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Bachmann-Preis 2018 geht an Tanja Maljartschuk
Tanja Maljartschuk liest bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ihren Gewinnertext "Frösche im Meer" (ORF - Johannes Puch) Der Siegertext des Tages heißt "Frösche im Meer" und erzählt in klassischer Manier von einem Flüchtling, der vom Illegalen ins noch Fatalere rutscht – weil er Empathie hat, und einer alten, dementen Frau helfen möchte. Doch für eben diesen karitativen Dienst wird er bezichtigt, jene, die Außenseiterin ist wie er, zu betrügen. Tanja Maljartschuk wurde eingeladen von Stefan Gmünder. Der mit 12.500 Euro dotierte und heute zum zweiten Mal vergebene Deutschlandfunk-Preis geht an den Bestsellerautor Bov Bjerg ("Auerhaus") für seine Vater-Sohn-Geschichte "Serpentinen". Bemerkenswert ist, dass Bjerg eben deshalb begeisterte, weil er "Platz zum Atmen" lässt, wie es Jurymitglied Klaus Kastberger heute sagte. Berg war von Kastberger eingeladen worden, und er galt schon zu Beginn als einer der Preisfavoriten. Auf sprachlich avancierte Weise literarisiert Gefragt werden darf, wie sich die hier prämierten Texte weiterentwickeln, in welcher Form sie zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden. Während früher das Wettlesen um den Bachmannpreis Schriftstellerkarrieren begründete, man denkt an Rainald Goetz (1983) oder Birgit Vanderbeke (1990), gab es in den vergangenen Jahren etliche Abweichungen. Der Romanauszug, mit dem Jens Petersen 2009 den Bachmannpreis gewann, ist nie ergänzt worden. Es gibt keinen Roman, es gibt nur das damals präsentierte Fragment. Wenig sieht man in den Verlagsvorschauen von Sharon Dodua Otoo, die 2016 gewann. Kathrin Passig (Bachmannpreis 2006) tritt lediglich als Sachbuchautorin in Erscheinung; und was ist bislang geworden aus der Prosakarriere des als Dramaschriftsteller bekannten Ferdinand Schmalz, der im vergangenen Jahr den mit 25.000 Euro dotierten Preis erhielt? Der Deutschlandfunkpreisträger 2018: Bov Bjerg (ORF / ORF-K / Johannes Puch) Weitere Preise wurden verliehen an Özlem Özgül Dündar (Kelag-Preis, mit 10.000 Euro dotiert), die mit "Ich brenne" einen "Chor der Mütter" (Insa Wilke) über den Solinger Brandanschlag des Jahres 1993 inszeniert und auf sprachlich avancierte Weise literarisiert. Den 3sat-Preis (ebenfalls 7.500 Euro) erhält Anna Stern für "Warten auf Ava" für die Geschichte einer im Koma liegenden Frau, für einen Text, der das uralte "Noli me tangere"-Motiv in die Gegenwart überführt. Der BKS-Publikumspreis, über den die Zuschauerinnen und Zuschauer am gestrigen Nachmittag über das Internet abstimmen konnten, erhält überraschend Raphaela Edelbauer für "Das Loch", mit dem das Wettlesen am Donnerstagvormittag eröffnet wurde. Alle Texte können auf der Bachmannpreis-Internetseite des ORF nachgelesen werden. "Ich darf jetzt den Vorhang zuziehen nach diesen Tagen", sagte der Deutschlandfunk-Redakteur und Juryvorsitzende Hubert Winkels in seiner Abschlussrede. Er begrüßte, dass der Bachmannpreis nach etlichen Infragestellungen in "ruhiges Fahrwasser" geraten ist. Zugleich bestätigte er den Quasi-Vorwurf Daniel Kehlmanns ("Die Vermessung der Welt"), dass der Bachmann-Preis ein Phänomen der Machtausübung sei, "so wie alles". Jedoch, auch das erwähnte Winkels, habe sich die Argumentationsweise der Jury zivilisiert, es geht nahezu ausschließlich um "die Texte" und herauszuheben sei, dass die "gut erzählte Geschichte" 2018 prägend war. Die Preisträger 2018 im Überblick:Bachmannpreis: Tanja Maljartschuk für "Frösche im Meer"Deutschlandfunk-Preis: Bov Bjerg für "Serpentinen"KELAG-Preis: Özlem Özgül Dündar für "und ich brenne"3sat-Preis: Anna Stern für "Warten auf Ava"BKS-Publikumspreis: Raphaela Edelbauer für "Das Loch"
Von Jan Drees
Der Wettbewerb der 42. Tage der deutschsprachigen Literatur ist zu Ende: Die in der Ukraine geborene Autorin Tanja Maljartschuk erhält den diesjährigen Bachmann-Preis. Der Deutschlandfunk-Preis geht an Bov Bjerg. Die Autorinnen Özlem Özgül Dündar und Anna Stern erhalten weitere Preise.
"2018-07-08T17:30:00+02:00"
"2020-01-27T18:00:50.934000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tage-der-deutschsprachigen-literatur-bachmann-preis-100.html
212
Demütigungen im Sport offenbar weit verbreitet
Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln hat zu sexualisierter Gewalt im Sport geforscht. (Andrea Schültke, DLF) Vor einem Jahr hatte das Forschungsprojekt erste Ergebnisse veröffentlicht. Ein Team von Wissenschaftlern hatte 1.800 Leistungssportlerinnen und -sportler befragt. Die sollten unter anderem ihre Erfahrungen schildern mit dummen Sprüchen, Grabschen bis hin zu ungewolltem Geschlechtsverkehr. Ein Ergebnis damals: "Ein Drittel der befragten Athleten hat eine Form von sexualisierter Gewalt im Kontext des Sports erlebt", erläutert Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln, die Projektleiterin der Studie. Jetzt haben die Wissenschaftler ihr Augenmerk auf alle Lebensbereiche der Athletinnen und Athleten ausgedehnt. Ergebnis: mehr als die Hälfte der Befragten gab an, in ihrem bisherigen Leben sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Vor einem Jahr hatte das Team um Bettina Rulofs auch Zahlen zu körperlichen Übergriffen veröffentlicht, die teilweise sogar strafrechtlich relevant sein könnten: "Der Befund, dass einer von 9 Athleten schwere sexualisierte Gewalt erfahren hat oder auch länger andauernde sexualisierte Gewalt im Sport, ist ein Befund, der viele erschüttert hat." Beschimpfungen, Demütigungen oder Mobbing Die heute veröffentlichten Daten sind ebenfalls erschütternd. Dabei haben sich die Wissenschaftler konzentriert auf Angaben der Sportlerinnen und Sportler zu weiteren Formen der Gewalt. Demnach gaben 86 Prozent der Befragten an, im Sport Beschimpfungen, Demütigungen oder Mobbing erlebt zu haben. Ein Drittel der Athletinnen und Athleten berichtete sogar von körperlicher Gewalt: sie gaben an, im Sport geschlagen, geschüttelt oder mit Dingen beworfen worden zu sein. Alarmierenden Zahlen. Eine Erklärung dafür könnte die Befragung etwa von Olympiastützpunkten und Sportinternaten liefern. 19 Olympiastützpunkte gibt es in Deutschland. Die Verantwortlichen von 13 hatten sich an der Untersuchung beteiligt. Für die Hälfte der Befragten war demnach Prävention sexualisierter Gewalt zwar ein wichtiges Thema, aber nur knapp ein Viertel fühlte sich darüber fundiert informiert. Viele Internate haben kein Konzept Beispiel Sportinternate: hier leben die jungen, meist minderjährigen Sportler, wenn ihr Trainingsort weit entfernt ist von der Heimat. Die Internate sind das zweite Zuhause für junge Athleten – aber nur ein Viertel dieser Einrichtungen hat ein schriftliches Konzept, wie sie Minderjährige in ihrer Obhut vor sexualisierter Gewalt schützen.
Von Andrea Schültke
Unter dem Hashtag „MeToo“ machen Frauen und Mädchen gerade deutlich: sexualisierte Gewalt und sexueller Missbrauch sind ein massives Problem. Auch der Sport ist betroffen. Das haben neue Ergebnisse des Forschungsprojekts „Safe Sport“ noch einmal deutlich gemacht.
"2017-10-26T22:58:00+02:00"
"2020-01-28T10:58:15.466000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-der-sporthochschule-koeln-demuetigungen-im-sport-100.html
213
Niedersachsen will bei Futtermitteln "mehr Abschreckung"
Gerwald Herter: Auch Fachleute der Europäischen Union werden nun nach Deutschland kommen, um die Behörden hier im Skandal um mit Dioxin belastete Lebensmittel zu unterstützen. In knapp einer Woche werden sich die EU-Agrarminister mit dieser Angelegenheit befassen. Die Europäische Union, das ist sozusagen die dritte der zuständigen Ebenen. In Deutschland sind die Länder für die Kontrollen verantwortlich und dann ist da noch die Bundesregierung. Bundeslandwirtschaftsministerin Aigner wird sich heute Mittag mit ihren Kollegen und Kolleginnen aus den Ländern treffen.Jetzt bin ich mit dem niedersächsischen CDU-Politiker Friedrich-Otto Ripke verbunden. Er ist Staatssekretär für Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Hannover und er wird Niedersachsen heute in Berlin vertreten. Guten Morgen, Herr Ripke.Friedrich-Otto Ripke: Guten Morgen, Herr Herter!Herter: Herr Ripke, was halten Sie von den Forderungen der Bundeslandwirtschaftsministerin nach mehr Kompetenzen für den Bund bei der Lebensmittelkontrolle?Ripke: Wir unterstützen die Katalogvorschläge inhaltlich voll. Es geht auch nicht nur darum, um Kompetenzen zu streiten, sondern dafür zu sorgen, dass wir zukünftig noch besser – und wir haben Lücken gehabt gegen diese kriminellen Machenschaften – den Eintrag von Schadstoffen in die Futtermittelkette verhindern, und da braucht es Veränderungen. Ich glaube, die Vorschläge sind inhaltlich auch nicht schlecht, dass man die Komponenten erfassen muss, untersuchen muss, dass man die Eigenkontrollfristen verbindlich macht und positive Funde sofort vorlegen muss. Eine Dioxin-Monitoring-Zentrale in Berlin macht Sinn. Also insgesamt sind wir nicht unzufrieden.Herter: Kommen wir noch mal zurück zu den Kompetenzen. Welche wollen Sie denn auf jeden Fall behalten und welche wollen Sie abgeben?Ripke: Abgeben müssen wir keine. Dass wir Daten melden nach Berlin, damit es zu einer Datensammlung kommt, ist sinnvoll. Die Durchführung vor Ort, zum Beispiel was wir jetzt gerade machen, Eier und Schweinefleisch aus den Regalen zu holen von den gesperrten Betrieben, das kann man von Berlin aus nicht so gut machen wie wir mit unseren Kreisveterinärämtern. Aber hier geht es um Qualitätsmanagement in diesem Bereich. Auch da sind wir gesprächsbereit. Wir haben ein solches schon, und dass wir das bundesweit standardisieren, halte ich auch für sinnvoll.Herter: Die Durchführung vor Ort, da sind 100 Höfe in Niedersachsen versehentlich freigegeben worden. Jetzt wollen sie mal nachschauen, wie viel mit Dioxin belastete Lebensmittel deshalb verkauft worden sind. Stärkt das das Vertrauen der Verbraucher?Ripke: Mit Sicherheit nicht, aber wir mussten sehr breit sperren. 214.000 Tonnen Futtermittel mussten verfolgt werden, 4.400 Betriebe gesperrt, und da geht Sorgfalt vor. Wir haben Nachkontrollen bei diesen Futtermittellisten gemacht und treffen ab und zu noch mal auf auch Fehler und sperren dann nach. Das liegt im System. Wir haben aber seit Anfang des Jahres den Warenstrom unterbrochen, die Kette unterbrochen. Das, glaube ich, ist das Wichtigste.Herter: Höfe sind versehentlich freigegeben worden, nicht versehentlich gesperrt worden. Worauf beruht dieser Fehler?Ripke: Wir mussten sehr viele Dioxinproben untersuchen lassen. Dazu nutzten wir alle Laborkapazitäten in Deutschland. Und in einem Labor hat es eine Vertauschung in einer Futtermittelprobe gegeben. Das kommt vor, wir haben dann sehr schnell gehandelt.Herter: Brauchen wir auch bessere Labors und eine Zertifizierung für Labors?Ripke: Das ist vorgesehen. Deshalb begrüßen wir auch diesen Punkt. Alle akkreditierten Labors melden sich. Es gibt Qualitätsansprüche, um auch solchen Fehlern vorzubeugen.Herter: Haben Sie sich angesprochen gefühlt, als die Bundeslandwirtschaftsministerin Aigner personelle Konsequenzen in Niedersachsen gefordert hat?Ripke: Es hat mich nicht erfreut, aber ich bin Amtschef und Beamter. Es hat ein Kommunikationsproblem gegeben, das ist ausgeräumt. Wir schauen jetzt nach vorne, um die Dioxinkrise möglichst schnell zu Ende zu bringen.Herter: Trotzdem müssen wir noch mal zurückschauen. Anders als in der Öffentlichkeit zunächst bekannt gegeben, waren Sie schon früher über die zusätzliche Sperrung von Betrieben informiert. Ist das richtig?Ripke: Nein, das ist nicht richtig. Wir hatten eine Zeitparallelität, das kommt vor. Als ich die Ministerin begrüßt habe, habe ich einen allgemeinen Anruf bekommen über diesen Fall in Damme. Der Sachstand ist mir erst nach Abreise erläutert worden. Dann konnte ich erst entscheiden, dass der gesamte Kundenstamm zu sperren ist, und dann haben wir auch Berlin informiert.Herter: Verstehen Sie, dass Aigner verärgert war?Ripke: Sie hätte sich mit mir darüber unterhalten können, dann hätten wir es erläutern können. Ich glaube, dass wir öffentlich daran nicht gewonnen haben. Verbraucher wollen, dass wir sicher und kompetent funktionieren auch in schwierigen Zeiten.Herter: Heute haben Sie Gelegenheit, mit Aigner zu reden. Werden Sie sich entschuldigen?Ripke: Ich glaube, dafür gibt es keinen Grund. Wir haben uns ausgesprochen, die Sache ist ausgeräumt, das Kommunikationsproblem ist geklärt.Herter: Sie hören den Deutschlandfunk, Friedrich-Otto Ripke, Agrarstaatssekretär in Niedersachsen, über die Dioxin-Krise. – Sind auch Sie, Herr Ripke, für die Trennung der Produktion von Futterfett und industriellem Fett?Ripke: Ja, ganz stark. Das ist unser Vorschlag. Wir haben ein eigenes Fünf-Punkte-Programm. Dieser geht ein in den Aktionsplan. Wir wollen noch weitergehen. Wir wollen auch die technischen Fette einfärben, damit kriminellen Machenschaften hier die Quelle entzogen wird.Herter: Aigner fordert, dass auch Futtermittelbetriebe zertifiziert werden sollen. Was bedeutet das?Ripke: Ja, dass sie bestimmten Anforderungen entsprechen müssen, dass sie ein eigenes Qualitätsmanagement machen müssen und dass sie auch verpflichtet sind, nach einheitlichen Standards dann die Eigenkontrollen durchzuführen. Auch darüber werden wir heute reden.Herter: Konnte bisher jeder Futtermittel herstellen, der Käufer fand?Ripke: Nein, das ist nicht so. Auch er musste nach EU-Recht sich schon bei uns registrieren lassen, er ist kontrolliert worden. Aber wenn jemand das nicht tat wie bei uns die Spedition Luebbe in Bösel, dann war er nicht im System, dann haben wir ihn mit den behördlichen Kontrollen nicht erfasst.Herter: Strafrecht soll angewandt werden, die Strafen für Panscher von Futtermitteln sollen drastisch erhöht werden. Das fordert Aigner. Fordern Sie das auch?Ripke: Ja. Wir brauchen auch mehr Abschreckung. In diesem Fall haben einige wenige eine ganze Wirtschaftsbranche in Misskredit gebracht, schweren Image-Schaden verursacht. Wir wollen auch Teile dieses Vorgehens möglicherweise in Niedersachsen mit schwerem Betrug verfolgen. Dann ist die Haftstrafe automatisch höher, bis zu zehnJahren.Herter: Jetzt hören wir viele Forderungen. Sie sind ein Mann der Praxis. Wann gehen Sie davon aus, dass diese Forderungen auch in die Tat umgesetzt werden, dass es neue Gesetze gibt?Ripke: Ich glaube, dass wir die nationalen Dinge jetzt vor dem Hintergrund der wirklich schlimmen Dioxin-Krise sehr schnell umsetzen werden. Ich rechne heute mit einem Beschluss. Wir müssen allerdings die Europaschiene noch bedenken und dass die Kommission sich dafür interessiert, ist ein gutes Signal. Wir brauchen europaweite Lösungen. Es gibt einen europaweiten und globalisierten Markt inzwischen.Herter: Fachleute der Europäischen Union – ich habe es anfangs gesagt – werden in Deutschland eintreffen und Sie unterstützen. Werden Sie die willkommen heißen?Ripke: Ja, natürlich! Wir waren auch jetzt in Brüssel vor Ort, wir haben unser System vorgestellt, wir haben Unterstützung bekommen, und ich glaube, es ist nur gut, dass wir alle daran lernen. Eine solche breite Betroffenheit hat es bisher noch nicht gegeben, wir müssen auch nach vorne schauen.Herter: Letzte Frage mit der Bitte um eine wirklich kurze Antwort. Wie viele Eier essen Sie so derzeit am Tag oder in der Woche?Ripke: Ich esse in der Woche 5 bis 6 Eier.Herter: Ungerührt. – Das war Friedrich-Otto Ripke, Agrar-Staatssekretär in Niedersachsen, über das Bund-Länder-Treffen zu Dioxin. Vielen Dank für dieses Gespräch.Ripke: Sehr gerne, Herr Herter.Ratlose Ministerin - Ilse Aigner und der Dioxin-Skandal
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Bundeslandwirtschaftsminister Ilse Aigner (CSU) trifft sich heute mit ihren Länderkollegen: Ein Dioxin-Skandal soll nicht wieder vorkommen. Niedersachsen begrüßt den Vorstoß, sagt Friedrich Otto-Ripke und hat einen Fünf-Punkte-Plan im Gepäck.
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"2020-02-04T02:18:56.391000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niedersachsen-will-bei-futtermitteln-mehr-abschreckung-100.html
214
Reggae-Legende mit Soul und Funk
Frederick „Toots“ Hibbert ist am 11.9.2020 dem Corona-Virus erlegen. (Thomas von der Heiden) "Do The Reggay" heißt der Song, den Frederick "Toots" Hibbert gemeinsam mit seiner Band The Maytals 1968 veröffentlichte und damit gleich einem ganzen Genre einen Namen gab: Reggae. Zudem haben Toots & The Maytals die Musik vom Ska bis Rock Steady geprägt, sie verarbeiten Einflüsse von Soul und Funk und zelebrieren ihre Songs wie in einer Gospelmesse - vor allem live. Am 11. September 2020 ist die jamaikanische Reggae-Legende an den Folgen einer Covid-19-Infektion in ihrer Heimatstadt Kingston im Alter von 77 Jahren verstorben - ein Grund mehr, den Auftritt der Grammy-Gewinner Toots & The Maytals beim Kölner Summerjam Festival noch einmal zu genießen. Typisch, wie der Frontmann Toots mit seinem Bariton mal heiser und rau, mal butterweich und flehend seine Botschaften ins Publikum schickt, während seine Band groovt und Rhythmus-Gitarre und Keyboards sich genre-konform auf die Zählzeit "Und" fokussieren.
Am Mikrofon: Manuel Unger
Fredrick "Toots" Hibbert hat das Reggae-Genre geprägt und in gewisser Weise sogar erfunden. Mehr als 50 Jahre stand er mit seiner Band The Maytals auf der Bühne, bevor er im September 2020 starb. Auf dem Summerjam-Festival 2017 in Köln war das Reggae-Urgestein noch live zu erleben.
"2020-11-20T21:05:00+01:00"
"2020-11-19T11:43:30.445000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/toots-the-maytals-reggae-legende-mit-soul-und-funk-100.html
215
"Flächendeckende Tariflöhne durchsetzen"
Andreas Westerfellhaus tritt für eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen ein (picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka) Silvia Engels: Dass es in einer alternden Gesellschaft schwierig ist, gute Pflege zu finanzieren, ist keine Neuigkeit, und auch der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und Seniorenheimen hat sich herumgesprochen. Gestern wurden neue Zahlen bekannt, die stimmen nicht optimistisch. Zum einen steigt die Zahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern nur langsam, 2017 waren es laut Statistischem Bundesamt nur 3.400 Pflegekräfte mehr als im Jahr zuvor, ein Zuwachs von gerade einmal einem Prozent. Und im Bereich der Pflegeversicherung steigt die Zahl der Empfänger rasant. Laut einer Studie der Universität Duisburg-Essen waren es 2017 3,3 Millionen Pflegeberechtigte, das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Ausgaben wuchsen um 16,9 Prozent auf nun schon 35,5 Milliarden Euro. Am Telefon ist Andreas Westerfellhaus von der CDU. Er ist gelernter Pfleger, war lange Zeit Präsident des Deutschen Pflegerats, und er ist nun der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Westerfellhaus! Andreas Westerfellhaus: Guten Morgen, Frau Engels! Engels: Haben Sie diese doch dramatische Entwicklung bei den Zahlen erwartet? Westerfellhaus: Ja. Diese Zahlen sind nicht neu. Sie unterstützen die Kenntnisse der letzten Monate, und deswegen letztendlich ist die Bundesregierung, und das muss ich in aller Deutlichkeit auch mal zu den Verlautbarungen von gestern sagen, ja sehr aktiv geworden in diesen wenigen Monaten der Amtszeit, der Regierungszeit. Ob Minister oder Pflegebevollmächtigter, über die Koalition hinaus, sich genau mit diesem Thema Pflege zu beschäftigen. Und ich lasse auch den Vorwurf nicht gelten, neue Programme, neue Minister und alles bleibt ganz gut. Ich denke, die Ernsthaftigkeit der Situation ist angekommen, aber wir müssen jetzt auch die Gelegenheit haben, zu arbeiten und diese Dinge zu liefern. Und daran sollte man uns messen und nicht an irgendwelchen Aussagen, die natürlich zu Beginn einer Maßnahme stehen müssen. "Menschen sind bereit, diese Kosten zu tragen" Engels: Versuchen wir es ein bisschen zu sortieren. Der Anteil derjenigen, die jetzt berechtigt sind, Pflegeleistungen zu erhalten, ist deutlich angestiegen, ich habe es angesprochen. Das liegt ja auch daran, dass es ja bei der letzten Pflegereform darum ging, auch den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern, gerade im Bereich der Demenz. Insofern ist diese Entwicklung ja auch so angelegt gewesen. Aber ist die Finanzierung darauf vorbereitet? Westerfellhaus: Na ja, wissen Sie, erst mal das, was Sie richtig gesagt haben – es ist zu begrüßen, dass gerade in der letzten Legislaturperiode ja genau die Verbesserungen für die Patienten eingetreten sind. Also neue Pflegegrade, eine ganz andere Herangehensweise an die Versorgung, mehr ressourcenorientiert. Und was das letztlich in einer Umstellungsphase, in einer Neubewertung letztendlich auch ausmacht am Beitragssystem, das muss man auf dem Weg sicherlich dann erkennen und begleiten, und daraufhin hat die Bundesregierung ja bereits reagiert. Der Bundesgesundheitsminister hat ja letztendlich auch eine Kostensteigerung in Aussicht gestellt. Und das Erstaunliche und das Gute daran ist ja, dass die Menschen, das bestätigen ja Umfragen, in dieser Gesellschaft auch sagen, dass sie bereit sind, diese Kosten denn dann zu tragen, sofern diese Leistungen, die daraus resultieren müssen, auch bei ihnen ankommen. Engels: Beiträge zur Pflegeversicherung steigen, aber um wie viel? Was, denken Sie, ist kurz- und mittelfristig da nötig? Westerfellhaus: In diese Diskussion mag ich mich ungern einmischen, weil der Bundesgesundheitsminister hat bereits Zahlen vorgelegt, und Sie kennen die Situation, das Innenministerium berechnet, was wird nötig sein. Aber ich denke, man muss auch immer gucken, was will ich da letztendlich mit erreichen. Und dass man sich jetzt damit auseinandersetzt, ob das nun ausreicht oder nicht, ich bin dabei, zu sagen, hier ist ein vernünftiger Vorschlag vorgelegt worden, wie eine Beitragssatzsteigerung in den nächsten Jahren aussehen kann. Und außerdem haben wir dann die Möglichkeit, im Rahmen von Dynamisierung sicherlich auch die Möglichkeiten, noch weiter nachzusteuern. Natürlich ist die Belastung derjenigen, die es tragen muss, endlich. Das ist auch klar. "Wir brauchen eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen" Engels: Dann tragen wir kurz die Zahl noch nach, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ja genannt hatte. Erst Mitte Juni hatte er angekündigt, dass der Satz zum 1. Januar um 0,3 Punkte steigen muss, möglicherweise müssten es aber 0,5 Punkte werden. So weit dazu. Dann schauen wir auf den anderen großen Themenkomplex in diesem Zusammenhang. Da geht es um die Personalausstattung. Mehr Pflegebedürftige, aber, wir haben es gerade gehört, zumindest in den Krankenhäusern gibt es derzeit kaum mehr Personal. Insgesamt in der Alten- und Krankenpflege 35.000 Stellen weiterhin unbesetzt. Was kann denn dieses Milliardenpaket von Gesundheitsminister Spahn für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege bewirken, wenn es diese Fachkräfte einfach nicht gibt? Westerfellhaus: Wir müssen dies noch mal sauber trennen, diese 13.000 Stellen, die angedacht sind, sind für die Behandlungspflege in der Altenpflege dann vorgesehen. Und wir, sowohl der Bundesgesundheitsminister und ich auch haben immer gesagt, das ist der Einstieg, und das ist der Anfang. Wir haben vor wenigen Wochen in Berlin die konzertierte Aktion Pflege mit fünf Schwerpunkten dann letztendlich gestartet, und wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt über die Frage der Rahmenbedingungen, unter denen Menschen arbeiten in der Pflege, im Rahmen der Ausbildung, der Bezahlung, der Zuwanderung, und hier dann letztendlich innerhalb von zwölf Monaten Ergebnisse zu liefern. Das heißt auch übrigens nicht, innerhalb von zwölf Monaten, wir nutzen diese Zeit aus, sondern wir werden auch da, wo wir eher fertig sind, diese Dinge denn dann liefern. Das ist der Einstieg, und das ist der Beginn. Und ich kann natürlich den einen oder anderen verstehen, der sagt, natürlich reichen 13.000 nicht, aber 13.000, dass die reichen, hat auch niemand gesagt. Ich will aber auf eins auch hinweisen. Einfach nur zu sagen, ich brauche 10.000, 20, 30, 40.000 Pflegekräfte in unterschiedlichen Sektoren mehr, ist möglicherweise auch der falsche Weg. Ich glaube, wir brauchen insgesamt auch eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen, das heißt, wie arbeitet man zusammen, wie sehen die unterschiedlichen Aufgabenfelder auch in der Pflege aus, wo gibt es Pflegeassistenz, wo gibt es Pflegefachkraft, wo gibt es weitergebildete und akademisch qualifizierte Pflegende, und wie arbeiten sie im Zusammenspiel mit Physiotherapeuten, mit Ergotherapeuten und mit Ärztinnen und Ärzten zusammen. Gesundheitsversorgung ist ein gemeinsames Ziel der Gesundheitsberufe und deswegen trete ich ein für eine Neujustierung der Gesundheitsberufe in der Zusammenarbeit. "Ein Arbeitgeber, der keinen Tariflohn zahlt, wird schlechter abschneiden" Engels: Qualifizierung, Ausbildung, das sind Punkte, die ganz oben auf der Agenda stehen, aber die Bezahlung, die ist ja auch immer wieder ein Knackpunkt. Wie will man hier bessere Bezahlung durchsetzen, wenn 80 Prozent der Beschäftigten gar nicht tarifgebunden arbeiten und auch die Träger der Pflege sagen, wir haben nicht genug Geld. Westerfellhaus: Auch das hat wieder mal natürlich zwei Seiten. Eine gute, wertvolle Arbeit muss gut und wertvoll bezahlt werden. Es kann nicht sein, dass im Handwerk deutlich bessere Löhne gezahlt werden als in einem so wichtigen Beruf wie in der qualifizierte Pflege. Das ist erst mal unbestritten. Es kann auch nicht sein, dass es regionale Unterschiede gibt zwischen Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Mecklenburg-Vorpommern. Auch das ist nicht möglich, die Arbeit ist überall gleich, die muss überall gut bezahlt werden. Die Kostenträger haben gesagt, sie refinanzieren Löhne dann, wenn die Transparenz hergestellt wird, dass dieses Geld, was sie geben aus ihren Kassen, letztendlich auch für Tariflöhne dann gezahlt wird. Da gibt es noch einige, die sich zieren, genau diese Transparenz herbeizuführen. Und deswegen setze ich mich dafür ein mit anderen, zu sagen, wie kommen wir dahin, dass wir flächendeckende Tariflöhne dann letztendlich auch durchsetzen können. Das ist keine einfache Aufgabe, das wissen alle Beteiligten. Aber wenn das Gemeinwohl im Vordergrund steht, dann muss es im Sinne aller liegen, dies dann letztendlich auch durchzusetzen. Und auf Dauer wird auch ein Arbeitgeber, der keinen Tariflohn zahlt, schlechter dabei abschneiden. Bei dem Personalmangel, der in der Pflege herrscht, wird doch eine Pflegekraft sich den attraktivsten Arbeitgeber dann aussuchen, der auch vernünftig bezahlt und letztendlich auch vernünftige Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Engels: Sie kennen das System der Pflege sehr lang. Ihre Einschätzung: Wie viele Jahre vergehen, bis sich die Schere zwischen zu wenig Personal einerseits und mehr Pflegebedürftigen andererseits schließt? Westerfellhaus: Das ist sicherlich schwer vorauszusagen. Und wenn ich einen Wunsch hätte und in dieser Kiste mich bewegen dürfte, dann würde ich sagen, innerhalb von ein bis zwei Jahren. Das ist möglicherweise visionär, aber ich finde, hier sind deutliche Zeichen gesetzt, weil sowohl der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wie auch ich sagen immer wieder und werden nicht müde, wir wollen, dass Ende dieses Jahres die Pflegenden und die Pflegebedürftigen merken, es tut sich was, und wir wollen am Ende des nächsten Jahres dann auch hören, dass mal gesagt wird, es tut sich tatsächlich was, wir merken, dass es spürbar bei uns angekommen ist. Und das ist der Schritt. Das ist keine Aufgabe, die innerhalb einer Legislaturperiode zu erledigen ist. Das ist ganz klar. Das heißt aber auch nicht, dass man sich auf das Polster legt und sagt, jetzt haben wir mal ein bisschen Zeit. Wir wissen alle, dass wir genau diese Zeit eben nicht haben, dass es drängt. Dafür brauchen wir auch die Unterstützung der Gesellschaft und all derjenigen, die es angeht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Silvia Engels
Angesichts des enormen Personalmangels in der Pflege fordert Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen. Dazu gehöre vor allem eine bessere Bezahlung. Es könne nicht sein, dass im Handwerk höhere Löhne gezahlt würden als in der Pflege, sagte Westerfellhaus im Dlf.
"2018-08-09T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:22.725000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pflegebevollmaechtigter-der-bundesregierung-100.html
217
Live-Sport fast nur noch im Pay-TV
Englands Nationalmannschaft im Wembley Stadion. (imago sportfotodienst) "I am very pleased that this country is acting as host for the final phases of the World Cup." Königin Elisabeth eröffnet die Fußball-Weltmeisterschaft 1966. Die WM war ein Meilenstein in der Fernsehberichterstattung. BBC und der britische Privatsender ITV übertrugen die Spiele live rund um den Globus. Ein Dutzend Experten bevölkerten erstmals die Fernsehstudios. England hat für die WM 2018 Belgien, Tunesien und Panama zugelost bekommen. Immer noch wie seit 1966 werden die öffentlich-rechtliche BBC und der Privatsender ITV die Begegnungen zeigen. Diesmal wollen sie technisch mehr miteinander kooperieren, um Geld zu sparen. Die Fußball-Weltmeisterschaft ist im Mutterland des Fußballs komplett im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen. Queen Elizabeth II überreicht 1966 Englands Kapitain Bobby Moore den Weltmeisterpokal. (imago sportfotodienst) Die beiden Pay TV-Anbieter in England, BT und Sky, zeigen der Nationalmannschaft dagegen die kalte Schulter. Spiele der Nationalelf sind keine Quotengaranten, und das nicht erst seit dem letzten Desaster bei der EM in Frankreich. Die Schmach der Niederlage gegen Island ist auch bei den Machern des Bezahlfernsehens nicht vergessen. Für die Premier-League-Rechte geben sie dagegen pro Jahr fast zwei Milliarden Euro aus. Auch wenn der neue Deal für die Jahre ab 2019 etwas geringer ausfällt: Live-Fußball ist auf der Insel nahezu komplett ins Pay-TV abgewandert. Auch Rugby und Kricket im Pay-TV Das gilt auch für vieles andere, z.B. für die beiden Nationalsportarten Rugby und Kricket. Wenn England im Lords, dem Kricket-Nationalstadion in London, spielt, überträgt Sky – aber nur für 500 000 Zuschauer. Als Kricket noch frei zu sehen war, schalteten bis zu acht Millionen ein. Im Rugby hat man die Gefahr erkannt und lässt wenigstens das Sechs-Nationen-Turnier von der BBC übertragen. Das ist gut für die Fans und für die Sponsoren, die an möglichst hohen Einschaltquoten interessiert sind. Irland gegen England mit 80 000 Zuschauern im Stadion in Twickenham wurde von der BBC live gezeigt. Irlands Jacob Stockdale streckt sich zum geglückten Versuch gegen England ( Charlie Forgham-Bailey/Sportimage/imago) Trotzdem: von allen Live-Sportübertragungen im Fernsehen laufen ganze drei Prozent noch bei der BBC. Gemessen an der Zuschauerzahl beträgt der Marktanteil immerhin noch ein Drittel. Selbst im Radio aber hat jetzt ein Privatsender der BBC erstmals Kricket-Rechte weggeschnappt. Und die nächsten großen Player stehen in den Startlöchern: Amazon, Facebook und Twitter. Amazon Prime Video hat die Rechte für alle ATP-Tennisturniere erworben. Live-Streaming auf dem Handy ist der Markt der Gegenwart. Seit 1966 hat sich viel verändert, auch, wer diesmal nicht Favorit für den Titel des Fußball-Weltmeisters ist: "England are the World Champions!"
Von Friedbert Meurer
Die Premier-League-Rechte erzielten zuletzt einen Rekorderlös. Übertragen werden die Spiele nur noch im Pay-TV. Ähnliches gilt auch für die Nationalsportarten Rugby und Kricket. Nur die Fußball-Weltmeisterschaft ist im Mutterland des Fußballs komplett im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen.
"2018-05-01T19:25:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:24.293000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/england-live-sport-fast-nur-noch-im-pay-tv-100.html
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"Der Europäische Rat muss dringend entmachtet werden"
Der Schriftsteller Robert Menasse (dpa/Arno Burgi) Karin Fischer: In den vergangenen Tagen sind in Österreich, von Österreich und durch Österreich Tausende von Flüchtlingen ohne Vorwarnung oder Versorgung einfach nach Ostbayern durchgeschleust worden. Das hat dort zu so chaotischen Situationen geführt, dass Zeitungskommentatoren sich an düstere Gruselfilme erinnert sehen. Inzwischen hat die österreichische Regierung zugesagt, wieder zu einem geordneteren Verfahren zurückkehren zu wollen. Trotzdem bleibt das Bild eines Ausstiegs aus dem Solidaritätsgedanken. Nach dem Bild, das die Regierung des Nachbarlandes in dieser Woche abgibt, habe ich den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse vor der Sendung gefragt. Robert Menasse: Ich glaube, es wird niemand widersprechen, wenn ich sage, das Bild, das Österreich abgegeben hat in dieser Situation, war ein sehr gespaltenes. Auf der einen Seite hat man ein massives Versagen der Politik beobachten können, und auf der anderen Seite ein enormes Engagement der Zivilgesellschaft und auch staatlicher Institutionen, wie zum Beispiel der österreichischen Bundesbahn. Und gleichzeitig war aber auch die österreichische Gesellschaft massiv gespalten, oder ist es, besser gesagt, weil auf der einen Seite wächst in beängstigendem Ausmaß Xenophobie, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und auf der anderen Seite Solidarität und Hilfsbereitschaft und Organisation der Zivilgesellschaft. Also es ist eine doppelt gespaltene Situation. "Eine spezifisch österreichische Groteske" Fischer: Wenn Sie die Xenophobie ansprechen: Österreich ist ein katholisch geprägtes Land, das lange ein Vielvölkerstaat war. Kann man diese Abschottungstendenzen historisch erklären, oder nur aktuell mit einem Rechtsruck im Land, den wir ja auch in anderen osteuropäischen Ländern beobachten? Menasse: Ja, man kann es schon historisch erklären. Dafür ist die Sendung aber zu kurz. Aber auf alle Fälle zeigt sich darin eine spezifisch österreichische Groteske. Die Österreicher, vor allem die Ost-Österreicher, Wien und die östlichen Bundesländer, sind ja im Grunde eine Mischung aus allen möglichen Ethnien der ehemaligen Kronländer der Habsburger Monarchie, und es hat was Groteskes, wenn diese Mischung sich jetzt irgendwie zur Herrenrasse, zur eigenen Ethnie aufwirft und dann einen Schutz ihrer nationalen Identität fordert. Das hat was Komisches. Aber das größere Problem meiner Meinung nach, dass die zuständigen Politiker diese Stimmung statt aufzuklären, was da passiert, oder die Stimmung zu beruhigen, oder Sicherheit zu gewährleisten, diese Stimmung aufheizt. Zum Beispiel die österreichische Innenministerin hat ja noch im Mai dieses Jahres bei dem Ratsgipfel in Brüssel ein Veto eingelegt gegen eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik und sie ist zurückgekommen und hat gesagt, wir lassen uns von Brüssel nicht vorschreiben, wie viele Flüchtlinge wir aufzunehmen haben, und sie hat geglaubt, sie kann damit dieser rechtspopulistischen Partei irgendwie konkurrieren und die Wähler zurückholen von Strache. Aber das Gegenteil ist ja passiert. Die Wähler haben sich ja nur bestätigt gefühlt, dass Strache recht hat. Das heißt, es hat zur Lösung nichts beigetragen, aber zur Überhitzung der Situation. "Jeder versucht, sozusagen einen nationalistischen Eigensinn durchzusetzen" Fischer: Sie haben, Robert Menasse, vor einigen Jahren ein Buch über die europäischen Institutionen geschrieben mit dem Versuch, deren Effizienz und Wirksamkeit auch gegen eingefleischte Vorurteile zu beschreiben. Wie stellt sich die EU heute in der Flüchtlingsfrage für Sie dar? Solidarität steht ja da offenbar als Wert nicht an oberster Stelle. Menasse: Was jetzt passiert beweist auf dramatische Weise meine These, was ich schon vor einem Jahr geschrieben habe. Ich habe geschrieben, dass es sozusagen ein Problem in der Verfasstheit der Europäischen Union gibt, das darin besteht, dass die mächtigsten Institutionen nach dem Lissabon Vertrag der Europäische Rat geworden ist, also die Institution, die die Interessen der Nationalstaaten verteidigt. Und es kann ja in der EU nichts beschlossen werden. Es kann die Kommission nichts machen, es kann das Parlament nichts beschließen, was nicht vorher der Rat erlaubt oder zugelassen hat. Und im Rat werden die nationalen Interessen verteidigt. Jeder versucht, sozusagen einen nationalistischen Eigensinn durchzusetzen, und so kann es ja nicht funktionieren. Aufgrund genau dieser Krise, die wir jetzt haben, die ist der schlagende Beweis dafür, dass der Europäische Rat dringend entmachtet werden muss, dass wir endlich zu einer europäischen demokratischen Verfassung kommen müssen, die das nicht mehr zulässt, dass nationaler Eigensinn über Gemeinschaftspolitik siegt. "Das ist ja alles nurmehr unfreiwillige Parodie seiner selbst" Fischer: Nun hält man sich im alten Europa ja einiges zugute auf einerseits christliche Werte, andererseits aufgeklärte Positionen wie Demokratie und Menschenrechte. Was sind denn aber, Robert Menasse, heute appellative Instanzen und wie viele Sorgen muss man sich machen, wenn ein Staat als Ordnungsmacht die Segel streckt? Menasse: Na ja, die sagen, das christliche Abendland muss verteidigt werden und so weiter, oder die Werte der Aufklärung, das ist ja alles sehr zwiespältig, wenn Sie zum Beispiel bedenken, dass in Österreich ein Flüchtling, der Asylantrag stellt, ein Blatt in die Hand bekommt, wo die Werte aufgeschrieben sind, die er dann akzeptieren muss, unter anderem die Gleichstellung von Männern und Frauen oder von Frauen und Männern. Und dann nach den Wahlen in Oberösterreich wird eine Regierung gebildet ohne eine einzige Frau. Das ist ja alles nurmehr unfreiwillige Parodie seiner selbst. Und die Frage, wie damit umzugehen ist, mit diesen Flüchtlingsströmen, die muss einfach in doppelter Weise diskutiert werden. Das eine ist kurzfristig organisatorisch, dass man bei Achtung der Menschenrechte, auf die man ja insistiert, man sagt ja, wir sind der Kontinent, der auf der Basis der Menschenrechte funktioniert, dass also auch diese Flüchtlingsbewegungen auf der Basis der Menschenrechte organisiert werden, wie damit umzugehen ist. Und auf der anderen Seite muss man sich fragen, was sind die Ursachen dieser Bewegungen. Ich möchte gern so viele Menschen oder noch mehr, die bei den Pegida-Demonstrationen auf die Straße gehen, auf der Straße sehen, die demonstrieren gegen die Waffenlieferungen von Deutschland oder Österreich und anderen oder Frankreich in die Kriegsregionen, von wo dann die Flüchtlinge hier herkommen - zurecht. Fischer: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse über die Flüchtlingspolitik Österreichs und die Instrumente der EU. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Robert Menasse im Gespräch mit Sigrid Fischer
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat im DLF kritisiert, dass im Europäischen Rat jeder versuche, seinen nationalistischen Eigensinn durchzusetzen. Die Flüchtlingskrise zeige, dass der Europäische Rat entmachtet werden müsste. Er forderte dafür eine europäische demokratische Verfassung, die keinen nationalen Eigensinn mehr zulasse.
"2015-10-28T17:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:06:36.036000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/menasse-zur-fluechtlingspolitik-der-europaeische-rat-muss-100.html
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"Die wichtigste Ressource unserer Zeit ist die Aufmerksamkeit"
Alle paar Minuten der Blick aufs Handy - die Zerstreuung kann positiv und negativ sein. ( picture alliance / dpa) Stefan Koldehoff: "Leben in der digitalisierten Welt" heißt die Sommerreihe, in der wir in diesem Sommer zu ergründen versuchen, wie sich unser aller Welt verändert hat, seit sie eigentlich nur noch aus 1 und 0, aus Strom und Nicht-Strom, aus digitalem Datenfluss besteht. Wir sprechen mit Medizinern und Pädagogen, mit Künstlern und Wissenschaftlern, mit Warnern und Begeisterten – und heute mit dem Philosophen Wolfram Eilenberger. Er ist Chefredakteur des "Philosophie Magazins" und hat dort vor nicht allzu langer Zeit einen Heftschwerpunkt zum Thema "Der zerstreute Mensch" verantwortet. Werden wir durch das Dauerfeuer digitaler Reize innerlich ortlos? lautete die Frage dahinter. Ich habe ihn gefragt, Wolfram Eilenberger: Ist "Zerstreuung" für Sie denn ein positiver oder ein negativer Begriff? Man kann Zerstreuung ja auch ganz angenehm empfinden. Wolfram Eilenberger: In der Tat: der Begriff der Zerstreuung ist vieldeutig ambivalent, wie man sagen könnte, und es gibt sicher eine Zerstreuung, eine Form der gewalttätigen Unterbrochenheit, des unterbrochen Werdens, des sich nicht finden Könnens, des permanenten abgelenkt seins, die wir als negativ und als Selbstverlust und Selbstflucht empfinden. Und es gibt natürlich die ganz angenehmen Aspekte der Zerstreuung, die mit Erholung, mit Gedankenfreiheit, mit Drucklosigkeit verbunden werden, und diese Zerstreuung ist tatsächlich im Deutschen ein sehr interessanter und philosophisch bedenkenswerter Begriff. "Eine Form der Fremdbestimmtheit" Koldehoff: Ist denn das sich Zerstreuen ein bewusster Akt, oder geschieht es einem? Eilenberger: Ich glaube, es gibt zwei oder mindestens zwei Möglichkeiten, zerstreut zu werden oder sich zerstreut zu finden. Das eine hat sehr stark, denke ich, mit unserer digitalen Lebenswelt, mit unserer Existenzweise als digitalem Wesen zu tun, und das ist eher ein zerstreut werden, etwas was mir zustößt, oder was mir widerfährt als Akt, den ich selbst nicht steuere und der mir auch eher unangenehm ist und mich belastet. Wenn Sie an die ganzen Push-Alerts, Google-Nachrichten, an die Popup-Windows denken, an die Intensität der E-Mails, an die Anrufe, dann, denke ich, leben wir alle heute fast in einem Arbeitsalltag, in dem man sich gar nicht mehr auf etwas länger als zwei bis drei Minuten konzentrieren kann, ohne unterbrochen zu werden. Und diese Form der Zerstreuung ist etwas, was man nicht selbst steuert, was einem widerfährt, und in dem Sinne ist es etwas, was man vielleicht mit Immanuel Kant eine Form der Heteronomie bezeichnen könnte, eine Form der Fremdbestimmtheit, die dann auch dazu führt, dass man, wie man so sagt, keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Und dann gibt es auf der anderen Seite die Zerstreuung, die man aufsucht, um klare Gedanken zu finden, wie bei einem Spaziergang, und ich glaube, das Interessante an der zerstreuten Subjektivität, die wir heute alle sind oder die wir zu werden drohen, ist, dass sich beide Formen der Zerstreuung stark ausbreiten. Koldehoff: Warum gibt es denn den Eindruck, dass man dieses sich nicht mehr konzentrieren können, keinen klaren Gedanken mehr zu Ende denken, dass man das nicht einfach ablehnt? Eilenberger: Ich glaube, das sind eher Handlungslogiken, die uns durch den Arbeitsalltag und letztlich durch die Leitsysteme, mit denen wir arbeiten, vorgegeben sind. Die Digitalisierung und das sogenannte Netz, wenn wir es weit fassen, ist da sicher das Entscheidende. Und Sie können ja in gewissen Berufen, mittlerweile in fast keinem Beruf mehr es sich gar nicht leisten, permanent nicht auf Abruf zu sein, nicht erreichbar zu sein. "Die Trennung zwischen Arbeit und Alltag ist praktisch aufgelöst" Koldehoff: Würde das in letzter Konsequenz bedeuten, dass es die Trennung zwischen Arbeitswelt und Freizeitwelt eigentlich schon gar nicht mehr gibt? Eilenberger: In der Tat. Das beobachten wir natürlich durch die Mobilisierung des Netzes. Das was dann etwa ab 2003, 2004 mit dem iPhone und den gesamten Revolutionen im Handy-Markt geschehen ist. Da ist es so: Die Trennung zwischen Arbeit und Alltag, zwischen Freizeit und Konzentration, die ist praktisch aufgelöst worden. Und das ist nicht nur eine zeitliche Auflösung; es ist ja auch eine räumliche Auflösung. Und auch da ist es wie bei vielen Techniken so, dass da, was eigentlich ein Zuwachs an Freiheit und Freizeit hätte sein können, eher eine Logik der Versklavung und Unterwerfung erfolgt ist. Koldehoff: Aber wo bleibt denn dann, verflixt noch mal, wenn Sie vorhin Kant zitiert haben, der freie Menschenwille? Eilenberger: Ich denke, es ist wirklich eine wesentliche Herausforderung unserer Zeit, diese Heteronomie durch Fremdreize, durch Unterbrechungen zu unterbinden, zu kontrollieren, zu regulieren, und ein freier Mensch ist tatsächlich nur ein Mensch, der sich selbst besinnen kann. Ich glaube, die Gründe, die dort treibend sind im Hintergrund, sind tatsächlich ökonomische Gründe, denn wenn Sie daran denken, was treibt denn diese Logik der Unterbrechung eigentlich, dann kommen Sie sehr schnell auf den Gedanken, dass die wichtigste Ressource unserer Zeit die Aufmerksamkeit ist. Wer unsere Aufmerksamkeit bündelt, der hat uns als Konsumenten schon da, wo er uns haben will, und tatsächlich sind die weltweit wichtigsten und größten Firmen, die derzeit ja immer noch im Wert explodieren, wie Facebook, wie Google, wie Twitter, das sind ja Firmen, die gar nichts herstellen. Das sind nichts anderes als Plattformen zur Bündelung unserer Aufmerksamkeit, und der Kampf um unsere Aufmerksamkeit ist als Ressource derzeit stark entbrannt, was wir alle spüren. Koldehoff: Würde es denn dann helfen, wenn mehr Firmen sich so verhielten, wie es VW zum Beispiel vor einigen Wochen getan hat, indem die Firma sagt, 18 Uhr ist Schluss mit E-Mails und da gibt es dann auch keinen Zugriff mehr von außen, dann ist bitte Freizeit, von oben verordnet? Eilenberger: Ja. Das ist sicher jetzt eine Dynamik, die neu ist. Es gibt ja immer mehr Betriebe, die sagen, wir haben eine E-Mail-freie Zone von Freitagabend bis Montagfrüh. Ich bin mir nicht sicher, wie stark das in der Praxis funktioniert und tatsächlich auch eingeholt wird, denn zumindest an mir selbst und an den Menschen, mit denen ich arbeite, empfinde ich es sehr schwer, aus dieser Logik der permanenten Erreichbarkeit selbst am Wochenende oder in sogenannten arbeitsfreien Zeiten auszubrechen. Man hat dann sehr stark das Bedürfnis, nachzuschauen, weil man etwas verpasst. Einerseits finde ich das sehr begrüßenswert; andererseits glaube ich nicht, dass das die eigentliche Lösung des Problems sein wird. "Schutzgrenzen für uns verschwimmen zunehmend" Koldehoff: Umgekehrt behindert es mich aber doch eigentlich auch in meiner freien Willensausübung, so eine Firmenentscheidung. Wenn ich beispielsweise überlege, jetzt gehe ich nach Hause, spiele mit den Kindern und freue mich darauf, und die Anmoderation für das Gespräch mit Herrn Dr. Eilenberger, die schreibe ich dann am Samstagabend, wenn die Kinder im Bett sind. Meine freie Entscheidung! Eilenberger: Ja! Das ist, glaube ich, die Ambivalenz eines anderen Begriffes, der mit der Zerstreuung sehr eng verbunden ist. Das ist das, was Richard Sennett als den flexiblen Menschen bezeichnet hat. Die Flexibilität ist natürlich ein Freiheitszuwachs. Ich kann mir meine Arbeit selbst einteilen, ich kann selbst entscheiden, wenn ich eine Aufgabe erledigen will. Andererseits führt eben diese Flexibilität auch dazu, dass die Grenzen, die auch Schutzgrenzen sind für uns, dass die zunehmend verschwimmen. Diese Flexibilität wirklich für sich selbst zu nutzen und nicht ein Sklave ihrer Möglichkeit zu werden, das ist eine sehr, sehr schwierige Aufgabe. Koldehoff: Und jetzt mal ganz konkret: Sie haben ja viel darüber nachgedacht. Wie machen Sie es in der Praxis? Sie sitzen beim Kaffeetrinken mit der Familie und möchten als Philosoph mit DFB-Trainerlizenz doch mal eben wissen, wie Schalke oder Dortmund gespielt hat, oder Ihre Frau interessiert doch ganz kurz mal eben, was die finnischen Basketball-Damen denn so gemacht haben. Gucken Sie rein? Eilenberger: Ich glaube, im Familienalltag für mich hat sich bewährt, dass man etwas ganz Altmodisches tut: Man führt Rituale ein wie beispielsweise ein gemeinsames Abendessen, oder ein gemeinsames Frühstück. Ich glaube, der Begriff des Rituals aus einer starren, regelgeleitet Wiederholung, die keine Abweichung duldet, ist insgesamt kulturell ein großes Heilmittel in dieser digitalisierten Zerstreuungslogik. Ich glaube, diese Zonen, die man sich freihält, die sollte man starren Regeln unterwerfen, die sollte man stark ritualisieren, und dann gewinnen Sie auch das, was Rituale dann immer annehmen: Sie gewinnen etwas Heiliges, etwas Schönes, etwas, in dem man sich selbst wiederfinden kann. "Ritual insgesamt kulturell ein großes Heilmittel" Koldehoff: Brauchen wir nach vielen Jahren der Technikbegeisterung so was wie eine neue Netiquette wie neue Regeln fürs Benehmen in der digitalen Welt? Eilenberger: Ich würde sagen, dass die erste Anforderung noch vor diesen Benimm- und Benehmensregeln die wäre, dass man wirklich eine Kunst der Selbstbeobachtung im Mediengebrauch einführt, so eine Art neue Medienpädagogik. Das scheint mir sehr viel wichtiger und da sehe ich kulturell in der Schule, aber auch in vielen anderen Bildungsinstitutionen tatsächlich eine große Anforderung, dass man der Subjektivität, die heute digitalisiert entsteht, beibringt, sich in dieser Zerstreuungslogik zu finden, souverän zu bleiben und sie zu steuern, anstatt ihr Sklave zu werden. Koldehoff: Von wem könnte das denn kommen? Eilenberger: Es gibt ja ganz, ganz starke kulturelle Gegenbewegungen zu dieser Zerstreuungszumutung, beispielsweise die ganzen asiatischen Versenkungstechniken des Yoga, oder auch gewisser Kampftechniken, die auf Versenkung und Konzentration beruhen. Das heißt, es gibt auch eine ganze Sammlungsindustrie, die sich gleichsam als Parasit auf diese Zerstreuungslogik hier draufgesetzt hat, und tatsächlich glaube ich, dass auch die Philosophie wie beispielsweise die Tradition der Stoa grundlegende Techniken liefert, die es einem ermöglichen, sich selbst zu finden. Beispielsweise haben die Stoiker gesagt, schreibe deine Gedanken am Tag jeden Tag zehn Minuten auf. Allein schon dieses Aufschreiben der eigenen Gedanken, das ist eine Form der Selbstfindung, die, glaube ich, ganz konkret als heilsam erfahren werden kann und einen von dieser Zerstreuung abhält. Koldehoff: Was ist das aus der Sicht des Philosophen, ein Versuch, ein Rad zurückzudrehen, oder ein Versuch, ein Rad anders zu drehen? Eilenberger: Ich glaube, die philosophische Leistung kann darin bestehen, diese Dynamik zu durchschauen und auch in ihren Motivationen zu durchschauen. Und wenn Sie mich jetzt fragen würden, was ist denn eigentlich die Grundmotivation hinter dieser Zerstreuungslogik, dann, glaube ich, ist die eine ganz alte, wie im Römischen gesagt wird: Divide et impera, teile und herrsche. Wenn man es schafft, die Menschen von sich selbst abzulenken und in permanenter Zerstreuung zu halten, dann kontrolliert man sie, und das ist eine Form der Versklavung, glaube ich, der wir uns alle als autonome selbstbestimmte Wesen, potenziell selbstbestimmte Wesen entziehen können, und die Techniken dafür sind eigentlich auch dort und kulturell gut kultiviert. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Stefan Koldehoff
Wer unsere Aufmerksamkeit bündele, der habe uns als Konsumenten schon da, wo er uns haben wolle, sagte der Chefredakteur des "Philosophie Magazins", Wolfram Eilenberger, im DLF. Erfolgreiche Unternehmen wie Facebook und Twitter stellten ja gar nichts her, sondern seien nichts anderes als Plattformen zur Bündelung unserer Aufmerksamkeit.
"2014-08-26T17:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:52.139000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reihe-leben-in-der-digitalisierten-welt-die-wichtigste-100.html
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Türkei öffnet Flüchtlingskorridor für Syrier
Wie von einer Aussichtsplattform gleitet der Blick über das türkisch-syrische Grenzgebiet. Direkt unterhalb von Nesrins nackten Füßen liegt es da, saftig grün, von schmalen Pfaden durchzogen. Die Aussichtsplattform ist das Dach von Nesrins kleinem Haus. Die 19-Jährige lebt mit den fünf Geschwistern, den Eltern und den Großeltern in Güvecci – am südlichsten Zipfel der Türkei. Auf dem Hügel gegenüber liegt Syrien, so friedlich und nah, dass es tatsächlich zum Picknicken einlädt – und auch dazu, die Grenze im Spaziergang zu überqueren. Das haben seit April Hunderte Syrer getan, Nesrin hat sie alle beobachtet. "Sie haben um acht Uhr morgens angefangen zu demonstrieren. Und abends um neun sind immer noch welche nachgekommen. Sie hatten türkische Flaggen dabei und haben geschrien: "Wir wollen Freiheit, wir wollen die Türkei, Tayyip Erdogan leben hoch!"Mehr als 8500 syrische Flüchtlinge sind inzwischen in die Türkei geströmt. Der türkische Rote Halbmond – das Pendant zum Roten Kreuz – errichtet im Eiltempo Zeltstädte an der Grenze. Der frisch im Amt bestätigte türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan verspricht von Ankara aus jede Hilfe. "Syrien ist für uns nicht wie Libyen. Syrien ist für uns wie unser eigenes Problem – wir haben mehr als 850 Kilometer gemeinsame Grenze! Wir müssen den Flüchtlingen unsere Türen öffnen. Nur bis zu welchem Punkt kann das so weiter gehen? Das ist eine andere Angelegenheit." Eine Angelegenheit, die die türkische Regierung zunächst allein lösen will. Internationale Hilfe – unter anderem auch von Außenminister Westerwelle – lehnte sie dankend ab. Doch es geht in den Zeltstädten nicht nur um humanitäre Hilfe, es geht auch darum, die Geflohenen an einem Ort zu halten, bis die Situation im Nachbarland sich entspannt und die Rückkehr organisiert werden kann. Ankara vermeidet es bewusst von "Flüchtlingen" zu sprechen, die womöglich unter die UN-Konventionen fallen und sich auf lange Sicht in der Türkei niederlassen könnten. Was also sind die Tausende von syrischen Nachbarn, die da täglich über die ja ohnehin offene Grenze in die Türkei strömen und nun hinter Stacheldraht sitzen? Der Bürgermeister des Grenzorts Yayladagi, in dessen Umgebung die Zeltstädte entstehen, zuckt mit den Schultern."Ich sehe sie zuerst mal als unsere Gäste, aber der Staat hat sie nicht klar definiert. Ich weiß nicht, ob das nun Flüchtlinge sind oder vielleicht Asylsuchende. Wir zeigen unsere türkische Gastfreundschaft jedenfalls jedem. Und wir sehen sie einfach als Gäste Gottes." Bürgermeister Mustafa Dagistanli weiß, dass sein Ort sich auf viele weitere "Gäste Gottes" gefasst machen muss. Zehntausende campieren an der syrischen Grenze, bei Gefahr jederzeit bereit sie zu überqueren. Derweil greift der syrische Präsident Bashar Al-Assad seine Bevölkerung laut Augenzeugenberichten weiter mit Panzern an. Auch wenn in den türkischen Zeltstädten striktes Presseverbot herrscht, dringen immer wieder Berichte von angeblich mordenden Regierungssoldaten, von abgebrannten Feldern und vergiftetem Wasser nach draußen. Lange zog der türkische Ministerpräsident es vor, zum Vorgehen seines jahrelangen Freundes, dem syrischen Machthaber Bashar Al-Assad, öffentlich zu schweigen. Doch schließlich konnte auch Erdogan nicht mehr wegsehen. "Ich habe vor wenigen Tagen mit Bashar Al-Assad gesprochen. Trotz all dieser Vorkommnisse nimmt er die Situation immer noch zu leicht, und behauptet alles wäre ganz anders. Aber es ist offensichtlich, dass vor allem sein Bruder als Truppenführer absolut unmenschlich vorgeht. Wir haben die Bilder von ermordeten Frauen gesehen! Das ist absolut inakzeptabel! Unter diesen Umständen können wir nicht mehr zur syrischen Regierung stehen." Erstaunlich klare Worte aus Ankara. Bei jeder Gelegenheit betonen Sprecher der Regierung nun, dass die Grenze nach Syrien offen ist und offenbleiben wird. Der Rote Halbmond ist bereits dabei, ein Lager für weitere 9000 Flüchtlinge zu errichten. Einmal mehr, so scheint es, genießt die Türkei ihre strategische Rolle in der Region. Und wie schon für die Ägypter und Libyer, ist das türkische Modell von Islam und Demokratie auch für viele Syrer längst zum Vorbild geworden. Erst vor wenigen Tagen wurde ein syrisches Kind in einem der Zeltlager an der Grenze geboren. Sein Name: Recep Tayyip!
Von Luise Sammann
Seit mehr als drei Monaten protestieren in Syrien Oppositionelle gegen ihre Regierung. Mehr als 1300 tote Zivilisten hat der Konflikt laut Menschenrechtsorganisationen bisher gekostet. Verängstigte Syrer machen sich deswegen in Richtung Türkei auf.
"2011-06-16T09:10:00+02:00"
"2020-02-04T01:49:35.442000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-oeffnet-fluechtlingskorridor-fuer-syrier-100.html
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Gute Fachkräfte aus Mexiko?
Die Krankenpflegerin Teresa Guzman arbeitet in einer mexikanischen Senioren-Residenz (ARD / Ann-Kathrin Mellmann) Die Kranken- und Altenpflegerin Marta Alcocer musste sich noch nie Arbeit suchen. In 30 freiberuflichen Jahren sei sie immer empfohlen oder angefragt worden. "Es fing an, weil ich meine kranke Mutter pflegte: Uns trennte nur eine Straße vom Viertel der Reichen. Jeden Tag schob ich meine Mutter im Rollstuhl durch die Straße, damit sie die prächtigen Anwesen gegenüber sehen konnte. Eines Tages sprach mich eine Frau aus einem dieser Häuser an: Ob ich professionelle Pflegekraft sei. Meine Mutter sehe so gepflegt und hübsch zurechtgemacht aus. Als meine Mutter gestorben war, überzeugte mich die Frau von einer Ausbildung, damit ich mich um ihre Mutter kümmern konnte. Sie bezahlte die Kurse, ich lernte die Grundlagen." Damit war der Grundstein für Martas Laufbahn gelegt. Die sportliche 50-Jährige hat so wie die meisten ihres Fachs keinen Abschluss, arbeitet aber in Privathäusern als Krankenschwester und Pflegerin. Nie waren ihre Patientinnen jünger als 80. Pflegenotstand: Weltweites Betteln um die Besten Kosovo, Mexiko, Philippinen: Fachkräfte von dort sollen den Pflegenotstand in Deutschland beheben. Der Politologe Martin Hyun bezweifelt, dass diese nicht neue Strategie der Anwerbung diesmal funktioniert. Keine Verträge, keine Rechtssicherheit, keine Gewerkschaften Derzeit betreut sie in Mexiko-Stadt eine 87-jährige, die seit einigen Monaten ein Pflegefall ist. Rund um die Uhr, von Montagfrüh bis Samstagfrüh, umsorgt Marta Alcocer die Frau, hält die Familie in einer Chatgruppe auf dem Laufenden, kocht nach Diätplan, steht in der Nacht bis zu vier Mal auf, um die halbseitig Gelähmte auf die Toilette zu bringen. Sie wohne gern bei ihrer Patientin, sagt Alcocer. So spare sie sich fünf Stunden Hin- und Rückfahrt in ihren Vorort, die Kosten dafür und laufe nicht Gefahr, im Bus überfallen und ausgeraubt zu werden. Ihr Monatsverdienst beträgt etwa 750 Euro. In Mexiko ist das ein gutes Einkommen, allerdings sind Sozial- und Krankenversicherung nicht enthalten. Das ist zwar weit mehr als ein Krankenhaus bezahlen würde, aber etwa ein Drittel weniger, als sie noch vor fünf Jahren verdienen konnte: "Die Leute wollen einfach nicht mehr für Arbeit bezahlen. Ich musste mir sogar schon anhören: Was machst du denn schon? Du kannst den ganzen Tag sitzen. Du musst sie ja nur waschen, ja nur für sie da sein. Das ist doch nichts. Aber ich verbringe 24 Stunden bei den Patienten. Als ich bei dieser Frau anfing, war sie völlig außer Kontrolle und schlief nachts nicht. Also schlief ich auch nicht. Sie konnte auch tagsüber nicht schlafen, also galt das auch für mich." Für Pflegerinnen wie Marta Alcocer gibt es keine Verträge, keine Rechtssicherheit und keine Gewerkschaften, die sich für sie einsetzen. Diese Art von Arbeit basiert auf Vertrauen und Empfehlungen: Gute Pflegekräfte werden meist innerhalb der großen Familien weitergereicht. Wenn die Bedingungen gut seien, sagt Marta, würde sie zum Arbeiten in ein anderes Land wie Deutschland gehen – wenn auch nicht für immer, weil sie ihre Familie nicht verlassen könnte. Alte und Kranke bleiben selten ganz allein Frauen wie Alcocer sind harte Arbeit gewöhnt und geben alles, vor allem: viel Zuneigung und Wärme. Je liebevoller und geduldiger die Pflegerinnen mit den Alten und Kranken umgehen, umso begehrter sind sie. Darauf wird in Mexiko großer Wert gelegt, wenn sich die Angehörigen selbst nicht kümmern können oder wollen. Weil die Familien in der Regel groß sind, bleiben Alte und Kranke selten ganz allein. Falls doch, brauchen sie ein Vermögen für private Pflegeheime. Die 78-jährige Lidia Vasquez hat keine Angehörigen und ist nach einem Schlaganfall in ein Heim gezogen. Ihr Klavier konnte sie mitnehmen. Täglich übt sie einige Stunden – und erfreut damit die anderen nur sieben Bewohner der Residenz Los Aguilas sowie die fünf Angestellten. Darunter sind die beiden Krankenpflegerinnen Leticia Pérez und Teresa Guzman. Beide haben nach mehrjähriger Berufsausbildung in staatlichen und privaten Kliniken gearbeitet und wurden von der Heimchefin abgeworben. Für beide ein Glücksfall, weil es in Mexiko viele arbeitssuchende Krankenschwestern gibt. "Deutschland würde ich gern kennenlernen", meint die mexikanische Krankenpflegerin Leticia Pérez (Anne-Katrin Mellmann) In der Seniorenresidenz seien die Arbeitsbedingungen besser, sagt Teresa Guzman. Auch verdienten sie mehr als vorher – so wie Freiberuflerin Marta Alcocer etwa 750 Euro im Monat, allerdings mit Renten- und Krankenversicherung. In Mexikos unterer Mittelschicht gilt das als gutes Einkommen. "Hier besteht die Arbeit hauptsächlich aus dem, was eine Krankenschwester zu tun hat, also die Medikamente geben und den Zustand der Patienten kontrollieren. Wir sind hier viel näher am Menschen als im Krankenhaus. Wenn ein Patient dort ein Problem hat, ruft er sofort den Arzt. Hier spricht er zunächst uns an, und wir rufen dann einen Arzt, wenn das nötig ist. Die Beziehung ist viel enger und persönlicher. Im Krankenhaus hilfst du, gibst Medikamente, wechselst Windeln, hast aber wenig Kontakt zum Patienten. Hier macht man alles: auch waschen und füttern. Ich empfinde die Arbeit als weniger anstrengend. Und die Patienten sind entspannter." Ein an Migration gewöhntes Land Die beiden warmherzigen und zugleich resoluten Krankenpflegerinnen sind spezialisiert auf demenzkranke, ältere Patienten. Diese Arbeit könnten sie sich für eine Zeitlang auch in einem anderen Land vorstellen, meint die geschiedene, kinderlose Leticia Pérez: "Das wäre sehr aufregend und würde mir gut gefallen. Deutschland würde ich gern kennenlernen. Das wäre eine Herausforderung, die ich gern annehmen würde. Auch die Sprache zu lernen – mit Vergnügen." Mexiko sei ein an Migration gewöhntes Land, ergänzt ihre Kollegin Teresa Guzmann: "Die meisten Mexikaner gehen zum Arbeiten in die USA, weil die nahe sind. Aber wenn es die Möglichkeit gäbe, mit der Sicherheit einer richtigen Anstellung in ein Land weiter weg zu gehen, würden die Leute das tun. Sie könnten eine neue Kultur kennenlernen und Geld zurücklegen. Hier sind Dollars und Euros mehr wert: Die Mexikaner, die für eine Zeit in den USA arbeiten, bauen hier mit dem Geld ihr Häuschen, kaufen ein Stück Land oder eröffnen ein Geschäft. Das ist weit verbreitet. Aber in den USA müssen die Menschen Verfolgung befürchten, wenn sie keine gültigen Papiere haben. Wenn sie nun aber mit einer Arbeit, zum Beispiel als Pflegekraft gehen könnten – das wäre wunderbar." Legal, bezahlt und mit Sprachkurs – so wie es der deutsche Gesundheitsminister organisieren will. Für eine Zeit, nicht für das ganze Leben, können sich diese mexikanischen Pflegerinnen das Abenteuer Deutschland vorstellen.
