allein im Computer den Sündenbock sieht. Und das nervt!""Also ich finde, gleich süchtig zu sagen, das ist immer schwierig, das auseinanderzuhalten. Ich denke eigentlich nicht, dass in unserer Klasse jemand ist, der wirklich süchtig ist. So wie ich das definiere. Süchtig denke ich nicht."
Von Michael Engel
Im 18. Jahrhundert glaubte man fest an eine krankhafte Lesesucht. Später dann wurde das Fernsehen verteufelt. Heutzutage sind junge Nutzer von Computern und Smartphones angeblich besonderen Suchtgefahren ausgesetzt.
"2013-06-13T20:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:22:18.883000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nicht-ohne-mein-smartphone-102.html
91,088
Präsident kündigt Referendum an
Der rumänische Präsident Klaus Iohannis hat sich auf Seiten der Protestierenden gestellt. Im Parlament kritisierte er die Regierung. (AFP / Daniel Mihailescu) In seiner Rede vor dem Parlament in Bukarest hat Staatspräsident Klaus Iohannis die Regierung erneut scharf kritisiert. Gleichzeitig wandte er sich gegen Neuwahlen. Die sozialdemokratische Regierungspartei PSD sei erst vor zwei Monaten an die Macht gewählt worden, sie habe die aktuelle Krise verursacht, sie müsse nun auch wieder aus der Krise herausfinden, so Iohannis: "Die Aufhebung der Eilverordnung und der eventuelle Rücktritt eines Ministers, das ist mit Sicherheit zu wenig für die Lösung des Problems. Vorgezogene Wahlen wären zum jetzigen Zeitpunkt aber auch zu viel. Das ist der der Spielraum. Wer muss die Lösung finden? Natürlich jene, die das Problem geschaffen haben: die PSD." Regierungschef Sorin Grindeanu und seine Minister waren gar nicht erst im Parlament erschienen. Wer allerdings anwesend war, war der eigentlich mächtige Mann im Regierungslager, PSD-Parteichef Liviu Dragnea. Ihn attackierte Iohannis mehrfach, daraufhin verließen die Abgeordneten der Sozialdemokraten geschlossen den Saal. Regierung lässt Demonstranten nach Bukarest fahren Im Anschluss verteidigte sich Iohannis gegen den Vorwurf von Dragneas Seite, er wünsche sich als Präsident den Sturz der Regierung: "Nein, falsch. Ihr habt die Wahlen gewonnen. Jetzt regiert. Regiert, erlasst Gesetze. Aber es nicht egal, wie!" Obwohl die Regierung das umstrittene Eildekret zur Entkriminalisierung von Amtsmissbrauch und Korruption zurückgezogen hat, will Präsident Iohannis weiter ein Referendum darüber abhalten. Er will damit offenbar ausschließen, dass die Inhalte des Eildekrets auf anderem Weg, etwa als Gesetzesvorlage im Parlament, doch noch auf den Weg gebracht werden. "Es stellt sich die Frage: Was für eine Nation wollen wir sein? Um die Antwort entsprechend des souveränen Willens des Volkes zu erfahren, werde ich ein Referendum anberaumen." In einer ersten Reaktion auf die Iohannis-Rede warf PSD-Parteichef Dragnea dem Präsidenten vor, das Land weiter zu spalten. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Regierungspartei am Nachmittag Beschäftigte einer Staatsfirma aus dem Südwesten des Landes mit Bussen nach Bukarest fahren lässt, um sie dort für die Regierung demonstrieren zu lassen. Auch die Proteste der Regierungsgegner sollen am Abend in Bukarest und anderen Städten weitergehen. Rumänien stehen offenbar weitere turbulente Wochen bevor, von Beruhigung der Krise derzeit keine Spur.
Von Ralf Borchard
Der rumänische Präsident Klaus Iohannis hat erneut die Regierung seines Landes kritisiert. Abgeordnete der regierenden Sozialdemokraten verließen daraufhin unter Protest das Parlament. Iohannis will jetzt die Wähler über das umstrittene Dekret abstimmen lassen, das Korruption teilweise entkriminalisiert.
"2017-02-07T18:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:35:17.552000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rumaenien-praesident-kuendigt-referendum-an-100.html
91,089
Zu viele Jungfische im Netz
Fischer auf dem Greifswalder Bodden mit Heringen an Bord. (picture alliance / dpa / Foto: Jens Büttner) Spiegelglatt wie ein Ententeich ist die graublaue Ostsee an diesem Morgen. Die Luft ist kühl und klar, die Kreidefelsen von Kap Arkona wirken zum Greifen nah. Gemächlich gleitet die "Walther Herwig" mit ihrem tiefblauen Rumpf an der Nordspitze von Rügen vorbei. Die "Walther Herwig" gilt als Paradeschiff der deutschen Fischereiforscher. An Deck des gut 60 Meter langen Kolosses blickt der Rostocker Fischereibiologe Daniel Stepputtis gebannt auf den Fang des Tages, der jetzt vier Meter über dem Arbeitsdeck baumelt: Ein orangefarbenes Netz, mit prall gefülltem Endbeutel, dem so genannten Steert. "Unten wölbt er sich auf vom Fang, der im Steert ist; und da sehe ich einen Dorsch herausgucken, dort sehe ich auch Plattfische, vielleicht ist da auch ein Steinbutt dabei, das kann ich von hier aus nicht sehen; aber das werden wir gleich sehen, wenn wir 'runter ins Schiff gehen; dort, wo der Fang entleert wird, dort sehen wir dann alle Fische vor uns." Auch Angler durfen weniger fangen Die Dorsche vor Rügen haben schlechte Zeiten hinter sich. Ein Jahrzehnt mit wenig Nachwuchs hatte den Bestand westlich der dänischen Insel Bornholm deutlich schrumpfen lassen. Deswegen zog die Politik vor einem Jahr die Notbremse. Zum einem wurden die Fangquoten für die kommerzielle Fischerei in der westlichen Ostsee um mehr als die Hälfte gekürzt. Zum anderen durften auch Angelfreunde im vergangenen Sommer nicht mehr so viel fangen von diesem sehr markanten Fisch. "Der Dorsch ist wie so viele andere Fische auch auf der Unterseite heller als auf der Oberseite. Die Oberseite ist bei Dorschen so bräunlich-grünlich, getigert fast ein bisschen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass er damit sich natürlich besser tarnen kann; und eigentlich ein sehr, sehr schöner Fisch, wenn man ihn so anschaut." Jungfische schützen - und somit auch den Fang von morgen Schön anzuschauen, und womöglich bald auch wieder in rauen Mengen in der Ostsee unterwegs. Theoretisch zumindest. Denn der außergewöhnlich gute Nachwuchsjahrgang von 2016 könnte dafür sorgen, dass sich der Dorsch-Bestand in der westlichen Ostsee bis zum nächsten Jahr wieder vollständig erholt haben dürfte. Vorausgesetzt, Fischerei und Politik treffen die richtigen Entscheidungen und schützen konsequent die Jungfische - und somit auch den Fang von morgen. Der Trend beim Dorsch in der Ostsee taugt als Sinnbild für die Entwicklung vieler Fischbestände, vor allem in der Nordsee: Der Heringsbestand ist so groß, dass der EU-Fischereirat im Dezember einen Quotenaufschlag von 25 Prozent für das Fangjahr 2018 gewährte. Und dem Seelachs geht es sogar derart gut, dass die Forscher bereits für 2017 eine Verdoppelung der Fangquoten für vertretbar hielten - der Fischereirat in Brüssel begnügte sich jedoch mit einem Aufschlag von gut 50 Prozent für 2017 und jetzt noch einmal sechs Prozent für 2018 - mehr Seelachs, so die Befürchtung der Fischer, hätte der Markt nicht aufnehmen können und die Preise purzeln lassen. Die Rückkehrdes Nordsee-Kabeljaus Bemerkenswert ist auch die positive Entwicklung beim Nordsee-Kabeljau. Die Fischereibiologin Stella Nemecky von der Naturschutzorganisation WWF in Hamburg: "Das ist tatsächlich eine ziemliche Erfolgsgeschichte. Man muss aber dazu auch sagen: Dieser Bestand hat 20 Jahre gebraucht, um sich zu erholen. Und man hat das unter anderem damit hinbekommen, dass man vor deutlich über zehn Jahren wiederum auch sehr stark die Fangmengen gekürzt hat; also, der hat sich auch nicht erholt aus dem Nichts, sondern der hat sich erholt, weil er geschont wurde; und jetzt nach fast 20 Jahren ist dieser Bestand wieder in ganz gutem Zustand." Kabeljau aus der Nordsee (picture alliance / dpa / Francis Dean) Die Talsohle hatte der Nordsee-Kabeljau 2006 erreicht. Seitdem hat sich die Bestandsgröße nahezu verfünffacht, bilanziert Gerd Kraus, Leiter des Thünen-Institut für Seefischerei in Hamburg. In diesem Jahr dürfte der Bestand auf mehr als 200.000 Tonnen anwachsen. "Das ist das, wo wir drauf zusteuern, vielleicht wird es sogar noch ein Ticken mehr. Also, das ist schon eine gute Menge, das ist immer noch deutlich weniger als das, was wir in den 70er, 80er Jahren mal gesehen hatten, zu Hochzeiten des Kabeljaus; aber wir sind damit in einem Bereich, wo der Kabeljau insgesamt als Bestand wieder in den grünen Bereich gewandert ist." Der Fischereibiologe ergänzt, dass der EU-Fischereirat beim Nordsee-Kabeljau den Empfehlungen der Wissenschaftler weitestgehend gefolgt ist. Die Gesamtfangmenge für 2018 steigt somit um zehn Prozent auf rund 53.000 Tonnen. Fische und andere Meerestiere in einem bunten Potpourri Dennoch räumt Gerd Kraus ein, dass sich der Kabeljau einzig in der nördlichen Nordsee erholt habe, vor allem in den Meeresgebieten zwischen Schottland und Norwegen. In der südlichen Nordsee dagegen bleibt der Kabeljau ein seltener Gast - wohl eine Folge des Klimawandels, vermutet der Forscher. Satte Kabeljaufänge vor Helgoland sind also nicht in Sicht. Und noch etwas trübt die Freude über die Rückkehr des Nordsee-Kabeljaus: Es sei zu befürchten, dass immer noch zu viele Jungfische wieder über Bord geworfen werden, und zwar als Beifang - auch Discard genannt. Meist sind die Fische dann bereits tot oder nicht überlebensfähig - und gehen somit dem Bestand verloren. Der Hintergrund: In der Nordsee schwimmen verschiedene Fischarten und andere Meerestiere in einem bunten Potpourri umher: Kabeljau mit Schellfisch und Wittling zum Beispiel. Oder auch Kabeljau mit Kaisergranat, das ist ein Edelkrebs, der auch Norway-Lobster genannt wird, also Norwegischer Hummer - eine äußerst begehrte Delikatesse. Fischer fordern Quotenaufschläge für beigefangene Fische Der Fischereihafen von Cuxhaven: Verwaltungsgebäude, Kühlhäuser und Lagerhallen, überwiegend in schmuckloser Nachkriegs-Architektur. Direkt am Pier hat die Kutterfisch-"Erzeugergemeinschaft der Nord- und Ostseefischer" ihren Sitz. Hier empfängt Geschäftsführer Kai-Arne Schmidt seine Fischer nach ihren Fangfahrten. Meist kehren sie mit Seelachs zurück. Diese Fischerei gilt als relativ rein - also nur wenig Beifang in den Netzen. Anders sieht das beim Kaisergranat aus. Feuerschiff "Elbe 1" im Fischereihafen von Cuxhaven (dpa / Klaus Nowottnick) "Also, die Schotten haben vor Jahren gesagt, dass sie in der Kaisergrant-Fischerei knapp 80 Prozent Discard hatten. 80 Prozent an anderen Arten, sicherlich ein Großteil an Kabeljauen, die über Bord gegangen sind, in einem Mix von x Arten. Wie hoch da der Kabeljau-Anteil ist, kann ich Ihnen nicht sagen, weil da wird offiziell nicht drüber gesprochen." Um dieses Discard-Problem zu lösen, hatte die EU im Zuge ihrer Fischereireform ein Anlandegebot erlassen: Was der Fischer fängt, soll er nicht mehr über Bord werfen, sondern in den Hafen mitbringen. Dieses Anlandegebot betraf ab 2015 zunächst den Dorschfang in der Ostsee sowie die Fischerei auf Schwarmfische wie Hering und Makrele. Bis zum Jahr 2019 soll dieses Verbot für alle Bestände gelten, deren Fangmengen quotiert werden: "Grundsätzlich finde ich das als deutscher Fischer sehr, sehr vernünftig. Weil es nicht sein kann, dass wir zur See fahren und gefangene, tote Tiere, die marktfähig sind, über Bord schmeißen. Und somit letztendlich den Bestand schwächen." Quotenaufschläge für beigefangene Fische gefordert Dennoch steht der schottische Kaisergranat-Fischer vor einem Dilemma. Zum einen dürfte er kein Interesse haben, den knappen Platz im Laderaum seines Kutters mit Kabeljau-Beifang zu füllen, solange ihm der hochpreisige Kaisergranat weitaus mehr Geld verspricht. Und zum anderen versperrt ihm bislang das allzu starre Quotensystem in der EU-Fischereipolitik den Weg zur Vernunft. Was soll er denn machen, wenn er zwar eine auskömmliche Quote für Kaisergranat zugeteilt bekam, aber keine für Kabeljau? "Also, er war verpflichtet, Fische, für die er keine Quote hat, über Bord schmeißen zu müssen. Da ist jetzt eine Komplettwendung eingetreten in der Politik. Jetzt heißt es: Alles, was du fängst, musst du mitbringen. Das ist gut, das ist sinnig. Nur man muss sich natürlich die Frage stellen: Wenn ich vorher so viele Fische weggeschmissen habe, weil ich keine Quote habe, und ich muss sie jetzt mitbringen, aber ich habe bis heute immer noch keine Quote - wie soll das aufgehen? Die Frage stelle ich mir, und da bin ich nicht alleine; und da sind wir gespannt, wie die Politik darauf reagiert." Die Fischer fordern Quotenaufschläge für beigefangene Fische. So solle ein Anreiz geschaffen werden, den Beifang anzulanden. Gerd Kraus vom Thünen-Institut betrachtet diese Forderung mit gemischten Gefühlen. "Das hat zwei Seiten: Im Moment beziehen wir natürlich die Rückwürfe und die Beifänge in anderen Fischereien durchaus in unsere Fangempfehlungen mit ein; insofern berücksichtigt das, was an Quote nachher 'rausgegeben wird, das Problem. Was natürlich passieren könnte: Wenn wir in der Lage wären, das Beifang-Problem zu lösen, dann würden wir durchaus in der Lage sein, auch Quotenaufschläge für diese Fischereien zu erteilen. Was im Moment allerdings passiert ist noch viel, viel dramatischer: Die Fischereien fordern Quotenaufschläge, ohne dass sie tatsächlich das Discarden eingestellt hätten. Und das ist natürlich eine Situation, die - wenn sie sich so fortsetzt, wie es im Moment beobachtet wird - deutlich diesen Trend wieder umkehren könnte. Und das auch noch relativ schnell." Hinweise auf illegale Rückwürfe Hinweise auf Discards, also auf illegale Rückwürfe, haben die Wissenschaftler aus unterschiedlichen Quellen. Christopher Zimmermann, Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei in Rostock, beruft sich zum einen auf vertrauliche Hinweise aus der Fischerei selbst. Zum anderen beobachten auch Forscher solche Rückwürfe, wenn sie im Rahmen so genannter Observer-Programme auf Fischkuttern mitfahren. "Wir wissen, dass die Rückwurfraten in einzelnen Fischereien eher zugenommen haben; zum Beispiel bei Dorsch in der östlichen Ostsee; das sind vor allem untermaßige Dorsche, also Dorsche, die nicht für den menschlichen Verzehr angelandet werden, sondern dann in die Fischmehlproduktion oder ins Katzenfutter gehen; die wurden bisher über Bord geschmissen; und es gab über viele, viele Jahre bei ungefähr zehn Prozent unerwünschter Beifänge, die dann discarded wurden; inzwischen haben wir einzelne Reisen, bei denen die Discards eher bei 50 Prozent oder manchmal auch noch höher liegen. Und das ist natürlich sehr unerfreulich, denn auf diese Weise kann man auch hoffnungsvolle Nachwuchsjahrgänge vernichten." "Die Kontrolleure können nicht überall sein" Das Anlandegebot für den Dorsch in der Ostsee gilt nun schon seit drei Jahren. Dennoch komme es nicht zu weniger, sondern zu deutlich mehr Rückwürfen, kritisiert auch Stella Nemecky vom WWF in Hamburg. Die Meeresbiologin bemängelt zum einen die unzureichenden Kontrollen innerhalb der EU-Gewässer. Und zum anderen sei es für die Kontrolleure auch äußerst schwierig, einen Verstoß gerichtsfest nachzuweisen. "Die Kontrolleure können nicht überall sein. Real haben wir in der Ostsee in 2016 1,6 Prozent kontrollierte Fangreisen gehabt; daraus lässt sich noch längst nicht schließen, wieviel insgesamt zurückgeworfen wurde; schon gar nicht wissenschaftlich wirklich gut belastbar. Real ist es halt so, dass in der EU es ausreicht, wenn Sie einen Behälter hinstellen, in dem Sie Menge x an unerwünschtem Beifang stehen haben; und dann können Sie drauf zeigen und sagen: Das ist der Beifang, den ich hatte; hier sehen Sie es, ich habe ihn schön, fein säuberlich separiert, so wie es sich gehört; und in mein Logbuch geschrieben habe ich das auch; und der Kontrolleur kann dagegen nicht vorgehen; der hat keine Handhabe. Wie soll man da ein Anlandegebot umsetzen?" Droht die Fischereireform zu Scheitern? Bislang wurde in der Dorschfischerei kein einziger Verstoß geahndet, obwohl Wissenschaftler wie Christopher Zimmermann zahlreiche Discard-Fälle in Erfahrung bringen konnten. Seine Befürchtung: Die Fischereireform drohe zu scheitern, weil ihr zentraler Baustein, das Anlandegebot nur unzureichend umgesetzt werde - und damit verbunden der Schutz der Jungfische nicht mehr gewährleistet sei. "Der politische Druck steigt natürlich stark, um zu sagen: Wenn wir eine solche Maßnahme beschlossen haben, dann muss man auch kontrollieren können, ob sie eingehalten wird." Die Europäische Kommission teilt die Einschätzung, dass die traditionelle Form der Fischereiüberwachung - zum Beispiel durch Kontrollen einzelner Fangschiffe auf Hoher See - bislang nicht dazu geführt habe, das Anlandegebot effektiv zu überwachen. Eine Sprecherin teilte dem Deutschlandfunk auf Anfrage mit, dass nunmehr die Option zu prüfen wäre, Elektronisches Monitoring verpflichtend einzuführen: Kameras und Sensoren an Bord der Kutter zeichnen dabei lückenlos auf, was bei Fang und Sortierung der Fische passiert. Eine glitschige Masse zuckt und zappelt in einer schmalen Rinne aus Edelstahl: Kabeljau und Seelachs. Olivgrün getigert die einen, blauschwarz glänzend die anderen. Frisch gefangen in der Nordsee, irgendwo zwischen Dänemark und Norwegen. An Bord der Kutters werden die Fische jetzt sortiert. Heringe an Bord eines Kutters (Christian Charisius / dpa picture-alliance) Videoüberwachung auf dem Kutter "Man sieht genau, was die Mannschaft macht; und man würde eben auch sehen, wenn sie einen untermaßigen Fisch unter den Tisch fallen lassen würden - was sie nicht dürfen, denn sie müssen die sammeln und auf die Quote anrechnen. Das sind die Bedingungen für diesen Versuch." Christopher Zimmermann beobachtet die Prozedur in einem Video am Thünen-Institut in Rostock. Der Rostocker Fischereibiologe hat mit einer Arbeitsgruppe ein hochseetaugliches Überwachungssystem weiter entwickelt, das ursprünglich aus Kanada stammt. Der Forscher deutet auf den Monitor: Die Bildqualität ist gut genug, um Seelachs von Kabeljau und anderen Fischen in der Rinne zu unterscheiden. "Man kann die auch in Echtzeit angucken; da die Datenmenge sehr, sehr groß ist und wir das alles digital speichern, bemühen wir uns, diese Datenmenge zu reduzieren; und deswegen nehmen wir keine 20 Bilder oder 25 Bilder pro Sekunde auf, sondern eben nur vier oder fünf Bilder." Und das reicht aus, um das Geschehen an Bord zu verfolgen. Datum und Uhrzeit sind digital im Video eingeklinkt. Der Informationswert gleicht einer Tachoscheibe aus dem Fahrtenschreiber eines LKW, nur ist alles sehr viel detailreicher, so etwa mit genauer Position des Schiffes, die über GPS ermittelt wird. Festplatten in versiegelten Schränken Gespeichert wird das Ganze auf stoßfesten Datenträgern - ideal für die Arbeit auf Hoher See. Und auch ideal für den späteren Austausch. Denn die Festplatten stecken in einem versiegelten Schrank. Nur die Fischereiaufsicht hätte darauf Zugriff, betont Projektleiter Daniel Oesterwind. "Der Fischereiinspektor geht auf das Schiff, persönlich, muss dann dieses System öffnen, kann sich dann eine Festplatte herausnehmen, muss dann eine neue Festplatte einbauen; und kann dann mit dieser Festplatte direkt zur Kontrollbehörde fahren und diese Daten dann dort über das Softwaresystem, das Analysesystem auswerten." So also könnte die Fischereiaufsicht künftig die Fangfahrten kontrollieren. Da in den Videos beim Sortieren der Fische nie das Gesicht eines Fischers zu erkennen ist, sondern nur Rumpf und Hände, seien auch Belange des Datenschutzes gewahrt, argumentiert Zimmermann. Wunsch nach gleichen Bedingungen für alle Dennoch gibt es Vorbehalte - sowohl bei Fischern, also auch in den Ministerien diverser Mitgliedsländer. So zuletzt vor allem in Dänemark. Und dies, obwohl die Dänen anfangs noch zu den Initiatoren des Projektes zählten, gemeinsam mit Schweden, Deutschen und Schotten. "Inzwischen gibt es da wieder Änderungen, die gesamte Fischerei ist aus dem Landwirtschaftsministerium in Dänemark herausgelöst worden, gehört jetzt zum Außenministerium; und wir sind sehr gespannt, ob das nun einen Einfluss auf die europaweite Einführung elektronischer Monitoringsysteme hat." Christopher Zimmermann betont, dass der Widerstand bei dänischen Politikern und Beamten zum Teil größer sei als bei dänischen Fischern, von denen viele das Elektronischen Monitoring mittlerweile begrüßen würden - vorausgesetzt, es gälten gleiche Regeln für alle. Nur durch eine effiziente Überwachung - so das Argument - ließen sich die Jungfische besser schützen. Und damit auch der Fang von morgen. "Und es gibt inzwischen auch eine zunehmende Anzahl von Fischern, die unglücklich darüber sind, dass die Discard-Raten steigen. Da kommt dann immer das Argument: Wenn die anderen das machen, die Schweden und Dänen das machen, müssen wir unter Umständen das auch machen; auch die wünschen sich, dass diese gleichen Bedingungen wieder hergestellt werden; und das kann man durch elektronisches Monitoring machen." Mittlerweile häufen sich Meldungen, wonach Jungdorsche vermehrt auch in den Heringsnetzen der Ostseefischer landen. Zwar nur einige Hundert Kilo auf Dutzende Tonnen Hering - aber auch das würde sich läppern, argumentiert Zimmermann. "Die Fischerei hat es jetzt in der Hand" Der Forscher appelliert, in diesem Jahr mit dem Heringsfang etwas zu warten, bis die Jungdorsche fortgezogen sind. Oder einfach die Heringe dort zu fangen, wo ohnehin nur wenig Dorsche unterwegs sind. Und auch die Dorschfischer selbst könnten durch Wahl von Fangplatz und Fangzeit weitgehend vermeiden, dass übermäßig viele Jungfische in ihren Netzen zappeln: "Die Stärke des 2016er Jahrgangs ist ausreichend, um den Bestand bis Anfang 2019 zu erholen; aber eben konditional: Unter der Bedingung, dass er nicht vorzeitig gefischt wird und nicht illegal über Bord geschmissen wird. Und da arbeiten wir jetzt sowohl mit den Kontrollbehörden als auch mit der Fischerei, die das natürlich auch sieht, intensiv zusammen, um einfach erst einmal das Bewusstsein zu schaffen: Die Fischerei hat es jetzt in der Hand, ob sie ab 2019 für möglicherweise viele Jahre wieder aus dem Vollen schöpfen kann; oder ob sie die Fische jetzt fangen, bevor sie sie vernünftig anlanden können." Die "Walter Herwig" ist inzwischen an der Nordspitze von Rügen vorbei gezogen, schemenhaft ist jetzt im Süden die Halbinsel Hiddensee zu erkennen, mit dem markanten rot-weißen Leuchtturm auf dem Dornbusch. Daniel Stepputtis ist zufrieden mit der Ausbeute seines Probefanges. Er will die Altersstruktur der Dorsche hier vor Rügen auswerten. "Also, für den Bestand ist es enorm wichtig, dass man nicht nur junge Tiere hat; denn die jungen Tieren können noch nicht zur Nachwuchsproduktion so gut beitragen wie die größeren Tiere; also ein großes, erwachsenes Tier hat mehrere Millionen Eier, mehrere Kilo Eier, die es produzieren kann in einer Saison; und diese Eier sind auch besonders energiereich, haben also größere Überlebenschancen für die Larven; das kann man schön sehen, dass wir halt verschiedene Größenklassen haben, die sich da durchziehen."
Von Lutz Reidt
Viele Fischbestände in Nord- und Ostsee haben sich in den vergangenen Jahren erholt. Der Trend scheint jedoch nicht von Dauer zu sein. Die EU-Fischereireform könnte scheitern, weil immer noch zu viele Jungfische beim Fang auf Hoher See wieder über Bord gehen. Videoüberwachung könnte Abhilfe schaffen.
"2018-01-04T18:40:00+01:00"
"2020-01-27T17:33:23.127000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-fischereireform-zu-viele-jungfische-im-netz-100.html
91,090
Spurensuche im Erbgut
2008 entdeckten Archäologen bei einer Ausgrabung in der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge einen rund 40.000 Jahre alten Fingerknochen (dpa/picture alliance/B. Viola) Alle heute lebenden Menschen gehören zur Art Homo sapiens. Noch vor 40.000 Jahren gab es mit den Neandertalern eine zweite Menschenart, zudem existierte damals mit den Denisova-Menschen in Sibirien noch eine weitere Gruppe. Zwischen allen dreien, das ist bereits bekannt, war es zu Vermischungen gekommen. Spuren dieser Liaisons lassen sich heute noch im menschlichen Erbgut nachweisen. Nach solchen Spuren sucht Sharon Browning von der Universität von Washington in Seattle: "Wir suchen im Erbgut heutiger Menschen nach Bereichen, die das Resultat der Vermischung mit anderen, heute ausgestorben Gruppen sind, auch wenn wir deren Erbgut nicht kennen. Von den Neandertalern und Denisova-Menschen haben wir das Erbgut vorliegen, aber vielleicht gab es ja auch noch andere Vermischungen, von denen wir noch nichts wissen." Größte Vermischungen mit Menschen aus Asien und Ozeanien Bisher konnten Genetiker solche Vermischungsspuren nur finden, wenn sie alle drei menschlichen Genome – das von Homo sapiens, Neandertaler und Denisova- Mensch – übereinanderlegten und miteinander verglichen. Mithilfe dieser Methode konnten Forscher bereits belegen, dass heute lebende Menschen in Asien und Ozeanien die größten Vermischungen mit den ausgestorbenen Menschengruppen zeigten. Bei Bewohnern Papua-Neuguineas etwa liegt der Denisova-Anteil bei rund fünf Prozent. Die Denisova-Menschen aus Sibirien muss es also irgendwie bis nach Ozeanien verschlagen haben. Der Nachteil dieser direkten Vergleichsmethode ist, so die Theorie, dass man nur etwas finden kann, was man schon kennt. Viele Spuren findet man auf diese Weise aber gar nicht. Die Biostatistikerin wollte einen Schritt weitergehen und alle Vermischungen finden, unabhängig davon, ob klar ist, woher diese stammen. "Wir vergleichen dann das Erbgut vieler Populationen miteinander und suchen nach Unterschieden an bestimmten Stellen. Finden wir solche Unterschiede, könnten diese das Resultat einer Vermischung unserer Vorfahren mit einer archaischen Menschengruppe sein." Entwicklungsgeschichte der Menschheit komplexer als vermutet Für ihre Studie nahm die US-Forscherin die Erbgutsequenzen von mehr als 5.600 heute lebenden Menschen und suchte nach derartigen Unterschieden. "Wenn wir solche Genombereiche finden, die von einer Vermischung stammen, dann vergleichen wir sie anschließend mit dem Neandertaler- oder Denisovan-Genom und schauen, ob das zusammenpasst." Hier folgt sie dann wieder der bisherigen Methode, dem direkten Abgleich. Passen die Erbgutbereiche zusammen, ist klar, woher sie stammen. Theoretisch sei es auch möglich, dass sie auf Vermischungen von anderen, bisher unbekannten Gruppen stößt. Aber ohne Referenz-Genom könne man das nicht benennen. Sharon Browning konzentrierte sich daher auf die Denisova-Spuren und wurde stutzig. "Als wir uns die Bereiche der Vermischungen bei Menschen aus Ostasien angeschaut haben, bemerkten wir, dass es zwei verschiedene Einkreuzungen waren. Die Bereiche sind nicht groß, das liegt in der Größenordnung von 0,2 Prozent, aber es reicht aus, um die beiden Gruppen zu unterscheiden." Demnach haben die Denisova-Menschen zweimal unabhängig voneinander ihre Spuren im Erbgut unserer Vorfahren hinterlassen. Und die Gruppe aus dem Altaigebirge war genetisch betrachtet vielfältiger als bisher bekannt. Vermutlich haben sich die Ahnen der Menschen aus Ozeanien mit einer südlichen Gruppe von Denisova-Menschen gemischt, während die Vorfahren der Ostasiaten mit einer nördlichen Denisova-Gruppe gemeinsamen Nachwuchs bekommen haben. Damit zeigt diese Studie einmal mehr, dass die Entwicklungsgeschichte der Menschheit viel komplexer war als bisher angenommen.
Von Michael Stang
Ein 40.000 Jahre alter Fingerknochen sorgte vor rund zehn Jahren für Aufsehen: Eine genetische Analyse zeigte, dass er zu einer ausgestorbenen Menschenform gehörte. Forscher haben nun herausgefunden, dass diese sogenannten Denisova-Menschen mit unseren Vorfahren Nachwuchs bekommen haben.
"2018-03-16T16:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:47.896000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/menschheitsentwicklung-spurensuche-im-erbgut-100.html
91,091
Überleben unter Eis
Die Antarktis: doch kein so toter Kontinent, wie lange gedacht (imago / blickwinkel) Ross-Schelfeis, Dezember 2012. Der Lärm der zwölf Raupentraktoren zerreißt die Stille. Seit Tagen sind wieder die schweren Maschinen unterwegs, folgen der mit Wimpeln abgesteckten Route durch diese endlose, weiße Welt. Nur ein feiner, blassblauer Streifen am Horizont trennt Schnee und Wolken. Ihr Ziel, erzählt Chefwissenschaftler Ross Powell, ist Lake Whillans. "Lake Whillans is one of the unique lakes in the world." Die Raupentraktoren ziehen Dutzende massiver Schlitten, die beladen sind mit 500 Tonnen Ausrüstung: Heißwasserbohrgerät, mobile Laboratorien, eine Werkstatt, Zelte, Generatoren. "Lake Whillans liegt unter 800 Metern antarktischem Eis ganz nah am Südpol." Kein Kontinent hat sich so sehr verändert Antarktika - der Name beschwört Bilder herauf von einem seit Ewigkeiten gefrorenem Land. Doch dieses Bild trügt: Kein anderer Kontinent hat sich so tiefgreifend verändert. Seit 360 Millionen Jahren umkreist Antarktika den Pol, liegt mal etwas nördlich, mal genau darüber. Lange Zeit übertraf der Kohlendioxidgehalt moderne Werte um ein Vielfaches. Wie eine Decke hielt die Atmosphäre den Planeten warm. Und so gediehen selbst am Pol Wälder und Sümpfe, durch die schon die Ahnen der Säugetiere streiften. Antarktika war damals Teil eines sehr viel größeren Kontinents, der zu zerbrechen begann. Erst drifteten Afrika und Indien nach Norden, später Australien. Neue Gebirge stiegen auf: der Himalaya, die Alpen, die Anden. Die frischen Steine kurbelten die Verwitterung an, die mehr und mehr Kohlendioxid aus der Luft sog. Der Treibhauseffekt ließ nach. Ein Eisberg im Rossmeer (imago) Vor 40 Millionen Jahren bildeten sich auf Antarktika die ersten Gletscher. Als vor 23 Millionen Jahren die Verbindung der Antarktis mit Südamerika riss, rauschte ein Ring aus kaltem Meerwasser um das "Land über dem Pol": Das Eis siegte. Doch unter dem Eis blieb eine Landschaft aus Seen und Flüssen erhalten. Auf dem Weiß der glatten Schneeebene Lake Whillans, Januar 2013. Die Mannschaft hat das Camp aufgebaut. Auf dem Weiß der glatten Schneeebene über dem See wirkt es wie Kinderspielzeug: leuchtend orangefarbene Zelte in der einen Ecke, in der anderen die blauen Generatoren und Werkstätten, - etwas abseits - der gelbe Labortrakt und dann der große, rote Bohrungsbereich. Die Bohrtechnik für dieses WISSARD genannte Projekt ist extra entwickelt worden, erzählt ExpeditionsleiterJohn Priscu von der Montana State University in Bozeman: "Wir setzten Heißwasserbohrungen ein: Wir schmolzen Schnee von der Oberfläche, erhitzten ihn auf 90 Grad, leiteten das heiße Bohrwasser über mikrobielle Filter und sterilisierten es anschließend mit UV-Licht. Alles, um sicherzustellen, dass wir weder den See noch unsere Proben kontaminieren." "Wir interessieren uns für den Lebensraum unter dem Eis. Leben, das vielleicht seit Hunderttausenden von Jahren von der Außenwelt isoliert ist." Seen unter dem Eis Satellitenbilder, Radar und seismische Kartierungen hatten Ende des 20. Jahrhunderts bewiesen, dass es unter dem Eis tatsächlich Seen gab - und die Idee, darin nach Leben zu suchen, war zu verlockend. "Das Seewasser entsteht in erster Linie direkt unter dem mächtigen Eispanzer: Der staut den Wärmefluss aus dem Erdkörper wie eine Decke, und das Eis am Kontakt zum Boden beginnt zu schmelzen." Wie auf jedem anderen Kontinent auch, sammelt sich das Wasser zu Bächen und Flüssen, strömt in Richtung Meer und bildet in Senken Seen, erklärt Ross Powell von der Northern Illinois University in Dekalb: "Direkt auf dem Felsgrund sitzt unter dem Eisschild also ein komplexes, aktives Flusssystem. Lake Whillans ist Teil davon. In ihm sammelt sich langsam über die Jahre hinweg Wasser an, bis irgendwann der Druck zu hoch wird, das Wasser ausbricht und flussabwärts strömt." Im Januar 2013 ist der Wasserstand in Lake Whillans niedrig: "Lake Whillans war gerade erst vor ein paar Jahren abgeflossen, so dass das Eis nur etwa zwei Meter über dem Sediment schwamm." Bevor der Winter kommt Als sich die Bohrung dem See nähert, bereitet die Lenkung Probleme. Die Nerven des WISSARD-Teams - zum Zerreißen gespannt. Nichts darf schief gehen: "Wir hatten eine Dead-line: Wir mussten das Camp abgebaut haben und raus sein, ehe der Winter kam." Im Winter sinken die Temperaturen für Menschen ins Unerträgliche ab. So weit im Landesinneren überleben höchstens winzige Fadenwürmer und Springschwänze - und die Flechten, die die Nunatak überziehen, die Spitzen von alpenhohen Gebirgsketten, die aus Tausenden Metern Eis herausragen. Selbst an den Küsten, wo im Sommer Pinguine und Robben ihre Jungen groß ziehen, bleiben dann nur die Kaiserpinguine zurück. Nicht weit von der Antarktische Halbinsel, die wie ein Finger in Richtung Südamerika weist, liegen zwei Inseln, die unter Paläontologen berühmt sind: Vega- und Seymour Island. Obwohl nur ein enger Meeresarm die beiden trennt, könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Während Vega Island von Eiskappen und Gletschern beherrscht wird, fegt auf Seymour-Island ein scharfer Wind den Schnee von den Felsen. Beide Inseln sind fossilreich: Sie erzählen von der Zeit, als Entenschnabelsaurier dort lebten und Beuteltiere, und von einem warmen Meer, in dem Plesiosaurier Ammoniten jagten. Sie erzählen auch, wie sich das Klima allmählich verschlechterte, von einer Totengemeinschaft - und den Überlebenden. Skelett eines Plesiosauriers (dpa /picture alliance / Georg Oleschinski/Science Advances) Eine Nadel im Heuhaufen "Wir suchen auf den Inseln nach jeder Art von Fossilien, doch am meisten interessieren uns die von Landwirbeltieren, die am Ende der Saurier- und zu Beginn der Säugetierära gelebt haben. Die Steine, in denen wir graben, wurden zum größten Teil im Meer abgelagert. Ein paar entstanden auch in der Gezeitenzone oder Flussmündungen. Nur die Antarktische Halbinsel war damals festes Land, und von dort schleppten die Flüsse die Knochen von Landwirbeltieren an, deren Fossilien wir suchen wie die Nadel im Heuhaufen." Wie seine Kollegen an Lake Whillans fahndet auch Matthew Lamanna nach Leben unter dem Eis. Allerdings interessieren den Paläontologen vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh die versteinerten Zeugnisse dieser früheren Welt: eines Ökosystems, das sonst nirgends auf der Erde existiert. "Der Kontinent war während der Saurierzeit ein vollkommen anderer Ort, obwohl er ungefähr dieselbe geographische Position innehatte wie heute." Fossile Pollen, Blätter und Hölzer bezeugen Wälder, in denen Nadelbäume wuchsen, Scheinbuchen und Gingkos, Moose, Farne und Schachtelhalme. Es muss regnerisch gewesen sein, und ein Binnenmeer sorgte dafür, dass das Klima auch im Landesinneren mild war. "Am Ende der Saurierzeit vor 70 Millionen Jahren waren die Durchschnittstemperaturen in der Antarktis wohl mit denen in Seattle oder Vancouver vergleichbar." Warm und dunkel Unvorstellbar: Vancouver oder Seattle, die monatelang in der Dunkelheit der polaren Winternacht versänken. "Heute gibt es nirgends auf der Welt einen warmen Ort, an dem gleichzeitig so lange Dunkelheit herrscht." Und doch zogen dort Titanosaurier durchs Land, langhalsige Pflanzenfresser, die zu den Giganten der Kreidezeit zählten. "Um Pflanzenfresser von einer solchen Körpermasse zu ernähren, müssen viele Pflanzen wachsen." Auch wenn es damals genauso gut große Tierwanderungen gegeben haben dürfte wie heute - ein Titanosaurier hätte sich des Winters wohl nicht auf die lange Reise nach Südamerika in hellere Gefilde aufmachen können. Schon wie Pflanzen in warmen Polargebieten überleben, ist ein Rätsel, erklärt Ross MacPhee vom American Museum of Natural History in New York. Ein halbes Jahr ohne Photosynthese, ohne Primärproduktion - und dann ein halbes Jahr in der immer hellen Mitternachtssonne, ohne die Photosynthese-Pause in der Nacht. "Was die Pflanzen angeht, können wir vielleicht von der Arktis heute lernen. Dort machen sie am Ende der Wachstumsperiode sozusagen zu, und obwohl es extrem kalt wird, können sie aufgrund ihrer Anpassungen überleben und warten bis es wieder warm wird. Dann treiben sie aus und das Leben geht weiter." Winterschlaf, um die lange Nacht zu überstehen Auch bei den Tieren haben Paläontologen einen Ansatzpunkt gefunden: "In einigen Knochen Dinosaurier vom Pol sehen wir Hinweise darauf, dass sie ihr Wachstum einstellten. Wir vermuten, dass das jährlich passierte." Sie könnten Winterschlaf gehalten haben, um die lange Nacht zu überstehen. Es ist Hochsommer, doch der Nebel hüllt Seymour-Island wieder einmal in nasskalte Watte. Während im Winter die scharfen Winde die gefühlten Temperaturen auf −60 °C absinken lassen, steigt das Thermometer nun auf +1 °C. Der Permafrost beginnt zu tauen, und der Boden verwandelt sich in eine Schlammwüste, die das Laufen mühsam macht. Doch das hält die Paläontologen nicht ab, denn Seymour Island gilt als Rosetta-Stein für die Erdgeschichte. Unter anderem zieht sich eine seltsame Lage quer über die Insel durch den Fels: Sie scheint nur aus toten Fischen zu bestehen und abgestorbenen Muscheln. "Seymore Island ist einer der wenigen Plätze auf der Welt, wo wir eine durchgehende Sequenz von fossilführenden Schichten haben, die vom Ende der Saurierzeit in die der Säugetiere reicht. Datieren konnten wir sie anhand einer Iridium-Anomalie." Unmengen an toten Fischen Matthew Lamanna spricht nicht von irgendeiner Iridium-Anomalie, sondern der Iridium-Anomalie, die vom Chixculub-Einschlag eines Asteroiden vor 66 Millionen Jahren stammt. "Diese Lage, die aus toten Fischen, aus Unmengen an toten Fischen besteht, liegt direkt oberhalb dieser Iridiumanomalie. Einige Paläontologen haben deshalb darüber spekuliert, dass die Tiere in dieser Lage durch die Fernfolgen des Einschlags im Golf von Mexiko starben. Ich glaube nicht, dass die direkten Konsequenzen des Einschlags über so große Distanz hinweg tödlich waren, sondern dass sie an den global wirksamen Folgen gestorben sind. Wir könnten hier die Opfer des Massenaussterbens am Ende der Kreidezeit vor uns haben." Vor 66 Millionen Jahren lösten der Staub der zertrümmerten Gesteinsmassen und der Ruß der globalen Flächenbrände einen planetaren Winter aus: In einer Welt, die kein Eis kannte, fielen die Temperaturen stark ab, monatelang wurde es nicht hell. Am Ende fegte ein Massenaussterben die Dinosaurier von der Erde und viele andere Tiere, darunter auch fast alle Vogellinien. Bis auf eine. Auf dem benachbarten Vega-Island gibt es Fossilien, die die Geschichte weitererzählen. Es ist die Geschichte der Überlebenden - der Vögel. "Wir wissen nicht, warum die Ahnen der modernen Vögel das Massenaussterben überlebt haben, während alle anderen hinweggerafft wurden. Da bietet uns Vega einmalige Einblicke, denn von dieser antarktischen Insel stammen die besten Fossilien, von denen wir wissen, dass sie mit den modernen Vögeln heute verwandt sind." Stammen die modernen Vögel aus der Antarktis? Es geht um Vegavis iaai, erzählt Julia Clarke von der University of Texas in Austin. Ihr Spezialgebiet ist die Evolution der Vögel. "Die Geschichte dieses Fossils reicht 30 Jahre zurück. Argentinische Paläontologen haben Fossilien eines Vogels auf Vega entdeckt. Ich habe die Fossilien untersucht und herausgefunden, dass es eine neue Art ist, eben Vegavis iaai." Vegavis iaai fliegt quakend durch einen Küstenwald von Vega Island (Nicole Fuller/Sayo Art for UT Austin) Inzwischen ist klar: Vegavis ist der älteste bekannte Vertreter der modernen Vögel - und er lebte eindeutig vor der Iridiumlage. Damit könnte er Erdgeschichte schreiben. "Da wir keinen fossilen Vogel von irgendeinem anderen Ort der Welt kennen, der das Ende der Kreidezeit überlebt hätte, ergibt sich die faszinierende Möglichkeit - und ich zögere noch, das auszusprechen -, dass die modernen Vögel aus der Antarktis stammen." Die Hypothese: Die Ahnen der modernen Vögel überlebten in der Antarktis, weil sie bereits an die lange Nacht und das kühle Klima gewöhnt waren, das nach dem Einschlag herrschte, erläutert Matthew Lamanna: "Dass ausgerechnet diese damals so "unbedeutende" Vogelgruppe von Vega-Island überlebt hat, ist möglicherweise kein Zufall, sondern sie waren bestens gerüstet fürs Überleben." Während die Sommersonne Vega- und Seymour-Island wärmt, sind auf dem antarktischen Eisschild in der Feldsaison 2012/2013 drei Teams unterwegs, um den Beweis für Überlebende unter dem Eis zu erbringen. Neben dem WISSARD-Team beteiligen sich Briten an dem Wettlauf und Russen. Das Ziel der Russen ist Lake Vostok, sie stehen kurz vor der Probennahme. Die Briten wollen in den Lake Ellsworth vordringen. Doch schon Weihnachten 2012 erreicht die Amerikaner die Nachricht, dass ihre britischen Kollegen wegen technischer Probleme aufgegeben haben. Durchbruch in den See Lake Whillans, 27. Januar 2013. Auf dem Computerschirm im Kontrollcontainer schnellt eine Linie empor: Der Wasserstand im Bohrloch ist um 28 Meter gestiegen. Der See ist erreicht: Das unter Hochdruck stehende Wasser nach oben geschossen. Seine Temperatur: −0.5 °C. Eine Kamera wird herabgelassen. Im Kontrollcontainer drängen sich die Mitglieder des Whillans-Teams. Die Kamera setzt auf dem Seeboden auf. Am Tag darauf. Alle tragen weiße, sterile Anzüge, durch die die Polarkleidung schimmert. Die erste Probe soll gezogen werden. Als die beiden Arbeiter den baseballschlägerlangen Behälter aus dem Bohrloch ziehen, ist die Spannung mit den Händen zu greifen. Hat der Zylinder auf der 800 Meter langen Reise zur Oberfläche dicht gehalten? Im Labor dann: die ersten Untersuchungen. Die im Moment wichtigste Frage: Hat sich die Mühe gelohnt? Gibt es Leben in dem See unter dem Eis? Jubel beim Blick durch das Mikroskop: Zellen leuchten auf. Zellen in unterschiedlichsten Formen. Sie stammen also von vielen unterschiedlichen Mikroorganismen. Erste Tests beweisen: Sie leben! Nein, John Priscu ist nicht überrascht, Leben unter dem Eis zu finden. Damit hat er gerechnet. "Was mich überrascht hat, ist die Vielfalt: Es waren allein mehr als 4000 Bakterienarten - alle an die Kälte angepasst." Nur ein Teil stammt aus dem Eis Die Analysen in den Universitätslaboren werden später zeigen, dass nur ein Teil der Mikroorganismen aus dem Eis stammen kann: Viele sind marinen Ursprungs. "Unsere geochemischen Daten belegen einen marinen Einfluss, dass also das Meer bis hierher vordringt, wenn das Klima wärmer ist. Das Seewasser selbst ist Süßwasser, nur ganz leicht salzig, doch im Sediment ist der marine Einfluss deutlich. Und darin finden wir auch große Mengen organischen Kohlenstoffs, den wir einer alten marinen Phase zuschreiben." Wie in der Tiefsee dient auch in Lake Whillans die geochemische Energie der Primärproduktion von Biomasse: "Dieser See hat seit mehr als 100.000 Jahren kein Tageslicht mehr gesehen, und die Bakterien überleben durch Geochemie, in dem sie Energie und Nährstoffe aus den Steinen am Grund des Eispanzers ziehen. Ich sage gerne, dass sie Steine essen, um zu leben." Winzige Methanspuren im Wasser verraten ein komplexes Zusammenspiel, das im Sediment darunter abläuft. Das Methan entsteht, weil Mikroorganismen unter dem See die organische Substanz zersetzen, die das Meer im Sediment zurückgelassen hat. Das Methan steigt auf und wird zum "Futter" für die Bakterien, die im See leben, und die treiben das nächste Ökosystem an, beschreibt John Priscu: "Um zu überleben, bilden die Mikroorganismen ein Konsortium, in dem das Abfallprodukt des einen die Lebensgrundlage des anderen ist. Solche Beziehungen finden wir oft in extremen Ökosystemen, wo die Organismen nur durch gegenseitiges Geben und Nehmen überleben können." "Es ist wirklich ein einzigartiges Ökosystem, das ich mit den Black Smokern in der Tiefsee vergleichen möchte. Dort hängt das Leben vom Schwefelwasserstoff ab, der an hydrothermalen Quellen aus dem Boden kommt - hier ist es das aus der Erde aufsteigende Methan." Etwa so groß wie Frankreich Die Analysen verraten, dass in Lake Whillans viel organisches Material entsteht. Alle paar Jahre wird es in Richtung Meer ausgespült - samt aller Nährstoffe. Könnte es also sein, dass das See- und Flusssystem unter dem westantarktischen Eisschild eine andere finstere Welt düngt: die unter dem Ross-Schelfeis, einer schwimmenden Eisplatte, in etwa so groß wie Frankreich? Zwei Jahre nach dem großen Erfolg war das WISSARD-Team wieder auf dem Eis. Diesmal nicht über einem subglazialen See, sondern dort, wo der Whillans-Eisstrom unter 750 Metern Eis ins Meer mündet: auf dem Ross-Schelfeis. Die Bohrung läuft problemlos. Am 8. Januar 2015 ist es so weit: Eine Kamera überträgt erstmals Bilder aus der Gründungszone des Schelfeises, zeigt grauen Schlamm, wild durchsetzt mit Steinen - und etwas, mit dem niemand gerechnet hätte. "Als wir die Kamera hinabgelassen haben, hat es mich umgeworfen: Dort unten schwammen überall Fische herum, wir sahen Flohkrebse und Quallen. Wir waren 1200 Kilometer vom Rand des Schelfeises entfernt, und trotzdem lebt dort eine erstaunliche Vielzahl an Tieren - Tieren, die wohl niemals Licht gesehen haben." "Wir schlossen aus unseren Daten, dass die organischen Kohlenstoffe, die von den Mikroorganismen in Lake Whillans und den anderen Seen unter dem Eis produziert werden, die Bakterien unter dem Schelfeis ernähren, und die wiederum bilden die Nahrungsgrundlage für Flohkrebse, Quallen und Fische." Ein Kreis schließt sich: Was das Meer in wärmeren Zeiten an Nährstoffen zurückgelassen hat nährt heute noch Leben unter dem schwimmenden Eis, mehr als tausend Kilometer vom offenen Ozean entfernt. Längst sind nicht alle Fragen beantwortet. Brauchen die Ökosysteme das Meer? Oder reicht ihnen die chemische Energie der Steine? Diese Frage könnte beantwortet werden, wenn John Priscu und sein Team in einen anderen verborgenen See bohren: in Lake Mercer weiter im Landesinneren, am Abhang des Transantarktischen Gebirges. Dorthin ist das Meer seit Ewigkeiten nicht mehr vorgedrungen. In einem Jahr rechnen die Forscher mit Ergebnissen. Antarktika: Überleben unter dem Eis Von Dagmar RöhrlichEs sprachen: Nicole Engeln, Hendrik Stickan, Anne Esser und Tom Jacobs Technik: Sylvia Kraus Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Christiane KnollEine Produktion des Deutschlandfunk 2018
Von Dagmar Röhrlich
Vor 38 Millionen Jahren schoben sich die ersten Gletscher über einst tropische Wälder und verwandelten die Antarktis in eine Eiswüste: Ein toter Kontinent am Ende der Welt. Doch dann bohrten Forscher auf der Suche nach Überlebenden durch kilometerdickes Eis – und entdeckten eine fremde, einzigartige Welt.
"2018-01-01T16:30:00+01:00"
"2020-01-27T17:32:55.725000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/antarktika-ueberleben-unter-eis-100.html
91,092
Russland und der Poker um die Arktis
"Lenin" steht in großen kyrillischen Buchstaben auf dem Schiffsrumpf, der im Hafen vor Anker liegt. Die "Lenin" war der erste Atomeisbrecher der Welt: ein schwimmendes Kernkraftwerk. Heute ist das Museumsschiff in Murmansk eine Touristenattraktion. In dem ehemaligen Schaltraum können die Besucher Knöpfe drücken und Hebel ziehen. "Der Reaktor wird hochgefahren","Halbe Kraft", informiert die Lautsprecherstimme. Im Jahr 1957 lief die "Lenin" von Stapel, berichtet Museumsführer Artur. Sie hat die Arktis 30 Jahre lang für die Handels- und Kriegsmarine der UdSSR schiffbar gemacht. "Auf der ganzen Welt gab es nichts Vergleichbares. Die USA und Deutschland haben ihre ersten Eisbrecher erst in den 60er-Jahren in Betrieb genommen. Sie liefen mit Dieselkraftstoff und erwiesen sich schnell als unwirtschaftlich. In der Arktis hat die Atomkraft viele Vorteile – vor allem in ökologischer Hinsicht. Ein Diesel-Eisbrecher verbraucht jeden Tag etwa 100.000 Liter – das ist eine riesige Menge, da gelangt viel CO2 in die Atmosphäre. Atomeisbrecher arbeiten hingegen autonom, und sie müssen nicht jeden Monat zum Tanken in den Hafen zurück." Beim Bau von Eisbrechern ist Russland auch heute noch führend. Ab dem nächsten Jahr soll die neue Eisbrecher-Generation vom Stapel laufen. Für die Hafenstadt Murmansk ist das eine gute Nachricht: Sie soll ein wichtiger Stützpunkt der erweiterten Flotte werden. Zaghaft kündigt sich ein Investitionsschub an. Inmitten von baufällig wirkenden Industriehallen auf dem Hafengelände wird das Hauptgebäude. Und in der Innenstadt ermöglicht ein neu eingerichtetes Informationszentrum der interessierten Öffentlichkeit einen Blick in die Zukunft. Hier soll der Schifffahrts-Experte Sergej Balmásov für einen neuen Seeweg quer durch die Arktis werben - die legendäre Nordostpassage. "Die Nordostpassage beginnt im Osten an der Beringstraße, führt an der Insel Nóvaja Semljá vorbei, und dann über die Kara-Straße bis nach Murmansk. Damit umfasst die Strecke – je nach Messung - zwischen 3.000 und 3.500 Seemeilen. In der Sommersaison ist sie für etwa viereinhalb Monate schiffbar. Während der Winterperiode dagegen bleibt der östliche Teil geschlossen, weil die Bedingungen dann zu schwierig sind." Auf der riesigen Landkarte, die in Balmasovs Büro aushängt, ist der Vorteil für den Containerverkehr zwischen Europa und Asien augenfällig: Im Vergleich zur Route durch den Suezkanal ist sie um fast ein Drittel kürzer. Das spart Zeit und Treibstoff – so könnte man meinen. Doch Sergej Balmásov zeichnet ein anderes Bild: "Im Jahr 2014 ist der Transit praktisch zum Erliegen gekommen – und das hat seine Gründe. Die Jahre vorher sind zwar etwas besser gelaufen: Im Jahr 2012 haben 46 Schiffe die Nordostpassage gebucht, im Jahr 2013 waren es sogar 71. Den Suez-Kanal aber passieren jedes Jahr etwa 18.000 Schiffe – verglichen damit geht der internationale Warenverkehr auf unserer Route gegen Null. Von Konkurrenzfähigkeit kann also bislang keine Rede sein." Plötzliche Wetterumschwünge, schnelle Eisbildung und driftende Eisberge: Obwohl die Polkappen schmelzen, ist das arktische Klima oft immer noch unberechenbar, sagt Balmásov. Um die Risiken wenigstens ansatzweise zu beherrschen, müsste Russland viel investieren, denn in den abgelegenen Küstenregionen des Ostens gibt es zu wenige Häfen und Seenotrettungsstationen. Eine Standardroute für den internationalen Warenverkehr, wird die Nordostpassage so schnell wohl nicht werden. Denn ohne Eskorte durch einen Eisbrecher geht es bei schlechtem Wetter bis heute nicht, sagt Balmasov - und von denen gibt es immer noch zu wenige. "Öl und Bodenschätze allein werden die Investitionen nicht tragen können, die notwendig sind, um die Nordostpassage nach internationalen Standards auszubauen. Für den Warenverkehr bräuchte Russland deutlich mehr Eisbrecher: Diejenigen, die sich zurzeit im Bau befinden, sind bereits für die Rohstoffförderung eingeplant. Dass eine Reederei einfach ein Schiff losschickt und dann sagt: "Wir sind jetzt im Eismeer unterwegs und brauchen einen Eisbrecher!" – das geht noch nicht!"
Von Andrea Rehmsmeier
Russland hat große Pläne in der Akrktis und hat deswegen einen Antrag bei den Vereinten Nationen gestellt, mit dem die Russische Föderation einen Besitzanspruch auf weite Teile des Nordpolarmeers erhebt. Russlands große Vision: Die Nordostpassage als Standardroute für den internationalen Warenverkehr zu etablieren. Dazu soll eine neue Eisbrechergeneration gebaut werden.
"2016-02-05T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:19.192000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nordostpassage-russland-und-der-poker-um-die-arktis-100.html
91,093
"Ein Zeichen der Hoffnung"
Tom Koengis ist menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion (dpa / Fredrik von Erichsen) Die Auszeichnug für Santos sei gerade jetzt wichtig, weil dieser nach dem gescheiterten Referendum über das Friedensabkommen angekündigt habe, weiter all seine Kräfte für den Frieden einzusetzen. Santos habe alles riskiert. Der Preis sei auch eine Mahnung an die Gegner des Friedensschlusses, nun einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Auch sie hätten nun die "Verpflichtung der Welt gegenüber, jetzt den Frieden so auszuverhandeln, dass er für alle tragbar ist". Entscheidend sei, dass bald ein Frieden zustande komme, der die Stabilität im Land sichere. Derzeit befinde sich die Guerilla in einer Hängepartie. Sie wisse nicht, wie die Zukunft sei und ob sie sich verteidigen müsse. Das Interview in voller Länge: Jasper Barenberg: Ursprünglich waren sich die Beobachter schon einmal relativ einig. Die Chancen stehen gut, dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr nach Kolumbien geht. Schließlich war es der Regierung gelungen, nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges Frieden mit der FARC-Guerilla zu schließen. Dann allerdings lehnten die Kolumbianer in einer Volksabstimmung den Friedensvertrag überraschend ab. Und dennoch erhält Kolumbiens Präsident Santos jetzt die bedeutende Auszeichnung. Am Telefon ist Tom Koenigs, der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Außerdem ist er Beauftragter der Bundesregierung für den Friedensprozess in Kolumbien. Schönen guten Tag, Herr Koenigs! Tom Koenigs: Guten Tag, Herr Barenberg. Barenberg: Herr Koenigs, als wir Sie vor einer guten Stunde angerufen haben, da haben Sie gesagt, Sie müssten sich jetzt erst mal setzen, so überrascht sind Sie doch von dieser Entscheidung. Warum? Koenigs: Es war ja zunächst vorige Woche gesagt worden, ja, das wäre möglich, dass der Nobelpreis nach Kolumbien geht. Aber der Rückschlag hat uns doch alle so getroffen, dass wir gedacht haben, nein, das wird das Komitee nicht wagen. Ich finde es jetzt wirklich ein Zeichen der Hoffnung und auch eine sehr mutige Entscheidung, dem Präsident Santos den Friedenspreis doch zu geben, in der Hoffnung, dass das, wofür er seine ganze Präsidentschaft, sein ganzes Prestige und auch sein ganzes Herz eingesetzt hat, nämlich einen verhandelten Frieden hinzukriegen von diesem mehr als 50jährigen Konflikt, dass das honoriert wird und auch alle die, die ihm geholfen haben. Das ist auch eine Mahnung an die, die jetzt mit Nein gestimmt haben, nun konstruktiv dazu beizutragen, dass der Frieden dauerhaft und unumkehrbar ist. "Das macht ihn preiswürdig" Barenberg: Es hatte ja schon einmal zwischen 1998 und 2001 so etwas wie eine erste Runde Friedensgespräche gegeben. Präsident Santos hat dann 2012 diesen zweiten umfassenden Friedensprozess auf den Weg gebracht. Sie haben gesagt, das ist natürlich auch eine persönliche Auszeichnung für ihn. Wie bedeutsam war die Entscheidung von Santos damals, das jetzt mit einem großen Versuch zu wagen? Koenigs: Es gibt umfangreiche Dokumentationen, wie eigentlich das zustande gekommen ist. Aber die zeigt doch sehr deutlich, dass derjenige, der der wirkliche Aktivist war und ständig auch dahinter her war, Santos ist, der auch viel eingesetzt hat, auch viel riskiert hat, den Einsatz auch noch mal erhöht hat durch die Unterschriftszeremonie. Ich finde, die Entscheidung ist deshalb auch wichtig, weil das erste, was Santos nach dem Verlust des Referendums, sehr knappen Verlust gesagt hat, ist: Ich werde alle meine Kräfte bis zum letzten Tag meiner Amtszeit für diesen Frieden einsetzen, und das ist ein verhandelter, nicht im Krieg ausgeschossener Frieden, und das macht ihn preiswürdig. Barenberg: Papst Franziskus hat ja auch gesagt, Santos hätte für den Frieden alles riskiert. Ist das tatsächlich so bemerkenswert, gerade wenn man die Geschichte der vorher gescheiterten Versuche und beispielsweise die Politik von einem der Vorgänger von Präsident Santos, Alvaro Uribe, in den Vergleich setzt? Koenigs: Ja, er hat alles riskiert und hat auch im Zweifelsfalle dazu gestanden. Ich war sehr erfreut, dass er in der schwierigsten Stunde - das war dieses Referendum - gesagt hat, wir bleiben dabei, wir wollen den Frieden, ich will mein Volk in diesen Frieden führen. Das ist auch, wie das Nobelpreiskomitee gesagt hat, ein Zeichen der Hoffnung, dass es klappt. Und für die, die mit Nein gestimmt haben, ist es eine Verpflichtung auch der Welt gegenüber, auch dem Nobelpreiskomitee gegenüber, jetzt wirklich den Frieden so auszuverhandeln, dass er für alle tragfähig ist. Auf Versöhnung setzen Barenberg: Wo wir bei den Gegnern und ihren Argumenten sind. Muss man im Rückblick nach dem gescheiterten Referendum jetzt doch sagen, es war ein Fehler, der FARC soweit entgegenzukommen? Koenigs: Ich glaube, ein verhandelter Frieden ist immer schwierig zu finden. Dass man nicht einen verhandelten Frieden ausmacht, wo dann die eine Seite ins Gefängnis geht, ist eigentlich, das weiß jeder, und dass alle da große Kompromisse eingehen, weiß auch jeder. Man hat nicht geglaubt, dass der Widerstand im Lande so groß ist. Man hat vielleicht auch unterschätzt, dass ein Monat Aufklärung über das, was im Friedensvertrag steht, zu kurz ist. Man hat sicher zu wenig die Bevölkerung beteiligt. Die Verhandlungen sind ja in Havanna passiert und unter einer großen Verschwiegenheit. Das alles hätte man besser machen können. Aber zweifellos ist der Wille zum Frieden ja in Kolumbien breit und diejenigen, die bisher noch nicht dabei sind, müssen jetzt sagen, ja wie kommen wir denn dazu, einen verhandelten Frieden hinzukriegen. Ich glaube, auf Versöhnung zu setzen, den Opfern die nötige Rolle zu geben, dass ihre Würde wiederhergestellt wird, ist der richtige Weg. Ob da nun der eine oder andere Satz oder die eine oder andere Vorschrift geändert wird, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass bald ein Frieden zustande kommt, der die Stabilität im Lande sichert. Denn Instabilität in den Nachbarländern haben wir genug! Barenberg: Ganz sicher! - Nun ist es so: Wenn ich Ihnen zuhöre, geht es jetzt vor allem ja darum, die Gegner in diesen Friedensprozess mit einzubeziehen, und die Gegner sagen nun vor allem, die Strafnachlässe, die vorgesehen waren für Guerilla-Kämpfer zum einen, und die Chance für ehemalige Guerilla-Kämpfer zum anderen, politische Ämter wahrzunehmen, das sind zwei Punkte, an denen sich die Gegner vor allem stören. Können Sie sich denn vorstellen, wie mit Blick darauf eine künftige Linie, ein Kompromiss möglich sein kann? Koenigs: Bei allen Verhandlungen ist ein Kompromiss möglich und wenn es einen Willen dazu gibt, dann gibt es dazu auch einen Weg. Ich glaube, man muss alle Beteiligten auffordern, hier konstruktiv zu arbeiten. Man kann immer Kompromisse machen. Auch das, was jetzt vorliegt, ist ja ein Kompromiss. Und man kann auf die eine oder andere Gruppe mehr oder minder zugehen. Eine Instabilität wäre Gift für den Frieden Eine Sache, die auch noch in der Luft schwebt, ist die kleinste Guerilla, die ELN, die bisher noch nicht am Verhandlungstisch ist. Vielleicht gibt es ja Gelegenheit, die auch noch dazu zu bringen und die Bevölkerung stärker zu beteiligen. Trotzdem ist Eile geboten, denn eine Instabilität, die sich entwickeln könnte, wäre natürlich auch Gift für den Frieden. Barenberg: Trauen Sie allen Beteiligten die Eile zu, wenn man bedenkt, dass Santos und Uribe, die beiden Kontrahenten sozusagen, sich ja in keiner Hinsicht einig gewesen zu sein schienen, was die Rahmenbedingungen und die Eckpunkte angeht? Koenigs: Nach der Kampagne muss man sich auch erst einmal ein bisschen beruhigen und ich glaube, wenn man konstruktiv da herangeht, dann ist das durchaus möglich. Die Vermittler, die bisher gearbeitet haben, allen voran die Regierung von Norwegen, sind ja nun auch dabei und sind erfahren. Ich könnte mir vorstellen, dass es bald zu einem positiven Ergebnis kommt. Ich glaube, dieser Nobelpreis liefert einen Beitrag dazu. Barenberg: Einen Punkt würde ich gerne noch ansprechen. In dem Beitrag ist es auch erwähnt worden, dass der Guerilla-Führer, der Gesprächspartner von Präsident Santos, nicht den Nobelpreis zugesprochen bekommt. Halten Sie das für einen Fehler, oder ist das genau angemessen, ihn ausschließlich Präsident Santos zuzusprechen? Koenigs: Das kann ich nicht beurteilen. Ich kann auch nicht beurteilen, ob andere Preisträger vielleicht auch vieles für sich hätten. Ich sehe nur, dass hier sehr deutlich gesagt wird: Derjenige, der als Staatspräsident alle seine Energie für den Frieden eingesetzt hat, ist beispielhaft. Ich würde mir das für viele Staatspräsidenten in dieser Welt wünschen, in der Weise mit dem Frieden umzugehen und von einem Verteidigungsminister, der den Krieg geführt hat, dann in der Präsidentschaft zu einem Präsidenten zu werden, der sein ganzes Prestige für den Frieden einsetzt. Das wäre vielleicht auch mal eine Lösung in anderen Konflikten. "Die Guerilla ist jetzt in einer Hängepartie" Barenberg: Wir hören ja jetzt, dass die ersten Kämpfer der FARC sich wieder zurückziehen in ihre Hochburgen im Landesinneren. Weil Sie auch oft jetzt von Eile gesprochen haben und von Dringlichkeit: Wie groß ist denn die Gefahr, dass der Friedensprozess stagniert, ja dass es möglicherweise wieder zu Kämpfen kommt? Koenigs: Die Guerilla ist jetzt in einer Hängepartie. Die wissen nicht, wie die Zukunft ist. Die wissen auch nicht, wie sie sich verteidigen können, ob sie sich verteidigen müssen, wo die Reise hingeht. Das ist eine äußerst schwierige Situation. Andere Gruppen, auch kriminelle Gruppen versuchen, davon zu profitieren. Ich glaube, die Eile ist schon da, und ich glaube auch, alle Kräfte in Kolumbien müssen sich klar machen, dass die Stabilität ein hohes Gut ist. Man hat jetzt den beidseitigen Waffenstillstand gespürt, das hat erheblich weniger Kriegstote zur Folge gehabt, das kann sich natürlich umdrehen und die menschenrechtliche Situation im Lande ist nach wie vor sehr delikat. Von daher wäre es schon gut, wenn man bald zu einer Einigung käme, die dann auch durch internationale Hilfe überwacht und umgesetzt werden könnte. Barenberg: Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag heute hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Tom Koenigs. Danke Ihnen. Koenigs: Danke Ihnen auch, Herr Barenberg. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
null
Der Grünen-Politiker Tom Koenigs hat die Verleihung des Friedensnobelpreises an den kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos als mutig bezeichnet. Koenigs meinte im DLF, Santos habe alles für den Frieden riskiert. Der Preis mahne auch die Gegner, nun konstruktiv zu sein.
"2016-10-07T12:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:57:58.370000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/friedensnobelpreis-ein-zeichen-der-hoffnung-100.html
91,094
Lehrkräfte im Burn-out
Die steigende Arbeitsbelastung im Beruf macht immer mehr Menschen krank (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg) All das, was auf Schule einprasselt, hinterlässt seine Spuren. Lehrkräfte melden sich häufiger krank und einige kommen ans Ende ihrer körperlichen und psychischen Kräfte, sie geraten in einen Burn-out. In Campus und Karriere erzählen Lehrkräfte, warum es bei ihnen zum Burn-out gekommen ist. Mediziner berichten über Therapiemöglichkeiten, Alarmsignale und Vorbeugemaßnahmen. Und Uni-Professoren erklären, warum schon in der Lehrerausbildung für dieses Thema sensibilisiert werden sollte. Gesprächsgast: Dr. Volker Reinken, ärztl. Direktor und Chefarzt der Akutklinik Urbachtal in Bad Waldsee, in der Lehrkräfte im Burn-out behandelt werden Weitere Themen: Lena Sterz "Sie lachen ja gar nicht mehr"Warum eine Gymnasiallehrerin aus Nordrhein-Westfalen in einen Burn-out geriet noch immer mit den Ursachen kämpft Lena Sterz AusgebranntWelche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es eigentlich zum Thema "Burn-out bei Lehrkräften"? Manfred Götzke Wie wird Burn-out therapiert?Besuch in der Fliedler-Klinik in Berlin-Mitte Lena Sterz Auch Referendare sind gefährdetWarum Stressbewältigung und Zeitmanagement schon im Lehramtsstudium gelernt werden sollten
Moderation: Kate Maleike
Lernstandserhebungen, Umgang mit immer heterogener werdenden Schulklassen, Inklusion, Bildungsreformen oder ein schwieriges Kollegium: Viele Lehrkräfte erleben eine zunehmende Arbeitsbelastung und Arbeitsverdichtung.
"2018-03-30T14:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:41.003000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schulwesen-lehrkraefte-im-burn-out-100.html
91,095
„Notfalls könnten Zwangsmittel angewendet werden“
Ab kommender Woche soll es verpflichtende Tests für Rückkehrer aus Risikogebieten geben. (picture alliance/dpa - Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa) Experten warnen vor einer zweiten Welle, denn die Corona-Infektionen in Deutschland steigen wieder. Offenbar unterschätzen viele bei Sommer und schönem Wetter das Risiko einer Ansteckung. Seitdem die strengen Beschränkungen aufgehoben sind und das Reisen wieder erlaubt ist, wiegen sich viele Menschen in Sicherheit und glauben, die Pandemie sei besiegt. Das Gegenteil aber ist der Fall - die zuständigen Behörden zeigen sich besorgt. Ein Risiko sind auch diejenigen, die aus Gebieten zurückkommen, in denen die Infektionszahlen hoch sind. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat deshalb für sie verpflichtende Tests angekündigt, die an Flughäfen durchgeführt werden sollen. Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität Berlin, über die rechtlichen Hürden und Vorgaben. Coronavirus - Aktuelle Zahlen und EntwicklungenIm Coronavirus-Zeitalter sind wir alle zahlensüchtig: Wie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Christiane Kaess: Ist das rechtlich in Ordnung, was Gesundheitsminister Spahn anordnet? Christian Waldhoff: Ich denke, ja. Das Infektionsschutzgesetz wurde ja im März angesichts der Corona-Entwicklung geändert und es wurden neue Ermächtigungsgrundlagen eingefügt, auf die man meines Erachtens das stützen könnte. Kaess: Das heißt, das Parlament muss nicht mehr befragt werden? Waldhoff: Genau. Das Parlament wurde im Grunde schon gefragt, denn das Parlament hat eine sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite festgestellt. Und solange das der Fall ist, gibt es besondere Ermächtigungen, etwa für Personen, die aus Risikogebieten einreisen, die Verpflichtung, sich ärztlich untersuchen zu lassen. "Ein größerer Eingriff in die Grundrechte" Kaess: Wie steht es denn auf der anderen Seite mit den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen? Waldhoff: Ja, das ist schon ein größerer Eingriff in die Grundrechte, etwa in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen. Man muss aber sagen: Was wird gemacht bei so einem Test? Es wird ein Abstrich im Rachenbereich und im Nasenbereich gemacht. Solche ärztlichen Untersuchungen kennt die deutsche Rechtsordnung auch in anderen Zusammenhängen – denken Sie nur mal an Alkoholkontrollen im Straßenverkehr oder Ähnliches, wo ja zumindest in einem gestuften Verfahren dann sogar Blut abgenommen werden kann. Der Unterschied ist freilich, dass dort natürlich Leute auffällig geworden sind, während hier nur Verdachtsfälle bestehen. Infektionsschutzregelungen: Grundrechte während und nach CoronaDie Grundrechtseingriffe im Namen des Infektionsschutzes wurden in Deutschland überwiegend begrüßt. Dem Historiker René Schlott bereitet das Sorgen. Das muss gerechtfertigt werden vor den Grundrechten. Es darf nicht unverhältnismäßig sein. Meines Erachtens, so wie das jetzt geplant ist, würde dies das aber erfüllen. Denn zum einen: Diese Ermächtigungsgrundlage ist zeitlich befristet. Die gilt nicht als Ultimo. Einerseits kann der Bundestag diese Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder aufheben. Würde er das nicht machen, würden diese Ermächtigungsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz gleichwohl in einem Jahr außer Kraft treten. Das Parlament ist beteiligt, nicht ganz konkret bei der Einzelmaßnahme, sondern bei der zur Verfügung Stellung des Rechtsrahmens. Und meines Erachtens ist das auch durchaus verhältnismäßig. Kaess: Was passiert denn, Herr Waldhoff, wenn sich jemand weigert? Waldhoff: Dann könnten zur Not sogar Zwangsmittel eingesetzt werden. Dann steht das Instrumentarium, was das Polizeirecht ohnehin zur Verfügung stellt, zur Verfügung. Notfalls könnten Zwangsmittel angewendet werden. Mit Klagen ist zu rechnen Kaess: Rechnen Sie denn mit Klagen? Waldhoff: Ja, natürlich. Fast alle Maßnahmen, die jetzt in Corona geschehen, angeordnet wurden, wurden ja von Gerichten zumindest vorläufig überprüft. Meistens geht es um Eilrechtsschutz, weil Verfahren dauern ja eine gewisse Zeit, und hier ist Eile geboten. Wir haben eine differenzierte Rechtsprechung. Im Grundsatz wurden die meisten Maßnahmen ja von den Verwaltungsgerichten und auch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gebilligt. Einzelne Sachen – ich denke da etwa an diese Verordnung in Gütersloh im Umfeld dieses Fleischbetriebes – wurden freilich als unverhältnismäßig aufgehoben. Es handele sich um "einen größeren Eingriff in die Grundrechte" sagte der Jurist Christian Waldhoff. (picture-alliance / dpa / Friso Gentsch) Kaess: Aber, Herr Waldhoff, so wie Sie das Ganze einordnen, müsste ja absehbar sein, dass diese Klagen ohne Erfolg bleiben. Waldhoff: Man muss jetzt erst mal genau gucken, was da genau angeordnet wird und ob das die gesetzliche Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz einhält. Aber wenn ich eine Prognose wagen dürfte, was immer so eine Sache ist bei Gerichtsprozessen, würde ich sagen, wenn das richtig gemacht wird, müsste das eigentlich standhalten. Verhältnismäßigkeit muss gegeben sein Kaess: Macht sich die Verhältnismäßigkeit fest an dieser Definition Risikogebiet, beziehungsweise woran muss sich die denn orientieren, um da eine gute rechtliche Basis zu haben? Waldhoff: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutet ja, es wird abgewogen der Eingriffsschaden, die Beeinträchtigung, die der einzelne Bürger auf der einen Seite erhält, mit dem Ziel, das mit dieser Maßnahme erreicht werden soll, auf der anderen Seite. Das wird relationiert, das wird in Beziehung zueinander gesetzt und wertungsmäßig abgewogen, was überwiegt, und da sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen: Einerseits natürlich, dass diese zwangsweise Untersuchung nur für Personen aus Risikogebieten angeordnet werden soll. Kaess: Wenn ich da mal kurz einhaken darf? Da wäre meine Frage: Muss das auch klar definiert sein? Waldhoff: Ja, das ist ja klar definiert. Das steht in dieser gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Infektionsschutzgesetz auch drin, wer unter welchen Voraussetzungen ein Gebiet als Risikogebiet deklarieren kann. Das macht die Bundesregierung im Zusammenwirken mit dem Robert-Koch-Institut, wenn bestimmte Zahlen überschritten sind. Das ist relativ klar definiert. Deutscher Bundestag: Schwierige Selbstbehauptung in CoronazeitenIm März gelang ein nie dagewesener Kraftakt. Der Bundestag stellte in Rekordzeit die Weichen für den Umgang mit der Coronapandemie. Jetzt versucht das Parlament den Weg zurück in eine Art Normalität. Wie umgehen mit Hotspots in Europa? Kaess: Da fällt allerdings auf, dass bisher diese Risikogebiete außerhalb der EU liegen. Waldhoff: Ja, Gott sei Dank! Kaess: Innerhalb der EU fällt im Moment nur Luxemburg darunter. Aber das ist ja gar nicht alles so eindeutig, denn auch innerhalb der EU gibt es mittlerweile wieder mehrere Hotspots. Müssten die, wenn man das Ganze rechtlich betrachtet, mit einbezogen werden? Waldhoff: Theoretisch könnten die auch mit einbezogen werden. Dann stellen sich freilich weitere rechtliche Probleme, weil wir ja im Bereich der Europäischen Union eine Freizügigkeit, eine Personenfreizügigkeit und so weiter haben, die wir jetzt im Verhältnis zu Drittstaaten, etwa zu den USA oder zu Brasilien oder zur Türkei nicht in gleicher Weise haben. Wenn es sich um EU-Staaten handelt - meines Erachtens ist das aber zurzeit nur Luxemburg -, dann müssten weitere rechtliche Sachen, nämlich EU-rechtliche Sachen beachtet werden. Virologe: "Nicht mehr nur auf Freiwilligkeit setzen"Es gebe einen "sehr starken Verdacht", dass eine hohe Urlaubsaktivität steigende Infektionszahlen zur Folge habe, sagte der Virologe Gerd Fätkenheuer im Dlf. Der Staat sei in der Pflicht, eine Ausbreitung zu verhindern. Auch ein zweiter Test wäre durch das Infektionsschutzgesetz gedeckt Kaess: Noch etwas lässt viele Fragen stellen, nämlich die Tatsache, dass eigentlich mehr Neuinfektionen von Reisenden kommen, die in Nicht-Risikogebieten waren, die sich da aber trotzdem angesteckt haben. Jetzt stellt Bundesgesundheitsminister Spahn das so dar, dass verpflichtende Tests da nicht möglich wären, weil die nicht verhältnismäßig wären. Stimmt das so? Waldhoff: Da ist zumindest etwas dran, denn bei der Verhältnismäßigkeitsabwägung muss die Wahrscheinlichkeit der Gefahr ja berücksichtigt werden. Und abstrakt gesehen ist es ja so: Wenn ich aus einem Risikogebiet mit hohen Neuinfektionsraten einreise, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich infiziert habe, logischerweise höher, als wenn ich aus einem Land einreise, wo ganz niedrige Infektionszahlen da sind. Das ist ein wichtiger Punkt bei der Verhältnismäßigkeitsabwägung. Kaess: Aber wenn sich in der Praxis das genau anders herum erweist? Waldhoff: Ja, das liegt aber wahrscheinlich doch an anderen Sachen. Wenn wir zum Beispiel Frankreich als Nicht-Risikogebiet nehmen: Nach Frankreich fahren relativ viele Urlauber. Während wenn wir Brasilien als Hochrisikogebiet nehmen: Aus Brasilien reisen nicht so viele Urlaubsrückkehrer ein, weil viel weniger Leute in Brasilien Urlaub machen als in Frankreich. Aber wenn man es statistisch durchrechnen würde, kann ich mir praktisch nicht vorstellen, dass aus Nicht-Risikogebieten bei gleichen Zahlen von Rückkehrern mehr Infizierte einreisen. Kaess: Jetzt gab es eine weitere Kritik am Sinn dieser Tests. Da sagen viele, das ist ja überhaupt noch viel zu früh, um eine Infektion festzustellen, denn die Inkubationszeit ist länger. Wäre denn eine Verpflichtung zu einem zweiten Test auch rechtlich möglich? Waldhoff: Ich würde sagen, wenn das richtig gemacht wird, durchaus ja. Das ist natürlich dann ein weiterer Eingriff, der zusätzlich gerechtfertigt werden müsste, der ebenfalls verhältnismäßig sein müsste, und die Anforderungen würden eher steigen, weil ja der Abstand zur Einreise in das Bundesgebiet größer geworden ist. Aber wenn sich die Lage jetzt dramatisch verschlechtern würde, hätte ich auch da keine Bedenken. Meines Erachtens würde das auch die Ermächtigungsgrundlage im Infektionsschutzgesetz hergeben. Freiheit des Einzelnen vs. Gemeinwohl Kaess: Es geht auch um die Kosten für die verpflichtenden Tests. Die werden übernommen. Aber ist das nicht rechtlich sowieso Gesetz, dass das so passieren muss? Waldhoff: Die Kostenlage ist relativ kompliziert. Ich halte es für sehr richtig und wichtig, dass die einfach pauschal übernommen werden, denn wenn sich jetzt die Behörden noch mit einzelnen Einreisenden über die Kosten streiten, ist ja die Effektivität dieser Infektionsabwehr schon als solche gefährdet. Ob das jetzt dann von der gesetzlichen Krankenversicherung hätte übernommen werden müssen oder so, ist eine sehr schwierige Frage, die ich jetzt mit einem Satz hier nicht beantworten möchte. Aber völlig zurecht geht die Planung meines Wissens ja dahin, dass die Kosten einfach pauschal übernommen werden sollen. Kaess: Herr Waldhoff, muss man gesamtheitlich sagen, dass in einer Pandemie die Freiheit des Einzelnen dem Wohl der Gemeinschaft oder anderer untergeordnet ist? Waldhoff: Nein! Die Juristen würden immer sagen, die Freiheit des Einzelnen muss mit dem Gemeinwohl abgewogen werden, bei jeder einzelnen Maßnahme, bei jeder gesetzlichen Ermächtigung, und das geschieht auch. Als das Infektionsschutzgesetz, als diese gesetzlichen Grundlagen im März dieses Jahres eingeführt wurden, gab es völlig zurecht große Diskussionen, ob das abstrakt verhältnismäßig ist, ob das noch geht, ob das Parlament hinreichend beteiligt ist. Das heißt, es findet ein Diskurs statt, ob diese rechtlichen Grundlagen richtig sind, ob sie verfassungsmäßig sind, ob sie verhältnismäßig sind. Das wird von Gerichten überprüft. Man kann nicht pauschal sagen, die Rechte des Einzelnen müssen sich insgesamt dem Gemeinwohl, hier dem Infektionsschutz unterordnen, sondern das ist ein Prozess, der von den konkreten äußeren Bedingungen abhängt, und ich würde mal die Einschätzung wagen, dass sich unser Rechtsstaat, unser Verfassungsstaat in dieser Krise doch recht gut bewährt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Christian Waldhoff im Gespräch mit Christiane Kaess
Er rechne mit Klagen gegen angeordnete Corona-Tests für Reiserückkehrer aus Risikogebieten, sagte Christian Waldhoff, Professor für öffentliches Recht, im Dlf. Die rechtlichen Grundlagen seien dafür aber durch das Infektionsschutzgesetz und die Feststellung einer „epidemische Lage nationaler Tragweite“ gegeben.