Von Ann-Kathrin Mellmann
Weil es in Deutschland an Pflegekräften mangelt, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Personal im Ausland anwerben. Zum Beispiel in Mexiko. In dem Schwellenland herrschen völlig andere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen als in Deutschland.
"2019-11-25T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:20:43.506000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-pflegenotstand-gute-fachkraefte-aus-mexiko-100.html
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Erstmals verbindliche Definition für grüne Geldanlagen
Bisher galt es bei grünen Geldanlagen ganz genau hinzusehen. Das könnte bald einfacher werden. (imago/Ikon Images) Sven Giegold, der Finanzexperte der Grünen im Europaparlament, klingt rundum zufrieden: "Diese Einigung bringt den Durchbruch für nachhaltige Finanzprodukte in Europa." Und Valdis Dombrowskis, der zuständige EU-Kommissar, ein Mann mit dem Temperament einer Tiefkühltruhe, geriet sogar ins Schwärmen. "Wir haben Geschichte gemacht", jubelte er nach der Einigung der Unterhändler. Die hatten sich nach langen Gesprächen auf Regeln für die sogenannte Taxonomie geeinigt, mit der festgelegt werden soll, was ein nachhaltiges, grünes Finanzprodukt ist. Markus Ferber, Finanzexperte der CSU im Straßburger Parlament: "Es gibt eine große Nachfrage auf dem Markt für nachhaltige Finanzpapiere. Und wir wollen nicht, dass jedes Bankhaus, jeder Emittent, seine eigene Definition macht. Deswegen macht es Sinn, eine europäische, klare Definition für nachhaltige Finanzprodukte zu erstellen." Streitpunkte: Gaskraftwerke und Atomenergie Der Streit darum, welche Kriterien ein grünes Finanzprodukt erfüllen muss, hatte sich über lange Zeit festgefressen. An einem Punkt, der derzeit immer wieder die Kompromisssuche auf EU-Ebene erschwert: Es geht um die Frage, welche Form von Energieproduktion als "grün" gelten darf. Die Kohleverstromung nicht – das ist mittlerweile Common Sense. Aber um Gaskraftwerke und Atomenergie wird immer wieder gestritten. Etwa, wenn die EU-Staaten festlegen wollen, welche Energieformen ihre gemeinsame Förderbank, die EIB, künftig noch finanzieren soll. Oder, wenn die Regierungschefs wie beim Gipfel der vergangenen Woche darüber streiten, ob die Atomkraft als nachhaltige Energiequelle auf dem Weg zur Klimaneutralität gelten kann. Besonders umstritten war die Frage nachhaltiger Energieproduktion aber im Streit um die sogenannte Taxonomie, also um die Klassifizierung von Finanzprodukten als nachhaltig. Sven Giegold zum gestern Abend gefundenen Kompromiss: "Dafür war entscheidend, dass die Atomkraft keinen Eingang in die Produkte nachhaltigen Investments findet, denn solche Produkte wären schlicht unverkäuflich – und ökologisch sind sie auch nicht." Grundsatzeinigung soll bis 2021 umgesetzt werden Künftig wird es drei Kategorien nachhaltiger oder weitgehend nachhaltiger Finanzprodukte geben. Die Kohleverstromung kann in keine dieser Kategorien eingeordnet werden, bei Gaskraftwerken hängt dies von der CO2-Bilanz im Einzelfall ab. Also beispielsweise von der Beimischung von Biogas zum Erdgas. Teil des gefundenen Kompromisses sind auch die sogenannten "No-Harm-Prinzipien", die besagen: Ein nachhaltiges Investment darf der Umwelt auch abseits der CO2-Bilanz keinen Schaden zufügen. Dieses Kriterium, so Sven Giegold, sorgt dafür, dass AKW, obwohl die kein Kohlendioxid ausstoßen, niemals als nachhaltige Investments anerkannt werden können. Die Grundsatzeinigung muss jetzt noch bis Ende 2021 in Detailregelungen für ein EU-Label für Finanzprodukte und für nachhaltige Anleihen umgesetzt werden. Und die spielen eine wichtige Rolle für den European Green Deal der neuen EU-Kommission. Denn ohne das Vertrauen privater Anleger wird die Kommission nicht die Billionensummen mobilisieren können, die notwendig sind, um Europa klimaneutral zu machen.
Von Peter Kapern
Lange haben die EU-Staaten darüber gestritten, was unter einer nachhaltigen Anlagestrategie zu verstehen ist: Darf etwa Atomkraft ins Portfolio? Nun ist darüber eine Einigung erzielt worden. Für die EU ist das eine wichtige Basis, um bis 2050 klimaneutral zu werden.
"2019-12-17T13:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:24:14.740000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nachhaltige-investments-erstmals-verbindliche-definition-100.html
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Bundesliga: Geht den Vereinen das Geld aus?
Fußballstadion Düsseldorf (David Young/dpa) Seit dem 25. Spieltag herrscht Stillstand in der Fußball-Bundesliga. Ein wirtschaftlich unglücklicher Zeitpunkt, denn die TV-Einnahmen werden jede Saison in vier Teilen ausgeschüttet. Die nächste Zahlung wäre nach dem 26. Spieltag geflossen. Auch deshalb tat sich die Deutsche Fußball-Liga DFL wohl so lange mit der Absage dieses Spieltags wegen des Corona-Virus schwer. Danach wären hohe Einnahmen aus den TV-Rechten an die Klubs gegangen. Erstligist Hertha BSC spricht von rund 2 Mio. Euro pro Spieltag, die dem Club dadurch entgehen würden. Doch das sind nicht die einzigen Einnahmen, die wegfallen. Oliver Leki ist Finanzvorstand beim SC Freiburg, und gleichzeitig Vize bei der DFL. Im SWR Sport erklärte er vergangene Woche, wie ernst die Lage aktuell für die Vereine ist: „Das ist wie bei jedem, anderen Unternehmen auch, wenn sie ihr Produkt eine längere Zeit nicht mehr anbieten können. Wir produzieren natürlich etwas, das ist ein Fußballspiel. Wenn da sämtliche Einnahmen wegfallen, und es gibt drei große Blöcke: Das sind Sponsoringeinnahmen, das sind die TV-Einnahmen, das sind die größten, und die Zuschauereinnahmen, und wenn die komplett wegfallen, Kostenblöcke natürlich weiterhin vorhanden sind, auch wenn man die versucht, ein Stück weit zu optimieren, dann wird das kein Unternehmen auf der Welt über einen längeren Zeitraum aushalten." „Finanzielle Schieflagen bis hin zu Insolvenzen drohen" Es geht also auch darum, Kosten zu reduzieren. Viele Bundesligaprofis verzichten inzwischen auf Teile ihres Gehalts, in der Regel kürzen sie 20 % Ihres Lohns freiwillig. Die Spieler von Borussia Mönchengladbach haben damit angefangen, Mainz 05 hat mit anderen Vereinen wie Bayern München oder Borussia Dortmund nachgezogen. Beim BVB soll so ein zweistelliger Millionenbetrag eingespart werden. Christoph Breuer lehrt an der Sporthochschule Köln Sportmanagement. Für ihn ist dieses Vorgehen ein erster wichtiger Schritt, um die Krise anzugehen: „Finanzielle Schieflagen bis hin zu Insolvenzen drohen, wenn es nicht gelingt die Kostenstruktur sehr zeitnah den veränderten Einnahmen anzupassen. Freiwillige Gehaltsverzichte tragen dazu bei, können das Finanzproblem jedoch nicht vollends lösen. Insbesondere wenn die Spieltagsausfälle anhalten, und auch bis Ende des Jahres keine Zuschauer bei Spielen zugelassen werden." In der vergangenen Spielzeit gaben die 18 Bundesligisten laut dem DFL-Wirtschaftsreport fast 1,5 Mrd. Euro für die Gehälter der Profispieler und Trainerstab aus. Diese Personalkosten aus dem Spielbetrieb sind der größte Ausgabenposten. Falls also Spieler und Trainer aller Erstligisten auf 20 Prozent ihres Gehalts verzichten, würden die Vereine knapp 300 Mio. Euro einsparen. Existenznot nur bei bestimmten Vereinen Das könnte halbwegs die noch fehlenden Fernseheinnahmen auffangen. Die Zuschauereinnahmen würde das aber nicht ersetzen, ganz zu Schweigen vom Ausfall aller Einnahmen, wenn die Saison abgebrochen würde. Krisenfest sind für Christoph Breuer von der Sporthochschule Köln finanzstarke Klubs wie Bayern München oder Borussia Dortmund, aber auch die TSG Hoffenheim, die in den letzten Jahren erfolgreich gewirtschaftet habe. Für Vereine wie Mönchengladbach, Frankfurt, Augsburg, oder Köln wird die Krise laut dem Sportmanagement-Experten an die Substanz gehen, eine Insolvenz drohe ihnen aber voraussichtlich nicht. „Unsicherer ist dagegen die Situation für Klubs wie Werder Bremen, Mainz, Union Berlin, oder Paderborn. Hier wirkt das Szenario eines Abbruchs der Saison sowie von zuschauerfreien Spielen bis Ende des Jahres bedrohlich. Noch bedrohlicher ist die Situation für jene wenigen Klubs, die es trotz des Fußballbooms in den letzten Jahren nicht geschafft haben, ihre strukturelle Verschuldung aufzulösen, sondern weiter Schulden schreiben, wie etwa für den FC Schalke 04", erklärt Breuer. Die Werksvereine aus Leverkusen und Wolfsburg besitzen zudem ein Sicherheitsnetz. Denn bei Verlusten würden in dem Fall die Mutterunternehmen Bayer und VW einspringen müssen. Eine Deutschlandfunk-Abfrage an alle 18 Bundesligisten, ob Liquiditätsprobleme in der gegenwärtigen Situation drohen, blieb größtenteils unbeantwortet. Die Antworten, die kamen, blieben allgemein. So erstellt Fortuna Düsseldorf aktuell einen Finanzplan für alle möglichen Szenarien, aus dem sich unterschiedliche Maßnahmen ableiten. Je nachdem wann und ob überhaupt wieder gespielt werden kann. So gehen auch die anderen Klubs vor, die alle unterschiedlich gut in den letzten Jahren gewirtschaftet haben. Solidaritätsfonds bei Saisonabbruch nicht mehr möglich Deshalb ist die Idee eines Solidaritätsfonds aufgekommen, in der solvente Vereine Konkurrenten in Not unterstützen sollen. So wie es jetzt die vier Champions-League Teilnehmer Bayern München, Borussia Dortmund, RB Leipzig und Bayer Leverkusen initiiert haben, die dafür bis zu 20 Mio. Euro zur Verfügung stellen – falls die Saison noch fortgesetzt werde. Sonst habe diese Idee eindeutige Grenzen, wie Oliver Leki vom SC Freiburg im SWR erklärte: „Für den Fall, dass überhaupt nicht mehr gespielt werden kann, würde ich schon davon ausgehen, dass zu Jahresende eine ganz große Zahl an Vereinen wirklich existenzielle Probleme haben wird. Da schließt sich eben auch die Solidaritätsfrage an. Wenn es nahezu allen Vereinen dann so geht, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihren Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten, ist es dann sozusagen auch schwer zu beantworten, weil es dann letztendlich auch nichts mehr gibt, womit man Solidarität auch zeigen kann. Das wird für den Fall, dass wir gar nicht mehr ans Spielen kommen, praktisch unmöglich sein."
Von Thorsten Poppe
Bis Ende April wird keine Fußball-Bundesliga gespielt. Das bedeutet auch: Keine TV- und Zuschauereinnahmen. Diese Situation kann schon bald zu Liquiditätsproblemen bei den Fußballklubs führen.
"2020-03-28T19:38:00+01:00"
"2020-03-30T12:57:57.765000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coronakrise-bringt-vereine-in-finanzielle-schwierigkeiten-100.html
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Rachenkrebs durch Viren
Seit einigen Jahren treffen HNO-Ärzte in ihren Sprechstunden auf Krebspatienten, die nicht in das klassische Bild des Tumorkranken passen, sagt Professor Andreas Dietz vom Universitätsklinikum Leipzig."Man hat zum Beispiel in den USA, da hat man gesehen, dass die Patienten jünger sind, dass sie weniger mit Tabak und Alkohol zu tun haben, teilweise gar nicht und dass das eine völlig andere Gruppe von Patienten ist, wie wir sie bisher kennen."Auf der Suche nach dem Auslöser der Krebserkrankung stießen die Mediziner auf einen alten Bekannten: die humanen Papillomviren, kurz HPV. Dass sie Gebärmutterhalskrebs auslösen, wussten die Ärzte. Nun werden sie auch als Verursacher von Zungen- oder Rachentumoren diskutiert, sagt Andreas Dietz. "Also da haben sich einfach die wissenschaftlichen Erkenntnisse verdichtet. Beispielsweise wissen wir schon seit Ende oder Mitte der 90er-Jahre, dass das eine Rolle spielt. Aber Sie wissen, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Und es hat sich gerade in den letzten fünf Jahren extrem verdichtet, dass verschiedene internationale Gruppen auch hier vergleichbare Ergebnisse gefunden haben."Kontrovers diskutiert wird der Übertragungsweg. Sind es tatsächlich bestimmte Sexualpraktiken? Schließlich ist ein Hauptlebensraum der Papillomviren der Genitalbereich. Eine amerikanische Studie kam zu dem Schluss,"dass zum Beispiel häufig wechselnde Geschlechtspartner ein Risikofaktor ist, gerade mit diesen HPV-assoziierten Rachenkarzinomen mehr zu tun zu haben. Ist im Moment weltweit Gegenstand von Untersuchungen."Es sind nicht allein die HPV-Viren, die für mehr Zungen und Rachentumore sorgen. Die Mediziner entdeckten einen weiteren Mitspieler: die Tumorstammzelle, sagt die Lübecker HNO-Professorin Barbara Wollenberg. "Tumorstammzellen bedeutet, dass es seit Neuem, seit 2007, bekanntermaßen Zellen gibt, die - jede Zelle für sich genommen – einen neuen Tumor induzieren könnten. Es war lange Zeit umstritten, dass das in HNO-Karzinomen eine große Rolle spielen könnte. Inzwischen kann man eigentlich es als bewiesen ansehen, dass es diese Zellen gibt."Die Therapie hat mit dem neuen Wissen über das Entstehen von Mund-und Rachentumore nicht Schritt gehalten, bedauert Barbara Wollenberg."Oh, aktuell bedeutet das nicht wirklich viel. Wir sind zurück an der Basis, sag ich jetzt mal, um zu klären, wer sind eigentlich die auslösenden Faktoren, wer ist die auslösende Zelle, wir reden Zellen untereinander, bevor wir mit neuen Biologicals, also neuen biologischen Therapiemaßnahmen eingreifen können."Das Konzept einer Vorsorgespritze, wie bei dem ebenfalls durch HPV ausgelösten Gebärmutterhalskrebs, lässt sich nicht einfach auf Rachentumore übertragen und würde auch nur einigen helfen. So bleibt es derzeit bei der Triade von Chirurgie, Bestrahlung und Chemotherapie. Doch auch da sieht Barbara Wollenberg noch Forschungsbedarf. "Eines, was immer gern übersehen wird, ist der qualitative Outcome für diesen Patienten, der Lebensqualität am ende einer solchen Behandlung. Und hier gibt es auch bei den Strahlentherapiestudien zu wenig Daten um eigentlich die Qualität diese Therapieform zu evaluieren."Auch für jene 42 Prozent der Patienten, die laut Statistik nach Bestrahlung oder Operation länger als fünf Jahre überleben, bedeuten dies eine massive Einschränkung ihrer Lebensqualität – ob beim Reden, Essen, Schmecken oder Luftholen.
Von Hartmut Schade
Rachenkrebs ist eine Erkrankung, die durch den betroffenen Schauspieler Michael Douglas der Öffentlichkeit bekannt wurde. Spezialisten aus dem deutschsprachigen Raum trafen sich kürzlich beim ersten Workshop zur experimentellen Forschung in der Kopf-Hals-Onkologie.
"2011-02-15T10:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:24:48.145000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rachenkrebs-durch-viren-100.html
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Ein Mahner zwischen allen Fronten
Der israelische Schriftsteller Amos Oz (imago/Leonardo/Cendamo Leemage) Oz‘ umfangreiches literarisches und essayistisches Werk ist eng verbunden mit der Geschichte Israels. Wie kann es auch anders sein in einem Land, das sich auch nach 70 Jahre seiner Staatsgründung noch im permanenten Ausnahmezustand befindet? Ein innerlich zerrissenes Land. Wahrscheinlich sogar heute mehr denn je. Angesiedelt auf einem Stück Erde, dass zwei Völker für sich beanspruchen, Israelis und Palästinenser. Unversöhnlich aneinander gekettet, hat dieser israelisch-arabische Existenzkampf mit seiner religiösen Aufladung das Potential zu einem Weltenbrand. Aber Amos Oz‘ Schreiben und Denken war auch tief geprägt von dem Schicksal seiner Familie und einem europäisch grundierten, kosmopolitischen Judentum. "Auf der Werteskala meiner Eltern galt", so schrieb er in seinem Opus Magnum "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", "je westlicher, desto kultivierter". Und weiter: "Tolstoj und Dostojewski standen ihrer russischen Seele nahe, und doch vermute ich, Deutschland erschien ihnen – trotz Hitler – kultivierter als Rußland und Polen, während Frankreich wiederum Deutschland übertraf. (…) Europa war ihnen ein verbotenes verheißenes Land, ein Sehnsuchtsort – mit Glockentürmen und kopfsteingepflasterten alten Plätzen." Aufgewachsen zwischen Weltverbesserern, Gelehrten und Zionisten Amos Oz wurde 1939 in Jerusalem in einen familiären Kosmos hineingeboren, der bevölkert war von den Gestalten Dostojewskis, Tolstois und Tschechows. Das traf zu auf ihre gelebte Realität wie auf ihre endlosen literarischen, philosophischen und politischen Debatten. Sein Vater kam aus Odessa, seine Mutter aus Polen. Menschen, die der wachsende Antisemitismus in Europa noch vor dem großen Massenmorden ins Heilige Land geschwemmt hatte. Überlebende, hochgebildet, die mehr als ein Dutzend Sprachen beherrschten, und dann in einer Jerusalemer Kellerwohnung hausten, umgeben von ihren unzähligen Büchern in vielen Weltsprachen. In der Nachbarschaft andere Gestrandete – Weltverbesserer, Prediger, Ideologen, Gelehrte, Zionisten der verschiedensten Couleur. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit tat sich bei vielen von ihnen ein Abgrund auf. "All das war Tschechow", ist in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" zu lesen, "auch das Gefühl des Lebens im Abseits". Wie bei den Eltern, die den Anschluss nicht fanden. Der Vater erhielt, wie erhofft, keine Professur, sondern fristete sein Berufsleben in einer Bibliothek. Die Mutter nahm sich 1952 das Leben, als das einzige Kind, Amos Oz, der eigentlich Amos Klausner hieß, gerade mal 12 Jahr alt war. Danach brach er aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und Hass eine Zeit lang den Kontakt zu seinem Vater ab. Er hielt ihn, aber auch sich selbst für schuldig am Tod der Mutter. Er wechselte den Namen und lebte für Jahrzehnte in der Gemeinschaft eines Kibbuz‘. Der Kibbuz sei für ihn eine Schule des Lebens gewesen, wie Amos Oz immer wieder betonte, eine Lehranstalt, die ihm für sein Schreiben tiefe Einsichten über die vielfältige Natur des Menschen beschert habe. Der Weltbestseller "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" Für das Verständnis von Amos Oz‘ Werk ist es nicht schlecht, wenn man diese biografischen Wegmarken kennt. Deshalb bietet sein Weltbestseller "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" einen idealen Zugang zu diesem Autor. Dieses Buch verbindet die Geschichte Israels mit der seiner Familie. Tief eingeschrieben ist ihm die Trauer über den Verlust der Mutter. Nach Jahrzehnten des Schweigens schrieb Amos Oz hier zum ersten Mal über ihren Freitod und seine möglichen Gründe. Versteht man ihn richtig, dann war es wohl vor dem Hintergrund des Verlusts von Freunden und Verwandten durch den Holocaust ein langsames Verstummen in einem Land, das dieser so begabten Fania Klausner offensichtlich fremd blieb. Das alle ist autobiografisch. Aber Vorsicht! Oz selbst bezeichnet dieses Buch mit seinen vielen Gestalten und Ansichten über Judentum, Zionismus, jüdische Identität, über den Staat Israel und sein Selbstverständnis in Abgrenzung zum arabischen Umfeld als Roman. Aber auf welche Weise dieser Autor die vielen Gestalten in seinem Buch zeichnet, sie reden, sie in ihrem Denken, ihren Konflikten und ihrem Wandel auftreten lässt und in eine Stimmenvielfalt der Debatten und Auseinandersetzungen einbettet, das hebt sie über das rein Autobiografische weit hinaus . Amos Oz war ein Meister der literarischen und essayistischen Debattenkultur. Dahinter verbirgt sich ein Verständnis von Literatur, Kultur, Politik und menschlichem Miteinander, das sich als zutiefst demokratisch erweist, da es jeder Stimme Wert und Bedeutung zumisst, eine Haltung, die Amos Oz als dem Jüdischen inhärent definierte. Die Gemeinsamkeit der Juden sei nicht in der Religion zu finden, sagte er einmal, sondern in der Buchkultur und dem Ringen um das beste Argument. Voraussetzung dafür aber sei Empathie, das Vermögen, sich in Andere hineinzuversetzen. Dafür sei Literatur die beste Lehrmeisterin, wie Amos Oz einmal in einem Gespräch sagte: Amos Oz:"The use of literature (…) Literatur ist dazu da, den Leser sich vorstellen zu lassen, er sei jemand anderes. Am Morgen aufzuwachen und zu denken, was wäre, wenn ich "er" wäre, was wäre, wenn ich "sie" wäre, was wäre, wenn ich einer, nein, vier Brüder Karamasow wäre – darum geht’s in meinen Augen bei der Literatur. Literatur hat mit Neugier zu tun. Ich halte Neugier unter anderem für eine moralische Tugend. Neugierige Menschen sind bessere Menschen als Menschen, die nicht neugierig sind – weil sie sich fragen, wie es ist, "er" zu sein, "sie" zu sein. Nicht, um die andere Wange hinzuhalten, nicht um der universellen Liebe wegen, an die ich nicht glaube, sondern um der Empathie willen. (…) Ich habe herausgefunden, dass ich in meinem Inneren mehr als nur eine Persönlichkeit beherbergen kann. Ich bin der Überzeugung, dass jedermann das kann. Die meisten Menschen wollen es nur nicht. Und das ist ein Jammer." Unwirkliche, unheimliche Romane Und so geht es in den Romanen dieses großen israelischen Schriftstellers immer wieder um die Konkurrenz unterschiedlicher Positionen, die er gegeneinanderstellt. Er schafft Figuren, die er immer wieder in einen Konflikt der Ideen schickt. So wie in seinem großartigen und in Israel vieldiskutierten Roman "Judas". Es geht um vier Figuren, von denen einer schon verstorben und trotzdem mit von der Partie ist. Das Unwirkliche, Abgründige und manchmal auch Unheimliche ist eine nicht selten anzutreffende Zutat in Oz‘ Romanen. Diese Figuren sind in einem Haus zusammenkommen und bringen sehr unterschiedliche Ansichten zu Gehör, zum Beispiel über Staat und Nation. Wobei der eine, der junge Schmuel Asch eher ein Idealist ist und zunächst glaubt, dass alle Menschen Brüder werden könnten, und der Staat Israel keine Grenzen benötige. Wogegen der alte Gershom Wald nicht einsieht, warum gerade die Juden, die nach Diaspora und Shoah zum ersten Mal die Chance haben, einen eigenen Staat zu bilden, sich diesem Experiment aussetzen sollten. Dieser Streit vermischt sich mit einem religiösen Motivstrang. Denn Schmuel Asch schreibt an einem Buch über Jesus und kommt zu dem Schluss, dass Judas keineswegs ein Verräter war, sondern wohl derjenige, der Jesus am meisten liebte und fest daran glaubte, dass er am Kreuz nicht sterben, sondern von diesem unversehrt herabsteigen würde. Da er es nicht tat, spricht der junge Gelehrte Jesus folgerichtig die Existenz als Gottes Sohn ab. Ein interessantes biografisches Detail ist in diesem Zusammenhang, dass der jüdische Gelehrte Joseph Klausner, Amos Oz‘ Onkel, einst ein skandalumwittertes Buch über Jesus schrieb, in dem er behauptete, Jesus sei ein Mensch gewesen und habe keineswegs eine Religion begründen wollen. "Judas" kann also auch als ein Roman bezeichnet werden, der untergründig in Korrespondenz steht mit Schriften aus der eigenen Familie, und darüber hinaus eine Umdeutung der Judas-Geschichte des Neuen Testaments vornimmt. Im Großen und Ganzen ist es ein Roman über Verrat und Liebe, über Streit, Zweifel und die Möglichkeit des Wandels, wie Oz einmal ausführte. Oz:"Ich schreibe einen Roman, um jeden meiner miteinander in Widerstreit liegenden Protagonisten mit ausreichend Empathie und Unterstützung auszustatten. (…) Sodass auf der einen Seite Abrabanel und seine Tochter Atalja stehen, die die Schaffung eines jüdischen Staates als Katastrophe betrachten. Aber es gibt jetzt auf der anderen Seite auch Gershom Wald und schließlich auch Schmuel, die glauben, dass es verrückt ist, zu erwarten, dass die Juden nach den Pogromen, den Verfolgungen und dem Holocaust der Nazis als einziges Volk der Welt ohne Gitter vor ihren Fenstern und Schlössern an ihren Türen leben sollen. Warum sollten sie? Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, der Welt vorzuführen, wie es ist, als Volk keine Heimat zu haben. Das soll sich nie mehr wiederholen. Beide Argumentationslinien werden im Roman höchst überzeugend dargestellt. Sie wiedersprechen sich, aber ich hoffe, sie wirken überzeugend." Zerrissene, gestrandete, aber auch komische Figuren Dieses widerstreitende, dialogische Konstruktionsprinzip bildet eine Konstante in Amos Oz Werk. Aber auf der anderen Seite sollte man auch seine inhaltliche und ästhetische Vielfalt betonen. In seinen frühesten Romanen "Keiner bleibt allein" und "Ein anderer Ort" aus den 60er Jahren setzt sich Oz mit dem Leben von Juden im Kibbuz auseinander, mit den Schwierigkeiten zwischen den Generationen und den Tabubrüchen der Jungen, wobei – wie auch unter anderem im Roman "Mein Michael" - Sinnlich-Erotisches wie auch Phantastisches in die realistisch- nüchterne Ebene des politischen Zeitgeschehens oder des philosophischen Reflektierens einbrechen können. Und es sind oft, wie bei seinem Vorbild Tschechow und wie er sie auch in seiner eigenen Familie und dem Umfeld seiner Kindheit vorgefunden hat, eigensinnige, verstiegene, zerrissene, gestrandete, aber auch komische Figuren, die seine Romane bevölkern. Amos Oz war nicht immer glücklich damit, dass sein politisches Engagement in der Regel stärker beachtet wurde als sein literarisches Werk und dessen ästhetische Vielfalt, bzw., dass man sein literarisches Werk vorzugsweise durch die politische Brille betrachtete. Wenn er eingeladen wurde, wie oft auch nach Deutschland, geschah es nicht selten, dass das Gespräch über einen seiner Romane schnell zur Situation in Israel und Palästina überwechselte. Aber andererseits hat Amos Oz nie mit seiner politischen Meinung hinter dem Berg gehalten. Im Gegenteil. Er, der als Soldat am Sechstage- wie am Jom-Kippur-Krieg teilnahm, der sich vom konservativen "Israel-first"- Pionier zum linken Friedensaktivisten wandelte, hat beispielsweise in unzähligen Essays zum Nahostkonflikt Stellung genommen. Aber – wie schon angesprochen – sind eben auch seine Erzählungen und Romane durchaus von diesem für Israel existentiellen Thema geprägt. Israel-Palästina-Konflikt auf die Shakespeare‘sche Art beenden Für die Lösung des Israel-Palästina-Konflikts hatte Amos Oz eine ironische Formel mit todernstem Hintergrund parat: Das Problem, so seine Worte, sei entweder auf die Shakespeare‘sche Art zu beenden, dann blieben lauter Leichen zurück. Oder á la Tschechow. Dann würden alle weiterleben, seien zwar unzufrieden und verbittert, aber immerhin lebendig! Und so trat er für eine friedliche, dialogbereite Koexistenz von Israelis und Palästinensern nach dem Zweitstaaten-Modell ein. Empathie, Humor, Selbstkritik sollten die Oberhand haben im Dialog mit Andersdenkenden. Oz gab sich allerdings auch keinerlei Illusionen hin hinsichtlich des Zusammenlebens mit den Palästinensern. Dafür sei zu viel Blut geflossen und zu viel Hass gesät worden. Und er fand harsche Worte für die Unnachgiebigen und Militanten auf beiden Seiten. Vor allen Dingen aber schonte er die eigene Regierung nicht, überzog zuletzt den Ministerpräsidenten, sowie die jüdischen Siedler und die Ultraorthodoxen mit heftigen Vorwürfen. Oz:"Well, I need (…) Ich brauche eine Lupe, um den kleinsten Unterschied zu erkennen zwischen europäischen Neonazis, islamistischen Neonazis und jüdischen Neonazis. Den Begriff "Nazis" habe ich nie verwendet. Die Nazis waren etwas Einzigartiges, eine andere Art Mensch. Ich glaube nicht, dass diese gewalttätigen, fanatischen Siedler Nazis sind. (…) Leider sind Neonazis aber sehr weit verbreitet. Und wir Israelis sind nicht immun dagegen. Wir haben sie auch." "Ich liebe Israel, auch wenn ich es nicht ertragen kann" Und so wurde Amos Oz für nicht wenige in seinem Land zum Verräter, zum Judas. Aber er ließ sich nicht beirren. Oz war der Meinung, dass die Zeit drängen, dass Israel auf einem Pulverfass sitzen, die Regierung aber auch im 70. Jahr der Existenz des Staates keine Einsicht in die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung zeigen würde. In seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch "Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers" ist zu lesen: "Wenn es hier nicht bald zwei Staaten geben wird, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass hier, um die Gründung eines arabischen Staates vom Mittelmeer bis zum Jordan zu verhindern, eine Diktatur extremistischer Juden, eine fanatische, rassistische Diktatur entsteht, die mit eiserner Hand sowohl die Araber als auch ihre jüdischen Gegner unterdrücken wird. Eine solche Diktatur wird sich jedoch nicht lange halten. In der Neuzeit hat sich fast keine Diktatur einer Minderheit über eine Mehrheit lange gehalten. Und so wird uns am Ende dieses Wegs ein arabischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan erwarten und zuvor vielleicht noch ein internationaler Boykott oder ein Blutbad oder beides." Israelis und Palästinenser hätten ein Anrecht auf dasselbe Land, schrieb er ein ums andere Mal. Und deshalb müssten sie sich dieses Land teilen und ihre unterschiedlichen Positionen aushalten. Dass ein friedliches, wenn auch vielleicht zähneknirschendes Nebeneinander der verfeindeten Völker immer weiter in die Ferne rückt, als Gestalt anzunehmen, und das sein Land sich unfähig erweist zum Kompromiss, gehört zur bitteren Erkenntnis dieses bedeutenden israelischen Erzählers, überzeugten Patrioten, großen Kosmopoliten und Menschfreunds. Hätte er ansonsten am Ende des Buches "Liebe Fanatiker" diesen Satz geschrieben? "Ich liebe Israel, auch wenn ich es nicht ertragen kann."
Von Angela Gutzeit
Als Spross hochgebildeter osteuropäischer Zuwanderer hatte sich Amos Oz jahrzehntelang mit dem Judentum und seinem Heimatland Israel auseinandergesetzt – mit überaus kritischer Vehemenz und großer Herzenswärme. Nun ist der mehrfach preisgekrönte israelische Autor im Alter von 79 Jahren verstorben.
"2018-12-28T16:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:27:33.646000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zum-tod-des-israelischen-schriftstellers-amos-oz-ein-mahner-100.html
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Länderübergreifende Listen für Europawahl 2019?
Bisher können die Abgeordneten für das Europaparlament nur in ihren jeweiligen Mitgliedsländern gewählt werden (Bild: EP) Die letzte Wahl des EU-Parlaments 2014 wurde von einer wirkmächtigen Neuerung geprägt: Den Spitzenkandidaten. Erstmals konkurrierten zwei Politiker der größten politischen Lager, der sozialdemokratischen S&D und der christlich-konservativen EVP, um den Posten des Kommissionspräsidenten. Es gab einen richtigen Wahlkampf mit Kundgebungen, Plakaten und sogar einem TV-Duell. Damals gewann bekanntlich Jean-Claude Juncker das Rennen gegen Martin Schulz. Die nächste Wahl könnte mit einer weiteren Neuerung aufwarten, den transnationalen Listen. Bisher können die Abgeordneten für das Europaparlament nur in ihren jeweiligen Mitgliedsländern gewählt werden. Nur dort kandidieren sie, nur dort führen sie Wahlkampf. Kandidaten auf transnationalen Listen hingegen könnten von den Bürgern aller Mitgliedsländer gewählt werden. Profil schärfen, sichtbarer sein Für Jo Leinen, EU-Abgeordneter der SPD, sind diese Listen die logische Fortentwicklung der Spitzenkandidaten-Idee: "Bei der letzten Europa-Wahl hatten wir Martin Schulz als Spitzenkandidat der sozialdemokratischen Familie in Europa. Aber gewählt werden konnte er nur in Deutschland. Und wenn wir die Spitzenkandidaten nächstes Jahr 2019 bei den Europa-Wahlen wiederholen, dann sollten diese Personen auch in allen Mitgliedsländern von allen Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden können. Und das geht nur, wenn man europäische Wahllisten hat, wo an der Spitze der Kandidat oder die Kandidatin steht, die Chef der europäischen Regierung werden will, nämlich Präsident der europäischen Kommission." Transnationale Listen würden das Profil der europäischen Parteien stärken und sie damit für die Bürger sichtbarer machen, argumentiert Jo Leinen. Bis jetzt, beklagt er, würden Europa-Wahlen zu sehr von den nationalen Interessen der einzelnen Parteien bestimmt. Gäbe es transnationale Listen, bekämen die Wähler zwei Stimmen. Mit der einen könnten sie weiterhin Abgeordnete der nationalen Parteien ins Parlament wählen. Die andere könnte an einen Kandidaten der europäischen Parteien vergeben werden. "Und damit hätte der Bürger noch mehr die Chance zu sagen, welches Europa er will. Will er ein konservatives Europa, ein linkes Europa, ein grünes, ein liberales?" Mehr Distanz? Der CDU-Abgeordnete Elmar Brok hält hingegen nichts von europäischen Kandidatenlisten. Brok ist zwar ebenfalls ein Verfechter der Spitzenkandidaten. Transnationale Listen, so sagt er, würden die EU-Abgeordneten aber eher vom Bürger entfernen, statt sie ihm näher zu bringen. "Ich möchte den Bürger kennen und der muss mich kennen. Deswegen möchte ich Kandidat sein in Nordrhein-Westfalen, von Ostwestfalen-Lippe, und nicht ein Kandidat auf einer europäischen Liste von Lissabon bis Warburg. Ich möchte näher am Bürger sein." Dass gerade jetzt wieder über die transnationalen Listen gestritten wird, ist nicht nur den anstehenden Wahlen geschuldet. Denn mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU im März 2019 würden im Parlament mit einem Schlag 73 Sitze frei. Befürworter der transnationalen Listen sehen darin die Chance, europaweit gewählte Abgeordnete ins Parlament zu holen, ohne anderen Ländern Sitze wegnehmen zu müssen. Der Politikwissenschaftler Josef Janning kritisiert allerdings: "Das ist im Grunde Symbolpolitik." Zumindest mehr Aufmerksamkeit Schließlich würden nur 27 der insgesamt 751 Sitze im EU-Parlament über die europäischen Listen besetzt werden. Janning kann der Einführung transnationaler Listen bei gleichbleibendem Wahlsystem aber zumindest einen pro-europäischen Werbeeffekt abgewinnen: "Das würde schon Aufmerksamkeit erzeugen, das würde auch mediales Interesse erzeugen und damit das europäische Parlament ein Stück stärker ins Gespräch bringen." Bis dahin muss das Vorhaben aber noch viele Hürden überwinden. Anfang Februar soll im Parlament über den Vorschlag abgestimmt werden. Wenn er dort eine Mehrheit findet, müssen schließlich noch die 28 Staats- und Regierungschefs darüber entscheiden. Ob die Wählerinnen und Wähler also bereits nächstes Jahr Kandidaten ins Parlament wählen können, die europaweit um Stimmen werben und nicht nur auf nationaler Ebene, bleibt ungewiss.
Von Anna Seibt
Der EU fehlt es an Bürgernähe. In diesem Punkt sind sich die politischen Lager in Brüssel einig. Eine Idee für mehr Nähe: Länderübergreifende Listen bei der nächsten Europawahl 2019. Mit denen könnten auch die Sitze der scheidenden britischen Abgeordneten kompensiert werden. Der Vorschlag bleibt jedoch umstritten.
"2018-01-26T09:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:36:40.593000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umstrittener-vorschlag-laenderuebergreifende-listen-fuer-100.html
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Servus Bluegrass!
Jonas Kollenda, Bernie Huber, Bastian Schuhbeck, Johnny Schuhbeck (v.l.n.r.) (Michael Wolf) Musik: "Some poor boy’s heart" "Some poor boy’s heart" aus dem Debütalbum "The Marionette with the Mandarin" von Johnny & the Yooahoos. Die Yooahoos sind: Johnny Schubeck an der Mandoline, Bastian Schubeck Banjo, Bernie Huber Gitarre und Jonas Kollenda am Kontrabass. Alle vier singen auch. Für diese Sendung habe ich mich mit den Brüdern Bastian und Johnny per Video-Schalte unterhalten: Die beiden saßen am heimischen Küchentisch, in Polling bei Mühldorf am Inn. Eine Bluegrass-Band Johnny Schuhbeck: "Die Initialzündung für das Ganze war der Basti. Also er hier. Er hat nämlich mit den anderen Zwoa, mit unserem Kontrabass- und Gitarrenspieler dem Joni und dem Bernie eine andere Band davor gehabt. Die war eigentlich das komplette Gegenteil von der Musik, die wir jetzt spielen. Das war nämlich eine Prog- und Krautrockband und von dem her haben sich die anderen drei schon gekannt und ich bin dann natürlich als Bruder, der natürlich auch musikaffin ist, weil wir in so einer Familie einfach aufgewachsen sind, vom Basti einfach mal angehauen worden: "Du kannst doch bestimmt mal Mandoline spielen lernen". Und das habe ich dann tatsächlich angefangen und die Idee hat sich dann immer weitergesponnen, dass man das ja wirklich probieren kann eine Bluegrass-Band zu machen und ja, jetzt sind wir eine Bluegrass-Band." Bluegrass - jene Musik, die in den 1940er-Jahren in den Hügeln der Appalachen im Südosten der USA entstand. Geprägt durch Musiker wie Bill Monroe, Earl Scruggs oder die Stanley Brothers. Typischerweise gespielt mit akustischen Instrumenten: Mandoline, Gitarre, Banjo, Kontrabass, Geige und mit mehrstimmigem Gesang. Diese alte Musik wird von lebendiger Tradition getragen – und zieht weltweit immer wieder auch junge Menschen in ihren Bann. Johnny: "Ja, bei mir ist, weil’s irgendwie zum einen recht simpel ist oder was heißt simpel, aber so leicht ins Ohr geht, aber dann andererseits doch wieder so komplex, also das Flat-Picking, dass dann teilweise doch ziemlich schnell ist. Und weil es auch sehr gefühlvoll ist, wenn man zum Beispiel die Stanley Brothers nimmt, dieser Sound von den Stimmen, das hat diesen "high and lonesome"- das hört man einfach und das sind dann auch so schöne Texte. Mich macht das dann auch sehr nachdenklich und emotional muss ich sagen, dass berührt mich dann auch sehr." Der "high lonesome Sound" der Yooahoos ist nicht zuletzt das Ergebnis von Johnnys Bruder Bastian Schubecks jahrelanger Erfahrung als Chorsänger. In Altötting hat er die Berufsfachschule für Musik besucht, jetzt studiert er an der Münchner Musikhochschule. Herz und Leiden Wie meisterhaft die Yoohaoos diesen ausdrucksvollen Harmoniegesang mittlerweile beherrschen, zeigen sie etwa bei "Will you lend me your heart?". Ein gebrochenes Herz und die Leiden seines Besitzers werden hier ausgiebig besungen. Untermalt wird der musikalische Herzschmerz mit dem klagenden Sound der Dobro, einer Resonator-Gitarre, die Bastian Schuhbeck immer mal wieder gegen sein Banjo eintauscht. Den Leadgesang übernimmt Bernie Huber. Musik: "Will you lend me your heart?" "Will you lend me your heart": Musik von Johnny & The Yooahoos. Im Interview sprachen die Brüder Johnny und Bastian Schuhbeck auch über die Themen in ihren Songs. Johnny: "Ja, klassische Bluegrass-Themen, die man als Mensch so erlebt. Also vor allem mit hinsichtlich Liebe, ist ziemlich dominierend auf der neuen CD. Aber mittlerweile werden die Texte auch schon tiefgründiger. Oder es fühlt sich so an als würden sie tiefgründiger werden. Der Basti hat jetzt z.B. einen neuen Song geschrieben, wo es um gesellschaftskritischere Themen geht, wie z.B. den Klimawandel. Also mir versuchen auch ein bisschen aus dem Ding weg zum kommen. Immer nur über Liebe schreiben..., weil irgendwann hat sich das Thema irgendwie ausgeschöpft und dann will man oder muss dann auch mal andere Themen angehen. So geht’s mir zumindest. Bastian Schuhbeck: "Das man mal eben nicht nur über die klassischen Bluegrass Themen Tod, Liebe, Schnaps singt, sondern eben auch, dass man ein bisschen..." Johnny: "So schön wie die Themen sind, also der Tod natürlich nicht." Den vom Menschen gemachten Klimawandel zu stoppen, ist eine der größten Herausforderungen in diesem Jahrhundert. Ein Beispiel: Schnee in der Antarktis, der sich rosa färbt, weil die Erderwärmung das Wachsen einer Alge begünstigt. Dieses Phänomen war den Yooahoos einen Bluegrass-Song wert: Raspberry Snow. Das Lied ist ganz neu, und deshalb auch nicht auf dem Debütalbum zu finden. Wir dürfen aber schon mal exklusiv reinhören. Musik: "Raspberry Snow" Himbeerfarbener Schnee als Folge der Erderwärmung, "Raspberry Snow", besungen von Johnny & den Yooahoos. Das demnächst erscheinende Debütalbum der Band heißt "The marionette with the mandarin – Die Marionette mit der Mandarine." Ein Titel, der einen erstmal etwas ratlos macht. Die Schuhbeck-Brüder klären auf. Johnny: "Die Story dahinter ist, dass wir natürlich auch als Band eine Whats-App-Gruppe haben und da werden immer die Aufgaben verteilt. Wer was machen soll und der Basti hat mir dann auch vermehrt irgendwelche Aufgaben zugeteilt oder irgendetwas, was ich habe machen sollen. Und dann hab ich gesagt..." Bastian: "Es kursiert hier grundsätzlich dieses Gerücht, dass ich hier der Chef bin, der alle herumkommandiert in der Band." Johnny: "Na ja, das kursiert nicht nur. Auf jeden Fall habe ich dann mal geschrieben: "Ja, ich bin ja nur deine Marionette, Basti." Und da unser Gitarrist, der Bernie, zu meinem Instrument fälschlicherweise natürlich oft Mandarine statt Mandoline sagt, hat der Bernie dann unter meine Nachricht geschrieben: "Ja, der Johnny ist die Marionette mit der Mandarine" und dann habe ich mir gedacht, das hört sich gar nicht so schlecht an. Vielleicht ist das ein ganz cooler Albumtitel, und er hat es dann geschafft als Titel für unser jetzt bald erscheinendes Album." Johnny Schuhbeck, Jonas Kollenda, Bastian Schuhbeck, Bernie Huber (v.l.n.r.) (Ron Ronson) Unter den elf Songs auf dem Album findet sich nur ein traditionelles Stück, alle anderen sind Eigenkompositionen. Darunter auch "I used to live" von Johnny Schuhbeck. Johnny: "Das war glaube ich, der erste Song, den ich jemals geschrieben habe. Das war vor vier Jahren oder so. Und es gibt es eigentlich keine wirkliche Geschichte zu dem Song." Bastian: "Es geht mehr um Stimmung oder Atmosphäre." Johnny: "Ja, genau. Es geht eher um die Stimmung und Atmosphäre, um auch was Vergängliches. Und da ist man dann irgendwie als Metapher des Berglebens eingefallen. Aber vom Text her, dem habe ich keine so tiefere Bedeutung zugeführt. Also zumindest weiß ich es nicht mehr so genau. Wie gesagt, das ist schon lange her. Und ja, genauso war es bei dem Song. Das hört sich jetzt echt Kacke an wenn ich sage, dass der Song keine Bedeutung hat." Bastian: "Also für mich hat der schon eine Bedeutung. Ich finde dieses Melancholische irgendwie... Es ist ja oft so, dass der Song eher Stimmung einfängt. Und ich finde, es muss nicht immer was Konkretes darstellen. Oder eine konkret die Story haben. Und unser Kontrabass-Spieler macht, wenn wir live spielen, erzählt er immer eine gute Geschichte drüber. Eine dadaistische Geschichte, von irgendeiner Hexe, ich kann’s jetzt nicht genau wiedergeben.Wer die Geschichte hören mag, der kann zu einem unserer Live-Auftritte kommen, da wird der Joni die zum Besten geben. Ist aber eher Show-Element." Johnny: "Ist Show-Element." Musik: "I used to live" Musik: "Mind prohibition waltz" Im Walzertakt dreht sich das Gedankenkarussell, die Liebe der Angebeteten im "Mind prohibition waltz" bleibt, wie kann es anders sein, unerwidert. Die zuvor entworfene Idylle mit hohen Bergen, einem Tal, einem Fluss, Wäldern, besungen in "I used to live" wurde in typischer Bluegrassmanier ausgemalt. Die eingängige Melodie wird vom mehrstimmigen Harmoniegesang umschmeichelt. Wie eine wärmende Decke wird das Ganze ummantelt vom Klang der Mandolinen-, Banjo-, Gitarren- und Kontrabasssaiten. Beide Songs finden sich auf dem Debüt-Album von Johnny & Yooahoos, das demnächst im Eigenverlag erscheint. Ein Familienunternehmen Bastian: "Wir haben den Vorteil, dass wir in der Verwandtschaft einen super Musiker und Producer haben, den Robert Hasleder, der ist ein Experte für alles, was Saiten hat und akustische traditionelle Musik, was sich in dem Eck bewegt und der war unser Mann fürs Mixing und die Aufnahme selber haben auch in der Familie gemacht, nämlich bei unserem Onkel, der ist der Live Mischer von der Band von unserem Vater. Das ist alles in der Familie. Ja genau, das ist alles in der Familie und der hat das Equipment. Und dann haben wir es aufgenommen gemütlich daheim im Wohnzimmer, in entspannter Atmosphäre. Na, eigentlich war es super stressig irgendwie. Weil wir am Abend dann noch gespielt haben und dann mit Zeitruck. Eigentlich war es furchtbar. Wir haben uns die Schädel eingehauen und haben uns gehasst. Nein, also es war schon cool." Für den Klang ihres Albums schlagen die Yooahoos einen Mittelweg zwischen Tradition und Moderne ein. Analoge Soundtechnik ist für sie jedoch ein Muss. Sie benutzen Mikrofone, die im Retro-Stil gebaut wurden und aussehen, als hätte diese schon Bill Monroe höchst persönlich für seine Aufnahmen genutzt. Bastian Schuhbeck ist von der alten Klangästhetik begeistert. Bastian: "Also mich faszinieren diese alten Aufnahmen unglaublich stark. Also die Ende 50er-, Anfang 60er, wo es dann schon Stereo gegeben hat. Aber noch wirklich so alt war, wo man wirklich hört, wie die Röhren rauschen. Aber so retro haben wir das jetzt nicht gemacht und wollten es auch nicht haben vom Sound her. Ein bisschen roh wollten wir das schon belassen, die Aufnahme. Wir haben es live eingespielt. Wir wollten auch, dass es so klingt als hätten wir es live eingespielt. Wir haben einfach Ecken und Kanten drauf gelassen, wenn’s mal nicht ganz sauber, nicht ganz tight ist, dann haben wir gesagt: Das ist so, weil wir das live eingespielt haben und dann haben wir Mikros im Raum verteilt, dass dieses Räumliche, dieses Spontane, was in dem Moment passiert, einfach mit drin ist in der Aufnahme." Ein Konzept, dass sich für die Band schon auf Ihrer EP "A Day with Louise" bewährt hat. Darauf zu finden ist der Titel "The lonely period - Staying at home". Bereits Ende 2018 erschienen, bewegen sich Johnny und die Yooahoos damit gewollt oder nicht gewollt, thematisch am Puls der Zeit. Stichwort Corona! Dieser "outer Blues", der die Welt derzeit in Form einer Pandemie befallen hat, findet als "inner Blues" Resonanz in der Musikerseele. Musik: "The lonely period (staying at home)" Johnny: "Mir wäre mal ins Ausland geflogen, nach Irland und auch in der Schweiz und in die Niederlanden hätten wir gespielt. Es war in diesem Jahr für uns schon ein deutlicher Anstieg vom Level her an Locations was wir hätten spielen können. Das war natürlich sehr schade. Wir haben dann versucht, die Zeit zu nutzen oder haben wir auch genutzt um am Album zum Arbeiten und vor allem das zu promoten mit Musikvideos, da wir einige gemacht und ja, jetzt ist die gleiche Situation wieder. Also es war ja kurzzeitig mal im Sommer, dass wir Gigs spielen konnten. Das war natürlich für uns dann nach so langer Zeit ein Traum. Jetzt haben wir uns eigentlich wieder gefreut, dass wir mehr spielen und jetzt ist wieder alles gelockdowned. Bastian: "Wir sind in Gedanken auf jeden Fall bei den Kolleginnen und Kollegen, die das quasi hauptberuflich machen, was ja bei uns zum Glück nicht der Fall ist. Wir wollten uns das natürlich mehr aufbauen über das Jahr und da wird man natürlich stark nach hinten geworfen, aber richtig schlimm ist es natürlich für alle die, denen der Verdienst, der Lebensunterhalt wegfällt. Und die Aussichten sind ja auch nach wie vor nicht so prickelnd." Optimistisch in die Zukunft Ein Streaming-Konzert hier, ein selbstgedrehtes Youtube-Video da. Alles Notlösungen, aber so versuchen Johnny & The Yooahoos, die Zeit zu überbrücken, bis sie endlich wieder live vor Publikum auftreten können, die Situation ist unbefriedigend, aber eben gerade nicht zu ändern. Was die Zukunft bringen mag? Da bleiben die Yooahoos einigermaßen optimistisch, aber auch realistisch. Johnny: "Das ganze Leben damit zu finanzieren, ist mit Bluegrass schwierig. Wahrscheinlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA selber. Aber ja, des ist wie der Traum von den meisten Leuten mit seinem Hobby seinen Lebensunterhalt zu finanzieren." Bastian: "Und generell einfach neue Musik schreiben, so viel live spielen wie es geht. Was man als Band so macht. Dranbleiben. So gut wie es geht und so gut die Situation es zulässt." Johnny: "Na ja und mehr Leute erreichen auf jeden Fall mit der Musik." Zum Beispiel mit dem traditionellen "Meeting is over" – dem einzigen Song auf dem Album der Yooahoos, den die Band nicht selbst geschrieben hat. Musik: "Meeting is over"
Am Mikrofon: Monika Gratz
Ist es Retrobluegrass, Indiefolk oder Americana-Pop? Von allem etwas: Johnny & The Yooahoos sind in den verschiedenen amerikanischen Spielarten heimisch - und leben in Oberbayern. Ihre erste EP haben sie live eingespielt und mit einem einzigen Mikrofon aufgenommen. Oldschool-Bluegrass made in Bavaria!
"2020-12-04T22:05:00+01:00"
"2020-12-04T11:23:25.089000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/johnny-the-yooahoos-servus-bluegrass-100.html
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Erster Deutscher Hebammentag
Erst im 18. Jahrhundert entstanden staatliche Hebammenschulen in Deutschland, die erste an der Berliner Charité. (dpa/Fredrik von Erichsen) Es beginnt mit einer Art Spendenaktion im Sommer 1885 in Berlin: Ein paar Hebammen treffen sich und sammeln Geld, um eine junge Kollegin, die völlig verarmt gestorben war, wenigstens "anständig beerdigen" zu lassen. Mit dabei ist auch Olga Gebauer, eine sehr kämpferische Vertreterin ihres Berufsstandes. Sie gründet noch im selben Jahr den "Berliner Hebammenverein", weil immer mehr "Wehemütter" von ihrer Arbeit kaum leben können, erzählt Dorothea Tegethoff, die Gastprofessorin für Hebammenkunde an der Evangelischen Hochschule Berlin: "Die Hebammen waren in einer sehr schwierigen Situation am Ende des 19. Jahrhunderts. Das Wirtschaftliche, das war alles mehr oder weniger ungeregelt. Es gab sehr viele Hebammen sehr unterschiedlichen Ausbildungsstands. Und einer der ersten Beschlüsse dieses Vereins war, dass Vereinshebammen keine Geburten mehr ohne geordnete Gebühren überhaupt durchführen." Hebammen - einst ein beliebtes Opfer der Hexenverfolgung Auch in anderen Städten entstehen bald solche Vereine, und am 22. September 1890 kommen schließlich über 900 Frauen aus allen Teilen des Reiches zum "Ersten deutschen Hebammentag" in Berlin zusammen. Ganz oben auf der Tagesordnung steht noch immer die wirtschaftliche Situation, aber auch das grundsätzlichere Thema: Wie kann der Berufsstand mehr Achtung erfahren ... "Also, was so den Ruf von Hebammen angeht, ich denke, das war sehr schwankend: auf der einen Seite gibt es eben diesen Begriff der weisen Frauen, die haben eine hervorgehobene soziale Stellung: Wer ist wichtig im Dorf, das sind der Pfarrer, der Lehrer und die Hebamme; und auf der anderen Seite gibt es dann eben auch so diese Geschichten, dass sie eher verrufen sind, das ist so ein kontinuierliches Auf und Ab." Dass die Hebammen Frauen mit besonderen Aufgaben und Fähigkeiten waren, belegen schon ägyptische Tempelmalereien aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend. Sie wurden zu allen Zeiten bei Frauenleiden konsultiert, aber auch bei Fruchtbarkeits- oder Verhütungsfragen und bei Abtreibungen, weshalb sie besonders oft Opfer der Hexenverfolgung waren. "In dem Sinne, dass es sich tatsächlich um einen Beruf handelt, das ist also bestenfalls ein mittelalterliches Phänomen: so ab dem 15. Jahrhundert gibt es dann so etwas wie Hebammenordnungen, wo dann aber auch schon so etwas wie staatliche und ärztliche Kontrolle gleich einsetzt, wo es eben diese Konfrontation zwischen Hebammen und Ärzten gibt, da gibt es also wirklich auch bestürzende Dokumente, wie sich Ärzte da über Hebammen äußern: 'Die sind alle dumm, die sind alle ungebildet'. Und das Problem war ja, dass Frauen zu den entsprechenden Bildungseinrichtungen keinen Zugang hatten." Jahrhundertelang lernten junge Hebammen das geburtshilfliche Wissen traditionell von den Älteren. Erst im 18. Jahrhundert entstanden staatliche Hebammenschulen in Deutschland, die erste an der Berliner Charité. Aber als Mitte des 19. Jahrhunderts die Geburtshilfe ein Pflichtfach in der Ärzteausbildung wurde, verloren viele Hebammen wieder Ansehen – und auch Einkünfte. Olga Gebauer, die selbst seit 1888 Oberhebamme in der Berliner Universitäts-Frauenklinik war, setzte sich auf dem Ersten deutschen Hebammentag besonders für eine geregelte und fundierte Ausbildung ein. Und deshalb ging es bei der Berliner Tagung neben berufspolitischen Fragen auch um ein Fachthema: Die Verhinderung des Kindbett- oder Wochenbettfiebers: "Also Wochenbettfieber war damals natürlich ein sehr großes Problem, und vor allem für die Hebammen, weil in den Kliniken, da wurden die Regeln der Asepsis sehr konsequent durchgeführt, und zu Hause in den Berliner Hinterhöfen, da war das natürlich sehr viel schwieriger umzusetzen, mit der Verhütung des Wochenbettfiebers." Die organisierten Vereinshebammen traten damals vehement für eine Professionalisierung ihres Berufsstandes auf wissenschaftlicher Grundlage ein. "Sie wollten nicht mehr Hebamme heißen, sondern sie wollten Geburtshelferin heißen, weil Hebamme eben für "unwissenschaftlich, Kräuterfrau", irgendwie "informelle Helferin" stand, und da haben die Gesundheitsämter und die Ärzteverbände für gesorgt, dass das verboten wurde. Also Hebammen, die sich Geburtshelferin an die Haustür geschrieben haben, die sind mit Bußgeldern belegt worden." "Was für ein Aufwand an Kraft und Zeit gehört dazu, für alle Frauenangelegenheiten einen kleinen winzigen Schritt nach vorn zu gewinnen!", schreibt die Initiatorin des Ersten deutschen Hebammentages, Olga Gebauer, 1908 etwas resigniert in ihr Tagebuch.
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In ihrer langen Geschichte sind Hebammen nicht nur bewundert, sondern teilweise auch als Hexen verfolgt worden. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts organisierte sich der Berufsstand in Vereinen. Am 22. September 1890 fand in Berlin der Erste Deutsche Hebammentag statt. Das damalige Ziel klingt aus heutiger Sicht besonders aktuell: Es ging um die schlechte wirtschaftliche Situation.
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https://www.deutschlandfunk.de/vor-125-jahren-erster-deutscher-hebammentag-100.html
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Von einer Krise in die nächste
Europa scheint derzeit an Grenzen der Handlungsfähigkeit zu kommen: Eigeninteressen und populistische Strömungen werfen die Frage auf, was will die Europäische Union sein? (picture alliance / dpa / CTK Photo / Vit Simanek) "Und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen uns noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Mit diesen Worten reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor wenigen Tagen auf die Kritik einiger EU Länder, Deutschland, so hörte man, würde mit seiner Willkommenskultur für Flüchtlinge ein falsches Signal setzen. "Wenn wir ein Nationalstaat wären, dann wäre das ganz selbstverständlich, dass einheitlich entschieden werden muss gegenüber den Flüchtlingen. Aber wir sind es eben nicht." "Von Anfang an unfair" Kommentiert der Völker- und Europarechtler Professor Christian Tomuschat von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die Dublin-Regelung, wonach Menschen, die Asyl begehren, sich im Ersteinreiseland registrieren lassen müssen, war von vorn herein problematisch, sagt er. "Das war etwa für ein Land wie Deutschland eine ganz feine Sache. Damit wurde die Verantwortung auf die Grenzländer Italien, Griechenland, Malta abgeschoben. Also das war von Anfang an irgendwie unfair." In der Europäischen Union müssen unterschiedliche Kulturen einen Konsens miteinander finden. Aber jeder Nationalstaat hat seine ganz eigene Geschichte. Zum Beispiel Ungarn, dessen Einreisepolitik in Deutschland mit Befremden betrachtet wird. "Mein Eindruck ist, dass sich Ungarn als ein relativ armes Land noch empfindet, das gar nicht in der Lage ist zunächst auch nur wirtschaftlich, die Fürsorge für Zehntausende oder Hunderttausende von Menschen zu übernehmen. Und das Zweite ist wohl auch die Vergangenheit eines Ungarn, wo ein christliches Ungarn im Kampf stand gegen die türkischen Eroberungszüge." Nicht überall herrscht Solidarität Also gegen die Muslime. Weshalb die Ungarn nur Christen ins Land lassen wollen. Und sich damit die Empörung anderer EU Staaten einhandeln. "Gerade so nach Osten hin, da fehlt es an diesen Kommunikationsbrücken, die ja ganz wesentlich sind für das Gefühl und die Tatsache einer echten Zusammengehörigkeit." Wo wenig Zusammengehörigkeit da fehlt es auch Solidarität. Und an Verständnis. Das betrifft nicht nur Ost und West. Sondern auch Nord und Süd, behauptet Professor Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Rom. "Der Süden als ne absolute Sehnsuchtsregion mit enorm großer Attraktivität und einer fast erotischen Aufladung. So landschaftlich, kulinarisch und ich weiß nicht was. Auf der anderen Seite eben der Süden, der in jeder Hinsicht versagt. Politisch, ökonomisch, moralisch." "Die Deutschen schlussfolgern aus Schulden Schuld", kommentierte unlängst der italienische "Corriere della Sierra". Und, so der Historiker, bis heute gehen Schuldzuschreibungen sogar mit Konfessionsstereotypen einher. "Also die verlotterten Katholiken, die es nicht so genau nehmen im Vergleich zu den pflichtbewussten, unkorrupten Protestanten. Das sind also beliebte Klischees, die sehr, sehr tief zurückweisen, bis in die frühe Neuzeit." Beten, beichten, dolce vita – so sehen die Nordeuropäer den Süden, sagt Martin Baumeister. Dabei übersehen sie geflissentlich, wie viel z.B. Italien schon für Flüchtlinge getan hat. "Etwa Mare Nostrum, wo man Zehntausende von Flüchtlingen gerettet hat. Und diese Aktion wurde nicht umsonst etwa von Leuten wie Ruppert Neudeck sehr gelobt. Und ob die Europäische Union das jetzt in ihrer Regie besser macht, will ich sehr bezweifeln." Was die Länder der EU eint, sei das gemeinsame Bekenntnis zur Demokratie, so die Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Borchardt von der Uni Hamburg. In Bezug auf die Flüchtlinge gibt es da allerdings einen Haken. Ein Dilemma für die EU "Diese Selbstdefinition Demokratie zu der natürlich auch das Bekenntnis zu Menschenrechten zählt, gerät natürlich also total ins Schleudern, wenn man sieht, was an den Außengrenzen der Europäische Union passiert und wie die Europäische Union sozusagen die Flüchtlingspolitik bisher gemanaged hat. Also wenn man sich die Zahl der Toten im Mittelmeer ankuckt. Das sind im Prinzip alles Menschenleben, die auf Kosten der Europäischen Union-Politik gehen." Ein ziemliches Dilemma in dem Europa steckt. Einerseits ziehen die Staaten bei der Abwehr von Flüchtlingen alle an einem Strang. Andrerseits kocht jeder sein eigenes Süppchen, sagt Ulrike Borchardt. "Die Europäische Union, die behauptet ja schon seit mindestens 20 Jahren, es gebe eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik. Auf dem Papier gibt es die auch. Nur es sind nach wie vor die Nationalstaaten, die darüber entscheiden, wie wird diese Richtlinie umgesetzt. Die Europäische Union ist kein Staat. Und trotzdem tut sie so, gerade was diese Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik betrifft, als sie sei ein Staat." In anderen Kontinenten, beispielsweise den USA, kommt das Konstrukt Vereintes Europa derzeit gar nicht vor, weiß der Soziologe Professor Torsten Heinemann von der Universität Hamburg. Er lehrt gerade als Marie Curie Fellow an der University of California in Berkeley. "Wenn sie also beispielsweise die 'New York Times' aufschlagen, dann finden sie kaum Berichterstattung über die Europäische Union. Sehr viel aber zu den einzelnen Nationalstaaten. Also beispielsweise dazu wie Deutschland in ner positiven Weise mit der Flüchtlingskrise umgeht. Wenn wir noch mal an die Idee des Europäischen Gedankens denken, an das Zusammenwachsen, an die Integration. Dann ist es schon erschreckend zu sehen, dass gerade das so wenig wahrgenommen wird. Und dass vor allem die Konfliktlinien wahrgenommen werden." An der Grenze der Handlungsfähigkeit Europa scheint derzeit an Grenzen der Handlungsfähigkeit zu kommen. Eigeninteressen und populistische Strömungen werfen die Frage auf, was will die Europäische Union sein? Und wohin soll sie sich entwickeln? Im negativen Fall, so Torsten Heinemann, könnte sie sich wieder aufspalten in einen östlichen Rest und das Kerneuropa. Sozusagen eine Europäische Union plus. "Wo man sich stärker abstimmt und auch wegkommt von diesem Prinzip der einstimmigen Entscheidungen hin zu einem Prinzip von Mehrheitsentscheidungen, wo dann auch mal Kompromisse durchgesetzt werden gegen den Willen von bestimmten Nationen oder Staaten." Aber, so der Soziologe, man müsse auch sehen, dass die kulturellen und politischen Konflikte schon innerhalb der Landesgrenzen anfingen. "Wenn sie an Bayern beispielsweise denken, wo es zum Teil eben gerade auf der politischen Ebene doch deutlich unterschiedliche Stimmen bezüglich der Flüchtlingskrise gibt im Vergleich zur Regierung in Berlin." Die Europäische Union ist eigentlich etwas Großartiges, sagt Martin Baumeister aus Rom. Aber die Öffentlichkeit, die Parlamente und die Menschen in den Ländern sind immer noch national ausgerichtet. "Man interessiert sich höchstens, wenn man in Deutschland lebt, gestärkt für Großbritannien, Frankreich vielleicht und dann vielleicht viel mehr für die USA. Man kann nicht überall hinschauen. Aber man sollte doch meinen, wir stehen mittlerweile auf einem Niveau, wo es so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit geben sollte.
Von Ursula Storost
Nach den verheerenden Kriegen des 20. Jahrhunderts wurde die Europäische Union gegründet. Der Wunsch nach Friede, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa standen Pate. Inzwischen ist die EU auf 28 Nationen angewachsen - doch die nationale Vielfalt und widersprechende Meinungen lassen die verschiedenen Positionen hart aufeinanderprallen.
"2015-09-24T20:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:01:15.052000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rolle-der-eu-von-einer-krise-in-die-naechste-100.html
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"Ich plädiere für Sport-Hausaufgaben"
Raus gehen und sich bewegen, das ist auch während der Coronakrise möglich und wichtig - vor allem für Kinder. (picture alliance/dpa-Zentralbild/Patrick Pleul) Schon vor der Coronakrise haben sich mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen nicht genug bewegt. Das geht aus der sogenannten Motorik-Modul-Studie hervor, die unter der Leitung von Alexander Woll im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Noch sei nicht abzusehen, wie sich die Corona-Schutzmaßnahmen auf diesen Befund auswirken, sagte Woll im Dlf. Aber: "Was wegfällt, ist natürlich die organisierte Bewegungszeit." Also Zeit im Sportunterricht oder Sportverein. Um das auszugleichen plädiert der Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie für "Sport-Hausaufgaben", für die man "auch digitale Möglichkeiten nutzen" könnte. Auch zuhause könnten Kinder und Jugendliche "alle Bereiche der körperlichen Aktivität" trainieren - vom Ausdauer- bis zum Krafttraining. Soziale Unterschiede nicht außer Acht lassen "Der menschliche Körper adaptiert sehr schnell", erklärte Sportwissenschaftler Woll: Schon nach drei Wochen totaler Inaktivität gehe die Hälfte der Muskelmasse verloren. Ebenfalls zu beachten sei ein weiteres Ergebnis der sogenannten Motorik-Modul-Studie: Das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich, je nachdem in welchem sozialen Umfeld sie lebten. "Es steht zu befürchten", so Woll, "dass die sozialen Unterschiede im Aktivitätsverhalten durch diese Krise eher verschärft werden."