"2020-07-29T08:19:00+02:00"
"2020-08-03T21:49:26.453000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtswissenschaftler-zu-corona-pflichttests-notfalls-100.html
91,096
Italiens Ruinen vor dem Zerfall
Das Kolosseum in Rom gilt als der größte geschlossene Bau in der römischen Antike und ist bis heute eines der Wahrzeichen der italienischen Hauptstadt. (picture alliance / ZB) Nirgendwo klaffen Anspruch und Wirklichkeit weiter auseinander wie beim Umgang Italiens mit seinen Kulturschätzen, sagt Archäologe Pier Matteo Barone aus Rom. Auf der einen Seite ist das Land stolz auf seine 43 Weltkulturerbe-Monumente, rund 60.000 archäologische Stätten und knapp 5.000 Museen - auf der anderen Seite fehlt es an grundlegenden Dingen, um diese Schätze zu erhalten. Es fehle an offiziellen Vorschriften, ebenso seien Geld und Entscheidungsträger Mangelware, die das Problem erkennen und handeln würden. "Italien ist praktisch ein einziges, großes archäologisch relevantes Gebiet und man sollte annehmen, dass es hier strenge Regeln für den Erhalt dieser Kulturschätze gibt, aber Fehlanzeige. Hier gibt es noch nicht einmal ein offizielles Protokoll, was den Erhalt dieses kulturellen Erbes regelt." Nicht auf dem neuesten Stand der Technik Es gebe zwar allgemeine Vorschriften, dass man einen Archäologen zur Begutachtung hinzuziehen muss, wenn man bei Bauarbeiten auf kulturelle Hinterlassenschaften stößt, aber vieles würde unter der Hand geregelt, Korruption sei ein großes Problem. Zudem sei die Archäologie nicht auf dem neuesten Stand der Technik, so Pier Matteo Barone. "Es gibt nicht die Möglichkeit, bei einem neuen Fund Geophysiker hinzuzuziehen, das gilt für alle nichtinvasiven Methoden, mit denen man vor der Ausgrabung im Boden sehen kann, was dort zu finden ist. Und das ist ein großes Problem. Hier geht es noch nicht mal um Geld- oder Zeitprobleme, sondern es fehlt bereits an der offiziellen Vorgabe, die Methoden zu integrieren." Studentenzahlen sind rückläufig Aber, auch wenn wichtige Funde gemacht werden, und der Wille zur Ausgrabung da sei, kommt nicht automatisch eine Ausgrabung zustande. So hatten etwa 2008 Archäologen in Rom das Grab von Marcus Nonius Macrinus entdeckt, dessen Geschichte Grundlage des Kinofilms "Gladiator" war. Dennoch fehlt für die Ausgrabung bis heute das Geld. Das Grab des römischen Senators und Feldherrn unter Kaiser Marc Aurel im 2. Jahrhundert nach Christus soll der Einfachheit wieder zugeschüttet werden. Und nicht nur Geldmangel ist ein Problem. Auch die Ausbildung der Studenten liege im Argen. "In den archäologischen Fakultäten ist praktisch die Zeit stehen geblieben. Dort wird meist noch gelehrt wie vor Jahrzehnten und auf neue bildgebende Verfahren oder die Geophysik etwa wird nicht eingegangen. Es gibt zwar einige wenige Ansätze, wo das teils in den Lehrplan aufgenommen werden soll, aber es wird noch lange dauern, bis die Lehre in Italien auf dem Stand von anderen europäischen Universitäten sein wird." Die Zahl der Studienanfänger sinke, weil die Archäologie weder als relevante Wissenschaft wahrgenommen werde noch weil sie Jobmöglichkeiten biete. Der Anschluss an die internationale Forschung habe Italien verpasst, so das bittere Resümee Pier Matteo Barones. Für die Zukunft sehe er schwarz. "Unfortunately, I am very pessimistic." Letzte Hoffnung: private Geldgeber Daher habe er auch den Dienst an einer staatlichen Universität mangels Perspektive quittiert. Mittlerweile forscht und lehrt der Archäologe an der privaten Amerikanischen Universität von Rom. Einziger Ausweg könnten Sponsorenideen wie in Florenz und Venedig sein. Dort wurden an Baugerüsten riesige Werbeplakate von Supermarktketten aufgezogen. Dagegen gibt es aber - noch - heftigen Widerstand, da eine "Disneyisierung" zu befürchten sei. Auf lange Sicht bleibt es vermutlich bei zwei Optionen: Entweder die Kulturschätze verfallen lassen oder sich privaten Geldquellen öffnen.
Von Michael Stang
Italien ist reich an Kulturschätzen: Allein 43 Monumente im Land gehören zum Weltkulturerbe. Doch mit der Pflege dieser historischen Denkmäler ist man offensichtlich überfordert: Forscher mahnen, dass die Archäologie den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen ist.
"2014-10-02T16:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:37.277000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/archaeologie-italiens-ruinen-vor-dem-zerfall-100.html
91,097
Rüstungskontrolle im Cyberspace
Das gesamte Interview können Sie im Bereich audio on demand nachhören.
Wissenschaftsjournalist Peter Welchering im Gespräch mit Manfred Kloiber
In der FAZ war in dieser Woche von einem vermeintlichen digitalen Erstschlag mit dem Computervirus Stuxnet gegen das iranische Atomprogramm zu lesen. Immer mehr internationale Gremien und Organisationen fordern nun "Spielregeln" für den sogenannten Cyberwar.
"2010-09-25T16:30:00+02:00"
"2020-02-03T18:05:46.881000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ruestungskontrolle-im-cyberspace-100.html
91,098
"Es ist eine depressive Stimmung"
Athanassios Kelemis: (AFP/ Aris Messinis) Es sei eine große Unruhe ausgebrochen, sagte Athanassios Kelemis im Deutschlandfunk über die Stimmung in Athen nach der Bankenschließung. Der Geschäftsführer der deutschen AHK in Athen berichtet von Schlangen an Geldautomaten und an den Tankstellen. Das Wichtigste sei, dass das Land Stabilität bekomme. Die sei aber zurzeit nicht gegeben. Auch wenn die Wirtschaft zurzeit im Leerlauf sei, glaube er nicht, dass es in dieser Woche zu ihrem totalen Stillstand kommen werde. "Es könnte sein, dass Online-Banking weiterhin möglich ist", sagte er im DLF. Das Interview in voller Länge: Sandra Schulz: In der griechischen Schuldenkrise, da hat möglicherweise der letzte Akt begonnen. Am Samstag scheiterten in Brüssel die vorerst letzten Verhandlungen. In Griechenland bleiben die Banken heute geschlossen. Am Samstag hatten die Finanzminister der Eurogruppe ja auch noch weiter beraten, nach der Abreise des griechischen Finanzministers Varoufakis.Am Telefon ist jetzt Athanasios Kelemis, Geschäftsführer der deutsch-griechischen Industrie- und Handelskammer in Athen. Guten Morgen. Athanasios Kelemis: Schönen guten Morgen aus Athen. Ich grüße Sie. Schulz: Das Szenario, das jetzt ja offenbar da ist, wenn nicht heute oder morgen wirklich noch was ganz Überraschendes da ist, das Aus fürs Hilfsprogramm, ist das aus Sicht der Wirtschaft der Gau, der größt anzunehmende Unfall? Kelemis: Ja, lassen Sie mich zu Beginn folgendes feststellen. Wir erleben in Griechenland zurzeit seit heute Früh eine noch nicht da gewesene Situation, und das im Kern Europas. Bürger und Unternehmer im Land sind äußerst verunsichert und wissen nicht, was kommt als nächstes, und die sind auch deswegen verunsichert, weil die europäische Perspektive Griechenlands auf dem Spiel steht. Glaubt man den Ergebnissen einer jüngsten Umfrage - die ist gestern in einer Sonntagszeitung veröffentlicht -, dann sind über 57 Prozent der Griechen für einen Verbleib des Landes in der Euro-Zone, auch mit der Auflage eines harten Sparprogramms. Dieses Sparprogramm enthält aus der Sicht der Wirtschaft hier in Griechenland eine Reihe von rezessiven Maßnahmen wie Steuererhöhungen für Unternehmer und Privatpersonen, Mehrwertsteuererhöhung bei Gütern des alltäglichen Lebens, aber das ist eine notwendige Maßnahme, weil die Wirtschaft gerade in den ersten fünf Monaten des Jahres aus dem Ruder gelaufen ist und eine Konsolidierung der Staatsfinanzen steht wieder ganz hoch auf der Tagesordnung. Das erste Quartal ist mit einer negativen Wirtschaftsleistung abgeschlossen. Ich rechne damit, dass dies auch im zweiten Quartal der Fall sein wird. Und vergessen wir nicht: Im dritten Quartal des letzten Jahres hatte das Land, wenn Sie sich erinnern, auch ein leichtes Wachstum gehabt. Da hatten wir Wirtschaftsindikatoren, die alle nach oben zeigten. Die Arbeitslosigkeit ist leicht zurückgegangen. Das Konsumentenverhalten ... "Wirtschaft fährt ab heute im Leerlauf" Schulz: Herr Kelemis, jetzt ist das Land natürlich dadurch noch mal heute Morgen in einer ganz besonders ernsten Lage, da schlichtweg die Banken nicht öffnen werden. Die Börse öffnet nicht. Es gibt überhaupt nichts wie einen wirtschaftlichen Alltag. Wie gehen die Unternehmen damit um? Kelemis: Ich würde sagen, die Wirtschaft fährt im Leerlauf ab heute. Wie Sie richtig sagten: Die Banken werden für mindestens eine Woche geschlossen bleiben. Es ist ein Ministerialerlass heute Früh um drei Uhr erlassen worden und demnach werden die Banken wie gesagt für mindestens eine Woche, bis Montag nächster Woche geschlossen bleiben. Finanztransaktionen können nicht ohne Weiteres getätigt werden, insbesondere ins Ausland. E-Banking soll wohl möglich sein, aber da kenne ich noch nicht die Einzelheiten. Da möchte ich mich nachher auf dem Weg ins Büro informieren.Wichtig ist natürlich auch für die hunderttausenden Touristen aus Deutschland und die Millionen Touristen insgesamt, die im Moment sich im Land aufhalten, dass sie eine Möglichkeit bekommen, über Kreditkarten zu bezahlen. Das ist wohl möglich. Viele Unternehmen werden womöglich diese Kreditkarten nicht akzeptieren, weil die selbst natürlich bares Geld brauchen für den Umlauf. Schulz: Lässt sich das noch ein bisschen genauer sagen, was die Unternehmen machen? Sie haben gerade schon gesagt, sie sind im Leerlauf. Heißt das, es ist wirklich eine verordnete Pause, oder laufen da doch Vorbereitungen auf Hochtouren, Transaktionen? Kelemis: Das Unternehmensleben kommt zweifelsohne nicht zum Erliegen. Die Unternehmen können natürlich Überweisungen übers Online-Banking tätigen, oder Gehälter überweisen. Das ist ein Prozess, der aber mit einem gewissen bürokratischen Aufwand beispielsweise verbunden ist. Die Unternehmer müssen bei der Bank eine Reihe von Papieren mit vorlegen, damit diese Transaktionen auch stattfinden können. Also es ist alles nicht mehr normal. Das ist nicht mehr angenehm. Aber zum Stillstand ist es und wird es auch in dieser Woche nicht kommen. "100 Milliarden Euro Investitionen sind nötig" Schulz: Es ist ja auch immer wieder gesagt worden, diese Hängepartie mit den Hilfspaketen, die sei grundsätzlich schon ganz falsch gewesen. Griechenland müsse sich jetzt einfach neu sortieren. Ist es, ohne zynisch sein zu wollen, aus Ihrer Sicht möglicherweise eine Chance auch, dass Griechenland jetzt vor diesem Neuanfang steht? Kelemis: Ja. Ich habe mich vorhin ganz eindeutig auf die Seite Europas gestellt, und das tut die Mehrheit der Griechen. Vergessen wir nicht: Bei dem jüngsten Paket, was verhandelt wurde und leider abgebrochen wurde, das Paket sah vor auch eine Entwicklungshilfe in Höhe von 35 Milliarden Euro. Darüber hinaus stehen dem Land über 20 Milliarden Euro aus dem Strukturfonds-Programm zur Verfügung. Es gibt eine Studie des Wirtschaftsinstituts hier in Griechenland, demnach braucht das Land ungefähr 100 Milliarden Euro in den nächsten Jahren an Investitionen, um durchschnittlich in den nächsten drei Jahren einen Primärüberschuss von drei Prozent zu erzielen. Natürlich wird das alles klappen. Natürlich werden diese Investitionen getätigt, wenn das Land die notwendigen Reformen auch durchzieht, und hier ist es in der Tat seit Sommer letzten Jahres nach den Europawahlen zu einem Stillstand gekommen und die gegenwärtige Regierung hat dieses Reformpaket einfach auch nicht weiter fortgesetzt. Schulz: Aber was muss denn passieren in Griechenland, damit Unternehmer wieder investieren? Kelemis: Ja, es müssen Reformen in der Modernisierung beispielsweise des griechischen Steuersystems passieren. Es müssen Reformen im Verwaltungsbereich, im Bereich der Renten, Justiz, Arbeitsmarktreformen, Produktmarktreformen durchgeführt werden. Es ist einiges, was in der Agenda steht. Aber das Wichtigste ist, dass das Land Stabilität hat, eine Sicherheit, wo es hinsteuert, und das ist derzeit nicht in dem notwendigen Maße, sage ich mal, gegeben. Schulz: Herr Kelemis, wir erreichen Sie heute Morgen ja in Athen. Wie würden Sie die Stimmung da beschreiben, wenn sich das überhaupt so pauschal sagen lässt? "Die Griechen sind äußerst verunsichert" Kelemis: Ja, es ist eine depressive Stimmung. Die Griechen sind äußerst verunsichert. Sie haben die Bilder vielleicht gesehen im Fernsehen. Da stehen Warteschlangen von Menschen vor den Geldautomaten. Gestern Nacht haben sich auch Warteschlangen gebildet bei den Tankstellen. Es ist eine Unruhe ausgebrochen, eine Unsicherheit, was bringt uns der morgige Tag, was bedeutet das Referendum letztendlich für das Land. Ich denke, das Wichtigste ist, dass man jetzt die Nerven behält und ganz ruhig in die neue Situation einsteigt und versucht, sie wirklich mit Ruhe zu meistern. Schulz: Schaffen Sie das als Privatperson? Kelemis: Ja sicher, alle schaffen das. Wir haben einen sehr stark geregelten Rahmen. Der sieht vor, dass beispielsweise bei den Geldautomaten wahrscheinlich ab morgen oder übermorgen - wie gesagt, das steht alles in diesem Ministerialerlass drin - bis zu 60 Euro abgehoben werden können. Alle müssen wir in dieser Woche damit umgehen. Da gibt es keinen Ausweg. Schulz: Athanasios Kelemis, Geschäftsführer der deutsch-griechischen Industrie- und Handelskammer in Athen, heute Morgen hier bei uns in den „Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank für die Zeit, die Sie uns gegeben haben. Kelemis: Besten Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Athanassios Kelemis im Gespräch mit Sandra Schulz
Die griechische Wirtschaft sei im Leerlauf, sagte der Chef der deutschen Außenhandelskammer in Athen, Athanassios Kelemis, im DLF. In der Bevölkerung herrsche eine große Unsicherheit. Was das Land jetzt brauche sei vor allem Stabilität, sagte der Ökonom.
"2015-06-29T06:50:00+02:00"
"2020-01-30T12:44:38.580000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechische-wirtschaft-es-ist-eine-depressive-stimmung-100.html
91,099
Die Digitalisierung im Forst
Das Problem bei der Digitalisierung der Forstarbeit: Es gibt nicht überall Netz (Deutschlandradio / Nana Brink) "Von der Rückegasse aus fährt der den Kran aus fährt an den angezeichneten Baum, fährt sehr weit unten das Ernte-Aggregat an den Stamm ran und packt den Stamm mit den beiden Greifern und trennt ihn mit der Motorsäge ab. Und dann zeigt er, wie er vermisst und aufarbeitet und wie er diese Daten im Bordcomputer speichert und dann später, für den Forwarder, der das Holz raustransportieren soll, verfügbar macht. Und da geht es dann um das Datenmanagement." Datenmanagement ist für Ute Seeling ein großes, bisher zu wenig beachtetes Thema in der Forstwirtschaft. Die geschäftsführende Direktorin des KWF, des Kuratorium für Waldarbeit und Forsttechnik weiß: Der Harvester, des riesigen Monsters, das hier im Wald herumfährt und Bäume fällt, notiert alles: Art der Bäume, die Länge der Äste, die Stückzahl der gesägten Stämme. All diese Informationen seien wichtig, zum Beispiel für den nachfolgenden Wagen, den Forwarder, der das Holz einsammelt, kommentiert Peter Harbauer, Pressesprecher der KWF. Bordcomputer sammeln Daten "Die kommunizieren schon mit einander, weil eben unheimlich viel Technik schon drin steckt. Also vor allem der Harvester und der Forwarder kommunizieren schon miteinander. Doch es endet an der Waldstraße und das ist eben das große Thema Forstwirtschaft 4.0 Wir wollen, dass alle miteinander reden. Das ist das Ziel, die Vision." Forstwirtschaft 4.0 als großes Ziel. Schon lange geht es auch im Wald ums große Geld. Überall tüfteln Firmen, wie sich Arbeitsvorgänge maschinell ersetzen lassen, wie Menschen schneller und effizienter arbeiten können. Die Firma Lockbuch zum Beispiel hat eine spezielle Software für Forstarbeiter entwickelt. Damit markiert der Förster den Baum, der wegen Krankheit oder Sturmschaden beseitig werden muss. Sofort werden die Daten und der Standort des markierten Baum virtuell an die Kollegen weitergeleitet. "Wir geben den Bäumen eine Adresse, damit jetzt die Säge gezielt zum Baum kommen kann. Und damit nicht der Waldarbeiter sich nach Farbe orientieren muss welcher Baum wohl weg muss. Wenn sie in den Wald gucken, wenn da in 30 Metern ein Baum markiert ist, müssen sie den erst mal suchen." Ist der Baum gefällt, wird Ast für Ast sorgfältig auf einen Haufen, auf einen so genannten Polter gestapelt. Reicht es, mit dem Handy ein Foto zu machen und eine App zu installieren, die automatisch die Stückzahl ermittelt? Oder ist es besser, wenn der Waldbesitzer und das Sägewerk sogar die Daten von Baumart, Qualität und Güte direkt übermittelt bekommen? Eine große, aufs Autodach geschnallte Kamera inklusive Bordcomputer macht ein Foto und verarbeitet und vermittelt die gesammelten Daten gleich in Sekundenschnelle. Apps für Spaziergänger Auch Drohnen werden im häufiger im Forst eingesetzt. Bei Waldbränden oder Sturmschäden bieten Drohen hilfreiche Bilder und Informationen. Ist ein Baum von Käfern befallen, muss er schnell entfernt werden, um die anderen Bäume nicht anzustecken, erklärt Ute Seeling. "Das heißt aber, sie müssen diesen Baum erkennen. Und den können sie aus der Luft, anhand der veränderten Nadelfärbung können sie den viel besser erkennen als wenn ein Förster von unter in die Krone gucken muss und schauen muss, gibt es schon erst Anzeichen einer Schädigung. So etwas ist aus der Luft sehr, sehr gut zu erkennen." "Da kommt die Karte: Und das hier ist jetzt unser Standpunkt. Das blaue da. Und das hier ist genau diese Rettungspunkt. 2033." Diese Rettungspunkte sind im Wald durch ein Schild markiert. In Brandenburg ist das Schild grün mit einem weißen Kreuz. Darunter ist eine Zahl. Die Rettungspunkte sind nicht nur für Waldarbeiter wichtig, sondern können auch für Spaziergänger oder Radfahrer nützlich sein, wenn diese die entsprechende App haben. "Und wenn man eine von den vorhanden Apps Hilfe im Wald heißt die zum Beispiel benutzt, da sind diese Punkte verzeichnet und man dann sein Handy zur Hand nimmt und schaut, wo sind diese Apps verzeichnete über GPS und wo stehe ich gerade dann kriegt man den nächsten Rettungspunkt angezeigt und kann dann der Leitstelle sagen ich stehe an dem Rettungspunkt 2033 da brauche ich einen Rettungswagen hin."
Von Sandra Voß
Die zunehmende Digitalisierung verändert die Arbeit im Wald. Förster und Waldarbeiter haben zwar nach wie vor noch viel mit Setzlingen und Sägen zu tun, aber für das Datenmanagement nutzen sie Computer, Apps und Drohnen. Das Ziel: eine flächendeckende Kommunikation zwischen allen Beteiligten.
"2017-09-28T11:41:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:22.072000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forstwirtschaft-4-0-die-digitalisierung-im-forst-100.html
91,100
Rechte Medien und der Wahlsieg der PiS
Der Parteichef und seine Spitzenkandidatin: Jaroslaw Kaczynski gratuliert Beata Szydlo zum Wahlsieg. (picture alliance / EPA / PAWEL SUPERNAK POLAND OUT) Zwei Tage vor der Parlamentswahl in Polen prangte ein Wort groß auf der Titelseite der größten Abonnementzeitung: "Demokratie". Nicht weniger als die Demokratie stehe auf dem Spiel, mahnten die Verantwortlichen der "Gazeta Wyborcza", wenn die rechtskonservative Partei PiS die Wahl gewinnen sollte. Medien wie die "Gazeta Wyborcza" sind es, denen der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski lange die Schuld an den Misserfolgen seiner Partei gab. Mit einigem Recht: Denn die Rechtskonservativen hatte auch den führenden privaten Fernsehsender TVN gegen sich, ebenso die auflagenstärkste politische Wochenzeitung "Polityka". Doch in den vergangenen Jahren habe die PiS Mittel und Wege gefunden, sich dagegen zu wehren, sagt der Präsident der Warschauer Batory-Stiftung Aleksander Smolar. "Die PiS, die eigentlich eine Partei der Provinz war, der Ärmeren, der weniger Gebildeten, der Dorfbewohner, sie hat sich in diesem Jahr plötzlich als führend im Nutzen der sozialen Medien und des Internets überhaupt erwiesen. Das lag nicht nur an ihr, sondern vor allem daran, dass in der Gesellschaft ein Aufbegehren gegen die Regierung gewachsen war. Dennoch hat die PiS gezeigt, dass sie mit einmal erstaunlich modern sein kann." Internetzeitungen sind eine mediale Stütze der Rechtskonservativen. Einflussreich ist etwa das nationalkatholische Portal "fronda". Neue Wege gingen Journalisten, die sich zu den Anhängern der PiS zählen, aber auch mit klassischen Medien. Sie gründeten Wochenzeitungen, die sich wesentlich stärker als die liberalen Magazine weltanschaulich positionieren. So erzeugen sie das Gefühl einer eingeschworenen Wertegemeinschaft. Besonders weit geht dabei die Wochenzeitung "Gazeta Polska" mit einer verkauften Auflage von 35.000 Exemplaren. Sie hat im ganzen Land sogenante Klubs gegründet. Zirkel, in denen sich Gleichgesinnte treffen. Nach dem Wahlsieg sind mehr rechtskonservative Journalisten zu erwarten Wenn PiS-Spitzenpolitiker von der "Gazeta Polska" interviewt werden, dann klingt das so wie zuletzt bei Antoni Macierewicz im Internetkanal der Zeitung: "Dank Ihnen bin ich nicht nur ab und zu, sondern laufend in den Medien präsent. Die Mainstream-Medien starten gerade wieder eine Hasskampagne gegen mich. Sie greifen damit die ganze PiS und letztendlich auch unsere Bürgerrechte an. Denn mit der institutionalisierten, ständig wiederholten Lüge wollen sie den Wähler täuschen." Der im Mai gewählte Staatspräsident Andrzej Duda, der aus der PiS stammt, gab sein erstes Interview der "Gazeta Polska". Die Journalisten der rechtskonservativen Medien bezeichnen sich selbst gerne als unbeugsam und ihre Arbeit als politisch unabhängig. Einige rechte Medienprojekte jedoch hätten massive finanzielle Unterstützung erhalten, so Aleksander Smolar. "Bekannt ist, dass die Genossenschaftsbanken mit dem Namen SKOK viele Projekte finanziert haben oder noch finanzieren. Der Gründer der Banken Grzegorz Bierecki gehört der PiS an und ist wohl für die jüngst bekannt gewordenen hohen Verluste der Banken mitverantwortlich. Denn er hat Geld auf seine Privatkonten abgezweigt. Umgekehrt hat die PiS dafür gesorgt, dass die SKOK über lange Zeit nicht als Banken behandelt wurden und so nicht der Bankenaufsicht unterlagen." Mit anderen Worten: Es besteht der Verdacht, dass die PiS im Gegenzug für finanzielle Unterstützung der rechtskonservativen Medien unsaubere Bankgeschäfte deckte. Nach dem Wahlsieg der PiS dürften die rechtskonservativen Journalisten nun auch in die öffentlichen Medien drängen. Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski erklärte zwar nach der Wahl, seine Partei werde keine Rache an politischen Gegnern üben. Zumindest im Journalismus dürfte das aber kaum gelten. Darüber sprachen PiS-Politiker schon vor dem Wahlsonntag, so Krzysztof Czabanski, Publizist und frisch gebackener Abgeordneter: "Als Medienmensch versichere ich: Wir werden den Lügnern das Radio und das Fernsehen wegnehmen. Keiner von denen soll sich täuschen, die jetzt Propaganda verbreiten und die sogenannten öffentlichen Medien leiten. Die Polen haben ehrliche Medien verdient." Schwierig wird dieses Manöver nicht: Die liberale "Bürgerplattform" von Ex-Ministerpräsident Donald Tusk hatte es in acht Regierungsjahren versäumt, unabhängige öffentliche Medien zu schaffen.
Von Florian Kellermann
Unter anderem mit ihrer harten Haltung in der Flüchtlingspolitik hat die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) in Polen die Wahlen für sich entschieden und die absolute Mehrheit gewonnen. Der Erfolg der Rechtskonservativen wäre nicht möglich gewesen, ohne die Unterstützung der Medien. Besonders sticht dabei die "Gazeta Polska" hervor.
"2015-10-28T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:06:26.062000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-rechte-medien-und-der-wahlsieg-der-pis-100.html
91,101
Öko-Verkehrsclubs kritisieren geplante Pkw-Maut
Nein, zumindest nicht nach Ansicht des Verkehrsclubs Deutschland, VCD, und seiner österreichischen und schweizerischen Schwester-Verbände. Für Menschen, die in Deutschland wohnen, mache die Steuer keinen ökologischen Unterschied, weil Inländer ja in keinem Fall mehr Geld zahlen sollen: Zwar kostet die Vignette Geld, dafür soll aber die Kfz-Steuer um eben diesen Betrag sinken. Zahlen sollen nach dem Plan der Bundesregierung nur Ausländer. Die zahlten aber immer gleich viel, egal, ob sie 500 Kilometer oder 30.000 Kilometer auf deutschen Straßen fahren, sagt Gerd Lottsiepen vom Verkehrsclub Deutschland. Zwar soll die Höhe der Maut abhängig sein von Hubraum und Schadstoffklasse der Autos, das klinge erst mal ökologisch. Tatsächlich sei dieses Modell in der Praxis aber sehr umweltfeindlich, so Lottsiepen. Er nennt das Beispiel eines Benziners mit drei Liter Hubraum, der gern 15 Mal Liter auf 100 Kilometer verbraucht. Für diesen Spritschlucker solle die Vignette nur 60 Euro pro Jahr Kosten. "Aber für einen effizienten Diesel, Euro 6, also auch schadstoffarm, mit einem Verbrauch von knapp über drei Litern soll sie über 100 Euro kosten. Da sieht man, das ist einfach unsinnig, was da gemacht werden soll, unökologisch." Auch werde die PKW-Maut, so wie sie die Bundesregierung plant, kaum Geld einbringen, um Straßen und Brücken zu reparieren. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt rechnet damit, dass durch die PKW-Maut pro Jahr nach Abzug der Kosten über 600 Millionen Euro reinkommen. Diese Zahl wird von Wissenschaftlern bezweifelt. Auch der Verkehrsclub Deutschland hat nachgerechnet. VCD-Experte Lottsiepen sagt, genaue Zahlen stünden nicht zur Verfügung, wenn man jedoch die für die Bundesregierung günstigsten Zahlen annehme, "dann kommt man auf Einnahmen, die irgendwo bei 250, 350 Millionen liegen, bei sehr hohen Erhebungskosten, die muss man ja noch abziehen. Letztendlich droht also ein Minusgeschäft." Um mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur rein zu bekommen, gebe es kurzfristig bessere Wege, sagt der VCD. So ließe sich etwa die Mineralölsteuer anheben. Ein Cent mehr Mineralölsteuer brächte 600 Millionen Euro zusätzlich - also etwa so viel, wie die PKW-Maut nach den Berechnungen der Bundesregierung. Auch ließe sich über die LKW-Maut mehr Geld rein holen. So sollten mehr LKW zahlungspflichtig werden. Bisher müssen LKW ab 12 Tonnen zahlen, nächstes Jahr wohl ab 7,5 Tonnen. Der VCD fordert, dass die LKW-Maut schon ab 3,5 Tonnen fällig wird. Denn unter 3,5 Tonnen soll ja die PKW-Maut greifen. Auch der VCD fordert seit Jahren so eine PKW-Maut, aber eben nicht mit einer Pauschale so, wie die Bundesregierung sie jetzt umsetzen will. Der VCD will: Je mehr man fährt, desto höher die Maut. "Auf längere Sicht brauchen wir sicherlich eine fahrleistungsabhängige Maut. Das ist bei der LKW-Maut längst bewährt. Damit man das einfach gerecht hin bekommt, dass man eine ökologische Lenkungswirkung hat, eine soziale Lenkungswirkung hat, sollte man dazu übergehen. Dazu sind aber auch noch ein paar Probleme zu klären, das ist nicht von heute auf morgen machbar." Die Probleme liegen auf der Hand: Wenn wirklich gemessen wird, wer wann wie viel Auto fährt, lässt sich der Verkehr lenken, Staus vermeiden, weil etwa Autofahren morgens in der Rush-Hour auf der Autobahn teurer sein könnte als mittags auf der Landstraße. "Damit würde man natürlich erreichen eine Entflechtung, aber man würde auch für die Menschen die Kosten erhöhen, die angewiesen sind, morgens um sieben in der Fabrik zu sein." Das viel größere Problem aber dürfte der Datenschutz sein. Für eine Kilometer abhängige Maut müsste genaue erfasst werden, welches Auto wann wie lange wohin fährt. VCD-Mann Gerd Lottsiepen ist das Problem bewusst: "Da brauchen wir ganz klare Gesetze und es muss ganz klar geregelt sein, dass es nicht weiter gegeben werden darf, dass das auch nicht weiter geben werden darf an irgendwelche Firmen, die uns dann mit Werbung bombardieren." Doch auch die Daten der LKW-Maut sollten eigentlich nur zur Abrechnung verwendet werden, auf keinen Fall für andere Zwecke. Doch längst wird der Ruf lauter, die Daten auch zur Strafverfolgung zu nutzen.
Von Philip Banse
null
"2014-08-22T11:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:10.603000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umweltschutz-oeko-verkehrsclubs-kritisieren-geplante-pkw-100.html
91,102
Vom Eise befreit
Besucher mit Eisblöcken aus Grönland im Rahmen der Ausstellung "Ice Watch Paris" vom dänischen Künstler Olafur Eliasson, Paris Dezember 2015 (EPA / Guillaume Horcajuelo) Ende der 1960er-Jahre entstand in den USA eine höchst einflussreiche Kunstrichtung, die sogenannte Land Art. Die Künstlerinnen und -Künstler platzierten dabei raumgreifende Werke zunächst gern an abgelegenen Orten mitten in der Natur; an Orten, wo garantiert kein Kunstmuseum und kein Kulturtourismus in der Nähe waren. Sie frönten dabei einem Begriff der reinen Kunst als Gegensatz zum Kunstmarkt, und sie wollten schon gar nichts mit der Ökobewegung zu tun haben, die nur wenige Jahre später in Europa und Amerika auf den Plan trat. Klimakunst als Mode Mittelfristig entwickelten sich dann doch thematische Bande zwischen Umweltaktivisten und Künstlern, und daraus entstand wiederum etwas Neues: die sogenannte Environmental Art, die Umwelt-Kunst. Der kurze Blick in die Kunstgeschichte jedenfalls zeigt: Die aktuelle Klimakrisen-Kunst ist gar nicht so aktuell. Es gibt diese Art von Kunst schon lange, und es gab sie schon zu Zeiten, als ihre wichtigsten Protagonisten noch als Wald- und Wiesen-Künstler verschrien waren. Die Erinnerung daran wirft ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von Kultur- und Umweltbewusstsein. Eigentlich kann ja jedem kulturell interessierten Menschen auch der Zustand unseres Planeten nicht völlig egal sein, sollte man meinen. Dennoch wird Kunst, die sich mit Klimafragen auseinandersetzt, heute in großen Feuilletons in Bausch und Bogen als Modeerscheinung abgetan, was soviel heißt wie: Muss man nicht ernst nehmen. Und es stimmt ja auch: Eine gewisse Scheinheiligkeit des Kulturbetriebes, der sich weiterhin gern von Autokonzernen, Massentourismus oder der Schwerindustrie sponsern lässt, offenbart sich gerade dann, wenn Museen und Biennalen um die spektakulärste Show zur Klimaapokalypse konkurrieren. Kunst setzt keine neuen Debatten mehr, lässt sich daraus schließen, sie sucht sich pseudokritisch nur noch Themen, die ohnehin schon in aller Munde sind. Natürlich ist der Kulturbetrieb nicht plötzlich grün geworden. Ehrensache für seriöse Kulturkritik, sich nicht vor dem Wagen irgendwelcher Werbekampagnen zu spannen zu lassen – oder? Schmelzendes Eis als Kulturkritik Das Problem daran ist: Kunst und Kulturbetrieb werden im moralischen Furor gegen den Verfall der guten Sitten schon seit langem in einen Topf geworfen. Künstlerinnen und Künstler aber wie Lois und Franziska Weinberger, die einst bei der documenta 10 ein ganzes Gleis am Kasseler Hauptbahnhof von importierten Pflanzen überwuchern ließen, arbeiten seit Jahrzehnten unter Einbeziehung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen an Fragen zu Umwelt und Klimawandel. Es sind Künstlerinnen und Künstler, deren Werk immer kultur- und auch kunstmarkt-kritisch und als solches auch immer wie ein Frühwarnsystem war. Ihre Arbeit lief den heutigen Debatten lange voraus, ohne dabei sonderlich hervorgehoben zu werden. Auch der derzeitige Weltstar der Ökokunst, Olafur Eliasson, hat nicht immer schon so ökologisch widersinnige Aktionen ausgeheckt wie jene 120 Tonnen schweren Blöcke Grönlandeis, die er mit gewaltigem Aufwand nach London verschiffen ließ, um sie dort spektakulär schmelzen zu lassen. Doch wer dieser Kunst jetzt aus Gründen der Kulturkritik ihre plötzliche Aktualität anlastet, bezeugt damit eigentlich nur eines: Teile eben dieser Kulturkritik und des Kulturbetriebes haben die letzten Jahrzehnte der Kunstentwicklung offenkundig verschlafen und es sich einträchtig in ihrer Ignoranz bequem gemacht. Und wer so jäh aufwacht, muss sich nun natürlich wundern, warum alle plötzlich vom Klima reden.
Von Carsten Probst
Nach der Wende gab es Gedenkkunst. Kunst zur Flüchtlingsproblematik entstand seit 2015. Der neueste Trend: Klimakunst. Keine Ausstellung scheint aktuell ohne einschlägige Werke zur Erderwärmung auszukommen. Konsensfähig, aber folgenlos sei das, urteilt der Kunstkritiker Carsten Probst.
"2019-08-05T17:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:04:46.639000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/von-der-land-art-zur-klimakunst-vom-eise-befreit-100.html
91,103
Was tun, wenn die Kita dicht macht?
Wegen Warnstreiks der Erzieherinnen an kommunalen Kitas bleiben ab Freitag viele Kitas erst mal zu. (imago / Michael Westermann) Kirsten Kimmich ist in Eile. Gerade hat sie ihre beiden drei und fünf Jahre alten Söhne in eine Troisdorfer Kita in der Nähe von Bonn gebracht. Jetzt muss sie zur Arbeit nach Frankfurt. Die anstehenden Streiks sind für sie und ihren Mann "eine Katastrophe. Wir sind beide vollzeitbeschäftigt und haben momentan noch keine Ahnung, wohin mit den Kindern." Paragraf 616 im Bürgerlichen Gesetzbuch könnte da eigentlich helfen. Denn der sieht vor, dass Eltern bei persönlichen Verhinderungsgründen für einige Tage zu Hause bleiben können. Das ist das kranke Kind, das betreut werden muss, könnte aber durchaus auch ein Streik sein, bestätigt der Bonner Fachanwalt für Arbeitsrecht Thomas Regh: "Aber Vorsicht! Diese Vorschrift gilt nur für einen vorübergehenden Zeitraum und auch nicht für alle Arbeitnehmer. Diese Vorschrift kann auch im Arbeitsvertrag ausgeschlossen werden und auch tarifvertragliche Regelungen können diesen Anspruch einschränken, beispielsweise auch im Öffentlichen Dienst so geschehen." Den Arbeitsvertrag prüfen Deshalb die Empfehlung: Mit dem Chef sprechen und den Arbeitsvertrag prüfen. Wobei es allerdings sowieso nur um einige Tage gehen könne, so Regh. Mehrere Wochen müsse der Arbeitgeber niemanden freistellen und wenn er es trotzdem tut, muss er dafür keinen Lohn zahlen. Viele Eltern bekommen momentan den Tipp: Nimm doch eine Tagesmutter. Da allerdings kann die Troisdorfer Tagesmutter Regina Tenhaef nur müde lächeln. "Meine Plätze sind alle besetzt. Die Anfragen sind da - aber keine Kapazitäten frei. Und ich kenne auch keinen hier in der näheren Umgebung, die noch Kapazitäten haben." Und selbst wenn noch ein paar Plätze frei sind: Im benachbarten Köln können zum Beispiel nur rund 2.000 Kinder in Kita-Notdiensten betreut werden - von insgesamt knapp 17.000, die in den 230 städtischen Kitas untergebracht sind. So viele Tagesmütter gibt es gar nicht. Was also tun? Urlaub nehmen? "Einzelne Tage sicherlich möglich, aber ich habe vor Kurzem erst angefangen nach drei Jahren Elternzeit wieder zu arbeiten. Wenn ich da jetzt ankomme, ich brauche über längere Zeit Urlaub, werden die mir wahrscheinlich auch was anderes erzählen." Trotzdem können Urlaubstage eine Lösung sein, rät der Arbeitsrechtler Thomas Regh. Selbst, wenn der Chef erst mal sagt: Urlaub, das passt gerade gar nicht. "Denn auch der Arbeitgeber hat ja die Pflicht, auch die Wünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Auch er muss unter Umständen organisatorische Maßnahmen treffen, um dem Urlaubswunsch des Arbeitnehmers nachzukommen. Das heißt, hier wird man unter Umständen eine Lösung finden können, indem beispielsweise zunächst ein paar Tage gewährt werden." Kein rechtlicher Anspruch auf unbezahlten Urlaub Auch unbezahlter Urlaub kann eine Lösung sein, einen rechtlichen Anspruch darauf hat man allerdings nicht - genauso wenig darauf, die Kinder mit zur Arbeit zu nehmen. Auch hier kann der Arbeitgeber schlicht "Nein" sagen. Bei Katharina Kaschulla würde das sowieso nicht funktionieren. Sie ist freie Hebamme und ihr Mann ist ebenfalls selbstständig. Bei allem Verständnis für die Erzieherinnen ärgert sie sich, dass sie für ihre zwei Söhne fast 300 Euro für Kita und Mittagessen bezahlt und dafür jetzt keine Leistung bekommt. "Die hätte ich auch gerne wieder. Weil die Leistung ist nicht erbracht. Und wenn ich nicht arbeiten gehe, verdiene ich auch kein Geld. Und ich werde in der Zeit, wo meine Kinder zu Hause sind, nicht so arbeiten können, wie ich sonst arbeiten würde, und das heißt für jeden Hausbesuch, den ich nicht leiste, eine ganze Menge weniger Geld." Peter Sonnet, Sprecher der Stadt Troisdorf, dämpft da allerdings schon jetzt die Erwartungen: "Da gibt es keine Möglichkeit, Geld zu erstatten bei diesen Kita-Beiträgen. Das wäre für die Stadt ein großer Verlust. Also das können wir uns eigentlich nicht leisten." Ähnlich sehen das auch andere Kommunen. Einen juristischen Anspruch auf eine teilweise Rückerstattung der Kita-Beiträge habe man erst, wenn die Kitas mindestens 24 Tage am Stück schließen, heißt es zum Beispiel von der Stadt Köln. Allerdings gebe es Überlegungen, den Rat der Stadt beschließen zu lassen, je nach Streikdauer zumindest einen Teil der Beiträge zurückzuzahlen. Jede Kommune entscheidet da auch nach Kassenlage. Anders ist die Lage beim Geld für das Frühstück oder Mittagessen. Das ist vertraglich meistens extra geregelt und Eltern können das Geld für die nicht erbrachten Leistungen nach den Streiks zurückfordern.
Von Jörg Sauerwein
Hunderttausende Eltern müssen sich von Freitag an auf unbefristete Streiks in den kommunalen Kitas einrichten. Viele Mütter und Väter stehen deshalb jetzt vielleicht über Wochen ohne eine dringend benötigte Kinderbetreuung da. Allerdings gibt es Alternativen - von der Tagesmutter bis zum unbezahlten Urlaub.
"2015-05-06T17:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:35:30.652000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streik-der-erzieher-was-tun-wenn-die-kita-dicht-macht-100.html
91,104
Huber: Wir wussten nichts vom Fall Schmid
Tobias Armbrüster: Knapp fünf Monate vor der bayerischen Landtagswahl hat die CSU auf einmal einen schweren Klotz am Bein. Die Partei muss erklären, warum führende Politiker in ihren Büros jahrelang Familienangehörige beschäftigt haben. Gestern ist der bayerische Fraktionschef Georg Schmid aus genau diesem Grund zurückgetreten: Seine Frau war mehr als 20 Jahre lang in seinem Büro angestellt für zuletzt mehr als 5000 Euro Brutto im Monat. Bei uns am Telefon ist jetzt der ehemalige CSU-Chef Erwin Huber. Schönen guten Morgen, Herr Huber.Erwin Huber: Guten Morgen.Armbrüster: Herr Huber, warum hat Ihre Partei dieser Art von Vetternwirtschaft jahrelang zugesehen?Huber: Zunächst einmal: Die Partei weiß das ja gar nicht. Jeder einzelne Abgeordnete gibt am Jahresende eine Erklärung ab und er muss natürlich auch hineinschreiben, ob da Familienangehörige beschäftigt waren. Es war so, dass bis zum Jahr 2000 das ganz normal in Bayern erlaubt war. Man hat es im Jahr 2000 beendet, alle Parteien zusammen, eine Entscheidung. Nur man hat seinerzeit gesagt, Altfälle dürfen weitergeführt werden. Das heißt, all diese Verträge sind zunächst einmal legal und keiner, der das gemacht hat, hat sich gesetzeswidrig verhalten.Armbrüster: Legal ja, das bestreitet, glaube ich, auch niemand. Aber es ist ja trotzdem ein System, das zum Missbrauch geradezu einlädt.Huber: Aber man muss jetzt zunächst einmal wissen: Diese Leute haben sich nicht illegal verhalten. Legal ja, aber ich wollte gerade dazu sagen: Das ist natürlich, glaube ich, unter den heutigen, vielleicht etwas strengeren Augen, wie man sieht, auch vom Bürger her nicht mehr vermittelbar. Weil es die Gefahr des Missbrauchs gibt, gibt es auch ganz unterschiedliche Fälle. Und wir wussten das ja auch nicht, das ist ja nicht bekannt gegeben. Als es jetzt bekannt geworden ist, es sind 17 Altfälle, ist ja auch sofort gehandelt worden binnen weniger Tage. Es sind Verträge gelöst worden, um aus diesem Missbrauchsverdacht herauszukommen. Und wir haben bereits eine Regelung eingebracht im Landtag, dass dies mit Ende dieser Legislaturperiode endet. Also diese Altfallregelung wird jetzt beendet.Armbrüster: Das heißt, Herr Huber, Sie wollen uns und unseren Hörern heute Morgen erklären, dass die CSU nicht darüber im Bilde war, dass Herr Schmid seine Ehefrau angestellt hat?Huber: Ich will niemandem etwas weiß machen. Ich möchte einfach nur die Fakten sagen. Jeder einzelne Abgeordnete ist da selber verantwortlich und gibt gegenüber dem Landtagsamt diese Erklärung ab. Ich habe beispielsweise nicht gewusst, dass es solche 17 Altfälle noch gibt. Das ist ja auch nicht veröffentlicht worden. Es ist einfach mal die Tatsache. Aber natürlich, als wir das erfahren haben - auch Seehofer beispielsweise hat das nicht gewusst -, als wir das erfahren haben, ist ja auch sofort gehandelt worden.Armbrüster: Das fällt mir jetzt wirklich schwer zu glauben, dass Sie und auch Herr Seehofer davon nichts gewusst haben.Huber: Darf ich mal sagen: Wie soll man denn das wissen? Die Regelung ist die: Jeder Abgeordnete bekommt – das ist ja gestiegen im Laufe der Jahre – jetzt bis zu 7000 Euro für die Beschäftigung von Mitarbeitern im Stimmkreisbüro. Er beantragt auch die Summe und muss am Jahresende eine Erklärung abgeben. Und zwar alles gegenüber dem Landtagsamt. Das wird weder in einer Statistik veröffentlicht, noch wird das insgesamt bekannt gegeben, sondern jeder muss dies gegenüber dem Amt selber erklären.Armbrüster: Und das interessiert dann in der Partei jahrelang niemanden, dass der Herr Schmid da die Frau Schmid beschäftigt hat?Huber: Es hat das niemand gewusst. Und deshalb ist der Verdacht, hier würde mehr oder weniger systematisch und von allen gedeckt irgendetwas betrieben, was moralisch nicht in Ordnung ist - das ist der Fehler oder die Entscheidung jedes Einzelnen, aber es ist nicht so, dass hier kollektiv Wissen darüber da war. Also es ist jetzt nicht eine Ausrede. Faktum ist, dass niemand im Landtag die Namen wusste, dass das Landtagsamt zunächst sich ja auch geweigert hat, die herauszugeben. Und dann hat man es geprüft und etwa nach vier, fünf Tagen hat man dann durch die Landtagspräsidentin auch die Namen öffentlich genannt dieser 17 Leute. Und das wird jetzt beendet.Armbrüster: Herr Huber, warum haben denn in den vergangenen Jahren fast ausschließlich CSU-Politiker von dieser Regelung Gebrauch gemacht?Huber: Es ist so: Es waren natürlich am Anfang im Jahr 2000 insgesamt 50 und es sind natürlich praktisch bei jeder Wahl weniger geworden, weil solche Altfälle natürlich auch weniger werden. Das war ja auch die Intention. Und ich muss sagen, im Jahr 2000, als man die Änderung gemacht hat, haben alle Parteien, die seinerzeit im Landtag waren, gesagt, man lässt diese Altfälle weiter zu, sie werden ja von Wahl zu Wahl weniger. Ich würde aus der heutigen Sicht sagen, es wäre klüger gewesen, dann eine Endfrist zu setzen, meinetwegen 2003 oder 2008, als die Wahlen waren. Aber zunächst einmal: Die CSU hat nicht allein diese Regelung zur Begünstigung der eigenen Abgeordneten gemacht, sondern alle.Armbrüster: Aber die CSU hat sie vor allem genutzt!Huber: CSU-Abgeordnete haben sie genutzt, nicht die Partei als System. Diese Unterscheidung ist schon wichtig. Natürlich: Wir haben jetzt zwei neue Gruppierungen drin im Landtag, Freie Wähler und FDP, die sind erst 2008 gewählt worden, die können das nicht sein. Und vor allem die SPD ist ja sehr viel kleiner geworden seit 2000. Das sage ich jetzt ohne Spott, das ist einfach nur die statistische Zahl. Ich habe mich auch gewundert, dass es 17 sind. Nur diese 17 Leute sagen, wir haben nichts Unrechtes getan. Dennoch sage ich, das ist nicht vermittelbar, und deshalb wird das beendet.Armbrüster: Was bedeuten diese Erkenntnisse denn jetzt für Ihre Partei fünf Monate vor der Wahl?Huber: Das ist natürlich nicht positiv, weil man das natürlich durchaus auch negativ darstellen kann. Denn nicht alles, was legal ist, ist auch legitim, ist verständlich zu machen. Nicht alles wird von den Bürgern auch als korrekt angesehen. Und deshalb ist es natürlich, würde ich sagen, ein Malus, fünf Monate vor der Wahl, den wir zu verkraften haben. Deshalb wird auch schnell gehandelt und das beendet.Armbrüster: Nicht korrekt ist eine schöne Beschreibung. Viele Beobachter haben eher den Eindruck, wir haben hier mal wieder das Bild einer selbstherrlichen CSU vor Augen, einer Partei, die sich wenig um die politischen Spielregeln kümmert, und auch von der Amigo-CSU ist auf einmal wieder die Rede.Huber: Dass man natürlich dann Verdächtigungen ausgesetzt wird, dass es im politischen Kampf gegen uns verwendet wird, dass es auch als Diffamierungsgegenstand gebraucht wird – Sie zitieren das ja nur -, das ist leider auch üblich im politischen Alltag. Aber das ist in dieser Form nicht gerechtfertigt. Es war das Wissen nicht da und es war legal. Und als wir das erfahren haben, ist alles getan worden, das so schnell wie möglich zu beenden. Das sind die Fakten.Armbrüster: Können Sie denn ausschließen, dass es weitere CSU-Landtagsabgeordnete gibt, die ähnliche Beschäftigungsverhältnisse in ihren Büros haben?Huber: Ich persönlich kann das nicht ausschließen, weil ich über die Informationen nicht verfüge. Ich kann nur sagen, dass das Landtagsamt offiziell erklärt hat, es sind diese 17 Fälle.Armbrüster: Die allerdings inzwischen alle ihre Beschäftigungsverhältnisse beendet haben? Oder gibt es die möglicherweise nach wie vor?Huber: Viele haben das sofort freiwillig beendet. Ich weiß es nicht, es könnte noch einige geben. Aber es wird ja auch die gesetzliche Grundlage geändert. Wir haben bereits in dieser Woche einen Gesetzentwurf eingebracht, dass diese Regelung mit Ablauf dieser Legislaturperiode, das heißt im September, beendet wird. Jetzt habe ich aber auch einen Fall: Einer der Abgeordneten hat eine langjährige Sekretärin und dessen Frau ist vor längerer Zeit verstorben. Er heiratet dann diese Sekretärin, und dann sagt er, muss ich ihr jetzt kündigen, weil sie meine Ehefrau ist, obwohl sie die gleiche Arbeit macht. Ich will jetzt nicht eine Rechtfertigungsrede halten. Ich will nur sagen: Es sind unterschiedliche Fälle, die man auch unterschiedlich bewerten muss.Armbrüster: Und das ist sicher ein Einzelfall. Das war live bei uns heute Morgen hier im Deutschlandfunk Erwin Huber, der ehemalige CSU-Parteivorsitzende und heutige Landtagsabgeordnete. Besten Dank, Herr Huber, für das Gespräch heute Morgen.Huber: Schönen Tag.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Erwin Huber im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der Fraktionschef der CSU im bayerischen Landtag hat jahrelang seine Ehefrau zu einem hohen Gehalt mit Aufträgen versorgt. Ex-CSU-Chef Erwin Huber sagt, weder er noch Ministerpräsident Horst Seehofer wussten über solche Beschäftigungsverhältnisse Bescheid.
"2013-04-26T06:50:00+02:00"
"2020-02-01T16:15:54.433000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/huber-wir-wussten-nichts-vom-fall-schmid-100.html
91,105
Ein Job zwischen allen Stühlen
Stadtansicht mit der Baustelle des Humboldt Forums, März 2018 (imago stock&people) Nach der überraschenden Absage der Stuttgarter Museumsmanagerin Inés de Castro wird der Posten des Sammlungsdirektors im Berliner Humboldt Forum nun intern besetzt. Der 59-jährige Musikethnologe Lars-Christian Koch soll die Aufgabe nach dem Willen des Stiftungsrats übernehmen. Koch ist Fachmann für Indische Instrumente und Musikarchäologe, langjähriger Leiter der Abteilung für Musikethnologie in Dahlem und zuletzt auch kommissarischer Direktor. Er ist durchaus renommiert in seinem Fach und lehrt in Berlin an der Universität der Künste – also ist die neue Aufgabe "genau sein Bereich" meint Kulturkorrespondentin Christiane Habermalz aus Berlin. Schwierige Besetzungsgeschichte Man habe sich lange schwer getan, den Job im Humboldt Forum zu besetzen, so Habermalz. Bei der ersten Runde hätten sich kaum passende Kandidaten beworben. Dann habe man sich in der zweiten Runde für Inés de Castro entschieden, die im letzten Moment einen Rückzieher gemacht habe - Koch sei der Zweite auf der Liste gewesen. "Diese ganze schwierige Besetzungsgeschichte deutet ja auch schon an, dass das kein Job ist, um den sich die renommierten Museumsleute des Landes reißen - obwohl er die Leitung von zwei enorm wichtigen Sammlungen beinhaltet, des Ethnologischen Museums in Dahlem und ab Herbst auch des Museums für Asiatische Kunst in Dahlem." Ein Job, in dem man sich wenig profilieren kann Dass die Entscheidung für Koch auch eine Entscheidung für einen Mann aus dem eigenen Haus ist, kann laut Habermalz auch von Vorteil sein. "Gerade die Dahlemer Kuratoren mussten in den letzten Jahren viel einstecken. Sie haben die Dauerausstellung im Humboldt Forum konzipiert, die dann immer wieder von Gründungsintendant Neil Mac Gregor zerpflückt wurde. Da ist die Unmut und die Verunsicherung besonders groß, was ihre zukünftige Rolle im Humboldt Forum angeht. Es kann also auch durchaus gut sein, wenn es dort jemanden aus den eigenen Reihen gibt, der jetzt die Sammlung im Humboldt Forum übernimmt." Schwierig ist die neue Aufgabe von Koch in jedem Fall, so Habermalz. Er habe eine Doppelfunktion und werde "zwischen allen Stühlen sitzen": Koch werde Sammlungsdirektor im Humboldt Forum und damit zuständig für die Dauerausstellung - aber nicht allein, denn daneben gibt es den Generalintendanten, der noch benannt werden muss. Er wird für das Programm des Hauses zuständig sein, für Wechsel- und Sonderausstellungen. Dazu gibt es auch noch die Humboldt Forum Kultur GmbH, die bereits jetzt das Kulturprogramm plant. Insgesamt ist Kochs neues Amt - so resümiert Christiane Habermalz - "ein Job, in dem man sich wenig profilieren kann, aber mit vielen Klippen und Unwägbarkeiten".
Christiane Habermalz im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske
Die Suche hat ein Ende: Lars-Christan Koch wird neuer Direktor für die Sammlungen im Berliner Humboldt Forum. Das ist auch eine Entscheidung für einen Mann aus dem eigenen Haus - Koch war bis jetzt Abteilungsleiter am Ethnologischen Museum in Dahlem. Auf ihn warte keine einfache Aufgabe, meint Kulturkorrespondentin Christiane Habermalz.
"2018-03-19T17:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:44:06.112000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-direktor-der-sammlungen-im-humboldt-forum-ein-job-100.html
91,106
Ampel-Bündnis setzt unterbrochenes Treffen fort
Fortsetzung der Gespräche im Bundeskanzleramt: Der Koalitionsausschuss setzt heute seine Beratungen fort. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld) Das Treffen, das bereits am Sonntagabend begonnen hatte, war nach 19-stündigen Verhandlungen vertagt worden. Über konkrete Inhalte wurde nichts bekannt. Oppositionspolitiker werteten die Vertagung der Gespräche als Bankrotterklärung der Koalition. Der CDU-Vorsitzende Merz kritisierte die Bundesregierung als "stehend K.O." Linken-Fraktionschef Bartsch sprach von einer Blamage. Diese Nachricht wurde am 28.03.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
SPD, Grüne und FDP setzen am Vormittag ihr unterbrochenes Koalitionstreffen fort. Die Teilnehmer suchen weiterhin Kompromisse in diversen Konflikt-Fragen. Vor allem geht es dabei um mehr Klimaschutz im Verkehrsbereich und einen schnelleren Bau von Autobahnen.
"2023-03-28T15:00:26+02:00"
"2023-03-28T00:42:41.898000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ampel-buendnis-setzt-unterbrochenes-treffen-fort-100.html
91,107
"Der Zug in Richtung G9 ist nicht aufzuhalten"
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus (Horst Galuschka, dpa picture-alliance) Die Einführung des Abiturs nach acht Jahren in den Ländern sei überstürzt und konzeptionslos erfolgt, sagte Kraus. Er sei froh, dass jetzt wieder eine Debatte über eine Rückkehr zum Abitur an deutschen Gymnasien nach neun Jahren begonnen habe. "Der Zug ist nicht mehr aufhaltbar", gerade in den großen Bundesländern. Die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre sei ein Fehler gewesen. Auf die Entwicklung der Schüler sei keine Rücksicht genommen worden, sagte Kraus. Die Schüler seien bei ihrem Abiturs ein Jahr weniger reif, ein Jahr weniger erwachsen. Er plädiere für eine Vereinheitlichung der Bildungswege, nicht der Schulformen. Die Rahmenbedindungen in den einzelnen Bundesländern seien noch sehr unterschiedlich. Das Gymnasium sei die erfolgreichste Schulform der Welt. Das Abitur in Deutschland mit den Schulabschlüssen in anderen Ländern sei nicht vergleichbar, sagte Kraus. Der Lebensalter sei nicht alles, was nach einem Studium zähle. Auch Arbeitgeber legten immer mehr Wert auf gereifte Persönlichkeiten. Das vollständige Interview Jürgen Liminski: Die Investition in Bildung bringt die beste Rendite, meinte schon Benjamin Franklin, aber meinte mit Rendite nicht nur Gehalt, sondern vor allem Gewinn für die Persönlichkeit. Um diesen potenziellen Gegensatz zwischen Wissensanhäufung und Persönlichkeitsbildung geht es auch bei der Diskussion um das Gymnasium mit acht oder neun Jahren. Manche Länder haben dieses Experiment acht Jahre Gymnasium beendet, andere sind noch in der Überlegung, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen. Wieder andere wollen das Abitur vereinheitlichen. Was wird aus G8 oder G9 in Deutschland? Bietet sich hier eine Chance für die Vereinheitlichung der Schullaufbahnen. Zu diesen und anderen Fragen rund um die Bildungsdiskussion in Deutschland begrüße ich den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus. Guten Morgen, Herr Kraus! Josef Kraus: Guten Morgen, Herr Liminski! Liminski: Herr Kraus, die Diskussion um G8 oder G9 ist noch in vollem Gang. Als Präsident des Lehrerverbandes haben Sie bundesweit Einblick in die Diskussion. Bekommen wir da noch einmal ein einheitliches System hin? Kraus: Ich bin sehr froh, dass diese Debatte wieder angefangen hat, denn die Einführung des G8 in der Mehrzahl der deutschen Länder war ein großer Fehler. Erstens, weil sie überstürzt erfolgt ist, diese Einführung, und zweitens, weil sie konzeptionslos war, und drittens, weil sie keine Rücksicht genommen hat auf das, was man sich unter gymnasialer Bildung vorstellt, und auch keine Rücksicht genommen hat auf Tatsachen aus der Entwicklungspsychologie. Man kann nun einfach mal Entwicklungen nicht beschleunigen. Und dass wir heutzutage Abiturienten haben, die ein Jahr weniger erwachsen, ein Jahr weniger reif sind als im neunjährigen Gymnasium, das haben wir nun mit den ersten G8-Jahrgängen festgestellt. Aber wenn Sie darauf abheben, dass wir eine Reihe von Bundesländern haben, die nun zurück wollen zum G9 oder das auch schon entschieden haben, dann kann ich das nur begrüßen. Ich glaube, der Zug in Richtung G9, zurück zum G9, ist nicht aufhaltbar. Und wenn wir eines Tages dann wieder in der Mehrzahl der Bundesländer, vor allem der großen Länder, ein G9 haben werden, würde ich das sehr begrüßen. Niedersachsen geht in die Richtung, Hessen geht in die Richtung, Baden-Württemberg teilweise in die Richtung, und in Bayern zeichnet sich das auch ab. Liminski: Wäre das nicht auch eine Chance für eine Vereinheitlichung der Schullaufbahn, wenigstens zeitlich? Kraus: Ich möchte eine Vereinheitlichung der einzelnen Bildungswege. Ich möchte deutschlandweit eine Vereinheitlichung des Weges zum Abitur, des Weges zur mittleren Reife, des Weges zu einem Hauptschulabschluss, egal, wie man ihn nennt. Aber ich möchte natürlich keine Vereinheitlichung über alle Schulformen hinweg, da bin ich nach wie vor ein Überzeugter eines differenzierten Schulwesens mit jeweils eigenen Schulprofilen. Schulprofile, die dann der Unterschiedlichkeit der Begabungen und des Leistungsvermögens von Kindern gerecht werden. Erkennbares Bemühen um etwas mehr Vergleichbarkeit Liminski: Immerhin haben sich jetzt sechs Länder, Herr Kraus, auf einen gemeinsamen Aufgabenpool für das Abitur geeinigt. Bringt das nicht länderübergreifend mehr Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit? Kraus: Es ist ein erster kleiner Ansatz. Aber ich betone, ein sehr kleiner Ansatz. Das, was wir jetzt in den sechs Ländern haben mit Teilen von Abituraufgaben, mit einem gemeinsamen Aufgabenpool erfasst aber bestenfalls im einstelligen Prozentbereich das Abiturzeugnis. Wir haben nur Teilaufgaben. Es ist eine von fünf Deutschaufgaben beispielsweise, und das bedeutet, dass wir nach wie vor keine Vereinheitlichung haben im Bereich der elften, im Bereich der zwölften Jahrgangsstufe, also in den beiden letzten Schuljahren, die ja zweidrittel mit ihren Leistungen des Abiturzeugnisses, der Abiturwertung ausmachen. Dann haben wir in den Ländern zum Teil vier, zum Teil fünf Abiturprüfungsfächer. Auch die werden nur teilweise erfasst. Also es ist ein zunächst mal erkennbares und anerkennbares Bemühen um etwas mehr Vergleichbarkeit. Aber es ist auch ein erhebliches Stück Schaufensterpolitik, denn die Bedingungen, die Rahmenbedingungen für das Abitur sind nach wie vor von Bundesland zu Bundesland sehr, sehr unterschiedlich. Hier muss sich einfach die Kultusministerkonferenz noch mal selbstkritisch besinnen, ob das so der richtige Weg ist. Ich will keine Vereinheitlichung des Abiturs in Deutschland, ich möchte auch nicht, dass jetzt dort Berlin oder ein Bundesbildungsminister bestimmt, was in Sachen Abitur in den 16 Ländern geschieht. Liminski: Bei all der Vielfalt und den zum Teil doch großen Unterschieden – hat sich denn der Bildungsföderalismus nicht doch überlebt? Wäre mehr Zentralismus nicht angebracht? Kraus: Wir haben in Deutschland eine andere Tradition als in anderen Ländern. Deutschland als Staat ist anders gewachsen als etwa Frankreich, das ist ganz klar. Wir sind föderal strukturiert, das ist ein Bau- und Architekturprinzip unseres Grundgesetzes. Ich würde mal sagen, es hat sich im Wesentlichen auch bewährt, denn Föderalismus bedeutet Ringen um die beste Lösung, bedeutet Konkurrenz belebt das Geschäft, bedeutet Wettbewerb. Deshalb bin ich ein unbedingter Verfechter gerade auch in Sachen Bildungspolitik eines kompetitiven Föderalismus, also eines Föderalismus, wo es tatsächlich um die Konkurrenz geht, was die beste Gestaltung von Politik betrifft. Leider aber haben wir die Entwicklung in den letzten Jahren, dass wir etwa in dem Gremium der Kultusministerkonferenz eher immer Beschlüsse haben in Richtung des Kompromisses, des Kompromisses, sodass sich immer mehr auch anspruchsvollere Bildungsländer in Deutschland dann an einem Mittelmaß orientieren oder gar an den Schwächeren orientieren. Hätten wir in Deutschland beim Regierungswechsel 1969 einen Bildungszentralismus gehabt, ich sage es mal sehr platt, hätten wir wahrscheinlich heute in ganz Deutschland PISA-Ergebnisse wie in Bremen oder Berlin. Das Collège in Frankreich ist einheitlich, aber ungerecht Liminski: Noch mal zum Bildungsföderalismus. In Frankreich, Sie haben es ja eben auch kurz erwähnt, gibt es ein Zentralabitur und G8, die französischen Studenten haben mit 23 oder 24 ihren Abschluss und sind damit eher im Berufsleben und wettbewerbsfähiger als deutsche Studenten, gerade in dieser ersten Phase des Berufslebens. Ist das kein Vorbild oder ein Wettbewerbsvorteil? Kraus: Ich möchte der These ein bisschen widersprechen, dass das Lebensalter beim Abschluss einer Hochschulausbildung unbedingt ein Konkurrenzvorteil ist. Ich glaube, dass man auch seitens der Arbeitgeberschaft und seitens der Wirtschaft allmählich kapiert hat, dass es nicht bloß um solche Äußerlichkeiten wie Lebensalter, sondern wirklich um gereifte Persönlichkeit geht. Im Übrigen ist Deutschland mit Frankreich und umgekehrt nicht ohne Weiteres vergleichbar. Das, was am Ende von zwölf Jahren in Frankreich als Schulabschluss da steht, ist nicht vergleichbar mit dem deutschen Abitur. Wenn ich mir beispielsweise vergegenwärtige, dass man in Frankreich, wenn man wirklich den deutschen Begriff des Abiturs verwenden will, eine 80-prozentige Abiturientenquote hat, also dass es fast nichts mehr außerhalb dieses Schulabschlusses gibt. Wenn ich mir vergegenwärtige, dass die Folge natürlich ist, das wissen wir, dass in Frankreich eine Studierabbrechquote von 60 Prozent da ist; wenn ich mir vergegenwärtige, dass eine Classe prépératoire erst mal dazwischengeschaltet werden muss, wenn man die Aufnahmeprüfung an einer renommierten Hochschule haben will – also bitte Vorsicht mit solchen Vergleichen. Frankreich hat in den 1970er-Jahren das Schulsystem vereinheitlicht mit der Folge, dass sogar ein ehemaliger Staatspräsident Sarkozy gesagt hat, wir haben das Collège unique bekommen, ein einheitliches Collège bekommen, aber es ist ein Collège inique, ein ungerechtes Collège geworden. Also wir sollten auf unsere eigenen Traditionen besinnen. Das Gymnasium ist noch die erfolgreichste Schulform der Welt, aber man ist dabei, diese Schulform zu atomisieren. Liminski: Die Vielfalt im deutschen Schulwesen hat viele Vorteile – das war Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kraus! Kraus: Danke auch, Herr Liminski! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Josef Kraus im Gespräch mit Jürgen Liminski
Die Einführung des Abiturs nach acht Jahren in der Mehrzahl der Bundesländer sei ein Fehler gewesen, sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, im Deutschlandfunk. Er begrüße es, dass das jetzt in einigen Ländern wieder rückgängig gemacht werde.
"2014-05-10T06:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:40:11.811000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/g8-versus-g9-der-zug-in-richtung-g9-ist-nicht-aufzuhalten-100.html
91,108
Neuling mit Ambitionen
Im Februar 2015 ging MTN-Qhubeka bereits bei der Katar-Rundfahrt an den Start. (dpa / picture alliance / Kim Ludbrook ) Als Doug Ryder sein afrikanisches Rad-Team vor drei Jahren angemeldet hat, haben nicht alle ihn ernst genommen. Witzbolde haben Vergleiche mit dem jamaikanischen Bob-Team gezogen. Den sogenannten "Cool Runnings". Aber Doug hat diese Sprüche locker genommen: Schließlich seien die Jamaikaner durchaus erfolgreich gewesen. Zumindest am Anfang. Aber mit einem lustig-lockeren Winterspaß haben die Pläne von MTN-Qhubeka nichts zu tun. Doug plant sein Projekt seit zehn Jahren generalstabsmäßig. Er hat zwei große Träume, basierend auf einer einfachen Theorie: "Wenn Afrika die besten Langstreckenläufer des Planeten hervorgebracht hat, warum nicht auch Radrennfahrer? Unser Traum ist, einen farbigen Fahrer zum Rad-Weltmeister zu machen. Und ein afrikanisches Team zum größten Radsport-Event der Welt zu bringen - zur Tour." Deutsches Know-How in Südafrika Um diese Ziele zu erreichen, vertraut Doug Ryder auch deutschem Know-How: Sportdirektor des Teams MTN-Qhubeka ist der Wiesbadener Jens Zemke - ein ehemaliger Radrennfahrer und Sportchef bei verschiedenen Radsportteams. Und mit dem Kölner Gerald Ciolek und dem Frechener Andreas Stauff sind auch zwei deutsche Fahrer im Team. "Die Deutschen lieben Südafrika - deswegen war es für uns einfach, sie an Bord zu holen", sagt Doug Ryder. "Der deutsche Einfluss war großartig. Wir haben die Fahrer geholt, damit sie unser Team mit ihrer Erfahrung anleiten und zum Erfolg bringen. Gerald Ciolek hat da eine große Rolle gespielt. Als er vor zwei Jahren Mailand-San Remo gewonnen hat, hat er uns von einem Niemand im Radsport zum Rockstar-Team katapultiert". Neben den deutschen sind noch erfahrene internationale Fahrer im Team dabei. Der Norweger Edvald Boasson Hagen zum Beispiel, der schon mehrere Tour de France Etappen gewonnen hat. Oder der US-amerikanische Sprint-Spezialist Tyler Farrar. Der Stolz von MTN-Qhubeka sind aber die schwarzen afrikanischen Fahrer: Sie kommen unter anderem aus Eritrea und Ruanda. Ländern, die man im internationalen Radsport bisher kaum beachtet hat. Für die dortigen Rennfahrer ist der Radsport nicht nur Spaß und sportliche Herausforderung. Er verändert Leben, sagt Doug Ryder. Zum Beispiel das von Adrien Niyonshuti aus Ruanda. "Seine sechs Brüder sind im ruandischen Völkermord getötet worden. Das Radfahren ist für ihn wie eine Befreiung vom Schmerz der Vergangenheit. Die Schmerzen auf dem Rad sind nichts im Vergleich zu dem, den er in seiner Familie erlitten hat. Egal woher aus Afrika sie stammen: Der Radsport gibt diesen Jungs die Möglichkeit, ihre eigene Situation zu verbessern, aber auch die ihrer Gemeinschaft und ihres Landes." Wie Radsport Leben verändert Auch das Leben von Songezo Jim hat sich durch das Rennradfahren drastisch verändert. Dabei wusste er vor zehn Jahren noch nicht einmal, wie man überhaupt Fahrrad fährt. "Ich saß mit 14 das erste Mal auf dem Rad. Das ist eher spät, würde ich sagen. Ich bin ständig gestürzt." Mit 13 Jahren ist Songezo zum Vollweisen geworden und zu seiner Tante nach Masiphumelele gezogen, ein Township in der Nähe von Kapstadt. Dass er zum Radsport gekommen ist, war Zufall. "Ich habe mir den Cape Argus angeschaut. Ein Radrennen, das praktisch an unserer Hütte vorbeifährt. Da hat einer der Fahrer gehalten und sich mit dem Mann neben mir unterhalten. Den habe ich danach gefragt: Kennst Du den Typen? Er hat gesagt: Klar, der wohnt auch hier im Township. Da habe ich gesagt: Ich will auch Radrennfahrer werden! Wie geht das? Wir haben Nummern ausgetauscht und am nächsten Tag bin ich zum Radclub hier gegangen, habe ein Rad bekommen und durfte loslegen." Sein Aufstieg war rasant. Schon nach drei Jahren war er so gut, dass er mit anderen Talenten nach Europa eingeladen wurde, um sich die Tour de France anzuschauen: "Ich kannte damals nur Südafrika, ich habe nie die ganze Größe des Radsports gesehen. Als ich 2008 bei der Tour war, habe ich gesehen: Der Radsport in Europa ist riesig! Da war mir klar: Ich möchte hier Profi werden." Songezo hat sich durchgebissen. Er ist kleine Rennen in Europa gefahren, wurde Sechster bei den afrikanischen Meisterschaften. Seit zwei Jahren ist der Junge aus dem Township jetzt Profi bei MTN-Qhubeka. Wenn er sich weiter so entwickelt, könnte vielleicht er der erste schwarze, afrikanische Radweltmeister überhaupt werden, meint sein Teamchef Doug Ryder. "Songezo muss noch hart arbeiten. Schließlich fährt er erst seit zehn Jahren Rad, das ist ziemlich wenig verglichen mit anderen. Aber er ist mit 24 immer noch jung. Wenn er weiter macht wie bisher, hat er in zwei, drei Jahren definitiv die Möglichkeit dazu." Ein Traum geht in Erfüllung Sein "Tour de France"-Traum wird sich für Songezo in diesem Jahr aber nicht erfüllen. Er sei noch nicht so weit, meint Doug Ryder. Auch Gerald Ciolek aus Köln ist nicht dabei. Seine Ergebnisse in diesem Jahr seien nicht gut genug gewesen. Dafür geht das Team MTN-Qhubeka mit fünf Afrikanern an den Start: drei aus Südafrika, zwei aus Eritrea. Das hat es bei der Tour noch nie gegeben. Teamchef Doug Ryder hat sich damit einen seiner zwei Träume erfüllt. Und freut sich wahnsinnig auf den Tourstart am 4. Juli. "Das ist unglaublich. Wir hatten diesen hochfliegenden Traum eines afrikanischen Teams bei der Tour und kaum einer hat an uns geglaubt. Für mich persönlich ist das phantastisch. Wenn wir uns am 4. Juli an der Startlinie aufstellen, glaube ich kaum, dass meine Augen trocken bleiben werden."