Alexander Woll im Gespräch mit Maximilian Rieger
Kein Sportunterricht, kein Vereinssport: Damit aus den Corona-Schutzmaßnahmen kein ungesunder Bewegungsmangel resultiert, gilt es laut Alexander Woll, gegenzusteuern. Besonders für Kinder und Jugendliche sei es wichtig, sich ausreichend zu bewegen, sagte der Sportwissenschaftler im Dlf.
"2020-04-19T19:12:00+02:00"
"2020-04-20T09:36:32.921000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportwissenschaftler-zu-bewegung-in-zeiten-von-corona-ich-100.html
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Putin bestreitet Einmischung in Ukraine
Putin wies in dem Gespräch die Vorwürfe zurück, Russland stecke hinter den separatistischen Unruhen in der Ukraine. Dies seien Spekulationen, die auf ungenauen Informationen beruhten, sagte er dem Kreml zufolge in dem Telefonat mit Obama. Grund für die Proteste in den dortigen Städten seien der "Widerwille und die Unfähigkeit" der Kiewer Behörden, die Interessen der russischen und russischsprachigen Bevölkerung zu berücksichtigen. Er forderte US-Präsident Barack Obama auf, ein gewaltsames Vorgehen der Führung in Kiew gegen die pro-russischen Demonstranten und Besetzer zu unterbinden. Obama: Russische Truppenpräsenz verringern Obama appellierte nach Angaben des US-Präsidialamtes seinerseits an Putin, dafür zu sorgen, dass die pro-russischen Demonstranten in mehreren Städten der Ostukraine ihre Besetzung von Verwaltungsgebäuden aufgäben. Obama habe sich zudem tief besorgt über die Unterstützung Russlands für die Separatisten gezeigt. Zudem habe er Putin aufgefordert, die massive russische Truppenpräsenz an der Grenze zur Ukraine zu verringern, um die Spannungen abzubauen. Indirekt drohte Obama Putin mit weiteren Sanktionen: Die Kosten für Russland würden sich erhöhen, wenn seine Aktivitäten in der Ukraine fortdauerten, sagte Obama dem Weißen Haus zufolge in dem Telefonat. Zugleich habe er unterstrichen, die USA bevorzugten weiter eine diplomatische Lösung des Konflikts. Das Verhalten Russlands sei dabei aber alles andere als hilfreich, kritisierte Obama. Ein ranghoher Mitarbeiter des US-Präsidenten erklärte, das Telefonat sei auf russische Initiative zustande gekommen und sei "offen und direkt" gewesen - eine diplomatische Umschreibung für angespannt und kontrovers. Turtschinow: Referendum und Einsatzbefehl Trotz der Differenzen vereinbarten die Staatschefs den Angaben zufolge, die diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts im Vorfeld der für Donnerstag geplanten Verhandlungsrunde in Genf fortzusetzen. Die ukrainische Übergangsregierung bekommt die Lage im russisch geprägten Osten des Landes seit Tagen nicht in den Griff. Interimspräsident Alexander Turtschinow sendete gestern widersprüchliche Signale. Zum einen stellte er ein Referendum über die Föderalisierung des Landes in Aussicht. Zum anderen unterzeichnete er einen Befehl für einen Spezialeinsatz im Osten des Landes. Die Separatisten kündigten weiteren Widerstand an. Die Aufforderung der prowestlichen Regierung in Kiew, die Waffen bis gestern Morgen abzugeben und die besetzten Gebäude zu räumen, ließen sie unbeachtet. (fwa/lie)
null
Kurz vor einem Krisentreffen haben Russlands Präsident Wladimir Putin und sein US-Kollege Barack Obama telefonisch über den Konflikt in der Ukraine beraten. Zu einem gemeinsamen Standpunkt kamen sie nicht. Im Gegenteil: Die gegenseitigen Schuldzuweisungen gehen weiter.
"2014-04-15T06:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:36:03.197000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/telefonat-mit-obama-putin-bestreitet-einmischung-in-ukraine-100.html
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Wie weiter nach dem Ende des Abrüstungsvertrags?
Der 1987 geschlossene INF-Vertrag endet am Freitag - wie es danach um die nukleare Abrüstung steht, ist unsicher. (picture alliance / Russisches Verteidigungsministerium) Die Erleichterung stand dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow ins Gesicht geschrieben, als sie am 8. Dezember 1987 die Vereinbarung über den Abbau zweier kompletter Kategorien von Nuklearwaffen unterzeichneten. Die Sowjetunion hatte Ende der 70er-Jahre eine völlig neue Kategorie von nuklearen Mittelstreckenraketen stationiert: die so genannte SS-20. Sie hatte eine deutlich größere Reichweite, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft als ihre Vorgänger. Der Westen reagierte mit dem Nato-Doppelbeschluss: Man werde ähnliche Waffen auch in Westeuropa stationieren, wenn die Sowjetunion ihre Mittelstreckenraketen nicht abbaue. Gleichzeitig bot der Westen der Sowjetunion diplomatische Verhandlungen darüber an. Die Befürchtung war, dass diese Waffen Westeuropa anfällig für sowjetische Erpressungsmanöver machen und gleichzeitig die amerikanische von der europäischen Sicherheit abkoppeln würde. Der Konflikt über die Mittelstreckenraketen dauerte fast ein Jahrzehnt, bevor es zu der Einigung kam. Und das zeige, so Reagan bei der Unterzeichnung in Washington, D.C., wie wichtig es sei, Geduld zu haben. "Auf der sowjetischen Seite werden über 1.500 Sprengköpfe abgebaut. Und alle landgestützten Raketen einschließlich der SS-20 werden zerstört. Auf unserer Seite werden alle 400 Pershing-Sprengköpfe und alle Marschflugkörper zerstört. Aber diese Zahlen können die Wichtigkeit dieses Vertrages nur unzureichend ausdrücken." Vertrag des gegenseitiges Vertrauens In der Tat war dies ein besonderer Rüstungskontrollvertrag. Er setzte gegenseitiges Vertrauen voraus, war aber auch in sich vertrauensbildend. Der Verifikationsprozess, das heißt, die gegenseitigen Kontrollbesuche, um zu überprüfen, ob die andere Seite sich an die Bestimmungen halte, wurde erst im Jahr 2001 eingestellt. Das allein zeigt schon, welche Tragweite das Abkommen über die Intermediate Range Nuclear Forces - zu Deutsch: nukleare Mittelstreckensysteme - hatte. Der Vertrag bildete den Grundstock des Vertrauens, mit dem in den 90er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine ganze Reihe von Rüstungskontrollabkommen ausgehandelt werden konnten. Reagan und Gorbatschow beim Unterzeichnen (United Archives / imago) Das INF-Abkommen wurde zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen. Deutschland war kein Unterzeichnerstaat. Doch der Abbau der Mittelstreckenwaffen hatte für alle Europäer weitreichende Bedeutung und war ein wichtiger Beitrag zur internationalen Stabilität. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde tatsächlich abgerüstet und nicht lediglich Rüstungsobergrenzen vereinbart. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher sah sich noch 30 Jahre später in seiner Politik des hartnäckigen Festhaltens am Nato-Doppelbeschluss bestätigt. "Es war auch wichtig, das durchzuhalten, um die Sowjetunion zu einem Einlenken zu bringen, wozu es dann auch gekommen ist. Das Ergebnis des Nato-Doppelbeschlusses war, was wir immer versprochen hatten, nämlich, dass es nicht nur weniger solcher Raketen geben wird, sondern gar keine mehr. Die Null-Lösung war das Ziel des Nato-Doppelbeschlusses. Das war eine der erfolgreichsten abrüstungspolitischen Maßnahmen, die es gab." Das Vertrauen bröckelt Vielfach wurde die Abschaffung einer kompletten Waffenkategorie als ein Glücksfall der Geschichte angesehen. Dass es dazu kommen konnte, führen die meisten Beobachter darauf zurück, dass der Westen sich in dieser Frage nicht hatte spalten lassen. Bodengestützte nukleare Mittelstreckenraketen gehörten in Europa der Geschichte an, so glaubte man in den abrüstungspolitisch so erfolgreichen 90er-Jahren. Doch es kam anders. Schon die Obama-Administration beschuldigte Russland, den INF-Vertrag zu brechen. Russland arbeite an der Entwicklung und Stationierung eines neuen Typs von Marschflugköpern, im Nato-Jargon SSC-8 genannt. Bereits zuvor hatte Russland in Kaliningrad die nuklearfähigen Iskander-Raketen stationiert, die Warschau oder Berlin erreichen können. Die Obama-Administration hatte die russische Regierung wiederholt auf den vermuteten Vertragsbruch angesprochen. Diese leugnete jahrelang ab, dass sie neue nuklearfähige Mittelstreckensysteme entwickle und in Dienst stelle. Erst nach der Kündigung des INF-Vertrages durch US-Präsident Trump, im Februar dieses Jahres, stellte die russische Regierung den Marschflugkörper SSC-8 der Öffentlichkeit vor – und bestätigte damit endgültig die meisten Befürchtungen der Nato-Staaten. Sie stellten sich 2018 hinter die Einschätzung der USA, das INF-Abkommen werde von Russland verletzt. Insofern kam der Schritt der Trump-Administration, das Abkommen zu kündigen, nicht völlig überraschend. Mehr als 30 Mal hätten amerikanische Diplomaten das Thema angesprochen, aber die russische Seite habe nie darauf reagiert, so der amerikanische Außenminister Pompeo Russland verletze den INF-Vertrag fortlaufend. "Wenn unsere Sicherheit in dieser Weise bedroht wird, müssen wir reagieren. Wir kündigen hiermit unsere Verpflichtungen aus dem Vertrag auf." Kurz danach erklärte auch die russische Regierung, dass sie aus dem Vertrag aussteigen würde. Moskau behauptet nach wie vor, der Marschflugkörper SSC-8 habe eine Reichweite unter 500 Kilometern, was vertragskonform wäre. Westliche Experten gehen aber von einer Reichweite von 2.600 Kilometern aus. Damit könnten fast alle europäischen Hauptstädte erreicht werden. Mit der Kündigung des INF-Vertrages war ein drei Jahrzehnte lang etabliertes Rüstungskontrollregime an sein Ende gekommen. Eine besorgniserregende Entwicklung. Transparenz auf russischer Seite gefordert Eine nukleare Gegenrüstung wie in den 80er-Jahren als Reaktion auf die russischen Mittelstreckenwaffen ist in den meisten europäischen Nato-Staaten weder gewollt noch politisch durchsetzbar. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, hält einen Aufbau der konventionellen Abschreckung für unausweichlich. "Ja, die Gefahr kommt leider wieder aus dem Osten. Ich habe geglaubt, das in meinem Leben nicht mehr sagen zu müssen. Und ich glaube, dass Herr Putin, wie so die einen oder anderen Despoten, nur die klare Sprache versteht: dass er nämlich sieht, dass wir als Europäer, auch wir als Deutsche, als Teil von Europa, unserer Aufgabe nachkommen und eben auch letztendlich mehr für die Bundeswehr tun. Ich meine, die Diskussion, die wir seit Jahren führen, mit Frau von der Leyen, jetzt mit der neuen Ministerin, wird sein, dass wir nicht nur schön reden, sondern, dass wir tatsächlich die Bundeswehr besser ausstatten müssen. Und das heißt mehr und bessere Wehrtechnik. In diesem Fall bin ich auch optimistisch, dass Herr Putin dann aufhört, mit dem Feuer zu spielen." Zunächst müssten aber alle Möglichkeiten der Diplomatie ausgeschöpft werden, so die FDP-Politikerin. Die deutsche Diplomatie war allerdings in Bezug auf die Mittelstreckenraketen in den letzten Jahren sehr passiv. Das Thema kam nur in Expertenrunden zur Sprache. Es gab und gibt genügend andere Baustellen im Verhältnis zu Putin, da duckte man sich weg und hoffte auf das Beste. Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU im Auswärtigen Ausschuss, hofft auf zukünftige Gesprächsbereitschaft der russischen Regierung. "Und zunächst einmal hat ja der Nato-Generalsekretär eine nukleare Nachrüstung ausgeschlossen. Die Nato sollte weiterhin intensiv das Gespräch mit Russland suchen. Und ich könnte mir zwei Schritte vorstellen. Erstens: Dass wir einen Raum definieren, in dem keine INF-Raketen Russlands stationiert werden. Und zweitens, dass Räume definiert werden, in die diese Raketen nicht reichen dürfen. Das bedeutet aber Transparenz von russischer Seite, weil immer noch unklar ist, welche Reichweite das System 9M728 - wir nennen es SSC-8 - hat. Die Russen sagen 480 Kilometer, unsere Berechnungen sagen bis zu 2.600 Kilometer." "Systematischer Bruch des Vertrags" über zehn Jahre Dann könne man in einem weiteren Schritt Putin anbieten, die amerikanische Raketenabwehr in Rumänien und demnächst auch in Polen regelmäßig zu inspizieren, um russische Bedenken gegen diese Anlagen auszuräumen. Agnieszka Brugger sitzt für die Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestages. Sie plädiert für eine Verhandlungsinitiative. "Das Ende des INF-Vertrages ist wirklich ein sehr schwerer Rückschlag und ein großes Risiko für die Sicherheit in Europa. Deshalb ist es für mich überhaupt keine vernünftige Option, dass wir jetzt auch in Europa mit aufrüsten, sondern im Gegenteil, die Antwort Europas muss doch darin bestehen, ja, alle noch mal an den Verhandlungstisch zu bringen, zu versuchen, eine Einigung herbeizuführen, auch wenn die natürlich sich im Angesicht des Scheiterns des INF-Abkommens nicht gleich am Horizont abzeichnet. Und gerade, weil die Gesprächspartner schwierig sind, gerade weil die Zeiten schwierig sind, muss man jetzt umso mehr Energie und Anstrengung darauf verwenden." Militärübung in Ussuriysk mit einer Abschussrampe für Iskander-M-Raketen (picture alliance / TASS/Yuri Smityuk) Ob es derzeit Verhandlungswillen auf russischer Seite gibt, ist mehr als fraglich. Den Ehrgeiz, ein Musterbeispiel der Rüstungskontrolle zu sein, hat Putin in den letzten Jahren nicht gezeigt, eher im Gegenteil. Roderich Kiesewetter rät dazu, die russischen Waffen in einem weiteren Kontext zu beurteilen. Die Nato stehe auch ohne landgestützte Mittelstreckenraketen nicht ohne nukleares Abschreckungspotential da: "Zunächst einmal warne ich vor jeder Dramatisierung. Wir können wirklich gelassen bleiben, weil die landgestützten Nuklearraketen im Mittelstreckenbereich nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten Potentials sind. Auch die Nato – und Russland – verfügen über seegestützte und luftgestützte Nuklearwaffen. Das Gravierende ist der Bruch des Vertrags, den Russland über zehn Jahre oder fast zwölf Jahre systematisch betrieben hat." "Russland entwickelt Konzept für Kriege in Europa" Viele Experten haben in den vergangenen Monaten darauf hingewiesen, dass Russland besorgt über die chinesische Raketenrüstung ist, und deshalb die neuen Mittelstreckenraketen entwickelt hat. Das kann durchaus die Motivlage des Kreml beeinflusst haben. Allerdings sind die neuen Systeme zum größten Teil auf Europa gerichtet. Vertrauen ist verloren gegangen, eine der wichtigsten außenpolitischen Ressourcen, beklagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Der Grund dafür, dass der Vertrag vor dem Aus steht, ist die russische Vertragsverletzung. Es gibt keine neuen amerikanischen Raketen in Europa, sondern viele neue russischen Raketen. Und das ist der Grund, warum der Vertrag gefährdet ist." Rüstungskontrolle ergebe keinen Sinn, wenn sie lediglich von einer Seite betrieben werde, so Stoltenberg nach dem Nato-Russland-Rat vor vier Wochen. Die Nato erneuerte das Angebot zu neuen Gesprächen, allerdings müsse Russland sich wieder vertragskonform verhalten. Am 2. August läuft die Frist ab, mit der die USA den Vertrag gekündigt haben, und nichts weist darauf hin, dass es zu einem Einlenken Putins kommt. An vier Standorten im europäischen Teil Russlands sollen nach Erkenntnissen mehrerer Nato-Staaten bereits über 60 mobile Startrampen installiert sein. Was aber will Putin mit diesen neuen Marschflugkörpern? Warum investiert Russland nach 30 Jahren wieder in atomare Mittelstreckenwaffen? Professor Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel hat eine Analyse der russischen Motivlage erstellt. "Russland entwickelt wieder ein militärstrategisches Konzept für Kriege in Europa. Dieses Mal kleine, begrenzte Kriege, nicht wie zur Zeit des Kalten Krieges eine große Invasion Westeuropas, sondern kleine Kriege, die an der Peripherie Russlands stattfinden. Und um in diesen Kriegen Eskalationsdominanz zu bewahren, das heißt, darüber entscheiden zu können, wie diese Kriege ausfallen, schafft sich Russland heute Waffen an, mit denen es konventionelle oder nukleare Waffen einsetzen kann, um solche Kriege zu seinen Gunsten zu beenden." Waffen für regionale Eskalationsdominanz Das Ausmaß der russischen Nuklearrüstung gehe über die von der Nato beanstandeten landgestützten Marschflugkörper weit hinaus und umfasse auch eine neue Generation luftgestützter Systeme. Außerdem reaktiviere und vergrößere Russland seine Einrichtungen zur Lagerung von Kernwaffen auf der Kola-Halbinsel und in Kaliningrad. Das alles seien Zeichen, dass Russland eine regionale Eskalationsdominanz anstrebe. Das heißt nicht, dass ein solches Szenario tatsächlich irgendwann eintritt. Diese Wahrscheinlichkeit wird von den weitaus meisten Experten als gering eingeschätzt, da sich das russische Militär der hohen Risiken einer militärischen Konfrontation mit dem Westen genauso bewusst ist wie die Nato-Staaten. Doch sowohl die russische Militärdoktrin wie auch das Training und die Ausrüstung der Streitkräfte seien auf solch ein abstraktes Szenario ausgerichtet, so Joachim Krause. Wie aber sind konventionelle und nukleare Waffen in der russischen Militärdoktrin verschränkt? Ein möglicher Kriegsschauplatz seien im russischen Denken die baltischen Staaten oder der Osten Polens, so Krause. "Die große Furcht westlicher Militärs ist, dass die Russen aufgrund der sehr schwachen Selbstverteidigungskräfte dieser Länder in der Region versucht sein könnten, mit einem Überraschungsangriff, oder mit einer Mischung aus einer hybriden Aggression und einer nachfolgenden sehr schnell stattfindenden Invasion diese Länder innerhalb weniger Tage unter Kontrolle zu bekommen. Und dass sie dann der Nato signalisieren: Wenn ihr versuchen solltet, diese Länder wieder zurückzuerobern, lauft ihr Gefahr, dass wir euch bereits auf eurem eigenen Territorium bekämpfen und dass wir dabei auch Kernwaffen einsetzen könnten." Dann wäre der Westen mit der Frage konfrontiert, ob man für die Rückeroberung eines relativ kleinen Territoriums einen Einsatz von Nuklearwaffen riskieren wolle. Gäbe man nach, dann hätte Russland ein wichtiges strategisches Ziel erreicht, das weit über den territorialen Gewinn hinausreichte: Dann wäre nämlich das Beistandsversprechen der Nato in Frage gestellt und der weitere Zusammenhalt des atlantischen Bündnisses in Gefahr. "Konventionelle Streitkräfte sind eine gute Abschreckung" Das ist der Grund, warum die Nato seit 2014 – nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ost-Ukraine - ständig rotierend etwa 3.000 bis 5.000 Soldaten in den baltischen Staaten stationiert hat. Auch 500 deutsche Soldaten sind dabei. Deutschland hat sich im Rahmen der Nato dazu verpflichtet, diese Präsenz noch auszubauen. Denn eine Verstärkung der konventionellen Abschreckung verringert deutlich das Risiko, dass die russischen nuklearen Mittelstreckenwaffen als Druckmittel ins Spiel gebracht werden könnten. So auch der ehemalige Nato-Kommandeur Phil Breedlove: "Starke konventionelle Streitkräfte sind immer eine gute Abschreckung. Wir haben darüber diskutiert unsere Streitkräfte besser auszustatten: auf den Nato-Gipfeln in Wales, in Warschau und in Washington. Wir haben über 20 Jahre nicht in bessere Ausrüstung investiert. Und jetzt sollten wir die dadurch entstandenen Lücken wieder füllen." "Wieder mit Russland ins Gespräch, vielleicht sogar ins Geschäft zu kommen", empfiehlt Johannes Varwick, Fachmann für internationale Beziehungen, dem Westen (picture alliance / dpa/Paul Zinken) Die Reaktion des Westens könne aber nicht nur militärischer Natur sein, so Johannes Varwick. Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität Wittenberg-Halle Internationale Beziehungen und ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Er hält ein robustes konventionelles Verteidigungskorsett ebenfalls für wichtig. Aber mittelfristig müsse man mit Russland auch über eine diplomatische Annäherung sprechen: "Wir müssen mehr Energie darauf verwenden, wieder mit Russland ins Gespräch und vielleicht sogar ins Geschäft zu kommen. Das ist eine Aufgabe, die schwierig ist und die auch teilweise schmutzige Kompromisse erfordert. Und da wird es nicht nach der reinen Lehre gehen, sondern da muss man unterschiedliche Interessen abgleichen. Wir brauchen also einen politischen Anlauf mit Russland." Auch Russlands Sicherheitsbedürfnis sehen Der Westen müsse sich stärker um eine politische Strategie im Umgang mit Russland bemühen. "Und wenn wir das tun, dann müssen wir erkennen, dass Russland natürlich auch eigene Sicherheitsbedürfnisse hat, und eben die Befürchtung hat, dass, wenn die Ukraine, wenn Georgien, wenn gewissermaßen sein sicherheitspolitisches Umfeld sich nach Westen orientiert, dass dann die eigene russische Sicherheit davon bedroht ist. Das ist gewissermaßen der rationale Aspekt im russischen Kalkül. Es gibt darüber hinaus auch viele irrationale Aspekte, die auch damit zu tun haben, dass Russland innenpolitisch auf einem sehr problematischen Weg ist, das will ich alles nicht in Frage stellen. Aber dieser rationale Teil der russischen Risikokalkulation, den sollten wir besser beachten." Doch das ist weit in die Zukunft gedacht. Im Moment ist keine russische Gesprächsbereitschaft zu erkennen. Das Ende des INF-Abkommens ist ein schwerer Rückschlag für die Rüstungskontrolle in Europa. Aber durch amerikanische, nuklearfähige see- und luftgestützte Cruise Missiles kann die russische Aufrüstung im landgestützten Mittelstreckenbereich mindestens zum Teil ausbalanciert werden. Wichtiger noch ist der Ausbau der konventionellen Abschreckung der Nato, um das russische Risikokalkül zu verändern. Das wäre stabilitätsfördernd. Dabei ist dann auch ein stärkeres Engagement Deutschlands erforderlich. Die Debatte über das Zwei-Prozent-Ausgabenziel der Nato wird Deutschland also noch eine Weile begleiten.
Von Marcus Pindur
Es war ein Vertrag des Vertrauens und Grundlage für weiteres Vertrauen: 1987 unterzeichneten Russland und die USA den INF-Abrüstungsvertrag. Am Freitag läuft die Vereinbarung über ein Verbot von Mittelstreckenraketen aus. Dann könnte die Welt ein ganzes Stück unsicherer werden.
"2019-08-01T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:04:24.123000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/inf-abkommen-laeuft-aus-wie-weiter-nach-dem-ende-des-100.html
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Mehr Macht für Frontex
Fabrice Leggeri, Vorstand der Europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, wird bald deutlich mehr Macht ausüben können. (AFP / WOJTEK RADWANSKI) Auf dem großen Monitor an der Wand zeichnen sich unscharf die Umrisse Europas ab, weiter unten die Küste Nordafrikas. Grüne Punkte sammeln sich an bestimmten Stellen, so im Mittelmeer zwischen Ägypten und Griechenland, und – in dicken Haufen – an der Küste Libyens. Izabella Cooper kann das deuten, sie arbeitet seit vielen Jahren für Frontex. "Die vielen grünen Punkte, die wir sehen, markieren Orte, wo in diesem Jahr schon Migrantenboote gesichtet wurden. Die Situation bleibt also sehr besorgniserregend. Die Schleuser lassen immer mehr Migranten auf diese zehn Meter langen Schlauchboote. Selbst die Qualität des Gummis, aus dem die Boote hergestellt werden, ist schlechter geworden." "Der Migrationsdruck auf Europa bleibt hoch" Neun Männer sitzen vor ihren Computern und schauen ab und zu auf den großen Monitor mit der Karte. Izabella Cooper bezeichnet den Raum, genannt "situation centre", als das "Nervenzentrum" von Frontex. Die Mitarbeiter hier bündeln Informationen aus allen EU-Ländern, die für die Grenzsicherung relevant sein können. Hier fließen auch Festnahmen an Landgrenzen oder an Flughäfen ein. Selbst ein gestohlenes Auto, das eine kriminelle Vereinigung aus der EU herausbringen will, wird erwähnt. Das Gesamtbild, das sich daraus ergibt, beschreibt der Chef von Frontex Fabrice Leggeri: Der Migrationsdruck auf Europa bleibe hoch, auch wenn in diesem Jahr deutlich weniger Flüchtlinge in die EU kommen als 2015. Deshalb findet Leggeri es richtig, dass seine Behörde wächst. Mit beachtlichem Tempo. "Im Jahre 2015 war unser Budget 142 Millionen Euro, dieses Jahr beträgt unser Budget 250 Millionen Euro. Und nächstes Jahr beträgt das Budget 330 Millionen Euro." Leggeri hat sein Büro ganz oben im Warschauer Frontex-Turm. Von hier aus wird er bald deutlich mehr Macht ausüben. Denn nach der großen Frontex-Reform im Oktober muss er die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr bitten wie bisher, dann müssen sie kooperieren. Andernfalls drohen Konsequenzen: Bald soll es einen Grenzen-Stresstest geben "Dann kann der Exekutiv-Direktor der Agentur dieses Problem auf politischer Ebene erwähnen. Und es gibt noch Rechtswege, um dieses Thema bis zum Rat auf Ministerebene zu bringen." Frontex bekommt nicht nur das Recht, selbstständig zu handeln, sondern auch die Mittel. Die Mitgliedsstaaten müssen künftig ein festgelegtes Kontingent an Grenzschützern für die Agentur abstellen. Im Fall von Deutschland sind es genau 225 Beamte. Außerdem kann die Agentur bald Autos, Schiffe und sogar Hubschrauber mieten. Konflikte mit Mitgliedsstaaten können sich dabei schon recht bald ergeben. Im Oktober will die Agentur mit einem sogenannten Stresstest der Grenzen beginnen. "Was wir testen werden, sind nicht wirkliche Zwischenfälle oder Ereignisse an den Außengrenzen. Was wir testen wollen, ist, ob die Daten und Fakten, die wir sammeln wollen, ob diese Daten und Fakten relevant sind. Also wir werden jetzt sehen, ob die Mitgliedsstaaten diese Daten und Fakten zur Verfügung haben." "Ein einheitliches Grenzmanagement an den Schengen-Grenzen" Das klingt harmloser als es ist: Wenn ein Staat die entsprechenden Daten nicht liefern kann, dann ist das ein deutliches Indiz dafür, dass er an seiner Grenze Schwachstellen hat. Deshalb wird die Agentur für den Stresstest auch bestimmte Verbindungsoffiziere in die Mitgliedsstaaten entsenden. Die Kritik an Frontex wird mit der Reform zunehmen, das weiß auch Fabrice Leggeri. Den Vorwurf, die Agentur baue an einer Festung Europa, hört er schon jetzt immer wieder. Dabei gehe es ihm doch darum, die offenen Grenzen zwischen den Schengen-Staaten zu erhalten: "Um das zu ermöglichen, brauchen wir ein einheitliches Grenzmanagement an den Schengen-Außengrenzen. Sonst haben die Mitgliedsstaaten kein Vertrauen, und dann werden die Binnengrenzen wieder eingeführt. Außerdem gebe es ja auch die Stimmen, die Frontex umgekehrt vorwerfen, durch Rettungsaktionen im Mittelmeer Flüchtlinge anzulocken, sagt Leggeri. Die Kritik von beiden Seiten zeige doch, dass die Agentur genau das Richtige tue.
Von Florian Kellermann
Der europäische Grenzschutz Frontex soll mehr Macht bekommen. Trotzdem im Jahre 2016 weniger Flüchtlinge in die EU gekommen seien, bleibe "der Migrationsdruck auf Europa groß", so Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Neben mehr Mitarbeitern soll auch mehr Geld in die Grenzsicherung fließen. Doch der Ausbau könnte neue Konflikte bringen.
"2016-09-30T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:56:40.392000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europas-grenzenschutz-mehr-macht-fuer-frontex-100.html
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Das Recht auf Leben und Selbstbestimmung
Was wiegt schwerer: Der Schutz des ungeborenen Lebens - oder das Recht der Mutter, über ihren Körper selbst zu bestimmen? (imago / Stana) 25. Juni 1992: Ein schwül-warmer Abend im Sitzungssaal des Bonner Wasserwerks, dem provisorischen Sitz des Deutschen Bundestages. Der CSU-Abgeordnete Norbert Geis begründet in einer emotionalen Rede, warum eine Abtreibung unter keinen Umständen rechtmäßig sein darf. "Es geht nicht um Fristen oder um Indikationen, das sind technische Begriffe. Es geht um die Würde der Frau, darüber entscheiden wir heute", so verteidigt Ingrid Wettig-Danielmeier in ihrer Rede den überparteilichen Gruppenantrag von SPD und FDP, den sie maßgeblich mitentworfen hat und der genau das vorsieht: Eine Fristenlösung, die eine Abtreibung in den ersten drei Monaten grundsätzlich erlaubt - und die Entscheidung darüber allein der Frau überlässt. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt in der Bundesrepublik die sogenannte "Indikationslösung": Ein Schwangerschaftsabbruch ist nur in bestimmten Notlagen straffrei - zum Beispiel, wenn das Leben der Frau oder des Kindes gefährdet ist, nach einer Vergewaltigung oder aus schwerwiegenden sozialen Gründen. Eine Regelung, die aus Sicht des Ulmer CDU-Abgeordneten Herbert Werner noch verschärft werden sollte: "Für den Christen ist der Mensch Ebenbild Gottes und darf auch von daher in seiner naturrechtlich verankerten Existenz nicht angegriffen werden." Schutz des ungeborenen Lebens oder Selbstbestimmung? Ganz anders der Jurist Horst Eylmann aus Stade, ebenfalls CDU und angesehener Rechtspolitiker im Bundestag: "Der Abbruch in den ersten zwölf Wochen ist nicht justiziabel. Die Entscheidung darüber kann den Ärzten billigerweise nicht zugemutet werden. Also bleibt nur die Konsequenz, diese Entscheidung den Frauen zu übertragen, und das ist für mich auch keine Notlösung. Die Zeit ist reif für eine solche Entscheidung, einen Entscheidungsprozess, den die Männer nur begrenzt nachempfinden können. Wir können ja auch nicht ungewollt schwanger werden." Was wiegt schwerer: Der Schutz des ungeborenen Lebens - oder das Recht der Mutter, über ihren Körper selbst zu bestimmen? Dieser Konflikt zwischen zwei Grundwerten bestimmt die Debatte. Ein 16-stündiger Redenmarathon bis spät in die Nacht, mit mehr als 100 Redebeiträgen und sieben Entwürfen zur Abstimmung: Es ist eine der längsten - und eindrücklichsten - Bundestagsdebatten in der Geschichte der Bundesrepublik. Getragen von gegensätzlichen Moral- und Gesellschaftsentwürfen, aber auch von gegenseitigem Respekt."Die Meinungen prallten richtig aufeinander. Der Ton war aber nicht bösartig, sondern nachdenklich. Aber es war schon so, dass Leute, wie ich selber, sehr engagiert waren", erinnert sich Ingrid Matthäus-Meier, damals als Abgeordnete der SPD im Bundestag und ebenfalls Unterstützerin des Gruppenantrags. Der Paragraf 218, so das zentrale Argument ihrer Rede, sei noch niemals in seiner Geschichte geeignet gewesen, verzweifelte Frauen von einer Abtreibung abzuhalten: "Der Paragraf 218 war auf diese Weise zwar der wirkungsloseste Strafrechtsparagraf, was den Schutz des werdenden Lebens anging. Aber er war einer der wirkungsvollsten, was die Demütigung, die Verängstigung, die Einschüchterung, die Verzweiflung bis hin zum Tod von Frauen betrifft, meine Damen und Herren." Im Bundestag prallten die Meinungen aufeinander und in Bonn gab es große Demos gegen den Paragrafen 218. (imago / Stana) Hürden für Abtreibungen überwinden Die meist beachtete Rede einer bewegten Nacht hält die CDU-Politikerin und damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth: "Die Entscheidung über die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs zu treffen heißt, vor einer nicht lösbaren Aufgabe zu stehen." Es ist eine Rede gegen den Mehrheitsentwurf ihrer eigenen Fraktion, der grundsätzlich an den bisherigen Regelungen der Bundesrepublik festhalten und die Hürden für eine Abtreibung möglichst hochhalten will. Und eine Rede basierend auf dem Leitmotiv "Hilfe statt Strafe" des Gruppenantrags, der neben der Fristenlösung ein umfangreiches Beratungs- und Unterstützungskonzept für Frauen in Konfliktsituationen vorsieht: "In dieser Not- und Konfliktlage frage ich mich, warum eigentlich dem Arzt oder nachfolgend dem Richter, dem Staatsanwalt mehr Kompetenz, mehr Verantwortung zugesprochen wird als der Frau, die die Verantwortung nicht nur jetzt, sondern ein Leben lang für das Kind, für die Kinder übernimmt. Und deswegen hören wir endlich auf, die Frauen für entscheidungsunfähig, für nicht verantwortungsfähig zu halten. Geben wir endlich dem Leben eine Chance." In der Nacht zum 26. Juni 1992 um 0 Uhr 40 gibt ein sichtlich erschöpfter Bundestagsvizepräsident Helmuth Becker schließlich das Abstimmungsergebnis bekannt: "Abgegebene Stimmen: 657. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben gestimmt 284, Enthaltungen gab es 16. Der Gesetzentwurf ist damit in 3. Lesung angenommen." Eine klare Mehrheit für den Gruppenantrag - und damit für die Fristenlösung. Und eine kleine politische Sensation, weil nicht nur Abgeordnete von B90/Grüne und PDS/Linke Liste, sondern auch zahlreiche CDU-Abgeordnete für ihn gestimmt haben. "Das war für mich eine Sternstunde des Parlamentarismus, weil es wirklich entschieden wurde nach dem Gewissen des Einzelnen, quer über die Fraktionen hinweg. Es war aber auch persönlich für mich, in meinem politischen Leben eine gewisse Sternstunde", so Ingrid Matthäus-Maier, die sich schon in den 1970er-Jahren, als Studentin in Gießen und später in Münster, für ein liberaleres Abtreibungsrecht engagiert. Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen Damals noch Mitglied der FDP-Jugendorganisation "Jungdemokraten", beteiligte sie sich an Demonstrationen und Unterschriftenaktionen: "Gerade an einem solchen Stand in Münster war für mich sehr eindrucksvoll, dass ältere und alte Frauen an den Stand kamen und sagten: Ihr sollt es einmal besser haben als junge Frauen als wir. Und dann erzählten sie von ihren Schicksalen: Frauen, die schon mehrere Kinder hatten, wo der Partner sie verlassen hat. Die sich einfach psychisch und physisch überfordert fühlten, noch mehr Kinder zu bekommen. Und das hat mich noch einmal bestätigt, hier tätig zu werden." Zum Zeitpunkt der Bundestagsabstimmung 1992 tobte der Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen schon über viele Jahrzehnte. Erstmals war der Paragraf 218 im Januar 1872, kurz nach Gründung des Deutschen Reichs, in Kraft getreten. In seiner ersten Fassung sah er bei Abtreibung eine Zuchthausstrafe von bis zu fünf Jahren vor, für die Frau und für den beteiligten Arzt. Das hielt viele Frauen aber nicht von einer Abtreibung ab, sondern trieb sie in die Hände von Kurpfuschern - sie bezahlten nicht selten mit ihrer Gesundheit oder sogar mit dem Leben. Anfang der 1970er-Jahre nahm der Widerstand an Fahrt auf: in der Politik, an den Universitäten, auf der Straße: "Wir sollen dienen als Gebärmaschinen, aber wir wollen das nicht mehr!" Höhepunkt war der Stern-Titel "Wir haben abgetrieben" vom 6. Juni 1971: Eine von der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer initiierte Aktion, bei der sich 374 prominente und nichtprominente Frauen öffentlich dazu bekannten, ihre Schwangerschaft abgebrochen zu haben. Der Widerstand trug Früchte: 1974, unter der sozialliberalen Koalition, verabschiedete der Bundestag erstmals die Fristenlösung. Sie hatte allerdings gerade einmal drei Tage Bestand: Eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichts auf Antrag des Landes Baden-Württemberg verhinderte, dass das Gesetz in Kraft treten konnte. 374 prominente und nichtprominente Frauen bekannten sich 1971 im Stern zum Schwangerschaftsabbruch. (imago / epd) Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten Im Februar 1975 erklärte das Gericht die Fristenlösung schließlich für verfassungswidrig. Erst mit diesem Urteil sei explizit klargestellt worden, dass das ungeborene Leben unter dem Schutz der Menschenwürde stehe, sagt Martin Heger, Professor für Strafrecht und Rechtsgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Und damit unter dem Schutz des Grundgesetzes - laut Heger eine Art "Sündenfall", weil damit der Konflikt zwischen dem Recht der Frau und dem des ungeborenen Kindes festgeschrieben war: "Und damit wurde dieses Dilemma schwer lösbar. Es ist immer ein rechtlicher Kompromiss, den man wahrscheinlich nicht auf die Goldwaage legen darf, auf die Goldwaage des rein juristischen, sondern das ist auch politischer Kompromiss." Der Kompromiss war zunächst die sogenannte "modifizierte Indiktionslösung": Abtreibung war in den ersten drei Monaten erlaubt bei Gesundheitsgefahr der Mutter, schwerer Schädigung des Kindes, Vergewaltigung oder schwerer sozialer Notlage. Das letzte Wort hatte der Arzt. Der andere deutsche Staat im Osten war zu diesem Zeitpunkt längst weiter: Schon 1972 hatte die Volkskammer ein Gesetz verabschiedet, das den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten komplett frei gab. "Der entscheidende Beweggrund, der Frau das Entscheidungsrecht über die Austragung einer Schwangerschaft zu übertragen, leitet sich aus der in der sozialistischen Gesellschaft realisierbaren Gleichberechtigung der Frau ab", so begründete der damalige Minister für Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, den Gesetzentwurf. Historisch war die Entscheidung auch deshalb, weil es zum ersten Mal in der Geschichte der Volkskammer Gegenstimmen gab: Insgesamt 14 Abgeordnete sprachen sich aus Gewissensgründen gegen das liberale Gesetz aus. Es sollte bis zum Herbst 1989 das einzige Mal bleiben. Voraussetzung für Fristenlösung Das geltende DDR-Recht war denn auch der Grund, warum sich der Bundestag 1992 erneut mit dem Abtreibungsparagrafen befassen musste. Denn nach der Wiedervereinigung galten in Deutschland zwei Gesetze parallel: auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik die Indikationslösung, in den neue Bundesländern aber das Fristenmodell. In einer Kampagne unter der Überschrift "Mein Bauch gehört mir" forderten Frauenorganisationen in ganz Deutschland die Übernahme der DDR-Lösung. Für Ingrid Matthäus-Meier war das die entscheidende Voraussetzung für die heute geltende Fristenlösung: "Und ich muss sagen, ich bin den Menschen in der DDR dankbar. Ohne die Wiedervereinigung hätten wir in Deutschland dieses Recht nicht durchgesetzt." Doch bis dahin war es auch nach dem eigentlich eindeutigen Bundestagsbeschluss 1992 noch ein weiter Weg. Die Auseinandersetzung nahm im Gegenteil erst richtig an Fahrt auf. Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zeigte sich enttäuscht darüber, dass der Entwurf seiner Fraktion sich nicht durchgesetzt hatte: "Das ist ein Ergebnis, das mich traurig macht. Weil ich davon überzeugt bin, dass das nicht die beste Lösung für den Schutz ungeborenen Lebens ist." Der Bayrische Ministerpräsident Max Streibl, CSU, wurde deutlicher: "Es ist klar, dass wir das Bundesverfassungsgericht anrufen." Nicht einmal sechs Wochen nach der Bundestagsabstimmung stoppte das Bundesverfassungsgericht per Einstweiliger Anordnung erneut wesentliche Teile des neuen Abtreibungsrechts. Am 28. Mai 1993 erklärten die Richter des 2. Senats das Fristenmodell in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig. Das Gericht bemängelte vor allem, dass die Abtreibung in den ersten vierzehn Wochen generell rechtmäßig sein sollte. Aufruhr in Ost und West "Ein Schwangerschaftsabbruch darf deshalb strafrechtlich nur für gerechtfertigt erklärt werden, wenn insoweit die Rechtfertigungsgründe auf die verfassungsrechtlich zugelassenen Ausnahmen vom Verbot des Schwangerschaftsabbruchs tatbestandlich begrenzt sind", so begründete der Vorsitzende Hans-Gottfried Mahrenholz die Entscheidung. Die vollständige Urteilsbegründung umfasste mehr als 200 Seiten - und hatte weitreichende Konsequenzen: So durften die Krankenkassen die Kosten für den Abbruch fortan nicht mehr übernehmen. Für die SPD-Politikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ein Rückfall in die Zwei-Klassen-Justiz: "Das heißt doch auf gut deutsch: Wer Geld hat, kann sich einen Schwangerschaftsabbruch leisten, wer keines hat, muss wieder zum Kurpfuscher gehen. Ich dachte, die Zeiten seien längst vorbei." Vor allem in Ostdeutschland sorgte das Urteil für Entsetzen: "Ich bin zwar schon alt und krieg keine Kinder mehr, aber ich finde es trotzdem 'ne Schweinerei." Empört zeigte sich auch Regine Hildebrandt, damalige Frauenministerin in Brandenburg: "Für uns im Osten, in der Situation, in der wir leben, ist es das i-Tüpfelchen. Nicht nur, dass man schon laviert bei der Massenarbeitslosigkeit, bei der massiven Benachteiligung von Frauen, jetzt kommt noch die Tatsache dazu, dass man nicht nur die Anti-Babypille bezahlen muss, sondern auch noch den Schwangerschaftsabbruch. Ein Geschenk der Wiedervereinigung." Widerstand in der katholischen Kirche Zufrieden zeigte sich dagegen die katholische Kirche, allen voran der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann: "Das Urteil stellt eine historische und wegweisende Entscheidung dar." Für Ingrid Matthäus-Maier war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stark von kirchlichen Einflüssen geprägt: "Die Kirche, hier insbesondere die katholische Kirche, hat natürlich in all diesen Fragen eine miserable Position eingenommen. Und sie haben natürlich auch immer massiven Einfluss gehabt." Der Jurist Martin Heger sieht das anders: Die katholische Kirche habe sich im Gegenteil seinerzeit auf Weisung von Papst Johannes Paul II. aus dem Gesetzgebungsprozess herausgezogen: "Das heißt, das Schlüsselelement für das Bundesverfassungsgericht und des heutigen Konzepts, ist gerade nicht eines, mit dem die insbesondere katholische Kirche einhergeht. Insofern denke ich, das ist eine spezifisch deutsche Lösung, die der Wiedervereinigung gerecht wird, vielleicht auch allgemein religiösen Empfindungen, die jetzt aber kein spezifisch katholisches Element trägt." Am 29. Juni 1995 beschloss der Bundestag schließlich ein neues Abtreibungsrecht, das bis heute Bestand hat. Abbrüche bleiben innerhalb der ersten drei Monate straffrei, wenn die Frau eine vorschriftsgemäße Beratung nachweist. Damit begann innerhalb der katholischen Kirche ein heftiger Kampf um die sogenannte Schwangerschaftskonfliktberatung. 1999, nach einer Weisung des Papstes, beschloss die Deutsche Bischofskonferenz, aus dem staatlichen System auszusteigen und keine Beratungsnachweise mehr auszustellen. Nicht alle schlossen Frieden mit der gefundenen Lösung: Noch 2005 zog der damalige Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, in seiner Dreikönigspredigt einen viel kritisierten Vergleich: "Zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht." Die katholische Kirche kritisierte das 1995 eingeführte Abtreibungsrecht scharf. (imago / Dieter Bauer) Aktuelle Debatten um Präimplantationsdiagnostik In den vergangenen Jahren ist es still geworden um das einstige Streitthema Abtreibung. Neue Diskussionen über den rechtlichen Umgang mit den Grenzfällen des menschlichen Lebens sind in den Vordergrund gerückt: Mit der Sterbehilfe etwa oder der Untersuchung eines Embryos auf Erbgutschäden, ehe er der Frau nach einer künstlichen Befruchtung eingesetzt wird. Gerade bei der Präimplantationsdiagnostik sei die Regelung in Deutschland deutlich restriktiver als beim Abtreibungsrecht, sagt der Jurist Martin Heger: "Mit dem widersinnigen Ergebnis, dass man möglicherweise vor der Einpflanzung einer Eizelle diese nicht untersuchen darf, danach aber den Embryo wegen dann möglicherweise auftretender Behinderung abtreiben darf." Ein Widerspruch, der zeige, dass diese Themen heute, anders als beim Paragrafen 218, weniger durch liberale Kräfte, sondern vor allem durch religiös motivierte moralische Vorstellungen dominiert seien. Allerdings könnte sich in Zukunft ein weiteres Problem für Frauen in Konfliktsituationen ergeben: Die Zahl der Ärzte, die den Eingriff vornehmen, geht immer mehr zurück. In einigen Landkreisen gibt es keine einzige Klinik mehr, die Abtreibungen durchführt. Grund ist die zunehmende Konzentration im Klinikbereich. Ein Drittel der Krankenhäuser befindet sich zudem in kirchlicher Trägerschaft, die in der Regel aus weltanschaulichen Gründen Abtreibungen ablehnen. Strittige Fälle: Was tun, wenn bei Embryos Erbgutschäden festgestellt werden? (picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch) Ein Problem, das sich kaum auflösen lasse, so Heger: Das geltende Recht erkläre schließlich die Abtreibung für rechtswidrig - deshalb könne kein Arzt dazu gezwungen werden: "Wenn man natürlich sagt, es gäbe eine No-go-Area für Schwangerschaftsabbrüche, zum Beispiel ein ganzes Bundesland, dann müsste man sagen, das geht wohl nicht, und dann müsste der Staat notfalls entsprechende Angebote schaffen." Die jahrelange Erfahrung mit dem neuen Abtreibungsrecht habe gezeigt, dass der Kompromiss ein guter gewesen sei. Entscheidend sei nicht zuletzt, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche seit vielen Jahren rückläufig sei - in den vergangenen zehn Jahren sank sie von rund 130.000 auf unter 100.000 im vergangenen Jahr: "Und wenn wir uns heute angucken, was dieses Regelung geschaffen hat, dann wird sie derart praktiziert und akzeptiert, dass man sagen muss: Eigentlich ist es fast ein optimales Recht, wenngleich es vielleicht kein 100 Prozent dogmatisch sauberes ist."
Von Jeanette Seiffert
Es war eine der längsten und eindrucksvollsten Debatten, die je im Deutschen Bundestag geführt wurden: Vor 25 Jahren entschied das Parlament über die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch. Die Reform war nach der Wiedervereinigung juristisch dringend notwendig, um Rechtslagen in Ost und West anzupassen.
"2017-06-26T18:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:34:09.608000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-abtreibungen-das-recht-auf-leben-und-100.html
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Amnesty klagt den WM-Gastgeber an
Die überwiegend weiblichen Hausangestellten seien in dem Golfstaat der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert, heißt es im Abschlussbericht "Schlaf ist meine Pause" der Menschenrechtsorganisation. Amnesty befragte 52 Hausangestellte. Viele von ihnen berichteten, ihre Arbeitgeber hätten sie geschlagen, an den Haaren gezogen oder die Treppe herunter gestoßen. Einige seien auch vergewaltigt worden. Außerdem hätten manche von ihnen hundert Stunden pro Woche gearbeitet - ohne einen freien Tag, berichtet Jens-Peter Marquardt.
Von Jens-Peter Marquardt
Amnesty International prangert die Lage von Hausangestellten in Katar an. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert, die Bediensteten würden häufig Opfer von Gewalt und Ausbeutung. Das Emirat ist Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2022.
"2014-04-23T07:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:09.274000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katar-amnesty-klagt-den-wm-gastgeber-an-100.html
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"Einfach viel zuhören"
Daniel Theis spielte in der NBA-Bubble (Stephen M. Dowell/imago) Als Ende August ein weißer Polizist in Wisconsin den Schwarzen Jacob Blake mit sieben Schüssen schwer verletzte, reagierte Nordamerikas Profisport prompt und unmissverständlich. Ligenübergreifend wurde gestreikt. In Florida rückten Spieler, Trainer und Teambesitzer der Basketball-Liga NBA zusammen, diskutierten und sprachen darüber, was nun zu tun sei, um noch mehr auf Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und übertriebene Polizeigewalt aufmerksam zu machen. Mitten drin: Daniel Theis von den Boston Celtics. "Also für mich ging es erstmal viel darum, als Weißer und Nicht-Amerikaner, einfach viel zuzuhören und aufzusaugen. Einfach nur zu lernen, weil ich mich nicht in die Lage versetzen kann, wie sich ein Afro-Amerikaner in solchen Situationen fühlt." Sport und die US-Wahlen - Zeit, sich einzumischenDer Wahlkampf hat in den USA weite Teile der Gesellschaft erfasst. Auch der deutsch-US-amerikanische Leichtathlet Amos Bartelsmeyer hat seine Wahlentscheidung öffentlich gemacht. Im Dlf diskutiert er mit dem Journalisten Jürgen Kalwa über die Rolle des Sports bei den US-Wahlen. Theis hat einige Geschichten gehört, die ihn nachdenklich gemacht haben. So zum Beispiel die seines schwarzen Mitspielers Marcus Smart, der vor der heimischen Arena in Boston von einer weißen Frau mit dem N-Wort beschimpft wurde, als er ihre Kinder darauf aufmerksam gemacht hatte, die Straße doch bitte nur zu überqueren, wenn die Fußgängerampel grün anzeige. Doch Theis hat bei den Diskussionen in Florida noch etwas Anderes vernommen: "Die Zahl, wie viele NBA-Spieler generell registriert sind, zu wählen, war schockierend. Also, ich glaube, das waren vielleicht 20 Prozent. Da hat es dann auch angefangen, dass man als Sportler ein Vorbild sein möchte. Weil man kann nicht sagen, 'ihr müsst alle wählen gehen' - aber im Endeffekt ist man selbst nicht registriert zum Wählen." Stolz auf 90 Prozent registrierte Wähler Der Blick in den Spiegel hat geholfen. So vermeldete Chris Paul, NBA-Profi und zugleich Präsident der Spielergewerkschaft, dass nun mehr als 90 Prozent der Akteure registrierte Wähler seien. Das mache ihn stolz, so Paul. Er und alle Spieler wollen mit ihrer Botschaft weiterhin die Menschen ermutigen, wählen zu gehen. Die NBA sendete in der "Bubble" viele Zeichen gegen Rassismus. (dpa-Bildfunk / AP / Ashley Landis) Für diese Wahl stellen 50 Proficlubs ihre Arenen oder Trainingshallen als Wahllokale zur Verfügung - darunter viele NBA-Klubs. So war es damals in Florida entschieden worden. Zudem hatten alle NBA-Vereine von ihrer Blase aus sofort Kontakt mit den höchsten Politikern ihrer jeweiligen Bundesstaaten aufgenommen, um mit ihnen über notwendige Veränderungen zu reden. In Boston, sagt Theis, werden diese Gespräche weiterhin regelmäßig geführt: "Wir als Team haben so eine Art Gremium erstellt, wo Leute wie Jaylen [Brown], Marcus Smart, Jason Tatum drin sind und sich wöchentlich auch mit dem Gouverneur, dem Bürgermeister und allen möglichen Leuten hier austauschen." Um Veränderung ganz oben zu erreichen, betont Theis, müsse man klein anfangen - bei der Wahl des örtlichen Polizeipräsidenten zum Beispiel oder dem Votum der Senatoren. Und dieser Kampf werde, unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahl, weitergehen.
Von Heiko Oldörp
Die NBA machte in diesem Jahr politische Schlagzeilen: die Spieler streikten, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Politisches Engagement, das auch bei der Präsidentschaftswahl anhält, erzählt der deutsche Spieler Daniel Theis, der die Diskussionen um Aktionen der Spieler unmittelbar miterlebte.
"2020-11-03T22:55:00+01:00"
"2020-11-04T11:28:18.121000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/basketballspieler-theis-einfach-viel-zuhoeren-100.html
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Mehr Ausgeglichenheit durch Tai Chi
Eine Gruppe von Menschen praktiziert Tai Chi in einem öffentlichen Park (imago stock&people) Man sieht sie immer häufiger in Gesundheitseinrichtungen und Sportstudios, aber auch in öffentlichen Parks und privaten Gärten: Menschen, die sich fast auf der Stelle und in Zeitlupe bewegen, wie von einer unhörbaren Musik geleitet. "Primär erlernt man beim Tai Chi eine Form. Diese "Form" stellt sich zusammen aus Einzelbewegungen, aber das wesentliche daran ist, dass jede dieser Einzelbewegungen zusammenfließen zu einem Ganzen. Das heißt am Ende haben wir eine geschlossene Bewegungsabfolge." "Dieses Formlaufen kann in der Gruppe passieren, kann alleine passieren, kennzeichnend ist aber, dass keine direkte Interaktion mit jemand anderem stattfindet, es ist also ein Tanz für einen alleine, um es mal plakativ zu sagen. Man kann aber auch einen imaginären Gegner, in Anführungszeichen, bekämpfen, daher kommt vielleicht auch dieser Begriff Schattenboxen, vielleicht, ja." Meditation in Bewegung Der vollständige Name "Tai Chi Chuan" bedeutet etwa: "Die große Harmonie von Yin und Yang im Nutzen der Faust", sagt Dr. Lutz Liese, Spezialist für Traditionelle Chinesische Medizin am Immanuel-Krankenhaus in Berlin. "Tai Chi Chuan ist von den Ursprüngen her eine Kampfkunst, und eine zweite wichtige Wurzel liegt in den philosophischen, medizinischen daoistischen Traditionen Chinas, so dass man vielleicht schon sagen kann, von frühester Zeit an war eine gewisse Verknüpfung da zwischen Kampfkunst und Gesundheitsaspekt." Denn beim Tai Chi geht es wie in der chinesischen Medizin um die Regulierung der "Lebensenergie". Dr. Marianne Zwanzig-Deider, die seit 30 Jahren Tai Chi in Berlin praktiziert und lehrt, spricht daher auch von einer "Meditation in Bewegung": "Das ist der körperliche Aspekt, das Erlernen der Bewegungen, und im weiteren Verlauf kommt die Energiearbeit, das ist sozusagen die Essenz hinter den Bewegungen, im weiteren Verlauf des Übens öffnet sich der Körper auf der feinstofflichen Ebene für den stetigen allumfassenden Energiefluss der Lebensenergie, des Qi eben. Und mit diesem Energiefluss wird die gesamte Bewegung des Tai Chi weicher und ausgewogener, aber nicht schlaff, sondern sie wird von innen angefüllt und lebendig." Verschiedene Tai-Chi-Stile Über die Jahrhunderte haben sich verschiedene Tai-Chi-Stile entwickelt, benannt nach den Gründerfamilien: Es gibt den Chen-, den Yang-, den Wu- und den Sun-Stil – sowie viele Untergruppen. Sie unterscheiden sich vor allem in den Choreografien, den Bewegungsabläufen, aber nicht prinzipiell: "Jede Bewegung im Tai Chi wird nach bestimmten Grundprinzipien ausgeführt, die in den Schriften der alten Meister niedergelegt und beschrieben sind, dazu zählen zum Beispiel, dass wir uns aufrichten wie eine Blume, die der Sonne entgegen wächst, dass wir unseren Rumpf als Drehachse wahrnehmen, um diese Drehachse herum bewegen wir uns, und unser Schwerpunkt befindet sich im Tun T'ien, das ist das Energiezentrum, das liegt unterhalb des Bauchnabels, und von dort aus kommt die Bewegung." Geschmeidigkeit bis ins hohe Alter Ein weiteres Prinzip des Tai Chi ist das Fließende: Es wird immer der ganze Körper bewegt. So bleibt geschmeidig - bis ins hohe Alter. "Das, was uns alt werden lässt, ist die Starrheit, und Tai Chi hält uns weich, und zwar nicht nur körperlich sondern auch geistig." Die Tai-Chi-Bewegungen sind Schrittkombinationen auf kleinem Raum, während die Arme und Hände zum Beispiel einen imaginären Schlag abwehren oder einen Fauststoß ausführen. In manchen Kursen werden auch Schwerter oder Fächer verwendet. Dennoch ist gerade der Yangstil, den Marianne Zwanzig-Deider lehrt, auch gut für ältere Menschen geeignet. "Es sind zwar Kampfanwendungen, aber sie werden so sanft und ohne körperliche Kraft ausgeführt, dass sie für jeden ausführbar sind. " Im Chen-Stil, den Lutz Liese selbst praktiziert, geht es etwas kampfbetonter zu, auch mit fließenden, aber schnelleren Bewegungen, und gelegentlich stampfenden Schritten. Deshalb macht der Arzt eine kleine Einschränkung: "Da muss man genau schauen, welchen Tai-Chi-Stil mache ich? Da gibt’s viele Stile, die vielleicht bei den Knien nicht ganz so optimal sind, und das eigentlich, muss man sagen, der einzige Schwachpunkt am Tai Chi, wo man ein bisschen aufpassen muss. Viele positive Effekte für die Gesundheit Ansonsten aber hat Tai Chi viele positive Effekte für die Gesundheit, die auch in Studien nachgewiesen wurden. Pprävention oder Schmerzlinderung bei Fibromyalgie oder anderen Bewegungsapparatsbeschwerden oder Wirbelsäulenbeschwerden, oder natürlich alles was mit Stressreduktion zu tun hat, ist ein großes Gebiet, wo Tai Chi Chuan helfen kann, und solche Entspannungstechniken die ermöglichen dem Menschen wieder zu regenerieren."Tai Chi verbessert auch die Atmung, hilft bei Herz-Kreislauf- und Schlafstörungen. Es schult den Gleichgewichtssinn, fördert die Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit. Und nicht zu vergessen: Tai Chi hat schon von den Ursprüngen her einen "meditativen" Aspekt: "Das wichtige bei der Energiearbeit ist nach meiner Erfahrung das Loslassen. Je mehr wir loslassen, je weniger Kraft, also muskuläre Kraft, aber auch Willenskraft wir anwenden, desto mehr Energie fließt. " Leistung und Schnelligkeit spielen keine Rolle Anfänger tun sich allerdings manchmal schwer mit dem Tai Chi, denn so eine fließende, ununterbrochene Bewegungsfolge ist schon als Kurzform 10 bis 15 Minuten lang. Dazu meint Marianne Zwanzig-Deider: "Nach meiner Erfahrung ist es so, dass der Schüler de facto eigentlich an seinen eigenen Ansprüchen verzweifelt. Wir leben in einer Gesellschaft, wo es hauptsächlich um Leistung geht und um Schnelligkeit. Und beides spielt im Tai Chi überhaupt keine Rolle. das ist das, was ich bei meinen Schülern versuche, ihn dazu zu bringen anzuerkennen, was sein Ausgangspunkt ist: Wo steht er, wie ist sein Körperbewusstsein, wie ist sein körperlicher Ausgangszustand, und von diesem Punkt an bewegt er sich, verbessert er sich, arbeitet er. Und das Ziel ist das Arbeiten an sich und nicht, die Form so schnell wie möglich gelernt zu haben. Wie gut Tai Chi der eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit tut, hängt letztlich auch von der Wahl des richtigen Kurses ab. Dr. Lutz Liese, der Tai Chi-Erfahrene und Arzt, rät: "Die wesentlichen Aspekte sind aus meiner Sicht erst mal, dass es einfach von der Chemie her stimmen muss, also man muss ein gutes Verhältnis haben zur Lehrerin, zum Lehrer, dann halte ich es für wichtig, dass sie Haltungskorrekturen macht, und dass eben auch ein gewisses, im besten Falle noch medizinisches Hintergrundwissen besteht, wobei man da einschränkend sagen muss, jemand, der seinen Stil beherrscht, der hat normalerweise auch eine Kompetenz, was Beschwerden des Bewegungsapparates angeht." Dr. Marianne Zwanzig-Deider ist überzeugt, dass die Erfahrung mit dem Tai Chi am Ende über einen Kurs hinausführt: "Wie jede andere Meditationsform auch, geht Tai Chi auch mit in den Alltag wieder zurück. Es ist nicht nur so, dass wir Tai Chi an jeder Stelle, im Park, am Meeresstrand oder zuhause im Wohnzimmer ausführen können, ohne irgendetwas dazu zu brauchen außer uns selbst, ganz wesentlich aber ist für mich, dass durch dieses Loslassenkönnen unseres Gedankenstromes, der permanent ansonsten laut in unserem Kopf ist, dass wir genau da ankommen, wo sich unser Leben normalerweise abspielt, im Jetzt."
Von Andrea Westhoff
Manchmal sieht man sie in öffentlichen Parks: Menschen, die sich wie in Zeitlupe bewegen. Über die Jahrhunderte haben sich verschiedene Tai-Chi-Stile entwickelt. Gemeinsam ist ihnen das Fließende: Es wird immer der ganze Körper bewegt. Studien belegen zahlreiche positive Effekte für die Gesundheit.
"2018-01-09T10:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:34:11.483000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-mehr-ausgeglichenheit-durch-tai-chi-100.html
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CO2 besteuern?
Im Energiesektor verteuern CO2-Zertifikate umweltschädlichen Strom. Nun denkt die Regierung darüber nach solche Konzepte auszuweiten, vielleicht sogar durch eine Steuer. (picture alliance/dpa/imageBROKER/Bernd Lauter) Eine Steuer auf CO2-intensive Produkte und Technologien - und dann geht ein Teil des Geldes direkt zurück an die Bürgerinnen und Bürger. Ideen wie diese werden derzeit in Berlin durchgespielt. Steuer oder Handel mit CO2-Zertifikaten. Es tut sich etwas in der Klimaschutzdiskussion. Allerdings darf man dabei die soziale Komponente nicht vergessen, erklärt Nadine Lindner aus unserem Hauptstadtstudio. Frieden zwischen Serbien und dem Kosovo? Das Kosovo hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt - dort wird das allerdings nicht anerkannt. Eine schwierige Konfliktlinie, die nicht nur politisch aufgeladen ist, durch den vergangenen Krieg, sondern auch eine ethnische Komponente hat, wie Clemens Verenkotte, ARD-Studio Wien, berichtet. Der Balkan-Gipfel heute in Berlin, der Gespräche zwischen beiden Ländern fördern soll, wird daher wohl kaum etwas bewirken können.
Von Ann-Kathrin Büüsker
Brauchen wir eine CO2-Steuer, um klimaschädliche Produktionsweisen unattraktiv zu machen? Am Beispiel der Schweiz sprechen wir über Vor- und Nachteile. Außerdem beschäftigt uns der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo.
"2019-04-29T17:00:00+02:00"
"2020-01-26T22:49:29.204000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-co2-besteuern-100.html
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Erster Supermarkt ohne Verpackungsmüll
Der Verkauf von unverpackten Lebensmitteln ist das Kerngeschäft des Berliner Supermarkts. (picture-alliance / dpa / Jens Büttner) "Das sind Kürbiskerne mit Lebkuchenüberzug, sehr lecker." Zur Begrüßung gibt es vorweihnachtliches Knabbergebäck. Das tut gut, denn die Einrichtung wirkt etwas steril. Kalte, blaue Fliesen an den Wänden, dazu viel glitzerndes Metall, unzählige Plastikspender und Glasbehälter. Heimelig geht anders. Dafür ist das Warenangebot "original unverpackt". Geradezu lässig lässt der erste Kunde am Morgen sein Bircher-Müsli aus dem Glasrohr in den Plastikbehälter gleiten, den er von zuhause mitgebracht hat. Er findet das Konzept prima: "Das ist ganz gut, dass man so die nutzlosen Sachen einfach weglässt. Und dass man sich auch nicht verwirren lässt durch irgendwelche bunten Sachen, dass es wirklich um den Inhalt geht. Das finde ich ganz gut." Verzicht auf Einwegverpackungen Back to the roots, lautet das Motto. "Original Unverpackt" ist der erste Laden in Berlin ohne Plastikmüll. Wo es geht, verzichten die beiden Gründerinnen auf Einwegverpackungen. Ein Konzept, das heute Morgen auch die politische Prominenz aus Berlin anzieht. Die beiden Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast und Christian Ströbele, statten den beiden Jungunternehmerinnen einen Besuch ab. Renate Künast ist gleich angetan: "Die guten alten Bürsten, wo man auch den Ersatzkopf für kriegt. – Das sind die Besten." Kerngeschäft sind jedoch Lebensmittel. Von A wie Algentofu über D wie "das alte Schaf" bis Z wie "Zwiebeln, gelb" bietet der verpackungsfreie Supermarkt, was das umweltbewusste und produktbewusste Herz begehrt. Renate Künast hat gefunden, was sie wollte: einen Jutebeutel voll Tortellini, ein wenig Weizengraspuder und Knoblauch. Sie findet: Der Laden ist eine prima Alternative zu den großen Supermärkten. In die geht sie gar nicht gern. Gerade wegen des Verpackungswahns: "Wenn man da steht und guckt so einen Gang lang, wo man denkt: Acht Meter lang rechts und links nur Pudding, in allen Varianten, in rosa für Mädchen, in blau für Jungens, mit achtzig Geschmacksrichtungen, da stehen sie doch dazwischen und denken: Hier ist eine Fabrik für artificial flavour, also künstlichen Geschmack, das kann man ja nicht kaufen, und ich hänge an dem puren und natürlichen Geschmack, und deshalb reicht es mir vollkommen, so ein paar Basissachen zu finden, und auch bei Gemüse und so das zu finden, was jetzt reif ist, was jetzt wächst, und damit können Sie die köstlichsten Dinge tun." Gut vorbereitet in den Supermarkt Ihr Politikerkollege Christian Ströbele dagegen braucht noch etwas Zeit. Ein paar Mandeln hat er sich schon ins mitgebrachte Glas abgefüllt, aber er empfindet den Laden noch als etwas unübersichtlich: "Erst mal muss man sich gut vorbereiten. Genau wissen, was man kaufen will, dann muss man möglichst eine Reihe von kleinen und größeren Behältnissen mitnehmen, weil: Ich kann ja nicht so einen großen Topf oder Beutel nehmen, um da Zimt reinzutun oder Pfeffer, da braucht man dann so kleine Sachen, das heißt, ich muss noch mal wiederkommen und das jetzt ganz gezielt vorbereiten." Prima, wenn er wiederkommt. Das gehört zum Konzept dazu. Sagt Sara Wolf, eine der beiden Gründerinnen. Denn sie will ihre Waren – etwa 350 Produkte sind es im Augenblick – nicht nur unverpackt verkaufen. Sie will auch aufklären und mit den Leuten über das jeweilige Produkt ins Gespräch kommen. Verkaufen und aufklären "Eines der Hauptprobleme ist tatsächlich, dass die Kunden nicht mehr einschätzen können, wie viel sie da gerade kaufen. Das passiert zum Beispiel häufig bei Pinienkernen, dass die Leute meinen, sich ein Glas voll füllen zu können, trotzdem weniger als zehn Euro zu zahlen, was halt nicht geht. Ich meine, die Supermarktverpackung mogelt einem wirklich vor, was für unglaubliche Mengen da drin sind in so einem Säckchen für fünf Euro, und dann sind da aber 30 Kernchen drin. Also: Leute können es tatsächlich nicht mehr einschätzen." Am liebsten hätten es die beiden Macherinnen, wenn ihre Idee eine Massenbewegung auslösen würde. Mit etlichen Interessenten seien sie in Verhandlung über ein Franchise-Konzept. Denn bisher, so die Erfahrung der ersten drei Monate, rechnet es sich. Denn manche Kunden zahlen gern etwas mehr. "Das ist okay, und das ist mir eigentlich auch egal, weil ich die Idee, das Ziel gut finde."