Von Jan-Philippe Schlüter
MTN-Qhubeka aus Südafrika hat eine Wildcard bekommen - damit nimmt zum ersten Mal ein Team aus Afrika an der Tour de France teil. Der Neuling will bei der Tour glänzen, den afrikanischen Nachwuchs fördern und dabei auch noch Gutes tun für die arme Bevölkerung des Kontinents.
"2015-06-28T19:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:44:37.296000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tour-de-france-2015-neuling-mit-ambitionen-100.html
91,109
Mißfelder: Die westliche Welt ist kriegsmüde
Christoph Heinemann: In Libyen ging es für diplomatische Verhältnisse schnell: Gaddafi ließ auf seine Landsleute schießen, der UN-Sicherheitsrat verurteilte das Regime, die NATO unterstützte die Aufständischen militärisch, Gaddafi wurde schließlich gestürzt und getötet. Von diesem Vorgehen können die Syrer nur träumen. Eine Resolution scheiterte im Sicherheitsrat am chinesischen und russischen Nein, über ein militärisches Vorgehen wird offiziell nicht einmal nachgedacht. Heute soll in Tunis die so bezeichnete "Gruppe der Freunde des syrischen Volkes" gegründet werden. Zum Kern dieser Kontaktgruppe zählen die Außenminister der USA, Frankreichs, Großbritanniens, der Türkei, Saudi-Arabiens und Deutschlands. Auch Mitglieder der unterschiedlichen syrischen Oppositionsgruppen werden am Treffen teilnehmen. Für die Vereinten Nationen und die Arabische Liga soll zudem der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan als Sondergesandter vermitteln.Wir haben vor gut einer Stunde ein Gespräch mit Philipp Mißfelder aufgezeichnet. Er ist CDU-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Erste Frage: Viele kommen nach Tunis, die wichtigsten kommen nicht, die Chinesen und die Russen. Was ist von dem Treffen zu erwarten?Philipp Mißfelder: Das Wichtigste ist, dass die Opposition unterstützt wird und dass wir auch einen internationalen Rahmen finden, in dem die Opposition weiter friedlich arbeiten kann, und das ist das Ziel dieses Treffens. Es ist das Ziel, einen Regimewechsel auf lange Sicht herbeizuführen mit diplomatischen Mitteln, und ich hoffe, dass wir heute bei diesem Treffen Fortschritte erleben werden. Aber es ist natürlich bedauerlich, dass es nicht gelungen ist, zwei Weltmächte am Tisch zu haben, die eigentlich in der UNO eine viel deutlichere und bessere Rolle hätten spielen können.Heinemann: Warum ist das nicht gelungen?Mißfelder: Viele russische Politiker haben mir erzählt, dass sie sich überfordert gefühlt haben, nachdem der UNO-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone über Libyen beschlossen hatte und es dann doch zu einem längeren Militäreinsatz der NATO gekommen ist, dass sie gesagt haben, so etwas passiert uns nicht noch mal. Nun ist das eben auf den ersten Blick ein nachvollziehbares Argument, weil tatsächlich der Spielraum ausgenutzt worden ist beim Fall Libyen, aber es ist generell natürlich so, so ein Argument trägt natürlich nicht, denn innerhalb der Vereinten Nationen gibt es ja die sogenannte "Responsibility to protect", also die Verantwortung zum Beschützen, und die muss an dieser Stelle hier greifen, denn die Verantwortung, dass auch ziviles Leben geschützt werden muss in Syrien, das ist die Hauptaufgabe der UNO.Heinemann: Der frühere Verteidigungs-Staatssekretär und SPD-Politiker Walther Stützle erklärte die russische Position in einer Diskussionssendung kürzlich im Deutschlandfunk folgendermaßen:O-Ton Walther Stützle: "Wenn ich in Moskau säße und hätte für den Staats- und Regierungschef oder für den Ministerpräsidenten Medwedew und den Präsidenten Putin aufzuschreiben, was denn die russische Bilanz ist seit 1990, dann müsste ich ihm sagen, die NATO hat euch versprochen, sich nicht auszudehnen bis an die russische Grenze, sie hat das Wort gebrochen. Die NATO hat den Kosovo-Krieg geführt, wir haben geholfen, ihn zu beenden, das waren Ahtisaari und Tschernomyrdin, anschließend haben sie den Kosovo unter sehr fragwürdigen völkerrechtlichen Spielregeln zum Staat erklärt. In Afghanistan haben sie ein Mandat gehabt, um dort eigene Sicherheitskräfte aufzubauen, dem haben wir zugestimmt, was ist geschehen, sie haben einen Krieg geführt. In Irak haben sie eine Wüstenei hinterlassen und wir haben eine unklare Regierungssituation im Irak. In Libyen haben wir ihnen zusammen mit den Chinesen durch die Enthaltung im Sicherheitsrat möglich gemacht einzugreifen, um die Zivilbevölkerung zu schützen, was haben sie gemacht, sie sind in einen Bürgerkrieg eingestiegen und haben den Mörder Gaddafi ermordet, statt ihn vor den Strafgerichtshof zu bringen. Und in der Raketenabwehr haben sie uns vor zehn Jahren schon unter Clinton versprochen, dass wir das gemeinsam machen, und was machen sie, sie machen das allein, weil sie die Bedingungen stellen, die für niemanden erfüllbar sind auf der russischen Seite. Das heißt, Syrien ist unser letzter strategischer Punkt im Nahen Osten und wir können den nicht räumen – mal ganz abgesehen davon, dass wir nicht zulassen können, so würde ich ihm aufschreiben, wenn ich sein Mitarbeiter wäre, dass die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Israel im Nahen Osten alleine bestimmen, was sich tut."Heinemann: Herr Mißfelder, müssen die Syrer die Fehler der NATO ausbaden?Mißfelder: In Teilen schon, weil Walther Stützle hat an vielen Punkten schon recht mit dem, was er gesagt hat. Wenn man sich tatsächlich versuchen würde, in die Perspektive der Chinesen und der Russen ernsthaft zu versetzen, könnte man zu diesen Ergebnissen kommen. Ich glaube, er hat in der Analyse wirklich in fast jedem Punkt recht, außer mit dem letzten Punkt, und der ist dann eben entscheidend strategisch. Ich glaube, es ist eine Überschätzung der amerikanischen Rolle im Nahen Osten. Die Amerikaner spielen im Nahen Osten schon längst nicht mehr die Rolle, die sie unter Bush gespielt haben, und ich glaube auch, sie werden sie in absehbarer Zeit nicht spielen. Ob sie sie überhaupt noch mal spielen wollen, steht auf einem anderen Blatt, aber rein faktisch ist es so – das haben wir schon beim arabischen Frühling gesehen und auch bei der Libyen-Entscheidung, wo ja Frankreich und Großbritannien führend waren -, die Amerikaner ziehen sich an dieser Stelle zunehmend zurück und sie können aus diplomatischen Gründen an vielen Stellen auch nur an Grenzen stoßen. Deshalb: Wenn jetzt Syrien aus humanitären Gründen durch eine Blauhelm-Mission oder durch eine Aktion, durch eine weitergehende Aktion der UNO befriedet werden sollte, dann hat dies nicht unbedingt einen strategischen Mehrwert für die USA, und ich glaube auch nicht, dass die USA dort in einer führenden Position sein werden.Des Weiteren muss ich natürlich sagen, es gibt auch andere Grundsätze, außer der strategischen guten Lage, die Syrien vielleicht für Russland haben mag, und vielleicht der Opportunität, die es offensichtlich für China hat. Es gibt einfach den Grund, auch die Menschen zu schützen, und das ist etwas, worüber solche Weltmächte sich auch im Klaren sein sollten.Heinemann: Sehen Sie denn mit Blick auf die Menschen eine Alternative noch zu einem militärischen Eingreifen?Mißfelder: Ja. Es wird diskutiert in den Vereinigten Staaten, auch die Opposition zu bewaffnen. Das hat in Libyen zumindest dazu geführt, dass die Opposition zäher und stärker wurde.Heinemann: Nur ohne die Luftunterstützung hätte es vermutlich nicht geklappt in Libyen.Mißfelder: Richtig, genau, und ich habe das gelesen, was die Amerikaner dort ins Spiel gebracht haben. Aber wenn man das sich vorstellt, mit welcher Brutalität gerade die Rebellenhochburg Homs zerschossen wird, wenn man dort – kleinste Berichte dringen ja nur noch durch – hört, dann ist, glaube ich, diese Strategie der Bewaffnung der Opposition etwas, wo man ja wenig optimistisch sein sollte.Heinemann: Herr Mißfelder, welche Rolle spielt bei der westlichen Zurückhaltung eine Angst vor einer Islamisierung Syriens und vor einer Destabilisierung des Nahen Ostens?Mißfelder: Ich glaube, eine relativ geringe. Die Zurückhaltung der westlichen Welt, was Syrien angeht, liegt vor allem darin, dass die Amerikaner entschieden haben und ja irgendwie wir auch im Grunde nach dem Afghanistan-Einsatz, dass wir uns nicht in jeden Konflikt hineinziehen lassen und dass wir dabei gleichzeitig unsere selbst gesteckten Ziele von Bewahrung der Menschenrechte und eben "Responsibility to protect", also die Verantwortung zum Beschützen von zivilem Leben, dass wir da selbst an unsere Grenzen stoßen. Das ist eine Sache, die ich sehr bedauere, aber die es einfach in der westlichen kriegsmüden Welt, in der wir nun einmal leben, gerade sehr schwierig macht, hier direkt einzugreifen. Wenn wir den Irak-Krieg nicht gehabt hätten, wenn wir Afghanistan nicht so lange gehabt hätten, glaube ich, wäre die Bereitschaft in allen westlichen Ländern größer gewesen, jetzt hier zu helfen.Heinemann: Stichwort Kriegsmüdigkeit. Die iranische Führung in Teheran steht in Treue fest zu ihrem Atomprogramm, auch nach dem Besuch jetzt der Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde. Was nun?Mißfelder: Ja, der Iran ist offenbar entschlossen, sein Spiel weiterzutreiben. Sie spielen offenbar auf Zeit. Ich habe mir genau durchgelesen und mir genau angehört, was dort Vertreter sagen, die jetzt im Iran waren. Ich komme nur zu einem Ergebnis: der Iran versucht, Zeit zu gewinnen, um das Nuklearprogramm voranzutreiben. Das ist bedauerlich. Wir müssen jetzt alle politischen Möglichkeiten ausschöpfen, dazu gehört wie gesagt die Verstetigung des Embargos, das ist längst überfällig gewesen.Heinemann: Entschuldigung! Das Embargo trifft vor allen Dingen deutsche Autofahrer durch höhere Benzinpreise.Mißfelder: Also der hohe Benzinpreis in Deutschland hat nicht nur mit dem Iran gerade zu tun, sondern auch vor allem mit der hohen Steuerlast, die auf dem Benzinpreis in Deutschland lastet, denn 50 Prozent des Benzinpreises in Deutschland sind nun mal Steuern und nicht Außenpolitik der westlichen Welt. Ich glaube aber, dass der Iran – und das sieht man ja auch gerade, dass das schon ökonomische Folgen hat. Ich hoffe, dass daraus auch politische Folgen sich ableiten. Aber es gab immer bei der Frage Embargo mehrere Seiten, wo gesagt worden ist, vielleicht schweißt das auch das Regime und das Volk enger zusammen, das ist immer eine zweischneidige Sache. Grundsätzlich muss man sagen, der Iran ist auf dem Weg, ein Nuklearstaat zu werden, und das ist eben auch eine Gefahr dann für unsere eigene Sicherheit. Ahmadinedschad hat immer keinen Zweifel daran gelassen, was er denn mit Atomwaffen machen würde, nämlich auch Israel zu zerstören, und das ist auch eine Bedrohung unserer Sicherheit im Westen.Heinemann: Werden die Israelis die militärische Drecksarbeit erledigen müssen?Mißfelder: Amerikanische Experten sagen, jetzt auch öffentlich seit einigen Tagen, dass die Israelis dazu alleine wahrscheinlich nicht in der Lage sein werden. Amerika befindet sich im Wahlkampf und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es einen Alleingang Israels geben würde ohne amerikanische Unterstützung, und das ist natürlich eine breite Involvierung, wo auch die gesamte westliche Welt und das NATO-Bündnis natürlich auch dann bereitstehen würden. Und ich muss vor dem Hintergrund natürlich sagen, ich mache mir große Sorgen um die weitere Entwicklung im Iran, und es ist allerhöchste Zeit, dass der Iran realisiert, dass die militärische Option immer näherkommt.Heinemann: Das Gespräch mit dem CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder haben wir vor eineinhalb Stunden aufgezeichnet.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mit Philipp Mißfelder sprach Christoph Heinemann
Hätte sich der Westen im Irak und Afghanistan nicht militärisch engagiert, wäre die Bereitschaft größer gewesen, in Syrien zu helfen, glaubt CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder. Das Ziel der geplanten Syrien-Kontaktgruppe sei es, einen Regimewechsel mit diplomatischen Mitteln herbeizuführen.
"2012-02-24T07:15:00+01:00"
"2020-02-02T14:43:38.212000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/missfelder-die-westliche-welt-ist-kriegsmuede-100.html
91,110
Messerscharfe Zivilisationskritik
"Eine Kreuzfahrt ist die Endstation der Verbraucherhölle westlicher Lebensträume", schreibt Martin Amanshauser (dpa / Stephan Persch) "Eine Kreuzfahrt ist die Endstation der Verbraucherhölle westlicher Lebensträume man lässt sich einsperren mit all den blasierten Wasserköpfen der Konsumgesellschaft und man verzichtet auf jeden Fluchtweg. 12 Nights Caribbean ist wie Familienweihnachten auf engstem Raum, im erweiterten Verwandtenkreis, überfrachtet mit all den unterdrückten Wünschen, offenen Rechnungen und Ansprüchen, aber zeitlich ausgedehnt auf zwölf Tage. Am Ende wird man selbst zum Wasserkopf." Hier spricht Fred Dreher oder Alarm-Fred wie sich der alleinige Inhaber einer Sicherheitsfirma nennt, die gerade in den Ruin steuert. Irgendwie ist er auf die verrückte Idee gekommen, seiner Frau zum Geburtstag eine familiäre Kreuzfahrt auf dem Luxusliner "Atlantis" zu schenken, die sie obendrein vorfinanziert. Die Ehe von Fred und Tamara ist in der ganz normalen Krise, die 15-jährige Tochter Malvi ist dem Vater zu dünn und gruftig, Tom, der 10-jährige Sohn ist ihm zu dick und verfressen, seine Frau ist ihm zu schön und zu ebenbürtig. Das künstliche Freizeitleben auf dem Luxusdampfer "Atlantis" ist ihm zu abgeschmackt und langweilig, seine Laune ist miserabel. "Die Leute fragen mich immer, ob ich dem kritisch gegenüber steh, aber ich steh einer Kreuzfahrt persönlich viel weniger kritisch gegenüber als meine Hauptfigur Fred. Also Fred hasst das alles und hält es sehr schlecht aus. Ich halts ganz gut aus in einer Kabine zu sein und durchgefüttert zu werden einige Tage, ich mach dann nicht das Animationsprogramm mit, sondern ich schreib halt, ich habs gern das Kreuzfahren." Konflikte auf diesem Familientrip sind vorprogrammiert. Als Fred dann noch seiner alten Liebe, Amelie begegnet, einer Reisejournalistin, die zufällig mit an Bord ist, gehen die Turbulenzen erst richtig los.Können seelische Spannungen einen Sturm auslösen? Jedenfalls gerät die "Atlantis" in ein elementares Unwetter, das der Autor mit einer erzählerischen Wucht beschreibt, die an Edgar Alan Poes Roman "Arthur Gordon Pym" erinnert. "Da kommen Schiffe in Stürme. Überhaupt kommen in der Literatur des 18./19. Jahrhunderts ja immer wieder Schiffe in Stürme, damit hab ich mich beschäftigt und auf unsere moderne Art abgeändert oder einfach im 18.Jahrhundert spielen lassen, aber natürlich hat man da seine Vorbilder. Man könnte einen Sturm nie beschreiben, ohne Beschreibungen von Stürmen aus der Weltliteratur zu kennen, ich glaub das ist wichtig." Luxus-Liner trifft auf Piratenschiff Durch diesen Sturm kämpft sich auch ein Piratenschiff aus dem Jahr 1730. Stürme, so heißt es im Roman, können ein Zeitloch provozieren. Der Kapitän des Schoners "Fín del Mundo" ist kein Geringerer als der legendäre Klaus Störtebeker oder genauer gesagt, eine etwas vom Weg abgekommene Kopie des Originals, denn der echte Seeräuber ist bereits seit 300 Jahren tot und hat in nördlichen Meeren geplündert. Sein Nachfolger hingegen fährt durch die Karibik und leidet unter einer Enter-Hemmung. Meuterei liegt in der Luft. Erst im Kampf gegen die Elemente läuft der Käpten zur Hochform auf. Dann folgt die Ruhe nach dem Sturm und man sitzt fest. Nur ein paar hundert Meter entfernt von einem anderen Schiff aus einer anderen Zeit: der ramponierten "Atlantis." Aber was für ein Schiff ist das aus Sicht der Piraten! Ein mehrstöckiger Turm, wie der von Babel, obwohl im Meer schwimmend, spornt dazu an, gekapert zu werden, flößt aber auch Furcht ein. "Ich bin in Willemstadt gesessen, auf einem Balkon in Curaçao und da ist diese wunderbare St. Anna-Brücke, die aufgeht, eine Pontonbrücke, die biegt sich zur Seite, wenn ein Schiff kommt und sonst ist sie eine Fußgängerbrücke. Und diese Brücke ist auf die Seite gegangen und ein wunderbares, großes Kreuzfahrtschiff ist eingefahren, und nachher ist noch schnell ein historisierendes Schiff hinein gefahren, das ein wenig nach Piratenschiff ausgesehen hat. Und dieses kleine Schiff ist am großen vorbei gefahren. Und ich hab mir in der nächsten Stunde diese Geschichte ausgedacht." Während sich die ungleichen Schiffe manövrierunfähig gegenüber liegen, kommt der Roman so richtig in Fahrt. Auf der "Fín del Mundo" befindet sich auch die einzig wirklich historische Figur, der Geschichte, Anne Bonny, berühmteste Piratin aller Zeiten, die vom Pseudo-Störtebeker geschwängert wurde und ihren Bauch so bald wie möglich loswerden will. Störtebeker will seinerseits die renitente Frau an Bord loswerden, denn eine wie sie bringt nach alter Piraten-Weisheit Unglück. Also setzt er sie mit einer kleinen Abordnung, die den schwimmenden Turm von Babel ausspionieren soll, in ein Boot. In dem sitzt auch Salvino d'Armato, seines Zeichens Geograf, Chronist und Alter Ego des Autors. Ein aufgeklärter, ungläubiger Geist, der wegen politischer Intrigen auf der Flucht ist. Sein Befremden und seine Faszination drückt er in einer sehr eigenen Sprache aus. Das Licht der Aufklärung, das auf der "Atlantis" allgegenwärtig ist, lässt ihn paradoxerweise sogar an seinem Unglauben zweifeln. "Für ihn ist das irr, weil für ihn ja schon alles was er sieht, völlig irr ist. Man muss ja nur an das Licht auf einem Kreuzfahrtschiff denken. Wie im Jahr 1730 Licht gesehen wurde, Licht in der Nacht, eine Fackel, Feuer und was das Licht für uns ist. Irgendwo anknipsen und ein Raum wird hell. Wir können ganze Räume mit Licht erfüllen in Sekunden wie Götter. Und da beginnt Salvino zu denken, na ja vielleicht gibt's doch einen Gott." Hochkomischer Abenteuerroman Der Clou an der Geschichte, die in wechselnder Perspektive und auf zwei Spachebenen erzählt wird: Die Piraten halten den Luxus-Liner nicht etwa für eine Erscheinung aus der Zukunft, sondern für ein Relikt aus einer erstaunlich technisierten Vergangenheit, lassen sich von Fotokameras und Handys faszinieren, interpretieren jedoch die befremdlichen Gegenstände auf abenteuerliche Weise. Die Bewohner der "Atlantis" vermuten in den Piraten zuerst eine ausgeflippte Faschingstruppe, dann Rollenspieler, die nicht mehr aus ihrer angenommenen Identität herausfinden, im schlimmsten Fall sogar islamistische Terroristen. Auf allzu menschlicher Ebene trifft man sich trotzdem. Salvino, der Chronist, kommt mit Freds Verflossener, der Reisejournalistin Amelie zusammen, die dem Geheimnis der Piraten, die in ihren Augen keine sind, auf die Spur kommen will. Malvi, die pubertierende Tochter von Fred und Tamara hingegen, reißt aus und vergnügt sich auf der "Fín del Mundo" mit einem ihres Erachtens echten Jungpiraten. Bei ihm und seinen Freunden will sie auch bleiben, obwohl ihr Vater, Fred Dreher, der sich auf dieser stagnierenden Reise nicht nur um sich selbst gedreht, sondern auch gelernt hat, seine Familie wieder wahrzunehmen, nach besten Kräften um sie kämpft. Etwa zeitgleich bringt Anne Bonny, die Piratin, mithilfe von Tamara, einer ehemaligen Hebamme, ihre ungeliebte Tochter zur Welt. Tamara nennt die Räuberstochter Ronja und nimmt sie mit Einverständnis der Mutter an sich. Einige Rezensenten haben das Buch als leichte Sommerlektüre gepriesen. Das hängt wohl mit dem karibischen Schauplatz zusammen. Martin Amanshausers in vielen Details hochkomischer Meereabenteuerroman ist aber keineswegs seicht, sondern stellenweise überraschend tief. Der Autor hat durch seine Erzählkunst das Schwere leicht gemacht. "Für mich wars irgendwie das entscheidende Buch meines Lebens. Ich wollte das reinbringen was ich kenn und was ich bin und ich wollte diese Fabulierungsverrücktheit, die ich persönlich hab, hinein bringen. Jetzt hab ich es geschrieben und mir am Ende gedacht, es ist ein ernstes Buch. Alle Leute sagen es ist lustig, es ist humorvoll, aber ich habs wirklich nicht so empfunden. Überrascht bei den Lesungen, ich hab natürlich eher unterhaltende Stellen herausgesucht, wie unglaublich die Leute lachen, denn ich hab mir gedacht, es ist ein todernstes Buch." Martin Amanshauser: Der Fisch in der StreichholzschachtelDeuticke Verlag Wien, 576 Seiten, 21,90 Euro.
Von Eva Schobel
Martin Amanshauser schickt in seinem Roman "Der Fisch in der Streichholzschachtel" eine durchschnittliche Familie auf eine Kreuzfahrt in die Karibik. Nach einem Orkan trifft der Luxus-Liner auf ein Piratenschiff aus dem 17. Jahrhundert. Konflikte sind da vorprogrammiert.
"2016-02-10T16:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:13:04.951000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/martin-amanshauser-der-fisch-in-der-streichholzschachtel-100.html
91,111
Bloß nicht an Berlin denken
Wahlkampf in Hessen: Thorsten Schäfer-Gümbel, Spitzenkandidat der SPD, will dabei vor allem über hessische Inhalte reden (picture alliance / Revierfoto) Dicht gedrängt sitzen die Schülerinnen und Schüler der Ricarda-Huch Schule in Dreieich auf hölzernen Turnhallenbänken und Kantinenstühlen. Auf dem Podium vor ihnen sitzen führende Köpfe der Parteien, die bei der Landtagswahl antreten und versuchen zu überzeugen. Es ist Wahlkampfendspurt. "Also ich muss gestehen, dass die Nacht sehr kurz war und die hab ich heute Morgen in der ersten Runde gemerkt, aber sie werden merken, dass das Tempo jetzt zunimmt." Hessische Inhalte: Bildung Tempo machen. Am Morgen nach dem TV-Duell mit Volker Bouffier will Thorsten Schäfer-Gümbel möglichst wenig über Berliner Politik reden. Und die Umfragen? Ja, man merke, Bayern schlage durch. Er meint das schlechte Ergebnis der SPD dort. Umso wichtiger ist es für ihn jetzt über hessische Inhalte zu reden. Zum Beispiel eben über Bildung - neben Wohnen eines der Hauptthemen, mit denen die SPD punkten will. Er hat sichtlich Lust auf die Diskussion, legt das Jackett ab, krempelt die Ärmel hoch. In der Pause kommen Schüler, wollen Autogramme. Thorsten Schäfer-Gümbel, Spitzenkandidat der SPD (re.), bei einer Wahlkampfveranstaltung der Ricarda-Huch Schule in Dreieich. (Deutschlandradio / Ann-Kathrin Büüsker) "Sagst du mir deinen Namen?" "Romeo.""Romeo? Das ist ja mal ein cooler Name." Und stellen Fragen: "Sie haben ja kritisiert, dass es zu wenig Lehrer gibt und zu wenig Geld für die Fortbildungen. Die Frage ist ja, was würden Sie denn jetzt dagegen tun, also ..." "Na, ich würde Geld für andere Sachen ausgeben." Wenn es darum geht, Inhalte zu vermitteln, fühlt Schäfer-Gümbel sich sichtlich wohl. Wann immer ihm eine Frage gestellt wird, hat er eine sehr detaillierte Antwort parat. Der SPD-Mann ist inhaltlich gut aufgestellt, manchmal jedoch sehr technisch in seinen Antworten. Er ist kein Kumpeltyp, keiner, der sich besonders gut verkauft. Er wirkt wie einer, der überzeugen will. Und muss sich hier in der Schule auch nicht mit Fragen zu Berliner oder bayrischen Verhältnissen auseinandersetzen. Schäfer-Gümbel in blauer Schürze "Erbse oder Gulasch?" Straßenwahlkampf in Offenbach. Schäfer-Gümbel und seine Frau Annette stehen mit blauen Schürzen bekleidet hinter großen Töpfen, in denen es blubbert. Sie verteilen Suppe und suchen das Gespräch. "Mit oder ohne Grünzeug?" "Mit bitte.""So wie bei Ihnen. Ohne Grün geht wahrscheinlich nicht.""Eins zu null für Sie." Thorsten Schäfer-Gümbel, Spitzenkandidat der SPD in Hessen, verteilt im Wahlkampf Suppe (Deutschlandradio / Ann-Kathrin Büüsker) Der Mann möchte nicht nur Petersilie auf seine Suppe, er wählt auch eher grün oder links. Um ihn zu überzeugen bräuchte die SPD … "Eine klarere Haltung. Kann mir den Herrn Schäfer-Gümbel zwar gut vorstellen und halte ihn auch für sehr sympathisch. Allerdings muss ich sagen, dass der Kurs der SPD, der Schlingerkurs der letzten Jahre, also wirklich bei mir viel Sympathie gekostet hat." Hessen als Schicksalswahl? Er meint die großen Fragen. Die, die in Berlin entschieden werden. Die Bundespolitik als politische Bürde taucht an diesem Tag in vielen Diskussionen auf. Warum SPD wählen statt Grün, fragt ein Bürger? Schäfer-Gümbel sagt, was er im Wahlkampf immer wieder betont: "Weil den Wechsel, den Wechsel gibt es nur mit uns" Er meint den Wechsel in Hessen. Für die Bürger nimmt er sich Zeit, da müssen die angereisten Fernsehteams warten. Die interessiert ohnehin nur eins - die aktuellen Umfragen. Wie er sich die erkläre, wird Schäfer-Gümbel wieder und wieder gefragt. Und er antwortet wieder und wieder das Gleiche. "Wir stellen fest bei den Umfragen, dass Bayern durchschlägt.""Also offensichtlich schlägt Bayern durch." "Wir erleben in dieser Umfrage, dass offensichtlich die bayrische Situation durchschlägt." Über Bayern nachdenken - lieber nicht. Über Berlin nachdenken? Lieber auch nicht. Hessen als Schicksalswahl für die GroKo? Davon will Schäfer-Gümbel nichts wissen. Er muss weiter, zum nächsten Termin. Vorher muss er allerdings noch telefonieren. Mit Andrea. Es gibt Abstimmungsbedarf in Sachen Diesel. Berlin hinter sich zu lassen - es bleibt schwierig.
Von Ann-Kathrin Büüsker
Plötzlich nur noch fünftstärkste Kraft, ein einstelliges Wahlergebnis: Die Landtagswahl in Bayern hat die SPD durchgeschüttelt. Trotzdem versucht die Partei mit Blick auf die Wahl in Hessen Optimismus auszustrahlen und einfach weiterzumachen. Doch auch hier verliert die SPD in den Umfragen.
"2018-10-23T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:48.233000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-wahlkampf-in-hessen-bloss-nicht-an-berlin-denken-100.html
91,112
Magnetismus gegen Hunger
Alles begann mit einem Eichenbaum im Garten eines Freundes von Gaetano Ranieri. Die Wurzeln dieses Baumes waren so stark mit Trüffelpilzen befallen, dass Ranieri, Geophysiker an der Universität der sardischen Stadt Cagliari, herausfinden wollte, wieso es zu diesem starken Pilzbefall kam. Das Resultat erstaunte Ranieri: die Wurzeln waren im wahrsten Sinne des Worte magnetisiert. Seine Untersuchung ergab, dass sich das Eisen in den Wurzeln chemisch verändert hatte. Das in diesem Eisen enthaltene Mineralgemenge mit Namen Brauneisenstein war zu Magnetit geworden, zu Magneteisenstein. Die Folge dieser für ihn unerklärlichen Transformation: der intensive Befall der Wurzeln mit Trüffelpilzen. Gaetano Ranieri kam nach seiner Untersuchung auf die Idee, die Wirkung des Magnetismus auch bei Pflanzen zu testen. An dem Projekt war auch Luigi Sambuelli beteiligt:Wir testeten den Magnetismus bei schnell wachsenden Nutzpflanzen wie Soja, Bohnen, Blattsalat und Erbsen. Auf zwei Testfeldern säten wir 500 Samenkörner pro Nutzpflanze. Auf Feld 1 wuchsen die Pflanzen ganz normal. Auf Feld 2 war das Erdreich mit Metallfäden ausgestattet worden, die die Pflanzenwurzeln über eine 12-Volt-Batterie mit einer Energie von 0,2 Ampere versorgten.Die Feldbedingungen des Testes waren in punkto Sonnenlicht und Bewässerung sowie Bodenzusammensetzung für alle Pflanzen gleich. Nach vier Monaten wurden die morphologischen Parameter der Pflanzen miteinander verglichen, vor allem die Länge ihrer Keimsprossachsen, der Keimwurzeln und der Blätter. Die Ergebnisse sprachen eine klare Sprache: das Magnetfeld wirkte sich direkt auf das Pflazenwachstum aus. Vor allem im Fall der Sojapflanze. Sie wuchs 70 Prozent schneller als unter normalen Bedingungen. Luigi Sambuelli:Es ist ja bekannt, dass Tiere auf Magnetfelder sensibel reagieren. Untersuchungen an der Universität Mailand wiesen nach, dass Schweine, die Magnetfeldern ausgesetzt sind, schneller als andere wachsen. Das heißt: die Strahlung wirkt direkt auf die Hirnanhangdrüse, eine endokrine Drüse, die für das Wachstum verantwortlich ist.Tauben orientieren sich beim Fliegen dank dieser Drüse an den terrestischen Magnetpolen. Im Fall der Pflanzen hingegen ist der Ionenaustausch zwischen der Wurzel und dem sie umgebenden Erdreich von Bedeutung. Dieser Austausch wird durch ein künstliches Magnetfeld beschleunigt. Mit Hilfe des Magnetfeldes wird das Auxin beeinflusst, das Wachstumshormon der Pflanze. Die Geophysiker aus dem Team von Gaetano Ranieri stellten bei ihren Forschungen ebenfalls fest, dass die künstlichen Magnetfelder einen bakteristatischen, also keimhemmenden Effekt auf die Pflanze haben. In einer von Parasiten befallenen Orangenbaumplantage auf Sardinien testeten die Wissenschaftler ihre Magnetfeldmethode an verschiedenen Bäumen. Die Wurzeln der Testbäume wurden künstlichen Magnetfeldern ausgesetzt - wie im Fall der Nutzpflanzen. Luigi Salmbuelli:Die Wurzeln dieser Bäume wurden mit den Kabeln versehen und nach vier Monaten staunten wir über die Resultate unseres Tests: der Parasitenbefall hatte deutlich abgenommen und die Bäume trugen vier Wochen früher Früchte. Wir vermuten, dass der positive Effekt auf die Wachstumsstimuli des Baumes Parasiten reduziert.Die positiven Ergebnisse der Tests von Ranieri und seinen Mitarbeitern sind für die FAO in Rom von grossem Interesse. Die Welternährungsorganisation sucht seit langem nach schnellwachsenden Nutzpflanzen für Hungerbiete. Die auf Sardinien getestete Magnetfeldmethode könnte, so Mitarbeiter der FAO, bald schon weltweit zum Einsatz kommen.
Von Thomas Migge
Die in Rom ansässige Welternährungsorganisation FAO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen in New York, sucht händeringend nach Nutzpflanzen, die unter schwierigen Bedingungen schnell wachsen und in Hungergebieten zum Einsatz kommen sollen. Aus diesem Grund ist die FAO nicht nur an gentechnisch veränderte Pflanzen interessiert, die von Mitarbeitern in verschiedenen unterentwickelten Ländern und Krisengebieten getestet werden, sondern an einer ganz neuen Methode, mit der Nutzpflanzen schneller als normal wachsen können. Denn schnelleres Wachstum, das wissen die Nahrungsmittelexperten der FAO, kann in vielen Hungergebieten über Leben und Tod entscheiden.
"2004-08-17T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:39:41.143000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/magnetismus-gegen-hunger-100.html
91,113
Auch nachgeholte Infektionen nach Corona-Maßnahmen
Das RS-Virus kann z.B. für ältere Menschen gefährlich werden. Das sollte bedacht werden, wenn man überlegt, ob die Großeltern auf das kranke Kind aufpassen können. (picture alliance/chromorange/Iris Kaczmarczyk)
Sartori, Christina
Derzeit grassieren Atemwegserkrankungen. Mehr als acht Millionen Menschen sind betroffen. Daran haben auch die bisherigen Corona-Maßnahmen ihren Anteil. Aber das bedeutet nicht, dass unser Immunsystem geschwächt ist.
"2022-12-01T16:35:40+01:00"
"2022-12-01T17:27:21.284000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/akute-atemwegserkrankungen-zahl-ueber-dem-niveau-der-schweren-grippewelle-17-dlf-557e53a3-100.html
91,114
Der E-Day steht fest
Der E-Day ist am 29. März. (dpa / picture-aliance / Christian Charisius) Die Online-Ausgabe der Daily Mail jubelte: "Am Mittwoch ist E-Day", der Tag, an dem der Exit aus der Europäischen Union beginnt. Das Blatt spricht von einem historischen Scheidungsprozess, der jetzt in Gang gesetzt wird. Premierministerin Theresa May hatte vor fünf Monaten angekündigt, bis Ende März 2017 den Antrag auf Austritt aus der EU förmlich einzureichen. Jetzt also wird es soweit sein: zwei Tage vor Ablauf der selbstgesetzten Frist. "Die Menschen haben letztes Jahr im Juni nicht nur für den Austritt aus der EU gestimmt, sondern auch für einen Wandel", erklärte May heute während eines Besuchs bei der Regierung in Wales. "Unser Land soll für alle da sein, nicht nur für wenige Privilegierte." Wales denkt über Unabhängigkeit nach Ursprünglich hatte Theresa May wohl schon am letzten Dienstag den Austritt aus der EU beantragen wollen. In der Nacht zuvor hatte das Ausstiegsgesetz die letzten Hürden in beiden Kammern des britischen Parlaments genommen. May hatte sogar schon eine Rede im Unterhaus angekündigt, als die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon ihr einen Strich durch die Rechnung machte. "Wenn die Schotten sich dafür entscheiden, unabhängig zu werden, dann ändert das die Grundlage für Wales ganz erheblich", erklärte jetzt am Morgen die walisische Oppositionsführerin Leanne Wood von Plaid Cymru vor dem Besuch Mays. Die Partei fordert schon lange die Unabhängigkeit für Wales. "Dann existiert das Vereinigte Königreich nicht mehr. Wir sollten über alle Optionen reden, auch über die Unabhängigkeit von Wales." Vorerst ist das im Falle Wales sehr unwahrscheinlich. Theresa May hat zudem den Schotten erst einmal eine Absage für ein zweites Referendum erteilt. Jetzt sei nicht die Zeit dafür. Auf die britische Regierung kommt auch ohne die schottischen Wirren eine Herkulesaufgabe zu. Die EU will den Briten dem Vernehmen nach eine Austrittsrechnung von über 60 Milliarden Euro präsentieren, für laufende Rechnungen, Verpflichtungen und zugesagte EU-Beihilfen. Dann werde Theresa May die Verhandlungen mit der EU abbrechen, heißt es laut "Daily Telegraph" drohend in der Downing Street. Und noch eine Belastung steht an: "In den kommenden zwei Jahren müssen für den Brexit zehn bis 15 große Gesetzesvorhaben verabschiedet werden", warnt Hanna White von der Denkfabrik "Institute of Government". Das werde den parlamentarischen Betrieb zu einem beträchtlichen Teil in Anspruch nehmen. EU feiert Geburtstag - ohne Theresa May Jetzt am Samstag feiert die EU ihren 60. Geburtstag in Rom, das Jubiläum der Römischen Verträge von 1957. Theresa May wird an dem Gipfel nicht teilnehmen. Zwei Tage nachdem der Brief der Briten in Brüssel dann eingegangen sein wird, will die EU-Kommission den Briten antworten. Dann folgen schwierige Verhandlungen, die gemäß Artikel 50 des Lissabon-Vertrags nach zwei Jahren abgeschlossen sein müssen.
Von Friedbert Meurer
Die britische Premierministerin Theresa May will am 29. März den Antrag auf den "Exit", den Austritt aus der EU, einreichen. Dann beginnen schwierige Verhandlungen. Großbritannien wird dabei nicht besonders günstig wegkommen. Die EU will den Briten dem Vernehmen nach eine Austrittsrechnung von über 60 Milliarden Euro präsentieren.
"2017-03-20T18:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:52.817000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-der-e-day-steht-fest-100.html
91,115
Von deutscher Strenge und griechischem Leid
Für die EU gilt Griechenland als gerettet (imago stock&people) So schön kann eine Krise beginnen: Das Wasser im Hafenbecken der kleinen Insel Kastelorizo leuchtend Türkis. Und leuchtend Lila die Krawatte des damaligen griechischen Regierungschefs. Am 23. April 2010 verkündete Giorgos Papandreou hier, am südöstlichsten Rand Griechenlands, dass sein Land ohne Hilfskredite der europäischen Partner keine Chance mehr hat. Das hatte sich im Herbst 2009 schon angedeutet. Es war der Beginn von Finanzkontrollen und Reformen für Griechenland. Geldgeber konnten von diesen Wochen an Bedingungen stellen und kontrollieren, ob Griechenland die dann auch erfüllt. Dafür gab es Hilfen: Im Mai 2010 kaufte die Europäische Zentralbank griechische Staatsanleihen in Höhe von 25 Milliarden Euro auf. Gleichzeitig stieg die Mehrwertsteuer. Beamtengehälter wurden gekürzt. Später noch vieles mehr. Wut und tiefe Sorge bei den Rentnern Es gab laute und deutliche Gegenwehr. Jede Woche demonstrierten Zigtausende Griechinnen und Griechen auf Straßen und Plätzen in Athen, in Thessaloniki und in vielen anderen Städten. Meistens blieb es friedlich, aber später wurde es manchmal auch aggressiv. Athen: Rentner protestieren gegen Sparpläne (dpa, picture alliance, Yannis Kolesidis) Viele Griechen - auch die nicht Gewaltbereiten - waren frustriert, weil von den Hilfsgeldern bei ihnen persönlich nichts ankam. Im Gegenteil: Je mehr Hilfe das Land von außen bekam, desto tiefer schien der Staat seinen eigenen Bürgern in die Taschen greifen zu müssen. Wut, aber auch vor allem tiefe Sorge empfanden viele Rentner wie die 73jährige Despina Tsilali aus Athen: "Ich habe wirklich Angst, ich habe kein Geld. Ich sorge mich aber nicht um mich, sondern vor allem um meine Kinder, weil die im Moment keinerlei Arbeit haben." Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 60 Prozent Als Antonis Samaras, der Chef der konservativen Nea Demokratia, 2012 im zweiten Anlauf einen Regierungsauftrag bekam, wandte er sich auch an die Menschen, die ihn nicht gewählt hatten und versprach allen Bürgern, das Land besser und effektiver umzubauen: "Es ist wirklich ein traumatisiertes Land. Mit einer sehr problematischen sozialen Lage. Deshalb müssen wir jetzt kräftig daran arbeiten, die Ergebnisse zu erreichen, die nötig sind. Damit die Leute wieder lachen können und Hoffnung bekommen." Doch Hoffnung konnte Samaras nur zu Beginn seiner Amtszeit verbreiten. Vor allem stürzte die Wirtschaft weiter und noch tiefer in die Krise. Die Arbeitslosigkeit stieg auf hohe zweistellige Werte – unter Jugendlichen auf mehr als 60 Prozent. Dazu die gefährliche Grexit-Debatte, denn ein Rausschmiss Griechenlands aus der Euro-Zone stand unmittelbar bevor. Viele Politiker nutzten den Grexit auch als eine Art Gespenst, das immer dann im großen Fenster mit Blick nach Brüssel erschien, wenn das Volk im eigenen Land nicht brav sein wollte. Tsipras hat den Spar- und Reformkurs voller Härte durchgesetzt Das griechische Volk bekam als Lohn fürs Zähne-Zusammenbeißen gefühlt rein gar nichts zurück: Armenküchen, Medikamentenspenden, Enteignungen und fehlende Job-Perspektiven beherrschten stattdessen die Schlagzeilen. Alexis Tsipras, der Anführer des Linksbündnisses Syriza, erschien da manchen Griechen geradezu als Messias – Tsipras füllte im Wahlkampf 2015 auch große Plätze: "Wir besiegen die Furcht. Heute eröffnen wir die Straße zur Hoffnung. Wir tun das mit großer Geschlossenheit und mit großem Stolz. Für ein Griechenland mit sozialer Gerechtigkeit und mit Wohlstand. Wir werden ein gleichberechtigtes Mitglied Europas sein, das sich verändert. In einem Europa der Menschen und der Solidarität. Wir sind optimistisch, dass uns die Zukunft gehört und wir werden gewinnen." Griechenland gilt als gerettet Auch Konservative wählten Tsipras im Jahr 2015 zum neuen Regierungschef – ein Experiment oder auch die letzte Chance für die einen. Ein gefährliches Wagnis, eine programmierte Entgleisung für die anderen. Syriza-Chef Alexis Tsipras bei der Ankunft auf der Siegesfeier seiner Partei in Athen (AFP / ANGELOS TZORTZINIS) Das Lächeln, das aus dem Blitzlichtgewitter zu seiner Vereidigung aus Athen um die Welt zog – dieses Lächeln hat Tsipras nie abgelegt. Innerlich hat er sich aus Sicht der weiter links stehenden Kritiker in der eigenen Partei extrem gewandelt. Er habe als linker Politiker den Spar- und Reformkurs härter durchgesetzt als es jeder Konservative je getan hätte, heißt es. Tsipras habe dafür Dutzende Wahlversprechen gebrochen, empört sich dieser Rentner: "Die linke Regierung hat uns verarscht, unser Leben wurde in Fetzen gerissen. Wir können nicht mal unseren Kindern helfen. Wir sind mit einer ehrwürdigen Pension in den Ruhestand gegangen und haben geglaubt, davon auch gut leben zu können. Aber leider will die Regierung, dass wir möglichst früher sterben." Alexis Tsipras im Umfragetief – seit langem schon weiß er, dass ihm nicht mal mehr ein Fünftel der Wahlberechtigten ihre Stimmen geben würden. Im September 2019 wird gewählt. In Europa und Brüssel aber bleibt Tsipras ein recht verlässlicher Partner. Am 20. August läuft das dritte Hilfspaket für Griechenland aus. Das Land gilt offiziell als gerettet. Im Moment ist das jedenfalls so. Mit frisierten Zahlen in die Währungsunion Deutschland traf der Ausbruch der Griechenlandkrise vor gut acht Jahren völlig unvorbereitet. Griechenland war im Jahr 2001 nur aufgrund geschönter Statistiken in die Währungsunion gekommen. Nun ein Haushaltsdefizit, das nicht 3,7 Prozent, sondern plötzlich 12 bis 13 Prozent betrug. Griechenland hatte damit seine Euro-Partner wieder mit frisierten Zahlen getäuscht. Deshalb kostete es Überwindung, jetzt dem Land mit einer Finanzspritze unter die Arme zu greifen. Euro-Staaten wie Deutschland waren damals zudem selbst durch die Finanzkrise schwer getroffen, hatten bereits mit hohen Milliarden-Beträgen Banken gerettet. In dieser Situation drohte auch noch eine Staatspleite in Griechenland. Finanzminister Wolfgang Schäuble musste viel Überzeugungsarbeit leisten, um eine kritische Öffentlichkeit, vor allem aber die Bundestagsabgeordneten aus dem eigenen Unionslager, für die unpopuläre Rettungsaktion zu gewinnen. "Es geht ja nicht darum, dass wir Steuergelder zur Verfügung stellen. Wir haften nur mit Steuergeldern. Es sind Kreditlinien, bis zu denen Griechenland diese Kredite in Anspruch nehmen kann und unter der Bedingung, dass Griechenland sein ungewöhnlich hartes Sanierungsprogramm umsetzt." 1. Hilfspaket: 22,4 Milliarden Euro Der deutsche Anteil für das erste Hilfspaket lag bei 22,4 Milliarden Euro. Ein zweiter Grundsatz sollte die Griechenland-Debatten hierzulande für die nächsten Jahre prägen: Keine Leistung ohne Gegenleistung, Geld fließt nur gegen Reformen, versicherte Schäuble: "Das Programm wird mit bisher einer beispiellosen Strenge alle drei Monate von den europäischen Institutionen überprüft. Und bei der ersten Abweichung werden sofort Konsequenzen gezogen." Dabei blieb es. Griechenland erhielt das Geld aus den Hilfspaketen immer nur in Tranchen ausgezahlt. Vor jeder Auszahlung prüfen Experten der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalen Währungsfonds IWF, ob die griechische Regierung die vereinbarten Spar- und Reformauflagen auch umgesetzt hat. Erst wenn die Troika grünes Licht gab, floss das Geld nach Athen. 2. Hilfspaket: 144,5 Milliarden Euro Doch in Deutschland wuchsen mit jeder Milliarde mehr für Griechenland auch die Zweifel, ob das Land die Kredite je würde zurückzahlen können. Denn schon 2011, also ein Jahr nach dem ersten Hilfspaket, wurde klar, dass Griechenland noch ein zweites Hilfspaket benötigt. Die Verhandlungen darüber zogen sich über Monate hin. 144,5 Milliarden Euro war es schließlich schwer. Das Vertrauen in Griechenland erreichte jetzt einen Tiefpunkt. Auch an den Finanzmärkten war man skeptisch, ob die Länder der Eurozone in der Lage sind, das Griechenland-Problem zu lösen. In dieser angespannten Situation leistete sich Schäuble im fernen Singapur einen Versprecher, der tief blicken ließ: "I think there will no ….– it will not happen that there will be a Staatsbankrott in Greece." Scheitert Griechenland, scheitert auch die Eurozone Damals, im Oktober 2012, war dies ein Satz von ungeheurer Tragweite. Der wichtigste Finanzminister der Eurozone, der Minister, dessen Land bei allen Rettungsprogrammen das meiste Geld gab und dessen Stimme deshalb auch das größte Gewicht hat, hat sich faktisch festgelegt: Es werde keine Staatspleite in Griechenland geben. Denn scheitert Griechenland, scheitert auch die Eurozone. Dann aber wären die Folgen noch schlimmer. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa – und das darf nicht passieren." Angela Merkel hat dies seit Ausbruch der Krise mehrfach wiederholt. Es ist ein Bekenntnis zur Solidarität auch mit Krisenländern wie Griechenland. Dabei blieb die deutsche Bundeskanzlerin, obwohl es immer lauter rumorte in CDU und CSU. Auch die Zahl der Abweichler, die im Bundestag gegen die Hilfsmaßnahmen stimmten, stieg von Mal zu Mal. "Schauen sich Tsipras an, schauen Sie sich Varoufakis an: Würden sie von denen einen Gebrauchtwagen kaufen? Wenn die Antwort darauf 'Nein' ist, dann stimmen sie mit auch Nein heute. Das Elend wird weiter gehen, die nächsten Milliardenzahlungen stehen an. Wir werden uns über ein Volumen von 30 bis 40 Milliarden unterhalten mit Blick auf Juni und es wird kein Ende nehmen." Klaus-Peter Willsch (CDU) war von Anfang an gegen die Hilfsprogramme für Griechenland und fühlte sich Ende Februar 2015 bestätigt. Wieder musste der Bundestag Geld für Griechenland freigeben, wieder bangte die Bundesregierung um eine Mehrheit. Denn zwei Monate vorher hatte sich die Lage erneut dramatisch zugespitzt. Ende 2014 lief das zweite Griechenlandpaket, nur die letzte Tranche stand noch aus. Doch wieder hatte Griechenland nicht alle Zusagen gegenüber seinen Geldgebern erfüllt. Damit nicht genug: Wegen der im Land selbst verhassten Reformen kam es zu Neuwahlen, die das Linksbündnis Syriza gewinnt. Alexis Tsipras wird neuer Premier in Griechenland, Yanis Varoufakis Finanzminister und damit neuer Gegenspieler von Wolfgang Schäuble. Showdown zwischen Schäuble und Varoufakis Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und sein griechischer Amtskollege Yanis Varoufakis (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld) Beide werden schnell zu Lieblingsfeinden. Anfang Februar 2015, beim Antrittsbesuch von Varoufakis in Berlin, kam es zum Showdown: Schäuble beharrte auf Einhaltung des Sparkurses, mahnte weitere Reformen an. Varoufakis wollte das Gegenteil, er forderte für die neue Regierung mehr Luft zum Atmen, sprich mehr Zeit und auch mehr Geld. Schäuble versuchte, den tiefen Graben diplomatisch zu kaschieren: "Was wir jetzt tun müssen, darüber stimmen wir trotz einer intensiven Diskussion noch nicht überein. Also soll ich jetzt sagen: 'We agree to disagree.'" Wir sind uns einig dass wir uns nicht einig sind? Varoufakis wollte nicht einmal das stehen lassen, schaute kurz hinüber zu Schäuble und dann sein legendäre Satz: "We didn’t even agree to disagree from where I’m standing." "Aus meiner Sicht sind wir uns noch nicht mal darüber einig, dass wir uns uneinig sind", so Varoufakis. Tiefer kann ein Zerwürfnis nicht sein. Dabei drängte die Zeit. Griechenland stand das Wasser bis zum Hals, brauchte dringend die letzte Tranche aus dem zweiten Hilfspaket, um danach Verhandlungen über ein weiteres – ein drittes - Paket zu führen. Doch liefern wollte die Regierung Tsipras nicht. Drei Wochen später riss bei Schäuble der Geduldsfaden: "Am 28., 24 Uhr isch over!" Der 28. Februar 2015 war gemeint. Es blieben drei Tage. Athen lenkte schließlich ein, aber über den Berg war das Land nicht. Denn inzwischen pochte der IWF auf Rückzahlung der Milliarden aus dem ersten Hilfspaket und in Athen wurden die letzten Reserven zusammengekratzt. Anfang April verkündet dann eine scheinbar gut gelaunte Christine Lagarde: "Yes, I’ve got my money back." Was bei der IWF-Chefin so scherzhaft klang, hatte einen äußerst ernsten Hintergrund: Hätte der IWF sein Geld nicht zurückbekommen, hätte er zwingend Griechenland für pleite erklären müssen. So schreiben es seine Statuten vor. Und wenn der IWF Griechenland für pleite erklärt, wären auch die Euro-Staaten nicht darum herum gekommen. Das hätte unabsehbaren Folgen für das Land - und die Eurozone. Deshalb musste wieder neues Geld fließen, damit Griechenland liquide bleibt. 3. Hilfspaket: 86 Milliarden Euro Dafür sorgte das dritte Hilfspaket. Im August 2015 wurden noch einmal 86 Milliarden Euro an Krediten zur Verfügung gestellt; über 30 Milliarden davon waren für Rückzahlungen an den IWF bestimmt, der sich immer weiter aus der Griechenlandhilfe zurückzog. "Wenn der IWF nicht mehr dabei ist, dann gibt es ein richtiges Problem", warnte Unionsfraktionschef Volker Kauder in jenen Tagen. Denn ohne IWF-Beteiligung würde die Zustimmung seiner Abgeordneten zum dritten Hilfspaket wackeln. Doch die Abgeordneten wurden vertröstet, der IWF werde später wieder hinzustoßen, versprach die Kanzlerin: "Frau Lagarde, also die Chefin des IWF, hat sehr deutlich gemacht: Wenn diese Bedingungen eintreten, wird sie dem Board, also dem Aufsichtsgremium des IWF, vorschlagen, dass der IWF im Oktober in das Programm eintritt. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass das was die Frau Lagarde gesagt, auch Realität wird." Ohne den IWF möchte auch Kanzlerin Angela Merkel Griechenland nicht länger helfen (dpa/ picture alliance/ Rainer Jensen) Doch dazu kam es nicht. Der IWF machte Schuldenerleichterungen für Griechenland zur Voraussetzung dafür, dass er auch beim dritten Griechenland-Paket einsteigt, doch genau das lehnte die Bundesregierung immer wieder ab. Ohne Schuldenschnitt aber bleibt der IWF außen vor und im Laufe der Zeit versandete die Sache auch in Deutschland. Im Juli dieses Jahres, als der Bundestag die letzte Tranche über 15 Milliarden Euro für Griechenland frei gab, wurde auch die Forderung nach einer IWF-Beteiligung sang- und klanglos ad acta gelegt. Ist Griechenland über den Berg? Fast 250 Milliarden Euro hat Griechenland insgesamt aus den drei Rettungsprogrammen erhalten. Doch bei der Frage, ob das Land nun über den Berg ist, scheiden sich die Geister. Einerseits hat ausgerechnet die Linksregierung von Alexis Tsipras die tiefen Einschnitte ins Sozialsystem durchgezogen, die als Gegenleistung für die Hilfen verlangt worden waren. Lohn dieser Anstrengung: Jetzt, am Ende dieser achtjährigen Rosskur, wo das vorerst letzte Hilfsprogramm ausläuft, erhält Griechenland weitere Erleichterungen bei der Bedienung seiner gigantischen Schulden. Kredite müssen nicht ab 2023, sondern erst ab 2033 zurückgezahlt werden, manche Darlehen laufen jetzt über 42 Jahre bis ins Jahr 2060. Durch solche und weitere Maßnahmen spart das Land in den kommenden Jahrzehnten 34 Mrd. Euro. Die Staatskasse nimmt wieder mehr ein als sie ausgibt Im Sommer 2018 will sich Griechenland wieder neu zu orientieren auf dem freien Kapitalmarkt. Drei wichtige Punkte helfen dabei: Die Wirtschaft wächst, wenn auch nur sanft, die Arbeitslosigkeit ist von dramatisch auf etwas weniger dramatisch zurückgegangen und das Land hat – wie von den Geldgebern gefordert, einen Primärüberschuss von dreieinhalb Prozent erreicht. Bei dieser Rechnung werden Schulden nicht berücksichtigt. "Überschuss" heißt – die Staatskasse nimmt deutlich mehr ein als sie ausgibt. Allerdings konnte der Staat die Staatskasse nur deshalb auffüllen, weil er seinen Bürgern sehr viel zumutete: Renten und Löhne wurden gekürzt um bis zu 50 Prozent, Steuern erhöht, immer wieder. Es hat geschmerzt, doch es war wichtig, sagt der Athener Wirtschaftsprofessor Panajiotis Petrakis: "Es wird noch Jahre dauern, bis wir tatsächlich vieles verändert haben werden. Aber wir sehen schon ganz genau am Horizont, was wir erreichen können. Ja – natürlich mit der großen Einschränkung, dass wir viele soziale Errungenschaften über Bord geworfen haben. Vieles wird jetzt davon abhängen, wie unsere Politik da sozial manches abfedern kann." Ein älterer Mann verkauft Taschentücher vor einem geschlossenen Geschäft in Athen (AFP / Aris Messinis) Der Plan der Politik für diesen Sommer scheint klar: Finanzpolster sind angelegt, damit es keinen Engpass gibt, auch wenn das Geld, das Griechenland sich nach der Sommerpause vermehrt auch vom freien Kapitalmarkt holen muss, wieder teurer wird als eingeplant – durch höhere Zinsen etwa. Auf dem Rücken der Bevölkerung Die Chancen, die Griechenland trotz aller Bedenken und Gegen-Rechnungen bleiben, liegen auf dem ziemlich breiten Rücken der Bevölkerung. Geduldig, zäh und leidenserfahren arbeiten oder hangeln sich Millionen von Menschen nun schon seit so vielen Jahren durch ihr Leben. Der jungen Start-Up-Unternehmer Stavros Tsombanidis etwa. Er hat es mit seinem kleinen Vorzeige-Betrieb für Smartphone-Hüllen und Brillengestelle aus getrocknetem Seegras in griechische und in eine große US-Zeitschrift geschafft. Er sagt: "Wir müssen aber auch handeln. Und wenn wir in den nächsten fünf Jahren nicht handeln, werden wir immer die gleichen Klagen führen müssen, dass es Griechenland schlecht geht, wenn wir keine Jobs haben und keine wirtschaftliche Entwicklung." Der griechische Tourismus boomt, manche Branchen wie die Biotechnologie und große Transportunternehmen sind kräftig im Aufwind. Aber das alleine wird nicht reichen, um auf lange Sicht an den Finanzmärkten ohne fremde Hilfe klarzukommen, meint der Athener Journalist Tasso Telloglou: "Ich sehe nicht, dass Griechenland sich selbstständig vom Markt Geld leihen kann. Weil bis August – und das ist die Gretchenfrage – Griechenland sich nicht das Vertrauen der Märkte zurückergattert hat." Das milliardenschwere Finanzpolster, das die griechische Regierung für alle Fälle angelegt hat, dürfte über den Winter reichen. In Wahrheit also wird erst das nächste Jahr entscheiden, ob Griechenland wirklich über den Berg ist.
Von Theo Geers und Michael Lehmann
Fast ein Jahrzehnt lang hielt Griechenlands Finanzdrama Europa in Atem. Der Zusammenbruch des Euros oder ein Austritt aus der Gemeinschaftswährung schien denkbar. Nach strikten Sparprogrammen und Krediten in Milliardenhöhe - vor allem aus Deutschland - muss das Land ab dem 20. August wieder selbst zurechtkommen.
"2018-08-16T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:06:31.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-hilfsprogramm-endet-von-deutscher-strenge-und-100.html
91,116
"Das hat nichts mit den gegenwärtigen Konflikten zu tun"
Der AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu in Rotterdam. (imago / Hollandse Hoogte) Tobias Armbrüster: Es herrscht Eiszeit in den deutsch-türkischen Beziehungen und die Provokationen aus der Türkei, die scheinen, kein Ende zu nehmen. Mehrere Deutsche sind dort nach wie vor inhaftiert. Am Wochenende nun außerdem der Haftbefehl gegen den deutsch-türkischen Schriftsteller Dogan Akhanli in Spanien. Außerdem weitere Verbalattacken von Präsident Erdogan gegen die Bundesregierung, vor allem gegen Außenminister Sigmar Gabriel, was der sich eigentlich erlaube, ihn, den Präsidenten, überhaupt anzusprechen. Welches Ziel verfolgt die Türkei da eigentlich und was bringt den türkischen Präsidenten so in Rage? – Wir wollen das jetzt besprechen mit Mustafa Yeneroglu. Er ist AKP-Abgeordneter im türkischen Parlament und dort Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses. Schönen guten Morgen nach Ankara. Mustafa Yeneroglu: Ja, hallo! Guten Morgen! "Was hat Präsident Erdogan damit zu tun?" Armbrüster: Herr Yeneroglu, Sie müssen uns das erklären. Weshalb lässt die Türkei diesen Konflikt so eskalieren? Yeneroglu: Zunächst einmal gehören zu einem Konflikt immer zwei Seiten. Da müssen wir immer die Fälle auch aufdröseln. Zum Beispiel den Fall Akhanli: In den meisten Medien wird er zum Opfer der Regierung stilisiert, angeblich weil er politisch kritisch sei. Tatsächlich geht es aber hier um einen Vorwurf des Raubmords aus dem Jahre 1989, zu dem ein Strafverfahren anhängig ist, das jedem hinlänglich bekannt ist, auch in Deutschland. Der Freispruch des Strafgerichts aus dem Jahre 2011 wurde durch das Revisionsgericht 2013 aufgehoben, die Sache also zurück an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen. Der Prozess wird demnach fortgeführt, aber der Angeklagte ist nicht da. Was passiert, was in jedem Land auch passiert: Der Angeklagte wird gesucht, wenn er zum Prozess nicht erscheint, und deshalb wird seitdem Herr Akhanli mit internationalem Haftbefehl gesucht. Und was hat Präsident Erdogan damit zu tun? Armbrüster: Aber Herr Yeneroglu, Herr Akhanli wurde jahrzehntelang politisch verfolgt in der Türkei. Es liegt deshalb für viele auf der Hand, dass das alles nur ein Grund ist, um ihn in die Türkei zu bringen und dort zu inhaftieren wegen ganz anderer Vergehen. Yeneroglu: Ich bitte Sie, Herr Armbrüster. Zu dem Zeitpunkt, seitdem er gesucht wird, hatte Präsident Erdogan nicht mal überhaupt irgendein Amt inne. Jetzt wird er dafür verantwortlich gemacht, als ob er persönlich dafür sorgen würde, dass ein Haftbefehl ausgestellt ist und er gesucht wird. Es geht um einen klassischen Fall des Rechtshilfeersuchens und wenn dann auf der Grundlage der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sagt, es geht hier darum, regimekritische Stimmen mundtot zu machen, oder Herr Schulz – Sie sprechen ja permanent von Verbalattacken aus der Türkei -, wenn Herr Schulz, der Kanzlerkandidat von paranoiden Zügen des Präsidenten spricht, dann muss auch dies erwähnt werden und muss deutlich gemacht werden, dass auch zu diesem Konflikt immer zwei Seiten gehören. "Erdogan erwartet für sein Land einen respektvollen Umgang" Armbrüster: Und dass auch die Frau des deutschen Außenministers jetzt am Telefon bedroht und belästigt wird, gehört das mit zur türkischen Strategie? Yeneroglu: Natürlich nicht! Das ist absolut verstörend. Ich habe das eben auch mitbekommen und ich finde das natürlich schrecklich und das hat sicherlich nichts mit der türkischen Strategie zu tun. Da ist irgendjemand, der auf jeden Fall so gestört ist, dass er eine solche Dimension, die unakzeptabel ist, dann auch vornimmt. Das ist ja klar. Armbrüster: Aber kommt so etwas für Sie wirklich überraschend, wenn man sich vor Augen führt, was für persönliche Attacken das ja in den vergangenen Tagen waren, die Ihr Präsident da gefahren hat? Da hat er ja wirklich versucht, Sigmar Gabriel lächerlich zu machen in einer Rede. Ist das dann wirklich überraschend, wenn sich dann andere angestachelt fühlen, es auch so zu machen? Yeneroglu: Es ist keine Agitation, sondern eine Reaktion auf das, was aus Deutschland kommt. Präsident Erdogan, für den ist es wichtig, dass Begegnungen auf Augenhöhe geführt werden. Das ist für ihn eine extrem wichtige Angelegenheit. Er erwartet für sein Land einen respektvollen Umgang. Klar, dass sein robustes Auftreten aus europäischer Sicht nicht gewohnt ist. Das mag wohl stimmen. Aber die Zeiten, wo man auf der anderen Seite permanent mit dem erhobenen Zeigefinger die Türkei maßregeln konnte, sind endgültig vorbei. Darauf weist er permanent hin. Der Türkei wird nicht zugehört Armbrüster: Das heißt, Herr Erdogan dürfte eigentlich auch nur vom deutschen Bundespräsidenten angesprochen werden? Yeneroglu: Nein. Er hat selbst den Außenminister Gabriel, der in der Türkei auch vom Herrn Präsidenten immer willkommen geheißen worden ist, selbst vor anderthalb, zwei Monaten empfangen. Es war ein gutes Gespräch. Inhalte des Gespräches, die auch mir persönlich bekannt sind, sind leider auch teilweise damals nicht eingehalten worden, wie zum Beispiel, dass Herr Gabriel persönlich versprochen hatte, dass er sich mit seinen Landsleuten in Deutschland treffen kann, und zwei, drei Wochen später ist genau das Gegenteil passiert, und das erleben wir permanent. Armbrüster: Das liegt ja möglicherweise auch daran, dass Herr Erdogan dieses Verhältnis immer weiter in Richtung Eiszeit treibt. – Herr Yeneroglu, ich würde gerne noch einmal kurz zurückkommen auf den Fall Akhanli. Da gibt es ja einige interessante Details, unter anderem die Frage, warum er eigentlich per Interpol in Spanien inhaftiert werden sollte. Warum hat sich die türkische Justiz nicht einfach an die deutsche Polizei oder an die deutsche Justiz gewendet? Herr Akhanli war ja nur im Urlaub in Spanien, er lebt eigentlich in Köln. Yeneroglu: Das hat sie ja. Wenn er über Interpol gesucht wird, dann richtet sich dieses Gesuch nicht nur an Spanien, sondern an alle Länder, die Teil des Interpol-Systems sind. Armbrüster: Aber das Ganze sozusagen bilateral zwischen den beiden Justizapparaten auszumachen, dazu fehlt das Vertrauen in Deutschland? Yeneroglu: Nein! Das ist letztendlich ja Deutschland bekannt gewesen. Ich weiß gar nicht, warum aus der ganzen Geschichte ein solch Riesen-Theater gemacht wird und warum daraus eine politische Geschichte gemacht wird. Es hat nichts mit den beiderseitigen gegenwärtigen Konflikten zu tun und nicht das Geringste, und deswegen ist es auch belastend, wenn daraus eine Regime-Thematik gemacht wird und der Türkei oder Präsident Erdogan wieder allerlei vorgeworfen wird, auf der anderen Seite aber nicht zugehört wird, was denn die Türkei dazu zu sagen hat. "Hier ist vielleicht Empathie ein Schlüssel" Armbrüster: Aber ich meine, Herr Yeneroglu, wir sehen ja alle, dass die Türkei seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr einen harten Kurs fährt gegenüber Kritikern der Regierung und dass sie sehr viele Leute zu Terroristen abstempelt, die sich eigentlich nur kritisch über die Regierung äußern. Da ist es ja eigentlich nicht überraschend, wenn Kritik an solchen Verhaftungen – die hat es ja in den vergangenen Wochen häufiger gegeben, auch mit vielen Deutschen -, dass es dazu Kritik an solchen Verhaftungen kommt. Yeneroglu: Ich sehe das anders. Die Türkei erwartet nichts anderes, als was man von einem engen Partner legitimerweise erwarten würde und wo zurecht und internationale Verträge auch verpflichten. Es geht hier um die Auslieferung von mutmaßlichen Putschisten. Es geht hier um hohe Offiziere, die mutmaßlich am Putsch beteiligt sind, wobei mutmaßlich noch verharmlosend ausgedrückt ist. Es ist offensichtlich, dass teilweise Leute direkt an den Putschtagen selbst beteiligt gewesen sind, und deswegen sind ja gerade diese Leute geflüchtet und nicht hunderttausend andere Menschen. Und was würde Deutschland – mal ein Beispiel -, was würde Deutschland von den Niederlanden erwarten, wenn dort Terrororganisationen für den Terror in Deutschland rekrutieren, Finanzmittel generieren und Propaganda betreiben würden, während in Deutschland Menschen täglich Opfer von genau diesen Terrororganisationen wären. Hier ist vielleicht Empathie ein Schlüssel, wenn partnerschaftliche Verpflichtungen nicht mehr reichen sollen. "Theatralisch aufgeführte Welle" Armbrüster: Ich nehme mal an, Deutschland würde zunächst mal versuchen, das Ganze bilateral zu klären zwischen beiden Regierungen und auf keinen Fall damit anfangen, Verbalattacken gegen die niederländische Regierung zu fahren. – Ich würde ganz gerne kurz noch … Yeneroglu: Genau das passiert auch immer in den bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und zwischen Deutschland. Davon sollten wir ausgehen. Armbrüster: Davon ist nur zurzeit wenig zu sehen, Herr Yeneroglu. – Ich würde ganz gerne noch auf etwas anderes zu sprechen kommen. Yeneroglu: Ja, weil das ausartet! Armbrüster: Wir haben ja in vielen europäischen Ländern das Prinzip einer unabhängigen Justiz. Warum eigentlich nicht in der Türkei? Yeneroglu: Genau dieses Prinzip haben Sie auch in der Türkei. Wenn es nicht gefällt, dann ist es nicht mehr die unabhängige Justiz, sondern die Justiz des Regimes oder direkt sogar von Präsident Erdogan. Wenn wir zum Beispiel mal vor Augen führen, dass in Deutschland über 3.000 türkischstämmige Menschen auch in Haft sitzen, und wenn wir in diesem Kontext sogar wissenschaftliche Studien darüber lesen, dass insbesondere Ausländer, Türken häufiger mit Strafvorwürfen konfrontiert werden und häufiger verurteilt werden und die Strafhöhe häufiger ist als bei Inländern, auch das kann man alles kritisieren und das kann man auch zu einem Thema einer Empörungswelle machen. Das betreibt die Türkei nicht, ist aber einer solchen theatralisch aufgeführten Welle ausgesetzt und muss natürlich darauf reagieren. "Deutsche Politiker haben permanent Partei für türkische Parteien ergriffen" Armbrüster: Aber deutsche Politiker schalten sich nie in solche Verfahren ein. Vom türkischen Präsidenten Erdogan hören wir dagegen zum Beispiel Sätze wie, … Yeneroglu: Sie haben natürlich den Fall Marko vergessen. Sie haben vergessen, dass deutsche Politiker selbst persönlich permanent Partei für türkische Parteien ergriffen haben. Sie haben offenbar vergessen, welche Dimension der Einmischung in innere Angelegenheiten insbesondere während des Verfassungsreferendums wir alle doch mitbekommen haben. Sie haben offenbar vergessen, welche lautstarke Unterstützung für Hillary Clinton damals bei der US-Präsidentenwahl von Deutschland aus vorgenommen wurde. Wenn wir von einer Verletzung zum Beispiel der Souveränität Deutschlands sprechen, dann ist für mich zum Beispiel das Ausspionieren des Privathandys der Kanzlerin ein wichtiges Thema. Die Reaktion darauf war, unter Freunden tut man so was nicht. Armbrüster: Aber Herr Yeneroglu, wir sprechen hier über tatsächliche Strafverfahren, über Justizprozesse, und da haben wir zum Beispiel eine Äußerung wie die von Präsident Erdogan, der gefragt wurde nach einer möglichen Auslieferung von Inhaftierten wie Deniz Yücel, und da hat er gesagt, auf keinen Fall, solange ich in diesem Amt bin, niemals. Wir haben dann außerdem eine Äußerung des Europarats zum Rechtsstaat in der Türkei. Da heißt es im Februar dieses Jahres, der Raum für demokratische Debatten ist dramatisch geschrumpft, bedingt durch gerichtliche Belästigung unter anderem von Journalisten, Abgeordneten und gewöhnlichen Bürgern. Das alles wie gesagt vom Europarat ausgesprochen. Das sind doch deutliche Anzeichen dafür, dass die türkische Justiz alles andere als unabhängig ist. Yeneroglu: Nehmen Sie doch den Fall Akhanli. Da hat doch ein türkisches Strafgericht gerade ihn freigesprochen und das Revisionsgericht hat ja dann später diesen Freispruch aufgehoben. Also ist es offenbar doch möglich, dass türkische Strafgerichte frei entscheiden können und auch nicht unbedingt im Sinne von Politikern, die sich dazu äußern, entscheiden. Armbrüster: Und jetzt wird genau dieser Fall weiter fortgeführt und da vermuten viele Leute, da sind auch wieder politische Interessen dahinter. Yeneroglu: So wie es auch in Deutschland immer wieder üblich ist, dass Revisionsgerichte die Entscheidungen von Tatsachengerichten aussetzen beziehungsweise ein anderes Urteil fällen und dann der Prozess wieder neu aufgerollt werden muss. "EU-Mitgliedschaft nach wie vor ein elementar wichtiges strategisches Ziel" Armbrüster: Herr Yeneroglu, dann kurz zum Schluss noch die Frage. Wenn wir uns das alles vor Augen führen, dieser Graben, der da entsteht zwischen der Türkei und Deutschland, deutet der darauf hin, dass eine mögliche EU-Mitgliedschaft keine Option mehr ist für Ihr Land? Yeneroglu: Aus Sicht der Türkei nicht. Aus Sicht der Türkei ist es so, dass die EU-Mitgliedschaft nach wie vor ein elementar wichtiges strategisches Ziel der Türkei ist. Wir erleben aber leider, auch zu meiner persönlichen Positionierung hier, der sich vehement da für die EU-Mitgliedschaft, Vollmitgliedschaft der Türkei einsetzt, und aufgrund auch seiner Sozialisation extrem wichtig ist, dass die europäischen und die türkischen Gesellschaften weiter zusammenwachsen. Für den sind natürlich die letzten Monate, Wochen, Tage extrem verstörend und ich erhoffe mir, dass wir schnellstmöglich zu einem Sachalltag zurückfinden und wieder … Armbrüster: Und da hat uns leider die Leitung nach Ankara verlassen. Das Gespräch sollte aber sowieso in den kommenden Sekunden zu Ende gehen. – Das war der türkische AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mustafa Yeneroglu im Gespräch mit Tobias Armbrüster    
Der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu hat die Festnahme des deutsch-türkischen Schriftstellers Dogan Akhanli verteidigt. Es gehe dabei nicht um politische Verfolgung, sondern um einen Raubmord-Fall aus dem Jahr 1989, sagte er im Dlf. "Ich weiß gar nicht, warum aus der Geschichte so ein Riesen-Theater gemacht wird."
"2017-08-22T07:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:47:04.694000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fall-akhanli-das-hat-nichts-mit-den-gegenwaertigen-100.html
91,117
Fossilen stellen "Biogenetische Grundregel" in Frage
Der deutsche Philosoph und Zoologe Ernst Haeckel stellte 1866 Jahren die Biogenetische Grundregel auf. Erst heute, 150 Jahre später, konnte die Theorie widerlegt werden. (picture alliance / dpa) Aetheretmon gehört zu den wenigen Tieren, die zweimal in der Wissenschaft für Aufsehen sorgen, obwohl die Fischart bereits seit rund 350 Millionen Jahren tot ist. Das erste Mal war 1927, als die Art an der schottischen Küste entdeckt, wissenschaftlich beschrieben und einer heute ausgestorbenen Knochenfischfamilie zugerechnet wurde. Das zweite Mal ist jetzt - Ende 2016 -, denn dieser Fisch wirbelt eine alte These in der Evolutionsbiologie durcheinander, so Lauren Sallan. Die Paläontologin von der Universität von Pennsylvania hatte in den Sammlungen des Naturhistorischen Museums London die alten Fossilien untersucht: "Das waren alles Jungtiere, vom Embryo bis zum fast erwachsenen Tier. Sie zeigen jeden einzelnen Entwicklungsschritt. Und hier konnten wir eine fast 200 Jahre alte These überprüfen, ob also tatsächlich diese frühen Jungfische auch die Evolution wiederholen, ob sie also die bis dato noch sehr kurze Stammesgeschichte spiegeln oder doch etwas ganz anderes zeigen." Haeckels These wurde nie überprüft Zu ihrer Überraschung unterschieden sich die Entwicklungsschritte der alten Embryonen überhaupt nicht von denen heutiger Tiere. Damit stellen diese versteinerten Fische eine der gängigen Thesen in der Evolutionsbiologie infrage, die so genannte Biogenetische Grundregel, die der deutsche Naturphilosoph Ernst Haeckel 1866 formuliert hatte. Dieser zufolge gibt es zwischen der Entwicklung des einzelnen Lebewesens und seiner Stammesentwicklung einen Zusammenhang und zwar in Form einer Evolution im Zeitraffer: "Bei unserem Fossil sehen die Entwicklungsschritte aber genauso aus wie bei modernen Fischen. Es kann aber keine Wiederholung geben, wenn es noch nichts zu wiederholen gibt. Man sieht dieselben Entwicklungsschritte bei Fischen vor 350 Millionen Jahren und bei Fischen, die heute heranwachsen." Das Problem der alten These war, dass sie nie überprüft wurde, einfach weil es bisher keine passenden Fossilien gab. Urfische geben über Entwicklung von Schwanzstrukturen Auskunft Bei den Detailanalysen bemerkte Lauren Sallan auch, dass diese frühen Fische zwei verschiedene knöcherne Schwanzstrukturen zeigen, eine führt bei der Schwanzflosse nach oben, eine nach unten. Beide sind im Hinblick auf die Evolutionsbiologie wichtig, denn deren spätere Entwicklung ist nun erstmals offensichtlich. Die obere entwickelte sich bei Landwirbeltieren zum fleischigen Schwanz, wie etwa Echsen einen tragen. Die untere wurde zur Schwanzflosse bei heutigen echten Knochenfischen. Demnach ist in der Entwicklung der einzelnen Tiere einzig und allein entscheidend, wann eine der Schwanzstrukturen wächst und noch wichtiger - welche nicht weiterwächst. Beide sind jedoch anatomisch grundsätzlich angelegt: "Nun sieht es so aus, als ob die Schwänze bloße Auswüchse sind und zu einer Extremität werden, ähnlich wie ein Bein. Genetische Daten heutiger Fische zeigen ja, wie diese Mechanismen grundsätzlich funktionieren. Diese Fossilien beweisen nun, wie die verschiedenen Schwanzformen aus den beiden Grundtypen entstehen - sie wachsen aber unabhängig voneinander und beeinflussen sich nicht gegenseitig." Bisher galt jedoch die Annahme, dass die ursprüngliche erwachsene Fischflossenform auch noch in Landwirbeltier-Embryonen erscheint. An diese alten Schwanzembryonenbilder, egal ob Huhn, Affe, Schwein oder Mensch, könne sich jeder erinnern, der mal einen Blick in sein Biologiebuch geworfen habe, so Lauren Sallan. Wenn etwas oft wiederholt wird, wird es irgendwann nicht mehr hinterfragt. Bleibt abzuwarten, ob und wann diese alten, nun offensichtlich falschen Behauptungen tatsächlich aus den Schul-und Lehrbüchern verschwinden.
Von Michael Stang
1866 formulierte der deutsche Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel die "Biogenetische Grundregel", nach der viele Tiere als Embryo die Evolution in einer Art Schnelldurchlauf wiederholen würden. Doch die sogenannte Rekapitulationstheorie kann nicht stimmen, berichtet jetzt das Fachmagazin Current Biology.