Von Wolf-Sören Treusch
Tomaten in Zellophan, Duschgel in Flaschen und Gurken in Plastikfolie: Wer im Supermarkt einkauft, nimmt meist auch einen riesigen Berg Verpackungsmüll mit. Im Berliner Supermarkt "Original Unverpackt" werden Waren deshalb nur lose oder in Mehrwegverpackungen verkauft - vom Apfel bis hin zum Waschmittel.
"2014-12-09T14:18:00+01:00"
"2020-01-31T14:18:02.528000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berlin-erster-supermarkt-ohne-verpackungsmuell-100.html
242
"Einen Stillstand werden die Bürger nicht honorieren"
Der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). (imago/stock&people/Sven Simon) Gut ein Jahr ist Thomas Kufen nun im Amt, doch noch lange nicht bei allen bekannt. Ob er denn eine Einladung habe, wird Essens Oberbürgermeister am Eingang zur Eröffnungsfeier der neuen Firmenzentrale der städtischen Allbau-Hauptverwaltung in der nördlichen Innenstadt gefragt: "Nee, aber eine Rede, die ich halten muss." "Das ist auch gut." "Ja?" - "Bitte." - "Danke sehr." - "Viel Spaß bei der Rede." Der Weg ist frei. Der 43-jährige Kufen, braune Harre, Brille, Anzug und Krawatte, stürzt sich ins Getümmel. Händeschütteln hier, Smalltalk da. Kufen, das ist spürbar – und anders als am Eingang erfahren – kennt sich aus in seiner Heimatstadt. Nach einer kaufmännischen Ausbildung im elterlichen Autohaus, fing er dort an zu arbeiten, doch seine Leidenschaft galt schon immer der Politik: Mit 14 Jahren trat er der Jungen Union bei, gründete eine JU-Stadtteilgruppe, wurde später Vorsitzender der JU Essen. Seit 1999 Essener Ratsherr führte er lange die dortige CDU-Ratsfraktion – und saß zuletzt auch im Düsseldorfer Landtag. Nun steht er auf der Bühne und spricht sein Grußwort: "Die beiden Bürgermeister habe ich gesehen, die Kollegen aus dem Rat. Aus der Verwaltung auch ganz viele, wahrscheinlich arbeitet gar keiner im Rathaus, alle hier. Oder jetzt ist die produktivste Phase." Sich selbst auch mal auf die Schippe nehmen. Kufen, einst eher etwas steif, fast schon verklemmt und schüchtern – wirkt locker, gelöst. Beobachter erzählen davon, wie gut ihm sein eher beiläufiges Outing im OB-Wahlkampf 2015 getan habe: Befragt nach seinem Familienstand, antwortete er dort mit "ledig", um dann aber ebenso selbstironisch wie andeutungsvoll hinzuzufügen: "Mein Freund sagt, ich soll nicht immer ledig sagen, um nicht falsche Hoffnungen zu wecken." Kufen lebt in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft – ohne das an die große Glocke zu hängen. Und ähnlich nüchtern ging er auch mit der bundesweit diskutierten Frage um, ob die CDU überhaupt in einer Großstadt regieren könne: "Die Großstadt gibt es gar nicht. Auch die Stadt Essen, eine Stadt mit 590.000 Einwohnern, die neuntgrößte Stadt in Deutschland hat 50 Stadtteile, die alle sehr, sehr unterschiedlich sind. Ich hab sie alle gleich lieb und der eine macht mehr Arbeit als der andere. Aber, zu glauben, man könne das Konzept Essen auf andere Städte übertragen, das geht an der Sache vorbei." Seine ersten Monate waren ohnehin – zumindest alphabetisch gesehen – fast monothematisch: "Es gab zwei Fs die mich durch meine ersten zwölf Monate durchgetragen haben. Das eine war F wie Flüchtlinge, das zweite F, wie Finanzen." Bei letzterem machte Essen zuletzt bundesweit Schlagzeilen: Denn erstmals seit einem Vierteljahrhundert beschloss der Stadtrat Ende November einen ausgeglichenen Haushalt. Das Ergebnis eines strikten Sparkurses, so Kufen. Dennoch bleibt die Schuldenlast mit 5,6 Milliarden Euro erdrückend. Zumal das zweite F – Flüchtlinge – weitere Investitionen erfordert. Stichwort Integration: "Wenn wir im vergangenen Jahr 4500 Flüchtlinge aufgenommen haben, dann haben wir mehr Flüchtlinge aufgenommen in Essen als ganz Polen. Und das muss ich hier erklären jeden Tag." "Merkel wird eine Zukunftsentwurf vorlegen müssen" Beispielsweise im Essener Stadtteil Karnap. Dort machte der SPD-Ortsverein zu Jahresbeginn mobil, wollte gegen weitere Flüchtlingszuweisungen demonstrieren. Ein SPD-Ratsherr, der Bergmann Guido Reil, wechselte publikumswirksam zur AfD. Obwohl alles nicht seine Partei, sieht Kufen die Gefahr des Populismus – auch wenn für ihn im kommenden Jahr keine Wahl ansteht. Aber eben doch für seine Partei auf Landes- und Bundesebene. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte ja bereits gesagt, dass der anstehende Wahlkampf vom Populismus geprägt sein werde: "Aber sie muss auch jetzt vorbauen, sie muss auch klarmachen, wie es jetzt weitergeht. Einen Stillstand alleine werden die Bürgerinnen und Bürger nicht honorieren, sondern sie wird auch einen Zukunftsentwurf hinlegen müssen. Und wenn sie das in Essen tut, machen wir alles richtig." Denn dort handelt auch der OB konkret: Als dem traditionsreichen Karnaper Martinszug, der im Stadtteil stets sehr gut besucht ist, 500 Euro fehlten, wollte AfD-Mann Reil finanziell einspringen. Der Bürgerverein lehnte ab, wollte nicht zwischen die politischen Fronten geraten – war jedoch in einer Notlage. Kufen sprang ein, spendete das Geld aus seinem Privatvermögen. Der Gedanke muss ihm gefallen haben, der AfD ein Schnippchen zu schlagen. Doch – neben der Partei – geht es eben auch um die Person: "Ich kommuniziere anders, gehe anders auf die Menschen zu, ich bin sehr geerdet hier in meiner Heimatstadt. Insofern ist, glaub ich, die Frage: Kann man sich drauf einlassen und kann man sich auf den verlassen, ist viel wichtiger als von welcher Partei kommt der eigentlich her." Das bestätigen politische Begleiter, aber auch Gegner, sowie Journalisten, Beamte mit anderem Parteibuch oder auch Mehrdad Mostofizadeh. Der Grünen-Fraktionschef im Landtag in Düsseldorf hat bei der OB-Wahl Kufen gewählt, er kennt ihn aus gemeinsamen Tagen im Landtag – und eben als Bürger der Stadt Essen: "Ich hoffe, dass er nicht in den parteipolitischen Trott zurück verfällt, wie das bei vielen anderen geschehen ist, sondern an der Sache orientiert Politik macht." Trotz seines parteiübergreifenden Ansatzes, als Ratsherr koalierte er mit dem Grünen, mit der FDP, dann mit beiden zusammen und nun in einer große Koalition mit der SPD: Kufen ist und bleibt CDU-Mann. In der kommenden Woche ist er Gastgeber seiner Bundespartei. Und was er seiner Chefin mitgeben will, weiß er auch schon ganz genau: "Dass die Menschen hier vor allen Dingen honorieren, wenn man sich anstrengt und dass es ein Aufstiegsversprechen gibt. Und im Ruhrgebiet sagt man nicht ‚Haste was, dann biste was‘, sondern ‚Kannste was, dann biste was.‘ Und das gebe ich ihr mit."
Von Moritz Küpper
Ab Montag will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag erneut zur Parteivorsitzenden wählen lassen. Gastgeber im einst sozialdemokratischen Ruhrgebiet wird Essens CDU-Oberbürgermeister Thomas Kufen sein. Zwei Themen haben ihn im ersten Amtsjahr besonders beschäftigt: Flüchtlinge und Finanzen. Eine Begegnung mit einem "geerdeten" Politiker.
"2016-12-01T19:15:00+01:00"
"2020-01-29T19:06:44.169000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cdu-oberbuergermeister-in-essen-einen-stillstand-werden-die-100.html
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"Der Systemverdacht ist sicher die richtige Fährte"
Der Journalist Thomas Kistner (imago stock & people) Der in Rio während Olympia wegen illegalen Tickethandels festgenommee IOC-Topfunktionär Patrick Hickey, hatte sich zuvor schriftlich an IOC-Chef Thomas Bach gewandt und hunderte Top-Eintrittskarten zusätzlich für sein irisches Olympische Komitee geordert. Neue brisante Details Nun hat das ZDF in der Sendung "Sportreportage" neue Einzelheiten und Dokumente publik gemacht: Demnach gibt es ein offizielles Schrieben des Organisationskomitees, datiert nur vierzehn Tage nach den Nachrichten von Hickey an Bach. Darin steht: Insgesamt 844 Karten extra an das Irische Olympische Komitee – auf Anweisung des IOC. Der ungefähre Gegenwert nach Einschätzung von Experten: bis zu 3,5 Millionen Euro. Die Ermittler gehen davon aus, dass Hickey diese Karten an die nicht zu gelassene Ticketagentur THG weitergereicht hat. Was wusste Thomas Bach? Der leitende Staatsanwalt in Rio, Marcos Kac, sagte dem ZDF: "Ich denke, Thomas Bach weiß davon. Es gibt viele Indizien dafür. Er ist der Chef der Leute, die ein großes Event in Händen halten und versuchen, sich persönlich zu bereichern." SZ-Sportredakteur Thomas Kistner, der den Ticketskandal ebenfalls schon seit Monaten begleitet, geht es ähnlich: "Es erscheint schlicht unvorstellbar, dass im Olymp solche Geschäfte ablaufen, ohne dass Thomas Bach weiß, worum es geht." Anmerkung der Redaktion: "Das IOC ließ Deutschlandradio zwischenzeitlich unter Bezugnahme auf den hier öffentlich zugänglich gemachten Beitrag mitteilen, dass weder das IOC noch Herr Bach Kenntnis von seitens der brasilianischen Behörden vorgeworfenen illegalen Ticketverwendungen hatte und überließ Deutschlandradio eine Stellungnahme des IOC zur Veröffentlichung an dieser Stelle." Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Kistner im Gespräch mit Philipp May
Der Ticketskandal rund um die Olympischen Spiele in Rio weitet sich aus. Nach ZDF-Berichten geht die Staatsanwaltschaft in Rio davon aus, dass auch IOC-Chef Thomas Bach Bescheid gewusst haben könnte. Für Thomas Kistner klingt das plausibel: "Thomas Bach gehört zu den kontrollsüchtigsten Funktionären im Weltsport überhaupt", sagte der Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung im DLF.
"2017-02-05T19:46:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:46.250000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ticketskandal-von-rio-der-systemverdacht-ist-sicher-die-100.html
244
Das Weltraumteleskop mit dem unaussprechlichen Namen
James Webb (1906-1992), NASA-Chef von 1961-1968 (NASA)
Lorenzen, Dirk
Die Beobachtungsdaten, die das neue James-Webb-Weltraumteleskop zur Erde funkt, verzücken Experten wie Laien. Weniger erfreut sind manche über den Namenspatron des Teleskops, einen in der Kritik stehenden NASA-Chef aus den 60er-Jahren.
"2023-03-12T02:05:58+01:00"
"2023-03-12T02:05:58.006000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sternzeit-12-maerz-2023-james-webb-mit-dem-unaussprechlichen-namen-dlf-de62e749-100.html
245
Australische WM-Begeisterung hinter der Paywall
Die australische Nationalmannschaft begeistert momentan die Nation. Vom Rest der Weltmeisterschaft bekommt das Fernseh-Publikum in Australien aber nicht viel mit. (IMAGO / Uk Sports Pics Ltd / IMAGO / Peter Dovgan)
Sturmberg, Jessica
Die Nationalteam Australiens wird bei der Heim-Weltmeisterschaft von einer Euphorie-Welle getragen. Vom Rest der WM bekommt das australische TV-Publikum aber wenig mit. Der Großteil der Spiele läuft nur im Bezahlfernsehen. Der Ärger darüber ist groß.
"2023-08-09T04:08:00+02:00"
"2023-08-09T14:09:31.153000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kaum-spiele-im-free-tv-australische-wm-begeisterung-hiner-der-paywall-dlf-c91ee51d-100.html
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"Rechtspolitik kommt heute in der Öffentlichkeit weniger an"
Professor Dr. Hansjörg Geiger auf dem Podium während einer Diskussion an der Universität Bielefeld (picture alliance/ dpa/ Robert B. Fishman) Es gibt Spitzenbeamte, die werden quer durch alle Parteien für ihre Kompetenz und Hellsicht geschätzt. Sie tauchen deshalb auch unter Regierungen ganz unterschiedlicher Couleur in wichtigen Funktionen auf – und oft an zukunftsweisender Stelle. Hansjörg Geiger war schon Datenschützer für das Land Bayern, im Jahr 1980, als die Bundesrepublik das Wort Datenschutz noch kaum kannte. An der Seite von Joachim Gauck managte der gelernte Jurist ab 1990 den Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde. Dann wechselte Geiger die Seiten: von der Auflösung eines Geheimdienstes - hin zur Leitung eines Geheimdienstes, des Bundesverfassungsschutzes. Dort schlug Geiger sich so gut, dass ihm 1996, nach kaum einem Jahr, der weit schwierigere Posten im Auslandsgeheimdienst übertragen wurde: Geiger wurde Präsident des Bundesnachrichtendienstes, schon damals eine von Skandalen gebeutelte Behörde. Seine Kompetenzen als Erneuerer von bürokratischen Mammutgewächsen wurden auch in der rot-grünen Bundesregierung erkannt, im Herbst 1998 frisch gewählt. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin machte Geiger zu ihrem Staatssekretär. Wo Däubler-Gmelin das Gespür für Diplomatie oft abging, gelang es Geiger, korrekte Inhalte mit ansprechender Verpackung zu verbinden. Nachgerade als Wunder wurde es beschrieben, dass Geiger das Justizministerium komplett aus Bonn nach Berlin verlegen konnte. Alle anderen Bundesministerien müssen bis heute damit leben, dass ihr Apparat zwischen Bonn und Berlin aufgeteilt ist. Mit dem Regierungswechsel 2005 wurde Geiger pensioniert. Heute setzt er sich in der Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte ein - etwa dafür, dass Patienten ihre eigenen Akten einsehen können. Heute 73 Jahre alt, ist Geiger seinem Leitwert, der Transparenz, treu geblieben. "Es ging eigentlich immer aufwärts, es ging immer aufwärts. Ja, ich gehöre einer glücklichen Generation an." Ein heimatvertriebenes Kind aus Brünn, das nach dem Krieg im Allgäu als Fremder aufwächst Stephan Detjen: Herr Geiger, Sie sind ein Flüchtlingskind, geboren 1942 im mährischen Brünn, dann wurde die Familie, wie so viele andere, vertrieben, ging ins Allgäu. Wirkt diese Familiengeschichte heute bei Ihnen nach? "Ich betrachte mich nicht als Flüchtling, sondern Heimatvertriebener" Geiger: Natürlich wirkt das nach, wobei ich mich nicht als Flüchtling, sondern als Heimatvertriebener verstehe. Die Familie ist 1946 ausgesiedelt worden, wie das heißt. Natürlich wirkt das nach. Ich habe als kleines Kind erlebt – und das ist mir später erst bewusst geworden, wie das nachgewirkt hat –, dass nichts sicher ist, und so war wohl auch das, was mir von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter indirekt vermittelt worden ist, dass man aus etablierten jahrzehnte-, fast jahrhundertlangen Lebensverhältnissen herausgerissen werden kann und plötzlich aus einem gesicherten Leben in ein extrem ungesichertes, armseliges, völlig verändertes Leben geworfen werden kann und man deswegen auch nicht weiß, wie es weitergeht. Ich war damals sehr klein, aber ich habe den Gesprächen der Älteren eben zugehört oder halb zugehört, da ist mir das deutlich geworden, und das, glaube ich, hat mich ein Leben lang geprägt. Man sollte sich nie zu sehr auf das verlassen, was gerade ist. Detjen: Und diese Erinnerung an das Schicksal von knapp zwölf Millionen Menschen, die damals am Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden, Deutsche, die dann in Deutschland, West und Ost, wieder aufgenommen wurden, das prägt ja auch die Gespräche, die wir heute wieder in Deutschland führen. Wie war das für Sie damals, als ein Kind, das seine Heimat verloren hat, eine Familie, die alles verloren hat, aus sehr bürgerlichen Verhältnissen kamen, dann da im Allgäu als Fremde ankommen? Geiger: Als Kind – und selbst die Familie war natürlich fremd, wie ich sagte, Urgroßmutter, Großmutter und Mutter waren da –, ich lebte dann bei der Großmutter im Wesentlichen in einem kleinen Dorf mit zwei- bis dreihundert Einwohnern, und auch unter den Kindern war ich etwas anderes. Das fühlte ich. Die Eltern der anderen waren Bauern – ich war in einem Bauerndorf –, waren etabliert, waren eingerichtet, wir waren da eben etwas anderes, und ich auch als Kind war irgendwie geduldet. Ich durfte schon mit den Bauerskindern spielen, durfte da auch in die Küche kommen und da vielleicht sogar mal abspülen als Vier-, Fünfjähriger, weil man dann wieder auf das Feld ging, wie man das im Allgäu gesagt hat, wenn man Heu gemacht hat, aber ich war was anderes. Ich hätte nämlich einen sehr guten Schulweg, der war so gut zwei Kilometer in einem hundert Meter höher gelegenes anderes Dorf, wo die Schule war, da hatten die anderen, die Büchsen oder die für die Nahrungsaufnahme – es gab ja damals diese Schulversorgung aus dem Krieg der Eltern, der Väter –, das waren ganz stabile Behältnisse. Ich hatte, von meiner Mutter gekauft, einen hauchdünnen Aluminiumzylinder, und die anderen machten sich eine Riesenfreude darauf mit ihren militärisch-hartgestählten Essensbehältnissen auf meinen einzuschlagen, der dann auf das halbe Format schrumpfte, was auch bedeutete, dass ich bei der Schulspeisung auch nur noch die Hälfte bekommen habe. Also man hat deutlich gemacht, da ist man eben ein anderer. Andererseits habe ich da auch gelernt, dass man sich eben auch durchsetzen muss, dass man nicht der Unterlegene sein will, das wollte ich nie, sondern dass man gegebenenfalls schauen muss, wie man vielleicht mit geistiger Anstrengung dann seinen Jungen steht – Mann ist vielleicht zu viel, würde nicht passen. Detjen: Prägen diese Erfahrungen, diese Erinnerungen die Haltung, die Sie heute haben zu den Diskussionen, zu den Gesprächen, die wir hier in Deutschland führen über die Integration von Flüchtlingen? Geiger: Ja, das ist für mich wichtig. Für mich ist wichtig, dass wir den Menschen, die im Land sind, in einer Weise helfen, dass sie die Chance haben, wenn sie hier bleiben wollen, auch tatsächlich ihren Weg gehen zu können. Detjen: Rückblickend gehören Sie zu einer glücklichen Generation, die die Chance hatte, einen Lebensweg, einen interessanten Lebensweg zu führen, der eigentlich immer aufwärts ging. Geiger: Das ist richtig, ja, das sehe ich auch genauso, und mit meiner Alterskohorte spreche ich auch manchmal darüber, bespreche ich das, dass wir unglaublich Glück hatten. Dass die Zeiten zum Teil elend waren, das merkt man als Kind nicht. Wenn es einem nicht besonders gut geht, wenn es eben bescheiden ist, dann ist das das Normale. Darunter habe ich nie gelitten, das war eben so, und es ging eigentlich immer aufwärts, es ging immer aufwärts, sowohl schulisch – man kommt dann auf das Gymnasium und dann studiert man – und beruflich ging es bei mir tadellos voran. Also ja, ich gehöre einer glücklichen Generation an. Detjen: Beruflich ging es tadellos voran – das ist eine schöne, bescheidene Umschreibung für einen ungewöhnlich interessanten, vielfältigen beruflichen Lebensweg, über den wir hier sprechen wollen, viele interessante Stationen: am Anfang steht ein Jurastudium in München, Tätigkeiten als Staatsanwalt, Richter, Beamter im bayrischen Justizministerium, dann 1990 Aufbau der Gauck-Behörde in Berlin, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Geheimdienstchef, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, heute aktiv in einer Stiftung, die sich um Patientenrechte kümmert. Was ist der rote Faden in dieser Karriere, und wo fängt er an? Geiger: Der rote Faden fängt spätestens mit dem Jurastudium an, das mir deutlich gemacht hat, was ich eigentlich innerlich gefühlt habe, dass man fair sein muss, dass man gerecht sein muss, dass man sich um Gerechtigkeit bemühen muss, und gleichzeitig ist der rote Faden, dass man selbst der Herr seines Schicksals ist, dass man sich selbst bemühen muss und nicht auf andere setzen kann, setzen darf, sondern selbst engagiert tut, arbeitet und mit eigener Leistung auch andere dann überzeugt, und das ist die Motivation, die ich habe. Ich habe immer gern gearbeitet, tue das heute noch. Das andere ist, wie gesagt, die Gerechtigkeit, Fairness im Umgang mit anderen, Achtung der Würde des anderen, das ist mir auch etwas sehr Wichtiges, den anderen als Menschen zu schätzen, egal, welche Rolle er hat und wer er ist. Am 5. September 1990 demonstrieren Bürger für eine Einsicht in ihre Stasiakten. (dpa / picture-alliance / Hammer) "Es war immer wieder so, dass Herr Gauck irgendwas gesagt hat, und ich habe ein Adjektiv gehört, das ich seit Jahren nicht gehört und gelesen hatte und ich das Gefühl hatte, exakt das ist das Adjektiv, das genau jetzt auf Millimeter genau die Situation beschreibt." Aufbau von etwas nie Gewesenem, die Behörde zur Abwicklung der Staatssicherheit, die sogenannte Gauck-Behörde Detjen: Sie sagen selber gestalten, selber in die Hand nehmen, und trotzdem ist Ihre berufliche Karriere auch ein Beispiel dafür, wie dann immer wieder Zufälle, der Weg, der Gang der Geschichte in so einen Lebensweg eingreift, und wir machen jetzt gleich mal einen Sprung, an den Punkt, wo Sie dann auch zum ersten Mal in einer politischen Funktion auch im Licht der Öffentlichkeit stehen: 1990, da wird die Stasiunterlagenbehörde aufgebaut, Chef ist Joachim Gauck, Sie werden Direktor, also Verwaltungschef dieser Behörde in Berlin. Man konnte das damals so wahrnehmen, dass es ein typischer Aufpasserjob für einen Wessi war, weil man dem Behördenchef Gauck, dem Ossi, nicht traute. Das war aber anders, oder? Geiger: Es war deswegen anders, weil Herr Gauck mich ausgesucht hat. Er hatte das Riesenglück, dass er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Stasiausschusses in der frei gewählten Volkskammer den Berliner Datenschutzbeauftragten Hans-Jürgen Garstka kennengelernt hatte, und den fragte er eines Tages, nachdem man sich eben nicht von Bonn jemanden zuweisen lassen wollte, ob er ihm eine Empfehlung geben könnte. Garstka und ich kennen uns seit fast Studientagen, waren beide im Datenschutz tätig, ich in München, er in Berlin, und nannte meinen Namen und kam dann zu einem Kontakt mit Herrn Gauck. Nach einem vierstündigen Gespräch merkten wir, dass wir auf einer sehr ähnlichen Wellenlänge sind, obwohl er der Norddeutsche, ich von den Alpen aufgewachsen, er der Protestant, ich der Katholik, er der Ostdeutsche, ich der Westdeutsche, eigentlich die Gegensätze waren so stark … Detjen: Er der Theologe, Sie der Jurist. Geiger: Also eigentlich konnten. Also, wir waren konträr, merkten aber, dass wir in vielen Dingen die Welt, trotz des unterschiedlichen Lebensweges bis dato, ganz ähnlich bewerten. Nach vier Stunden war irgendwie klar, dass das was werden soll, werden würde, und er fragte mich – es war ein Dienstagvormittag –, ob ich am Donnerstag wieder von München nach Berlin kommen könnte, weil dann der Aufbaustab des Bundesinnenministeriums, vor dem er Angst hatte, dass der eben alles bestimmt und in die Hand nimmt, Vorstellungen machen würde, ob ich da gleich mitkomme, und da war ich dann wieder da, und abends führten wir das erste – Herr Gauck und ich – live Rundfunkinterview. Das war natürlich eine Frechheit: ich, der das Wort Stasi nun gerade erst buchstabieren konnte. Detjen: Wenn Sie heute den Bundespräsidenten Gauck sehen, wo erkennen Sie diesen Gauck der frühen politischen Jahre wieder, den Sie damals 1990 in Berlin kennengelernt haben? Geiger: Ich erkenne wieder einen Menschen, der unglaublich schnell lernt, sich auf neue Gegebenheiten wahnsinnig schnell einstellen kann, der sehr schnell bewerten kann, ob das, was man ihm sagt, seinem Ethos, seinem Lebensgefühl, seiner Lebenserwartung, -erfahrung entspricht, und der das dann unglaublich schnell in eigene Worte umsetzen kann. Das war mir auch zum Beispiel völlig überraschend: der frühe Gauck, der es von mir ja wissen wollte, die Juristerei, was eine Behörde hält, was in einem Rechtstaat gilt, was das Grundgesetz sagt, was da die Regeln sind in einem Rechtstaat, der das unglaublich schnell aufgenommen hat, der das von mir lernen wollte, und es dauerte eigentlich gar nicht lange, wenn wir gemeinsam auch mal Gespräche im Bonner Bundesinnenministerium oder in anderen Ministerien hatten, dass nach ein, zwei Jahren viele Leute, die Gauck vorher nicht kannten, glaubten, er sei Jurist. Er war also in der Lage, das unglaublich in eigene Worte umzusetzen, also aufzunehmen, und das sehe ich jetzt auch als Bundespräsident, wie er in unterschiedlichsten Ländern, unterschiedlichsten Rollen, die man so da hat, unglaublich schnell merkt, aufnimmt, Situationen erkennt, was brauchen die Leute, die jetzt da sind, sei es eine Flüchtlingsgruppe, was sagt die ihm, wie muss er, wie will er darauf reagieren. Also das erkenne ich in ihm wieder, das prägt ihn, glaube ich, ganz stark. Was ich natürlich von Anfang an gemerkt habe und die Jahre auch immer an ihm besonders bewundert habe, ist die Gabe der Sprache. Es war immer wieder so, dass Herr Gauck irgendwas gesagt hat, und ich habe ein Adjektiv gehört, das ich seit Jahren nicht gehört und gelesen hatte und ich das Gefühl hatte, exakt das ist das Adjektiv, das genau jetzt auf Millimeter genau die Situation beschreibt. Also diese Gabe habe ich also bewundert, und das merke ich auch heute noch, wenn ich seinen Reden zuhöre. Detjen: Und Sie kamen dann allerdings zusammen mit einer Aufgabe, und da waren Sie dann besonders dafür zuständig, die dann zunächst mal Organisation erforderte, also aus dem Nichts diese riesige, physisch, aber natürlich auch historisch und politisch fast überwältigende Hinterlassenschaft dieses Stasiapparates in den Griff zu bekommen aus dem Nichts damals. Geiger: Es war wirklich nichts. Es waren Mitarbeiter des Bundesarchivs, die offensichtlich mal sich die Aktenmassen angesehen hatten – nach damaliger grober Schätzung 204 Kilometer Akten, also am Rücken gemessen –, Akten die zum großen Teil ungeordnet hinterlassen waren vom MfS, die nun durchgesehen werden sollten daraufhin, ob sich dort Anhaltspunkte finden, ob Personen, die wieder jetzt in den neuen Dienst des Bundes und der Länder aus Ostdeutschland eingestellt werden sollten, eine Stasiverstrickung haben. Also die Akten sollten ausgewertet werden. Wir wussten nicht mal, was genau an Akten da ist. Wir hatten dann nach relativ kurzer Zeit nur erfahren, dass die größte Kartei – eine Namenskartei – sechs Millionen Karteikarten enthält und allein diese Kartei eineinhalb Kilometer lang ist, wenn man die Kartei hintereinandergestellt hätte. Ansonsten wussten wir eigentlich relativ wenig. Man wusste nicht, wie geht man damit um. Es gab ja keinerlei Erfahrungen mit dem Aufbau einer Geheimdienstauflösungsbehörde. Akten in der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin (imago / epd) "Was mir besonders aufgefallen ist, war, wie tough die Frauen in der DDR waren oder wie tough sie sind, das war mein Eindruck." Detjen: Sie mussten damals viele Leute einstellen, diese Behörde musste wachsen, sie brauchte viel Personal. In kurzer Zeit wurden Hunderte, Tausende von Mitarbeitern eingestellt. Wir haben am Anfang des Gesprächs drüber gesprochen, wie Sie da als Heimatvertriebener ins Allgäu kommen und dann als Deutscher neue Deutsche kennenlernen. Jetzt war das wieder eine Begegnung mit anderen neuen Deutschen, wieder ein Stück Begegnung, Fremdheitserfahrung wahrscheinlich auch. Was für Menschen haben Sie da kennengelernt? Geiger: Was mir besonders aufgefallen ist, war wie tough die Frauen der DDR waren oder wie tough sie sind, das war mein Eindruck. Das war wirklich überraschend. Sie trugen den Kopf hoch, waren selbstbewusst, waren gewohnt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass es viele Männer gab, die vom System unterdrückt waren, die eher dem Blick ausgewichen sind und eher bereit waren, auf Weisungen zu arbeiten, während die Frauen durchaus nachgefragt haben, warum sie eine bestimmte Aufgabe in einer bestimmten Weise erledigen sollten. Also das fand ich sehr positiv, das war mir also ganz deutlich aufgefallen, das war auch der Grund, warum ich geschaut habe, dass erstens Mal viele Frauen eingestellt werden in die neue Behörde, weil ich wusste, das sind toughe Leute. Ich habe auch Wert gelegt, dass gerade Frauen in Führungspositionen gekommen sind. Wir waren, glaube ich, die erste Behörde, die im Führungspersonal eine Mehrheit an Frauen hatte. Das lag einfach daran, dass sie tough und gut waren. Das war also Qualität, die die Frauen geboten haben, und ich merkte auch, dass die Männer absolut bereit waren – was Westdeutsche damals noch nicht so ohne Weiteres waren –, Weisungen und Vorgesetztenrollen von Frauen zu akzeptieren. Detjen: Es hatte ja vorher in der Zeit der Wiedervereinigung Stimmen gegeben, gerade aus Westdeutschland, zum Beispiel der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die sich dafür ausgesprochen hatten, diese Stasiunterlagen komplett zu vernichten, weil man fürchtete, da ist so viel Gift drin, dass die Gesellschaft, die zusammenwachsende deutsche Gesellschaft spalten würde. Man ist dann einen anderen Weg gegangen. Rückblickend, was ist eigentlich der Wert dieser Stasiunterlagen und ihre Erschließung für Deutschland gewesen? Geiger: In mehrerlei Hinsicht war das ein wichtiger Wert. Es war zum einen unglaublich wichtig für die Menschen, die in der DDR gelebt haben, feststellen zu können, ob die Stasi auf ihren Lebensweg Einfluss genommen hat, ob der Grund für ein Versagen nun eine Tätigkeit dieser Staatssicherheitsbehörde gewesen ist, weil sie dafür Sorge getragen hat, dass man eine Stelle nicht bekommen hat, dass man nicht studieren durfte, oder ob es auf Eigenleistung war – das zu wissen. Zweitens, zu wissen, wenn die Stasi einen im Visier hatte, wer da Zuträger für die Stasi war oder auch zu wissen, es war keiner meiner Freunde. Auch das ist eine große Erleichterung. Schließlich kommt etwas ganz Entscheidendes hinzu: das merken wir an den anderen Ostblockstaaten, die diesen Weg des umfassenden Nutzens der Stasiakten nicht gegangen sind, dass die Stasioffiziere weiter dann die Geheimnisträger gewesen wären. Sie hätten gewusst, was war oder behaupten können, sie wussten Geheimnisse über andere Leute, über einen Ehebruch oder für andere dunkle Seiten, und wenn ich weiß, in einer Gesellschaft gibt es eine Gruppe von Leuten, die Geheimniswissen haben, möglicherweise über mich, dann ist das wie ein schwelendes Gift, das immer dasteht, wie eine schwarze dunkle Wolke, die steht, und die Macht der Stasi haben wir damit komplett gebrochen. Das war der Hinweis, die Stasi kann nicht mehr regieren, denn die Akten waren offengelegen, und das war auch eine ganz große Entscheidung für die Gesellschaft insgesamt. Ein Geheimdienst, der offen ist, von dem sie den Schleier des Geheimnisvollen wegreißen, steht nackt da. Hansjörg Geiger beim "Zeitzeugen"-Gespräch mit Stefan Detjen (Deutschlandradio / Tanja Bogdan) Detjen: Es wird ja heute wieder über die Zukunft dieser Akten und auch der Behörde gesprochen, die Akten sollen übergehen in den Bestand des Bundesarchives. Würden Sie sagen, man kann die heute behandeln als normale oder fast normale zeithistorische Dokumente? Geiger: Inzwischen sind 25 Jahre vergangen, und die Sondersituation, die wir 1990 hatten, als wir bei der Abwägung, ob der Einzelne seine Akten sehen darf, wo er möglicherweise auch Informationen über andere …, denn es war ja nicht nur über eine Person Akten, sondern in einer Akte zur Person A waren meist noch Informationen von den Personen B, C, D, E enthalten. Es war immer das Risiko, dass man, wenn man diese Akten öffnet und diese Akteneinsicht gewährt, dass man auch damit Geheimnisse über andere Personen doch mehr oder weniger preisgibt. Diese Sondersituation haben wir heute nicht mehr. Heute hatten die Leute 25 Jahre Zeit, die Akten einzusehen, und jetzt, meine ich, sollten die Akten tatsächlich als Sonderbestand zum Bundesarchiv kommen, und die Nutzung der Akten sollte im Wesentlichen auch nach den Regeln des Archivgesetzes unter bestimmten Besonderheiten dieses Aktengutes erfolgen. Ein großer Vorteil übrigens der Stasiakten, und das macht das Besondere aus: die Stasiunterlagen sind ja weitgehend komplett, und ich meine, man muss sie weiter komplett besehen, weil man nämlich als Zeithistoriker plötzlich über das Leben in der DDR Rückschlüsse ziehen kann. Wenn Sie in einer Stasiakte lesen, dann sehen Sie häufig unglaublich Banales, was die inoffiziellen Mitarbeiter berichten. Da wird über das geblümte Kaffeegeschirr und über die Kaffeedecke berichtet oder was die Leute anhatten oder wie die Wohnungseinrichtung war, was die Leute so allgemein geplaudert haben. Das heißt, über den eigentlichen Stasikontext hinaus sehen wir unglaublich viel oder können wir unglaublich herauslesen, wie war das Leben der DDR. Das Bundesamt für den Verfassungsschutz in Köln (picture alliance / dpa / Oliver Berg) "Es war für mich eine unglaublich positive Überraschung, als ich beim Bundesamt für Verfassungsschutz festgestellt habe, wie unglaublich rechtstaatlich orientiert die Mitarbeiter dieses Amtes waren." Eine kurze Station als Chef des Bundesverfassungsschutzes Detjen: 1995, Herr Geiger, nach fünf Jahren bei der Stasiunterlagenbehörde, gibt es dann einen beruflichen Wechsel. Der ist an sich nichts Besonderes, aber besonders ist dann, wohin diese Karriere führt: Sie haben sich jahrelang mit Hinterlassenschaften eines fürchterlichen Geheimdienstapparats beschäftigt, und dann werden Sie selber Geheimdienstchef, zunächst beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Was war das für eine Behörde? Geiger: Das war natürlich ein Riesenbruch, der mit meinem Leben überhaupt nicht bisher vereinbart war. Ich war jahrelang Datenschützer, und da sind die Sicherheitsbehörden eher quasi die, die auf der anderen Seite stehen, deren Datenfreude man eher etwas bekämpft und eingrenzt, und dann war ich jetzt bei der Stasiaktenbehörde und habe quasi einen Geheimdienst auch aufgelöst und sie bloßgestellt, und jetzt plötzlich bin ich selbst Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Das war schon für mich auch ein eigenartiger Bruch, aber einerseits war mir klar, ich will weiter Geiger sein, ich will die gleiche Person bleiben, rechtstaatlich agieren, und da kann ich sagen, das war für mich eine unglaublich positive Überraschung, als ich beim Bundesamt für Verfassungsschutz festgestellt habe, wie unglaublich rechtstaatlich orientiert die Mitarbeiter dieses Amtes waren. Ich war wirklich positiv überrascht. Ich habe das in dieser Weise nicht erwartet. Wie mir zum Teil auch Mitarbeiter gesagt haben, ja, aber Paragraf Sowieso des Gesetzes erlaubt das oder jenes nicht oder wir müssen das in einer bestimmten Weise machen. Das wundert einen vielleicht, das erwartet man nicht, aber so habe ich das also ganz stark empfunden und habe es die ganze Zeit auch gesehen. Übrigens in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch Folgendes interessant: damals war Bundesinnenminister Kanther, und Herr Kanther legte Wert darauf, dass wir uns einmal im Monat zu zweit in einem kleinen winzigen Raum treffen, und wir haben dann so ein zweistündiges Gespräch gehabt, bei dem ich über meine aktuellen Erfahrungen berichtet habe und auch über Aktionen, die ich vorhabe oder die das Haus vorhat, und zu meiner großen Überraschung war Kanther eher derjenige, der mich gebremst hat bei manchen Sachen, der eher gesagt hat, haben Sie das auch bedacht. Ich hatte eher gedacht, Kanther so eine … Detjen: Der hatte ja den Ruf des Hardliners und Law and Order ... Geiger: Das war der Ruf, und ich habe gemerkt, einen sehr nachdenklichen, mich eher bremsenden Menschen erlebt. Detjen: Als Verfassungsschutzchef hatten Sie damals dann Zugriff auf höchste Staatsgeheimnisse, jedenfalls auf sicherheitsrelevante Informationen. Wie war das, wenn Sie da zum ersten Mal den Tresor im Amtszimmer öffnen oder in den Giftschrank der Behörde gehen und da mal nachschauen, was gärt da eigentlich so in diesem Land? Geiger: Ja, vielleicht zwei Gesichtspunkte, einer auch zu Personen: der Verfassungsschutzchef erfährt ja auch, weil das Bundesamt für Verfassungsschutz auch für die Spionageabwehr zuständig ist, ob hochrangige Parteipolitiker möglicherweise in dem Verdacht stehen, für eine andere Macht zu arbeiten, und der Verfassungsschutzpräsident geht dann, wenn so ein Verdacht aufkommt, sehr schnell frühzeitig zum ehemaligen Parteivorsitzenden, um darüber zu berichten, um vielleicht auch gleich eine andere Einschätzung zu bekommen, einen Hinweis zu bekommen, was man noch im Positiven, im Negativen, eher im Positiven auch berücksichtigen sollte, wenn man diesen Verdacht weiter nachgeht. Das war für mich zum Beispiel schon auch interessant und ist ja auch eine Belastung, denn das waren ja meistens Leute, die ich schon längst aus den Medien gekannt haben, vielleicht auch persönlich gekannt habe, und dann auch zu sehen, wie reagieren dann die jeweiligen Parteivorsitzenden, wenn man mit so etwas kommt. Das war interessant, und was weiteres, was in meiner Zeit auch am Anfang gleich war: Es war 1995, das Jahr der vielen Demonstrationen und auch gewalttätigen Aktivitäten von Kurden, es gab Autobahnblockaden, es sind Polizeibeamte angegriffen worden, es sind türkische Geschäfte angezündet oder sonst beschädigt worden, und war die Frage, wie reagieren wir darauf, und ich habe dann in wenigen Wochen, dachte ich mir eigentlich, wir müssen mit dem Chef der Kurdenorganisation, der PKK, sprechen, mit Öcalan. Ich habe also bereits, nachdem ich drei Wochen im Dienst war, einen Abteilungsleiter zu Öcalan geschickt, der damals in Syrien lebte, und das Ergebnis war, dass dann tatsächlich wir Öcalan klargemacht haben. Detjen: Sie haben ihn getroffen dann. Geiger: Der Abteilungsleiter, und es war – war besprochen, was er sagt – ihm klargemacht worden, dass er die kurdische Gemeinschaft in Deutschland gefährdet, denn das wird dann härtere Polizeimaßnahmen geben müssen, das können wir so nicht akzeptieren, was hier in Deutschland geschieht, dass dann tatsächlich Ruhe eingekehrt ist. Das Siegel des Bundesnachrichtendienstes (picture alliance / dpa/ Michael Kappeler) "Der BND hat international ein viel besseres Renommee, als das so in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wird." Vom Versuch, den Auslandsgeheimdienst und den politischen Umgang mit ihm transparenter zu machen Detjen: Sie hatten damals einige Reformen angestoßen, aber dann nach kurzer Zeit – Sie haben das gerade auch angedeutet – schon wieder gewechselt nach einem knappen Jahr. Geiger: Ich wurde gewechselt. Detjen: Sie wurden gewechselt, in eine andere Position gerufen, nämlich dann Chef des Bundesnachrichtendienstes. Der war wegen der damaligen Plutoniumaffäre, da ging es um den Schmuggel von Plutonium mit Hilfe vom BND-Agenten von Moskau nach München, also dieser BND war ein Sanierungsfall eigentlich, oder? Geiger: Die Aufgabe, die man mir gestellt hat – weil man mir das Amt nicht angetragen, sondern übertragen hat, bin da eigentlich kaum gefragt worden –, war klar, ich sollte das Amt quasi von Ballast bereinigen, weitere Aufgabe war, dass man der Überzeugung war, der BND brauche jetzt in der friedlichen Welt – man merkt den Zwiespalt der Welt –, es kann kleiner werden, es kann Geld gespart werden, man wusste ja auch, man braucht ein wenig Geld für andere Zwecke … Detjen: Fehleinschätzung? Geiger: Das war damals sicher, in der politischen Klasse, eine Fehleinschätzung, ein Fehleinschätzung, die der BND auch so nicht geteilt hat. Der Ballast war, dass der BND eigentlich noch sehr stark ausgerichtet war auf den ehemaligen Ostblock. Das waren die großen Fähigkeiten des BND, das waren auch seine gewünschten, zu erledigenden Aufgaben in der westlichen Staatengemeinschaft, dass er den Blick auf die Sowjetunion, auf dann Russland eben hält, und es war klar, dass die Welt sich aber verändert hat, dass es nicht mehr wichtig ist, zu wissen, ob mit 21 einer hinter dem Ural, Oberstleutnant Popov sitzt, sondern es ging jetzt plötzlich um ganz neue Aufgaben. Es ging darum, internationalen Terrorismus verstärkt zu beobachten, es ging aber auch darum, Proliferation als neues Thema zu erkennen. Das war ja … vorher gab es die Proliferation ja eigentlich kaum, denn die Sowjetunion hat verhindert, dass in ihrem Machtbereich und auch die, die ihr nahestanden, eben keine Atomwaffen gelangen. Die Amerikaner haben genau das gleiche gesorgt, auch der westlichen Gemeinschaft. Jetzt war plötzlich die Welt anders, jetzt waren viele Spieler plötzlich auf dem Markt, die man beobachten musste, was daraus kommt, oder was mir zum Beispiel sehr deutlich war, was wir beobachten müssen, ist, wie entwickeln sich die Bevölkerungen, wo gibt es möglicherweise Wasserprobleme, wo wird es Fluchtbewegungen geben. Ich erinnere mich sehr gut, wenn ich in den Jahren als ich BND-Chef war, wo man also intensive Gespräche auch mit den westlichen Chefs der Nachrichtendienste hatte, ich häufig gesagt habe, irgendwann wird aus Afrika eine unglaubliche Bevölkerungs- und Migrationsbewegung kommen. Der Kontinent wächst personell sehr stark, aber die Ressourcen und die Organisationsfähigkeit wachsen nicht im gleichen Maße, das heißt, wir müssen uns darauf einstellen müssen, wir müssen dafür etwas tun. Detjen: Hatten Sie das Gefühl, dass das gehört wird? Geiger: Da hatte ich das Gefühl, dass man quasi wenn schon nicht mit den Augen geblinkert hat, aber doch gedacht hat, na ja, der Neue, der jetzt die Welt erklärt. Man hat es eigentlich nicht hören wollen, auch wenn ich im politischen Bonn damals noch darauf hingewiesen habe, war das irgendwie eigentlich ein bisschen von einer fernen Welt. Detjen: Braucht man dafür Geheimdienste, um solche Erkenntnisse zu gewinnen und weiterzugeben? Geiger: Es gibt Erkenntnisse, die eigentlich auf der Hand liegen, wenn man sie sehen will. Offensichtlich sind manche Organisationen, die es eigentlich machen könnten, nicht in der Lage, zu sehen, und die Geheimdienste braucht man dann, um das, was man vielleicht, dass sich als Entwicklung abzeichnet, auch tatsächlich bestätigt zu haben. Man muss eins wissen: es gibt viele Dinge, Entwicklungen in Staaten, diese Staaten nicht unbedingt auf dem offenen Markt haben wollen und die auch ihre Absichten, die vielleicht in jeder Richtung geht es nicht gleich um kriegerische Absichten, die sie verheimlichen wollen, und da ist es wichtig, dass Nachrichtendienste Informationen bekommen, ist die Entwicklung, die wir vermuten, sind die Absichten, die wir vermuten, sind die tatsächlich wahr oder ist das eine Fehleinschätzung. Dafür braucht man Zugänge zu nichtöffentlichen Stellen und Quellen. Detjen: Und das heißt dann auch klassische geheimdienstliche Arbeit, zum Beispiel Abhören – da gab es dann auch in Ihrer Amtszeit Auseinandersetzungen bis hin vor dem Bundesverfassungsgericht. Da wurde in Deutschland elaboriert gestritten, aber es war allen eigentlich eines klar: In diesem internationalen Geheimdienstgeschäft, in dem man sich bewegt, sind die Deutschen überhaupt nicht satisfaktionsfähig, alle anderen, die Briten, die Amerikaner, die Israelis, die machen da so viel mehr, die können da so viel mehr, die Deutschen sind da eigentlich klein, schwach, unzulänglich. War das auch Ihr Lebensgefühl? Geiger: Das war schon klar, dass BND eine technische Führungsrolle, die er vielleicht noch in den 60er-, 70er-Jahren hatte, weil die Telekommunikationsindustrie – damals hieß es noch Telefonindustrie – in Deutschland ja eigentlich fast ihre Ursprünge hat und damit das Know-how auch bei deutschen Firmen sehr groß war, automatisch bedingt das auch Fähigkeiten der entsprechenden Nachrichtendienste. Die Entwicklung ist aus finanziellen Gründen beim BND so nicht nachvollzogen worden. Das wissen wir heute, lesen das auch, das ist kein Geheimnis, dass es so ist. Was ich da als generelles Problem heute manchmal sehe bei manchen Dingen, dass wir auf der einen Seite eine Öffentlichkeit haben und politische Öffentlichkeit, die bestimmte Leistungen der Nachrichtendienste erwartet und dass einfach bestimmte Dinge erkannt werden, rechtzeitig Risiken erkannt werden, aber man gleichzeitig ungern über die Möglichkeiten spricht, die man dann den Nachrichtendiensten geben muss. Das fällt manchmal etwas auseinander. Nachrichtendienste müssen selbstverständlich rechtstaatlich arbeiten, brauchen Gesetze, und beispielsweise, meine ich, braucht BND für bestimmte Dinge, die wir erwarten, dass er sie tut, rechtstaatliche Gesetze, und es genügt nicht, wenn man sagt, also was der BND im Ausland macht, wenn er Auslandsnachrichtendienstverkehre überwacht, dann braucht es kein Gesetz, das wollen wir einfach nicht haben, da schauen wir nicht hin, aber wir erwarten bestimmte Informationen aus Afghanistan, ob da für die Bundeswehr jetzt eine Gefahr entsteht oder nicht. Da sehe ich einen Zwiespalt, der hat sich eher noch verschärft. Detjen: Darüber ist auch diskutiert worden, es hat auch wieder Änderungen am BND-Gesetz gegeben. Haben Sie das Gefühl, dieser Geheimdienst, so wie er jetzt aufgestellt ist, ist auch nach den vielen Diskussionen, die wir über Geheimdienst und geheimdienstliche Überwachung geführt haben, ist halbwegs so aufgestellt, dass er das, was man von ihm erwartet legitimerweise, dass er das leisten kann? Geiger: Der BND ist nicht schlecht aufgestellt. Der BND hat international ein viel besseres Renommee, als das so in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Das merkt man dann, wenn man mit den anderen Diensten spricht, wie sehr auch hochangesehene Nachrichtendienste an einer Kooperation mit dem BND interessiert sind. Also Gott sei Dank ist der BND – und das ist ja gut für unsere Sicherheit als Staatsbürger – doch durchaus erfolgreich effizient, aber er könnte noch effizienter werden, aber er braucht, wie gesagt noch mal, klare, eindeutige Gesetze. Wir brauchen eine offene Diskussion. Es ist ungut, wenn man sagt, das ist quasi so ein bisschen ein Bereich, den man ungern anfasst, da schauen wir lieber nicht hin. Wir erwarten einiges, aber wir sprechen nicht darüber, was dann nun genau geregelt und was genau getan werden soll. "Ja, übrigens das war mir wichtig, das war mir wichtig. Weil Sie mich vorhin gefragt haben, was sind denn eigentlich so die Konstanten meines Lebens: Transparenz war auch immer wichtig, Offenheit." Detjen: Ja, das wird Sie jetzt zumindest physisch erinnern, weil der BND jetzt unübersehbarer wird als je zuvor: Sie waren mal der Geheimdienstchef, glaube ich, der zum ersten Mal überhaupt ein Schild außen in Pullach gemacht hat, Bundesnachrichtendienst, das waren wahrscheinlich wusste es jeder, aber jeder konnte jetzt auch sozusagen schwarz auf weiß ... Geiger: Ja, übrigens das war mir wichtig, das war mir wichtig. Weil Sie mich vorhin gefragt haben, was sind denn eigentlich so die Konstanten meines Lebens: Transparenz war auch immer wichtig, Offenheit. Ich wollte, dass die Öffentlichkeit erfährt, und zum einen hier, wir stehen als Nachrichtendienst dazu, und gleichzeitig wollte ich auch ein Signal an die Mitarbeiter geben: wir verstecken uns nicht. Deswegen habe ich eigentlich am zweiten oder dritten Tag Schild zunächst provisorisch, dann nach zwei, drei Wochen, wie wir es jetzt im Fernsehen machen, ist sie beleuchtet angebracht worden. Ich wollte auch, dass die Mitarbeiter, wenn Sie zum Dienst fahren, sehen, wir verstecken uns nicht, wir sind eine rechtstaatlich arbeitende Behörde, wir haben Rechtsgrundlagen, und wir verstecken uns nicht. Ich habe dann ... Detjen: Fanden die das gut oder gab es da auch Widerstände? Geiger: Da gab es natürlich auch manche Widerstände. Das habe ich dann nachher erst gemerkt. Ich habe auch die Decknamen grundsätzlich mal abgeschafft, und weil ich gesagt habe, das musste man im Kalten Krieg haben, für Sondereinsätze ist das notwendig, aber es braucht nicht jeder einen zweiten Namen und ein Deckkennzeichen für sein Auto. Ich habe nachher gemerkt – hatte das natürlich diskutiert, und da gab es zunächst keinen Widerspruch auf Abteilungsleiterebene –, dass das den Beamten und Angestellten auf unterer Ebene durchaus von denen als Verlust empfunden worden ist, denn vielleicht hat der Nachbar, der Zahnarzt ein schöneres Haus und ein größeres Auto, aber er hat keinen Decknamen und kein Kennzeichen im Auto. Also ich habe … das hat mir niemand gesagt, ich habe das erst danach gemerkt, und nach meiner Zeit sind die Decknamen dann auch plötzlich wieder etwas verstärkt, offensichtlich wieder eingeführt worden. Detjen: Aber mit Verstecken ist beim BND jetzt gar nichts mehr – das ist das, was ich eben ansprechen wollte –, der BND zieht um aus Pullach in die Mitte Berlins, ein riesiger Gebäudekomplex nicht weit von dem Studio entfernt, in dem wir jetzt hier sitzen, eine Architektur, eine monotone Architektur, da kann man lange drüber streiten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – wenn ich da dran vorbeifahre, dann finde ich es nicht schön, den Geheimdienst da in dieser überraschenden Monumentalität mitten in der Stadt zu haben. Geiger: Das Witzige ist ja, auf der einen Seite sagen Sie völlig zu Recht, der BND ist unübersehbar, eigentlich müsste man das ja begrüßen, wenn er mitten in der Gesellschaft steht. Detjen: Man ist erstaunt da drüber, wie groß der ist, wenn man das da... Geiger: Aber mir geht es genauso: die Architektur ist zu monumental und zeigt eigentlich das Gegenteil von Transparenz, zeigt eigentlich eher einen Machtblock und verkörpert nicht unbedingt das, was man als transparente, offene Gesellschaft vertreten will. Es war wohl dem Grundstück geschuldet, auf dem ging eben nicht mehr, als nur in dieser sehr komponierten Bauweise zu errichten. Sie werden sich erinnern, dass ich, als ich beim BND angefangen hatte, wenige Monate danach ein "Spiegel"-Interview gegeben hatte, und in diesem Interview bereits gesagt habe, der BND gehört – ich sagte damals virtuell – nach Berlin. Das ist mir sofort um die Ohren geschlagen worden. Erstens haben die Leute nicht verstanden, was virtuell heißt – das war damals noch nicht in der Alltagssprache angekommen –, aber mir war jedenfalls klar, dass der BND vielleicht nicht in der Gesamtheit der Mitarbeiter, aber jedenfalls in einer wichtigen Komponente am Sitz der Bundesregierung sein muss, denn wenn der Steuerzahler schon viel Geld für seine Nachrichtendienste zahlt, dann sollen die Erkenntnisse auch unmittelbar in die Politik einfließen können, dort ankommen können, aber deswegen hätte es nicht nur ein paar hundert Meter von der Regierungszentrale entfernt liegen müssen. "Frau Däubler-Gmelin war eine unglaublich toughe, hochengagierte Person." (dpa / pa / Anspach) "Die Rechtspolitik ist nicht unbedingt ein Thema, mit dem sich Bundesregierungen glauben, besondere Marken verdienen zu können." Wieso die Justizpolitik stärkere und lautere Minister braucht Detjen: 1998, jetzt machen wir noch einmal einen Schritt in diesem Gespräch, mit dem Beginn der rot-grünen Koalition kommen Sie dann nach Berlin. Noch mal ein Wechsel, Sie werden Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Ministerin ist damals Herta Däubler-Gmelin, die etwas vorantreibt damals in dieser Zeit, was man heute gar nicht mehr so kennt, nämlich eine äußerst ambitionierte Rechtspolitik, fundamentale Reformen in der Justiz, in Recht sollen da durchgesetzt werden. Das war spektakulär, groß im politischen Willen und zuweilen auch groß im Scheitern. Geiger: Ja, Frau Däubler-Gmelin war eine unglaublich toughe, hochengagierte Person, ganz ohne Zweifel, eine unglaublich harte Arbeiterin mit enormen parlamentarischen Erfahrungen, mit einem starken Willen, mit klaren Vorstellungen. Wenn ich an die Zivilprozessreform denke, die Verfahren sollten beschleunigt werden unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten, die Bürger sollten schneller zu ihrem Recht kommen, also es sollte nicht Personal gespart werden, sollten schneller zu ihrem Recht kommen, waren ganz wichtige Ziele. Was ich dabei gemerkt habe, ist, dass es eben nicht genügt, beste Vorstellungen zu haben, sondern es auch darum geht, wie vermittle ich es den Betroffenen, und die Widerstände, die erweckt worden sind bei Teilen der Richterschaft, bei den Hochschullehrern, bei den Rechtsanwälten, die waren doch sehr stark, und das war nicht ganz einfach, dann zumindest wesentliche Elemente dieser Reform noch zu retten. Detjen: Fehlte es auch an Rückendeckung, namentlich beim Bundeskanzler Gerhard Schröder? Geiger: Die Rechtspolitik ist nicht unbedingt ein Thema, mit dem sich Bundesregierungen glauben, besondere Marken verdienen zu können, und wenn man beobachtet, dass es Widerstand gibt von wichtigen Teilen der Gesellschaft oder zumindest lautstarken Teilen der Gesellschaft, ist dann die Unterstützung vielleicht nicht ganz so groß. Man hat andererseits vielleicht auch erwartet, einfach, Schröder vielleicht auch erwartet, dass Däubler-Gmelin stark genug ist, diese Widerstände zu überwinden und den richtigen Weg zu finden, aber da war manches nicht ganz einfach. Frau Däubler-Gmelin – das hat man ja dann am Ende der vier Jahre gemerkt – hatte eben nicht die Unterstützung oder zum Teil auch gerade sogar richtig Gegnerschaft im Kabinett, die letztendlich dann dazu geführt hat, dass sie nach vier Jahren leider nicht mehr Ministerin bleiben konnte. Detjen: Andere rechtspolitische Reformen sind gelungen, zum Beispiel die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft für schwule und lesbische Paare, gar nicht so sehr aus dem Justizministerium nach meiner Beobachtung vorangetrieben, sondern ... Geiger: Doch, doch. Detjen: Nach meiner Beobachtung stark aus dem Bundestag, Volker Beck, Margot von Renesse. Aus dem Bundesjustizministerium, nach meiner Beobachtung, kamen auch stark die verfassungsrechtlichen Einwände. Geiger: Das war auch ein großes Anliegen von Däubler-Gmelin. Sie hat damit quasi den Staat die ersten großen Besprechungen hatten, wo wir die Vertreter der verschiedenen Schwulen- und Lesbenverbände eingeladen hatten, wo ich natürlich auch selbst erlebt hatte, das hatte Frau Däubler-Gmelin dann auch gerne mir überlassen, solche Sitzungen dann zu leiten, dass da Erwartungen zum Teil da waren, die eben rechtstaatlich oder auch politisch zu diesem Zeitpunkt – darum ging es ja auch, was durchsetzbar war – politisch eben noch nicht so durchsetzbar waren, aber … Detjen: Also die vollständige Gleichstellung. Geiger: Völlige Gleichstellung beispielsweise, die war damals politisch einfach schlicht nicht durchsetzbar, sondern es ging darum, das Maximum zum damaligen Zeitpunkt zu erreichen. Wir hatten Gott sei Dank starke Mitstreiter – Sie haben sie genannt: Volker Beck, Frau von Renesse –, starke Mitstreiter, denn ohne Parlament geht nun gar nichts. Das Parlament ist das ganz Entscheidende, ist der Gesetzgeber, aber auch da hat Däubler-Gmelin eben unglaublich stark gearbeitet, agiert und auch das menschlich Mögliche gemacht. Sie erinnern sich ja, dass ein hoher Vertreter der Bundesregierung mal gesagt hat, das Ministerium "Frauen und sonstiges Gedöns", also da ist bei manchen … Detjen: Gerhard Schröder war das. Geiger: … ist bei manchen Vertretern, oder anderen war da die Liebe für dieses Projekt nicht unbedingt sehr groß, also da hat Däubler-Gmelin sich schon auch mit ihrer Stärke allein im Kabinett durchgesetzt. Detjen: Sie kam ja auch aus einer Tradition, in der Rechtspolitik eine Bedeutung, die sie heute vielleicht nicht mehr hat, nämlich wirklich als ein zentrales Feld der Gesellschaftspolitik. Da standen viele Justizminister in der Geschichte der Bundesrepublik und Ministerinnen dafür – Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger –, kann Rechtspolitik das heute nicht mehr leisten oder hat sie aus anderen Gründen an Bedeutung verloren? Geiger: Rechtspolitik kommt heute in der Öffentlichkeit weniger an. Möglicherweise fehlt der Öffentlichkeit das Sensorium, auch der politischen Öffentlichkeit das Sensorium für den Bedarf einer Rechtspolitik und erkennt die Bedeutung der Rechtspolitik nicht an. Vielleicht liegt es auch daran, wenn ich auch in die Länder schaue, wir nicht mehr solche Persönlichkeiten als Justizminister hatten, wie wir es in den 70er-, 80er-, auch noch 90er-Jahren hatten, wo der jeweilige Justizminister quasi – in Anführungszeichen – das "Gewissen" des Kabinetts war. Wenn ein neues ethisches Problem aufgetreten ist, eine Frage, die vorher noch nicht schon gesetzt und geregelt war, dann war es eigentlich der Justizminister oder Justizministerin, von der man erwartet hat, dass sie mal eine Vorgabe macht, eine intellektuelle Vorgabe, einen Vorschlag macht. Diese Rolle haben die Justizminister – ich will jetzt bewusst Bund und Länder, also nicht auf einzelne Personen rekurrieren, ausweiten –, haben leider heute nicht mehr. Dass wir es nicht mehr haben, liegt vielleicht auch daran, dass man eben nicht unbedingt die Persönlichkeiten in manchen Ländern an die Stelle setzt, die diese Aufgabe in dieser Weise hätten erfüllen können. Also die Justizpolitik ist tatsächlich momentan nicht unbedingt etwas, was die Gesellschaft und Politik als etwas Vorrangiges ansieht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hansjörg Geiger im Gespräch mit Stephan Detjen
Nur wenige Menschen bekamen Einblicke wie er: Hans Jörg Geiger. Zuerst arbeitete er bei der Stasi-Unterlagenbehörde, danach als Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Seit seines Jurastudiums habe er innerlich gefühlt, dass man sich um Gerechtigkeit bemühen müsse, sagte er im DLF. Doch Justizpolitik werde in Deutschland nur wenig Beachtung geschenkt.
"2016-09-29T19:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:57:19.797000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ehemaliger-bnd-chef-hansjoerg-geiger-rechtspolitik-kommt-100.html
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Der Club, der Jugendlichen eine Perspektive gibt
Die Ringer von den Malmö Wrestling Tigers: Armando, Dan Flasch und Moussa (v.l.n.r.) (Deutschlandradio/Victoria Reith) Donnerstagabend, 18 Uhr, Sporthalle Rosengård: Training der Malmö Wrestling Tigers. 25 Jungs zwischen neun und 13 sind auf der Matte, in zwei Gruppen aufgeteilt. Rechts die Anfänger. Die robben paarweise übereinandergestapelt über den Boden. Ringen griechisch-römisch. Links die Besseren. Die Füße an der Wand müssen sie in den Liegestütz. Das ist hart. Die Gruppe habe nicht gespurt, erklärt Trainingschef Dan Flasch. Für den Mann mit der österreichischen Mutter ist Disziplin ein wichtiges Gebot. "Viele unserer Kinder kriegen von zu Hause nicht die Struktur mit" "Das Problem, das wir haben in diesem Gebiet Rosengård: Viele von den Kindern kriegen von zu Hause nicht die Struktur und wir helfen denen. Wir sind streng und zeigen, das machst du nicht und das darfst du machen." In einer der beiden Umkleidekabinen sitzt ein Mann auf dem Boden und betet gen Mekka. In der anderen sitzt der 15-jährige Armando Molin. Hier in Rosengård gibt es nicht viele Freizeitaktivitäten für junge Leute. Ein Jugendzentrum, Sportvereine, das war's dann auch schon. Deshalb setzt Armando ganz aufs Ringen. Er ist in Schweden geboren, seine Eltern sind polnische Roma. "Zuhause ist es super schön. Manchmal ist es ein bisschen schwierig. Aber beim Ringen fühle ich mich wohl. Mein zweites Zuhause." Schlägereien, Raub und sogar Schießereien sind in Rosengård an der Tagesordnung Um Jugendliche wie Armando für sich zu gewinnen, wird der Ringerclub selbst aktiv. "Das ist wichtig für uns, dass wir in die Schule gehen oder raus auf die Straße und sagen, komm' rein und trainier'. Das ist besser, hier drinnen zu trainieren, als dass sie auf der Straße Autos verbrennen. Wir haben ja viele Probleme hier." Schlägereien, Raub und sogar Schießereien - im Februar wurde ein 16-jähriger Schuljunge getötet, im März ein 23-Jähriger Mann. Meist sind es kleinere Streits, die aber schnell eskalieren. Es kommt immer mal wieder vor, dass auch Ringer nicht mehr zum Training erscheinen, weil sie sich Banden anschließen. Training bei den Malmö Wrestling Tigers. (deutschlandradio/Victoria Reith) Aber Dan Flasch und seine Trainerkollegen arbeiten daran, dass die Erfolge überwiegen. "Wir haben gerade ein Kind, das sehr viele Probleme in der Schule und alles hatte. Und er fängt in Landslaget" -"Nationalmannschaft" - "ja, in Schweden, zu trainieren. Er ist nur 15 Jahre und jeden Tag hier und trainiert. Und das ist richtig so einer, wenn er nicht hier wäre, dann wäre er 100-prozentig auf der Straße und vielleicht Narkotika oder Gangs und so. Jetzt trainiert er." "Als ich mit dem Ringen angefangen habe, habe ich begonnen über meine Zukunft nachzudenken" Der Junge, über den Dan Flasch spricht, ist Armando: "Ringen hat mich sehr stark verändert. Als ich angefangen habe mit Ringen, habe ich angefangen, über meine Zukunft nachzudenken, alles Mögliche. Vorher dachte ich, okay, scheiß' drauf. Jetzt trainiere ich hart und denke an die Zukunft und die Schule. Ich bin ein anderer Mensch." Wohl auch weil er weiß, dass sein Trainer durchgreift. Wer Ärger macht, spürt auch beim Ringen Konsequenzen, erklärt Dan Flasch. "Wir sagen immer, wenn wir sowas hören, wenn der Lehrer anruft und sagt, dass du in einer Schlägerei warst, dann darfst du nicht nächste Woche zum Wettbewerb. Wir wissen nicht nur, was hier drinnen passiert, sondern auch auf der Straße und in der Schule." Oft seien 35 bis 40 Kinder an einem Abend da. Heute werden einige der jungen Sportler von Eltern und Geschwistern begleitet, die am Rand sitzen und sich unterhalten. Die Älteren wie Armando kommen allein. Sie sind fast täglich hier, der Sport ist ihre ganz große Leidenschaft. "Rosengård ist der beste Bezirk" "Ringen ist all in. Gewinnen oder Verschwinden." Sein 16-Jähriger Kollege Moussa Fatah sieht es ähnlich. Außer Ringen hat er keine Hobbys, erzählt er. "Nur Ringen." Seinen Stadtteil Rosengård liebt er trotzdem. "Rosengård ist der beste Bezirk, den es in ganz Schweden gibt. Alle helfen einander, wenn irgendwas passiert. Wenn du einkaufen gehst - und alleine bist. Irgendeiner trägt dir immer die Einkaufstasche die Treppe hoch." Für den Trainingschef Dan Flasch ist es eine Genugtuung, wenn er sieht, dass seine Sportler zu verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen. Aber zufrieden ist er noch nicht. Sein Wunsch: mehr Engagement der Mitmenschen: "Ich liebe es, mit den Kindern zu arbeiten. Wenn ich sehe, dass es den Kindern gut geht, geht es mir auch gut. Wenn mehr Leute in Malmö helfen würden, würde es nicht so aussehen." Mehr Eigenverantwortung der Mitbürger - und mehr Geld von der Stadt für die Malmö Wrestling Tigers. Das wünscht sich der Trainingschef, damit er noch mehr Jugendlichen in Rosengård helfen kann.
Von Victoria Reith
In Rosengård, einem Stadtviertel in Malmö, der drittgrößten Stadt Schwedens, geht es nicht sonderlich idyllisch zu. Brennende Autos, Raub, Schießereien. Damit nicht noch mehr Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten, versucht ein Ringerclub, ihnen ein Alternativprogramm zu bieten.