"2016-12-08T16:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:48.163000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wo-haeckel-sich-irrte-fossilen-stellen-biogenetische-100.html
91,118
"Gefährdungseinschätzung läuft nicht rund"
Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (Imago / Müller-Stauffenberg) Peter Kapern: Bei uns am Telefon ist Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Abend. Guido Steinberg: Guten Abend, Herr Kapern! Kapern: Herr Steinberg, Manuel Valls hat heute den getöteten Terroristen Abdel-Hamid Abu Oud als eines der Gehirne hinter den Anschlägen von Paris bezeichnet. Das besagt doch nichts über dessen Bedeutung für den IS. Können Sie uns da weiterhelfen? Steinberg: Es scheint so, als ob der Herr Abu Oud in der Organisation IS tatsächlich keine Führungsposition innehatte. Die Organisation IS wird ohnehin von Irakern und einigen wenigen Syrern dominiert und für die Ausländer, selbst für die Prominenten unter ihnen, bleibt vor allem die Figur einer Identifikationsfigur, die vor allem in der Propaganda eine Rolle spielt und deren Funktion es ist, Rekruten im Heimatland dazu zu bewegen, in den Irak und nach Syrien zu ziehen. Das galt lange Zeit auch für den Herrn Abu Oud. Das galt hier in Deutschland für Denis Cuspert beziehungsweise "Deso Dogg". Das war sein alter Name als Rapper. Und es galt in England für "Dschihadi John". Also Leute, die nicht ganz so wichtig sind in der Organisation, aber für die dschihadistische Szene in ihren Heimatländern Vorbilder. Kapern: Die Sicherheitsbehörden vermuteten Abu Oud ja bis vor Kurzem noch in Syrien. Nun stellt sich heraus: Er war in Paris. Warum haben die Geheimdienste keine Ahnung gehabt? Steinberg: Ja, das ist tatsächlich sehr schwer zu erklären, vor allem, da es ja eine Vorwarnung gab. Der Herr Sina hat eben in seinem Beitrag schon erwähnt, dass Abu Oud in einem Internet-Magazin der Organisation aufgetaucht ist, und zwar war das, nachdem diese Zelle in Verviers am 15. Januar 2015 aufgelöst wurde. Da tauchte er mit zwei bis drei sehr, sehr klaren Bildern auf und eigentlich hätten da alle Alarmglocken klingeln müssen, dass es ihm schon einmal gelungen war, nach Belgien zu kommen und dann auch wieder nach Syrien zurückzureisen. Es scheint so, als sei er da fröhlich mindestens zweimal hin- und hergereist. Das darf nicht passieren. Kapern: Wie kann das sein? Steinberg: Ich kann es mir tatsächlich nicht erklären. Eine Möglichkeit, die in den nächsten Tagen geprüft werden wird, ist natürlich, ob er vielleicht über die Balkan-Route mit den Flüchtlingen diesen Sommer gekommen ist. Das wäre natürlich ein politisch großes Problem für die Deutschen. Eine andere Möglichkeit ist ganz einfach, dass er mit einem falschen Pass eingereist ist und dass da sämtliche Sicherheitsmaßnahmen des Schengen-Raumes versagt haben. Ich nehme an, dass beides zutreffen kann. "In der Gefährdungsschätzung läuft vieles nicht rund" Kapern: 2014 soll er sogar ab Köln noch Richtung Türkei geflogen sein und erkannt worden sein. Er soll auf einer Liste gestanden haben, die gewissermaßen bedeutete, bitte informiert die Behörden in Belgien, dass der Mann in Europa unterwegs ist, aber unternehmt mal nichts. Steinberg: Ja, das ist richtig. Es gibt solche Listen und wenn da kein Haftbefehl vorliegt, dann wird der betreffende Mensch auch in Deutschland nicht verhaftet. Das gab es schon einmal: Das war der Fall des Attentäters auf das jüdische Museum von Brüssel, Mehdi Nemmouche. Der ist über Frankreich eingereist, aber für den lag kein Haftbefehl vor. Die Franzosen wurden informiert, aber der Herr durfte weiterreisen, weil es keinen Haftbefehl gab. Da läuft offensichtlich in der Gefährdungseinschätzung sehr, sehr vieles nicht rund, und das kann durchaus mit der Funktion dieser Leute zu tun haben, dass sie als Propagandisten gelten, aber nicht als zumindest potenzielle Operateure in einer größeren Terroraktion. "Belgien hat einen schwachen Staat" Kapern: Wir haben nun in den letzten Tagen, Herr Steinberg, gelernt, dass Belgien sich offensichtlich zum Rückzugsraum von Islamisten entwickelt hat. Warum ist das so? Steinberg: Belgien hat seit jeher eine starke dschihadistische Szene und ich denke, dass es eine Rolle spielt, dass wir es dort mit einem extrem schwachen und auch fragmentierten Staat zu tun haben. Andererseits aber ist doch auch auffällig, dass die dschihadistische Szene in Belgien sehr stark von den in diesem Land auch zahlenmäßig sehr starken Marokkanern und anderen Nordafrikanern dominiert wird. Und wenn man sich einmal die Anschläge auf dem europäischen Kontinent in den letzten zehn Jahren anschaut, dann wird man feststellen, dass viele der spektakulärsten Aktionen von Marokkanern oder auch von Tunesiern und einigen Algeriern verübt wurden. Das ist im Moment hier in Europa die aktivste, die aggressivste dschihadistische Szene und die sind nun einmal in Belgien unter den Muslimen sehr, sehr stark vertreten. Das ist einer der Gründe, warum Frankreich und Belgien so stark betroffen sind und Deutschland bisher zumindest etwas weniger. Kapern: Gibt es noch weitere Länder in der EU, die den Kampf gegen den islamistischen Terror bislang nicht so richtig ernst genommen haben oder ähnliche schwache Strukturen aufweisen wie Belgien? Steinberg: Ja es gibt zumindest Länder, in denen die Zahl der ausgereisten Dschihadisten in den Irak und nach Syrien im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sehr, sehr hoch ist, und da folgen auf Belgien vor allem Österreich und Dänemark mit dann doch relativ schwachen Sicherheitsbehörden. Aber wenn Sie einmal den Blick auf Deutschland wenden, dann sind wir ja auch ein Land, in dem die Sicherheitsbehörden, zumindest die Nachrichtendienste recht schwach gehalten werden. Das ist ein Teil unserer politischen Kultur. Und insgesamt werden da alle europäischen Länder bis auf Großbritannien und Frankreich, die recht starke Nachrichtendienste und auch eine starke Polizei haben, in den nächsten Jahren wahrscheinlich nachrüsten. Kapern: Ganz kurz noch zum Schluss, Herr Steinberg. Morgen Treffen der EU-Innenminister. Wenn Sie denen den einen Punkt nennen sollten, den sie als allererstes im Kampf gegen den Terrorismus sofort umsetzen müssen, was wäre das ganz oben auf der Liste? Steinberg: Nachrichtendienste stärken. Es zeigt sich doch immer wieder, dass die Früherkennung von dschihadistischer Aktivität sehr schwach ist. Und die Belgier, die Deutschen, die Franzosen, die haben vor allem eins versäumt, nämlich die Ausreise von jungen Europäern zu verhindern. Erst wenn diese Ausreisenden auf eine große starke dschihadistische Organisation treffen, die sie trainiert, die sie finanziert, die sie anschließend losschickt, um Anschläge in Europa zu verüben, dann werden diese einzelnen jugendlichen Dschihadisten erst so richtig gefährlich. Kapern: Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Steinberg, danke, dass Sie für uns so spät noch zum Hörer gegriffen haben. Steinberg: Ich danke. Kapern: Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen schon mal. Steinberg: Gleichfalls. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Steinberg im Gespräch mit Peter Kapern
Der Terrorismus-Experte Guido Steinberg hat im Deutschlandfunk kritisiert, dass Belgien, Österreich und Dänemark relativ schwache Sicherheitsbehörden hätten. Er rechnet damit, dass diese Länder bald nachrüsten. Auch bei der Gefährdungseinschätzung läuft nach Steinbergs Ansicht vieles nicht rund.
"2015-11-19T23:23:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:04.993000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-in-paris-gefaehrdungseinschaetzung-laeuft-nicht-100.html
91,119
Wärmewende soll Bürger jährlich neun Milliarden Euro kosten
Wärmepumpen sind eine Alternative zu Öl- und Gasheizungen. Laut Gebäudeenergiegesetz sollen aber auch zahlreiche weitere Technologien erlaubt sein. (IMAGO / Wolfgang Maria Weber) Konkret rechnet der Entwurf vor, durch die Vorgabe für die Nutzung von Erneuerbaren Energien beim Einbau neuer Heizungsanlagen entstehe den Bürgerinnen und Bürgern "bis zum Jahr 2028 ein jährlicher Erfüllungsaufwand von rund 9,15 Milliarden Euro". Dem stünden über eine Betriebszeit der Heizungen von 18 Jahren Einsparungen in Höhe von jährlich 11,01 Milliarden Euro gegenüber - weil Öl und Erdgas in den kommenden Jahren wohl absehbar teurer werden. Ab dem Jahr 2029 sollen die Investitionskosten für die Bürgerinnen und Bürger nur noch bei jährlich fünf Milliarden Euro liegen. Wirtschaft muss mit jährlichen Kosten von knapp 2,7 Milliarden Euro rechnen Das Ministerium beziffert auch Kosten für die Wirtschaft. Die Rede ist hier von jährlichen Kosten von 2,69 Milliarden Euro für den Einbau neuer Heizungsanlagen bis 2028. Dem stünden Einsparungen von jährlich 8,26 Milliarden Euro gegenüber. Die Zahlen beruhen laut Wirtschaftsministerium auf wissenschaftlichen Begleitgutachten, die unter anderem unsanierte Einfamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser sowie Verwaltungsgebäude analysieren. Als Alternative für fossile Heizungen wurden Wärmepumpen, Fernwärme- und Pelletheizungen sowie Gas-Heizungen mit 65 Prozent Biomethan angenommen. Gesetzentwurf soll noch im April ins Bundeskabinett SPD, Grüne und FDP hatten sich vergangene Woche auf Details für ein neues Gebäudeenergiegesetz geeinigt. Seit heute können sich die Bundesländer und Verbände dazu äußern, bevor sich noch im April das Bundeskabinett damit befassen soll. Im Kern soll ab 2024 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Neben Wärmepumpen sollen dann zum Beispiel auch andere Technologien wie Solarthermie oder Hybridsysteme aus Wärmepumpe und Gasheizung genutzt werden. Es sind allerdings Ausnahmen und Übergangsfristen vorgesehen, wenn alte Heizungen kaputt gehen. Außerdem soll es Fördermöglichkeiten geben, deren genaue Ausgestaltung ist aber noch unklar. Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände warnen vor Überforderung von Mietern und Eigentümern Wirtschaft und Verbraucherverbände warnen in diesem Zusammenhang davor, Mieterinnen und Mieter sowie Geringverdiener zu überfordern. Die Vorsitzende des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, Pop, erklärte, die Bundesregierung müsse so schnell wie möglich aufzeigen, welche Gruppen mit welcher Förderung rechnen könnten. Außerdem müsse verhindert werden, dass Vermieter die Kosten für neue Heizungen über die Modernisierungsumlage einfach auf die Mieter abwälzten. Der Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW, Gedaschko, verwies darauf, dass es sich bei rund 60 Prozent der Haushalte um Mietwohnungen handele. Die Ampel-Koalition müsse dringend Klarheit schaffen und die Verunsicherung in der Bevölkerung beenden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnte vor einer finanziellen Überlastung von Immobilieneigentümern. Viele von ihnen hätten nicht genügend Geld für die teuren Sanierungen im eigenen Haus oder in der Wohnung übrig, teilte der Verband unter Berufung auf eine selbst in Auftrag gegebene Studie mit. Hauptgeschäftsführer Schneider erklärte, wer ein Haus oder eine Wohnung besitze, sei nicht automatisch vermögend. Wer sein Leben lang auf das kleine Häuschen gespart habe, häufe nebenbei keine Reichtümer an. Einen Beitrag aus unserer Wirtschaftssendung zu den Vorgaben für neue Heizungen können Sie hier hören. Diese Nachricht wurde am 03.04.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Das Bundeswirtschaftsministerium hat erstmals Zahlen genannt, welche Kosten durch den Einbau klimafreundlicher Heizungen auf die Menschen in Deutschland zukommen. In einem Referentenentwurf für die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes ist die Rede von jährlich gut neun Milliarden Euro. Mittelfristig könnten sie dadurch aber sparen, heißt es.
"2023-04-04T14:50:56+02:00"
"2023-04-03T17:40:52.139000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/waermewende-soll-buerger-jaehrlich-neun-milliarden-euro-kosten-100.html
91,120
Antiterrordatei auf dem Prüfstand
Zwei Männer reisen nach Deutschland ein. Sie sind den Sicherheitsbehörden aufgrund ihrer extremistischen Äußerungen bereits bekannt. Ein Beamter beim Flughafen meldet die Namen, ein Kriminalbeamter gibt sie in eine Suchmaske der Antiterrordatei ein. Einer der Männer ist beim bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz erfasst. Jetzt können bei anderen Behörden erweiterte Daten über ihn angefordert werden. Es stellt sich heraus, dass der Mann mit Sprengstoff umgehen kann. Außerdem, auch das ergibt sich aus der Datei, hat er Kontakt zu einem in Deutschland lebenden Fluglotsen. Die Lage ist klar: Gefahr im Verzug. Dieses fiktive Beispiel wurde der Presse und den Gästen beim Festakt zur Freischaltung der Antiterrordatei von einem Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes präsentiert. Am 30. März 2007 drückte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble den Startknopf. Mithilfe der Datei sollen vorhandene Erkenntnisse über Terrorverdächtige und ihre Unterstützer rasch auffindbar sein und dabei helfen, den "internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland" zu bekämpfen, wie es im Gesetz steht. "Wir haben zurzeit knapp 19.000 Personendatensätze, die in der Antiterrordatei gespeichert sind. Die Voraussetzungen für die Speicherung einer Person in der Datei ergeben sich sehr konkret aus dem Gesetz." Das Antiterrordateigesetz ist am 31. Dezember 2006 in Kraft getreten. Ulrich Weinbrenner, Referatsleiter in der Abteilung Öffentliche Sicherheit des Bundesinnenministeriums, erläutert, welche Personen in der Datei gespeichert werden: "Das sind zum einen Personen, die einer terroristischen Vereinigung angehören, diese unterstützen, oder Personen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer islamistischen Ziele unterstützen oder auch diese Gewalt befürworten und in einer dritten Fallgruppe sind dies Kontaktpersonen der eben genannten. Bei denen allerdings zur Einschränkung neben dem Kontakt auch erwartet werden kann, dass durch sie weiter führende Hinweise für die Aufklärung oder Bekämpfung von Straftaten des internationalen Terrorismus zu erwarten sind." Das Antiterrordateigesetz steht morgen in Karlsruhe auf dem Prüfstand. Ein ehemaliger Richter des Oberlandesgerichts Celle hatte bereits im April 2007 Verfassungsbeschwerde eingereicht. Morgen, gut fünfeinhalb Jahre später, findet nun endlich die mündliche Verhandlung vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts statt. "Beteiligt an der Antiterrordatei sind das Bundeskriminalamt, das Bundespolizeipräsidium, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der Militärische Abschirmdienst, der Bundesnachrichtendienst und das Zollkriminalamt sowie unter bestimmten Voraussetzungen weitere Polizeivollzugsbehörden", heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Insgesamt sind 38 Behörden beteiligt. Der Entwurf für ein Antiterrordateigesetz, die rechtliche Grundlage für die Datei, entstand im wesentlichen im Bundesinnenministerium, Abteilung Öffentliche Sicherheit. Im Oktober 2006 wurde der Entwurf von der Großen Koalition im Bundestag eingebracht. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble erhielt als erster Redner das Wort. Die Terroranschläge in den USA vom 11.9.2001, die Attentate in Madrid und in London, aber auch die glücklicherweise gescheiterten Kofferbombenanschläge auf deutsche Regionalbahnen hatten die Prioritäten verändert. Vorrangig war nun der Schutz vor dem internationalen Terrorismus. Schäuble im Oktober 2006: "Das wichtigste Instrument, um Anschläge zu verhindern, ist der Versuch, vorher zu wissen, was die Planungen sind. Deswegen ist Information das wichtigste präventive Mittel, um Anschläge verhindern zu können und Sicherheit gewährleisten zu können." Schon bei der ersten Lesung gab es kritische Stimmen, vor allem aus den Oppositionsparteien. Die FDP-Abgeordnete Gisela Piltz zum Beispiel monierte, die Bestimmungen, wer als Kontaktperson erkannt und dann gespeichert werden kann, seien zu vage. "Denn das sind solche, bei denen Anhaltspunkte für eine Verbindung mit dem Terrorismus sprechen. Meine Damen und Herren, was ist das denn. Sie verleihen ihr Handy an jemanden, Sie telefonieren mit jemandem, reicht das schon?" Petra Pau von der Linkspartei lehnte das Gesetz in Bausch und Bogen ab. "Die Geheimdienste werden enthemmt und aufgerüstet, der Datenschutz wird zum Abschuss freigegeben, der Abbau von Bürgerrechten wird grenzüberschreitend forciert." Auch Wolfgang Wieland von den Grünen störte sich an der Art und Weise, wie die Daten erhoben und gespeichert werden sollten. Gegen eine korrekt geführte Datei hatte er nichts einzuwenden. Und das ist auch heute noch so."Wir haben immer gesagt, grundsätzlich kann man eine solche Datei machen, aber da es so stark in den Bereich Trennungsgebot geht, muss man sie vollständig sauber konstruieren. Das heißt, es darf nirgendwo ein gemeinsamer Datenpool von Polizei und Nachrichtendiensten entstehen und es muss gewährleistet sein, dass jeweils entweder Polizei oder Nachrichtendienst die Hoheit über seine Daten behält und auch alleine entscheidet, was er der anderen Seite herausgibt und zur Verfügung stellt."Das Trennungsgebot bedeutet, dass die Aufgaben der Polizei von denen der Geheimdienste abgegrenzt sein müssen. Es geht zurück auf den sogenannten Alliierten-Brief, der 1949 im Frühjahr geschrieben worden ist und an die Mütter und Väter des Grundgesetzes gerichtet war. "Ursprünglich bestand das Trennungsgebot darin, dass man sagte, es soll ein Zusammenwachsen aller Sicherheitsbehörden verhindert werden, welches in der Bundesrepublik die Gefahr der Gründung einer Gestapo ähnlichen Organisation oder einer Organisation nach Vorbild des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR ermöglichen würde. Und dies sollte in jedem Falle verhindert werden." Professor Christoph Gusy von der Universität Bielefeld. Neben der historischen Dimension, sagt der Staats- und Verfassungsrechtler, gebe es eine weitere, neu entwickelte Bedeutung des Trennungsgebotes."Wenn zwei Behörden Unterschiedliches tun und Unterschiedliches dürfen, dann sollte das natürlich nicht miteinander vermischt werden, dann sollte das also hier voneinander getrennt bleiben. Die Polizei beobachtet rechtswidrige Verhaltensweisen, respektive, sie beobachtet Straftaten und deren Vorbereitung. Der Verfassungsschutz dagegen legale Handlungen, also das Handeln erlaubter Parteien oder Religionsgemeinschaften und so weiter. Und es gibt eine kulturelle Grundentscheidung des Grundgesetzes, die lautet, die Polizei soll eben nur illegales Verhalten aufklären und nicht auch legales. Daraus gibt es jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder, man lässt das Aufklären des legalen Verhaltens einfach sein, oder aber man macht es doch, dann muss es aber durch eine andere Behörde geschehen als durch die Polizei, und das ist der Verfassungsschutz." Das Trennungsgebot werde - zumindest teilweise - in dem Antiterrorgesetz aufgehoben, das ist einer der Kernpunkte in der Verfassungsbeschwerde, über die morgen in Karlsruhe verhandelt wird. Daten, die sich Geheimdienste mit ihren speziellen Befugnissen beschafft haben, dürften nun auch Polizeibehörden auswerten. Ein Experte in diesen Fragen ist der ehemalige Justizstaatssekretär Hansjörg Geiger, der selbst früher Bundesverfassungsschutz-Präsident und danach Bundesnachrichtendienstchef war. Er sieht beim Zusammenspiel der Behörden in der Antiterrordatei ein ernstes Problem. "Wenn man das Trennungsgebot im Hinterkopf hat, dass eine Zusammenarbeit der Behörden oder Zusammenlegung verfassungsrechtswidrig wäre, dann muss man natürlich auch mit besonderem Augenmerk einen Informationsaustausch zwischen den Behörden sehen. Denn wenn die Polizei beispielsweise auf relativ vagen Daten des Verfassungsschutzes - in der Natur der Sache sind die vage - immer Maßnahmen gegen einen Bürger ergreifen würde, dann wären das Eingriffe, die unverhältnismäßig wären, und damit entsteht oder entstünde für den Bürger ein besonderes Risiko, eine besondere Gefahr." Eine Zusammenlegung der Behörden ist verboten, aber der Informationsaustausch ist im Prinzip erlaubt. Darauf baut das Antiterrorgesetz auf. Das Trennungsgebot habe man dabei sehr wohl beachtet, betont Ulrich Weinbrenner aus dem Bundesinnenministerium."Das Trennungsgebot ist eine bewährte Grundlage der Sicherheitsarchitektur in Deutschland, es zieht die Lehren aus der Weimarer Republik, aus dem Scheitern der Weimarer Republik einerseits und dem nationalsozialistischen Terrorregime andererseits. Aber die Antiterrordatei verletzt das Trennungsgebot in gar keiner Weise, sondern sie schafft in zulässiger Weise Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Sicherheitsbehörden, die wir angesichts der Bedrohungslage unbedingt brauchen." Die Datei hat sich bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus bewährt, davon ist Ulrich Weinbrenner überzeugt. "Wir müssen immer damit rechnen, dass es sehr kurzfristige Warnungen gibt, dass Personen nach Deutschland einreisen, um hier Anschläge zu begehen. Und dann kann mit Hilfe der Antiterrordatei innerhalb von sehr kurzer Zeit durch die Behörde, bei der diese Warnung eingeht, eine Abfrage gestartet werden, ob zu diesen Personen Erkenntnisse in Deutschland vorliegen. Diese Zeit, die wir damit sparen, kann Leben retten." Auch Bernd Carstensen, Pressesprecher des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, hält die Antiterrordatei für ein gutes zusätzliches Werkzeug, um islamistischen Terrorismus bekämpfen zu können."Bei einer normalen Hausdurchsuchung irgendwo bei einem Straftäter werden Hinweise auf Veranstaltungen der Salafisten gefunden. Die Kollegen, die das sehen, wissen, dass diese Informationen verarbeitet werden von den Staatsschutzdienststellen. Das heißt also, die Kollegen, die diese Informationen festgestellt haben, informieren den Staatsschutz. Der Staatsschutz bewertet diese Informationen mit schon vorhandenen Informationen oder Daten und entscheidet dann, ob diese Informationen Teil dieser Antiterrordatei sein darf." Die Befürchtung, aus der Verfassungsbeschwerde, die Befugnisse der Polizei auf der einen und der Geheimdienste auf der anderen Seite könnten sich unzulässig vermischen, kann der kürzlich pensionierte Kriminalbeamte Bernd Carstensen nicht nachvollziehen."Ich verspreche mir die qualitative Zusammenführung von Informationen, die einer hochqualifizierten Analyse auch Grundlage sind und wir ganz frühzeitig auch Informationen zusammenführen können und möglicherweise sogar islamistische, terroristisch motivierte Anschläge abwehren zu können. Das ist die Grundlage für diese Einrichtung dieser Antiterrordatei." Welche Daten erfasst werden, regelt ebenfalls das Gesetz. Das sind einmal sogenannte Grunddaten, wie Name, Adresse, Geburtsdatum und Lichtbild, dann aber auch die erweiterten Grunddaten, zum Beispiel über den Schulabschluss, die Fahrerlaubnis, Familienstand, Telefonanschlüsse, Bankverbindungen. Gespeichert werden nicht nur Verdächtige oder Sympathisanten, sondern auch Kontaktpersonen. Das ist ein weiterer Punkt in der Verfassungsbeschwerde, hier werde das informationelle Selbstbestimmungsrecht verletzt. Außerdem seien die Regelungen zu unbestimmt und unverhältnismäßig. Bedenken, die der ehemalige Justizstaatssekretär Hansjörg Geiger verstehen kann. Und da auch Kontaktpersonen von Verdächtigen aufgenommen werden, könne es im Grunde jeden treffen. "Weil sie Nachbarn sind, weil sie zusammen mal zum Baden gehen, Tennisspielen zusammen oder was auch immer. Und diese Kontaktpersonen, so sagt es damals die Begründung, brauchen auch von der Tatsache, dass der Verdächtige verdächtig ist, sich mit terroristischen Fragen beschäftigt, nichts wissen. Das heißt, sie haben Kontakt mit einer Person, von der Sie nichts weiter wissen und können trotzdem in diese Datei hinein gelangen. Auch Sie könnten es rein theoretisch sein, denn der potenzielle Terrorist hat wahrscheinlich kein Schild umhängen, ich bin Terrorist, bitte Abstand halten." Auch für die unbescholtene und im Grunde unverdächtige Bürgerin kann das fatale Folgen haben. Zum Beispiel, wenn die Polizei kontrolliert und dann plötzlich ihren Namen findet."Da klingelt es, Frau Sowieso ist in der Antiterrordatei, um Gottes Willen, es gibt in so einer Datei keine belanglosen Daten. Allein die Tatsache, dass man da drin ist, verleiht der Person ein Stigma. Das ist so. Selbst wenn man nachsieht und sagt, es ist nur, in Anführungszeichen, eine Kontaktperson, man ist in der Antiterrordatei, das ist nicht irgendeine Datei, das ist nicht die Datei der Naturschützer. Und damit besteht ein Risiko, und diesem Risiko muss begegnet werden", sagt der ehemalige Geheimdienstchef Hansjörg Geiger. Dem Risiko können und sollen zum Beispiel die Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes begegnen. Das ist auch im Gesetz so vorgesehen."Ich für meinen Teil habe natürlich die Datei geprüft, wie das meine Aufgabe ist, und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind da sehr schnell an Grenzen gestoßen." Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar: "Die Prüfbarkeit dieser Datei war nicht voll gegeben, weil man sich weigerte, mir Einblick in bestehende Protokolldateien zu geben, die sich bezogen auf Daten, die von Länderseite kamen und auch solche Protokolldateien, die mehr oder weniger für interne Zwecke geführt wurden, da wurde mir auch die Einsicht verweigert. Da sehe ich schon ein Defizit. Ganz wichtig ist es, gerade wenn man ein so Eingriffs intensives Instrument wie eine gemeinsame Datei aller möglichen Sicherheitsbehörden einrichtet, dass das lückenlos und effektiv datenschutzrechtlich überprüft werden kann." Grundsätzlich hat Peter Schaar nichts gegen die Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden. Die Gefährdungen durch den Terrorismus seien nicht von der Hand zu weisen. Aber die Grenzen im Gesetz seien nicht scharf genug gezogen worden, die verschiedenen Regelungen zu ungenau. So dürfen zwar keine zufälligen Kontaktpersonen gespeichert werden, aber wann ist ein Kontakt zufällig? "Wenn man zum Beispiel einmal beim Bäcker ist und in der Schlange vor dem Brötchenstand steht jemand, der Zielperson ist, dann ist das sicherlich zufällig. Wie ist das, wenn man aber zwei Wochen später wieder in derselben Schlange hinter oder vor dieser Person steht, und das wird registriert. Rechtfertigt das dann schon eine Speicherung? Und da habe ich den Eindruck, dass man auf Nummer sicher geht und dann doch im Zweifel immer eher speichert. Und das ist schon ein Stück gefährlich, weil dann eben doch zwangsläufig sehr viele Personen in so eine Datei gelangen, die letztlich überhaupt nichts mit terroristischen Aktivitäten zu tun haben. Und wenn da jetzt zugegriffen wird, dann entsprechende Kontrollen und vielleicht auch andere Nachteile befürchten müssen." Wie der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar lehnt auch der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland von den Grünen die Antiterrordatei zwar nicht grundsätzlich ab. Aber er vermisst eine Evaluation der Datei. Eine Überprüfung mithilfe eines externen Sachverständigen war eigentlich fünf Jahre nach Inkrafttreten vorgesehen."Wir haben bisher nur mündliche Zwischenergebnisse, die haben wir immerhin bekommen und mussten jetzt erleben, dass man eine neue Datei, diesmal gegen Rechtsextremismus, strikt nach dem Vorbild der Islamismus-Datei, das war sie ja im Kern, die erste Antiterrordatei, und dabei weder die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewartet hat noch die Evaluierung der Antiterrordatei, noch ist man auf die vielen Bedenken im Grunde sämtlicher Sachverständiger in der Anhörung zu dieser gemeinsamen Datei Rechtsextremismus hinreichend eingegangen." Hier spielt Wolfgang Wieland auf das "Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus" an, das am 31. August dieses Jahres in Kraft getreten ist. Die Diskussion um eine Datei gegen Rechtsextremismus war aufgeflammt, nachdem die Aktivitäten der rechtsextremistischen Terrorgruppe NSU eher durch Zufall bekannt geworden waren. Zwei Männer - die sich vor einer drohenden Festnahme das Leben nahmen und eine Frau - die seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt - sollen mithilfe von Unterstützern 14 Jahre lang im Untergrund gelebt und neun Morde an griechisch- und türkischstämmigen Kleinunternehmern begangen haben. Außerdem geht der Mord an einer Polizistin wahrscheinlich auf ihr Konto. In diesen Tagen wird in diesem Zusammenhang mit einer Anklage gerechnet. Dass man eine Überprüfung der ersten Antiterrordatei nicht abgewartet hat, bevor die neue Datei gegen Rechtsextremismus errichtet wurde, bedauert Wolfgang Wieland. Man hätte vielleicht schon vieles besser machen können."Man kann sowas richtig konstruieren, man sollte es richtig konstruieren, aber bitteschön, wir werden sehen, was Karlsruhe sagt, und ich denke, dann sind wir einen Schritt weiter." Auch der Staats- und Verfassungsrechtler Christoph Gusy aus Bielefeld verspricht sich mehr Klarheit vom Bundesverfassungsgericht."Das Bundesverfassungsgericht muss sich also mit der Frage beschäftigen: Ist das Datenschutzniveau hinreichend hoch, sind ausreichende Sicherungsmechanismen dazu da? Und zwar sowohl technische Sicherungsmechanismen als auch hinreichend bestimmte rechtliche Sicherungsmechanismen. Klar ist aber auch, es wird nicht dahin kommen, dass jegliche Form von Antiterrordatei vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wird. Dafür gibt es im Grundgesetz keinen Aufhänger."
Von Annette Wilmes
Seit März 2007 gibt es in Deutschland die sogenannte Antiterrordatei. Mit ihr sollen vorhandene Erkenntnisse über Terrorverdächtige rasch auffindbar sein. Nun steht das Antiterrordateigesetz in Karlsruhe auf dem Prüfstand. Parteienübergreifend stört man sich vor allem an der Art und Weise, wie die Daten erhoben werden.
"2012-11-05T18:40:00+01:00"
"2020-02-02T14:31:42.443000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/antiterrordatei-auf-dem-pruefstand-100.html
91,121
Regierungsgewalt in den Favelas
"In Rio haben werden fast 30 Prozent aller Tötungen von Polizisten im Dienst verübt, das sind etwa sieben Tote pro Tag", sagt Jurema Werneck von Amnesty International (imago /MARCELO SAYÃO) Sie sind von den Hügeln gekommen und den Außenbezirken – an Rios Postkartenstrand Ipanema. Dort erheben sie die Stimme, zum Sound der Favelas. Hunderte sind es, die Fotos hochhalten, von jungen, meist schwarzen Männern. Hier, wo Rios Mittelschicht und Touristen flanieren, wollen sie ihren Alltag sichtbar machen, davon erzählen, was Tag für Tag an Rios Rändern passiert: "Parem de Nos Matar", steht auf einem großen Banner: "Stoppt, uns zu töten". "Mein Sohn ist mit einem Kopfschuss getötet worden. Dabei gab es gar keinen Schusswechsel! Die Polizei kam und schoss ihm in den Kopf - an der Tür des Sozialprojekts, wo er mit seinem Unterricht die Kinder von der Straße geholt hatte." Sandra Mara trägt sein Foto auf ihr T-Shirt gedruckt: Jean Rodrigo da Silva Aldrovande, getötet am 14. Mai 2019. Selbst Vater von vier Kindern. Er gab Jiu-Jitsu-Unterricht in einem Sozialprojekt des Complexo de Alemao, einer riesigen Favela im Norden Rios. Für seine Mutter war es eine Hinrichtung: "Die Regierung, der Gouverneur schickt die Polizei, um zu töten. Um zu töten!" Toter Bandit, guter Bandit 434 Menschen wurden im Bundesstaat Rio in den ersten vier Monaten des Jahres von der Polizei getötet, so viele wie seit 21 Jahren nicht. Der Anstieg fällt zusammen mit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro, der das Waffengesetzt liberalisierte und Dinge sagt wie: "Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit, erst schießen, dann fragen" – damit fing er Stimmen in dem Land, in dem 2017 über 60.000 Menschen ermordet wurden. Jurema Werneck ist Direktorin von Amnesty International in Brasilien: "In Rio haben werden fast 30 Prozent aller Tötungen von Polizisten im Dienst verübt, das sind etwa sieben Tote pro Tag. Die Situation ist sehr ernst. Und dazu kommen Aussagen von unseren Autoritäten, die als eine Art Genehmigung für solche Praktiken dienen." Auch Rios neuer Gouverneur, Wilson Witzel, steht in einer Linie mit Bolsonaro – Drogenhändler, findet er, sollten von Scharfschützen abgeschossen werden. Er gehört zu den Befürwortern der geplanten Justizreform: Demnach sei Polizisten Straffreiheit garantiert, wenn sie im Dienst töten. So sollen künftig auch "Angst, Überraschung oder extreme Gefühle" als Begründung ausreichen. Straffreiheit herrscht de facto bereits heute, sagt Jurema Werneck: "99 von 100 Fällen werden nicht mal untersucht, Brasiliens Justizsystem und speziell das in Rio versagt heillos." Marcia de Oliveira Silva Jacintho aus der Favela Lins wartet seit 2002 auf Gerechtigkeit. Ihr Sohn Hanry, damals 16, wurde mit einem Schuss aus zehn Zentimeter Entfernung getötet, mitten ins Herz – Schusswechsel mit einem Drogendealer, sagt die Polizei. Marcia begann selbst, nachzuforschen – und fand immer mehr Hinweise, dass es eine Hinrichtung war, die Polizei danach den Tatort manipulierte: "Sie haben nicht erwartet, dass ich, diese schwarze Mutter aus der Favela, ihnen nachspüren würde. Stets haben sie gemordet, haben stets die Leichen durch die Gegend geschleppt, und nie ist ihnen deswegen was passiert. Warum? Weil die Familien der Ermordeten ja immer schon damit gerechnet hatten, dass ihre Kinder eines Tages erschossen werden. Das ist ja normal so. Und sie glauben, dass die Polizei das Recht hat zu töten. Selbst wenn sie unbewaffnet sind und sich ergeben. Die Polizei hatte ihr Alibi schon: Selbstverteidigung. Wer würde denn da schon dem nachgehen? Denn sie verbreiten ja Terror und Angst in der Favela." Viele Polizisten stammen aus den Favelas Vor der WM hieß das Konzept für Rios Favelas: Befriedung. Dabei ging es ursprünglich auch um soziale Projekte, Investitionen für Gegenden, in denen der Staat nie präsent war und Drogengangs einen Parallelstaat aufbauen konnten – doch erst fehlte der politische Wille, dann das Geld. Die Gewalt kam zurück. Marcia weiß auch, dass viele Polizisten dabei unter enormem Druck stehen. Die meisten kommen selbst aus den Favelas, werden schlecht bezahlt – in den Institutionen herrscht Korpsgeist, aber es gibt kaum Vorbereitung auf den Einsatz im sogenannten Krieg gegen die Drogengangs. Im Jahr 2018 wurden im Bundesstaat Rio 92 Polizisten ermordet, 24 im Dienst. "Die sprechen sich untereinander ab, manche müssen als Sündenböcke herhalten, wir wissen mittlerweile auch, dass Polizisten, die bei diesem Schema nicht mitmachen, von ihren Kollegen umgelegt werden." Dabei ist Rio nur das Schaufenster Brasiliens – noch stärker treffe die Gewalt den Norden und Nordosten Brasiliens, sagt Jurema Werneck von Amnesty. "Was wir beobachten ist, dass die Regierung diese Angst der Bevölkerung zwar aufnimmt, die herrscht aufgrund der enorm angespannten Sicherheitslage im Land, aber sie manipuliert, in dem sie so tut, als gäbe es eine einfache Lösung: die der harten Hand, der Gegengewalt, des Hasses. Aber ich glaube, dass ein Großteil der Bevölkerung das ablehnt und andere Antworten fordert als die der Waffengewalt." Unter der Regierung von Bolsonaro werde der Kampf für Gerechtigkeit noch schwieriger, sagt Marcia de Oliveira Silva Jacintho aus Rio – es sind Mütter wie sie, die Druck machen und Brasilien mit einer brutalen Realität konfrontieren, die verdrängt, ignoriert, verschwiegen wird. "Es gibt hier keine Todesstrafe. Trotzdem tötet man jeden Tag Arme und Schwarze, Favela-Bewohner, das ist offensichtlich."
Von Anne Herrberg
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro kam auch an die Macht, weil er Banditen den bewaffneten Kampf ansagte. Aber wie gewalttätig ist der Staatsapparat selbst? In den ersten vier Monaten des Jahres wurden im Bundesstaat Rio so viele Menschen von der Polizei getötet wie seit 21 Jahren nicht.
"2019-06-08T13:30:00+02:00"
"2020-01-26T22:55:53.598000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brasilien-regierungsgewalt-in-den-favelas-100.html
91,122
Russland will Konsulat im Norden eröffnen
Eine Flagge der international nicht anerkannten "Türkischen Republik Nordzypern" vor einer Mosche (dpa / epa / Katia Christodoulou) Moskau habe dazu bereits erste Schritte eingeleitet, erklärte der Präsident der international nicht anerkannten "Türkischen Republik Nordzypern", Tatar, nach Angaben örtlicher Medien. Es gebe dort viele russische Staatsbürger, von daher sei solch ein Schritt nachvollziehbar. Die Mittelmeerinsel Zypern ist seit 1974 geteilt. Die Türkei ist der einzige Staat, der das 1983 ausgerufene Nordzypern anerkennt. Völkerrechtlich ist die gesamte Insel seit 2004 Teil der Europäischen Union, de facto aber wird die Mitgliedschaft nur im griechisch-sprachigen Süden der Republik Zypern umgesetzt. Die Vereinten Nationen bemühen sich seit Langem erfolglos um eine Vermittlung. Die letzten Gespräche unter UNO-Schirmherrschaft waren 2017 gescheitert. Diese Nachricht wurde am 10.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Russland will offenbar im Norden der geteilten Insel Zypern ein Konsulat eröffnen.