"2017-11-18T19:40:00+01:00"
"2020-01-28T11:00:25.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ringen-in-schweden-der-club-der-jugendlichen-eine-100.html
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Das Ende der Riesen
Es geschah schnell und parallel zum Auftauchen des Menschen. Waren sie die Killer der Megafauna? Je mehr Details über das Leben dieser zeitlich nahen und doch so fremden Welt bekannt werden, umso schwerer fällt die Erklärung. In Los Angeles öffnet sich mitten in der Stadt ein Fenster in die Vergangenheit. Dort hat Dagmar Röhrlich Ausgrabungen begleitet und nach Antworten gesucht."Manuskript zur Sendung:"Das Ende der Riesen"Weiterführende Links:"Sendungen des Deutschlandradios: Ein Mammut-Projekt (Forschung aktuell, 15.01.10) Schöpfung, 2. Versuch, Teil 1 und Teil 2 (Wissenschaft im Brennpunkt, 31.12.09 und 01.01.10) Starke Wirkung (Forschung aktuell, 20.11.09) Wenn der Himmel herabfällt (Forschung aktuell, 24.05.07) Das Ende von Australiens großen Tieren (Forschung aktuell, 03.01.07)Links ins Netz: Page Museum, Los Angeles (auf Englisch) Projekt 23 (auf Englisch) Natural History Museum, Los Angeles: Das Zeitalter der Säugetiere (auf Englisch) Universität von Kalifornien, Berkeley: La Brea Teergruben (auf Englisch) Scientific American: Interview mit Ross MacPhee (auf Englisch)
Von Dagmar Röhrlich
Es ist gerade einmal 30.000 Jahre her, da zog über alle Kontinente Großwild: Mammuts, Mastodons, Riesenfaultiere. Es war eine Welt, wie wir sie heute nur noch aus Afrika kennen. Dann verschwand sie, aus Europa, Asien, Nord- und schließlich Südamerika.
"2010-12-05T16:30:00+01:00"
"2020-02-03T17:36:17.502000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-ende-der-riesen-100.html
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Portugal wehrt sich gegen Fangquote für Sardinen
Der Schutz der Fischer hat für die ehemals große Seefahrernation Portugal immer noch eine hohe symbolische Bedeutung. (imago/GlobalImagens) Auf einem 20 Meter langen Fischkutter vor der portugiesischen Küstenstadt Peniche ziehen Männer in Ölanzügen ein Netz ein. Kurz zuvor hatten die Fischer in der Abenddämmerung ein ringförmiges Netz in das kühle Atlantikwasser geworfen und wieder eingeholt. Jetzt blinken die ersten silbernen Sardinen im Scheinwerferlicht und die Crew holt mit einem großen Kescher die Fische an Bord. "Das sind mehr als 10 Tonnen Fisch," sagt der Kapitän und Bootsbesitzer Paulo Leitão. Doch er dürfe nur 3,7 Tonnen an Land bringen, deshalb schmeiße er nachher den Rest wieder über Bord. Die Fischer halten das Fangverbot für Sardinen für sinnlos Leitão ist seit 24 Jahren als Kapitän vor der portugiesischen Küste auf Fischfang. Der stämmige Mann mit dem kurzen angegrauten Backenbart ist der Überzeugung, dass die Sardinenbestände keine 15-jährige Ruhepause brauchen, um sich zu erholen: "Diese Idee ist doch sinnlos. Die Realität sieht hier ganz anders aus. Der Bestand ist in den letzten Jahren sogar leicht gestiegen. Natürlich haben wir noch nicht den Idealpunkt erreicht, aber wir sind auf einem guten Weg. Es ist bereits viel reguliert: Wir respektieren die biologische Uhr des Ozeans und wir haben die Fangquoten. Das reicht. Früher haben wir im Winter nur ein oder zwei Monate nicht gefangen. Jetzt sind es bereits vier bis fünf Monate, damit die Sardinen ihre Eier legen und die Jungtiere richtig heranwachsen können." Die Wissenschaftler des Internationalen Rats für Meeresforschung sehen das anders. Seit 2006, so das unabhängige Forschungsinstitut, sei der Bestand der Sardine vor der portugiesischen Küste drastisch zurückgegangen. Erst nach einer 15-jährigen Fangpause, so die Wissenschaftler, würde der Minimalbestand erreicht werden, um den Erhalt der Sardine in Südwesteuropa nachhaltig zu stärken. Der Sardinenfischer Paulo Leitão vermutet jedoch hinter dieser Empfehlung die Interessen anderer großer Fischereinationen: "Die Sardinenschwärme tauchen ja auch in französischen Gewässern oder vor der Südwestküste Englands auf. Selbst Russland ist mittlerweile stark im Geschäft. Und für diese großen Nationen wäre das ja ganz fantastisch, wenn wir Portugiesen und Spanier keine Sardinen mehr fischen dürften." Fischfang hat hohe symbolische Bedeutung Die Empfehlungen des internationalen Gremiums sind nicht rechtsbindend. In Portugal hat sich deshalb die Regierung beeilt, der Idee eines 15-jährigen Fangverbots schnell zu widersprechen. Die Fischerei und Fischindustrie machen nicht einmal ein Prozent der portugiesischen Wirtschaftsleistung aus und beschäftigen rund 25.000 Portugiesen. Doch der Schutz der Fischer, die für die ehemals große Seefahrernation Portugal immer noch eine hohe symbolische Bedeutung haben, ist den Regierenden in Lissabon scheinbar wichtiger als eine grundlegende Debatte um einen nachhaltigeren Umgang mit den Ressourcen des Meeres. Daher präsentieren die zuständigen portugiesischen Minister nach den jährlichen Verhandlungen in Brüssel eine Erhöhung der Fangquoten für Portugal als politischen Erfolg. Im vergangenen Herbst hat die EU die gesamte Fangquote für Portugal im Jahr 2017 um 11 Prozent auf 121.000 Tonnen Meerestiere erhöht. Trotz dieser Unterstützung seitens der Politik blicken viele Fischer mit großem Misstrauen nach Lissabon und Brüssel. Immer wieder erinnern sie daran, dass mit dem Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft in den 80er-Jahren ein großer Teil der Fischerboote eingestampft wurde. Um die größtenteils überalterte Flotte zu modernisieren, hatten Unternehmer damals Prämien erhalten für jedes Boot, das sie aus dem Verkehr zogen. Viele Fischer machen noch heute sowohl die EU als auch die portugiesischen Politiker verantwortlich für den Niedergang der ehemals großen Fischergemeinden entlang der portugiesischen Küste. Auf seinem Kutter im Atlantik malt Paulo Leitão deshalb ein düsteres Bild, wenn er an die Folgen eines möglichen Fangverbots für Sardinen denkt. Denn andere Fischarten an der portugiesischen Küste wie die Bastardmakrele würden zu wesentlich geringeren Preisen verkauft werden: "Wir Unternehmer müssten unsere Boote verkaufen und die Firmen schließen. Und die Besatzung säße auf der Straße. Und viele würden wahrscheinlich auswandern, denn keiner glaubt hier daran, dass die Fischer 15 Jahre lang vom Staat unterstützt würden, bis sie wieder Sardinen fangen können. Nein, das wäre das Ende der Fischerei hier in Peniche."
Von Tilo Wagner
Der Bestand der Sardinen vor der portugiesischen Küste ist derart eingebrochen, dass der Internationale Rat für Meeresforschung ein 15-jähriges Fangverbot empfiehlt. Doch in Portugal hat der Sardinenfang eine lange Tradition.
"2017-08-07T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:39.881000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fischerei-portugal-wehrt-sich-gegen-fangquote-fuer-sardinen-100.html
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"Legale Wege nach Europa eröffnen"
Der FDP-Politiker und Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff. (Imago / Müller-Stauffenberg) Lambsdorff sagte weiter, die illegale Zuwanderung schaffe die Grausamkeit, wie sie Bootsflüchtlinge derzeit erlebten. Zu den jüngsten Fällen, in denen Schleuser die Migranten auf einem führerlosen Schiff Richtung Europa schickten, sagte er: "Ob das grausamer ist, als seeuntüchtige Nussschalen loszuschicken, das weiß ich nicht." Er halte es auch für verfehlt, Abstufungen der Grausamkeit vorzunehmen. Die EU müsse bei den Ursprungsländern ansetzen. "Die meisten Menschen wollen zuhause ihr Glück suchen." Die Umstände zum Beispiel in Syrien oder Eritrea machten das aber nicht möglich. Deshalb müsse mit den Staaten gesprochen werde, wie dort Perspektiven geschaffen werden könnten. Zudem seien auch die Transitländer in der Pflicht. Schon dort müsse man klar gegen Schleuser vorgehen. Die EU brauche zudem ein gemeinsames Zuwanderungsgesetz, um legale Wege nach Europa zu eröffnen. Lambsdorff kritisierte, derzeit würden Zuwanderungs-, Flüchtlings,- und Asyldebatte in einer Art und Weise vermischt, sodass alles in einen Topf geworfen werde. So werde zum Beispiel die Diskussion um Binnenmigration in Europa mit der Flüchtlingsdiskussion zusammengeworfen. "Dann muss man sich nicht wundern, wenn so etwas wie Pegida entsteht." Sandra Schulz: Von einem neuen Grat der Grausamkeit war bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Ende der Woche die Rede. Es geht um eine offenbar neue Strategie der Schlepper, mit den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer nach Europa wollen, Geld zu verdienen. In der vergangenen Woche hatte die italienische Küstenwache gleich zwei annähernd schrottreife Frachter in Sicherheit bringen müssen, die auf Kollisionskurs mit der italienischen Küste waren, manövrierunfähig, von der Crew verlassen und mit mehreren hundert Flüchtlingen an Bord. Wie reagiert Europa auf diese neue Form der Skrupellosigkeit? Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, für die FDP im Auswärtigen Ausschuss. Guten Morgen. Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Schulz. Schulz: Was will die Festung Europa tun, damit das Geschäft der Schlepper nicht länger ein Geschäftsmodell bleibt? Graf Lambsdorff: Ich will zuerst einmal sagen, dass ich nicht erkennen kann, dass das hier ein neuer Grat der Grausamkeit sein soll. Wir sehen jetzt, dass in der Tat die Schlepperbanden große Frachter mobilisieren, aber ob das grausamer ist, als seeuntüchtige Nussschalen loszuschicken, wo wir ja auch schon viele, viele Todesopfer zu beklagen gehabt haben, das weiß ich nicht. Ich halte es auch für, ehrlich gesagt, verfehlt, sozusagen Abstufungen der Grausamkeit hier vorzunehmen. Was tatsächlich passiert ist ja, dass der Migrationsdruck auf Europa weiter sehr groß ist, dass wir nach wie vor keine Gesamtschau haben, dass wir kein Gesamtkonzept haben und dass hier sowohl die Europäische Kommission gefordert ist, also Jean-Claude Juncker und der Kommissar Avramopoulos, aber auch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich endlich zusammensetzen müssen, um ein Gesamtkonzept zu entwerfen, das Ursprungsländer, Transitländer und Zielländer gemeinsam in den Blick nimmt. "Müssen in den Heimatländern Perspektiven schaffen" Schulz: Und was soll in dem Konzept drinstehen, damit diese Geschäfte künftig keine Geschäfte mehr bleiben? Graf Lambsdorff: Um bei den Ursprungsländern anzusetzen, hier geht es darum, eines zu erkennen - und das, glaube ich, ist auch vor dem Hintergrund dieser Pegida, Kögida, und anderen Demonstrationen wichtig zu wissen -, die meisten Menschen wollen zuhause sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten, sie wollen zuhause ihr Glück suchen. Aber die Länder, aus denen diese Menschen fliehen, Syrien, der Irak, der Terror des IS treibt ja viele dieser Menschen auf diese Schiffe, macht das nicht möglich. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir mit den Ursprungsländern wie zum Beispiel Eritrea, wie zum Beispiel afrikanischen Ländern darüber reden, wie sie Perspektiven zuhause schaffen können.Das zweite Thema sind die Transitländer. Die beiden Frachter, über die wir hier reden, sind ja nicht etwa aus Libyen gekommen, aus einem Failed State, wenn man so will, sondern die haben in der Türkei abgelegt. Auch bei den Transitländern muss man ganz klar sagen, hier ist Hilfe erforderlich. Hier brauchen wir klares Vorgehen gegen diese Schleuserbanden schon vor Ort, schon in den Transitländern.Und dann die Zielländer - das betrifft Deutschland, das betrifft Italien, das betrifft andere. Wir müssen uns ernsthafte Gedanken darüber machen, wie wir die Zuwanderung sinnvoll steuern mit einem Zuwanderungsgesetz, wie wir legale Wege nach Europa und nach Deutschland eröffnen, damit den Schleuserbanden das Geschäft gelegt wird. Denn illegal, so wie es jetzt läuft, das führt tatsächlich zur Grausamkeit, die eingangs beschrieben worden ist. "Bei der Debatte wird alles in einen Topf geworfen" Schulz: Aber wenn das alles überhaupt möglich ist, was Sie sagen, das in den Herkunftsländern auch zu begrenzen, mal abgesehen davon, dass Syrien, Irak, die Region alle so schnell nicht zu befrieden sein werden, warum ist nicht schon längst etwas passiert? Graf Lambsdorff: Das hat seinen Grund darin, dass die Zuwanderungsdebatte, die Flüchtlingsdebatte, die Asyldebatte auch bei uns in Deutschland in einer Art und Weise vermischt werden, die dazu führt, dass man keine sinnvollen Konzepte entwirft, sondern alles in einen Topf geworfen wird. Ob das jetzt eine Innenmigration in der Europäischen Union ist - wir haben die Roma- und Sinti-Zuwanderung in einige Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und auch in anderen Bundesländern gesehen. Das wird dann zusammengeworfen mit der Flüchtlingsdiskussion. Ich halte das für falsch. Insbesondere die CSU tut sich da hervor, aber auch die AfD. Hier wird alles zusammengeworfen und dann muss man sich nicht wundern, wenn so etwas wie Pegida entsteht, eine wirklich intolerante Bewegung, die von der Angst getrieben ist. Aber Angst ist keine Weltanschauung, sondern was wir brauchen, ist in der Tat ein Zuwanderungsgesetz für Deutschland, das klarmacht, wir brauchen Zuwanderung, uns werden Fachkräfte fehlen, wir brauchen auch Wirtschaftsflüchtlinge. Die Unterscheidung, die hier gemacht wird zwischen reinen Asylbewerbern und Wirtschaftsflüchtlingen, hält ja einer Überprüfung überhaupt nicht Stand. Indem alles durcheinandergeworfen wird, wird es unmöglich, ein vernünftiges Konzept zu entwerfen, mit dem man die Zuwanderung regeln kann. Schulz: Jetzt möchte ich aber noch mal verstehen, dass wir Dinge durcheinanderwerfen, was Europa tun soll. Mare Nostrum - das war eine Rettungsmission, die allein Italien finanziert hat. Die ist im Herbst ausgelaufen. Muss die jetzt erneuert werden? Graf Lambsdorff: Mare Nostrum ist ausgelaufen, durch Triton ersetzt worden, eine europäische Mission von Frontex, einer Agentur, die hauptsächlich von den Mitgliedsstaaten getragen wird. Triton hat einen viel kleineren Radius. Aber die italienische Küstenwache operiert ja weiterhin weit jenseits dieses Radius. Ob man Mare Nostrum jetzt formell noch einmal auflegen soll, oder ob man, sagen wir mal, zufrieden sein soll mit dem, was die italienische Küstenwache faktisch tut, das halte ich für eine eher theoretische Diskussion. Die beiden Frachter, die jetzt aufgebracht worden sind und nach Italien geschleppt worden sind, sind 80 Seemeilen vor der italienischen Küste aufgebracht worden. Das ist weit jenseits des Radius, in dem die Küstenwache üblicherweise operiert. Das ist weit jenseits der 30 Seemeilen, die Triton hat. Mit anderen Worten: Ob man Mare Nostrum noch einmal auflegt, ist in meinen Augen weniger entscheidend als die Frage, retten wir diese Leute von diesen Booten mit pragmatischen Maßnahmen, so wie die Italiener das im Moment tun. "Mitgliedstaaten weigern sich, die Sache gemeinsam anzugehen" Schulz: Das sollen die aber dann, so verstehe ich Sie richtig, auch schön weiter alleine machen und auf eigene Faust? Da muss Europa sich nicht positionieren? Graf Lambsdorff: Nein, Frau Schulz. Ich bitte, hier nicht missverstanden zu werden. Natürlich wäre es mir genauso wie den meisten Liberalen im Europäischen Parlament am liebsten, wenn wir eine starke europäische Agentur hätten, Frontex, die von der Kommission aus gesteuert und überwacht wird, wenn wir das gemeinsam mit europäischen Mitteln schaffen würden. Das wäre Teil dieses Gesamtkonzepts. Aber die Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, weigern sich ja, diese Sache gemeinsam europäisch ernsthaft anzugehen. Deswegen ist ja dieser Rückzug der Italiener aus Mare Nostrum erfolgt. Deswegen ist ja mit Triton eine viel zu kleine Mission aufgelegt worden. Die Mittel reichen nicht, die Schiffe reichen nicht, die Zahl der Hubschrauber reicht nicht. Was die Mitgliedsstaaten hier tun ist eindeutig nicht ausreichend. Aber die Realität ist ja so, dass wir nicht über, ich sage mal, Operationen und Namen für Operationen reden sollten, sondern schauen sollten, werden die Menschen auf diesen Schiffen tatsächlich gerettet, und ich stelle fest, die italienische Küstenwache tut das im Moment, und sie hat natürlich recht, wenn sie die italienische Regierung dann dazu auffordert, in Europa, um mehr Hilfe nachzusuchen. Aber die Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, weigern sich da nach wie vor. Schulz: Ein Journalistenkollege in Brüssel hat ausgerechnet, dass die EU mehr Geld in ihren Haushalt einstellt für die Flüchtlingsabwehr und für die Grenzsicherung, inklusive auch den Ankauf von Stacheldraht, als Mittel für die Integration von Flüchtlingen. Stimmen da die Verhältnisse? Graf Lambsdorff: Ja, das ist eine Aufstellung, die ein bisschen hinkt, um das mal so zu sagen. Die Integration von Flüchtlingen - und das wird Ihnen jeder Kommunalpolitiker bestätigen können - findet vor Ort statt. Die findet in Dortmund statt, die findet in München statt, die findet in Mannheim statt. Aber das ist nicht Aufgabe Brüssels. Das heißt, hier müsste man, wenn man einen ehrlichen Vergleich machen wollte, schauen, wie viel Geld wird denn aufgewandt vor Ort für die Integration von Flüchtlingen, was passiert bei der Beschulung von Kindern, die kommen, was passiert bei der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitspolitik vor Ort. Da wäre man, wenn man die Mittel nebeneinanderstellt, relativ schnell bei dem Ergebnis, dass insgesamt Europa und die Mitgliedsstaaten mehr für die Integration ausgeben als für die Abwehr. Nur auch das ist wieder punktuell, auch das ist wieder nicht Teil eines Gesamtkonzepts, auch das ist wieder nicht Teil einer Zuwanderungspolitik in unserem eigenen Interesse. Denn eines ist ja klar: Wir brauchen Zuwanderung. Deutschland braucht Zuwanderung. Wir haben einen Fachkräftemangel, der ist absehbar. Und Europa braucht genauso Zuwanderung, denn das, was für Deutschland gilt, das gilt für andere europäische Länder auch. Wir werden qualifizierte Menschen brauchen. Wir brauchen junge Leute, die bei uns mit anpacken wollen und hier ihr Leben aufbauen wollen. Deswegen ist die ganze negative angstgetriebene Debatte, gerade auch die Pegida-Debatte so unglücklich für uns. Schulz: Der Europaparlamentarier Alexander Graf Lambsdorff heute hier in den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk. Danke Ihnen. Graf Lambsdorff: Danke auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Sandra Schulz
Sowohl die Europäische Kommission als auch die Mitgliedsstaaten müssten endlich gemeinsam ein Konzept entwickeln, um Zuwanderung sinnvoll zu steuern, sagte der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff im DLF. Das müsse Ursprungsländer, Transitländer und Zielländer in den Blick nehmen.
"2015-01-05T08:10:00+01:00"
"2020-01-30T12:15:28.101000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-fluechtlingspolitik-legale-wege-nach-europa-eroeffnen-100.html
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Wie die NPD in den Bundestag kam
Der NPD-Vertreter hat Zugang hat zu allen Ressourcen des Bundestages. (picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich) Das Gebäude mit der Hausnummer 32 bis 34 in der Luisenstraße in Berlin ist ein massiger, grauer, klassizistischer Altbau mit rotem Ziegeldach. Je zwei Säulen links und rechts flankieren die schwere eiserne Eingangstür. Streng schauen die Figuren von der Fassade des ehemaligen kaiserlichen Patentamtes herab. Ebenso streng blicken die Kameras, denn heute beherbergt das Haus mit seinem Anbau Bundestagsbüros und Konferenzräume. Und hier sollen auch jene 17 deutschen Europaabgeordneten, deren Parteien nicht im Bundestag vertreten sind, bald ein Plätzchen finden, wenn sie nicht in Straßburg oder Brüssel sind, sondern in Berlin zu tun haben. Noch sind die sechs Büros nicht ganz fertig. Im Herbst, wenn das Europaparlament seine Arbeit wieder aufnimmt, werden sie es sein. "Ich denke, das ist schon wichtig für uns." Sagt Georg Pazderski, einer der beiden Geschäftsführer in der Bundesgeschäftsstelle der Alternative für Deutschland. "Wir müssen ja sehen, dass das auch ein Recht in der Vergangenheit war. Und die Frage stellt sich natürlich, warum sollte eine neue Partei das Recht nicht genau so genießen wie die Altparteien." Denn deren Europaabgeordnete können Büros in der jeweiligen Bundestagsfraktion nutzen. Doch nicht alle Splitter-Parteien, die ohne die Dreiprozenthürde den Sprung ins Europaparlament geschafft haben, sind gleich gerne in den Räumlichkeiten des Bundestages gesehen. Denn neben FDP, ÖDP, Familienpartei, die Partei, Piraten, die Partei Mensch Umwelt und Tierschutz, die Freien Wähler und AfD ist auch die rechtsextreme NPD ins Europaparlament eingezogen. Auch ihr Abgeordneter kann zukünftig einen Arbeitsplatz im Bundestag nutzen. Den Fahrdienst ebenso wie den wissenschaftlichen Dienst. "Naja, das man sich mit der NPD politisch auseinandersetzen muss, das haben wir als Linke immer vertreten." NPD-Vertreter hat Zugang hat zu allen Ressourcen des Bundestages Sagt Petra Sitte, die in ihrer Funktion als Parlamentarische Geschäftsführerin auch Mitglied des Ältestenrates ist. Dieses Gremium, dem der Bundestagspräsident vorsitzt, entscheidet über Geschäftsordnungsfragen. Und somit auch über die, wo denn die neuen EU-Parlamentarier unterkommen. "Insofern war das eine Überlegung mit, dass es eine ziemlich gruselige Vorstellung ist, dass der NPD-Vertreter auch Zugang hat zu allen Ressourcen des Bundestages." Dennoch habe es keine Zweifel daran gegeben, dass die Rechte, die die EU-Abgeordneten in der Vergangenheit hatten, auch weiterhin würden gelten müssen. Ohnehin hätte der Ältestenrat über diese Frage nicht alleine entscheiden können. Hätte man die zuständigen Gesetze verändern wollen, hätte es dafür ein ganz normales Gesetzgebungsverfahren im Bundestag gebraucht. Mit ganz normaler Mehrheitsentscheidung. „Insofern ist dieser Punkt für viele von uns ein Problem gewesen. Aber es ist auch eine Frage des Verfassungsstaates, sich an der Stelle auch auseinanderzusetzen damit, dass man vor dem Hintergrund dieser Wahlentscheidung, die die Wählerinnen und Wähler getroffen haben, auch vernünftig umgehen muss. Und da keine Einzelentscheidung treffen kann." Denn hätte die NPD, die ja nicht verboten ist, vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, sagt Petra Sitte, hätte sie Recht bekommen. "Ich weiß, dass es Diskussionen gegeben hat, die wir natürlich verfolgt haben. Es wäre sicherlich falsch gewesen, eine Lex NPD zu schaffen und darunter alle anderen Parteien leiden zu lassen." Stellt Georg Pazderski von der AfD fest. Es gilt: Ganz oder gar nicht. Gleiches Recht für alle 96 deutschen EU-Abgeordneten. Und so wird auch die NPD bald eine Adresse im Deutschen Bundestag nutzen können. Der Bundesadler wird allerdings auch weiterhin kein Schriftstück der Partei zieren dürfen. Denn in den "Grundsätzen zur Verwendung des Bundesadlers" heißt es dazu ganz eindeutig: "1. Die Verwendung des Bundesadlers in Briefen ist den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Fraktionen erlaubt. Nicht zulässig ist das Führen des Bundesadlers durch die Parteien. 2. Die Verwendung des Bundesadlers ist demnach nur solchen Personen und Institutionen erlaubt, die Mitglieder oder Untergliederungen des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag sind und als solche parlamentarische Funktionen ausüben." Nur Gäste im Bundestag Und die Europaabgeordneten sind, auch das ist ganz klar geregelt: Nur Gäste im Bundestag. Bleibt nur zu klären, wer von den 17 sitzt zukünftig bei wem in den momentan sechs Büros: "Ja, ich hoffe doch, dass es dieses Problem nicht geben wird und wir nicht beim Herrn Voigt sitzen. Aber auf der anderen Seite ist es nun mal so, dass es darum geht, dass man seine Arbeit machen kann. Ich halte das eigentlich für ´ne unwahrscheinliche Möglichkeit, dass man mit Herrn Voigt in einem Büro sitzen wird." "Da ´ne Raumzuweisung statisch zu machen, das geht vielleicht an den ganz praktischen Dingen des Lebens vorbei." Heißt nach jetzigem Stand: Wer einen Platz braucht, schaut, wo gerade einer frei ist. Mit allen Chancen und Risiken: "Mir würde selbstverständlich die Klinke aus der Hand fallen, wenn ich die Tür öffne und dort Herrn Voigt sitzen sehe, dann würde ich auch einen anderen Raum wählen." Überlegt Petra Sitte. Zum Glück hat sie als Bundestagsabgeordnete ihr eigenes Büro. Dennoch: Ist diese Vorstellung Grund genug, vielleicht zukünftig die Privilegien der Europaabgeordneten doch noch einmal auf den Prüfstand zu stellen? "Also langfristig kann man tatsächlich überlegen auf der Basis einer entsprechenden Analyse, welche einzelnen Dienstleistungen Abgeordnete in Anspruch nehmen. Und wenn sich herausstellt, dass bestimmte Leistungen gar nicht abgerufen werden, kann man langfristig darüber reden, ob man die überhaupt noch anbieten muss. Aber aktuell hat das keine Rolle gespielt in der konkreten Beschlussfassung."
Von Stefan Maas
Auch die rechtsextreme NPD ist ins Europaparlament eingezogen. Auch ihr Abgeordneter kann zukünftig einen Arbeitsplatz im Bundestag nutzen - den Fahrdienst ebenso wie den wissenschaftlichen Dienst.
"2014-07-24T19:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:54:33.117000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaabgeordnete-wie-die-npd-in-den-bundestag-kam-100.html
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Spionage mit Tradition
Die Reaktion des US-amerikanischen Präsidenten kam schneller als erwartet. Etwa 24 Stunden nachdem die Einzelheiten über das weltweite Datensammlungsprogramm der NSA und des Abhörens der EU-Vertretungen bekannt geworden waren, versuchte Obama, die Abhöraffäre herunterzuspielen und versprach gleichzeitig Aufklärung. "Auch in europäischen Hauptstädten gibt es Leute, die wissen wollen, was auf meiner Agenda steht, bevor ich mich mit ihren Politikern treffe. So arbeiten Geheimdienste nun mal. Ich weiß nicht, was genau in diesen Artikeln steht, aber sowohl die NSA als auch meine Leute im Weißen Haus werden das genau analysieren. Sobald wir Antworten haben, werden wir alle Antworten geben, die die Europäer haben wollen. Aber glauben sie mir, ich bin der Endverbraucher dieser Art von Information. Und wenn ich wissen will, was Bundeskanzlerin Merkel denkt, dann rufe ich sie einfach an."Die Europäer seien die engsten Verbündeten der USA und man teile mit ihnen geheimdienstliche Informationen. Auch Außenminister Kerry erklärte, Informationen zu sammeln, sei nichts Ungewöhnliches. "Jedes Land auf dieser Welt, das internationale Beziehungen pflegt und seine nationale Sicherheit schützt, unternimmt eine Menge, um seine Sicherheit zu schützen. Und jede Art von Information trägt dazu bei, und das machen viele Nationen."Wenig Schuldbewusstsein auf amerikanischer Seite also. Daran werden wohl auch die aktuellen Gespräche des deutschen Innenministers Hans-Peter Friedrich in Washington nichts ändern. Mit Blick auf das künftige Europäisch-Amerikanische Verhältnis meint der Sicherheitsspezialist der Washington Post, David Ignatius, die Snowden-Enthüllungen würden noch nachwirken."Aber ich denke, man muss unterscheiden zwischen den breiten Überwachungsprogrammen, dem Sammeln von Metadaten, mit denen man die Nadel im globalen Heuhaufen sucht, mit denen man nach Terroristen sucht, die Deutsche und Amerikaner gefährden, auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite das Abhören von Botschaften der EU und anderer Länder. Darin kann ich keinen Gewinn an Sicherheit sehen."Doch an den Ergebnissen der amerikanischen Anti-Terror-Fahndung, so Ignatius weiter, würden auch europäische Sicherheitsbehörden beteiligt. So sei es zum Beispiel gelungen, Anfang 2011 mehrere Al-Kaida-Anschläge in Europa zu verhindern – mit Informationen aus den US-Überwachungsprogrammen. Der stellvertretende Direktor des Brent-Scowcroft-Centers für internationale Sicherheit in Washington D.C., Jeff Lightfood, meint ebenfalls: Man müsse zwischen der Datensammlung und dem Ausspionieren der Botschaften unterscheiden - das Letztere hält er für kontraproduktiv. Dennoch: "Spione sind nun mal Spione. Und ihr Auftrag ist es, Informationen zu sammeln. Und wenn sie keine dezidierten politischen Anweisungen erhalten, werden sie jeden so gut ausspionieren, wie sie es können. Was wirklich interessant wäre, das wäre zu wissen, in welchem Maße die obersten politischen Entscheidungsträger in den USA Bescheid wussten, was da im Einzelnen vorgeht. Es war allerdings auch interessant, die Wut des französischen Präsidenten Hollande zu sehen, wo doch jeder hier in Washington weiß, dass gerade die Franzosen sehr aggressiv andere ausspionieren. Hier sieht wohl jeder ein wenig heuchlerisch aus."Die meisten amerikanischen Experten, mit denen man in Washington sprechen kann, halten es für naiv, anzunehmen, dass die USA sich in ihrer weltweiten Sammlung von Internetdaten in irgendeiner Form selbst einschränken würden. Das Internet sei nun einmal auch ein Tummelplatz und ein Kommunikationsmittel von Extremisten und Terroristen. Mit dem Nutzen der Spionage argumentiert auch Sebastian Graefe, er ist bei der Niederlassung der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. "Die Fassungslosigkeit in Deutschland über die Spionage kann ich nur begründet sehen in einer romantisierenden Vorstellung der transatlantischen Beziehungen. Ich glaube, die USA sind ein ganz rationaler Akteur in den internationalen Beziehungen."Die deutsche Sicherheit beruht zu einem Teil auf amerikanischen Ermittlungsmethoden, von denen man sich jedoch politisch distanziert, wenn es brenzlig wird, und man der eigenen Öffentlichkeit reinen Wein einschenken müsste. Auch Frances Burwell, stellvertretende Direktorin des Atlantic Council, hält dieses Verhalten für unglaubwürdig."Es gibt eine lange Geschichte der Zusammenarbeit deutscher und amerikanischer Geheimdienste. Und zwar bis heute. Deutsche Regierungsmitarbeiter wissen ganz sicher über diese Zusammenarbeit und das gegenseitige Teilen von Daten Bescheid. Und ich nehme an, einige wussten auch Bescheid über die großen Datensammlungsprogramme der NSA. Ob das die Kanzlerin auch gewusst hat? Das weiß man nicht genau." Deutsche halfen Amerikanern beim Abhören Die Tatsache, dass spioniert wird, ist natürlich auch für die Deutschen nicht neu. Schon Konrad Adenauer hatte damit zu tun:"Seit einiger Zeit wage ich nicht mehr, Vertrauliches, geheime Sachen kommen ohnedies nicht in Frage, über meinen Fernsprecher von Rhöndorf nach Bonn zu sprechen, weil offenbar ständig andere damit verbunden sind."Wie Recht der erste Bundeskanzler mit seinem Verdacht hatte, bestätigt eine Forschungsarbeit des Historikers Josef Foschepoth, die unter dem Titel "Überwachtes Deutschland" erschienen ist. "Es wurde damals richtig kräftig abgehört. Und es gibt da wunderschöne Beispiele von Politikern, die sich darüber beklagen, dass die Alliierten in ihren Wahlkreisen oder in den Ländern aus denen sie herkamen, abgehört wurden."Ein solches Beispiel gab vor Jahren der ehemalige Sprecher der SPD, Franz Barsig. Er erzählte vom Jahr 1962. Damals schlugen in der Bundesrepublik die Wogen hoch, weil das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" in einem Bericht das Bundeswehrkonzept von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Frage gestellt hatte. Dem Magazin wurde Landesverrat vorgeworfen. Und dann: Barsig: "Auf dem Höhepunkt der Spiegelkrise telefonierte ich am Abend mit einem sehr hohen Beamten der Bundesregierung und plötzlich kam in das Gespräch eine Stimme herein und die sagte: ‚Das brauchen wir nicht mitschneiden.’ Nun, ich glaube, hier ist den Horchern eine Panne passiert. Die Stimme war Deutsch, ohne jeden Akzent. Ich weiß also nicht, waren es deutsche oder alliierte Abhorcher – man darf sich ja nicht vorstellen, dass es die Alliierten selber machen, das sind ja deutsche Hilfskräfte, die diese Aufgabe erfüllen."Franz Barsig lag mit seiner Einschätzung richtig. 1959 arbeiteten nach Recherchen des Historikers Foschepoth allein in den amerikanischen Überwachungsstellen 250 Personen, davon 220 Deutsche. Das heißt, die eigentliche Überwachung für die US-Dienste, wie auch für die der anderen Siegermächte, wurde von deutschen Mitarbeitern organisiert. Bei jedem Fernmeldeamt gab es eine besondere Leitungsanlage der Alliierten, über die jedes gewünschte Gespräch weitergeschaltet werden konnte.Der offensichtlich abgehörte SPD-Sprecher Franz Barsig wandte sich an den damaligen Postminister. Und umgehend untersuchten fünf Postbeamte in seiner Wohnung stundenlang den Fernsprecher. Ein Ergebnis wurde dem SPD-Sprecher nie mitgeteilt. Konrad Adenauer dagegen brauchte solche Untersuchungen nicht, er wusste, dass die alliierten Siegermächte auch im Deutschlandvertrag von 1955 auf bestimmte Rechte nicht verzichtet hatten. Die Bundesrepublik wurde 1955 zwar ein unabhängiger Staat und Mitglied der NATO, doch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges durften weiterhin Truppen in Deutschland in dem Umfang stationieren, in dem sie das für erforderlich hielten. Deshalb wurde in dem gleichzeitig geschlossenen "Truppenvertrag" vereinbart:"Artikel 4: Gegenseitige Unterstützung und Sicherheit. Die deutschen Behörden und die Behörden der Streitkräfte arbeiten in vollem Umfang zusammen und unterstützen sich gegenseitig bei der Förderung und Wahrung der Sicherheit der Bundesrepublik und der beteiligten Mächte sowie der Sicherheit der im Bundesgebiet stationierten Streitkräfte und deren Mitglieder sowie des Eigentums der Streitkräfte und deren Mitglieder."Und weiter heißt es in Absatz 2."Die Zusammenarbeit und Unterstützung erstrecken sich, in Übereinstimmung mit einem zwischen den zuständigen Behörden zu treffenden Einvernehmen, auf die Sammlung und den Austausch sowie auf den Schutz der Sicherheit aller einschlägigen Nachrichten."In einem geheimen Briefwechsel setzten die Alliierten zwei weitere Vorbehalte durch, wie der Historiker Josef Foschepoth zu berichten weiß:"Das ist der Überwachungsvorbehalt, der auch über den Tag hinaus den Alliierten die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs in der Bundesrepublik und von der Bundesrepublik aus in ganz Europa gestattete."Und darüber hinaus bestanden die Alliierten auf einem Geheimdienstvorbehalt:Foschepoth: "Also der Geheimdienstvorbehalt sah zum Beispiel vor, dass die Alliierten mehr oder minder einen rechtsfreien Raum bekamen."Zunächst legten die Franzosen einen besonderen Eifer in der Kontrolle der Deutschen an den Tag. Im Bonner Postministerium sorgten sich die Beamten über die wachsende Neugier der Alliierten Aufpasser. Auch in getrennten Verhandlungen mit den jeweiligen Siegermächten konnten die Post- und Fernmeldekontrollen nicht wegverhandelt werden. Die Bundesrepublik erreichte aber immerhin, dass Briten und Franzosen sich fortan zügelten. Die Amerikaner dagegen nutzten offenbar die Rechte, um von Deutschland aus Europa zu kontrollieren:Foschepoth: "Also da wurde eine reiche Aktivität entwickelt, die nicht nur die DDR oder den Osten betraf, sondern auch die Bundesrepublik, aber auch nach West- und Nordeuropa – also wurden die Verbindungen Prag – Antwerpen, es wurden die Verbindungen Mailand – Stockholm, die alle durch die Bundesrepublik verliefen, überwacht."Aus einem Vermerk des Bundespostministeriums geht hervor, dass zum 1. Februar 1958 in der ehemaligen britischen und der ehemaligen französischen Besatzungszone zusammen 51 Einzelanschlüsse überwacht wurden. In der ehemaligen amerikanischen Zone waren es demgegenüber 286 Anschlüsse.Somit verteidigten die Alliierten nicht nur die Freiheit der Bundesrepublik und Berlins, die unter diesem Schutz auch prächtig gediehen, so der Historiker Josef Foschepoth…"...sondern auch die Freiheit der Amerikaner weit in den östlichen Raum und in den Raum des Gegners reinzuhorchen und einzudringen. Das war natürlich klar." Systematischer Bruch des Post- und Fernmeldegeheimnisses Die Deutschen Sicherheitsbehörden versuchten daraus allerdings eine Win-Win-Situation zu machen und die Dienste der Alliierten für sich selbst zu nutzen. Foschepoth zitiert den damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hubert Schrübbers, der in einem Memorandum schrieb:"Es ist nicht nur eine organisatorische Einheit, sondern es ist ein einheitlicher Organismus, wenn wir von den amerikanischen und den deutschen Geheimdiensten sprechen."Für die deutschen Verfassungsschützer galt der Artikel 10 des Grundgesetzes:"Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich."Doch sie konnten ihre alliierten Kollegen auf die Umtriebe eines Verdächtigen aufmerksam machen. Die veranlassten dann eine Post- und Fernmeldekontrolle und bedankten sich unverzüglich mit Durchschriften der Protokolle. Diese Zusammenarbeit funktionierte reibungslos bis im September 1963 "Die Zeit" dieses Treiben öffentlich machte. Der Beamte Werner Paetsch, der jahrelang mit der technischen Abwicklung dieser Geheimdienstkooperation beschäftigt war, hatte Skrupel bekommen. Sein Anwalt Josef Augstein berichtete in einem Interview:"Er wandte sich an seinen Referatsleiter und fragte, ob denn das, was man hier tue, noch im Rahmen der Gesetze sei. Der Referatsleiter hat ihm daraufhin gesagt, eigentlich dürfen wir es nicht. Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen, auch nicht hier im Hause und auch nicht mit Kollegen aus den Landesämtern. Sie dürfen auch nicht einen Hinweis darauf in die Akten aufnehmen. Denn das ist so ziemlich das Geheimste, was wir haben." Ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages deckte den systematischen Bruch des Post- und Fernmeldegeheimnisses auf. Der Vorsitzende, der SPD-Abgeordnete Hermann Schmitt-Vockenhausen:"Wir haben festgestellt, dass es hier einen gesetzesfreien Raum gab, in dem die Behörden praktisch gearbeitet haben, aber keine entsprechende deutsche gesetzliche Grundlage hatten. Und es war klar, dass daraufhin Konsequenzen gezogen werden mussten."Zudem hatten die Vertreter der drei Alliierten in einem Brief Bundeskanzler Adenauer versprochen, ihre Vorrechte für die Überwachung Deutschland aufzugeben, sobald die Bundesrepublik selbst in der Lage sei, die gleichen Sicherheitsmaßnahmen für die Streitkräfte zu übernehmen. Doch erst im Rahmen der Notstandsgesetze, also Ende der 60er Jahre, wurde auch die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnis durch deutsche Behörden gesetzlich geregelt. Damit war eigentlich die Bedingung erfüllt, um die Arbeit der alliierten Geheimdienste in Deutschland einzustellen. Foschepoth: "Formell wurden die Vorbehaltsrechte abgelöst nach, wie Willy Brandt im Bundestag sagte, Deutschlandvertrag Artikel 5, Absatz 2. Und hat dann gesagt, in Zukunft werden jetzt die Maßnahmen von deutschen Behörden wahrgenommen, die an deutsche Gesetze gebunden sind. Tatsächlich wurden sie abgelöst, aber was er nicht sagte, dass diese deutschen Gesetze bereits jetzt jede Regierung zwangen oder banden, alle Maßnahmen für die Alliierten zu ergreifen. Das stand in dem neuen G-10-Gesetz und in einer Reihe zusätzlicher geheimer Vereinbarungen."Dieses neue G-10-Gesetz, das im August 1968 verabschiedet wurde, sorgte also dafür, dass die deutschen Sicherheitsbehörden zu Dienstleistern für die Alliierten wurden. Anträge zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, die auf Anregung der Alliierten gestellt wurden, winkte die G-10-Kommission des Bundestages einfach durch. Hinzu kam, dass nach dem NATO-Truppenstatut und geheimen Vereinbarungen die alliierten Befehlshaber nach wie vor das Recht hatten, alles zum Schutz ihrer Streitkräfte in Deutschland zu tun, also hier auch tätig zu werden. Foschepoth: "Und das hat auch Bestand gehabt über die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen von 1990, als die Bundesrepublik und die DDR zu einem neuen gesamtdeutschen Staat vereinigt wurden." "Gipfelpunkt einer 60-jährigen Entwicklung" Bis heute hat sich daran nichts geändert. Die Einrichtungen amerikanischer Geheimdienste auf deutschem Boden lassen sich allerdings nicht ohne Weiteres verbergen. Beispielsweise in Bad Aibling. Von dort aus belauschten die USA bis 2004 den Satellitenfunkverkehr. Im Rahmen des "Echelon-Netzwerkes" kontrollierten sie zusammen mit Briten, Kanadiern, Australiern und Neuseeländern den weltweiten Telekommunikationsverkehr, der über Satelliten abgewickelt wurde. Schmidt-Eenbohm: "Die Amerikaner stützen sich auf ein weltumspannendes Aufklärungssystem namens ‚Echelon’, indem sie zusammen mit den angelsächsischen Diensten luftraumgestützt, seegestützt und bodengestützt alle Bereiche – Politik, Militär und Wirtschaft - aufklären. Und in Europa gibt es dazu zwei wesentliche Bodenstationen: einmal Menwith Hill in Großbritannien und zum anderen die Station in Bad Aibling. Von Bad Aibling aus betreiben die Amerikaner Militär und Politikaufklärung nach Osteuropa und im wirtschaftlichen Bereich Wirtschaftsspionage gegen die westlichen Staaten, gegen ihre eigenen Verbündeten vor allem die Bundesrepublik Deutschland."So der Geheimdienstfachmann und Friedensforscher Erich Schmidt-Eenboom. Nachdem das Europäische Parlament dies 2001 öffentlich gemacht hatte, wurde die Station 2004 geschlossen. Trotzdem ging das Spionieren weiter. Denn der weltweite Datenverkehr wird nicht mehr in erster Linie über Satelliten abgewickelt, sondern fließt heute durch ein Netz von Glasfaserkabeln. Wichtige Knotenpunkte sind in Großbritannien und in der Bundesrepublik. Hier dürfen die amerikanischen Dienste weiterhin tätig sein, ohne dass sie von deutschen Stellen kontrolliert werden. Das ist kein Geheimnis, und deshalb kann der Historiker Josef Foschepoth die Aufregung deutscher Politiker über die bekannt gewordenen Aktivitäten amerikanischer Geheimdienste in Deutschland absolut nicht verstehen. "Es handelt sich nicht um ein singuläres, plötzlich vom Himmel gefallenes Ereignis, sondern es ist der bisherige Gipfelpunkt einer 60-jährigen Entwicklung. Eines Strukturprozesses, der die Bundesrepublik, das Verhältnis der Bundesrepublik zu Amerika und den Westmächten stark geprägt hat und aus dem wir einfach nicht mehr raus können. Wir sitzen da im Moment in einem Boot."Und aus diesem Boot will wohl auch niemand ernsthaft austeigen. Frances Burwell, die stellvertretende Direktorin des Atlantic Council, meint, auch die europäischen Partner Deutschlands würden einer vertraglichen Einschränkung ihrer internationalen Spionage nie und nimmer zustimmen. Um Zugeständnisse zu erreichen, gebe es nur einen Weg: Das persönliche Gespräch zwischen Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel:"Solche Sachen werden immer nur vertraulich diskutiert. Und darauf wird es hinauslaufen. Man kann persönliche, vertrauliche Zusagen machen. Die deutsche Regierung kann verlangen, von den Amerikanern genauso wie die Briten behandelt zu werden. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass das nur im persönlichen, vertraulichen Gespräch geht."
Von Paul Elmar Jöris und Marcus Pindur
Auch wenn sich deutsche Politiker über die Abhöraktion der NSA empören: Schon seit Adenauers Zeiten hören die US-Amerikaner mit, in einigen Fällen sogar unterstützt von deutschen Beamten. Auch hierzulande haben die Behörden von den Ergebnissen profitiert.
"2013-07-11T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:26:08.270000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spionage-mit-tradition-100.html
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Deutscher Satellit im All
Ein Modell der Satellitenplattform SmallGEO. (dpa / picture-alliance / Carmen Jaspersen) Kourou, Europas Raketenstartgelände in Französisch Guyana, Freitag Abend 22.03 h Ortszeit. Die einsame Gegend im Norden Südamerikas liegt in pechschwarzer Nacht – nur die Startrampe mit der Soyuz-Rakete ist vom Flutlicht grell erleuchtet. "Dix, neuf, huit, sept, six, cinq, qautre, trois, deux, top - decollage" Die Triebwerke zünden und laut dröhnend stemmt sich die Soyuz in den Himmel – der strahlende Feuerschein erleuchtet den Urwald in der Umgebung taghell. Dann zieht die Rakete in einem hohen Bogen über das Kontrollzentrum und verschwindet nach einigen Minuten im Weltraum. An Bord der Rakete befand sich SmallGEO, ein ganz neuer Satellitentyp, erklärt Andreas Lindenthal, Chief Operating Officer beim Raumfahrtunternehmen OHB in Bremen: "SmallGEO ist eine geostationäre Satellitenplattform für unterschiedliche Anwendungen. Das können Telekommunikationsnutzlasten sein, also Antennen, Verstärker etc., was man braucht für Datenübertragung. Das können optische Instrumente sein, wie man sie in der Meteorologie braucht. Dafür liefern wir eine Plattform, die ermöglicht die Integration dieser unterschiedlichen Instrumente und die hochpräzise Ausrichtung dieser Satellitenplattform inklusive der Nutzlast, um für die nächsten 15 Jahre Betrieb aus dem Orbit zu garantieren." Satellitenplattform für verschiedene Missionen Bisher waren Satelliten zumeist Einzelstücke, höchst aufwendig für den speziellen Einsatz konstruiert. Jetzt gibt es mit SmallGEO ein Standardgerüst, das sich ganz flexibel an verschiedene Missionen anpassen lässt. Seine Entwicklung hat rund 400 Millionen Euro gekostet, drei Viertel davon hat die Europäische Weltraumorganisation ESA finanziert, erklärt Generaldirektor Jan Wörner: "Wir wollen ja ganz neue Technologien entwickeln. Das kann die Industrie prinzipiell allein, aber die Investitionen, die da zu machen sind, sind doch sehr hoch. Ich glaube, es ist durchaus angemessen, dass bei der Entwicklung von neuen Produkten der Staat in diesem speziellen Bereich, nämlich dem Bereich der Raumfahrt, auch unterstützt." Die ESA unterhält das milliardenschwere ARTES-Programm, um Europas Industrie im Bereich der satellitengestützten Telekommunikation international wettbewerbsfähig zu machen – andernfalls droht die Abhängigkeit vor allem von US-amerikanischen Unternehmen. Der erste SmallGEO-Satellit soll für die spanische Firma Hispasat Multimediadienste in Europa und Südamerika anbieten. Seine Entwicklung hat gut zehn Jahre gedauert. So ist man bei der Steuerung des Satelliten ganz neue Wege gegangen, erläutert Andreas Lindenthal: "Wir fliegen jetzt bei dem Hispasat-Satelliten eine Hybrid-Konfiguration, das heißt elektrisch und chemische Antriebe. Das ist genauso wie beim Auto, da nennt man das ja auch so, gemischte Antriebe. In dem Fall bedeutet das: Da, wo man hohen Schub braucht, nämlich die Orbit-Erreichung, das Orbit-Halten, sind es chemische Antriebe, Hydrazin-Antrieb in unserem Fall. Da, wo es um kleinste Bewegungen geht, kleinere Lagekorrekturen, setzen wir elektrische Triebwerke ein. Die haben geringeren Schub, aber eine sehr hohe Effizienz." ESA will sich häufiger an Satelliten-Entwicklungen beteiligen Die elektrischen Antriebe stoßen Ionen des Edelgases Xenon aus. Dafür wird viel weniger Treibstoff benötigt als bei klassischen chemischen Motoren. Die SmallGEO-Plattform wird je nach gewünschter Mission mit rein chemischen, rein elektrischem oder einem gemischten Antrieb zum Einsatz kommen. Die ESA wird sich im Auftrag ihrer Mitgliedsstaaten künftig noch häufiger an der Entwicklung neuer Satelliten beteiligen, betont Jan Wörner: "Wir haben ja auf der letzten Ministerratskonferenz auch schon einen ersten Schritt in Richtung Erdbeobachtung gemacht, in dem wir dort auch ganz klar die Erdbeobachtung für Public Private Partnership geöffnet haben. Für mich ist das ein Teil dessen, was man in Amerika New Space nennt, was ich gerne Space 4.0 nenne, bei dem wir also die Kommerzialisierung der Raumfahrt unterstützen, um dann aber auch die Industrie allein laufen zu lassen. Wir wollen also nicht bei allen Raumfahrtprojekten der Zukunft mit öffentlichen Mitteln dabei sein." SmallGEO hat gute Zukunftschancen Der erste SmallGEO-Satellit wird in den kommenden Tagen seine endgültige Position in der geostationären Umlaufbahn in 36.000 Kilometern Höhe einnehmen. Nach etwa dreimonatigen Tests muss er sich dann im Alltagsbetrieb bewähren. Doch schon jetzt sieht es so aus, als habe die ESA in diesem Fall mit ihrer Technologieförderung richtig gelegen – das war in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer der Fall. SmallGEO aber wird keine Eintagsfliege, freut sich Andreas Lindenthal vom Satellitenbauer OHB in Bremen. "Bereits neun Programme basieren auf dieser Plattform. Das heißt, das Vertrauen der Kunden, dass wir die Entwicklung im Griff haben, dass das eine leistungsfähige Plattform ist für unterschiedliche Anwendungen, das hat bereits aufgebaut werden können. Und die Kunden haben uns beauftragt, im meteorologischen Bereich und im Telekombereich diese Plattform einzusetzen. Ein weiterer Auftrag folgt und dann wird das die zehnte Plattform sein, die wir in diesem Jahr unter Vertrag bekommen. Das heißt: Die Zukunft von SmallGEO hat schon begonnen."
Von Dirk Lorenzen
Von Europas Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana ist am Wochenende ein deutscher Satellit ins All gestartet: SmallGEO. Gebaut von einem Bremer Unternehmen, zu großen Teilen finanziert von der Weltraumorganisation ESA. Sie will Europas Industrie im Bereich der satellitengestützten Telekommunikation international wettbewerbsfähig machen.
"2017-01-30T16:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:32:58.286000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/smallgeo-deutscher-satellit-im-all-100.html
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Ein bisschen Wildnis
Das Ergebnis ist eine reine Kulturlandschaft, die den Spielregeln des Menschen gehorcht. Und in genau diese will Europa nun wilde Tiere zurückholen. Kann das funktionieren? Wissenschaft im Brennpunkt begibt sich auf eine Reise durch den Kontinent zu halbwilden Wisenten, vergifteten Luchsen, zufriedenen Rotbauchunken, heimatlosen Auerhühnern und wiederkehrenden Wölfen."Manuskript zur Sendung:"Ein bisschen Wildnis"Weiterführende Links:"Seiten des Deutschlandradios: Rückkehr des Pilgers (Forschung aktuell vom 27.08.13) Hummer-Nachwuchs für Helgoland (Reportage vom 07.08.13) Freiheit für die Wisente (Radiofeuilleton: Thema vom 11.04.13) Auswilderung fraglich (Forschung aktuell vom 24.08.12) Der vergessene Nerz (Forschung aktuell vom 15.05.12) Die Milch macht's (Forschung aktuell vom 12.08.11) "Geld bahnt sich den Weg" (Radiofeuilleton: Thema vom 10.05.11) Schöpfung, zweiter Versuch (Teil 1) (Wissenschaft im Brennpunkt vom 31.12.09) Schöpfung, zweiter Versuch (Teil 2) (Wissenschaft im Brennpunkt vom 01.01.10) Ungeliebte Einwanderer aus der Neuen Welt (Forschung aktuell vom 04.11.08)Links ins Netz: Nordens Ark Institut für Säugetierforschung, Bialowieza Forschungsinstitut Senckenberg: Naturschutzgenetik Zoologische Gesellschaft Frankfurt IUCN: Großräuber-Initiative für Europa Wiederansiedlungsprojekt: Bartgeier in den Alpen IUCN: Wiederauswilderungsgruppe Zoological Society of London: Wildlife Comeback in Europe (PDF)
Von Monika Seynsche
Kein anderer Kontinent der Welt ist so massiv vom Menschen verändert worden wie Europa. Systematisch wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein Bären, Wölfe und Luchse ausgerottet und die Lebensräume anderer Arten zerstört.
"2013-09-29T16:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:35:46.696000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-bisschen-wildnis-100.html
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Diskussion um La-Liga-Spiel in USA
Fußballfans bei einem Spiel des FC Barcelona gegen Real Madrid (imago sportfotodienst) Eigentlich ist ja schon alles unter Dach und Fach. Mitte August gab der Vorsitzende der spanischen Liga, Javier Tebas, bekannt, mit dem US-Sportpromotor Relevent einen Vertrag abgeschlossen zu haben. Dabei soll es auch darum gehen, in den nächsten 15 Jahren jeweils ein Spiel der spanischen Profiliga in den USA auszutragen. Doch die Expansion des spanischen Fußballs hat einen Haken: Tebas hatte zuvor weder mit dem Königlichen Fußballverband, noch mit den Klubs, noch mit den Spielern gesprochen. Und Kritik hagelt es nun von allen Seiten. Immerhin, die katalanischen Erstligavereine FC Barcelona und der SG Girona waren bereit, ihr Spiel am 26. Januar nicht in Girona, sondern in Miami auszutragen. Doch der Widerstand der übrigen Beteiligten ist so groß, dass auch das wieder auf dem Spiel steht. Der Präsident der spanischen ersten Fußballliga, Javier Tebas (dpa / picture alliance / Jean Francois) Die spanischen Fußballfans waren alles andere als begeistert. Ursprünglich sollte sogar der Clásico, das Duell Real Madrid gegen den FC Barcelona, in Miami ausgetragen werden. Dagegen hatte Real Madrids mächtiger Präsident Florentino Pérez sein Veto eingelegt. So soll es jetzt das Spiel der beiden katalanischen Vereine SG Girona und FC Barcelona am 26. Januar werden. Und hier sind nicht alle Fans abgeneigt: "So können wir unsere katalanischen Forderungen bekannt machen", sagten die Fans am letzten Spieltag am Rande einer Fernsehübertragung. Die Fahnen, mit denen die katalanische Unabhängigkeit gefordert wird, würden sie auf jeden Fall mit nach Miami nehmen. Entschädigung für die Fans Zumal Ligachef Javier Tebas die Fans auch großzügig entschädigen möchte. Denn beim Rückspiel würde den Fans Gironas das Heimspiel im katalanischen Derby entgehen. Tebas sagt: "Das Spiel findet an einem Samstag statt. Wir laden 1.500 Fans aus Girona ein, umsonst nach Miami zu kommen. Die übrigen zahlen 300 Euro. Wer stattdessen lieber umsonst zum Hinspiel ins Camp Nou möchte, bekommt 20 Prozent vom Preis seiner Dauerkarte erstattet. Und wer gar keines der beiden Spiele im Stadion erleben möchte, der bekommt 40 Prozent des Preises der Dauerkarte zurück." Die meisten Anhänger entscheiden sich offenbar dafür, das Spiel zu Hause vor dem Fernseher zu verfolgen und das Geld zu nehmen, berichtet die katalanische Tageszeitung La Vanguardia. Doch trotz der Skepsis der Fans sind die meisten der Klubs aufgeschlossen. Der Plan der Liga verspricht in den nächsten 15 Jahren Einnahmen von mindestens 200 Millionen Euro, das Ligaspiel im Januar soll erst der Anfang sein, sagt Tebas: "Das ist eine mittel- und langfristige Strategie. Die USA sind bei den Übertragungsrechten der größte und der am besten zahlende Markt der Welt. Die Konkurrenz ist groß, die Premier League will auch dorthin, es gibt viele andere Sportarten. Wenn wir uns dort nicht als Marke etablieren, geht es mit dem spanischen Fußball bergab." Übertriebene Warnungen Diese Warnung halten allerdings viele andere Beteiligte für völlig übertrieben. Ausgerechnet von den Spielern für deren teilweise astronomische Gehälter die Klubs nach immer neuen Einnahmemöglichkeiten suchen - kommt der größte Widerstand. Sie klagen schon heute über immer neue Verpflichtungen, Sponsorentouren in den USA und Asien, die eine Regeneration in der Sommerpause schwer machen. Auch der Clásico, die Begegnung Real Madrids gegen Barça, fand als Freundschaftsspiel schon mehrmals in den USA statt. David Aganzo, Vorsitzender der spanischen Spielergewerkschaft, beklagt einen Werteverlust im Fußball zugunsten des Kommerz: "Alle Kapitäne der oberen Ligen in Spanien stehen hinter uns. Wir sind es satt, dass hier Entscheidungen getroffen werden, ohne mit uns zu sprechen. Fußball muss mehr sein, als nur Geld und Geschäft. Er verkörpert Werte, er hat Fans, Gefühle, er ist eine eigene Welt. Es geht auch um unsere Gesundheit. Stattdessen dreht sich alles immer nur ums Geld. Wir gewöhnen uns an völlig anormale Dinge. Das ist ein Problem." Machtkampf zweier Manager Auch der spanische Fußballverband lehnt das Vorhaben ab. Schließlich würde für den FC Barcelona ein Auswärtsspiel vom Hexenkessel von Girona in ein eher neutrales Stadion verlegt, argumentiert Verbandschef Luis Rubiales. "Wir haben dem Ligavorsitzenden und den beiden Vereinen mitgeteilt, dass das Spiel nicht in Miami stattfinden kann. Der Wettbewerb würde verzerrt. Wir haben von ihnen auch weitere Dokumente verlangt. Man kann ein Spiel nicht einfach vom Heimstadion ins Ausland verlagern." Jenseits der von den Spielern angeführten Wertediskussion scheint die Frage der Auslandsspiele vor allem zu einem Machtkampf zweier Fußballmanager geworden zu sein. Die beiden haben schon lange kein gutes Verhältnis. Auf der einen Seite der mächtige Vorsitzende der Liga, auf der anderen der des Verbands, der selbst einmal als Fußballprofi der Spielergewerkschaft vorstand. Doch noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, sagt Ligachef Tebas: "Es ist kein Geheimnis, dass sie da keine Lust darauf haben. Aber der Verband muss nach Recht und Gesetz entscheiden. Ich bin optimistisch. Wir werden nachbessern. Sie haben ja schließlich im Sommer schon den spanischen Supercup im marokkanischen Tánger ausgetragen."
Von Hans-Günter Kellner
Die spanische Fußballliga plant ein Spiel in den USA. Eigentlich sollte es gar das Spiel Real Madrid - FC Barcelona sein. Nach Kritik von Real soll Barcelona in Miami nun gegen den SG Girona spielen. Doch vor allem die Spieler wehren sich.
"2018-09-23T19:25:00+02:00"
"2020-01-27T18:12:18.724000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spanische-liga-diskussion-um-la-liga-spiel-in-usa-100.html
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"Es geht um die Rettung Europas"
Norbert Walter-Borjans, Bundesvorsitzender der SPD (picture alliance / Fabian Strauch) Um Ländern wie Italien und Spanien, in denen das Gesundheitssystem zusammenbricht und die Wirtschaft stillsteht, schnell finanziell zu helfen, wird zurzeit über den Einsatz von "Corona-Bonds" diskutiert. Diese würden bedeuten, dass alle europäischen Staaten für die Schulden - etwa die von Italien - haften. Die SPD ist für diese Lösung, die CDU dagegen. Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Darum schlägt die SPD jetzt einen anderen Weg vor, sagte der Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans. Die betroffenen Länder sollen mit Hilfe des Europäischen Schutzschirms (ESM) unterstützt werden - wie zu Zeiten der Finanzkrise. Allerdings mit weniger harten Auflagen als damals. Walter-Borjans sagte, es sei sehr wichtig, dass die Mittel möglichst schnell fließen würden. Denn, so Walter-Borjans: "Wenn diese Staaten nicht auf die Füße kommen, dann kommt Europa nicht auf die Füße." Über den ESM könnten laut Walter-Borjans zurzeit etwa 500 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Mit den sogenannten Corona-Bonds wären nach Walter-Borjans Einschätzung rund eine Billion Euro möglich. Peter Sawicki: Die EU-Kommission hat bereits Hilfsgelder freigegeben. Es geht aber weiter bei der Debatte um Corona-Bonds. Italien fordert sie nämlich in Person von Ministerpräsident Giuseppe Conte, der sich im deutschen Fernsehen dazu geäußert hat. Wir können jetzt darüber sprechen mit dem SPD-Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans. Norbert Walter-Borjans: Ich bin sehr dafür, weil wir ja mittlerweile sehen, dass auch die Wirtschaftswissenschaft über alle Fassetten hinweg sich sehr stark dafür macht, … Der Kampfbegriff "Vergemeinschaftung von Schulden" Sawicki: Für Corona-Bonds? Walter-Borjans: Für Corona-Bonds, dass wir die bedrängten Staaten jetzt schnell mit großen Summen ausstatten. Das gebietet nicht nur die europäische Solidarität; das gebietet auch der Eigennutz. Wenn diese Staaten wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen, dann kommt Europa auch nicht auf die Beine. Ich habe deswegen gestern zusammen mit Olaf Scholz an die Fraktion der SPD im Bundestag geschrieben, damit deutlich wird, wir wollen in diesem Punkt schnell etwas lösen. Nun ist es aber so, dass es nicht nur darum geht, dass diese Länder viel Geld brauchen, und nicht nur darum geht, dass sie es lange brauchen, bedingt für das, was durch Corona entstanden ist. Sie brauchen es auch schnell. Von der Leyen - "Wir erleben einen externen Schock durch das Coronavirus"EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) will den EU-Staaten "maximale Beinfreiheit" ermöglichen, um ihren Unternehmen durch die Coronakrise zu helfen. Die EU werde Verschuldungsregeln lockern. Sie haben gerade schon beschrieben, an welchen Hürden das scheitert. Das fängt beim Koalitionspartner an, das geht über andere Euroländer. Deswegen nutzt es relativ wenig, wenn wir jetzt sagen, hört mal auf mit dem Kampfbegriff der Vergemeinschaftung von Schulden. Es geht um die Rettung Europas. Wir müssen etwas schnell auf die Beine stellen. Deswegen haben wir gemeinsam dafür geworben, dass wir einen anderen Weg gehen, den Weg der Corona-Bonds aber offen lassen. "Diese Staaten werden von der Zinslast erdrückt" Sawicki: Das heißt, wie soll dieser Weg aussehen? Walter-Borjans: Es gibt ja – darauf weist ja auch das Institut der Deutschen Wirtschaft beispielsweise hin – mehrere Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit, dass wie in früheren Zeiten Staatsanleihen aufgekauft werden. Das ist problematisch, weil es immer wieder dazu führt, dass gegen diese Staaten spekuliert wird und am Ende diese Staaten erdrückt werden von der Zinslast. Es gibt die Möglichkeit, dass über den Europäischen Stabilitätsmechanismus Geld zur Verfügung gestellt wird. Das geht bisher nur kurzfristig. Es geht nur in einer zu geringen Menge und es geht mit zu hohen Auflagen. Diese Auflagen waren es ja, die in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass Spanien beispielsweise so stark sparen musste, dass jetzt das Gesundheitssystem zusammenbricht. Wir haben durch die Lösung der Finanzkrise die neue Krise in Spanien verschärft. So was dürfen wir nicht wieder machen. Es gibt aber Möglichkeiten, dass wir im Rahmen dieses ESM ohne Konditionierung, ohne harte Auflagen für die Zukunft, rein nach dem Muster, wenn es durch Corona bedingt ist, dann könnt ihr große Summen auch länger bekommen, dass man an dieser Stelle eine Hilfslösung zustande bringt, die – jedenfalls so glauben wir, so hoffen wir – deutlich schneller umsetzbar ist als die Corona-Bonds. Dass die Corona-Bonds am Ende aus meiner persönlichen Sicht und vieler anderer auch gerade in der Sozialdemokratie der richtigere Weg wären, bleibt unbestritten. Es hilft uns nur nicht, wenn wir die besseren Forderungen haben. Wir müssen die besseren Lösungen präsentieren. Das Ziel: Die Staaten nicht als die finanzpolitischen Verlierer stigmatisieren Sawicki: Dann schauen wir mal auf diese Lösungen. Wenn Sie jetzt den ESM erwähnen und ohne Auflagen; das heißt, soll es jetzt auflagenlose Kredite geben oder Zuschüsse, oder wie genau soll das praktisch aussehen aus Ihrer Sicht? Walter-Borjans: Der ESM hat einen Kreditrahmen. Für den müsste er im Übrigen auch am Kapitalmarkt Geld aufnehmen. Wir können jetzt auch sagen, de facto ist das ein Stück wie Corona-Bonds. Es ist in der Haftung ein Stückchen begrenzt. Wie gesagt: Früher war das damit verbunden, dass die Staaten, die das Geld bekommen, harte Auflagen erfüllen mussten. Die sollen wegfallen. Es hat aber einen Schönheitsfehler, ist ein bisschen zu wenig gesagt, weiterhin, nämlich diese Kredite würden den Schuldenstand dieser Länder erhöhen, die Schuldenquote erhöhen, und sie würden damit natürlich auch das machen, was die auch nicht gebrauchen können im Moment: sie würden sie wieder stigmatisieren als die finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen Verlierer. Der Appell des italienischen Ministerpräsidenten hat das gezeigt. Wir haben auch ein Stück Porzellan zu kitten aus der Art des Umgangs miteinander nach der Finanzkrise. Der Vorschlag: ESM ohne harte Auflagen Sawicki: Aber wenn Sie sagen, dass Auflagen wegfallen sollen, wie wollen Sie dann sicherstellen, dass das Geld dann zum Beispiel in den Gesundheitssektor, in den Wiederaufbau der Wirtschaft investiert wird, wo das Geld ja gebraucht wird? Walter-Borjans: Wir haben im Moment eindeutig erkennbar in diesen Staaten eine noch viel härtere Krise, als sie bei uns ist. Die sind im Moment mit Sicherheit nicht an einem Punkt, wo sie sich irgendwelche schönen Dinge finanzieren, sondern sie haben ganz harte Not, die jetzt beseitigt werden muss. Genauso wie wir das hier im Land machen mit der Unterstützung von Unternehmen, bei denen wir sagen, es geht jetzt erst einmal darum, dass die Mittel fließen, dass die Liquidität da ist, muss das in diesem europäischen Kontext auch gelten. Ich glaube, die Sorge, dass das Geld, das im Moment nach Italien oder Spanien fließt, nicht eingesetzt wird, um deren katastrophale Gesundheitslage und Wirtschaftslage zu reparieren, die ist, glaube ich, kleiner, als sie je zuvor war. "Wir haben im Moment in Europa ein Problem mit der Solidarität" Sawicki: Aber wäre es nicht vor allem gegenüber den Skeptikern wie den bereits erwähnten Niederlanden – Finnland und Österreich gehört ja auch seit Jahren dazu – wichtig, um das salonfähig zu machen, konsensfähig zu machen, dann diese gewissen kleineren Auflagen oder Kontrollen zumindest damit zu verknüpfen? Walter-Borjans: Ich muss ganz offen sagen: Wir haben im Moment in Europa ein Problem mit der gegenseitigen Solidarität und wenn wir uns nicht auf die zurück besinnen, dann wird dieses Europa atomisiert und es wird auch nach der Krise gegenüber den anderen Weltwirtschaftsregionen zurückfallen. Deswegen muss man ganz deutlich machen: Wir brauchen jetzt eine schnelle Lösung. Nach den Gesprächen, die Olaf Scholz in den letzten Tagen und Wochen geführt hat, ist zumindest anzunehmen, dass diese ESM-Kredite mit geringen Auflagen die schnelle Lösung sein können und sein müssen. Wie das dann mit den eigentlich richtigeren Corona-Bonds weitergeht, das ist eine Debatte, die führen wir miteinander, die führen wir auch innerhalb der SPD; die führen wir vor allen Dingen aber mit dem Koalitionspartner. "Da reden wir von ungefähr 500 Milliarden Euro" Sawicki: Von welcher Summe sprechen wir da eigentlich potenziell? Walter-Borjans: Die Befürworter der Corona-Bonds reden ja von einer Summe, die bis in die Richtung von tausend Milliarden gehen muss, von einer Billion. Es gibt auch im Bereich der bisher schon zur Verfügung stehenden Mittel Größenordnungen, die zumindest an 750 Milliarden herangehen und aufstockbar sind. Insofern ist an dieser Stelle auch was zu machen. Der jetzt von uns vorgeschlagene Weg über den ESM ist leider in der Tat der im Moment vom Volumen her kleinste. Da reden wir praktisch von der Hälfte, von ungefähr 500 Milliarden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Norbert Walter-Borjans im Gespräch mit Peter Sawicki
Der Bundesvorsitzende der SPD Norbert Walter-Borjans plädiert dafür, Ländern wie Italien und Spanien jetzt schnell finanziell zu helfen. "Wir haben im Moment in Europa ein Problem mit Solidarität", sagte Walter-Borjans im Dlf. Wenn man sich auf die nicht besinne, werde dieses Europa atomisiert.
"2020-04-01T07:15:00+02:00"
"2020-04-02T10:00:10.161000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/walter-borjans-zu-corona-bonds-es-geht-um-die-rettung-100.html
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Ökonom: "Eine Beruhigung in der Weltwirtschaft"
Eine Krise weniger - der Besuch des iranischen Außenministers Sarif in Biarritz habe zu einer Annäherung zwischen dem Land und den USA geführt, sagte der Ökonom Bräuninger im Dlf (Twitter account of Javad Zarif/A) Mario Dobovisek: Zurück zum großen Ganzen der G7, zur diplomatischen Annäherung zwischen den USA und Iran. Ein Telefonat, ein Besuch des iranischen Außenministers in Biarritz und ein Gesprächsangebot an Irans Präsidenten – darüber habe ich am Abend mit Michael Bräuninger gesprochen, Ökonom, Volkswirt an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Ich habe ihn gefragt: Was bedeutet die Annäherung zwischen den USA und dem Iran für die Weltwirtschaft? Michael Bräuninger: Das sind sicherlich gute Zeichen für die Weltwirtschaft. Das ist eine Beruhigung in der Weltwirtschaft, die ja im Augenblick durch große Unsicherheit gekennzeichnet ist. Es gibt viele verschiedene Krisen, davon auch eine Krise mit dem Iran, die Frage, wie es dort weitergeht, ob es dort irgendwann zu militärischen Konflikten sogar kommt, und das scheint sich jetzt etwas zu beruhigen und insofern verschwindet hier eine gewisse Unsicherheit oder sie wird zumindest reduziert und das ist ein gutes Zeichen. Insofern könnte das auch der im Augenblick relativ schlechten Stimmung etwas entgegensteuern. "Wichtiger auch wirtschaftlicher Effekt" Dobovisek: Wie stark belastet denn die Unsicherheit, wie Sie es nennen, am Persischen Golf den Welthandel, die Weltwirtschaft? Bräuninger: Es ist sicherlich eine von den verschiedenen Unsicherheiten, die eine wichtige Rolle spielen. Ich meine, hier ist die Ölregion betroffen. Es ist eine wichtige Verbindungsstraße betroffen und es ist letztlich ein Krisenherd, bei dem man nie weiß, wie sich das auswirkt, wie das weiter eskalieren könnte. Insofern ist das ein wichtiger auch wirtschaftlicher Effekt, der hier eintritt, oder die Unsicherheit hat schon eine große Bedeutung. Und die Beruhigung umgekehrt, wenn es sich hier beruhigt, dann hat das sicherlich auch eine positive Wirkung. Dobovisek: US-Präsident Trump signalisiert Gesprächsbereitschaft, will Irans Präsident Rohani treffen. Wie groß sind Ihre Hoffnungen, dass der Streit dann ein baldiges Ende finden könnte? Bräuninger: Ja, die sind natürlich nur begrenzt. Es ist sicherlich ein gutes Zeichen, wenn die sich treffen und wenn Gespräche erst mal stattfinden. Das ist immer die Voraussetzung. Insofern ist es ein gutes Zeichen. Man weiß aber ja auch, dass Trump sehr wechselhaft ist und dass es nicht bedeutet, dass er nächste Woche noch immer dieselbe Stimmung hat, und insofern muss man das erst mal abwarten. Aber zunächst mal ist die Gesprächsbereitschaft immer die Voraussetzung dafür, dass es vorangeht und dass es Gespräche gibt. Handelsstreit: "Die Situation ist verfahren" Dobovisek: Gesprächsbereitschaft ist auch wichtig für ein ganz anderes Konfliktfeld, der Handelsstreit nämlich. Da konnte ein Nebenschauplatz abgeräumt werden, nämlich der Streit um Frankreichs Digitalsteuer, auf die die USA mit Strafzöllen für französische Weine antworten wollten. Das ist vom Tisch. Nicht vom Tisch dagegen ist der Handelsstreit zwischen den USA und China, der weitaus schwerwiegender ist. Da hat Trump jetzt aber gesagt, man sei einer Lösung nie näher gewesen als heute. Was könnte er damit meinen? Bräuninger: Das weiß man ja nicht so genau, was er mit solchen Aussprüchen meint. Ich sehe jetzt keine direkte Lösung und ich sehe auch nicht, dass es hier schnell und einfach zu Lösungen kommen wird. Die Situation ist verfahren, die Positionen sind eigentlich sehr festgerückt und die Ideen, die Trump hier hat, werden sicherlich nicht einfach in China umgesetzt. Weder China noch Deutschland wird schnell die Exporte reduzieren, was sich Trump ja eigentlich wünscht, und insofern glaube ich nicht, dass es hier einfache und schnelle Lösungen geben wird. "Deglobalisierung ist sicherlich schädlich für alle" Dobovisek: Zuletzt hatte sich der Handelsstreit ja sogar noch weiter verschärft. Wer sitzt da letztlich am längeren Hebel? Bräuninger: Das ist eine ganz schwierige Frage. Was heißt hier am längeren Hebel? Letztlich schadet der Handelsstreit allen. Die Verzahnung der Weltwirtschaft hat letztlich zu der guten wirtschaftlichen Entwicklung, die wir über die letzten Jahrzehnte hatten, sehr stark beigetragen, und wenn wir jetzt eine Deglobalisierung haben, ist das sicherlich schädlich für alle. Hier gibt es keinen einfachen längeren Hebel. Die Frage ist, wer die größere Leidensbereitschaft hat oder wer den größeren Effekt hat. Das ist sehr schwierig zu sagen. Es ist auch schwierig innerhalb der Länder, aber auch innerhalb jedes einzelnen Landes gibt es Gewinner und Verlierer. Es gibt besonders stark betroffene Branchen. Das sind in Deutschland natürlich besonders die exportintensiven Branchen. Es gibt eventuell auch Regionen, die dabei gewinnen, einzelne Leute, denn Trump macht das ja schon, um einzelne Gruppen seiner Wähler zu schützen. Hier gibt es sicherlich auch einzelne Gewinner in den USA. Umgekehrt könnte es auch in Europa einzelne Gruppen geben, die von so einem Streit dann profitieren. Für die Mehrheit und insgesamt ist es ein Verlust. Integration Russlands sei politisch schwierig Dobovisek: Ein weiteres Mal blitzte Donald Trump bei den anderen Gipfelteilnehmern damit ab, Russland wieder mit einzubinden, aus den G7 wieder die G8 zu machen. Jetzt kündigt der US-Präsident an, Russlands Präsidenten trotzdem zum nächsten Gipfel in die USA einladen zu wollen, als Gast. Wie wichtig wäre es auch aus wirtschaftlicher Sicht, dass Russland wieder an den Gipfeln der großen Wirtschaftsmächte teilnimmt? Bräuninger: Das wäre natürlich wirtschaftlich schon ein positiver Effekt. Letztlich wäre das hier, wenn die Integration mit Russland wieder stattfindet, wenn es hier auch wieder Gespräche gibt, wenn hier wieder offener Handel stattfindet, sicherlich ökonomisch gesehen ein Vorteil. Dem muss man entgegenhalten, dass es schwierig ist, Russland wieder politisch vollständig einzubinden, denn letztlich muss man ja irgendwelche Maßnahmen gegen die Annexion in der Ukraine vornehmen und kann nicht einfach zur Tagesordnung wieder übergehen. Insofern ist das abzuwägen, was wir hier politisch uns wünschen und was eventuell ökonomisch positiv ist. Hier muss man ganz klar sagen: Wenn Russland wieder eingebunden wird und wenn es hier wieder eine stärkere Öffnung gibt, hat das ökonomisch positive Effekte, die natürlich politische Probleme mit sich bringen. Dobovisek: Das führt uns aber direkt zu der nächsten, vielleicht auch einer der letzten Fragen in unserem Gespräch. Sind die G7 überhaupt noch ein Wirtschaftstreffen, oder ist es reine globale Weltpolitik? "Gespräche sind immer notwendig" Bräuninger: Ich glaube, es war immer globale Weltpolitik oder eine Verbindung zwischen Wirtschaft und globaler Weltpolitik. Letztlich kann man diese beiden Dinge gar nicht voneinander trennen. Politische Entscheidungen haben ökonomische Konsequenzen und umgekehrt bewirken ökonomische Ziele auch wiederum politische Entscheidungen. Die beiden sind immer miteinander verzahnt und man kann das, glaube ich, nicht voneinander trennen. Dobovisek: Jetzt hatten viele in der Vergangenheit das G7-Format bereits totgesagt, gerade weil die Gipfelergebnisse oft eher dürftig ausgefallen waren. Für Trump war es dieses Mal ein Gipfel der Deals, könnte man sagen: ein Deal mit Frankreich, einer vielleicht mit den Brexit-Briten, der nächste Gipfel möglicherweise im Trump-Hotel in Miami. Wie fällt Ihr Fazit aus? Bräuninger: Na ja. Man muss ja schon immer glücklich sein, wenn sie sich getroffen haben, gesprochen haben und dabei nicht weiter zerstritten haben und es nicht zum Abbruch gekommen ist, sondern die Gespräche stattgefunden haben und wenn es in einigen Teilen Einigungen gibt. Ich glaube noch nicht an die ganz große Einigung und ich glaube auch nicht, dass die Probleme behoben sind. Letztlich haben sie sich nicht verschärft und ich glaube nicht, dass es Lösungen wirklich gegeben hat. Aber das ist ja auch schon etwas und Gespräche sind immer notwendig, um irgendwann zu Lösungen zu kommen. Ich glaube nicht, dass es schnell und einfach in den nächsten Monaten Verbesserungen oder wirkliche ernsthafte Verbesserungen gibt. Aber es hat zumindest keine Verschlechterung gegeben und das ist schon mal ein gutes Zeichen. Dobovisek: Muss das G7-Format deshalb eine Zukunft haben? Bräuninger: Das sind weiterhin die sieben wichtigsten Industrienationen und wichtigen wirtschaftlich bedeutenden Nationen, und hier ist es durchaus sinnvoll, dass die sich regelmäßig zum Gespräch treffen – entweder vor Ort treffen, oder zumindest zum Austausch treffen. Das könnte vielleicht auch mal stärker elektronisch stattfinden. Aber letztlich glaube ich, dass Treffen und Gespräche notwendig sind. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Bräuninger im Gespräch mit Mario Dobovisek
Es sei notwendig, dass sich die sieben wichtigsten Industrienationen regelmäßig treffen, sagte Ökonom Michael Bräuninger zum G7-Gipfel im Dlf. "Eine Deglobalisierung ist sicherlich schädlich für alle". Die Annäherung zwischen dem Iran und der USA reduziere Unsicherheit und sei darum ein gutes Zeichen.
"2019-08-26T23:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:53.046000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/annaeherung-iran-und-usa-oekonom-eine-beruhigung-in-der-100.html
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Suche mit internationalen Satelliten
Im Fall des rätselhaften Verschwindens eines malaysischen Passagierflugzeugs haben die Behörden das Suchgebiet noch einmal deutlich vergrößert. Es umfasst jetzt 93.000 Quadratkilometer – eine Fläche so groß wie Bayern und Hessen zusammen. Indien ließ seine Küstenwache in der Andamanensee sowie in der Nähe der Nikobaren-Inseln nach möglichen Wrackteilen der Boeing 777 suchen, teilte das indische Außenministerium mit. Das Land kam damit einer Bitte der malaysischen Regierung nach, die inzwischen von zwölf an der Suche beteiligten Ländern spricht. 42 Schiffe und 39 Flugzeuge versuchen demnach das Passagierflugzeug zu finden, in dem sich vor allem Chinesen befanden. The welfare of both the crew and passenger’s families remain our focus. We urge everyone to respect the feelings of the families involved.— Malaysia Airlines (@MAS) 12. März 2014 Mehrere Staaten stellen Satellitenbilder zur Verfügung Zusätzlich wurde eine internationale Satelliten-Suche gestartet. Auf Bitten Chinas seien Erd-Beobachtungssatelliten mehrerer Staaten zur Verfügung gestellt worden, teilte der Satelliten-Pool mit, ein Zusammenschluss von 15 Weltraumagenturen und nationalen Weltraum-Instituten. Das von ihnen unterzeichnete Abkommen ermöglicht, in Notfällen die Bilder der Satelliten auszuhändigen. Zu den beteiligten Staaten zählen neben den EU-Ländern auch die USA, Japan, China und Indien. Die Maschine der Malaysia Airlines war in der Nacht zu Samstag in Kuala Lumpur Richtung Peking gestartet und eine Stunde später gegen 01.30 Uhr von den Radarschirmen verschwunden. Der malaysische Luftwaffenchef Rodzali Daud bestätigte einen Medienbericht, wonach das Militär rund 45 Minuten später eine Maschine über der nördlichen Straße von Malakka westlich von Malaysia auf dem Radar entdeckt habe. Es sei aber noch unklar, ob es sich bei dem Signal wirklich um die vermisste Maschine gehandelt habe, schränkte Rodzali ein. Auch am fünften Tag fehlt jegliche Erklärung für das Verschwinden Der Grund für das Verschwinden der Maschine ist damit weiter unklar. Die Behörden schließen weder einen Anschlag aus noch eine Entführung oder technisches Versagen. Die Polizei prüft zudem, ob sich unter den Passagieren Menschen mit psychischen Auffälligkeiten befunden haben könnten. Weiter keine Spur von der verschollenen Boeing 777: Das Suchgebiet wurde inzwischen auf 93.000 Quadratkilometer ausgeweitet. (dpa picture alliance / Hotli Simanjuntak) Malaysias Regierungschef Najib Razak rief zur Geduld auf. "Wir müssen bei der Herausforderung, die Gott uns auferlegt hat, ruhigbleiben", sagte er in einem Fernsehinterview. Die Regierung tue alles, um noch mehr Ressourcen für die Suche zur Verfügung zu stellen.
null
Auch am fünften Tag nach dem Verschwinden der Boeing 777 mit 239 Menschen an Bord fehlt jede Spur der Maschine. Die internationalen Rettungskräfte haben das Suchgebiet ausgeweitet – und hoffen jetzt auf Satellitenbilder.
"2014-03-12T17:43:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:31.690000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verschwundenes-flugzeug-suche-mit-internationalen-satelliten-100.html
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Der fernste Galaxienbaustein
Dabei stießen sie auf eine Minigalaxie, deren Licht offenbar mehr als 13 Milliarden Jahre unterwegs zu uns war. Der vorgelagerte Galaxienhaufen wirkt dabei dank seiner großen Masse als gewaltige Gravitationslinse, die das Licht dahinter liegender Objekte ähnlich wie eine optische Linse bündelt und verstärkt. Ein erster Hinweis auf die sehr große Entfernung der Minigalaxie war ihre extrem rötliche Farbe: Je länger Licht eines kosmischen Objekts zu uns unterwegs ist, desto mehr wird seine Wellenlänge durch die zwischenzeitliche Expansion des Universums gedehnt, und desto röter erscheint es. Zugleich lässt die ungleichförmige Verteilung der Materie innerhalb des Galaxienhaufens Mehrfachbilder ein und desselben Hintergrund-Objekts entstehen. Diese stehen umso weiter auseinander, je größer der Abstand zwischen dem als Gravitationslinse wirkenden Haufen und dem dahinter liegenden, abgebildeten Objekt ist. Die Abbildungswirkung des Galaxienhaufens war schon ein paar Jahre zuvor von einer anderen Forschergruppe unter deutscher Leitung bestimmt worden. Daraus konnten die Wissenschaftler nun die Entfernung der Minigalaxie und damit die Laufzeit ihres Lichts bis zu uns ableiten: Es wurde ausgesandt, als das Universum gerade einmal rund 500 Millionen Jahre alt war.
Von Hermann-Michael Hahn
Bei ihrer Suche nach den ältesten Galaxien und ihren Bausteinen ist den Astronomen jetzt ein ganz frühes Objekt "ins Netz gegangen". Die Forscher haben die Umgebung des Galaxienhaufens Abell 2744 am Südhimmel mit dem Hubble-Weltraumteleskop beobachtet.
"2015-02-07T02:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:20:13.727000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/astronomie-der-fernste-galaxienbaustein-100.html
260
15.000 bei Demonstration in Dresden
In Dresden gingen am Abend 15.000 Menschen auf die Straße, um gegen eine Islamisierung Deutschland zu demonstrieren. (imago/Peter Blick) Das Bündnis "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" erhält weiter Zulauf. Hatten sich in der vergangenen Woche noch etwa 10.000 Menschen dem Demonstrationszug angeschlossen, waren es nun etwa 5.000 mehr. Mit "Wir sind das Volk"-Rufen zogen Tausende durch die sächsische Landeshauptstadt. Auf Bannern der Pegida-Unterstützer waren Sprüche zu lesen wie "Gewaltfrei gegen Glaubenskriege" oder "Keine Scharia in Europa". Viele wollen sich gegenüber der Presse nicht äußern, berichtet unser Reporter Wolfram Nagel. Andere Gruppen wie "Dresden für alle" und "Dresden Nazifrei" hatten zeitgleich zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Sie blieben aber in der Unterzahl. Konnten die Pegida-Gegner in der vergangenen Woche dort noch rund 9.000 Menschen mobilisieren, waren es am Abend laut Polizei nur etwa 5.600 Demonstranten. Demonstrationszug in Bonn verhindert Anders das Bild in Bonn: Dort stellten sich rund 1.600 Pegida-Gegner etwa 300 Unterstützern der Bonner Gruppierung "Bogida" entgegen und verhinderten so deren Demonstrationszug. Sowohl in Bonn als auch in Dresden blieben die Proteste friedlich. Auf politischer Ebene geht die Diskussion über die Pegida-Gruppierung weiter. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi sagte der "Passauer Neuen Presse", die Demonstrationen des Bündnisses seien nicht friedlich, "denn sie vergiften das politische Klima und schüren Hass". Es sei ein "gefährliches Spiel mit fremdenfeindlichen Ressentiments und tumben Vorurteilen", das die Organisatoren dieser Demos betrieben. Die stellte sich damit an die Seite von Bundesjustizminister Heiko Maas, der die Pegida-Bewegung als "Schande für Deutschland" bezeichnet und dafür Kritik auf sich gezogen hatte. Bundeskanzlerin Merkel warnt vor Pegida Auch der parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium, Günter Krings (CDU) warnte vor den Pegia-Protesten. Sie zeichneten "ein gefährlich verzerrtes Bild", zitiert ihn die "Rheinische Post". Die Gruppierung kritisiere eine angebliche Islamisierung und fordere schärfere Asylgesetze. Allerdings ließe dies außer Acht, dass aktuell viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen, die selber vor Islamisten fliehen würden. Gestern hatte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) persönlich zu den Protesten geäußert und vor "Hetze und Verleumdung von Menschen" gewarnt. Jeder müsse aufpassen, nicht von den Initiatoren einer solchen Veranstaltung instrumentalisiert zu werden. (pr/bn)
null
In mehreren deutschen Städten sind wieder Bürger gegen eine angebliche Islamisierung auf die Straße gegangen. In Dresden waren es nach Polizeiangaben etwa 15.000 Menschen, die sich der Pegida-Demonstration anschlossen - deutlich mehr als in der vergangenen Woche.
"2014-12-16T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:10.222000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pegida-proteste-15-000-bei-demonstration-in-dresden-100.html
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Von Leistungen und Lücken
In der Berliner Arche bekommen Kinder kostenlos zu essen - manche von ihnen sind darauf angewiesen, weil es zu Hause zu wenig gibt (Foto: Die Arche) Die 9-jährige Lina steht an der Essensausgabe im Untergeschoss eines Plattenbaus am nordöstlichen Berliner Stadtrand. Hier, in der ehemaligen Schule - heute die Hellersdorfer "Arche" vom Christlichen Kinder- und Jugendwerk - gibt es täglich ein warmes Mittagessen für bedürftige Kinder und deren Eltern. "Nudeln Bolognese - und ansonsten das, was ich aufgeschnitten hab, also noch Paprika, Gurke, Melone und die Früchte hier. Wir packen immer 100 Teller raus und ich denke mal so 80 dürften das schon gewesen sein." Weit über 100 Kinder kommen jeden Tag hierher, darunter auch Lina. Dass es wichtig ist, Geld zu sparen, hat die 9-Jährige schon verstanden. "Ich finde schön, dass sie hier ganz viele Sachen mit uns machen, zum Beispiel die Hoffeste und dass wir alles kostenlos haben, die Hüpfburgen - auch alles kostenlos -, Essen, und dass sie im Sommer auch mit uns schwimmen gehen. Weil die meisten ja hierher kommen, weil sie nicht so viel Geld haben fürs Essenkaufen und so." Das Geld reicht vorne und hinten nicht Linas Mutter Andrea ist 36 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von drei Mädchen. Keiner der verschiedenen Väter zahlt Unterhalt. Andrea arbeitet in Teilzeit bei einem sozialen Träger und verdient dabei so wenig, dass sie mit Hartz IV aufstocken muss. Nach Abzug der Kosten für zum Beispiel Miete, Strom oder Monatskarten für den Nahverkehr bleiben gut 500 Euro im Monat für sie selbst, Lina und deren zwei Schwestern. 4,80 Euro sind für einen Erwachsenen im Hartz IV-Regelsatz täglich für Essen und Getränke vorgesehen, 3,70 Euro für ein Kind zwischen 6 und 14 Jahren. Weil das Geld vorne und hinten nicht reicht, kommt Linas Mutter fast täglich zum Essen in die "Arche". "Um Geld zu sparen, weil Mittagessen jeden Tag für vier Personen ja auch kostet, weil man ja Kartoffeln kochen muss, und wenn es dann mal Fleisch oder irgendwas sein soll, bist du dann ja auch schon bei 10, 15, 20 Euro dabei, wenn es für alle reichen soll. Von daher gehen wir hier in der Woche essen." "Umfairteilen - Reichtum besteuern" Demonstration in Bochum (dpa) Das eingesparte Geld verwendet sie dann lieber dafür, mit den Kindern mal ins Kino oder in den Tierpark zu gehen. Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur gibt's nämlich laut Amt für Kinder täglich gerade mal 1,50 Euro. Viel zu wenig, um soziale Teilhabe zu ermöglichen, beklagen Sozial- und Wohlfahrtsverbände. Ein Thema, das zuletzt hochkochte, als Gesundheitsminister Jens Spahn sagte, Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. Der CDU-Politiker hatte damit wiederum auf die Diskussion um die Essener Tafel reagiert, die kurzzeitig keine neuen ausländischen Kunden aufgenommen hatte. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands und Mitglied der Linken, findet allerdings, Spahn habe in dem Zusammenhang nur das ausgesprochen, was alle bisherigen Arbeits- und Sozialminister so oder so ähnlich gesagt hätten. "Die werden immer behaupten, Hartz IV deckt alles ab, was man braucht, denn sonst müssten sie ja eingestehen, dass sie ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen, die in Not sind, als Sozialstaat nicht nachkommen." Kommt der Staat seinen Verpflichtungen nicht ausreichend nach? Der paritätische Gesamtverband kritisiert: Zunehmend müssten kirchliche und private Organisationen - zum Teil auch Ehrenamtliche - die Aufgaben übernehmen, die eigentlich originär staatliche seien. In Berlin-Hellersdorf zum Beispiel das Christliche Kinder- und Jugendwerk mit seiner "Arche". Weil das Hartz IV-Budget für Kinderkleidung nur knapp 44 Euro monatlich vorsieht, wird hier auch Secondhand-Kleidung angeboten. Die 8-jährige Doreen freut sich: "Ich find es schön, dass man sich da Kleider holen kann, also Sachen, wenn man nicht so viel hat. Manchmal Hose oder T-Shirt, Pullover oder Schuhe." In unmittelbarer Umgebung der "Arche" leben 80 Prozent der Menschen von Transferleistungen wie zum Beispiel Hartz IV oder der Grundsicherung. Die christliche Organisation setzt sich dafür ein, dass die betroffenen Kinder nicht noch mehr abgehängt werden - und bietet neben gesundem Essen und Kleidung auch Hausaufgabenhilfe, sinnvolle Freizeitangebote und nicht zuletzt auch Bezugspersonen. Denn die Eltern seien oft nicht nur finanziell, sondern auch persönlich überfordert, sagt Wolfgang Büscher von der "Arche". Die Mehrzahl der Familien sei nicht nur arm, sondern auch bildungsfern. "Ich selbst habe immer wieder erlebt, der Fernseher läuft von morgens 7 bis abends 23 Uhr, und es läuft nicht unbedingt das Bildungsfernsehen, um es mal salopp zu formulieren. Wenn man Hunger hat, kauft man auch schnell mal in der Tanke ne Pizza, und die kostet da nicht 2 Euro sondern 11 Euro. Und wir haben das hier sehr häufig, dass Eltern dann in der "Arche" nachfragen: 'Habt ihr Geld für mich, ich kann nichts mehr zu essen kaufen'." Viele gut gemeinte Leistungen des Staates kämen deshalb bei den Kindern gar nicht an, so Büscher. Eltern seien häufig nicht in der Lage, die Anträge auszufüllen, andere hätten schlicht kein Interesse. "Für unsere Eltern ist das sehr schwierig. Mir hat mal eine Mutter hier gesagt, 'Ich stelle mich doch nicht sechs Stunden in der Arbeitsagentur an, damit mein Kind eine Klassenfahrt mitmachen kann!'. Und dann hat dieses Kind keine Chance. Wir müssen den Filter 'Eltern' abschaffen", fordert Büscher. Er meint, der negative Einfluss bestimmter Eltern auf ihre Kinder müsse minimiert werden. Dazu brauche es einen starken Staat - für Büscher gleichbedeutend mit einem qualitativ guten und zeitlich umfangreichen Bildungs- und Betreuungsangebot von der Kita bis zur Ganztagsschule. Auch die Politik fordert stärkere Interventionen Eine deutliche Stärkung der staatlichen Institutionen in diesem Bereich will auch Franziska Giffey, die neue Bundesfamilienministerin von der SPD. "Wenn die Kinder in einer guten institutionellen Förderung sind, dann kann ein Stück weit ausgeglichen werden, was im Elternhaus nicht geleistet werden kann. Ich bin der Meinung, dass die Eltern im Grundsatz das Beste für ihr Kind wollen, aber viele können es nicht so, wie es eigentlich nötig wäre, und dann muss aus meiner Sicht der Staat auch als Ausfallbürge dieses kompensieren." So will die neue Bundesregierung mit 2 Milliarden Euro die Ganztagsbetreuung an Grundschulen ausbauen. Für die frühkindliche Bildung stehen laut Giffey weitere 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Hartz IV-Sätze oder andere Sozialleistungen massiv zu erhöhen - wie es zum Beispiel die Linke seit Jahren vehement fordert - ist für die SPD-Politikerin und frühere Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Neukölln nicht die Lösung. "Ich komme ja aus einer Kommune, in der jedes Jahr 75 Prozent des Gesamtbudgets für Sozialleistungen ausgegeben worden sind. Und ich fand immer, unser Ziel muss sein, dass wir davon irgendwann mal wegkommen. Nicht, weil wir die Sozialleistungen kürzen, sondern weil wir es schaffen, mehr Menschen in ein selbstbestimmtes Leben zu bringen. Und das ist etwas, was wir für ganz Deutschland immer wieder als Richtschnur haben müssen." "Mehr Menschen in ein selbstbestimmtes Leben bringen": Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will die staatlichen Institutionen deutlich stärken (picture alliance / dpa / Sophia Kembowski) Die neue SPD-Bundesfamilienministerin macht damit indirekt klar: Vom Vorschlag ihres Parteifreundes Michael Müller hält sie nicht viel. Berlins Regierender Bürgermeister hatte bereits Ende letzten Jahres vorgeschlagen, das System Hartz IV durch ein "Solidarisches Grundeinkommen" zu ergänzen. Dafür sollten Langzeitarbeitslose freiwillige und unbefristete Tätigkeiten bei Kommunen aufnehmen, zum Beispiel Parks reinigen, Alte und Kinder betreuen. Die Bezahlung entspräche mindestens dem gesetzlichen Mindestlohn. Doch Müller dürfte es schwer haben, in der eigenen Partei das Konzept des solidarischen Grundeinkommens durchzusetzen, von der Großen Koalition ganz zu schweigen. Der Koalitionsvertrag sieht einen sogenannten "Sozialen Arbeitsmarkt" für maximal 150.000 Langzeitarbeitslose vor - zeitlich beschränkte Lohnkostenzuschüsse für Unternehmen, Verbände und Kommunen, die Langzeitarbeitslose beschäftigen. Beim Koalitionspartner CDU trifft Müllers Vorschlag erst recht nicht auf Verständnis. Hartz IV solle nicht angetastet werden, sagt die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. "Ich halte es für ein schwieriges Signal in der deutschen Politik, dass wir in einer Zeit, in der wir auch im Gegensatz zu anderen Staaten eine robuste Verfasstheit auch am Arbeitsmarkt haben, eher das Problem haben, Arbeitsplätze auch besetzen zu können, dass wir die Diskussion über die Frage, Wohlstand, was bedeutet Wohlstand und Teilhabe, eben am System Hartz IV beginnen." Kein Konzept der GroKo gegen die "soziale Schieflage"? Doch genau das fordert Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. Natürlich müsse bei einer Debatte über Armut, Wohlstand und Teilhabe mit dem System Hartz IV begonnen werden. "Der Koalitionsvertrag zeigt, was Armutsbekämpfung anbelangt, eine fast skandalöse Leerstelle. Dieser Koalitionsvertrag führt eigentlich die soziale Schieflage, die wir in der Sozial- und Familienpolitik haben, aus der letzten Groko in der neuen Groko weiter." Doch: Grundsätzlich mehr Geld für Sozialleistungen auszugeben und die Hartz IV-Sätze anzuheben, ohne die Strukturen zu reformieren, das dürfte Armen in vielen Fällen nicht weiterhelfen. Ein Beispiel: Von einer Erhöhung des Kindergelds profitieren Mütter und Väter im Hartz IV-Bezug nicht, denn deren Kindergeld wird mit dem Anspruch aus Hartz IV verrechnet. Gleiches gilt für den Unterhaltsvorschuss, den der Staat zahlt, wenn Väter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen. So ist die Mutter der 9-jährigen Lina aus Berlin-Hellersdorf aus dem ergänzenden Hartz IV herausgefallen, nachdem sie den Unterhaltsvorschuss vom Sozialamt erhalten hat. Das bedeutet für sie nun: weniger Vergünstigungen. Unter dem Strich also nicht mehr Geld. "Ich habe die Fahrkartenvergünstigung nicht mehr, ich habe die GEZ nicht mehr, das muss ich alles selber bezahlen jetzt. Und wenn ich berechne, für so ein Hartz IV Ticket, also für so ein Berliner S-Bahn Ticket, würde ich bezahlen: 27,50 Euro, jetzt zahle ich für eine Fahrkarte 63,42 Euro. Also das sind Gelder, die sind auch ganz schön hoch." Auch die Schulbücher für ihre drei Töchter muss sie nun wieder selbst bezahlen sowie die normalen Eintrittspreise für Berliner Museen und Freibäder. Und sollte ein Kind aus einer Hartz IV Familie doch mal auf die Idee kommen, in den Ferien zu arbeiten, um mehr Geld zu haben, wird es schnell merken, dass sich das nicht lohnt. Gerade mal 100 Euro im Monat bleiben anrechnungsfrei. Von jedem zusätzlich verdienten Euro müssen 80 Cent abgegeben werden. Die Folge: Viele Familien bleiben lieber im Hartz-IV-System. Ähnlich beim Kinderzuschlag - diese staatliche Leistung können Eltern mit niedrigen Löhnen beantragen, dadurch sind sie nicht zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Hier immerhin will die Große Koalition ansetzen. Familienministerin Franziska Giffey. "Wir haben Leute, die sich ausrechnen: 'Lohnt sich das überhaupt, arbeiten zu gehen?', und das darf ja nicht sein. Der Kinderzuschlag, den wir jetzt haben, muss zu einem echten "Familienaufstiegsgeld" entwickelt werden, wo Familien sagen, 'Es lohnt sich, wenn wir mehr tun. Es lohnt sich, wenn wir mehr verdienen!'. Und wir haben dann trotzdem einen positiven Effekt und wir kommen weg vom Rückfall in die Sozialleistung und hin zu einer wirklichen Möglichkeit, dann auch das eigene Leben selbst zu finanzieren und zu gestalten." Zahl der Obdachlosen steigt dramatisch Das eigene Leben selber finanzieren und gestalten - davon sind viele Obdachlose weit entfernt. Zwar gibt es nur Schätzungen, aber ihre Zahl ist in den letzten Jahren drastisch angestiegen. So geht die "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe" davon aus, dass derzeit eine knappe Million Menschen in Deutschland keine Wohnung haben. Über 52.000 lebten dauerhaft auf der Straße und die Zahl werde weiter steigen, warnt der Interessenverband. Immer mehr Menschen in den Großstädten würden aus ihren angestammten Quartieren verdrängt und viele landeten so auf der Straße. Auch dem Berliner Siegfried-Ernst Muschak wäre es beinahe so ergangen. Im Fernsehen läuft SOKO Wismar. Davor auf einem Stuhl, eingequetscht zwischen Eisenbett und einem kleinen Holztisch, sitzt Muschack, 65 Jahre alt, fast weiße, halblange Haare, orangefarbenes Polohemd. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit eine knappe Million Menschen in Deutschland keine Wohnung haben. Im Bild: Ein Obdachloser in der Nähe des Kurfürstendamms, Berlin (imago/Jürgen Ritter) "Langsam hängen einem die Krimis zum Halse raus, wenn man will, man kann durchgucken von halb elf bis tief in die Nacht." Sechs Jahre wohnt Muschack schon hier, auf 12 qm, im Erdgeschoss der "Teupe", einem Heim für Wohnungslose. Damit ist er einer der vergleichsweise wenigen Glücklichen, die das Amt untergebracht hat, als die Obdachlosigkeit drohte. "Dass ich aus meiner Wohnung geflogen bin, war meine eigene Schuld, weil ich damals nicht zum Sozialamt gegangen bin, als ich arbeitslos wurde, bin immer ungefähr 120 Euro von der Miete schuldig geblieben, und dann kamen natürlich irgendwann Mahnschreiben und dann kam die fristlose Kündigung und Räumungsklage natürlich." Siegfried-Ernst Muschack hat schwere Arthrose, ist Alkoholiker, inzwischen Rentner und in eine eigene Wohnung kaum mehr vermittelbar. Dass er nicht wie viele andere unter der Brücke schlafen muss, bezeichnet er als Glücksfall. "Ich war erst mal froh, dass ich eine Decke über den Kopf hatte und eben nicht auf der Straße gelandet bin, also das wäre nun für mich schauderhaft gewesen, wie für jeden Menschen, das ist ja für niemanden angenehm." Obdachlose aus Südosteuropa In Berlin kommt ein großer Teil der Obdachlosen aus Südosteuropa. Da innerhalb der EU Freizügigkeit gilt, dürfen sie sich in Deutschland aufhalten. Solange sie nicht arbeiten, haben sie aber keinen Anspruch auf Sozialleistungen und werden deshalb von einigen Bezirksämtern nicht oder nur für sehr kurze Zeit untergebracht. Auch ihnen stünde ein Platz im Wohnheim zu, meint Thomas Specht von der "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe". "Die Kommunen sind verpflichtet, rechtlich verpflichtet, nach Ordnungsbehördengesetz alle obdachlosen Menschen, das ist juristisch betrachtet eine Störung der öffentlichen Ordnung, so heißt das leider, diese Störung zu beseitigen. Und das hat sie zu tun durch die Bereitstellung von Unterkunftsplätzen. Und die Kommunen, einige Kommunen, auch Berlin, stellen für die Gruppe der Zuwanderer aus der Europäischen Union diese Unterkünfte nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Ich sage klar: Das ist rechtswidrig." Dennoch sei das in Berlin gängige Praxis, betont Robert Veltmann vom Sozialträger Gebewo, der diese und drei weitere Unterkünfte in Berlin betreibt. Einige Bezirke würden sich darauf berufen, dass laut Gesetz nur Menschen untergebracht werden müssten, die nicht freiwillig obdachlos seien. "Wir wissen, dass es gelegentlich so interpretiert wird, dass jeder, der nicht freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehrt, ist ja nicht unfreiwillig, sondern freiwillig obdachlos, weil er ja nicht das tut, was er tun könnte, um seine Obdachlosigkeit zu beseitigen." Hier würde sich der Staat seiner Fürsorgepflicht entziehen, kritisieren soziale Träger - zumal das Recht auf Wohnen auch ein Menschenrecht sei. Über 30.000 Personen sind in Berlin auf Grundlage des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, kurz ASOG, in Heimen oder Pensionen untergebracht - geschätzt über 3.000 sind obdachlos. Auch die "Teupe" ist voll belegt. In einem der Häuser wohnen 150 hauptsächlich alleinstehende Männer und ein paar Frauen mit deutschem Pass, in einem anderen Haus sind es Familien mit Kindern, fast alle Osteuropäer. Selbst wenn die Bezirksämter die Menschen herschickten, weigerten sich oft die Jobcenter, dafür zu bezahlen, erzählt Heimleiter Marcel Deck: "Verkehrte Welt, weil eigentlich ein Anspruch, der da sein sollte, Unterbringung nach ASOG, muss eigentlich von unserer Seite dann wieder eingeklagt werden mit den Bewohnern zusammen. Da krankt es dann schon im System an der Stelle." "Unser Sozialstaat muss besser werden, fairer werden" Genau wie beim Thema Kinderarmut zeigt sich bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit: Mit dem gleichen Geld könnte der Sozialstaat mehr erreichen, würden Strukturen reformiert und bürokratische Hemmnisse beseitigt. So wären soziale Träger wie die "Gebewo" bereit, ihr Angebot auszuweiten und mehr Wohnungslose zu betreuen, sie finden aber keine geeigneten Häuser. Trotz drohender Obdachlosigkeit sei es aber nicht erlaubt, diese Menschen etwa in umgebauten Gewerbeobjekten unterzubringen, erläutert Sozialmanager Robert Veltmann. "Der Sozialsstaat macht den Menschen unnötig das Leben schwer": Johannes Vogel, FDP (pa/dpa/Balk) "Da gibt es einfach das deutsche Baurecht, das sagt, dass im Gewerbegebiet Menschen nicht wohnen dürfen, für Flüchtlinge wurden Ausnahmen geschaffen. Wohnungslose Menschen darf man in den gleichen Gebäuden nicht unterbringen." Dieses Beispiel bestärkt den FDP-Sozialpolitiker Johannes Vogel in seiner Haltung, demzufolge Deutschland nicht etwa zu wenig Geld im sozialen Bereich ausgebe. Die Lücken im Netz entstünden, weil das Geld nicht zielgerichtet eingesetzt werde, so Vogel. "Unser Sozialstaat muss besser werden, fairer werden. Er ist oft bürokratisch, er macht den Menschen unnötig das Leben schwer, er macht es zu schwer rauszukommen aus der Abhängigkeit, Stichwort Aufstiegschancen bei Langzeitarbeitslosen, da müssen wir etwas tun." Parallel zum Bürokratieabbau fordern Linke und Sozialverbände, generell die staatlichen Sozialleistungen zu erhöhen. Der Staat habe dafür zu sorgen, dass jeder in Deutschland ein Leben in Menschenwürde führen könne, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. "Wenn wir jetzt fragen, 'Was tut der Staat tatsächlich, was gewährt er?', dann müssen wir sagen, er kommt dieser Verpflichtung ganz objektiv nicht nach. Weil die Leistungen definitiv zu gering bemessen sind, um die Grundbedürfnisse abzudecken." Die Schlangen an den Essensausgaben der Tafeln werden mit Sicherheit nicht kürzer, prophezeit Schneider, sie blieben für viele Menschen mit wenig Geld attraktiv. Sei es, um damit ein Grundbedürfnis zu befriedigen oder um dadurch Geld zu sparen und sich so einen Kinobesuch leisten zu können.
Von Claudia van Laak und Anja Nehls
Die Debatte um Hartz IV ist ein Dauerthema mit großem Empörungspotenzial. Zuletzt provozierte Bundesgesundheitsminister Spahn mit der Aussage, Hartz IV sei nicht gleichbedeutend mit Armut. Kritiker monieren, der Staat komme seiner Fürsorgepflicht nicht nach. Wie aber kann die soziale Schieflage wieder austariert werden?
"2018-04-19T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:48:43.991000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sozialsstaat-unter-druck-von-leistungen-und-luecken-100.html
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Schräge Töne
Die Nationalspieler Mesut Özil, Jerome Boateng und Shkodran Mustafi vor dem Spiel Deutschland-Ukraine, EM 2016 (picture alliance / dpa / Marius Becker) Spieler wie Özil, Khedira oder Boateng bewegen ihre Lippen nicht. Möglicherweise sogar nachvollziehbaren Gründen: Als Kinder nicht-deutscher Eltern ist für sie kein Platz in einem von globalisierter Realität überholten Konzept. Der schlichte Nationalismus einer Hymne aus dem 19. Jahrhundert erzählt einem Ilkay Gündogan einfach nichts über sein interkulturelles Leben im Jahr 2018 zwischen türkischem Elternhaus, deutscher Sozialisation und englischem Arbeitsplatz. Die deutsche Nationalmannschaft während der Nationalhymne, Frankfurt am Main 1986 (picture alliance / dpa) Andererseits können vielleicht manche Spieler besonders gut Fußball spielen, mit ihren sängerischen Qualitäten ist es jedoch nicht zum Besten bestellt und ihr Motiv ist deshalb schlichtweg: stilvolle Zurückhaltung. Die Nationalhymnen ertönen aus zeremoniellen Gründen vor Fußball-Länderspielen. Singen verbindet und stiftet Gemeinschaftsgefühle, um die es ja gehen soll in einer Fussballmannschaft. Doch betrachtet man die deutschen Turniere der letzten Jahrzehnte, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Bis in die 90er Jahre hinein lauschten die deutschen Spieler eher ihre Hymne, als dass sie selbst mitsangen. Aber auch seit das Mitsingen zum kollektiven Standard geworden ist, treffen die wenigsten den Ton so gut wie den Ball.
Von Matthias Dell
Manche Spieler stehen nur da und bewegen höchstens stumm die Lippen, andere tun nicht mal das: Um das gemeinsame Singen der Nationalhymne gibt es seit einigen Jahren regelmäßig Streit, besonders wenn die Nicht-Sänger Mesut Özil oder Jerome Boateng heißen. Dabei hat das Nicht-Singen eine lange Tradition.
"2018-06-17T17:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:32.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hymnen-singen-bei-der-fussball-wm-schraege-toene-100.html
263
Land der Unruhe
Portugiesen hat es immer in die Welt getrieben. (picture-alliance / dpa / Federico Gambarini) Seefahrer wagen sich vor 600 Jahren mit ihren Karavellen aufs Meer - obwohl viele ihrer Vorgänger nie zurückkehren. Obwohl sie wissen, dass hinterm Horizont nicht nur schwere Stürme, sondern auch gefährliche Seeungeheuer warten. Sie riskieren, was damals unmöglich schien: Sie umsegeln das Kap Bojador und finden schließlich den Seeweg nach Indien. Die Portugiesen besiedeln ihre Kolonien in Afrika, Asien und Südamerika. Und erst, als kaum noch eine Kolonie übrig ist, wenden sie den Blick zurück nach Europa und wandern zu Hunderttausenden nach Frankreich, Luxemburg und nach Deutschland aus. Heute ist das Übersiedeln in EU-Regionen, die mehr Jobs bieten als die Heimat, einfach geworden. Seit 2010 kommen viele portugiesische Krankenpfleger oder Ingenieurinnen nach Deutschland. Ihre Eltern und Großeltern waren als Gastarbeiter gekommen und stehen inzwischen geradezu beispielhaft für gelungene Integration. Aus dieser Erfolgsgeschichte lässt sich lernen. Reisen, Flüchten, Auswandern oder Umsiedeln prägen in einer globalisierten Welt inzwischen den Alltag. Auszug aus dem Manuskript: Früher nahmen sie das Schiff, heute sind sie mit dem Flugzeug unterwegs – kreuz und quer in der Welt. Stets auf gepackten Koffern. Soweit das Klischee von Portugal, Land der Seefahrer und Entdecker. Und deshalb heißen portugiesische Restaurants in aller Welt "A caravela" "O navegante" oder "Vasco da Gama". Die Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Ana Margarida Abrantes hält diese sehr haltbare Geschichte höchstens für gut erzählt: "Ich weiß nicht, inwiefern das wirklich so ist oder ob wir uns das als Geschichte eingeprägt haben, von diesen Seefahrern, die so lange ins Meer geguckt haben, dass sie endlich mal wissen mussten, was da hinter dem Horizont steckt, ob da überhaupt was ist, das ist eine sehr runde Erklärung, aber letztendlich ist es nicht das, was uns treibt, irgendwas zu suchen, was uns fehlt, ich weiß nicht, ob das nicht woanders genauso ist, vielleicht erklärt man das, weil das ne gute Erzählung oder Narrative ist, aber ob das wirklich so ist? Weiß ich nicht. Das sind normalerweise ganz pragmatische Gründe, die einen dazu treiben, ein besseres Leben in der Ferne zu suchen." Es gibt Schätzungen, die sagen, dass auf jeden der zehn Millionen Portugiesen in Portugal einer kommt, der im Ausland lebt. Viele leben in Frankreich, der Schweiz und in Luxemburg. Aber auch nach Deutschland kamen sie – als Gastarbeiter in den 1960er- und 70er-Jahren. Literatur: Bernardo Gomes de Brito: "Portugiesische Schiffbrüchigen-Berichte. 1552 - 1602." Aufgezeichnet von Augenzeugen Leipzig und Weimar. G. Kiepenheuer Verlag (1985)Jorge Nascimento Rodrigues, Tessano Devezas: "Pioneers of Globalization. Why the Portuguese surprised the World"Centro Atlântico (2007)Michael Studemund-Halvy: "Portugal in Hamburg"Ellert & Richter Verlag (2007)Gonçalo M. Tavares: "Uma viagem à Índia" LeYa (2010) Das Buch ist ein Epos in Versform, zum Glück ungereimt – angelehnt an die "Lusíadas" von Luís de Camões (1572 erstmals in Portugal erschienen) und steht in der Tradition portugiesischer Literatur zum Thema Reisen, Entdeckungen und Schiffbrüche. Leider liegt es noch nicht in deutscher Übersetzung vor. Die Handlung spielt in der Gegenwart. Der Held, Bloom, macht sich von Lissabon aus auf den Weg nach Indien, um weiser und glücklicher zu werden. Dabei ist er längere Zeit auch in Europa unterwegs, und der Erzähler der Geschichte räsoniert über die Schwierigkeit, mit denen die Fremde dem Reisenden begegnet – und umgekehrt.Übersetzung von sechs Abschnitten aus dem Epos "Uma viagem à Índia": II, 49 Und die Bedeutung der Sprache. Sprechen wir darüber. Bloom ist ein intelligenter Mensch, in einem Land ohne geteilte Sprache wird er zum Idioten. Und dieser Umstand offenbart das ganze Übel, das die Vervielfachung der Sprachen für das Denken in der Welt mit sich bringt. Unter Chinesen, die seine Sprache nicht verstehen, kann der europäische Philosoph mit einem Betrunkenen oder einem dumpfen Tier verwechselt werden. II, 80 Man sagt, jede Sprache kann als ein spezielles Verfahren definiert werden, die Stille zu unterbrechen. Und die Stille von Paris gleicht im Allgemeinen der Stille von London oder Wien, doch die Art, wie diese Stille unterbrochen wird, unterscheidet sich auf grausame Weise, auch wenn man die kurzen europäischen Wege berücksichtigt. Zu dieser Grausamkeit, mehr oder weniger geordnet in Syntax, Orthografie und Geschwätz, das auf zivilisierte Art den Sauerstoff und den Nebel durchbricht, dazu sagen wir Sprache. V, 67 Da draußen hat die Wirklichkeit einen stärkeren Geruch. Im Haus schrumpft das Land auf ein Din A4-Blatt - begrenzt von ein oder zwei Fenstern und einem großen Möbel. Wer die blutige Revolution auf dem Fernseher seines Wohnzimmers sieht, glaubt nicht, dass es da draußen einen einzigen Toten geben kann. Im Haus ist die Geschwindigkeit der Welt übermäßig klein, aber das ist die richtige Geschwindigkeit für jeden Feigling. II, 59 Ein Luxus, das Glück? Ein Luxus, die Gastfreundschaft der Nachbarn oder der unbekannten Bewohner von Paris, Rom, Wien, Prag? Ist Europa, oder gar die ganze Welt, eine Mixtur aus inkompatiblen Substanzen, so dass ein Mensch sich nie mit einem anderen Menschen so verbinden kann, dass er verschwände, wie eine Flüssigkeit sich in einer anderen auflöst, es sei denn in der Mutter, die das Kind im Bauch trägt. Aber kann ein Mensch nicht einmal im Leben Lust haben einem Fremden die Tür zu öffnen? Sind der Hass und der Überlebensinstinkt eine Angewohnheit oder eine exakte Spezialisierung, die Organismen (aus der Luft?) empfangen, wenn sie wachsen? III, 20 Ich komme also, oder meine Stimme in meinem Namen, ich komme, sagte er, an den Ort von dem ich aufgebrochen bin: Portugal, Lisboa, Rua Actor Isidoro, n° 31, erster Stock rechts. Ein sympathisches Viertel, mit einem Lebensmittelladen an jeder Ecke. Inmitten der Stadt, laut, mit Autoabgasen, bist du praktisch auf dem Land, denn du hast Apfelsinen und Äpfel in deiner Straße. III, 21 Abwesenheit von Industrie und bedeutenden Fabriken, das ist die Hygiene eines Landes wie dem unseren. Und wenn es keine wesentlichen Schornsteine gibt, sorgt selbst der Rauch einer Zigarette für statistische Effekte. Weder groß noch gewaltig, aber sympathisch ist es, dieses Land. Zwei Seiten zeigen zum Land, zwei Seiten zum Meer. Und so kommt die Sache fast ins Lot. Auszug aus dem Manuskript: Guia do português na Alemanha. Handbuch des Portugiesen in Deutschland. Die deutsche Geisteshaltung. Hygiene und Sauberkeit. Benehmen in der Öffentlichkeit: Sie alle dürften bereits zu der Einsicht gelangt sein, dass die Geisteshaltung der Deutschen sich in fast allen Aspekten von der portugiesischen unterscheidet. Die deutsche Seinsweise ist in Wahrheit völlig anders – und auch ein wenig inkompatibel mit unserer Lebensart. Ein Erste-Hilfe-Buch auf Portugiesisch, geschrieben von einem Portugiesen mit langjähriger Deutschlanderfahrung. Joaquim Ferreira: "153/154 Die erklären das auf Portugiesisch, wie ist die deutsche Mentalität. Den Portugiesen wurde erklärt, wenn du nach Deutschland kommst, du kommst zwar zum Arbeiten, aber du musst aufpassen, wie ticken die Deutschen, ja? Also hier steht zum Beispiel, wenn du dich jetzt öffentlich darstellst auf der Straße oder im Cafe, oder egal wo du bist, du musst dich benehmen, normal benehmen, steht hier eigentlich. Du sollst nicht schreien, du sollst nicht so laut reden, du sollst nicht pfeifen, du sollst nicht singen, also nicht zu hoch, zu laut singen, dementsprechend musst du dich benehmen, du sollst so wenig wie möglich ges- gestu- äh gestikulieren, genau das Wort hab ich gesucht. 1966 kam sein Vater Carlos Ferreira nach Groß-Umstadt: Clara Ferreira Pereira: "Als mein Mann hier ankam, gab es erst vier Portugiesen hier, und die wohnten hier nebenan, ein Stück die Straße hoch, da war ein Restaurant, das gibt’s heute noch. Er wohnte oben drüber, die vier Portugiesen zusammen. Die hatten eine Küche zusammen und jeder ein eigenes Zimmer." Zuhause in Nordportugal hatte er einen Job gehabt. Und seine Frau arbeitete auch – als Schneiderin. Sie waren zufrieden, die beiden Söhne waren gut in der Schule – aber Anfang der 60er-Jahre gingen ein paar Nachbarn ins Ausland. Im Ort sprach sich herum: In Deutschland konnte man deutlich besser verdienen als in Portugal. Clara Ferreira Pereira: "Es war so: Familie hat Familie gerufen. Mein Mann hat gesagt, er geht zuerst, du kommst nach. Kinder waren gut in der Schule, sind erstmal dort geblieben. Heute würde ich das mit zwei Kindern nie mehr machen. Kinder immer mit Mama. Margit Reichwein: "Später weiß man es besser." 1967 reiste Clara ihrem Mann hinterher. Die beiden Jungs ließ sie bei den Großeltern. Joaquim Ferreira: "Ich war in der ersten Klasse noch dort besucht." Clara Ferreira Pereira: "... in Portugal. Joaquim: "Ja. Dann haben die Eltern gesagt, ihr kommt nach Deutschland, das war 1971, da hatten wir hier die Schwierigkeiten, ich hab hier die zweite Klasse besucht, konnte aber kein deutsch, und so als Portugiese in ner deutschen Klasse wars halt nicht einfach. Aber als Kind kannst du halt die Sprache schnell lernen. Bis 74 sind wir dann hiergeblieben, sind hier zur Schule gegangen, Auch damals hat man schon gewisse Jugendliche oder Kinder in der Klasse gehabt, weil du Portugiese warst und die Sprache nicht so gut konntest, dass du nicht so beliebt warst. Und zum Teil verständlich, weil du konntest dich ja nicht gut verständigen. Und es war auch so, dass die Lehrerin auf mich oder uns, wir waren zwei Portugiesen und ein Spanier in der Klasse, ein bisschen Rücksicht nehmen musste, damit wir mitkommen. Deshalb war’s so damals: es war schön, Deutschland war ein Land, wo du alles hattest, du hast von den Eltern Schokolade, Autos und Spielzeug bekommen, aber auf der andern Seite hat schon die Heimat ein bisschen gefehlt, weil ich ja auch in Portugal geboren bin und meine Kindheit ja auch dort verbracht hatte, den ersten Teil meiner Kindheit. Und die Lehrerin die Frau Neff ... Clara und Margit: "Ja!" Clara Ferreira Pereira: "Jeden Tag geschimpft, weil verstehen kann nicht. Ich hab gesagt, Frau Neff, ich verstehen auch nicht. Ich kann ihm nicht helfen. Und sie: 'Jaaaa, aber ich kann nicht verstehen.' Ja! Aber was soll ich machen?" Joaquim Ferreira: "Nach drei Jahren ..." Clara Ferreira Pereira: "Und später: Oh wie schön, dein Kind!" Nach drei Jahren in Deutschland war Joaquim Klassenbester. Joaquim Ferreira: "Wenn wir Frau Neff heute begegnen, auf dem Marktplatz oder so, dann schwätzen wir noch." Clara Ferreira Pereira: "Doch, lange hat sie uns noch gesprochen, hat gefragt, aber später, als es am besten ging in der Schule. Am Anfang nicht so." Links:Europastudien zum kollektiven "Eroberungsgedächtnis" der PortugiesenDie im Verhältnis größte portugiesische Community in einer deutschen GemeindeFadomuseum Lissabon auf EnglischMigrationsforschung am Institut für Soziologie an der Uni Lissabon, teilweise auf Englisch Blog von José Leite zu diversen historischen Orten und Themen in Portugal mit vielen Fotos und Infos. Auf Portugiesisch
Von Grit Eggerichs
"Navegar é preciso", Navigieren tut not - so lautet eine Gedichtzeile von Fernando Pessoa, dem großen portugiesischen Dichter. Portugiesen suchen ihr Glück gern in der Ferne. Davon berichten in Frankfurt gelandete Krankenschwestern, zurückgekehrte Gastarbeiter und der Bürgermeister einer inzwischen sehr portugiesischen Gemeinde im Odenwald.
"2016-09-24T23:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:23.824000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-der-portugiesischen-sehnsucht-nach-der-100.html
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Triumph des rechtsextremen Front National
Freude bei Marine Le Pen über das Ergebnis für ihren Front National bei den französischen Regionalwahlen. (AFP / Denis Charlet) Das konservativ-bürgerliche Lager des früheren Staatschefs Sarkozy erzielte nach Angaben des Innenministeriums rund 27 Prozent. Damit liegt es nur knapp hinter dem Front National, der auf 28 Prozent kam. Die Sozialisten von Präsident Hollande schafften nur etwa 23 Prozent. Der FN erreichte in mindestens sechs der 13 französischen Regionen den ersten Platz. Für die rechtsextreme Partei ist dies das beste Ergebnis ihrer Geschichte bei einer landesweiten Wahl. Allerdings wird erst in der zweiten Wahlrunde am kommenden Sonntag entschieden, wer in den Regionalparlamenten künftig die Mehrheit hat. Die Chefin des Front National, Marine Le Pen, bezeichnete den FN in einer ersten Reaktion als "erste Partei Frankreichs". "Wir sind dazu berufen, die nationale Einheit zu erreichen, die das Land braucht", sagte die 47-Jährige. Sozialisten wollen Kandidaten zurückziehen Die Sozialisten kündigten an, dann zum Teil auf eigene Kandidaten zu verzichten. Parteichef Cambadélis erklärte, damit wolle man das konservative Lager unterstützen und einen Sieg des Front National verhindern. Betroffen sind die Regionen Nord-Pas-de-Calais-Picardie und Provence-Alpes-Côte d'Azur. Eine bittere Pille für die Sozialisten. Denn die Partei von Präsident Hollande würde dann in den kommenden Jahren nicht in diesen Regionalparlamenten vertreten sein. Für Sarkozys konservative Republikaner kommt ein solches Vorgehen hingegen nicht in Frage. Für die zweite Runde sind alle Parteien qualifiziert, denen der Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde gelungen ist. Die Wahl fand drei Wochen nach den Anschlägen von Paris unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Regionalwahlen haben symbolische Bedeutung: Sie sind die letzten großen Wahlen vor der Präsidentschaftswahl 2017, bei denen sich Le Pen gute Chancen ausrechnen kann, zumindest in die Stichwahl einzuziehen. (adi/fwa)
null
Aus der ersten Runde der Regionalwahlen in Frankreich ist der rechtsextreme Front National (FN) als stärkste Kraft hervorgegangen. Die Partei von Marine Le Pen kommt landesweit auf rund 28 Prozent. Die Sozialisten von Präsident Hollande wollen in der zweiten Runde nicht in allen Regionen antreten, um das bürgerliche Lager zu stärken.
"2015-12-07T06:08:00+01:00"
"2020-01-30T13:12:49.741000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regionalwahlen-in-frankreich-triumph-des-rechtsextremen-100.html
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Verboten, aber immer noch allgegenwärtig
Auf der Grundlage des Zensus aus dem Jahr 2011 ist die Zahl der Fünf- bis 14-jährigen, die Kinderarbeit leisten in Indien seit 2001 um fast die Hälfte zurückgegangen (Picture Alliance / EPA/ dpa / Piyal Adhikary) Lakshmi und ihre große Schwester verkaufen rote Rosen. An einer Straßenkreuzung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi schlängeln sich die beiden Mädchen unerschrocken zwischen den Autos hindurch, sobald die Ampel an der Kreuzung der beiden mehrspurigen Straßen auf Rot gesprungen ist. "Rosen, kauft Rosen. Nur zehn Rupien. Dann haben wir was zu essen." Die achtjährige Lakshmi, deren Name in Sanskrit Glück, Schönheit und Reichtum bedeutet, muss sich auf die Zehenspitzen stellen. Sie ist etwa so klein, wie in Deutschland eine Vierjährige. Ihre Haut ist rau, das Haar struppig und die Augen sind trüb. Ganz offensichtlich hat Lakshmi, ebenso wie ihre ein Jahr ältere Schwester, von Anfang an zu wenig und zu schlecht zu essen bekommen. Die Mutter der beiden Mädchen sitzt am Straßenrand und hütet ihren Sohn: "Wir versuchen, eine Arbeit für Tageslohn zu bekommen. Wenn das nicht klappt, fahren wir zum Markt und kaufen Rosen und verkaufen sie hier. Mein Mann ist krank. Andere Arbeit kann er nur ein paar Tage lang machen. Dann geht es mit seinen Gelenken nicht mehr." Also arbeiten auch die Töchter. Zahlen gehen weit auseinander Wie viele Mädchen und Jungen in Indien Kinderarbeit leisten, ist nicht genau bekannt. Die Nichtregierungsorganisation des Friedensnobelpreisträgers Kailash Satyarthi geht von knapp zwölf Millionen aus, die indische Regierung von 4,4 Millionen. Sie zählt allerdings nur die illegal arbeitenden Kinder dazu, also solche, die etwa in Plastikfabriken oder Ziegeleien unter gefährlichen Bedingungen schuften. Kinder wie Lakshmi, die ihren Eltern bei deren Arbeit helfen, werden nicht mitgezählt. Friedensnobelpreisträger Satyarthi, betrachtet Kinderarbeit als ein globales Problem. Nicht nur in seiner Heimat Indien gebe es noch viel zu viele Kinder, die arbeiten müssten, statt zur Schule zu gehen. "Bei meinem Kampf gegen Kinderarbeit in Indien und ganz Südasien habe ich erkannt, dass das nicht ein isoliertes Problem des einen oder anderen Landes ist. Das muss man global betrachten und bekämpfen. Auf der einen Seite mussten wir eine starke soziale Bewegung gegen Kinderarbeit schaffen und auf der anderen Seite für wirkungsvolle Gesetze sorgen. Und über allem steht unsere Forderung nach einer internationalen Konvention gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit." Auf der Grundlage des Zensus aus dem Jahr 2011 ist die Zahl der Fünf- bis 14-jährigen, die Kinderarbeit leisten in Indien seit 2001 um fast die Hälfte zurückgegangen. Diese Einschätzung wird auch von den Vereinten Nationen geteilt. Yuri Afanasiev, der Indien-Beauftragte des UN-Entwicklungshilfeprogramms UNDP: "Als Vertreter der Vereinten Nationen in Indien gratulieren wir Premier Modi und dem zuständigen Arbeitsministerium zur historischen Umsetzung der Resolutionen 132 und 182, die auch die entsprechenden Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation sind. Das schützt Kinder vor der schlimmsten Ausbeutung und Diskriminierung am Arbeitsplatz." Jetzt sei die Kinderarbeit "wieder da" Seit 2016 ist in Indien Kinderarbeit für unter 14-Jährige gänzlich verboten. Und doch gibt es sie noch in vielen Bereichen. Benjamin Pütter von der katholischen Hilfsorganisation "Die Sternsinger" war vor einigen Monaten mit einem Fernsehteam des ARD-Wirtschaftsmagazins "Plusminus" im Norden Indiens unterwegs und fand Kinder bei der Arbeit an Teppich-Webstühlen. Kinder, die offen sagten, dass sie lieber zur Schule gehen wollten, es aber nicht dürfen: "Was für ein Schock. Wir sind hier in der Nähe des Taj Mahals, wo alle Touristen hingehen, und mir ist zum Heulen zumute. Ich sehe lauter Kinder, die hier arbeiten, und Teppiche herstellen. Ich arbeite seit Jahrzehnten gegen die Kinderarbeit, ich habe in den 90ern und den 2000er-Jahren fast überhaupt keine Kinderarbeit mehr gefunden hier, und jetzt ist sie wieder da." Armut sei die Hauptursache für Kinderarbeit, schreibt das indische Arbeitsministerium auf seiner Webseite. Die Regierung unternehme alles, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und Verstöße gegen das Verbot der Kinderarbeit aufzudecken und zu bestrafen.
Bernd Musch-Borowska
Kinderarbeit ist in Indien trotz Verbesserungen weiter ein Problem. Eine Nichtregierungsorganisation geht von knapp zwölf Millionen arbeitenden Kindern aus, die Regierung von 4,4 Millionen. Seit 2016 ist Kinderarbeit für Unter-14-Jährige gänzlich verboten. Und doch gibt es sie noch in vielen Bereichen.