"2023-08-10T23:42:12+02:00"
"2023-08-10T02:58:14.601000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-will-konsulat-im-norden-eroeffnen-106.html
91,123
Russland und USA wollen Angriffe absprechen
Die Außenminister John Kerry (USA/links) und Sergej Lawrow (dpa / picture-alliance / Alexander Shcherbak) Entsprechende Gespräche könnten bereits am Donnerstag stattfinden. Sie sollen verhindern, dass sich die USA und Russland versehentlich in die Quere kommen. "Wir haben uns über die Notwendigkeit verständigt, so bald wie möglich - vielleicht sogar schon morgen, jedenfalls so schnell wie möglich - ein Gespräch auf militärischer Ebene zur Entschärfung des Konflikts zu führen", sagte US-Außenminister John Kerry, als er in New York mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow gemeinsam vor die Presse trat. Der russische Außenminister bestätigte, dass es "bald" ein Treffen von russischen und US-Militärvertretern geben solle. Kerry fügte hinzu, er habe mit Lawrow Ideen entwickelt, wie ein politischer Prozess zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien vorangetrieben werden könnte. Diese würden sie nun jeweils intern mit den beiden Staatschefs, US-Präsident Barack Obama und Russlands Präsident Wladimir Putin, erörtern. Lawrow hob die Gemeinsamkeiten hervor: "Wir alle wollen, dass Syrien demokratisch, geeint, säkular ist. Ein Syrien, das allen ethnischen Gruppen eine Heimat gibt und deren Rechte garantiert, aber wir haben ein paar Differenzen über die Details, wie wir dort hin kommen können." Zweifel an Russlands Zielen Russland hatte am Mittwoch mit Luftangriffen in Syrien begonnen und ist dafür international und besonders in den USA kritisiert worden. Marcus Pindur berichtet im Deutschlandfunk, dass hochrangige US-Regierungsvertreter bezweifelten, der Einsatz Russlands gelte tatsächlich der radikal-islamischen IS-Miliz. Möglicherweise kämpfe Russland gegen die syrischen Rebellen, die seit mehr als vier Jahren versuchen, den mit Russland verbündeten syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen. Solche Berichte nannte Russland "Propaganda", berichtet Markus Sambale im Deutschlandfunk. In Moskau war von "gezielten Angriffen" auf den IS die Rede. US-Verteidigungsminister Ashton Carter sagte hingegen, es sehe nicht danach aus, dass die Angriffe von Dschihadisten gehaltene Gebiete getroffen hätten. Verärgert zeigten sich die USA auch über die Art und Weise, wie sie über die bevorstehenden Luftangriffe informiert wurden. Die USA fliegen bereits mit Frankreich und anderen Alliierten Angriffe gegen den IS in Syrien und dem Irak. Der Irak bittet um Hilfe gegen den IS Iraks Ministerpräsident Haidar al-Abadi bat unterdessen am Mittwoch vor der UNO-Vollversammlung in New York ebenfalls um Hilfe im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. "Die Unterstützung anderer Länder ist uns sehr wichtig. Aber wir brauchen mehr", sagte al-Abadi. "Die Iraker kämpfen diesen Krieg gegen das Böse, das sich Islamischer Staat nennt. Aber wir benötigen Hilfe, wenn wir diesen Kampf tatsächlich zu einem erfolgreichen Ende führen wollen." Abadi nannte insbesondere logistische Unterstützung, willkommen sei aber jede Art militärischen Beistands. Auch bei der Versorgung von Flüchtlingen sei der Irak auf Hilfe angewiesen. (nch/dk)
null
Militärexperten aus den USA und Russland sollen sich so schnell wie möglich wegen der Angriffe in Syrien koordinieren. Darauf haben sich die Außenminister der beiden Länder, John Kerry und Sergej Lawrow, in New York geeinigt. Inzwischen bat der Irak um militärische Hilfe im Kampf gegen den IS.
"2015-10-01T06:59:00+02:00"
"2020-01-30T13:02:09.162000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-russland-und-usa-wollen-angriffe-absprechen-100.html
91,124
Frische Männer für die Kita
Die Freude ist mal wieder groß an diesem Morgen bei den 'Waschbären', Marvins Gruppe in der Kindertagesstätte Falkenberg. Sofort ist der blonde 18-Jährige von einer Traube Kinder umringt – Niko und Florian wissen, worauf sie sich freuen können:"Im Toberaum Brücken bauen" – "Manchmal tobe ich mit ihm, und manchmal spiele ich mit ihm"."Marvin ist noch in der Ausbildung. Drei Wochentage verbringt er in einer sozialpädagogischen Fachschule in Hamburg, zwei in der Norderstedter Kita. Hier ist er einer von drei Männern – neben 15 weiblichen Kräften. Dieses von Frauen geprägte Umfeld schreckte Marvin bei der Berufswahl nicht ab:""Meine Eltern sind beide in dem Beruf tätig, ich bin komplett im sozialen Bereich aufgewachsen und hab dann nach der abgeschlossenen Realschule ein FSJ gemacht, an einer Schule für körperlich und geistig Behinderte und hab mich dann auch entschlossen, eine Ausbildung im sozialen Bereich zu machen."Bei Kollege Benjamin Bannas, 27 Jahre alt und Marvins Ausbildungsbetreuer, war der Weg ein wenig länger:"Ich bin eigentlich Lkw-Mechaniker. Die zweite Ausbildung habe ich gemacht, da war ich 22, davor habe ich vier Jahre als Mechaniker gearbeitet. Ich hab aber ganz viel ehrenamtlich gemacht und das hat mir wesentlich mehr Spaß gemacht"Solche 'Umwege' zur Erzieherausbildung sind gar nicht selten – sagt Ralf Lange, Koordinator des Projekts 'Vielfalt Mann' in Hamburg. Er sitzt in Beratungsgesprächen längst nicht nur jugendlichen Schulabsolventen gegenüber:"Das sind teilweise Kaufleute, das sind Handwerker, das sind sehr, sehr unterschiedliche Biografien. Und diese Vielfalt ist auch wichtig, denn ein Zimmermann, der vorher als Zimmermann gearbeitet hat, ist möglicherweise ein vorzüglicher Pädagoge in der Kita."Der dann seine Begeisterung für den Umgang mit den Kindern mit seiner Lebens- und Arbeitserfahrung verbinden kann. Doch auch bei den jüngeren Interessenten sind oftmals gerade die persönlichen Interessen eine Motivationsquelle."Da kommen Männer zu uns, die sagen: Ich hab schon Jugendliche begleitet in meinem Sportverein, ich war oder bin Trainer. Die eigenen Talente und Vorlieben können sehr gut in diesen Beruf eingebracht werden."Dass die angeblich geringe Entlohnung Bewerber abschreckt, kann Dirk Lange hingegen nicht bestätigen:"Man verdient aber gar nicht so schlecht, das ist durchaus vergleichbar mit kaufmännischen Berufen. Es gibt ein konnotiertes Bild in der Öffentlichkeit, das sagt: In diesem Bereich verdienste nix, und da kannste nix werden. Für die jungen Männer ist die Bezahlung ein Thema, steht aber in der Regel nicht stark im Vordergrund."In Hamburg hat die Kampagnenarbeit jedenfalls gefruchtet – seit 2010 ist der Männeranteil in der Erzieherausbildung um 73 Prozent angestiegen. Hamburger Kitas liegen mit einem Anteil männlicher Erzieher von 10 Prozent bereits deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt von drei bis vier Prozent. Doch was bedeutet diese Entwicklung für die praktische Arbeit – aus Sicht der Eltern in der Kita Falkenberg jedenfalls sind die männlichen Fachkräfte ein klarer Gewinn:"Sie haben einen anderen Ton mit den Kindern, ein bisschen direkter, ein bisschen bestimmter, aber trotzdem liebevoll. Es gibt ja auch viele Familien, die nur alleinerziehend sind, und männliche Vorbilder gehören ja einfach zur Lebenserziehung dazu. Deshalb bin ich froh, dass hier so viele Männer herumlaufen."Und wen mag Sohn Florian am Liebsten?"Die Männer und die Frauen!"So oder so geht es aber gar nicht mehr ohne die Männer. Der Fachkräftebedarf im sozialen Bereich sei derart groß, dass es solche Kampagnen eigentlich auch für andere Ausbildungszweige geben müsse. Noch einmal Projektkoordinator Ralf Lange:"Dass in diesem Feld des Arbeitsmarktes sehr viel Arbeit nachgefragt wird und die Arbeitsbereiche auch sehr sichere Arbeit versprechen, daraus können wir schöpfen und das verbinden mit dem gleichstellungspolitischen Ziel."
Von Maike Strietholt
'Musiker, Coach, Schauspieler, Ingenieur – Sei alles, werde Erzieher!' Mit solchen Plakaten startete die Hamburger Kampagne „Vielfalt, Mann!“ vor zwei Jahren ihre Werbeoffensive. Das Ziel: Junge Männer für den Erzieherberuf interessieren. Fachkräfte im sozialen Bereich werden dringend gesucht.
"2013-04-25T14:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:15:42.348000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frische-maenner-fuer-die-kita-100.html
91,126
Schwerpunkthema: Zehn Jahre nach dem PISA-Schock
Auch zehn Jahre danach steckt vielen dieser PISA-Schock noch in den Gliedern: Denn die Studie hat schlicht das Urvertrauen in das deutsche Bildungssystem zerstört. Die Bildungsminister landauf landab haben seither alle Hände voll zu tun, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. PISAplus fragte: Was hat der PISA-Schock bewirkt? Welche Verbesserungen gibt es in deutschen Schulen? Als Gesprächspartner:Andreas Schleicher, Internationale Koordinator der PISA-StudienHans-Jürgen Kuhn, Referatsleiter u.a. für Schulentwicklung und -forschung im Bildungsministerium Brandenburg Wolfgang Vogelsaenger, Leiter der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule GöttingenMit folgenden Beiträgen: Thomas Matsche: Was hat sich seit der 1. PISA-Studie im Bildungswesen geändert? Carolin Hoffrogge: Welche PISA-Bilanz ziehen Lehrer? Außerdem mit folgenden Kurzmeldungen aus der Bildungswelt:Alex Krämer: Minister darf Doktortitel behalten Uni Potsdam - Geschlampt, nicht getäuscht: Althusmann hat nicht gegen Urheberrecht verstoßen Sylvia Stadler: Muslimisches Gebet auf dem Schulflur nicht erlaubt Gerichtsurteil des Bundesverwaltungsgerichtes Leipzig
Moderation: Regina Brinkmann
Auch zehn Jahre danach steckt vielen dieser PISA-Schock noch in den Gliedern: Denn die Studie hat schlicht das Urvertrauen in das deutsche Bildungssystem zerstört. Die Bildungsminister landauf landab haben seither alle Hände voll zu tun, dieses Vertrauen zurückzugewinnen.
"2011-12-03T14:05:00+01:00"
"2020-02-04T02:07:30.763000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwerpunkthema-zehn-jahre-nach-dem-pisa-schock-100.html
91,127
Mehr Druck und ein bisschen weniger Bürokratie
Dimitris Avramopoulos, EU-Kommissar für Migration, will mehr Druck auf Partnerländer ausüben, die bei der Abschiebung nicht kooperieren. (picture-alliance / dpa / Monika Skolimowska) Die EU-Kommission will weiter den Druck auf Staaten erhöhen, die bei der Abschiebung von Flüchtlingen aus ihrer Sicht nicht ausreichend kooperierten. Hier werden oft Tunesien, Marokko und Algerien genannt, die sich zum Beispiel bei der Ausstellung von notwendigen Dokumenten querstellten. Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos droht nun mit Gegenmaßnahmen: "Wir wollen die Bedingungen für Visa verschärfen, wenn ein Partnerland bei der Abschiebung von Migranten nicht ausreichend kooperiert." Immerhin werden im Jahr circa 15 Millionen Schengen-Visa ausgestellt. Zuletzt hatte die Drohung, keine Diplomaten-Visa auszustellen, Bangladesch zum Einlenken gebracht. Außerdem will die Kommission bei der Vergabe von Visa genauer hinsehen: "Deshalb werden wir das Visa-Informationssystem überarbeiten, um Antragsteller und Besitzer von Visa besser durchleuchten zu können. Grenzbeamte und Konsularangestellte sollten alle notwendigen Informationen haben, um Personen zu erkennen, die organisierter Kriminalität verdächtig sein könnten oder gefälschte Dokumente verwenden." Visa-Vergabe: zum Teil weniger Bürokratie geplant Gleichzeitig soll die Erteilung von Visa für Kurzzeit-Aufenthalte in der Schengen-Zone erleichtert werden. Wer bereits mehrfach ein Visum erhalten und sich an alle Regeln gehalten hat, soll in Zukunft Visa erhalten können, die mehrere Ein- und Ausreisen vorsehen – was deutlich weniger Bürokratie bedeutet. Die Kosten für Visa sollen um 20 Euro auf 80 Euro erhöht werden, womit das Verfahren der Visa-Vergabe refinanziert werden soll. Um Geld geht es auch beim Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Hier hat die EU bereits drei Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen bereitgestellt: "Die Union und ihre Mitgliedsstaaten müssen nun die zweite Tranche von drei Milliarden Euro finanzieren. Bisher haben mit dem Geld 500.000 Kinder Zugang zu Bildung erhalten. 1,5 Millionen Flüchtlinge erhalten daraus monatliche Geldleistungen." Eine Milliarde soll dafür aus dem EU-Haushalt kommen, zwei Milliarden sollen die Mitgliedsstaaten bereitstellen. Auch beim EU-Treuhandfonds für Afrika fehlt laut Kommission noch Geld: Für die Bekämpfung von Fluchtursachen und das Abschneiden der Fluchtrouten brauche es noch eine Milliarde Euro. Anzahl der Asylanträge deutlich gesunken Die Zahl der in der EU ankommenden Flüchtlinge ist hingegen gesunken: Nach Zahlen von Eurostat stellten 2017 knapp 650.000 Menschen erstmals einen Asylantrag. 2016 waren es noch 1,2 Millionen Menschen. Als einen der dringlichsten Schritte sieht Migrationskommissar Avramopoulos die Reform des EU-Asylsystems und der Dublin-Regeln. Er hofft, dass sich die Mitgliedsstaaten bis spätestens Juni auf ein Papier verständigen. Das EU-Parlament hat diesen Schritt längst erledigt. Die EU-Länder sind hingegen zerstritten darüber, ob Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet werden können.
Von Thomas Otto
Gut eine Woche vor dem EU-Gipfel hat Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos die Vorschläge der Kommission zur Überarbeitung der Visapolitik vorgestellt. Dazu gehören mehr Druck auf Staaten, die bei der Abschiebung von Flüchtlingen nicht kooperieren - aber auch eine erleichterte Visa-Vergabe für Kurzzeit-Aufenthalte.
"2018-03-14T18:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:23.345000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-migrationsagenda-mehr-druck-und-ein-bisschen-100.html
91,128
Xi ruft Trump zur Zurückhaltung auf
Xi Jinping und Donald Trump beim G20-Gipfel in Hamburg (MAXPPP) Chinesische Staatsmedien berichteten über das Telefonat der beiden Präsidenten. Sie zitierten Xi, das Peking wie auch Washington an einer atomaren Abrüstung der koreanischen Halbinsel interessiert seien. Xi rief alle beteiligten Seiten auf, "Zurückhaltung zu üben" und "den Weg des Dialogs, der Verhandlungen und einer politischen Lösung weiterzugehen", wie der Sender CCTV berichtete. Trump hatte immer wieder geklagt, dass China als wichtigster Wirtschaftspartner Nordkoreas seinen Einfluss zu wenig geltend mache, um eine weitere atomare Bewaffnung des Landes zu verhindern. Nach Angaben des Weißen Hauses hätten beide Staatschefs darin übereingestimmt, dass die neuen vom UNO-Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen gegen Nordkorea ein wichtiger und notwendiger Schritt gewesen seien. Beide Präsidenten seien sich zu dem einig gewesen, dass "Nordkorea sein provozierendes und eskalierendes Verhalten beenden müsse". Außenexperte der SPD: "Trump handelt unverantwortlich" Niels Annen, der außenpolitische Sprecher der SPD, kritisierte die militärischen Drohungen Trumps. Die internationale Gemeinschaft habe eine gemeinsame Position zu Nordkorea, sagte Annen im Deutschlandfunk mit Blick auf den einstimmigen Beschluss im UNO-Sicherheitsrat zu Sanktionen gegen das Land. Trump gefährde diese Position mit seiner Wortwahl, was unverantwortlich sei. Nordkorea hatte laut der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA angekündigt, bis Mitte August Pläne fertigzustellen, nach denen vier Mittelstreckenraketen über Japan fliegen und dann etwa 30 bis 40 Kilometer vor Guam ins Meer stürzen sollen. Die Flugdistanz von knapp 3.360 Kilometern könnten die Raketen vom Typ Hwasong-12 binnen weniger als 18 Minuten zurücklegen. (nch/tzi)
null
Chinas Präsident Xi Jinping hat US-Präsident Donald Trump zur Zurückhaltung im Konflikt mit Nordkorea aufgerufen. In einem Telefonat sagte Xi chinesischen Medien zufolge, dass alle Seiten eine Verschlimmerung der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel vermeiden sollten.
"2017-08-12T07:08:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:38.261000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nordkorea-konflikt-xi-ruft-trump-zur-zurueckhaltung-auf-100.html
91,129
Das Ringen um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne
Viel Dankbarkeit erlebt das Pflegepersonal in der Coronakrise - die Bezahlung ist allerdings schlecht (EyeEm / Prakasit Khuansuwan) Über 430.000 Unterschriften kamen in wenigen Wochen zusammen. Selten erreicht eine Online-Petition solch eine große Resonanz. Doch bei dieser Petition auf change.org fühlen sich viele angesprochen. Es geht um eine bessere Bezahlung in der Pflege. Die Aussichten, dass sich hier bald etwas zum Besseren verändert, sind gut. Nicht nur, weil Menschen in vielen Städten abends applaudieren, angesichts der Leistungen, die in Krankenhäusern und Altenheimen erbracht werden, sondern auch, weil die Beschäftigten selbst ihn satt haben, den Durchschnittslohn von 3.100 Euro brutto. Die Beschäftigten in dieser Branche fordern einen Aufschlag von einem Drittel mehr. Marcus Jogerst-Ratzka ist einer von ihnen und Mitinitiator der Petition für höhere Löhne: "Wir fordern ein Einstiegsgehalt für Pflegefachkräfte von 4.000 Euro. Und wir sind auch der Meinung, dass wir das im Moment überhaupt nicht über Tarifverhandlungen hinbekommen können. Da sind auch einige Politiker, zum Beispiel der Herr Lauterbach von der SPD hat das jetzt inzwischen auch verstanden, denn der hat auch gesagt, wir haben in den letzten Jahren mit den Tarifverhandlungen überhaupt nicht das erreicht, was wir eigentlich erreichen wollten. Wir müssen einfach sehen, dass wir einen anderen Weg finden. Das heißt, man muss jetzt die Tarifautonomie für eine beschränkte Zeit aushebeln und muss einfach sagen, man muss das politisch regeln." Auch Arbeitgeber kritisieren die niedrigen Löhne Die Tarifautonomie aushebeln. Nur so sei der so genannte Pflexit, das massenhafte Verlassen des Arbeitsfeldes Pflege, noch zu stoppen, sagt der gelernte Krankenpfleger. Jogerst-Ratzka fordert höhere Löhne dabei nicht für sich selbst. Als Geschäftsführer von zwei stationären Einrichtungen, einer Tagespflege und einem ambulanten Pflegedienst im Schwarzwald, vertritt er vielmehr die Arbeitgeberseite in dieser Online-Tarifrunde: "Ich mache das sozusagen aus egoistischen Motiven, weil wenn ich ein anderes Gehalt zahlen könnte, ich auch eine andere Bewerberanzahl hätte und vielleicht auch wieder noch mehr geeignete Menschen finden würde, die diesen Beruf machen würden. Um das geht es. Wir haben viele Menschen, die im Pflexit sind, die also aus der Pflege ausgestiegen sind. Und wir haben ja seit Jahren das Problem, dass wir offene Stellen schaffen, die aber nicht besetzen können. Und es bleibt uns eigentlich kein anderes Handlungsinstrument, als mit den Löhnen kräftig nach oben zu gehen." Alten- und Pflegeheime in der Coronakrise - "Soziale Isolation darf es nicht geben"Endlich genügend Schutzkleidung für Senioren- und Pflegeheim – dies sei die erste Voraussetzung dafür, Bewohnern solcher Einrichtungen wieder soziale Teilhabe zu ermöglichen, sagte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie im Dlf. Darüber hinaus könnten auch hygienische Aufklärung und Prävention helfen. Üblicherweise handeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Tarifrunden Löhne und Gehälter miteinander aus. In der Pflegebranche aber ist das noch anders. Denn zu viele unterschiedliche Arbeitgeber sind am Markt: die einen frei-gemeinnützig aus den Wohlfahrtsverbänden, die anderen kirchlich mit eigenem Tarifrecht, aber ohne Streikrecht. Und schließlich die privaten Anbieter, die Löhne und Gewinne privatwirtschaftlich kalkulieren. Diese Konkurrenz der Träger war bei Einführung der Pflegeversicherung 1995 politisch gewollt, erklärt die Politikwissenschaftlerin Diana Auth. Sie ist Professorin an der Fachhochschule Bielefeld. "Man hat in das Gesetz die privaten Träger mit aufgenommen, so dass die im Grunde genauso gefördert werden, wie die frei-gemeinnützigen. Und das hat die Wohlfahrtsverbände vor eine neue Konkurrenzsituation gestellt und aus der politischen Perspektive passte diese neue Politik sehr gut in diesen neoliberalen Zeitgeist." Wettbewerb auf dem Pflegemarkt war erwünscht Man wollte den Wettbewerb auf dem noch jungen Pflegemarkt und man wollte das Kapital und die Initiative der privaten Anbieter, die heute 66 Prozent der ambulanten und 43 Prozent der stationären Pflegeangebote stellen. Doch die Beschäftigten in der Altenpflege hatten das Nachsehen, sagt Diana Auth: "Was wir immer noch haben, sind relativ niedrige Löhne. Vor allem im Vergleich zu den anderen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Wenn man sich da den Median anschaut, dann stellt man fest, dass die Pflegekräfte immer noch so ungefähr zehn bis15 Prozent weniger verdienen. Und wenn man dann noch die Altenpflegehelferinnen und -helfer zugrunde legt, sind es tatsächlich sogar 40 Prozent unterhalb des Durchschnittslohns, der in Deutschland gezahlt wird." Seit Jahren geht es in dieser Frage zäh voran. Daran hat auch der Fachkräftemangel, von dem alle wissen, nichts geändert. Die verschiedenen Arbeitgeber und ihre Interessen waren bislang nicht unter einen Tarif-Hut zu bekommen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat deshalb im letzten Jahr die Notbremse gezogen und mit dem so genannten Pflegelöhneverbesserungsgesetz die Ansage verbunden: Wenn die Branche jetzt wieder keinen Tarifvertrag hinbekommt, will er eingreifen und Mindestlöhne gesetzlich festschreiben. Hubertus Heil im Bundestag im September 2019: "Worum geht es? Der Grund dafür, dass in der Altenpflege vor allen Dingen so schlecht bezahlt wird, liegt nicht daran, dass das so unwichtig ist, was Menschen da tun, sondern schlicht und ergreifend an der Tatsache, dass nur 20 Prozent der Altenpflegerinnen – und wir können getrost bei der weiblichen Formulierung bleiben, es sind überwiegend Frauen – nur 20 Prozent sind tarifgebunden. Und es gilt immer noch: Wo ein Tarifvertrag ist, sind in der Regel die Arbeits- und Lohnbedingungen besser als in Bereichen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt." Löhne in der Pflege sind unterdurchschnittlich Wo Tarifverträge fehlen, werden Löhne gedrückt. Das zeigen auch Zahlen der Konzertierten Aktion Pflege. Sie wurde im letzten Jahr von drei Ministerien aufgelegt, mit dem Ziel, zu fairen, für alle geltenden Lohnvereinbarungen in der Pflegebranche zu kommen. Der Unterschied zwischen tariflicher und nicht-tariflicher Vergütung kann mehrere hundert Euro im Monat ausmachen. Diana Auth: "Insofern ist die Idee mit dieser Konzertierten Aktion Pflege schon eine gute Idee – auch wenn sie sehr ungewöhnlich ist. Weil eigentlich hat der Staat mit Löhnen gar nichts großartig zu tun. Normalerweise, Stichwort Tarifautonomie, ist das ein Feld, in dem die Arbeitgeberverbände zusammen mit den Gewerkschaften Löhne aushandeln. Also es müsste eigentlich gelingen, den Druck zu erhöhen, so dass die privaten Anbieter gezwungen werden, dem Druck nachzugeben und sich Tarifverhandlungen zu stellen. Das wäre eigentlich der Weg, der für diesen Fall vorgesehen ist. Also der Weg über das Bundesarbeitsministerium, um Tarifverträge für allgemeingültig zu erklären, ist eigentlich eher ein Umweg." Pflegekräfte - Die meisten Heime sind chronisch unterbesetztFehlende Fachkräfte und Kostenkampf der Heime – trotz vieler Versprechen der Politik in den letzten Jahren ist die Situation in der Pflege nach wie vor kritisch. Und bevor politische Maßnahmen greifen, müssen kurzfristig Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland her. Diesen Umweg aber sind der vor einem Jahr eigens gegründete neue Arbeitgeberverband in der Pflege (BVAP) und die Gewerkschaft Verdi bereit miteinander zu gehen. Einen solchen Arbeitgeberverband, der für alle offen ist, hatte Hubertus Heil zur Voraussetzung gemacht für seinen politischen Weg aus der ungelösten Tariffrage in der Pflege: "Wenn ein Tarifvertrag Pflege zustande kommt – und Gott sei Dank hat sich endlich ein Arbeitgeberverband gegründet, der bereit ist, entsprechende Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften zu führen –, wenn ein Tarifvertrag Pflege zustande kommt, ermöglicht dieses Gesetz, dass ich ihn als Arbeitsminister für ganz Deutschland allgemeinverbindlich erklären kann. Das führt zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen in der Pflege, meine Damen und Herren." Gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist gering Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi setzt auf das SPD-Modell. Mit einem Verhandlungserfolg würde sie endlich einen Fuß in die Tür der Pflegebranche bekommen. Der Organisationsgrad in Krankenhäusern und Altenheimen ist bislang sehr gering. Teile der Arbeitgeberseite sind grundsätzlich dabei, weil der Fachkräftemangel die gesamte Branche zum Handeln zwingt. Höhere Löhne könnten die Pflegeberufe wieder interessanter machen, sagt Gero Kettler, der Co-Vorstand der BVAP, der neuen verbandsübergreifenden Vereinigung von Arbeitgebern in der Pflege. "Wir müssen in den Verhandlungen sehen, was sind denn Löhne, die die Branche attraktiv machen? Und die bisherigen Pflegemindestlöhne, die wir über die einvernehmliche Kommission festgesetzt haben, die sind es ganz bestimmt nicht. Dass wir mit etwas über 15 Euro für Fachkräfte einsteigen, ist ganz bestimmt nicht das Ziel, da müssen wir deutlich drüber sein. Und ob das jetzt 3.500, 3.800 oder 4.000 Euro werden, das müssen nun wirklich die Verhandlungen erbringen." Doch das Mandat von BVAP und Verdi ist alles andere als stabil. Zwar ist der neue Verband offen für jeden Arbeitgeber, der an einer Tariflösung interessiert ist. Doch am Verhandlungstisch fehlen ausgerechnet die, deren Marktmacht besonders groß ist: die privaten Anbieter von Altenheimen und ambulanten Diensten. Sie wollen keine Einheitstarife über die ganze Branche hinweg, sagt Sven Halldorn, der Geschäftsführer des Bundesverbands der privaten Arbeitgeber in der Pflege. Halldorn verweist auf gute Tarifabschlüsse in einzelnen Regionen aus seinem Verband heraus. Den derzeit geltenden Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde für Fachkräfte hält er für eine brauchbare untere Haltelinie: "Wir haben immerhin einen Pflegemindestlohn, der ja als untere Haltelinie in der Vergangenheit in der Pflegekommission verabredet worden ist, der 20 Prozent höher ist als der allgemeine gesetzliche Mindestlohn für ungelernte Kräfte wohlgemerkt. Ich glaube, dass die Pflegekommission auch die richtige Institution ist, um das Thema Mindestbedingung für die Pflege möglicherweise auch weiter zu verhandeln, als das in der Vergangenheit der Fall war. Die Möglichkeiten der Pflegekommission sind weiter gefächert als eben nur eine untere Haltelinie zu vereinbaren. Insofern gibt es hier durchaus Spielräume für weitere mögliche Verhandlungsergebnisse in der vierten Pflegekommission, die mittlerweile einberufen worden ist." Private Pflegeanbieter wollen die politische Einmischung nicht So Sven Halldorn in der Anhörung im Gesundheitsausschuss im Oktober 2019. Auf telefonische Nachfrage bestätigt er für den Verband der privaten Pflegeanbieter: Man gebe weiterhin der Pflegekommission und der Vereinbarung von Mindestlöhnen den Vorzug vor einer Einheitstariflösung. Und er kündigt an, dass man bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen werde, sollte die unternehmerische Autonomie der freien Lohngestaltung angriffen werden. "Weil wir halt die besondere Situation haben, dass hier tatsächlich die Gefahr besteht, dass kleine Gruppen im Prinzip einer Mehrheit der Branche Regelungen aufoktroyieren mit Hilfenahme des Gesetzgebers. Und deshalb sehe ich hier massive verfassungsrechtliche Bedenken." "Das ist so ein bisschen die jetzige Zeit, wo Arbeitgeber sich echt von ihrer Schokoladenseite zeigen müssen." Sagt Andrea Albrecht. Sie ist Pflegedirektorin am Lukas-Krankenhaus in Neuss. Auf Plakatwänden vor der Klinik werben Arbeitgeber aus der Pflegebranche, manche sogar mit Prämien für Wechselwillige. Der Run auf die Pflegefachkräfte ist im vollen Gang. Andrea Albrecht sieht das gelassen. Beispiel aus der Praxis: Flexpools Mit der "Schokoladenseite" meint die Personalmanagerin nicht nur Tariflöhne, sondern vor allem attraktive Arbeitsbedingungen. Denn die sorgten für stabile Bindungen ans Haus. 50 bis 60 Mal pro Jahr steigt eine Pflegefachkraft im Lukas-Krankenhaus aus dem Beruf aus, beispielsweise wegen einer Schwangerschaft oder aus Altersgründen. Bei 745 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege ist jeder Personalwechsel immer eine Herausforderung. Andrea Albrecht wollte raus aus dem Kleinklein der Mindestlohnvereinbarungen und der kritischen Unterbesetzung. Die Idee des Flexpools war geboren: "Flexpool bedeutet, dass Mitarbeiter so arbeiten können, wie sie wollen. Das ist eine Wunschvorstellung in vielen Betrieben, insbesondere im Krankenhaus. Und wir haben mit dieser Idee einen anderen Umstand tatsächlich gelöst, nämlich den hohen Ausfall in der Pflege." Personalmangel in Krankenhäusern - "Der Pflegenotstand ist ernst"Der Pflegenotstand in Krankenhäusern sei hausgemacht, sagt Eugen Brysch vom Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz im Dlf. Sowohl die Länder als auch die Krankenhäuser hätten jahrelang an der Pflege gespart. Er fordert ein gemeinsames Vorgehen von Bund, Kommunen, Ländern und Leistungsanbietern. Wer im Flexpool arbeitet, hat einen festen Arbeitsvertrag, aber keine feste, immer gleiche Stelle im Haus. In fünf Bereichen der Klinik sind die rund 70 Flexpool-Kräfte eingearbeitet und somit stets nach Bedarf einsetzbar. "Und so haben wir jetzt ein sehr großes Team an Pflegekräften mittlerweile, die Stellen kompensieren auf den Stationen oder wenn Mitarbeiter krank geworden sind, die dort hingehen und da arbeiten. Und dafür dürfen sie sich absolut frei aussuchen, wie sie arbeiten. Das heißt, wir haben Arbeitszeit jetzt wirklich ganz flexibel umgesetzt. Und es gibt Mitarbeiter, die schreiben vielleicht sogar für ein halbes Jahr im Voraus ihren Dienstplan und wissen dann ganz genau, da arbeite ich. Sie wissen nur noch nicht genau, wo arbeite ich." Alte Pläne helfen nicht weiter "Wo ich meine Ausbildung gemacht habe, war das Standard: Zwölf Tage arbeiten, zwei frei. Das war halt so, da gab es auch selten was dran zu rütteln." Ergänzt Laura Giuliani, gelernte Kranken- und Gesundheitspflegerin. Auf die Routine solcher in der Pflege üblichen Dienstpläne ließ sie sich genau zwei Jahre lang ein. Dann begannen Überlegungen, sich beruflich neu aufzustellen und zu studieren. Studium, Schwangerschaft, Berufswechsel – typischerweise gehen an solchen kritischen Punkten Mitarbeiterinnen in der Pflege entweder in Teilzeit oder gleich ganz verloren. Der Flexpool kam für sie genau richtig, sagt Laura Guiliani: "Ich sage bis heute, es konnte mir nichts Besseres passieren, weil ich einfach um mein Studium herum planen konnte, welches Wochenende kann ich arbeiten, wann habe ich wo Vorlesungen, wo hab ich vielleicht nur eine Vorlesung. Und an dem Wochenende bin ich dann immer arbeiten gegangen, weil das war ja die Voraussetzung, dass man mindestens ein Wochenende im Flexpool arbeitet." Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Mit mehr Geld pro Stunde hätte man sie nicht überzeugen können, sagt die Krankenpflegerin, die parallel zum Studium weiterhin am Lukas-Krankenhaus arbeitet. Auch Familienfrauen oder -männer schätzen die Möglichkeiten des Flexpools: Das Jobsharing wird damit einfacher. Und weil sie die Arbeitszeiten selbst bestimmen können, kommen nach der Elternzeit viele früher zurück. Während Fachkräfte auf dem Markt heute auch mit Geld und Prämien nicht zu finden sind, schöpft ein solches Modell alle Teilzeitreserven im eigenen Haus aus. Aber: Umsonst gibt es das nicht, betont Pflegedirektorin Andrea Albrecht: "Und so haben wir hier so einen Geschäftsplan aufgestellt und haben gesagt, wir brauchen im Grunde genommen Geld von außen, um erst mal zusätzliche Pflegekräfte einzustellen, um einen gewissen Stand zu haben, um soundsoviel Mitarbeiter einzuarbeiten. Wir haben das dann angelegt als Projekt über zweieinhalb Jahre, haben genau ausgerechnet, was kostet uns das an Pflegekräften letztendlich und haben auf diese Art und Weise von der Geschäftsführung 600.000 Euro zur Verfügung gestellt bekommen, um das vorzufinanzieren. Und das war sehr klug. Wenn Sie mal fragen, wie viel Geld wird für Leasingkräfte im Moment in den Kliniken ausgegeben, sind 600.000 Euro ein Bruchteil davon. Und auf diese Art und Weise haben wir 70 Stellen geschaffen. Jetzt brauchen wir kein zusätzliches Geld mehr." Die volle Personalbesetzung sorgt dafür, dass heute wieder alle Klinikbetten belegt sind und somit Geld einspielen. Ein Teil der Stellen wird außerdem über das neue Pflegebudget sowie über ein Programm des Bundesgesundheitsministeriums zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf finanziert. Coronavirus - Aktuelle Zahlen und EntwicklungenIm Coronavirus-Zeitalter sind wir alle zahlensüchtig: Wie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Im Ringen um einen Flächentarif in der Pflegebranche ist man von solchen Erfolgsmeldungen noch meilenweit entfernt. Das liegt nicht nur am fehlenden Willen der beteiligten Marktkonkurrenten. In Krankenhäusern ist die Tariffindung grundsätzlich einfacher. Dort wird in der Regel nach dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt. In der Altenpflege aber wird anders finanziert: aus Mitteln der Pflegeversicherung und mit Hilfe von Eigenanteilen. Die aber steigen automatisch, wenn die Löhne steigen. Das sei nun mal das Strickmuster der Pflegeversicherung, sagt Gero Kettler, Co-Vorstand der neuen verbandsübergreifenden Vereinigung von Arbeitgebern in der Pflege. "Aber es kann doch nicht dazu führen, dass Pflege bei den Löhnen nicht mehr bezahlen kann und nicht im Vergleich der Branchen vernünftig bezahlen kann, unterdurchschnittlich zahlen muss, damit Menschen nicht in die Sozialhilfe abrutschen, die das ganze Leben lang gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Wir brauchen unbedingt eine neue Refinanzierungsstruktur in der Pflegeversicherung. Das ist das ganz große Thema der politischen Diskussion in den nächsten Monaten." Refinanzierung der Pflege ist schwierig Den Strickfehler der Pflegeversicherung beheben, das ist in jedem Fall konfliktreich, denn es geht nur mit Geld aus anderen Quellen. Die Beiträge zur Pflegeversicherung könnten entsprechend hoch gesetzt werden. Das ist eine Möglichkeit. Die andere ist: Ein Steuerzuschuss, entsprechend den neuen Löhnen in der Pflege, der in Zukunft in die Pflegekasse fließen müsste. Die Bereitschaft dazu könnte in der aktuellen Coronasituation geweckt worden sein, hofft Gero Kettler: "Die Coronakrise zeigt ja gerade die gesellschaftliche Relevanz von Pflege, auch von Altenpflege. Und deswegen brauchen wir auch eine andere Kostenverteilung. Vor dem Hintergrund plädieren wir sehr dafür, dass wir einen Sockel haben, der von den Pflegebedürftigen zu zahlen ist und darüber hinaus gehende Kostensteigerungen durch vernünftige Lohnsteigerungen, sich dann auch zu Lasten einer solidarisch finanzierten Pflegeversicherung darstellen lassen." Marcus Jogerst-Ratzka, der Mitinitiator der Petition für höhere Löhne in der Pflege, ist skeptisch: "Ich traue der Sache nicht, das kann ich ganz klar sagen, weil ich natürlich weiß, dass da wahrscheinlich was rauskommen wird, was unter dem TVöD-Niveau sein wird." Unter dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes also. Mit wenig Zuversicht verfolgt Jogerst-Ratzka die Diskussion zwischen frei-gemeinnützigen, darunter auch den kirchlichen sowie den privaten Anbietern in der Altenpflege. Ein bisschen mehr Geld allein genügt nicht. Der Geschäftsführer einer Altenpflegeeinrichtung verweist auf Untersuchungen, die zeigen, dass es 20 bis 25 Prozent zu wenig Personal in der Altenpflege gibt. Die Steigerung der Attraktivität für das Berufsfeld Pflege, wird mit geringen Lohnsteigerungen nicht zu erreichen sein, und auch nicht mit dem jetzt versprochenen einmaligen Bonus für Pflegekräfte. Marcus Jogerst-Ratzka: "Ich habe gar nichts gegen Schulterklopfen, aber dabei kann es jetzt nicht bleiben, sondern da müssen jetzt Konsequenzen folgen. Ich habe sehr, sehr große Angst, dass, wenn wir jetzt nicht reagieren, wir nach dieser Krise einen noch höheren Ausstieg aus dem Beruf erleben werden, weil den Mitarbeitern natürlich jetzt auch zum ersten Mal klar wird, in welche Gefahr sie sich begeben und welche Anforderungen an sie gestellt werden. Ohne Gegenleistung kann das nicht bleiben." Ohne Druck aber von der Basis wird es auch nicht vorangehen. Wenn also in Kürze die Tarifverhandlungen zu den Pflegelöhnen wieder aufgenommen werden, sind die aktuellen Petitionen und Aktionen der Pflegekräfte das richtige Zeichen zur rechten Zeit, findet Politikwissenschaftlerin Diana Auth: "Das kann man ganz deutlich sagen: Der Druck muss erzeugt werden. Wenn die Pflegekräfte es mit sich machen lassen, wird sich langfristig nichts ändern. Sie müssen sich engagieren, damit es ihnen besser geht, damit ihre Arbeit besser anerkannt wird und das heißt, letztendlich bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne."
Von Katrin Sanders
Anerkennung, Applaus und Aussicht auf einen steuerfreien Bonus: Die Arbeit von Pflegekräften wird in der Coronakrise hoch geschätzt. Der Job gilt in Krisenzeiten sogar als systemrelevant. Das könnte bei den aktuellen Verhandlungen um Tariflöhne helfen. Aber der Weg zu einer besseren Bezahlung ist schwierig.
"2020-05-09T18:40:00+02:00"
"2020-05-10T09:08:33.383000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alten-und-krankenpflege-das-ringen-um-bessere-100.html
91,130