"2019-06-12T05:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:56:39.186000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kinderarbeit-in-indien-verboten-aber-immer-noch-100.html
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Henkel: "Die AfD ist verwerflich und dumm geworden"
Der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel baute die AfD mit auf, verließ die Partei aber im Jahr 2015. Heute gilt er als einer ihrer Kritiker. (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt) Silvia Engels: Zur Entwicklung der Spendenaffäre bei der AfD hatten wir an dieser Stelle nach diversen Absagen von AfD-Spitzenpolitikern gestern eigentlich eine Zusage von Ralf Özkara bekommen, dem AfD-Landeschef von Baden-Württemberg. Also aus dem Bundesland, in dem die dubiosen Spenden im Kreisverband Bodensee angekommen sind. Herr Özkara hat uns dann gestern Abend allerdings wieder abgesagt. Ich zitiere: "Aufgrund der aktuellen Ereignisse hätten sich parteiinterne Termine ergeben. Die hätten Vorrang", so die Begründung. Wir freuen uns deshalb besonders, dass uns kurzfristig Hans-Olaf Henkel zugesagt hat. Früher war er BDI-Präsident, dann baute er die AfD in ihrer Anfangszeit unter dem früheren Parteichef Lucke mit auf. Damals ging es ja vor allen Dingen um die Kritik an der Wirtschafts- und Währungspolitik der Bundesregierung. 2014 wurde er dann für die AfD ins Europaparlament gewählt, und als sich in den Kurs der Partei immer mehr rechtsradikale Elemente mischten, trat er aus . Im Juli 2015 war das und er wurde zum scharfen Kritiker. Guten Morgen, Herr Henkel. Hans-Olaf Henkel: Guten Morgen. Engels: Sie haben die AfD, damals noch eine eurokritische, aber eher liberale Partei, mit aufgebaut. Wie haben Sie damals dafür gesorgt, dass bei einer schnell wachsenden Partei trotzdem in Sachen Finanzen und Spenden alles ordentlich lief? Henkel: Ja, das war gar nicht einfach, denn wir haben inzwischen gelernt, dass die Parteien in Deutschland im Gegensatz zu Parteien in irgendwelchen anderen Ländern eine sehr großzügige staatliche Unterstützung bekommen. Deshalb ist es für neue Parteien immer sehr, sehr schwer, in das politische Geschehen eingreifen zu können. Wir haben damals verzweifelt nach Finanzquellen gesucht, auch die eine oder andere gefunden, natürlich die dann auch angemeldet, wenn es nötig war. Und ehrlich gesagt, letzten Endes habe ich dann eingegriffen mit einem Kredit von erst 600.000 Euro und dann noch aufgestockt auf eine Million, denn sonst hätten wir den damals ja dann schließlich erfolgreichen Europawahlkampf gar nicht führen können. "Vernünftige und die Anständige haben Partei verlassen" Engels: Damals natürlich alles angegeben und angemeldet. Ist denn damals auch in dieser Gründungsphase mal etwas schiefgegangen beim Umgang mit Spenden, die an die AfD gingen? Denn jede neue Partei muss ja erst mal das Handwerkszeug lernen. Henkel: Ich war damals ja auch stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes und war bei allen diesen Vorstandstreffen anwesend. Ehrlich gesagt, kann ich mich an so was nicht erinnern. Ich kann mir schon vorstellen, dass irgendwo mal in einem Kreisverband oder in einem Landesverband irgendwas schieflief. Wir hatten zum Beispiel ein recht skandalöses Verhalten des damaligen Vorsitzenden des nordrhein-westfälischen Verbandes, Herrn Pretzell, aber da hat der Vorstand dafür gesorgt, dass das aufgearbeitet und untersucht wurde. Das endete dann schließlich in der Empfehlung der Gruppe, die das untersucht hatte, dass der Herr Pretzell sein Amt niederlegen müsse. Das hat er dann nicht getan und das hat sich dann auch alles schon dadurch erledigt, dass dann, ich möchte mal sagen, die Vernünftigen und die Anständigen diese Partei dann verlassen haben. Engels: Nun haben wir beim AfD-Kreisverband Bodensee direkt zwei möglicherweise illegale Großspenden. Zum einen gab es eine gestückelte Spende von 132.000 Euro über eine Schweizer Firma, hinter der womöglich ein Geschäftsmann steht. Die Spende hätte, aus der Schweiz kommend, laut Parteiengesetz wohl gar nicht angenommen werden dürfen. So lautet ein Vorwurf. Außerdem wurde sie erst Monate später zurückgezahlt und dem Bundestagspräsidium nicht gemeldet. Das wäre ein zweiter Verstoß. Dann geht es um einen zweiten Fall: 150.000 Euro einer Stiftung namens "Identität Europa", die nach neuesten Erkenntnissen wohl niederländische Wurzeln hat. Das Geld ging Mitte Februar ein. Wegen Unklarheit der Spenderidentität habe der Kreisverband Bodensee das Geld zurückgezahlt. Das sagt die AfD. Allerdings hat sie nicht unverzüglich gemeldet oder zurückgezahlt, sondern erst im Mai, also drei Monate später, und das Bundestagspräsidium erfuhr offenbar erst vor einigen Tagen davon. Sind das zwei klare Verstöße gegen das Parteiengesetz, nach Ihrer Einschätzung? "Bei uns wäre das auf keinen Fall passiert" Henkel: Nach meiner Einschätzung ist der erste Fall offensichtlich ein klarer Verstoß, und ich glaube, deshalb hat ja die Staatsanwaltschaft in Konstanz auch Ermittlungen aufgenommen. Das wird die dann schon herauskriegen. Das kann ich hier nicht so von der Ferne aus sagen. Aber es sieht so aus. Beim zweiten Fall kommt es darauf an. Es hätte gemeldet werden müssen, mit Sicherheit, schon aufgrund der Höhe. Die Frage ist, ist zu viel Zeit verstrichen, bevor man es dann von sich aus zurücküberwiesen hat. Das kann ich auch nicht beurteilen. Ich kann nur eines sagen: Das wäre bei uns damals auf keinen Fall passiert. Übrigens mir fällt bei diesen Skandalen auf: Diese Partei hatte ja auch noch zu unserer Zeit sich immer damit gebrüstet, dass sie sich in der Moral von den anderen Altparteien unterscheiden wolle. Bei der CDU hat es Jahrzehnte gedauert, bevor es zu diesem großen Parteiskandal kam; bei der AfD nur drei oder vier Jahre. Man sieht, wie schnell sich diese Partei schon angepasst hat. Engels: Alice Weidel, die Fraktionschefin, hat heute früh noch mal in einer Presseerklärung deutlich gemacht, dass sie alle Vorwürfe zurückweist. Jetzt haben Sie einen langen Überblick auch über Parteispenden-Skandale in anderen Parteien. Wann ist nach Ihrer Erfahrung heraus einfach auch der Punkt erreicht, wo man politisch Verantwortung übernehmen muss, wenn in der eigenen Partei auf untergeordneter Ebene so etwas passiert? Henkel: Der ist schon nach meiner Meinung längst überschritten. Man kann ja über den Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble alles Mögliche sagen, aber die haben ja damals dann letzten Endes auch ihre Konsequenzen gezogen, beziehungsweise ziehen müssen. Hier stellt sich offensichtlich der Parteivorsitzende, Herr Gauland, sogar noch hinter seine Kollegin und verteidigt sie. Man kann daran sehen, dass diese Partei eigentlich mit diesen Spendengeschichten zwei Gesichter gezeigt hat. Sie ist auf der einen Seite verwerflich geworden und auf der anderen Seite dumm. Denn das so was rauskommt, ist doch ganz offensichtlich. Und mit den beiden Begriffen verwerflich und dumm habe ich, glaube ich, die Entwicklung dieser Partei nicht nur, was die Spendengeschichte betrifft, beschrieben. Engels: Hans-Olaf Henkel war das. Er war früher BDI-Präsident. Dann baute er die AfD in ihrer Anfangszeit mit auf und trat dann aus, als rechtsradikale Elemente dort übernahmen. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Henkel. Henkel: Bitte schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans-Olaf Henkel im Gespräch mit Silvia Engels
In der AfD-Spendenaffäre habe die Fraktionschefin Alice Weidel den Zeitpunkt längst verpasst, politische Verantwortung zu übernehmen, sagte der frühere Vize-Chef der Partei Hans-Olaf Henkel im Dlf. Der Skandal zeige, wie schnell sich die AfD den traditionellen Parteien angepasst hätte.
"2018-11-16T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:50.168000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossspenden-henkel-die-afd-ist-verwerflich-und-dumm-100.html
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"Ich war lebendig begraben"
Dina Pronitschewa bei ihrer Zeugenaussage im Kiewer Prozess am 24. Januar 1946. (Centre for Jewish Studies NaUKMA ) Nach dem Einmarsch der Nazi-Truppen im Juni 1941 in die Sowjetunion wird am 23. September Kiew besetzt. Keine Woche später erschießen die Einsatzgruppen unter dem Kommando von Paul Blobel zwei Tage lang am Stadtrand von Kiew über 33.000 ukrainische Juden. Auf ein Denkmal für die derart abgeschlachteten Opfer der Nazis musste die Nachwelt Jahrzehnte warten, was der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko in einem Gedicht 20 Jahre nach dem Massaker beklagte. Der Komponist Dmitri Schostakowitsch füllte die Lücke 1962 mit seiner Sinfonie Nr. 13 Babi Jar. In ihr erklingen nur Männerstimmen. Doch ohne Dina Pronitschewa, eine ukrainische Puppenspielerin, wüsste die Welt weit weniger genau, was in jenen Tagen vor 75 Jahren geschah. Für ihre Eltern konnte Dina Pronitschewa nichts mehr tun Dina Pronitschewa trat als Zeugin auf in dem Kiewer Prozess am 24. Januar 1946. Ihr Sohn Wolodimir sieht sich das Video in diesen Tagen öfter an. Auch seine Mutter stand am Rand der zweieinhalb Kilometer langen und bis zu 50 Meter tiefen Schlucht Babi Jar, auch sie landete darin, auf einem Leichen-Berg. Ihn und seine Schwester hatte sie in Sicherheit gebracht, ihre jüdischen Eltern aber nach Babi Jar begleitet, erzählt der Sohn Wolodimir Pronitschew. "Die Leute kamen mit ihrem Hab und Gut auf Fuhrwerken, Handwagen, sogar LKW. Die Juden dachten, dass sie mit Zügen evakuiert werden sollten, weil sie eine Nation seien, die den Deutschen nahe steht. Schließlich hat man sie doch aufgefordert, warme Kleidung und Wertsachen mitzubringen. Sie dachten, man wollte sie vom Kriegsschauplatz fortschaffen." Als Wolodimir Pronitschews Mutter in Babi Jar ankam und sah, dass die Menschen auf einen Haufen ihre Wertsachen, auf einen anderen ihre Lebensmittel legen mussten und sich schließlich nackt ausziehen sollten, ahnte sie das Unheil. "Sie zerriss ihren Pass, in dem stand, dass sie Jüdin ist, und zeigte nur ihren Gewerkschaftsausweis und das Arbeitsbuch vor, in denen die Nationalität nicht vermerkt war. Ihr Nachname Pronitschewa war russisch, denn mein Vater war Russe. Sie gab sich als nichtjüdische Begleitperson aus." Für ihre Eltern konnte Dina Pronitschewa nichts mehr tun. Sie selbst drehte um, versuchte, den Platz zu verlassen. Doch kurz vor Einbruch der Dunkelheit wurden auch alle Begleitpersonen exekutiert. "Ich habe die Augen geschlossen und sprang in die Tiefe. Ich fiel auf die Leichen. Dann hörten die Schüsse auf und die Deutschen kamen nach unten in die Grube, gingen über die Körper und prüften, wer noch nicht tot war. Die erschossen sie. Ich verhielt mich so still ich konnte, und rechnete mit meinem Ende. Dann wurde es dunkel. Sie schippten Sand auf die Körper. Ich verstand, dass ich lebendig begraben war. Nachts bewegte ich meine linke Hand und spürte, dass sie an der Oberfläche war. Dann schaufelte ich mich frei, dass ich mehr Luft bekam und schließlich grub ich mich ganz aus. Ich kroch über die Leiber aus der Erde wieder heraus. Es war stockfinster. Von oben waren immer wieder Schüsse zu hören, sie feuerten noch im Dunkeln runter in die Schlucht. Ich war sehr vorsichtig. An einer Seite der Grube kletterte ich nach oben." Dem Massengrab entkommen, wollte sie nur noch eins: Zeugnis ablegen Diese Aussage machte Dina Pronitschewa am 24. Januar 1946 vor dem Kiewer Gericht. Sie hatte sich aus dem Massengrab gerettet und mit ihr ein 14-Jähriger, Matwej. "Sie waren zu zweit und versuchten aus der Grube herauszukommen. Er ging voran und als er fast oben war, erblickte ihn ein Wachmann und erschoss ihn sofort. Sie versteckte sich weiter, den dritten Tag. Auch da hatte sie kein Glück, denn ein Hund schlug an, als sie es wieder versuchte." Einmal dem Massengrab entkommen wollte sie danach nur noch eins: Zeugnis ablegen von dem Verbrechen. Das allerdings versuchten die Nazis mit aller Macht zu verhindern. Noch an der Schlucht wurde sie entdeckt und verhaftet. Sie entkam. Nicht nur ein- , sondern viele Male. Sprang aus einem fahrenden Häftlingstransport, versteckte sich in Kellern, auf Dächern, wurde wieder gefasst, ins Gefängnis gesperrt, wo ihr ein deutscher Soldat zur Flucht verhalf. Sie ging 150 Kilometer zu Fuß nach Beloje Zerkow, kam unter in dem dortigen Puppentheater, wurde entdeckt, fand ein anderes. Der Sohn bewundert den Überlebenswillen und Mut seiner Mutter "Mein Vater wurde von der Gestapo verhaftet, er sollte sagen, wo seine jüdische Ehefrau ist. Sie suchten sie, denn sie wussten, dass sie gesehen hatte, was in Babi Jar geschah. Sie jagten und suchten sie überall." Der Vater kehrte aus dem Gestapo-Gefängnis nicht mehr nach Hause zurück, Wolodimir und seine Schwester kamen getrennt in Kinderheime, denn sie waren bei den Großeltern und Freunden nicht sicher. Zwei Jahre dauerte die Flucht der Mutter. Erst einige Wochen nach der Befreiung Kiews am 6. November 1943 fand Dina Pronitschewa zunächst ihre Tochter, dann ihren Sohn wieder. Wolodimir Pronitschew bewundert den beispiellosen Überlebenswillen und Mut seiner Mutter bis heute. Sie starb 1977, er wurde Offizier in Weltraumbahnhof Baikonur. Das Video ihrer Zeugenaussage sieht er derzeit auch im Historischen Museum der Stadt Kiew in der Ausstellung zum 75. Jahrestag von Babi Jar. Und er hört Schostakowitsch: die Sinfonie Nummer 13. Von dem Namen Babi Jar existieren mindestens zwei Schreibweisen und zwei Aussprachen. Wir verwenden in diesem Text die russische Variante, die 'Babbi 'Jarr gesprochen wird. Im Ukrainischen heißt der Schauplatz des Massakers Babyn Jar, gesprochen 'Babbinn Jarr.
Von Sabine Adler
Nach der deutschen Besetzung Kiews im Zweiten Weltkrieg ermordeten SS-Sonderkommandos und Soldaten in der Schlucht Babi Jar am 29./30. September 1941 mehr als 33.000 Juden. Die Ukraine gedenkt an diesem Tag des Massenmordes, Bundespräsident Gauck nimmt an der Trauerfeier teil. Ohne eine ukrainische Puppenspielerin hätte die Welt allerdings kaum erfahren, was vor 75 Jahren geschah.
"2016-09-29T07:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:56:22.587000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/75-jahrestag-von-babi-jar-ich-war-lebendig-begraben-102.html
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Hamburg muss Kosten alleine tragen
Hamburg hatte mit einer Beteiligung der Bundesregierung in Höhe von etwa 3,5 Millionen Euro an den Kosten gerechnet. (dpa/picture alliance/Christian Charisius) Die Stadt Hamburg wird den Großteil der Rechnungen zahlen müssen. Nach Informationen des Deutschlandfunks hat Bundesinnenmister Thomas de Maizière der Hansestadt vergangene Woche schriftlich mitgeteilt, dass der Bund sich nicht an den Kosten für die Olympiabewerbung beteiligen wird. Darauf hatten die Hamburger Politiker gehofft. Zum einen seien schon einige Verträge vor der Gründung der obligatorischen Bewerbergesellschaft GmbH, zu der unter anderem der Bund gehörte, abgeschlossen worden und könnten der Regierung nicht nachträglich in Rechnung gestellt werden. Zum anderen sei der Gesellschaftervertrag so gestaltet gewesen, das für den Bund keine Rechtspflichten entstanden seien, begründet das Bundesinnenministerium seine Absage. Eine Antwort des BMI auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen bestätigt die Deutschlandfunk-Recherchen. Zitat: "Die Bundesregierung hat keine Einblicke darin, welche Verpflichtungen die übrigen Gesellschafter der Bewerbungsgesellschaft Hamburg 2024 GmbH – Freie und Hansestadt Hamburg, Land Schleswig-Holstein, Landeshauptstadt Kiel, Handelskammer Hamburg – für die Bewerbung um die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 insgesamt eingegangen sind und welche Gesamtkosten daraus resultieren." 12,6 Millionen Euro hat der Traum bisher gekostet Von maßgeblichen Verpflichtungen seitens der Regierung ist hier nicht die Rede. Ursprünglich hatte Hamburg mit einer Beteiligung der Bundesregierung in Höhe von etwa 3,5 Millionen Euro gerechnet. Die bisherigen Kostenschätzungen hat der Hamburger Senat nach einer Anfrage aus der Bürgerschaft veröffentlicht. Etwa 12,6 Millionen Euro hat der Traum von Olympia bisher gekostet, die endgültigen Zahlen sollen spätestens in einem Jahr nach der Liquidation der Bewerbergesellschaft vorliegen. Mehr als 80 Prozent der Summe muss der Hamburger Steuerzahler aufbringen. Nicht zum erstenmal wird über die Kosten diskutiert Denn aus der Wirtschaft kommen von den Sponsoren der Privatinitiative "Feuer und Flamme" nur 2,4 Millionen Euro. Zwei Posten der Olympia-Rechnung kosten alleine jeweils mehr als drei Millionen Euro. Zum einem das Referendum, das von der Stadt Hamburg bezahlt wird. Zum anderen belasten die Honorare für die Entwicklung der Bewerbungsdokumente von der Arbeitsgruppe Proprojekt/Albert Speer & Partner die Kasse. Sie machen fast die Hälfte der restlichen sieben Millionen Euro aus, die sich die Stadt und der Bund teilen sollten, so die Pläne des Hamburger Senates. Aber der Bund ist nicht willens, zu zahlen. Nicht zum ersten Mal gibt es Diskussionen um die Olympiakosten. Schon mit dem Finanzreport für die geplanten Sommerspiele 2024 an der Elbe war die Bundesregierung nicht einverstanden. Die Hamburger Planer hatten die Zuschüsse des Bundes viel zu hoch angesetzt. Auch damals war ein Nein aus Berlin gekommen.
Von Heinz-Peter Kreuzer
Olympia, nein danke! Fast vier Monate ist es her, dass die Bürger Hamburgs Sommerspiele in ihrer Stadt abgelehnt haben – und das, obwohl die Befürworter kräftig um Zustimmung geworben hatten. Eine Kampagne, die natürlich Geld gekostet hat. Die Kosten dafür muss die Stadt nun zum Großteil selbst bezahlen.
"2016-03-23T22:50:00+01:00"
"2020-01-29T18:20:19.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympiabewerbung-hamburg-muss-kosten-alleine-tragen-100.html
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"Die Unabhängigkeit wahren"
Lutz Marmor ist Intendant des NDR. (picture alliance / dpa / Oliver Berg) Während sich öffentlich-rechtliche Sender in ganz Europa gegen Attacken rechtspopulistischer Regierungen wehren, sieht NDR-Intendant Lutz Marmor den deutschen Rundfunk gut aufgestellt. "In Deutschland selbst haben wir unabhängige Gremien. Das ist ein großer Vorteil", sagte er im Dlf. Bisher keine Einflussnahme Er hoffe, dass diese Gremien auch bei Regierungswechseln unabhängig handeln und keine Personen austauschen würden. Dabei verwies er auf seine eigene Verantwortung: Es sei "die vornehmste Aufgabe eines Intendanten, die Unabhängigkeit des Senders zu wahren". Im NDR habe die unabhängige Berichterstattung noch nicht auf dem Spiel gestanden, sagte Marmor: "Bisher habe ich nicht erlebt, dass die Gremien uns da in irgendeiner Weise behindert hätten. Gremien würden sich zwar in der Zusammensetzung vielleicht verändern, die Gesetzgebung biete aber einen guten Schutz. "Die Leute nutzen öffentlich-rechtliche Angebote" Es sei wichtig, in der Berichterstattung das Framing der Gegner nicht zu übernehmen, sagte Marmor: "Nicht einfach Begriffe übernehmen und sagen, sie stimmen nicht – dann hat man schon einen ersten Fehler gemacht." Das sei in den Redaktionen inzwischen angekommen. Gleichzeitig verteidigte der Intendant das Programm der Rundfunkanstalten: "Die Leute nutzen öffentlich-rechtliche Angebote – ARD, ZDF, auch Deutschlandradio, Deutschlandfunk – drei Stunden und 23 Minuten jeden Tag für unter 60 Cent", sagte er. "Ich finde, das kann sich in der Relation auch nach wie vor sehen lassen." Höherer Rundfunkbeitrag nach 2020 Marmor forderte, den Rundfunkbeitrag ab dem Jahr 2021 nach zwölf Jahren ohne Erhöhung an die Inflation anzupassen: "Das ist schlicht unvermeidlich, wenn man uns nicht kleiner machen möchte." Die Öffentlich-Rechtlichen müssten aber auch besser erklären, warum ihnen Dinge wichtig seien. "Ich plädiere ganz offensiv dafür, auch die Unterhaltung bei uns zu belassen. Unterhaltung ist ein ganz menschliches Grundbedürfnis." Das sei auch die Erwartung der Gebührenzahler. Die Kooperation mit Sky für "Babylon Berlin" sei eine gute Möglichkeit gewesen, "um einerseits mit dem Geld der Beitragszahler ordentlich umzugehen, andererseits aber auch wirklich Top-Niveau bei uns zu gewährleisten." Schließlich konkurriere man mit großen internationalen Budgets. Starke Presse stützt den Rundfunk Die Einigung mit den Verlegern rund um die Internetangebote der Öffentlich-Rechtlichen, wollte Marmor im Gespräch mit dem Dlf noch nicht abschließend bewerten, äußerte sich aber positiv: "Wir brauchen ja auch eine unabhängige und starke Presse. Die bereitet ja auch den Boden für unsere Angebote. Und umgekehrt bin ich auch ganz sicher, Menschen, die Deutschlandfunk hören oder die Tagesschau sehen, die lesen auch im Schnitt mehr Zeitung oder nutzen die medialen Angebote der Verlage."
Lutz Marmor im Gespräch mit Mirjam Kid
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland sei gegen den Einfluss rechtspopulistischer Politiker gut gewappnet, sagte NDR-Intendant Lutz Marmor im Dlf. Um das Angebot aufrecht zu erhalten, müsste der Rundfunkbeitrag nach 2020 erhöht werden.
"2018-10-17T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:15:53.456000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oeffentlich-rechtliche-in-der-kritik-die-unabhaengigkeit-100.html
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"Jeder Flüchtling muss in einer Datenbank stehen"
Die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier. (imago - Jürgen Heinrich) Stephanie Rohde: Bei einer Kontrolle der Polizei in Mailand wurde Anis Amri gestern erschossen, nachdem er aus Deutschland über Frankreich nach Italien geflohen war. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière spricht von einem Fahndungserfolg, andere von Behördenversagen. Während das noch aufgearbeitet wird, ist die Debatte darüber, welche politischen Konsequenzen der Fall jetzt haben muss, voll entbrannt. Am Telefon begrüße ich jetzt die Europaparlamentarierin Monika Hohlmeier von der CSU, sie ist unter anderem Mitglied im Justiz- und Innenausschuss des Europaparlaments. Guten Morgen! Monika Hohlmeier: Guten Morgen! Rohde: War das gestern ein Fahndungserfolg? Hohlmeier: Ja, natürlich war das ein Fahndungserfolg, das ist völlig klar. Weil, wenn ein Terrorist, der ein Attentat begangen hat, sich frei in Europa bewegt oder in der Europäischen Union und auch in Deutschland bewegt und noch nicht sozusagen festgenommen werden konnte, dann ist das zunächst einmal ein Erfolg. Und da muss man sich bei allen Polizeibeamten und allen Sicherheitsdiensten, die dazu beigetragen haben, ihn dingfest zu machen – weil, das ist ja nicht ganz so einfach, eine Person in einem großen Raum, in dem er sich bewegen kann, wenn man allein Deutschland nimmt, wie groß Deutschland ist –, dann ist das eindeutig ein Erfolg, dass er festgenommen wurde. "Wir brauchen mehr Kontrollen" Rohde: Aber wie können Sie von Erfolg sprechen, wenn dieser Mann sich trotz der Überwachung frei bewegen kann in Frankreich, in Italien, und dann in einer Zufallskontrolle gestellt wird? Hohlmeier: Also, zunächst einmal, es sind alles keine Zufallskontrollen mehr. Wir machen keine Zufallskontrollen mehr innerhalb der Europäischen Union, sondern es finden seit den Anschlägen und seitdem man weiß, dass der Terrorismus deutlich mehr Probleme hervorruft, werden deutlich mehr Kontrollen durchgeführt. Es sind also letztendlich, wenn Sie so wollen, immer Zufallskontrollen, aber das ist es, was es auch tatsächlich braucht. Wir brauchen mehr Kontrollen sowohl in den ganz normalen Räumen, in denen wir uns bewegen, als auch im Grenzraum, weil es notwendig ist, wenn man zum Beispiel einen Fahndungsaufruf hat oder auch wenn man Gefährder festnehmen will oder Personen, die gesucht werden, dann muss es Kontrollen geben. Und in einem Raum der Freiheit, wie wir uns ja nennen, Raum der Freiheit und Raum der Sicherheit, gibt es aber Gott sei Dank keine Kontrollen, wie es sie in einem totalitären Staat gibt, da wird nicht überall, an jeder Ecke kontrolliert, sondern dort, wo es die Polizeibeamten für richtig und für notwendig halten. "Hätte man es vorher verhindern können?" Rohde: Wie läuft das denn mit dem Datenaustausch? Die deutschen Behörden sind ja nicht wirklich austauschfreudig, so wie sie sein sollten. Scheitert es nicht auch manchmal daran? Hohlmeier: Es gibt in der Tat Lücken. Und die Lücken haben sich in dem Fall ja ebenfalls sehr deutlich aufgetan. Die erste Lücke ist, dass man in Bezug auf Flüchtlinge ziemlich unfreudig ist, wirklich tatsächlich Daten konsequent auszutauschen. Es muss jeder Flüchtling, der da ist, muss tatsächlich in einer Datenbank stehen. Und es müssen die Daten auch abgeglichen werden mit den Daten zum Beispiel der europäischen Straftäterdatenbank. Also, die Datenbank nennt sich SIS, Schengener Informationssystem. Sie müssen abgeglichen werden, denn dann stellt man fest: Ist jemand tatsächlich ein Flüchtling oder nutzt er die Möglichkeit, hier Asyl zu suchen, nur aus, missbraucht also einen Flüchtlingsstrom? Als Zweites gibt es tatsächlich auch Lücken darin, und Deutschland ist noch eines der Länder, die am meisten Daten abgeben, aber wir hatten bis vor eineinhalb Jahren nur vier Länder, die sich an SIS wirklich intensiv beteiligt haben. Mittlerweile schaut es deutlich besser aus. Aber als Drittes gibt es hier zum Beispiel das Problem, der Mann hat schon im Gefängnis gesessen, er war schon in Abschiebehaft, man hätte sich etwas intensiver um Tunesien bemühen müssen, weil Tunesien nämlich tatsächlich normalerweise auch diejenigen, die missbräuchlich Antrag gestellt haben, auch wieder zurücknimmt. Das heißt, da traten schon Fehler auf, auch wenn das jetzt ein Fahndungserfolg ist, aber es traten Fehler auf, die vielleicht hätten verhindern können, dass derjenige, der als Gefährder auch schon erkannt worden ist, vorher hätte schon verhaftet werden müssen. Beziehungsweise mit der jetzigen Terrorismusrichtlinie, die es gibt, hätte eigentlich er auch wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder wegen Vorbereitung eines entsprechenden Attentats, er war wohl auf entsprechenden Websites unterwegs gewesen. Wenn man wirklich ihn so intensiv begleitet hätte, dann muss man sich ehrlich die Frage stellen: Hätte man es vorher verhindern können oder muss man da tatsächlich in Deutschland noch was ändern? Also, für mich stellen sich da mehrere Fragen. Auch wie kann der Mann von Italien nach Deutschland kommen? Da gibt es eine ganze Latte an Fragen. Wenn man ganz offen ist und ehrlich mit sich, muss man sich die Fragen stellen, auch wenn ich mich jetzt herzlich bei den Sicherheitsbehörden bedanke, dass sie ihn tatsächlich haben zwar nicht verhaften, aber zumindest … Er ist erschossen worden und er kann keinen weiteren Menschen schaden. "Für 100 Prozent können Sie keine Garantie schaffen" Rohde: Sie arbeiten ja im Innenausschuss des EU-Parlaments mit an der Antiterrorstrategie und man fragt sich … Sie haben jetzt auch gerade die Frage gestellt: Wie kann der sich so frei bewegen? Warum funktioniert diese Antiterrorstrategie nach so vielen Anschlägen immer noch nicht reibungslos? Hohlmeier: Für 100 Prozent können Sie keine Garantie schaffen. Der Grund liegt auch darin, dass es schwierig ist, eine Person über 24 Stunden lückenlos zu verfolgen, wenn Sie der Ansicht sind, dass es ein Gefährder ist. Ähnliche Probleme haben wir in Frankreich schon gesehen. Sie stoßen auf Personalprobleme, das ist ein Problem, das wir in Deutschland dringendst lösen müssen, es tauchen immer wieder auch Länder auf mit demselben Namen, das ist Nordrhein-Westfalen und Berlin, wo wir die sogenannten No-go-Areas in verstärkter Form haben, wo Leute auch untertauchen können, leichter untertauchen können, als es vielleicht an manchen anderen Plätzen der Fall ist. Die Polizei ist in Nordrhein-Westfalen als auch in Berlin, es gibt aber auch andere Bereiche in Deutschland, die bei Gott nicht optimal ausgestattet sind. Rohde: Das heißt, Sie würden da auch von Versagen sprechen? Hohlmeier: Ich spreche nicht von Versagen, aber ich spreche wirklich von einer Lehrstunde. Ich spreche auch von einer Lehrstunde, dass wir jetzt sicherlich richtig erkannt haben, dass dringend zusätzlich Bundespolizisten gebraucht werden, dass wir in Nordrhein-Westfalen eine deutlich besser ausgestattete Polizei brauchen, dass es in Berlin keine No-go-Areas geben darf, aber auch nicht in Duisburg oder in Marxloh, weil dort eben das … oder in Köln, weil es so leicht ist, dort unterzutauchen. Dass wir aber auch, wenn wir jemanden 24 Stunden überwachen müssen … Sie müssen sich vorstellen, da brauchen Sie bis zu 40 Leute im Monat, die eine solche Person überwachen! Das ist personell für die Polizei gar nicht zu schaffen. Also, man redet ziemlich schnell immer von Versagen, sondern ich glaube, dass man wirklich die Lehrstunden daraus ziehen muss, und man muss sich trotzdem bewusst sein: 100 Prozent Sicherheit können wir nicht bekommen, denn wir wollen kein totalitärer Staat werden, wir wollen unsere Weihnachtsmärkte nicht in einem Ausmaß schützen, dass de facto jede Form von Angriff unmöglich ist. Dann müssen Sie letztendlich einen Weihnachtsmarkt wirklich mit Polizei oder mit Soldaten umringen und dann gäbe es noch keine 100-prozentige Garantie. Rohde: Bleiben wir noch mal bei dem Stichwort Lehrstunde. Ihr Parteifreund Horst Seehofer fordert ja auch, die Flüchtlingspolitik jetzt zu überdenken, nicht nur die Sicherheitspolitik. Und man fragt sich: Was hilft eine andere Flüchtlingspolitik, wenn wir schon diese islamistischen Netzwerke im Land haben? Hohlmeier: Also, zunächst einmal ist es Tatsache, dass der Flüchtlingsstrom unkontrollierter Art – und das ist es, was der Ministerpräsident auch sehr klar meint –, … Rohde: Die Zahlen sind deutlich zurückgegangen in diesem Jahr. Hohlmeier: … nie wieder passieren darf. Das bedeutet, trotzdem kommen Menschen rein, wo noch nicht geklärt ist, welche Identität sie haben. Das heißt, wir müssen tatsächlich Identität von Menschen klären, denn das ist es, was die Verbrecher missbrauchen. Sie missbrauchen den guten Willen, sie missbrauchen den Raum, den wir ihnen an Freiheit geben, das Vertrauen, das wir Menschen schenken, und sagen: Wenn sich jemand meldet, der um Asyl bittet, dann hat er den Anspruch darauf, und stellen dann im Nachhinein fest, ob jemand tatsächlich Asylbewerber ist. Und da gilt es tatsächlich, an den Grenzen deutlichere Kontrollen, und zwar an den Außengrenzen zu machen. "Kein Generalverdacht gegen Flüchtlinge" Rohde: Aber stellt man damit nicht, was Sie jetzt machen, stellt man damit nicht direkt alle Asylbewerber unter Generalverdacht? Hohlmeier: Wenn Sie eine Steuerkontrolle machen, wofür alle Medien ständig plädieren, ich auch, dass man Steuerkontrollen macht, Steuerprüfung, ist das nicht ein Generalverdacht gegen alle Steuerzahler. Wenn Sie Alkoholkontrollen auf der Straße machen, ist das nicht ein Generalverdacht gegen alle Autofahrer. Und wenn Sie eine Kontrolle an der Grenze durchführen, ist es kein Generalverdacht gegen Flüchtlinge oder Einreisende, sondern wir wollen wissen, wer zu uns kommt, wir wollen wissen, ob jemand … Rohde: Aber das wird ja getan, das wird ja jetzt inzwischen getan, also, da weiß man ja, wer kommt. Hohlmeier: Nein, ist inzwischen auch noch nicht immer der Fall. Wir haben bis heute Fälle an den griechischen Außengrenzen und an den italienischen Außengrenzen, wo wir definitiv nicht wissen, wer zu uns kommt. Man versucht jetzt mittlerweile wirklich, das Optimale zu tun und zu leisten. Es ist deutlich besser geworden, als es vor einem Jahr gewesen ist, der Zustand vor einem Jahr, den haben wir Gott sei Dank nicht mehr. Aber trotzdem, Kontrollmöglichkeiten, wie wir sie eigentlich an den Außengrenzen hätten … Es findet sich heute zum Beispiel auf jedem Handy eines Attentäters oder eines potenziellen Attentäters, finden sich Informationen, ob das Telefonnummern sind, die aus den salafistischen Netzwerken kommen, ob es Fotos sind, wo sie sich dann brüsten gegenüber anderen, dass sie jemanden getötet haben, erschossen haben, was auch immer. Sie finden diese Dinge auf dem Handy. Und heutzutage gibt es moderne technische Möglichkeiten, um eben ganz gezielt festzustellen, da muss keiner ein Handy lesen, die Technik ermöglicht es, automatisch solche Identifier, nenne ich es jetzt mal, entsprechend feststellen zu können. Wir haben solche Fälle gehabt und in Italien und in Griechenland sind deshalb auch schon mal, weil sie bekannt geworden waren, vorher schon als Gefährder, weil es Fotos von ihnen gab aus Syrien, die übermittelt worden waren über die Geheimdienste. Wenn da der Informationsaustausch funktioniert und die Grenzbehörden adäquat informiert sind und auch kontrollieren dürfen, dann kann man die Leute rausfiltern oder viele davon zumindest. 100 Prozent nicht, aber viele kann man rausfiltern. Rohde: Sagt die Europaparlamentarierin Monika Hohlmeier von der CSU, vielen Dank für das Gespräch! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Monika Hohlmeier im Gespräch mit Stephanie Rohde
Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden im Fall Anis Amri wirft bei der CSU-Europaabgeordneten Monika Hohlmeier viele Fragen auf. Es seien Fehler gemacht worden, die vielleicht verhinderten, dass Amri vor dem Anschlag verhaftet wurde, sagte sie im Deutschlandfunk. Sie forderte, die Identität jedes Flüchtlings müsse geklart werden.
"2016-12-24T08:10:00+01:00"
"2020-01-29T19:10:01.367000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/terrorismus-jeder-fluechtling-muss-in-einer-datenbank-stehen-100.html
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Weichling unter Birken
Ein Laborraum im Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt in Neuherberg bei München. Darin: zwei Werkbänke groß wie Wursttheken. An einer wird gearbeitet. Mit Zellkulturen. Unter sterilen Bedingungen. Daher läuft permanent ein Umluftsystem."Das ist das Geräusch, was wir jetzt auch gerade hören. Es ist ein Luftfluss, der eben keinen Eintritt von Luft von außen ermöglicht."Das Labor gehört zum Zaum, zum Zentrum für Allergie und Umwelt an der Technischen Universität München. Die Biologin Andrea Braun forscht dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Zellen des Immunsystems."Das waren jetzt Zellen, die wir vorher über ein paar Tage mit Pollen inkubiert hatten. Diese Zellen haben wir jetzt abgeerntet. Also, wir versuchen den Einfluß von Pollen auf verschiedenste Immunzellen zu untersuchen."Das Zaum ist eine der führenden Einrichtungen für Allergieforschung in Europa. Besonders intensiv befasst man sich dort mit den Pollen von Birken. Sie tragen auf ihrer Oberfläche sogenannte Allergene. Diese Eiweißmoleküle lösen mit am häufigsten Heuschnupfen oder sogar allergisches Asthma in der Bevölkerung aus. Carsten Schmidt-Weber, Biologe und Direktor des Zaum:"Das ist also das Immunsystem, das sozusagen hier eine Fehlentscheidung trifft. Es entscheidet sich irgendwann, eine Immunreaktion gegen ein ansonsten harmloses Allergen zu machen."Im Fall der Birken-Pollen haben die Münchener Forscher jetzt eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht. Seit Jahren schwärmen sie immer wieder im Stadtgebiet aus und sammeln den Blütenstaub von 80 verschiedenen Bäumen. Mit dabei ist stets der niederländische Toxikologe Jeroen Buters, auch er Professor an der TU München. Eigentlich wollte seine Arbeitsgruppe testen, wie sich Verkehrsabgase auf die Produktion von Pollen und Allergenen durch die Birken auswirken."Dann haben wir gefunden, was noch viel interessanter ist, daß die Bäume untereinander sehr unterschiedlich sind. Ein Baum zum Beispiel kann der Spitzenreiter sein im Allergen-Gehalt in einem Jahr. Und im nächsten Jahr ist er wieder normal. Also, es geht ständig hin und her. Wobei immer ein paar Bäume im unteren Bereich bleiben und immer ein paar Bäume im oberen Bereich."Eine der Münchener Stadtbirken verblüfft die Forscher ganz besonders. Buters:"Es ist schon erstaunlich, daß wenn man fünf Jahre die Bäume einfach verfolgt: Einer ist immer der gleiche Weichling. Also 'Weichling' muss man nicht sagen. Der Baum ist sehr stattlich, der sieht wunderbar aus. Nur: Sein Allergen-Gehalt ist einfach tief. Das nennt man einen hypoallergenen Baum."Die sonderbare Birke produziert zwar ganz normale Mengen Blütenstaub. Doch die Pollenkörner sind arm an Allergenen. Buters möchte den Baum nun von Botanikern genauer untersuchen lassen:"Die Frage ist natürlich: Ist er noch fruchtbar? Wir wären sehr interessiert, um zu schauen, ob man den Baum weiterzüchten kann."Wenn das so wäre, könnte man an eine neue Strategie im Kampf gegen Pollen-Allergien denken. In den Fällen, in denen Birken neugepflanzt werden, würden Städte und Gemeinden künftig auf die hypoallergene Sorte zurückgreifen. Oder sie gehen noch einen Schritt weiter, reißen alle alten Birken heraus und ersetzen sie durch neue, allergenarme. So könnte man unter Umständen der ständigen Zunahme allergischer Erkrankungen zu einem gewissen Grad entgegenwirken.Agrarforschern aus den USA ist es bereits gelungen, den Allergen-Gehalt von Erdnüssen durch klassische Züchtung zu reduzieren. Zunächst bestrahlten sie Erdnuss-Pflanzen und brachten sie so dazu, weniger Allergene zu produzieren. Anschließend kreuzten sie die geschädigten Kräuter mit gewöhnlichen Erdnuss-Vertretern. Heraus kam eine vermehrungsfähige neue Zuchtlinie mit verringertem Allergiepotential. Vielleicht ist ja auch der Münchener Birken-Weichling bald ein Fall für die Züchtungsforschung.
Von Volker Mrasek
Pollenallergien nehmen in Deutschland immer stärker zu. Einer der häufigsten Auslöser ist der Birkenpollen. Münchener Forscher haben jetzt Einzelne unter den städtischen Birken entdeckt, deren Pollen kaum Allergien auslöst.
"2010-07-16T16:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:03:04.336000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/weichling-unter-birken-100.html
272
Auf zum G8-Gipfel
Die Studierenden wollen zusammen mit den anderen Demonstranten auf die negativen Folgen der Globalisierung hinweisen. Allerdings bestehen sie darauf, nicht mit Krawallmachern in einen Topf geworfen zu werden. Florian Bödecker, Student der Sozialpädagogik, ärgert sich über Bundesinnenminister Otto Schily, der sich dafür eingesetzt habe, "dass Globalisierungsgegner europaweit Ausreise- oder Einreiseverbot kriegen. Damit wird man praktisch gleichgesetzt mit Hooligans, die zu Fußball-Europameisterschaften fahren, nur um Krawall zu machen." Die Studierenden werden in ihrem Protest gegen den G8-Gipfel auch von einigen Professoren der Freien Universität Berlin unterstützt. Die Globalisierung war ein wichtiges Thema im abgelaufenen Semester. Gemeinsam haben sie eine Zeitschrift herausgegeben unter dem Titel: "Von der FU nach Genua." Related Links Globalisierungskritiker im Netz: · Das Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte Der unabhängige Informationsdienst Indymedia
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"2001-07-20T14:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:52:14.809000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auf-zum-g8-gipfel-100.html
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Wie selbstständig unbemannte Flugobjekte arbeiten
"Der Treiber von so was sind natürlich ungeplante Missionen. Beispielsweise Search-and-Rescue-Missionen, wo ein Einsatz geflogen werden muss, ohne dass groß eine Vorbereitung und Vorerkundung gemacht werden können." Professor Axel Schulte leitet an der Bundeswehr-Universität in München das Institut für Flugmechanik. Eines der Themen, das ihn umtreibt, sind künftige Einsatzszenarien für Aufklärungsdrohnen. Und die Frage, wie autonom die fliegenden Späher unterwegs sein sollten, damit Flugzeugbesatzungen sie während eines Einsatzes nebenbei befehligen können. "Man muss eine gewisse Automatisierung natürlich einführen, um die Aufgabe überhaupt handhabbar zu machen. Wenn Sie sich vorstellen, ein Pilot in einem Flugzeug, sei es ein Hubschrauber oder Kampfflugzeug, hat natürlich viel zu tun, von hause aus. Und jetzt gibt man ihm noch eine zusätzliche Aufgabe dazu. Da muss man automatisieren, sonst geht's gar nicht. Aber man darf eben auch nicht zu hoch greifen. Wir machen also bei uns experimentelle Untersuchungen mit Laborprototypen und Piloten der Bundeswehr, um genau diese Fragestellungen zu eruieren." Bei einem der Testszenarien mussten Hubschrauberpiloten während einer Mission im Flugsimulator eine Flotte von drei Drohnen freisetzen und bestimmte Erkundungsaufgaben durchführen lassen. "Zunächst einmal hat er die Aufgabe, diese unbemannten Luftfahrzeuge überhaupt einzusetzen. Denen also zu sagen, was sie zu tun haben, wo sie hinzufliegen haben, wie sie ihre Sensoren einzusetzen haben. Das ist der eine Teil. Und wenn sie dann mal richtig eingesetzt sind, dann kommt eben ein Sensorbild zurück. Das können Fotos sein, aber auch Live-Videos oder aufbereitete Sensorinformationen. Und die gilt es dann auszuwerten und im Hinblick auf Missionsrelevanz zu analysieren." Den Automationsgrad des Aufklärungsgeschwaders variierten die Forscher während der Versuche: Von sehr niedrig bis zu einem Niveau, wo das Drohnen-Trio seine Aufgaben untereinander aushandelte – praktisch ohne Zutun des Piloten. Das Ergebnis der Tests zeigte: Wenn die Piloten zu viel selbst regeln müssen, sind sie überfordert. Doch auch zu viel Automatisierung berge Gefahren, erklärt Axel Schulte. Zum Beispiel den Verlust des Situationsbewusstseins. Belastungswettbewerb zwischen Mensch und Maschine "Man weiß eigentlich gar nicht mehr so genau, was die Maschine eigentlich macht und gewinnt dann sozusagen eine Art Gleichgültigkeit darüber, was da passiert. Das ist ein Effekt. Aber gerade im Bereich militärischer Missionen gibt's noch andere Effekte, die eben in die Richtung gehen, dass die Automation dann quasi Entscheidungen bis zu einem gewissen Grade vorbereitet, dass der Mensch geneigt ist, dieser Entscheidung einfach zu folgen – und selber nicht mehr in dem Maße die Situation analysiert, wie es eigentlich sein sollte." Und das kann tödliche Folgen haben. Etwa wenn es um die Frage geht, ob ein im Fadenkreuz befindlicher Lastwagen ein militärisches Ziel darstellt oder nicht. Der Fall Kunduz, wo Bundeswehr-Soldaten zwei von Zivilisten umringte Tanklaster in einem Fluss bombardieren ließen, hat gezeigt, wie schwer es im Ernstfall sein kann, unter Zeitdruck die richtige Entscheidung zu treffen. Die Kampfpiloten, die in München im Simulator saßen, bekamen deshalb gezielt Fallen gestellt. Ab und an nahm ihre Zielautomatik zum Beispiel ein Fahrzeug mit einem roten Kreuz darauf ins Visier. "Das war ein ganz gezieltes Experiment, was wir gemacht haben. Wo wir also sporadisch solche false targets eingespielt haben – also Ziele, die eben nicht vertretbar bekämpft werden sollen und dürfen – um zu sehen, wie Effekte dieser Hochautomatisierung eventuell aussehen könnten. Wir hatten in unseren Experimenten die glückliche Situation, dass unsere Kampfflugzeugpiloten samt und sonders die Situation gemeistert haben. Aber man sieht natürlich auch, dass hier doch ein gewisser Denkprozess nötig ist. Denn natürlich ist so ein Kampfflugzeugpilot in einem gewissen Target-Tunnel, wenn man so will. Und wenn man da rauskommen will, das erfordert ein gewisses Freischwimmen geistiger Art." Um es zu unterstützen, sei es wichtig, die Piloten in hohem Maß an Entscheidungen zu beteiligen, betont Axel Schulte. Außerdem müsse man ihnen die Möglichkeit geben, den Automatisierungsgrad der Assistenzsysteme aktiv anzupassen – je nach Situation und Arbeitsbelastung im Cockpit. "Es gibt ja dieses Schlagwort von den autonomen Systemen, die genau das Gegenteil bewirken sollen – nämlich einen sehr geringen Grad an Beteiligung des Menschen. Wir suchen nach Lösungen, die einerseits den Menschen entlasten, aber trotzdem seine ständige Beteiligung bei der Durchführung der Aufgabe erfordern." Denn nur so können Mensch und Maschine im militärischen Umfeld verantwortlich zusammen arbeiten.
Von Ralf Krauter
Um als Pilot eines Militärhubschraubers nicht selbst ins Kreuzfeuer des Feindes zu geraten, könnten in Zukunft Drohnen als Vorhut ausschwärmen und den sichersten Weg weisen. Wie autonom diese Späher sein müssten, daran forschen zurzeit Wissenschaftler der Bundeswehruniversität München.
"2014-05-02T16:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:38:49.237000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/drohnen-wie-selbststaendig-unbemannte-flugobjekte-arbeiten-100.html
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Zwischen Endzeit und Neubeginn
Noch ist der Schrecken des Krieges weit entfernt: Wilhelm Furtwängler und die Berliner Philharmoniker proben an Pfingsten 1935 (Archiv Berliner Philharmoniker) Bombenangriffe, Luftschutzbunker, wachsende Trümmerberge und dazwischen Musikproben für Mozarts "Linzer" Sinfonie oder Beethovens Neunte: Der Alltag der Berliner Philharmoniker unterschied sich in den letzten zwei Kriegsjahren nur wenig von dem der restlichen Bevölkerung in der Hauptstadt und anderen Großstädten des Deutschen Reiches. Allerdings genossen die Mitglieder des deutschen Vorzeige-Orchesters einige Privilegien wie beispielsweise eine bessere Bezahlung und den so genannten "uk"-Vermerk: Für das nationalsozialistische Kulturleben waren die Musiker so wichtig, dass Hitler das ganze Orchester für "unabkömmlich" erklärte. Notfallhilfe aus dem Propagandaministerium Als er im Januar 1933 an die Macht kam, stand der Klangkörper finanziell vor dem Aus. Lorenz Höber vom Orchestervorstand wandte sich kurz darauf mit der Bitte um eine Nothilfe an die neue Regierung; Reichspropagandaminister Joseph Goebbels übernahm gerne die Schirmherrschaft der international angesehenen Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler. Dafür verkaufte das Ensemble seine GmbH-Anteile an den Staat und wurde zu einem finanziell abgesicherten verbeamteten Staatsorchester. Die Nachteile des Deals bekamen schnell die vier Orchestermitglieder mit jüdischen Wurzeln, darunter auch der erste Geiger und Konzertmeister Szymon Goldberg, zu spüren: Sie erhielten Auftrittsverbot. Dagegen konnte auch Furtwänglers Protest auf höchster Ebene nichts ausrichten. Zermürbt vom stetig wachsenden Druck, möglicherweise sogar aus den eigenen Reihen, verließen die vier bis 1935 das Orchester und emigrierten nach England und in die USA. Nach künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Reichskulturkammer um die Uraufführung von Paul Hindemiths Oper "Mathis der Maler" trat auch Furtwängler Ende 1934 von seinem Amt als Chefdirigent zurück. Zwar leitete er danach die Berliner Philharmoniker noch häufiger; Musik von sogenannten "entarteten" Tonsetzern oder jüdisch-stämmigen Komponisten wurden jedoch aus den Programmen verbannt. Das betraf auch die Werke des einstigen Publikumslieblings Felix Mendelssohn Bartholdy. Nach einer letzten Aufführung des berühmten Violinkonzertes, vermutlich Anfang 1935, vergingen zehn Jahre, bis die Philharmoniker wieder ein Stück von ihm öffentlich präsentieren konnten. Ihr erstes Konzert nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eröffnete Mendelssohns Ouvertüre zum "Sommernachtstraum" als Symbol für eine neue Zeit. Knapp einen Monat später, am 22. Juni 1945, nahmen die Geiger Johannes Bastiaan und Hermann Bethmann, der Solobratscher Walter Müller und der Solocellist Hans Bottermund von den Berliner Philharmonikern im Haus des Rundfunks an der Masurenallee unter anderem das Finale aus dessen Streichquartett D-Dur op. 44,1 auf. Aushängeschild für Nazideutschland In den Jahren bis 1939 avancierten die als "Reichsorchester" bezeichneten Berliner Philharmoniker zu dem klingenden Aushängeschild Deutschlands und wurden auf zahlreichen Auslandstourneen bejubelt. Zuhause genossen die Musiker eine gute Besoldung, mehrere Privilegien und die Möglichkeit, von der Reichsmusikkammer kostbare Instrumente zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dass diese aus beschlagnahmtem jüdischen Besitz stammten, haben sie vielleicht geahnt; denn nach der so genannten "Reichsprogrom-Nacht" am 9. November 1938 machte die nationalsozialistische Politik kaum noch einen Hehl daraus, jüdisches Eigentum an sich zu reißen. Selbstverständlich spielten die Philharmoniker auch bei Reichsparteitagen oder zu Hitlers Geburtstag. Nach dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Zweiten Weltkrieg wurde das Orchester zusätzlich zu Auftritten in den besetzten Gebieten verpflichtet. Hatte man im Ausland zuvor die Philharmoniker für ihre bestechende Klangschönheit bewundert, erhielten sie jetzt die Bezeichnung "Vorkämpfer der Fallschirmjäger". Darüber hinaus erlebten die Musiker die Auswirkungen des Krieges zunehmend am eigenen Leib: Einige von ihnen kamen bei den ab November 1943 immer massiveren Bombenangriffen auf Berlin ums Leben, denen auch die alte Philharmonie zum Opfer fiel. Als Propagandaminister Goebbels am 1. September 1944 den "totalen Kriegseinsatz der Kulturschaffenden" verkündete, mussten sämtliche Theater, Opernhäuser und Konzertsäle ihren Betrieb einstellen. Die Berliner Philharmoniker dagegen konnten weiter arbeiten und waren in Produktionen oder übertragenen Konzerten der Reichsrundfunkgesellschaft zu hören. Am 12. Januar 1945, dem Tag, an dem die sowjetische Armee ihre letzte Großoffensive gegen Hitler-Deutschland begann, spielte das Orchester im Berliner Beethoven-Saal unter der Leitung von Eugen Jochum Ludwig van Beethovens fünfte Sinfonie. Aufnahmen sollen Normalität suggerieren Während mit Beginn des Jahres 1945 die alliierten Truppen beständig in den Westen und Osten Deutschlands vorrückten, ignorierte die Regierung in Berlin die aussichtslose Lage. Stattdessen ging man mit aller Härte gegen angebliche "Volksverräter" vor und versuchte ansonsten, "Normalität" zu suggerieren – soweit diese angesichts zunehmender Luftangriffe überhaupt möglich war. In dieser Situation machten Techniker des Berliner Rundfunks Experimente mit dem Stereo-Aufnahmeverfahren. Dieses wandten sie vermutlich Ende Januar 1945 bei einer Einspielung des fünften Klavierkonzertes von Beethoven mit Walter Gieseking und dem Rundfunkorchester unter Arthur Rother an. Auf dieser ersten Stereo-Aufnahme sind im zweiten Satz dumpfe Geräusche zu hören. Ob die jedoch etwas mit dem Kriegsgeschehen zu tun haben, ist umstritten. Einen Monat später spielten die Berliner Philharmoniker "kleine Orchesterstücke" von Harald Genzmer für den Rundfunk ein. Genzmer, der bei Paul Hindemith studiert hatte, gehörte zu den von den Nationalsozialisten geschätzten zeitgenössischen Komponisten. Ende 1944 wurde er in Hitlers so genannte "Gottbegnadeten-Liste" aufgenommen und damit von jeglichem Kriegseinsatz freigestellt. Aus den "kleinen Orchesterstücken" erklingen nun "Scherzo" und "Tanzstück"; wo die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Fritz Zaun am 21. Februar 1945 stattfand, ist nicht bekannt. Sie gehört jedoch zu den letzten, die das Orchester vor Kriegsende gemacht hat. Konzerte zwischen den Ruinen Noch zu Beginn des Jahres 1945 hatte die NS-Propaganda getönt, dass Hitler eine Überschreitung der deutschen Vorkriegsgrenze durch alliierte Truppen mit allen Mitteln verhindern werde. Doch Anfang März stand die rote Armee kurz vor der Oder-Neisse-Linie und britische und amerikanische Truppen hatten die linke Rheinseite mit der Metropole Köln erobert und drangen bei Remagen auf die rechte vor. Auch die Reichshauptstadt Berlin versank immer mehr im Kriegschaos. Damit war es auch den Philharmonikern fast unmöglich geworden, ihren Dienst auszuüben. Dennoch konzertierten sie noch bis Mitte April in den verbliebenen benutzbaren Spielstätten der Stadt. Dazu gehörte möglicherweise das Haus des Rundfunks, dessen Sendesaal unzerstört blieb. Offensichtlich war auch der Beethovensaal neben der Ruine der alten Philharmonie in der Nähe des Potsdamer Platzes trotz starker Beschädigungen noch bespielbar. Hier fand am 16. April das letzte Konzert statt, in dem das "Deutsche Requiem" von Johannes Brahms erklang. Am selben Tag startete die sowjetische Armee von der Oder-Neiße-Linie aus ihre letzte Großoffensive gegen die Reichshauptstadt. Acht Tage später war Berlin eingeschlossen und kapitulierte schließlich am 2. Mai. Kurz nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai nahmen die Philharmoniker ihre Probenarbeit wieder auf – trotz einer mehr als ungewissen Zukunft. Für das erste Nachkriegskonzert am 26. Mai im Titania-Palast wählte der russisch-deutsche Dirigent Leo Borchard Werke der deutschen Klassik und Frühromantik sowie der russischen Spätromantik. Bei der ersten Rundfunkaufnahme der Berliner Philharmoniker am 30. Juni 1945 stand Carl Maria von Webers "Oberon"-Ouvertüre auf dem Programm. Widerstandskämpfer als Chefdirigent Wenige Tage vor dieser Aufnahme war Borchard vom Berliner Magistrat beauftragt worden, das Orchester zu dirigieren. Bereits zwischen 1933 und 37 hatte er mit dem Klangkörper bei Schallplattenaufnahmen zusammen gearbeitet. Der Korrepetitor und freischaffende Dirigent gehörte in der NS-Zeit zu den Gründungsmitgliedern der Widerstandsgruppe "Onkel Emil". Diese unterstützte ab 1938 verfolgte jüdische Bürger mit Verstecken, Verpflegung und Papieren. Aufgrund seiner Aktivitäten als Widerstandskämpfer stand Borchard für einen unbelasteten Neustart der Philharmoniker; zudem trennte sich das Orchester von mehreren Musikern, die Mitglieder in der NSDAP gewesen waren. Leider konnte Borchard seine Tätigkeit nur drei Monate ausüben: Am 23. August 1945 wurde er bei einer Fahrt in den amerikanischen Sektor Berlins an der Grenze von einem US-Soldaten erschossen. Sein Nachfolger wurde ein junger unbekannter rumänischer Dirigent, dessen Weltkarriere mit den Philharmonikern begann: Sergiu Celibidache. Aufstieg zum weltweit geachteten Orchester Unter ihm und vor allem Herbert von Karajan, über dessen steile Karriere im Nationalsozialismus lange geflissentlich hinweg gesehen wurde, stiegen die Berliner Philharmoniker in den folgenden Jahren und Jahrzehnten wieder zu einem weltweit geachteten und geschätzten Orchester auf. Zum 125. Jubiläum setzten sie sich intensiv ihrer Geschichte unter dem Hakenkreuz auseinander. Damals rückten auch die fast vergessenen frühen Nachkriegsaufnahmen unter Leo Borchard wieder in den Fokus. Zu den Stücken, die er und die Berliner Philharmoniker am 30. Juni 1945 für eine Rundfunkproduktion einspielten, gehörte die sinfonische Dichtung "Stenka Rasin" op. 13 von Alexander Glasunow. Wie Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Ouvertüre bei dem ersten öffentlichen Konzert nach Kriegsende symbolisierte dieses Stück über den historischen Kosakenführer den musikalischen und freiheitlichen Neuanfang des Orchesters. Musikliste Felix Mendelssohn BartholdyAus: Streichquartett D-Dur op. 44, 1 - 4. SatzStreichquartett der Berliner Philharmoniker Ludwig van BeethovenAus: Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67 - 1. SatzBerliner PhilharmonikerLeitung: Eugen Jochum Harald GenzmerAus: Vier kleine Orchesterstücke - Nr. 1 und 2Berliner PhilharmonikerLeitung: Fritz Zaun Carl Maria von WeberAus: Oberon - OuvertüreBerliner PhilharmonikerLeitung: Leo Borchard Alexander GlasunowAus: Stenka Rasin op. 13 - SchlussBerliner PhilharmonikerLeitung: Leo Borchard
Am Mikrofon: Klaus Gehrke
Der Alltag der Berliner Philharmoniker unterschied sich in den letzten Kriegsjahren kaum von dem der restlichen Bevölkerung Nazideutschlands. Allerdings genossen die Mitglieder des Vorzeige-Orchesters einige Privilegien.
"2020-06-11T22:05:00+02:00"
"2020-06-11T09:04:22.096000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-philharmoniker-1945-zwischen-endzeit-und-neubeginn-100.html
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Der Preis des Kapitalismus
Das aus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen zeigt Lauren Greenfields "Generation Wealth" (Henning Rogge) Die Dokumentar-Fotografin und -Filmerin Lauren Greenfield gilt als eine der renommiertesten Chronistinnen von Konsumverhalten, Jugendkultur und Geschlechtsidentität. Für ihren Dokumentarfilm "The Queen of Versailles" wurde sie 2012 unter anderem mit dem Best Director Award beim Sundance Festival ausgezeichnet. Ihr #LikeAGirl-Spot wurde in der begehrtesten Werbepause der Welt gezeigt - während des American Football-Spektakels Super Bowl - und von 214 Millionen Zuschauern weltweit gesehen. Aktuell tourt Lauren Greenfield mit ihrem Projekt "Generation Wealth" durch die Welt, einer Trilogie aus Ausstellung, Buch und Film. Nach Stationen in Los Angeles, New York, Oslo und Den Haag gastiert sie seit dem Wochenende im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen. Jugend- und Schönheitswahn Eine Frau kriecht nackt auf dem Boden eines Clubs, um Dollar-Scheine aufzusammeln. Ein Kleinkind mit dickem Make-up posiert im knappen Spitzenkleid vor der Kamera. Eine Spritze bohrt sich in die Lippen eines prallen Botox-Gesichts. Lauren Greenfield kritisiert mit ihren gleichzeitig faszinierenden wie verstörenden Fotografien den Jugend- und Schönheitswahn, den Materialismus und Starkult der westlichen Gesellschaften, insbesondere ihrer Heimat, den USA. Lauren Greenfield: "Die Dinge, die uns und unsere Entscheidungen beeinflussen - wie die Popkultur und die Werte unserer Zeit - sind unsichtbar, wie die Luft, die wir atmen. Um sie zu zeigen, muss ich meinen Blick auf extreme Situationen, auf Subkulturen und bestimmte Momente richten. Es soll aber deutlich werden, dass es keine Extreme sind, sondern der Mainstream." Lauren Greenfield zeigt Extreme, um den Mainstream zu entlarven. Dafür ist die 52-Jährige über 25 Jahre lang um die Welt gereist - eine Essenz von 200 Fotos aus 13 Ländern hat sie für das Projekt ausgewählt. In der Multimedia-Ausstellung werden außerdem Interviews, Slideshows und Videos gezeigt. Auch der 103-minütige Dokumentarfilm "Generation Wealth", in dem sie auch selbst vor die Kamera tritt, um ihre eigene Position zu reflektieren. Mehr und Mehr "Ich bin tief in die Obsessionen dieser Menschen eingetaucht und musste überrascht feststellen, dass die meine eigenen widerspiegeln. Ich jage meinen fixen Ideen oft und mit genauso viel Adrenalin hinterher wie die Menschen, die ich fotografiere. Und auch, wenn ich weder auf das große Geld, noch den perfekten Körper aus war, so wollte ich doch auch immer mehr und mehr." Lauren Greenfield will mit ihren Arbeiten niemanden für seinen Lebensstil verurteilen. Alle sind in der "Generation Wealth" Opfer und Täter, sagt sie. Sie will über keinen ihrer Protagonisten richten - auch nicht über eine umstrittene Figur wie Florian Homm. Der Deutsch-Amerikaner ging Ende der Achtzigerjahre ins Bankgeschäft, um einem fiktiven Vorbild nachzueifern - dem von Michael Douglas verkörperten skrupellosen Börsenspekulanten Gordon Gekko aus dem Oliver Stone-Film "Wall Street". Gordon Gecko: "The point is, ladies and gentleman, that greed, in the lack of a better word, is good, is right, greed works." Gier ist gut, Gier ist richtig, Gier funktioniert. Florian Homm brachte es nach eigener Aussage zu rund 800 Millionen Dollar Vermögen mit diesem Motto und - laut der Anklageschrift eines kalifornischen Bundesgerichts - mittels Marktmanipulation und Betrug. Homm ist vor der Verurteilung von bis zu 220 Jahren Haft geflohen und lebt in Deutschland, von wo er nicht ausgeliefert wird. Geld und Ruhm Heute gibt er sich als guter Vater und frommer Christ - mit dickem Kreuz um den Hals. An dem Projekt habe er teilgenommen, nicht etwa um seine neue Karriere als Autor, Schauspieler und Influencer voranzutreiben, sondern um seine Botschaft zu verbreiten. Florian Homm: "2007 hatte ich Privatjets und Schlösser und Superyacht, alles Mögliche. Und da habe ich gedacht: Deine Frau hat sich verzogen nach Florida, Deine Kinder kennen den Kapitän auf Deiner Jacht besser und Deinen Chauffeur als Dich. Das blinde Streben nach Geld und Ruhm ohne Inhalt ist brandgefährlich und natürlich auch der nackte Ehrgeiz, indem man alles Andere vernachlässigt. Es geht darum, dass wir glücklich und sinnvoll agieren und leben, und das schreit förmlich aus der Ausstellung und aus dem Film. Und es muss die Seelen berühren. Und deswegen bin ich hier, weil es Seelen berühren wird und tut." Die teils tragischen Geschichten der Figuren berühren tatsächlich oft, aber einige der grellen Fotografien mit verzerrten Perspektiven stoßen ab. Die pervertierte Idee von Schönheit in zu Masken operierten Gesichtern und überdimensionierten Silikonbusen. Die absurde Maßlosigkeit einer 30 Meter langen Limousine oder des nachgebauten Weißen Haus als Privatresidenz erstaunt. Und eine Frage stellt sich beim Betrachten aller Bilder unweigerlich: Wonach suchen wir Menschen eigentlich? Lauren Greenfield: "Ich glaube, wir versuchen damit eine Leere zu füllen, und das ist der perfekte Motor für den Kapitalismus, der uns nur lehrt was wir kaufen, und nicht wie wir leben sollen. In der Kultur des Kapitalismus liegt etwas Entmenschlichtes, das uns die Würde nimmt. Was man in meiner Show sieht, ist, dass der Preis des Kapitalismus die Ökonomisierung des Menschen ist. Besonders tragisch wirkt sich die in der Vermarktung weiblicher Körper aus. Die menschliche Würde wird uns genommen und verkauft, wenn wir zur Ware werden." Die Multimedia-Ausstellung "Generation Wealth" ist noch bis zum 23. Juni in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen. Der Film zur Schau wird werktags einmal, am Wochenende zweimal gezeigt.
Von Alexandra Friedrich
Fotografin Lauren Greenfield zeigt Extreme, um den Mainstream zu entlarven: den Jugend- und Schönheitswahn, den Materialismus und Starkult. Aktuell widmet sie sich in einer Ausstellung in Hamburg der "Generation Wealth". "Ich bin tief in die Obsessionen dieser Menschen eingetaucht", sagt Greenfield.
"2019-04-01T15:12:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:07.921000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausstellung-generation-wealth-der-preis-des-kapitalismus-100.html
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"Boris Johnson sitzt tief in der Klemme"
Boris Johnson wolle seine Macht auf gar keinen Fall verlieren, meint Politologe Anthony Glees. (dpa / Michael Kappeler) Dirk-Oliver Heckmann: Sieg und Niederlage lagen eng zusammen für Boris Johnson gestern im Unterhaus. Erst eine relativ deutliche Mehrheit dafür, die Brexit-Gesetzgebung weiter voranzutreiben; dann aber das nein der Abgeordneten zu dem Vorhaben Boris Johnsons, den Deal mit der EU im Turbogang bis Freitag durch das Parlament zu peitschen. Am Tag danach wird jetzt verstärkt über Neuwahlen diskutiert. Am Telefon begrüße ich jetzt den Politikwissenschaftler Anthony Glees. Schönen guten Tag, Herr Glees! Anthony Glees: Hallo, Herr Heckmann. Heckmann: Herr Glees, erstmals gibt es eine Mehrheit für den Brexit-Deal, zumindest für die Rahmengesetzgebung von Boris Johnson - bei der ersten Abstimmung gestern Abend. Ist damit klar: Großbritannien wird die EU verlassen, früher oder später? Glees: Ich glaube, ja. Ich glaube, im Prinzip gab es gestern eine Mehrheit für den Brexit. Aber es gab, wie wir das sofort weiter sahen, keine Mehrheit dafür, wie der Brexit aussehen soll. Das ist jetzt die ganz große Frage und da sitzt der gute Boris Johnson tief in der Klemme. Heckmann: Ist das britische Parlament schizophren, wenn es zuerst dafür stimmt, dann dagegen? Glees: Nein! Ich glaube, unser Parlament tut genau das, was eine Demokratie, die vom Parlamentarismus geprägt wird, so wie bei uns, tun soll. Unser Parlament beweist, dass wir die Souveränität nie aufgegeben haben, obwohl Nigel Farage und Boris Johnson das immer behauptet hat in der EU. Aber wir sind eine Parlamentarische Demokratie, keine Volksdemokratie. "Gut, wir werden brexiten" Heckmann: Das Parlament hat die Kontrolle zurückerlangt? Glees: Genau das. Das Parlament hat die Kontrolle zurückgenommen und gesagt: Gut, wir werden brexiten; wir müssen nur genau hingucken, was für ein Brexit das sein soll, wie hart, und ob wir diese Grenze im Irischen Meer darlegen werden. Denn wenn das weiter so geht, dann werden die Leute der DUP nie dafür stimmen. Da kommt es nicht durch. Also irgendwas muss geschehen. Aber wissen Sie, das ist eine Ehe mit der EU. Die hat 40 Jahre lang gedauert. Das kann man nicht in zwei Tagen einfach abwischen. Es wird noch Monate dauern, bevor wir bereit sind zu brexiten. Und danach kommen die Verhandlungen, um diese Freihandelszone, die Boris Johnson so gerne haben will, herzustellen. Zu sagen, das muss sofort in den nächsten zwei Tagen sein, das ist verrückt, aber das ist Klemme. Heckmann: Wenn ich da kurz einhaken Darf, Herr Glees? Sie sprechen von zwei Tagen oder mehreren Monaten. Die Verhandlungen oder die Diskussionen um den Brexit dauern seit über drei Jahren. Glees: Die dauern zwar über drei Jahre, aber wir haben Boris Johnsons Deal, den er mit der Kommission ausgemacht hat, vor drei Tagen erst gesehen. Da sind ich weiß nicht wie viele tausend Worte drin und es ist ein neuer Deal in vielen Hinsichten. Es ist anders und in zwei Hinsichten sehr, sehr wichtig anders, denn das, was in Theresa Mays Deal drinstand, war, dass auf absehbare Zeit, Großbritannien die Regelungen von der EU annehmen würde. Das ist jetzt aus dem Vertrag hinausgerissen worden von Boris Johnson und in eine politische Erklärung gesteckt, die verändert werden kann. Das gleiche gilt bei Arbeits- und Sozialrechten: aus dem Vertrag, in die Erklärung. Das ist etwas ganz anderes und muss natürlich genauestens angeschaut werden. Heckmann: Und das weckt auch Misstrauen bei Labour, weil man sagt, man kann Boris Johnson nicht vertrauen. Jetzt ist es ja so, Herr Glees, dass das Thema Brexit, Brexit-Vertrag von der Tagesordnung runtergenommen worden ist. Boris Johnson hat auf Pause gestellt. Gleichzeitig pocht er weiter darauf, die EU am 31. Oktober zu verlassen, und zwar mit seinem Deal, obwohl die Zeit für die parlamentarische Beratung gar nicht mehr reicht. Welche Möglichkeiten hätte er denn dazu? Ist das überhaupt noch realistisch? Glees: Es ist völlig unrealistisch, dass er zum 31. Rauskommt. "Do or die", wie er sagte. Weder wird es getan, noch stirbt er daran. Aber am 31. Kann es nicht geschehen. Was aber geschehen kann ist die Auflösung des Unterhauses, und ich glaube, wenn ich Boris Johnson wäre, würde ich das Risiko von Gesamtwahlen jetzt annehmen. Ex-EU-Kommissar Verheugen - Verschiebung des Brexits möglichNiemand in Brüssel wolle die Verantwortung für einen harten Brexit tragen, sagte der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen im Dlf. Wenn eine Verschiebung des Austrittsdatums aus der Europäischen Union nötig wäre, würde sie wohl genehmigt werden. "Die EU hat völlig richtig verhandelt" Heckmann: Dazu bräuchte er Labour. Glees: Dazu bräuchte er Labour und die Schwierigkeit - Es gibt zwei Wege; ich will nicht in die Einzelheiten gehen. Er könnte sich selber einem Misstrauensvotum stellen. Er könnte sein Misstrauen in sich selbst stellen. Heckmann: Da könnte man sich an Berlin an Bonn nehmen, als Kohl sein konstruktives Misstrauensvotum bewusst verloren hat. Glees: In der Tat, genau das. Aber die Schwierigkeit für Boris Johnson ist: Wenn es zu Gesamtwahlen kommt und nicht zu einem zweiten Referendum, dann wird Brexit nicht das einzige Thema sein, und in vielen Hinsichten ist Labour, obwohl unter Corbyn, bei 23 Prozent in den Meinungsumfragen. Man darf nicht vergessen: 2017, als Theresa May ihre Mehrheit verlor, saß sie mit 42 Prozent vor Labour in den Meinungsumfragen, verlor aber ihre Mehrheit im Parlament. Für Boris Johnson sind Wahlen viel mehr risikoreich, als viele denken. Heckmann: Der Ball liegt jetzt erst mal in Brüssel, Herr Glees. Ratspräsident Tusk hat gesagt, er werde eine Verlängerung der Frist empfehlen. Ein harter Brexit sei niemals die europäische Option. Frankreich wiederum hat sich zurückhaltend gegeben. Es kommt nur eine Verlängerung von wenigen Tagen in Frage aus Pariser Sicht. Was nützt denn Johnson mehr, eine kurze Verlängerung oder eine Verlängerung bis Ende Januar oder sogar bis Ende kommenden Jahres? Glees: Das ist eine gute Frage und ich glaube, selbst Boris Johnson kann das nicht beantworten. Ich glaube, er hätte am liebsten eine kurze Verlängerung angeboten. Dann könnte er sagen, die EU gäbe ihm keine Zeit auszuklügeln, wie er aus diesem Chaos herauskommen kann. Aber zwei Sachen können schon festgestellt werden. Erstens: Die EU hat völlig richtig verhandelt. Seit drei Jahren war die EU klar und stark. Und zweitens sieht man, dass die EU viel mächtiger ist als Großbritannien. Das was Boris Johnson angenommen hat, war das, was Boris Johnson schwor, was er nie annehmen würde. Und wenn Boris Johnson ein bisschen darüber nachdenkt, wird er sehen, dass je mehr Zeit er hat, desto größer seine Chance, dass alles nicht tief in den Abgrund geht. "Das sind keine homogenen Leute" Heckmann: Aber umso größer ist auch die Chance und die Wahrscheinlichkeit, dass die Opposition Änderungen an dem Brexit-Vertrag vornimmt, und auch, dass sich die politische Stimmung innerhalb des Landes ändert, nämlich gegen einen Brexit. Glees: Das ist möglich. Die Stimmung, meiner Meinung nach, ist noch eingefleischter. Brexit ist zu einer Ideologie geworden, wie ob man Christ oder Moslem oder Jude ist. Es ist so tief eingefleischt. Es gibt Leute, die die Meinungen nie ändern würden. Aber man muss sofort sagen: Die, die den Brexit wollen, das sind keine homogenen Leute. Die kommen aus vielen Gründen. Seit den letzten sechs Monaten stehen die, die meinen, dass Brexit ein Fehler war, mit drei, vier, fünf Prozent höher in den Meinungsumfragen als die, die sagen, Brexit war richtig. Die Meinungen können anders werden und je härter die wirtschaftlichen Tatsachen sind, desto kleiner wird die Gruppe, die fanatisch den Brexit wollen und um jeden Preis. Die meisten Briten, ob Brexit oder Verbleib, die sind dezente Leute. Das ist alles sehr, sehr kompliziert, was ihnen vorgetragen wird. Und ich glaube, eine Mehrheit der Briten möchte mit dem täglichen Leben endlich weiterkommen. Bloß - das wird ihnen nicht gegönnt! Heckmann: Deswegen sagen aber auch viele, lassen wir uns diesen Brexit-Vertrag von Boris Johnson akzeptieren und nicht weiter diese Hängepartie weiterverfolgen. Das führt mich zur nächsten Frage. Worum geht es Boris Johnson aus Ihrer Sicht? Möchte er einen Brexit mit Deal, einen Brexit ohne Deal, oder setzt er auf einen Sieg bei Neuwahlen? Glees: Ich glaube, Boris Johnson wollte seit zehn Jahren Premierminister werden und er möchte es auch bleiben. Er weiß, dass jeder Brexit, besonders sein Brexit, die Briten erheblich ärmer machen wird. Deswegen hat es einen Sinn, jetzt vor dem Einbeißen des Brexits, Wahlen zu haben, und dann in fünf Jahren kann es vielleicht einen Aufschwung, eine Verbesserung auf irgendeine Weise geben. Dann ist er noch fünf Jahre an der Macht. Für Boris Johnson wäre das Schlimmste, wenn er in den nächsten Monaten, vielleicht vor Weihnachten, die Macht verlieren würde. Alle haben auf Boris Johnson gesetzt, die Tory-Brexitiers, aber vielleicht kann er das nicht liefern für die, was die wollen. Und man darf nie vergessen: Die Politik ändert sich ständig und vielleicht Boris Johnson auch - ein Mann ohne Prinzipien. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anthony Glees im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der Politologe Anthony Glees hält es für völlig unmöglich, dass Großbritanniens Premier Boris Johnson sein Land, wie geplant, am 31. Oktober aus der EU führen wird. Boris Johnson sei gut beraten, trotz eines Risikos, Neuwahlen anzustreben, sagte Glees im Dlf.
"2019-10-23T12:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:15:57.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-boris-johnson-sitzt-tief-in-der-klemme-100.html
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Landemanöver auf unfreundlichem Terrain
So sieht "Rosettas" Landeeinheit "Philae" aus. (MEDIALIAB / ESA / AFP) Von außen sieht Europas Tor zum Weltraum ziemlich unspektakulär aus. Ein Gewerbe- und Büroareal am westlichen Stadtrand von Darmstadt - die Auffahrt zur A 5 Richtung Frankfurt am Main und Basel ist nicht weit. Ein kleines Empfangsgebäude, in dem man seinen Ausweis abgeben muss. Dann geht es durch eine Drehtür. Auch die Bauten im Inneren des Geländes der ESOC sind schlichte, mehrstöckige Bürogebäude. ESOC ist die Abkürzung von "European Space Operations Center". Rund 800 Menschen arbeiten hier. Paolo Ferri ist einer von ihnen. Bevor er das Fenster in seinem Büro schließt, schimpft er noch ein wenig über die Laubbläser auf dem Gelände, die ihn bei der Konzentration stören. Dabei braucht Paolo Ferri gerade jetzt gute Nerven. Denn der Italiener ist verantwortlich dafür, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit ein auf der Erde gebautes Gerät auf der Oberfläche eines Kometen landen soll: "Schon seit zwei Monaten wissen wir, dass es auf dem Kometen keinen schönen Landeplatz gibt. Keine Landebahn. Wir haben jetzt in den letzten Wochen Bilder mit höherer Auflösung, die zeigen, dass in diesem Bereich, wo wir landen sollen, es nicht nur schöne Plätze gibt, die flach sind, sondern dort gibt es auch viele Felsen und Wände – Steinwände. Also es ist wirklich nicht so einfach. Und auch, wo es flach ist, ist viel Staub. Also wir wissen wirklich nicht, was auf dieser Oberfläche ist und was wir treffen werden." Kühlschrank-großes Landegerät Obwohl so vieles noch unklar ist - die Anspannung ist Paolo Ferri kaum anzumerken. Der an der Universität Pavia ausgebildete Physiker ist jedoch froh, dass die Raumsonde Rosetta seit Tagen in 30 Kilometern Höhe in einer stabilen Umlaufbahn um den Kometen "Tschuri" fliegt. Das Kühlschrank-große Landegerät, das von Rosetta aus auf der Oberfläche des felsigen Himmelskörpers platziert werden soll, muss sich im Kometenboden festkrallen, um bei geringer Schwerkraft nicht sofort wieder los zu schweben. Ob das für heute am frühen Abend geplante Anker-Manöver mit einer Befestigungs-Harpune gelingt, ist völlig unklar, so Paolo Ferri: "Und wir wissen nicht, ist die Oberfläche völlig hart und geht die Harpune nicht durch oder ist sie zu weich. Das kann man noch nicht sagen, aber wir werden das bald rausfinden." Das riskante Landemanöver wird auch dadurch erschwert, dass das rund 200 Million Euro teure Landegerät nicht sehr gut gesteuert werden kann. Das erklärt Gerhard Schwehm, der fast drei Jahrzehnte lang bei der ESOC mit dem Rosetta-Projekt beschäftigt war, bevor er unlängst in Pension ging: "Der Lander kann ja nicht voll gesteuert werden, das ist eigentlich ein passives Ereignis in dem Sinn. Der Lander, wenn man das so ganz naiv sagt, wird rausgeschubst und dann muss er runterfallen und auf den drei Beinchen aufkommen. Und das hört sich einfach an und ist natürlich ziemlich komplex und es muss alles gut zusammenpassen." "Wenn es schief geht, lernen wir auch daraus" Wenn das Landemanöver gelingen sollte, könnten die Messinstrumente, die das Landegerät mit sich führt, noch einmal etwa 20 Prozent zu den Gesamtergebnissen beisteuern, die die Rosetta-Mission bisher geliefert hat. Ob nur wenige Stunden lang oder einige Tage – wie lange genau dann Messwerte erstmals in der Menschheitsgeschichte von einem Kometenboden an die Erde übermittelt werden können, ist ebenfalls völlig offen. ESOC-Wissenschaftler Paolo Ferri fühlt sich aber durch die zehn Jahre ermutigt, die die Raumsonde Rosetta jetzt schon im All unterwegs ist: "Wenn es schief geht, lernen wir auch daraus. Ein Fehler ist nicht immer ein Misserfolg, wenn man was daraus lernt." Obwohl jetzt schon klar ist, dass die Oberfläche des Kometen "Tschuri" nicht besonders einladend ist, glaubt Paolo Ferri, dass die "Rosetta-Mission" einen Traum durchaus weiterleben lässt. Den Traum nämlich, dass irgendwann auch mal ein Mensch auf einem Kometen landet und mit ihm durch das Weltall gleitet: "Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, war meine erste Reaktion: Ich will dahin. Und warum sollte man eigentlich ausschließen - die Erforschung von Asteroiden und Kometen ist nicht nur sehr interessant für die Wissenschaft, sondern auch für die Zukunft der Menschheit. Die sind eine Gefahr, diese Objekte. Und je mehr wir über diese Objekte wissen, desto mehr können wir gegen sie unternehmen, in den künftigen Jahrhunderten, hoffe ich. Deswegen würde ich nicht ausschließen, dass irgendwann Menschen auch auf einem Kometen landen. Natürlich wird es ganz anders sein als auf einem Planeten. Aber sehr, sehr aufregend." Der langjährige Rosetta-Flugmanager Gerhard Schwehm drückt jetzt erst mal die Daumen, dass das unbemannte Landemanöver auf dem Kometen klappt. "Wir haben das Beste versucht, aber die Wirklichkeit kommt jetzt erst, wenn wir auf dem Kometen sitzen."
Von Ludger Fittkau
Das European Space Operations Center in Darmstadt betreut die Rosetta-Mission, die heute mit der Landung der Sonde Philae auf dem Kometen "Tschuri" ihren Höhepunkt erreichen soll. Die Verantwortlichen wissen: Das ist kein einfaches Unterfangen, denn die Oberfläche von "Tschuri" ist nicht besonders einladend.
"2014-11-12T14:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:13:06.725000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/raumsonde-rosetta-landemanoever-auf-unfreundlichem-terrain-100.html
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Sea-Watch: "EU sollte Migration als Fakt begreifen"
Migranten verlassen die "Sea Watch 3" im Hafen von Catania (ANSA via dpa/Orietta Scardino) Ann-Kathrin Büüsker: Das Ziel war und ist, Schleusern das Handwerk zu legen. Seit 2015 waren im Rahmen der "Mission Sophia" Schiffe der Europäischen Union auf dem Mittelmeer unterwegs, um Schlepperboote abzufangen und damit das Schleppertum zu unterbinden, und natürlich auch, um dabei Menschen zu retten. Die "Mission Sophia" wurde jetzt zwar verlängert, aber in Zukunft wird die EU keine Schiffe mehr schicken, weil diese keine Häfen mehr zum Anlaufen hatten. Italien weigert sich weiterhin, die Flüchtlinge anzunehmen, weil die Verteilung nicht geklärt ist. Mit Malta ist es ebenso. Die Folge dieser Entscheidung fasst die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, so zusammen: O-Ton Ska Keller (Grüne): "Das Ende der 'Sophia-Mission' erinnert uns daran, dass keine Seenotrettung de facto mehr stattfindet im Mittelmeer. Denn die Menschen, die gerne Menschen aus Seenot retten würden, die dürfen es nicht mehr. Die NGO-Boote dürfen nicht auslaufen. Und von offizieller staatlicher Seite, diejenigen, die eigentlich Seenotrettung betreiben müssten, da passiert nichts mehr." Büüsker: Das Ende der "Mission Sophia", dazu die Regierung in Rom, die den privaten Hilfsorganisationen die Einfahrt in die Häfen verweigert. Was heißt das jetzt für die Situation im Mittelmeer? – Darüber möchte ich mit Ruben Neugebauer sprechen, einer der Mitgründer der Organisation Seawatch, einem Verein, der in den letzten Jahren mit mehreren Schiffen auf dem Mittelmeer im Einsatz war – privat organisierte Flüchtlingsretter. Schönen guten Morgen! Herr Neugebauer, wenn keine Schiffe mehr auf dem Mittelmeer unterwegs sind, um Menschen zu retten, wird das auch bedeuten, dass sich weniger Flüchtlinge auf den Weg machen, also auch weniger Menschen sterben? "Eine halbe Million Menschen sitzen in Libyen fest" Ruben Neugebauer: Nein, das wird es nicht bedeuten. Es ist lediglich so, dass sich die Routen verlagern. Wir sehen das jetzt schon. Während die letzten Jahre die Hauptroute über das Mittelmeer über Libyen ging, weil da aufgrund der Abwesenheit staatlicher Strukturen es für Schlepperbanden relativ leicht war, dort Boote loszuschicken, sehen wir jetzt schon eine Verlagerung in Richtung zum Beispiel Marokko-Spanien. Es ist natürlich so: Wenn man aus Ländern wie zum Beispiel Nigeria flieht, dann überlegt man sich das zweimal, welche Route man nimmt. Man hat zwar auch Fluchtgründe im Heimatland; gleichzeitig ist es aber so, dass ja bekannt ist, was in Libyen passiert mit den Leuten. Dennoch ist es so, dass nach wie vor über eine halbe Million Menschen in Libyen festsitzen, und die Bedingungen sind ja bekannt. Es war ja der deutsche Auswärtige Dienst, der diese Lager mit KZs verglichen hat. Das waren jetzt nicht wir. Es ist völlig bekannt, was dort passiert. Es kam gerade wieder eine Studie raus, wo eben von ganz systematischer Folter und Misshandlung gesprochen wird. Das heißt, es ist ganz klar: Diese Leute werden sich auf den Weg machen, ganz egal ob da Rettungsschiffe unterwegs sind oder nicht. Wir haben das gesehen, gerade letzte Woche. Da gab es eine ganz interessante Situation. Es war vor Norwegen ein Kreuzfahrtschiff in Seenot geraten. Natürlich ist sofort die Rettungskette losgegangen. Das ist auch richtig so. Da wurde mit Hubschraubern, mit Schiffen, mit allem, was man hat, reagiert, um diese Menschen, so wie es das Seerecht vorsieht und so wie es ja auch moralisch nur richtig ist, von Bord, von diesem in Seenot geratenen Kreuzfahrtschiff zu bringen. Gleichzeitig war es aber so, dass auf dem zentralen Mittelmeer ein Schlauchboot mit über 40 Menschen in Seenot geraten war, und da war es so, dass über einen Tag lang, länger als 24 Stunden, sich überhaupt niemand auf den Weg gemacht hat. Da war die Position von diesem Schlauchboot bekannt. Natürlich fahren diese Menschen nach wie vor los, um den schrecklichen Bedingungen in Libyen zu entkommen. Gleichzeitig war es dann aber so, dass niemand losgefahren ist, um die dann zu retten. Büüsker: Wenn wir aber mal auf die Zahlen schauen, die der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen herausgibt. Die sagen schon, dass die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, deutlich zurückgegangen ist. 2018 nur noch 117.000. Und es sind auch "nur" noch, auch wenn es nach wie vor eine schlimme Zahl ist, 2300 Menschen ertrunken im Mittelmeer 2018 – im Vergleich zu 2017, wo es 3100 waren. Man könnte auf dieser Zahlenbasis schon argumentieren, dass, wenn weniger Schiffe unterwegs sind, auch weniger Flüchtlinge kommen. "Es gibt noch ein zweites großes Massengrab, die Sahara" Neugebauer: Zunächst mal ist es so, dass man auch überlegen muss, wo kommen diese Zahlen eigentlich her. Wir sind jetzt wieder auf einem Niveau, das ungefähr dem Niveau vor 2014 entspricht. Wir haben ja Migration übers Mittelmeer immer gehabt. Das hat es die letzten Jahre eigentlich immer gegeben. Natürlich gab es mit der Eskalation des libyschen Bürgerkrieges in den letzten Jahren da einen Peak, was die Zahlen angeht. Auch 2015 war es so, dass zum Beispiel über die Ägäis sehr viel mehr Menschen gekommen sind, als das jetzt der Fall ist. Gleichzeitig ist es aber so – und das sagt auch die Internationale Organisation für Migration -, dass die Push-Faktoren und eben nicht die Pull-Faktoren bestimmend sind. Das ist das eine und das andere ist ganz einfach eine moralische Frage. Wenn man jetzt sagt, man muss die Schiffe da wegnehmen, weil sich dann irgendwie weniger Leute auf den Weg machen, mit derselben Argumentation könnte man zum Beispiel auch die Bergwacht abschaffen, weil die rettet letztendlich auch überwiegend Menschen, die sich selber und freiwillig in Gefahr gebracht haben, mit der Hoffnung, dass es eine Bergwacht gibt, die sie dann gegebenenfalls rettet. Genauso falsch wie die Argumentation da ist, ist die Argumentation falsch zu sagen, na ja, dann soll man die Menschen auf dem Mittelmeer einfach ertrinken lassen. Wenn man das wirklich beenden will – und wir wissen jetzt noch gar nicht, wie sich die Situation dort entwickelt, mit dem Klimawandel und so weiter. Die Europäische Union würde gut daran tun, Migration einfach mal als Fakt zu begreifen und die zu gestalten, und nicht immer nur eindämmen zu wollen. Was man nämlich auch nicht sieht ist, dass es noch ein zweites großes Massengrab gibt. Das ist die Sahara, wo noch sehr viel mehr Menschen sterben als auf dem Mittelmeer sehr wahrscheinlich. Und was auch jetzt eine Entwicklung ist – da hat es gerade eine neue Studie dazu gegeben -, dass es so ist, dass die Misshandlungen in Libyen ganz massiv zugenommen haben von den Menschen, die dort festsitzen, und das wird auch damit zusammengebracht, … Büüsker: Auf Libyen können wir gleich noch mal gemeinsam schauen. Ich würde jetzt gerne noch mal kurz beim Mittelmeer und auch bei Europa bleiben. Sie haben die Frage der Moral angesprochen und auch die europäische Flüchtlingspolitik. Da landen wir ganz schnell bei Verteilungsfragen. Italien beispielsweise argumentiert ja, dass das Land ganz lange alleine gelassen wurde, weil die europäische Flüchtlingspolitik gescheitert ist und die Verteilung nicht geklärt wurde. Die ganzen Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden, gerettet wurden, sind in Italien gelandet. Da hat die Regierung in Rom durchaus einen Punkt, oder? "Europa hat Italien jahrelang im Stich gelassen" Neugebauer: Es ist tatsächlich so, dass, glaube ich, die Regierung Salvini letztendlich eine Folge auch des Dublin-Abkommens ist, für das die Bundesregierung auch ganz maßgeblich mitverantwortlich ist. Deswegen ist es jetzt natürlich ein Stück weit wohlfeil, sich da über Italien zu beschweren. Es ist natürlich völlig inakzeptabel, was der Innenminister in Italien macht. Die Staatsanwaltschaft in Rom ermittelt jetzt zurecht gegen Salvini wegen Freiheitsberaubung, weil er unser Schiff mit Geretteten an Bord nicht hat anlegen lassen. Da muss man ganz klar sagen, da hat er geltendes Recht gebrochen. Gleichzeitig ist es so, dass man Italien natürlich schon ein Stück weit verstehen kann. Europa hat Italien jahrelang im Stich gelassen, und ich glaube, dass der Rechtspopulismus in der Stärke, wie wir den jetzt in Italien haben, sicherlich eine Folge davon ist. Büüsker: Im Stich gelassen fühlen sich jetzt auch die Reeder, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind, weil die befürchten, dass sie letztlich die einzigen sein werden, die noch Flüchtlinge retten aus Seenot. Wir haben das erst gestern gesehen: Da haben Flüchtlinge ein Schiff, ich sage mal, gekapert, das sie aufgenommen hatte, um das nach Malta umzulenken, um nicht wieder zurück nach Libyen zu müssen. Halten Sie das für realistisch, dass es jetzt die Reeder sind, die die einzigen sind, die noch Menschen im Mittelmeer retten? "Rückführungen nach Libyen sind völkerrechtswidrig" Neugebauer: Das ist absolut anzunehmen. Das ist ja auch die Situation, die wir vorher hatten, weil es nicht richtig ist, dass niemand mehr losfährt, wenn man da nun die Rettungsschiffe rausnimmt. Was da gestern passiert ist vonseiten der Flüchtlinge, ist letztendlich auch nichts anderes als Notwehr. Wir wissen, was in Libyen passiert. Wir wissen, dass dadurch, dass die Leute nicht mehr aus Libyen rauskommen, die jetzt vor Ort im Land ausgepresst werden von diesen kriminellen Banden und das dort die Misshandlungen ganz massiv zugenommen haben. Natürlich wollen die Leute von dort weg und natürlich wollen die zurecht nicht mehr dorthin zurück. Rückführungen nach Libyen sind auch völkerrechtswidrig, und das ist auch, wenn man sich jetzt die Mission Sophia anschaut. Die hat ja letztendlich nicht jetzt die Schiffe abgezogen; das hat sie schon vor einem halben Jahr gemacht. Sie hat jetzt nur das Mandat der völkerrechtswidrigen Praxis angepasst, die sie seit über einem halben Jahr verfolgt, nämlich dass man mit Flugzeugen diese Boote nur noch aufspürt und dann entweder die sogenannte libysche Küstenwache dafür einsetzt, oder Handelsschiffe, zu versuchen, diese Leute völkerrechtswidriger Weise nach Libyen zurückzubringen. Gestern war es jetzt so, dass Flüchtende auf dem Schiff protestiert haben und sich die Crew dann entschieden hat, nicht nach Tripolis, sondern nach Malta zu fahren. Das ist genau die richtige Entscheidung gewesen von der Crew. Hut ab vor der Crew dieses Handelsschiffs, die als einzige seit Monaten endlich mal wieder sich ans Völkerrecht gehalten hat, Leute aus Seenot gerettet hat, wie es ihre Pflicht ist, und sie dann auch, so wie es das Seerecht vorsieht, an einen sicheren Ort gebracht hat. Libyen ist kein sicherer Ort. Die Crew da hat also genau richtig gehandelt. Büüsker: Die Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten, haben ein Recht darauf, gerettet zu werden. Sie haben jetzt argumentiert, dass wir in Europa alle wissen, wie die Situation in Libyen ist. Aber wissen das nicht letztlich auch die Flüchtlinge, die sich auf den Weg machen und in Libyen mehr oder weniger freiwillig dann landen? "Man kann aus Libyen nicht einfach wieder zurück" Neugebauer: Na ja. Genau diese Annahme ist sicherlich richtig. Die Frage ist allerdings, wie freiwillig das ist, wenn man aus anderen Gründen dazu gezwungen ist zu fliehen. Es ist ja so eine Mär, dass man glaubt, dass diese Leute irgendwie freiwillig kommen. Ich habe mit sehr vielen Menschen gesprochen und ich habe nicht eine Person getroffen bei uns auf den Schiffen, die keinen legitimen Grund gehabt hätte, diese Flucht anzutreten. Ob der dann hier formell anerkannt wird, ist dann noch mal eine ganz andere Frage. Was aber vor allem wichtig ist, aus egal welchem Grund die losgegangen sind: Wenn die erst mal in Libyen sitzen, dann gibt es keinen Weg zurück. Das ist auch etwas, was viele hier nicht wissen. Man kann aus Libyen nicht einfach wieder zurück. Wir haben zum Beispiel zahlreiche Menschen – das ist ganz witzig, das wissen viele nicht -, die kommen dann aus Bangladesch und sitzen dann plötzlich auf den Booten. Dann fragen wir die, wollt ihr eigentlich nach Europa, und dann sagen die, nee, wir wollen eigentlich nur zurück nach Bangladesch, aber wir kommen aus Libyen nicht anders raus als mit diesen Booten. Das ist auch etwas, was da reinspielt. Die Menschen, die schon in Libyen sind – und da ist davon auszugehen, dass das weit über eine halbe Million ist -, die haben quasi gar keine andere Möglichkeit, als auf diese Boote zu gehen, und die sind in Libyen diesen schrecklichen Bedingungen ausgesetzt. Das ist absolut inakzeptabel und deswegen ist es dringend nötig, dass diese Leute die Möglichkeit bekommen, von dort auf sicherem Weg nach Europa zu kommen. Wir haben jetzt ein paar Schiffe frei, die jetzt nicht mehr für die Mission Sophia eingesetzt sind. Die könnte zum Beispiel die Bundesregierung auch einfach nutzen, um die Leute von dort zu evakuieren, dass sie gar nicht erst auf diese Boote müssen. Büüsker: … sagt Ruben Neugebauer, der Mitgründer der Organisation Seawatch – private Seenotretter im Mittelmeer. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Neugebauer: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ruben Neugebauer im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
Wenn die EU künftig keine Schiffe mehr im Rahmen der Mission "Sophia" aufs Mittelmeer schicke, dann führe das nur zu einer Verlagerung der Fluchtrouten, sagte Ruben Neugebauer von Sea-Watch im Dlf. Angesichts der Lage in Libyen hätte die Menschen keine andere Möglichkeit, als "auf diese Boote zu gehen".
"2019-03-29T08:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:42.779000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ende-der-mission-sophia-sea-watch-eu-sollte-migration-als-100.html
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Hamburger Zeitschrift für Hundehasser
Hundebesitzer sollten die Hinterlassenschaften ihrer Tiere beseitigen - machen aber nicht alle. (picture alliance / dpa/ Jens Kalaene) Für Wulf Beleites ist es ein herrlicher Tag: In strömenden Regen sitzt er auf einer Parkbank, vor ihm eine weitläufige Hundewiese in Hamburg Eimsbüttel. "Es regnet im Moment. Und kein Hund ist zu sehen. Hängt wahrscheinlich mit den Hundehaltern zusammen, die es nicht mögen, wenn ihre Hunde nasses Fell haben. Weil die Hunde dann noch mehr stinken als sonst." Beleites ist 66 Jahre alt, trägt Trenchcoat, die langen graublonden Haare zum Zopf gebunden. Unter seinem schwarzen Regenschirm behält er die Wiese im Blick. In der Hand hält er die erste Ausgabe seines Magazins, von "Kot und Köter - die Zeitschrift für den deutschen Hundefeind". "Also in Stoßzeiten laufen hier – bei gutem Wetter – so an die zehn bis zwanzig Hund herum. Und tollen rum, zertrampeln den Rasen. Es gibt ja dieses berühmte Lied, ich glaube von Bettina Wegener: "Sind so kleine Hälmchen, darf man nicht rauf kacken!" Und das passiert hier denn schon. Was ich auch sehe, ist, dass manche Leute ganz vorbildlich den Dreck dann wegmachen. Und manche tun so, pfeifen ein fröhliches Lied, als ob sie das gar nicht gesehen hätten!" Die Idee für die "Kot und Köter"-Zeitschrift entwickelte der Journalist zusammen mit Kollegen. An einem Abend Anfang der Neunzigerjahre, nach einigen Guinness-Bieren. Den Titel "Kot und Köter" ließen sie sich schützen und als die Boulevardpresse und Talkshows Wind davon bekamen, war Beleites plötzlich ein gefragter Gesprächspartner: "Und dann tingelte ich sechs Jahre lang als "Hundehasser der Nation" durch die Talkshows, obwohl es gar nichts gab... Ich hatte ein Titelbild, mehr aber nicht. Das war denen aber auch egal. Talkshows sind aufgebaut in Good Guys und Bad Guys. Und die brauchten einfach jemanden als Bad Guy zwischen den ganzen anderen Tierliebhabern." Tingeln als "Hundehasser der Nation" Sechs Jahre machte er den Zirkus mit. Talkte bei Margarete Schreinemakers und Arabella Kiesbauer. Wir sollten uns ein Beispiel an den Indianern nehmen: Dort gehöre der Hund nicht unter, sondern auf den Tisch. Dann hatte Beleites genug und outete sich als Satiriker, dessen Hundephobie man doch bitte nicht so ernst nehmen sollte. Dass nun, fast 20 Jahre später nicht nur ein Titelblatt, sondern die erste echte "Kot und Köter"-Ausgabe im Handel ist, war Zufall. In einem Workshop für junge Journalisten testete Beleites die Möglichkeiten des Crowdfundings. Er sammelte Geld bei Unterstützern. 7000 Euro kamen zusammen, 100 Euro spendete Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung. 7,80 Euro kostet die Zeitschrift und sie findet reißenden Absatz. Die ersten 1000 Exemplare sind längst vergriffen, Beleites muss nachdrucken. Und hat schon 1.500 Interessenten für ein "Kot und Köter"-Abonnement, die Gefallen finden am Hintergrundwissen für Hundefeinde. Dazu gehört die in der Erstausgabe vorgestellte Studie der Uni Gießen, die erklärt, wie thüringische Mennoniten im 19. Jahrhundert Bratwürste aus Dackelfleisch fabrizierten. "Und als sie sich doch entschlossen, auszuwandern und rund um die Welt zogen, nahmen sie einen Dackel mit. Und so hat sich der Dackel und die Bratwurst aus dem Dackel um den Globus bis nach Paraguay und Argentinien verbreitet. Und in Argentinien ist das Rezept dann verfeinert worden. Und so ist der 'Argentinische Dackelrücken' entstanden." Beleites schaut kurz auf: In schnellen Hundegalopp hechelt ein kleiner Kläffer seinem durch den Regen radelnden Herrchen hinterher. Zeit zum Haufenmachen hat er nicht. Beleites lächelt. Schlägt den Kragen hoch. Genießt den Regen, die hundefreie Wiese.
Von Axel Schröder
Man mag sie oder man hasst sie: Hunde. Hintergrundwissen für Hundefeinde bietet neuerdings das per Crowdfunding finanzierte Hamburger Magazin "Kot und Köter". Ein Thema der ersten Ausgabe: Wie thüringische Mennoniten im 19. Jahrhundert Bratwürste aus Dackelfleisch fabrizierten.
"2014-04-23T14:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:18.710000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kot-und-koeter-hamburger-zeitschrift-fuer-hundehasser-100.html
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Bittersüßer Progressive Rock mit Zauberdrums
Inzwischen ist Trommler Gavin Harrison festes Mitglied der Band The Pineapple Thief (Rob Monk) Ende August erschien mit "Dissolution" die 13. CD der Band und wird dem Anspruch, den bittersüßen Prog Rock-Trademarksound der Briten noch zu verfeinern, voll gerecht. Und die Idee hinter dem Album bringt Bruce Soord so auf den Punkt. "Das Konzept von Dissolution ist die Beschreibung einer technologischen Revolution und von dem Schaden, den diese innerhalb der Gesellschaft, bei Freunden und auch in meinem Leben angerichtet hat. Eine wundervolle Welt, in der jeder mit jedem verbunden ist und wir alle jederzeit mit jedem kommunizieren können. Das macht die Menschen allerdings nicht glücklicher: im Gegenteil, die Tatsache, dass sich diese Technologie auch als Überwachungsinstrument nutzen lässt und dass sie anfängt, unsere Meinung zu kontrollieren, zeigt einfach, dass wir zu weit gegangen sind. Wir haben es mit einer Art Waffe zu tun. All das formte die Idee von "Dissolution" und das Ganze ist so etwas wie ein Konzeptalbum geworden." Inspiration aus den goldenen Siebzigern Bombastische Intros, der Sound eines Mellotrons, filigrane Songstrukturen jenseits der Popmusiklänge von 3.30 und Wechsel zwischen leisen, akustisch gespielten Momenten und harten Riffs. Die Musik von The Pineapple Thief entführt auf eine Reise. In die Vergangenheit und nach vorne, in die Zukunft. Bruce Soord, ist sich seiner musikalischen Inspiration bewusst. "Meine musikalischen Wurzeln stammen aus den 1970er Jahren. Supertramp, Pink Floyd...der melodische progressive Rock. Und die besten Alben aus dieser Zeit ragen heute immer noch heraus. The Dark Side of the Moon, die späten Beatles... all diese Alben klangen großartig, weil der Aufbau der Musik relativ simpel war. Drums, Bass, Gitarre, Stimme, ein wenig Keyboard. In den 80er-Jahren haben dann alle mit der Produktion an sich experimentiert. Das Studio wurde zum Instrument und der Syntheziser und der Sampler bestimmten den Sound. Es gibt hier immer noch tolle Musik, aber die klingt heutzutage eher alt. Meine Idee für Pineapple Thief war immer, einen möglichst zeitlosen Sound zu haben." Drummer Gavin Harrison macht den Unterschied The Pineapple Thief ist keine Gruppe, die es sich in einer bestimmten Musikepoche bequem gemacht hat, um dort zu verweilen. Ganz im Gegenteil. Mit "Dissolution" führt The Pineapple Thief Prog Rock-Konzepte in die Neuzeit. Die britische Band nutzt das Arsenal der heutigen Recordingwelt wie beispielsweise der Vorzüge einer modernen Workstation am Computer, an dem man bis zur letzten Minute auch noch Tonhöhe und Arrangement verändern kann. Außerdem spielt auf "Dissolution" Wundertrommler Gavin Harrison. Sein aufwendiges, rhythmisch vertracktes Spiel prägt den Bandsound entscheidend mit. Er hat auch schon für Porcupine Tree und King Crimson gespielt und wurde von Anfang an in den kompletten Produktionsprozess eingebunden. Wurde das Schlagzeug früher bei Pineapple Thief eher programmiert, war nun ein wesentlich organischerer Ansatz möglich. "Wenn es früher um Rhythmen innerhalb von Pineapple Thief ging, haben wir uns immer auf den Computer verlassen. Gavin hat uns gezeigt, wie wichtig die Drums sind, denn damit beginnt alles. Was das neue Album wie ein roter Faden durchzieht, ist, dass es von Anfang an eine wirkliche Zusammenarbeit war. Sobald ich ein Riff oder eine musikalische Idee hatte, hab ich sie zu Gavin geschickt und der hat daraufhin Rhythmen entwickelt. Manchmal ging das auch in eine völlig andere Richtung als vielleicht ursprünglich geplant. Das wiederum hat unseren Bassisten inspiriert. Es war wie in einem Puzzle, in dem das letzte Teil immer gefehlt hat." "Dissolution", die zwei Seiten des modernen Webs Das neue Album "Dissolution" thematisiert eine Welt, in der jeder mit jedem vernetzt ist. Eine digitale Moderne, die viele Möglichkeiten bietet, aber auch verunsichert. Fakenews und per Social Media ein gläsernes Privatleben. Die melancholische Grundstimmung des Vorgängeralbums "Your wilderness" ist auf "Dissolution" noch mehr zu spüren. Und auch musikalisch ist das neue Album mit seinem kristallklarem Sound noch ausgereifter und noch dynamischer. Die Band nutzt bei 43 Minuten Spielzeit die ganze Bandbreite zwischen extremer Lautheit und schon fast meditativer Stille als großen Spannungsbogen. Und Bruce Soord weiß bei aller Kritik am Zeitgeist auch um dessen Vorteile. Denn ohne das moderne Web wäre das Album so nicht entstanden. "Wir haben das ganze Album unabhängig voneinander aufgenommen. Da wir alle über Studios verfügen, ging das. Vor allem bei Gavin, dessen Schlagzeug komplett mikrofoniert in seinem Aufnahmeraum steht. Ich habe dann am Ende alle Spuren bei mir zu Hause gemixt. Auch wenn das jetzt so klingt, als wäre alles gestückelt und nicht organisch, war es doch ein sehr kommunikativer Prozess. Wir hatten Videokonferenzen, in denen die ganze Band zusammenkam, um einzelne Parts zu diskutieren. Da hat uns die Technologie sehr geholfen. Vor fünf Jahren, wäre das noch nicht möglich gewesen. Der große Vorteil war, dass wir so lange daran arbeiten konnten, bis etwas Tolles dabei herauskam. Ich glaube, ich war in den letzten sechs Monaten wohl jeden Tag im Studio. Hätten wir ein externes Studio mieten müssen, wäre das unbezahlbar gewesen."
Von Thomas Elbern
Dreizehn Studio-Alben hat die britische Band The Pineapple Thief veröffentlicht, das neue Werk "Dissolution" enthält wieder den typischen melancholischen Progressive Rock. Der schon vorher hochwertige Sound wird durch Wundertrommler Gavin Harrison magisch - findet auch Sänger Bruce Soord.
"2018-09-02T15:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:08:42.409000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/the-pineapple-thief-bittersuesser-progressive-rock-mit-100.html
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"Ariadne"-Variationen
Opernsängerin und Liedinterpretin: Vesselina Kasarova (dpa / picture alliance / Horst Galuschka) Unter anderem komponierte Claudio Monteverdi Anfang des 17. Jahrhunderts mit seiner "Arianna" eine der ersten Opern überhaupt. Mezzosopranistin Vesselina Kasarova hatte mit der Pianistin Iryna Krasnovska für ihr Konzert beim Bonner Beethovenfest ein spannendes und facettenreiches Programm mit unterschiedlichen Werken über die unglückliche antike Heldin zusammengestellt. Joseph Haydn"Arianna a Naxos", Solokantate Hob. XXVIb:2 Louis-Ferdinand Hérold"Ariane", lyrische Szene Jules MassenetSzene aus der Oper "Ariane" Vesselina Kasarova, MezzosopranIryna Krasnovska, Klavier Aufnahme vom 20. September 2015 im Steigenberger Grandhotel Petersberg
Am Mikrofon: Klaus Gehrke
Sie gilt als Synonym für die hingebungsvolle und betrogene Frau: die antike Königstochter Ariadne, die ihren Geliebten Theseus aus dem Labyrinth rettet, von ihm aber auf der Insel Naxos verlassen wird. Ihre tragische Liebesgeschichte hat viele Komponisten zu beeindruckenden Werken inspiriert.
"2016-08-31T22:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:27.234000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beethovenfest-bonn-2015-ariadne-variationen-100.html
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US-Klagen nicht nur gegen VW
Der Konzern reagierte zurückhaltend auf die Zivilklage. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte) Für Volkswagen wird es ernst - doch der Konzern reagiert zurückhaltend auf die Zivilklage. Man kenne die Klageschrift noch nicht im Detail und prüfe die Vorwürfe derzeit, sagte ein Sprecher in Wolfsburg. Das Unternehmen sei in einem ständigen Austausch mit den Behörden. Das US-Justizministerium wirft Volkswagen den Einsatz von Betrugssoftware und Verstöße gegen das Klimaschutzgesetz vor. "Autobauer, die ihre Fahrzeuge nicht richtig zertifizieren und die Systeme zur Emissionskontrolle aushebeln, verletzen das Vertrauen der Öffentlichkeit, gefährden die öffentliche Gesundheit und benachteiligen Wettbewerber", heißt es in einer Mitteilung des Justizministeriums. Die Klage war am Montag im Auftrag der US-Umweltschutzbehörde EPA bei einem Bundesgericht in Detroit eingereicht worden. Sie richtet sich nicht nur gegen die Kernmarke VW, sondern auch gegen die vom Skandal betroffenen Konzerntöchter Audi und Porsche. In der 31 Seiten umfassenden Klageschrift wird eine Strafzahlung von bis zu 37.500 US-Dollar für ein jedes der betroffenen Fahrzeuge genannt. Allein in den USA sollen mehr als 600.000 Dieselautos manipuliert worden sein. Volkswagen drohen in der Summe Bußgelder in zweistelliger Milliardenhöhe. VW habe den US-Umweltbehörden den Einbau der verbotenen Programme bei der Zulassung der Autos verschwiegen und damit gegen US-Gesetze verstoßen. Der Konzern habe die Ermittlungen durch irreführende Angaben und das Vorenthalten von Material behindert. Die USA würden nun alle geeigneten Rechtsmittel gegen Volkswagen ausschöpfen, kündigte das Justizministerium an. Die Klage sei nur "ein erster Schritt". Demzufolge könnten VW auch noch strafrechtliche Konsequenzen drohen. Hierzulande ziehen sich Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig zur Abgasaffäre noch hin. Zudem rollt eine Klagewelle getäuschter Autokäufer und vieler weiterer auf Volkswagen zu. Der Abgasskandal hatte in den USA begonnen. Der Wolfsburger Autobauer hat sich bisher mit den amerikanischen Umweltbehörden aber noch nicht auf einen Rückrufplan einigen können. In Deutschland startet die Rückrufaktion für betroffene Fahrzeuge dagegen in diesem Jahr. Insgesamt sollen bundesweit 2,4 Millionen Diesel-Autos über das gesamte Jahr verteilt in die Werkstätten gerufen werden. Die Deutsche Umwelthilfe e. V. bezeichnet die Klageerhebung in den USA als konsequent. Die Umweltorganisation will schmutzige Diesel mit Klagen gegen einzelne Kommunen aus deutschen Innenstädten verbannen.
Von Alexander Budde
Das US-Justizministerium und die Umweltbehörde EPA haben gegen Volkswagen Klage eingereicht. Der Vorwurf: Der Automobilkonzern habe mit dem Einsatz von Betrugssoftware gegen des Klimaschutzgesetz verstoßen. Neben dieser Zivilklage könnten VW auch noch strafrechtliche Konsequenzen drohen.
"2016-01-05T11:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:11.950000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abgasskandal-us-klagen-nicht-nur-gegen-vw-100.html
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Viel fordern, schnell strafen
Jobcenter in Leipzig (dpa / Waltraud Grubitzsch) Lutz Große hat vier Berufe gelernt. Er war zuerst Landwirt, dann Bürokaufmann, dann Finanzkaufmann. Und schließlich EDV-Spezialist. Seinen letzten Job verlor er 2012: "Ich habe vorher in Kiel in einem Unternehmen gearbeitet, das für mich eine Förderung kassiert hat, und als die Förderung dann ausgelaufen ist, bin ich natürlich entlassen worden." Zum ersten Mal wurde er mit 35 Jahren arbeitslos. Die einzige Konstante im Arbeitsleben des 58-Jährigen ist seitdem eine enge Beziehung zur Arbeitslosenverwaltung. Keine Behörde kennt er besser als das Jobcenter. Keine fürchtet er mehr: "Die Entwicklung geht soweit, dass man Angst entwickelt vor dem nächsten Brief, den der Briefträger bringt. Bei uns im Haus ist es so: Der kommt die Treppe hoch. Man hört den, und man fängt automatisch an zu schwitzen. Jetzt kommt Post vom Jobcenter. Man bekommt Angst. Und jeden Umschlag, den man von dieser Institution öffnet, jeder Umschlag ist sanktionsbedroht. Wenn du nicht spurst, dann kürzen wir das, was wir dir geben sollen. Das steht da schwarz auf weiß in jedem Umschlag drin." Lutz Große würde gerne arbeiten. Doch wer nimmt ihn? Einmal in der Woche gibt er einen EDV-Kurs in einer Schule. Der schmale Mann engagiert sich darüber hinaus in einer der vielen sogenannten Hartz-IV-Initiativen. Wie Franckie, der seinen richtigen Namen nicht sagen möchte. Franckie war Unternehmer, er verkaufte optisches Zubehör. Als das Geschäft immer schlechter lief, gab er 2009 auf: "Ich habe mittlerweile mehrere 100 Bewerbungen hinter mir. Ich gehöre als Akademiker, Betriebswirt, zertifizierter Projektmanager mit fast 50 Jahren nicht mehr zum gesuchten Kundenklientel. Zu alt, zu schlau, möglicherweise zu teuer." 4,45 Euro die Stunde - bei Nachtarbeit Für Menschen wie Lutz Große, Franckie und Millionen andere sind die Jobcenter zuständig, von denen es etwa 400 in Deutschland gibt. Eines davon steht in Lübeck. Es wird gemeinsam von der Stadt und der Bundesanstalt für Arbeit betrieben. Geschäftsführer Joachim Tag, ein Psychologe, ist zufrieden mit der Arbeit, die seine mehr als 300 Mitarbeiter leisten in einer Stadt, die als strukturschwach gilt: "Wir haben im Jahr ungefähr 5.000 Integrationen, die wir schaffen mit unseren Kunden. Ich denke, es ist eine ganze Menge. Und es gibt natürlich die Untersuchungen dazu, das will ich an dieser Stelle überhaupt nicht leugnen, dass prekäre Arbeitsverhältnisse, gerade bei den Minijobs nicht die Brücke in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind, wie man gerne lange Zeit angenommen hat. Deshalb haken wir da ständig nach. Wir haben aber auch für Leute, die weiter vom Arbeitsmarkt entfernt sind, sehr interessante Projekte." Eines dieser Spezialprojekte nennt sich "Perspektive 50 plus 'Mittenmang'". Astrid Dönges betreut hier ältere Arbeitnehmer. "Als Erstes wollte ich Sie fragen nach dem Hotel, da hatten Sie ja angefangen als Nachtportier..." Vor ihr sitzt ein 62-jähriger Mann, der schon vieles in seinem Leben gemacht hat. Klaus Fischer war Heizungsinstallateur, ging dann zur Bundesmarine. Später verkaufte er Küchen, emigrierte, als das nicht mehr lief, nach Teneriffa und kam - nach 16 Jahren im Ausland - im März zurück. Jetzt hat Astrid Dönges ihm einen Job als Nachtportier vermittelt: "Der Job an sich - ich hatte ihnen ja damals das in unserem ersten Gespräch im April gesagt, dass ich das eigentlich suche. Mit Leuten zu tun zu haben, bisschen Action und so weiter, das ist auch gut so. Was ich ein bisschen zu bemängeln habe, aber ich denke, das bemängelt eigentlich jeder, ist die Bezahlung. Wenn ich das mal hochrechnen würde, wenn ich nur von neun Stunden ausgehe, habe ich 4,45 Euro die Stunde, es ist aber auch nicht so, dass ich die ganze Nacht da pennen kann." Die Beratungszeiten in den Jobcentern sind oft zu kurz und die Mitarbeiter nur unzureichend geschult.. (AP) Für Klaus Fischer hat Astrid Dönges eine Stunde Beratungszeit. Damit ist ihre Situation nicht zu vergleichen mit der vieler Kollegen in anderen Abteilungen, wo die Zahl der Kunden nach oben unbegrenzt erscheint: "Mehrere 100 auf jeden Fall. Und es sind ja immer Kollegen zu vertreten. Das heißt, man hat immer bestimmt 600 Leute, die man betreuen muss. Die gehen in Fortbildung, sind im Urlaub oder krank, das heißt, man hat ja nie nur seine Rate, sondern hat immer Kollegen zu vertreten. Ich war ja auch schon in der normalen Geschäftsstelle, da ist es stressiger." Strafen nur als letztes Mittel Viele Jobcenter sind überlastet. Der Druck auf die Mitarbeiter ist hoch. Sie sollen die Arbeitslosen - ungeachtet der Chance auf eine erfolgreiche Vermittlung - gewissermaßen aus pädagogischen Gründen möglichst häufig vorladen. Die Intervalle werden in der sogenannten Eingliederungsvereinbarung festgelegt, die zwischen dem Jobcenter und dem Arbeitssuchenden geschlossen wird. Wer sich nicht an die Vereinbarungen hält, dem drohen Geldstrafen, Sanktionen genannt: Zehn Prozent des Regelsatzes werden einbehalten, 30, sogar bis zu 100 Prozent. Wobei Jugendliche besonders hart sanktioniert werden. Die Strafen seien allerdings nur das letzte Mittel, beruhigt Geschäftsführer Joachim Tag: "Dann würden wir gucken, warum sind sie nicht gekommen. Wir würden sie wieder neu einladen. Dann würde man den Sachverhalt besprechen, und dann bekommen sie, wenn sie sich bis dahin nicht erklärt haben, noch mal die Gelegenheit, sich dazu schriftlich zu äußern, und erst dann würde eine Sanktion für den folgenden Monat in Kraft treten. Und es ist auch so, dass unsere persönlichen Ansprechpartner, wenn sie im Gespräch mit Kunden sind und das Gefühl haben, na, klappt es auch wirklich mit der Mitarbeit zuverlässig, sich wirklich Mühe geben und sehr deutlich erklären, jetzt müssen sie aber auch kommen, und wenn sie dann nicht kommen, dann tritt so eine Sanktion ein." In Lübeck liegt die Sanktionsquote bei 3,2 Prozent, also etwa im Bundesdurchschnitt. Sie ist in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen. 2009 gab es bundesweit noch 735.000 Sanktionen, 2012 waren es schon über eine Million, wie das Forschungsinstitut Prognos im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgefunden hat. Dabei lägen die Geldstrafen im Schnitt bei etwa 100 Euro pro Sanktion. Interessant sei dabei unter anderem, so Andreas Heimer, Bereichsleitung für Strategie und Programmentwicklung bei Prognos, dass dies keineswegs mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen einherging: "Was wir überraschend fanden, ist, dass wir auf der einen Seite einen zunehmend entspannten Arbeitsmarkt haben, auf der anderen Seite haben wir einen Anstieg der Sanktionen." Eine Million Sanktionen, Geldstrafen für Arbeitslose, die sich nicht an Vereinbarungen gehalten habe, etwa an Termine. Für Inge Hannemann ist diese Zahl nicht überraschend. Die ehemalige Angestellte in einem Hamburger Jobcenter erinnert sich, dass sie und ihre Kollegen entsprechende Anweisungen von den Vorgesetzten erhielten: "... achtet drauf, dass ihr eine Sanktionsanhörung rausschickt und dann auch sanktioniert. Es ist schon ein ganz primärer Fokus, und für mich sieht das dann schon danach aus, sanktioniert, was das Zeug hält. Weil dann immer das Totschlagargument kommt: Wir agieren im Sinne der Steuerzahler. Wo ich ganz klar sag, auch die Erwerbslosen waren Steuerzahler." Sanktionspraxis: "Ein Minimum vom Minimum" Vor Kurzem hat Inge Hannemann, die als Hartz-IV-Rebellin mittlerweile bundesweit bekannt ist, ihren Arbeitsplatz beim Jobcenter verloren. Sie hatte öffentlich Stellung bezogen gegen das Verwaltungshandeln ihres Arbeitgebers: "Die Grundkritik ist der Umgang mit den Erwerbslosen. Die Unfreundlichkeit, die zum Teil auch erlebte Willkür, die Schikane. Die zweite Hauptkritik ist die Sanktionspraxis. Dass man Menschen, die Existenzminimum bekommen, dass man von dem Minimum noch mal ein Minimum macht." Inge Hannemann wurde von ihrem Job im Jobcenter suspendiert, weil sie öffentlich äußerte, das "System Hartz IV" als menschenunwürdig abzulehnen. (dpa/picture alliance/Sven Hoppe) Der Regelsatz lag 2005 für eine alleinstehende Person bei 345 Euro und beträgt derzeit 391 Euro. Das ist eine Erhöhung von etwas mehr als elf Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die Verbraucherpreise allerdings um 16 Prozent. Von dem Geld müssen alle Ausgaben bestritten werden mit Ausnahme der Kosten für Heizung und Wohnung, soweit der Wohnraum angemessen ist. Die Hartz-IV-Zuwendungen sind also nicht mehr als das Existenzminimum. Kritiker der Sanktionspraxis fragen, ob es rechtlich überhaupt vertretbar ist, diese Sätze durch Sanktionen noch zu kürzen. Prognos hat die Expertenurteile in seiner Untersuchung so zusammengefasst. Mitarbeiter Andreas Heimer: "Grundsätzlich, muss man sagen, gibt es keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es ist verfassungskonform. Aber die Literatur diskutiert sehr kontrovers. Das hängt einmal damit zusammen, dass es ein Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum ist. Es gibt ja auch Möglichkeiten der Ungleichbehandlung aufgrund der Ermessensspielräume, die der Gesetzgeber da einräumt. Alles das sind Aspekte, die zu einer rechtswissenschaftlichen Diskussion führen. Was das Ganze, denke ich, zusammenhält, ist, dass es die Möglichkeit gibt des Sachleistungsbezugs. In dem Moment, wo die Geldleistung gekürzt wird, haben die Leistungsbezieher die Möglichkeit, Sachleistung zu beantragen, und der Gesetzgeber schreibt nicht vor, ob das Existenzminimum als Geld oder Sachleistung auszuführen ist. Aber die Diskussion wird auf jeden Fall kontrovers geführt." Mitarbeiter der Materie nicht gewachsen Keineswegs alle Bescheide, die die Jobcenter aussenden, sind korrekt. Die deutschen Sozialgerichte berichten über eine Flut von Verfahren. Ende 2013 stöhnten die deutschen Sozialgerichte unter der Last von fast 200.000 Widersprüchen. So hat das Sozialgericht in Hamburg, allein was Hartz IV angeht, im Jahr über 4.000 Klagen zu behandeln. In etwa 40 Prozent der Fälle bekommen die Kläger ganz oder teilweise Recht, sagt Thomas Brandes, der Sprecher des Sozialgerichtes: "In den meisten Fällen handelt es sich um die Frage, ob Leistungen gewährt werden und wenn ja, in welcher Höhe. Dazu kommen natürlich Verfahren hinsichtlich der Miethöhe, Verfahren, wenn es um Mehrbedarfe geht, aus gesundheitlichen und anderen Gründen, aber auch Sanktionsverfahren, wo es darum geht, dass nach Auffassung des Jobcenters die Leistungsempfänger ihren gesetzlichen Pflichten oder den Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung, die ja geschlossen werden können, nicht oder nicht in vollem Umfang erfüllt haben, und dann kommt es zu Sanktionen, das heißt, zu Leistungskürzungen, gegen die sich dann - meist im Eilverfahren - die entsprechenden Leistungsempfänger wenden." Die vergleichsweise hohe Zahl der Verfahren hat mehrere Gründe. Zum einen sind Mitarbeiter in den Jobcentern der überaus komplexen Materie nicht immer gewachsen. Das ist kein Wunder, denn bis in die jüngste Vergangenheit wurden viele Mitarbeiter nur zeitlich befristet eingestellt, in der Hoffnung, ihre Arbeit würde irgendwann überflüssig. In dem Bestreben, möglichst jeden Einzelfall gerecht zu erfassen, aber auch niemandem zu viel Geld zu kommen zu lassen, hat sich das Regelwerk zudem zu einem bürokratischen Monstrum entwickelt. Ein Wust, den selbst Fachleute wie Daniela Harbeck nicht leicht durchschauen. Sie arbeitet seit vielen Jahren bei der Arbeitslosen-Telefonhilfe in Hamburg, einem Projekt, das von der Stadt finanziert wird: "Es ist ein unglaublich komplexes Gesetz, was Anteile aus der Arbeitslosenhilfe und aus der Sozialhilfe ehemals vereint. Selbst die Sachbearbeiter beim Jobcenter haben unheimlich viel damit zu tun, überhaupt den neuen fachlichen Hinweisen hinterherzukommen, also da kann man nicht sagen, dass sie einen leichten Job haben." An die Telefonberatung wenden sich in der Regel Menschen, die Probleme mit dem Jobcenter haben. So erfährt Daniela Harbeck von vielen Fehlern, die dort gemacht werden. Wobei es ihr weniger um die Kritik an einzelnen Mitarbeitern geht als um die Struktur. Sie fragt sich, ob die Leitlinie "Viel fordern, schnell strafen", die sich auch an der Zahl von einer Million Sanktionen ablesen lässt, überhaupt die richtige ist: "Ich finde die Zahl sehr hoch. Aber ich denke auch, es wäre schön, wenn statt der Sanktionspraxis gerade so der Bereich der Vermittlung anders ausgestattet wäre, dass die Menschen auch befähigt werden, mit den Menschen zusammen zu arbeiten, dann möglicherweise auch pädagogische Qualifizierung erhalten würden und dann auch zielgerichtet herausfinden können, wer ist hier jetzt gerade vermittelbar und will arbeiten, und meiner Ansicht nach wollen sehr viele arbeiten. Für viele ist Arbeit eigentlich wirklich ein Selbstwert. Und ein Ziel. Und von einer Stelle, vor der sie teilweise Angst haben, von der erwarten sie auch keine Hilfe." "Da kann man kein luxuriöses Leben mit führen" Zumal die häufig beschworene Gefahr des Missbrauchs, die ja die Ursache für die Gängelung der Arbeitslosen ist, offenbar kaum existiert. Joachim Tag, Geschäftsführer im Jobcenter Lübeck, kann jedenfalls für seinen Standort Entwarnung geben: "Ich glaube, dass dieser Aspekt des Abzockens zwar schillernd ist, aber ich glaube, dass das gnadenlos überbewertet ist. Die Regel ist die, dass die Leute hier zu uns kommen und auch ordentliche korrekte Angaben machen, und die Leistungen, die der Staat vorsieht, das sind die Regelsätze, und da kann man kein luxuriöses Leben mit führen." Für viele Arbeitslose, das sagen alle Statistiken, gibt es keine adäquaten Arbeitsplätze. Das gilt vor allem für gering Qualifizierte. Jenseits aller Beteuerungen bleibt die Tatsache, dass Menschen, die älter als 45 Jahre sind, kaum Chancen auf eine Festanstellung haben. Die Löhne sind oft beschämend niedrig. In mehr als zwei Millionen Fällen unterstützt der Steuerzahler Geringverdiener, die sogenannten Aufstocker. Beschäftigt wird ein neuer Mitarbeiter zudem häufig nur solange, wie das Jobcenter - und damit der Steuerzahler - den Arbeitsplatz subventioniert. Immer öfter geschieht Arbeitsvermittlung über Zeitarbeitsfirmen und bleibt damit prekär. In der Öffentlichkeit herrscht dennoch nicht selten die Meinung vor, Arbeitslose seien oft zu faul, an ihrem Los etwas zu ändern. Das beschämt viele Erwerbslose, sagt Lutz Große: "Es gibt Menschen, auch bei mir im Umfeld, die gehen morgens aus dem Haus und die kommen nachmittags wieder - auch bei mir im Haus - und man vermutet, die gehen einer geregelten Arbeit nach. Die bummeln den ganzen Tag durch die Stadt, verstecken sich in irgendwelchen Kaufhäusern, gucken sich die Auslagen an. Die sind erwerbslos, finden keine Arbeit mehr und schämen sich, erwerbslos zu sein. Manche werden richtig krank dabei." Große engagiert sich in Sachen Hartz IV. Zusammen mit Franckie, den er zuweilen besucht. Der zieht in seinem Wohnzimmer die Schublade einer Kommode auf, holt einen kleinen Plastikbehälter hervor und zeigt weiße Pillen: "Das sind meine Leckereien, morgens drei, abends zwei. Das sind Blutdrucksenker, Blutverdünner und Simvastatin für eine Stoffwechselkrankheit, weil ich mich möglicherweise nicht gut ernähre. Das hab ich, seitdem ich die Infarkte habe. Auch ein Umstand des Hartz-IV-Bezuges, dass man eine innere Unruhe hat, die einen krank macht." Namensgeber der umstrittenen Hartz-Gesetze: Ex-VW-Personalchef Peter Hartz (dpa/picture alliance/DB David Hecker Pool) Franckies Firma ging 2009 in Konkurs. Damals hatte er drei Herzinfarkte. Sein Leben änderte sich dramatisch: "Aus meiner aktiven Zeit - Erwerbsleben-Unternehmerzeit - habe ich heute noch einen bekannten und guten Freund. Alle anderen haben sich verabschiedet aufgrund meines neuen Status im Hartz-IV-Bezug." Peter Hartz: "Ein System, in dem Arbeitslose bestraft werden" Zu allem Überfluss, so sein Freund Lutz Große, werde man auch von der Arbeitslosenverwaltung nicht selten behandelt, als sei man ein lästiger Teil der Gesellschaft: "Die Betroffenen wissen aufgrund der Fremdentscheidung dieser Behörde nicht hundertprozentig, ob alles rundläuft. Am Monatsende reift einfach die Angst, kommt überhaupt Geld. Kann ich die anstehenden Rechnungen bezahlen. Das reift regelmäßig, ich habe noch keinen kennengelernt, der gesagt hat, mein Einkommen ist sicher." Im nächsten Jahr wird das Hartz-IV-Gesetz zehn Jahre alt: Anlass, es öffentlich auf den Prüfstand zu stellen. Man wird auch nach dem Menschenbild fragen, das da transportiert wird. Ist es richtig, dass die Gesellschaft in den Arbeitslosen Menschen sieht, die man wie Kleinkinder an die Hand nehmen muss, denen man alles vorrechnen muss und die man ständig in Verdacht hat, sie wollten die Allgemeinheit schädigen? Peter Hartz selbst, der Vorsitzende der seinerzeit nach ihm benannten Kommission, ist über die Folgen seiner Arbeit keineswegs glücklich. Schon 2007 urteilte er kurz und knapp: "Herausgekommen ist ein System, in dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden."
Von Reiner Scholz
Rund drei Millionen Menschen in Deutschland sind ohne Arbeit. Geld bekommen sie vom Jobcenter - sofern sie sich an dessen Forderungen halten. Bei Nichtbefolgen drohen sofort finanzielle Sanktionen. Dabei ist die Gefahr des Missbrauchs kaum existent.
"2014-09-07T18:40:00+02:00"
"2020-01-31T14:02:30.093000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arbeitslosenverwaltung-viel-fordern-schnell-strafen-100.html
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Personalerin entwickelt 16-Punkte-Systematik
Die Forderung gibt es schon lange: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Aber wie setzt man das durch? Eine Personalerin aus Berlin schlägt vor, den Wert einer Arbeit mit einer 16-Punkte-Systematik festzulegen (dpa/picture-alliance/Stephanie Pilick) "Es ist wichtig an der Stelle jetzt in den Diskurs zu kommen, zu überlegen: Was wollen wir eigentlich in dieser Gesellschaft? Wollen wir solche Funktionen, die im Moment deutlich weniger bezahlt bekommen, die vor allem von Frauen ausgeübt werden wie eben Erzieher, PflegerInnen, Krankenschwestern, so bewerten, dass sie einen ähnlichen Stellenwert haben wie Ingenieure oder BWLer oder Manager oder was auch immer?" Julia Borggräfe ist selbst in einer Schlüsselposition, um solch eine Diskussion in Gang zu bringen. Die 43-jährige Juristin ist Personalchefin bei der Messe Berlin und Unternehmensberaterin. Zu den markanten Eckpunkten ihres Lebens gehört die langjährige Arbeit für Mercedes-Benz und das politische Engagement im Lesben- und Schwulenverband. Ungleichbehandlung von Menschen beschäftige sie schon immer, erklärt sie. Das motivierte die zweifache Mutter auch vor knapp drei Jahren eine neue Systematik für gerechtere Löhne zu entwickeln. Psychosoziale Belastung werde oft nicht berücksichtigt Das Hauptproblem sei die gängige Bewertung von Arbeit, urteilt Julia Borggräfe: "Also allgemein ist die Situation so, dass so ziemlich in allen Tarifverträgen ein sogenanntes 'summarisches Verfahren' zur Anwendung kommt. Das, was in den summarischen Verfahren in der Regel nicht der Fall ist, ist dass dieses Element, was viele weibliche Berufe ausmacht, nämlich diese psychosoziale Belastung, dass dieses Kriterium bei der Funktionsbewertung in der Regel nicht herangezogen wird, das führt natürlich dazu, dass solche Berufe sehr viel schlechter bewertet sind im Quervergleich zu anderen Jobs." Julia Borggräfe (imago / Wolf P. Prange) Dieses System sei nicht objektiv und nicht transparent, kritisiert Julia Borggräfe. Es lasse so viel Interpretationsspielraum, dass oft Menschen, die die gleiche Tätigkeit ausüben, in sehr unterschiedlichen Lohngruppen landeten. Auch zum Leidwesen von Frauen. Sei man etwa oft mit Schicksalsschlägen konfrontiert? Die Personalerin hat dazu eine Alternative entwickelt, eine neue Bewertungsmethode mit einem Punktesystem, das 16 verschiedene Aspekte berücksichtigt wie Können, Wissen, physische Anforderungen und Verantwortung. Diese Methode beziehe auch die Wertschätzung sogenannter "psychosozialer Faktoren" mit ein, betont Julia Borggräfe: "Wie belastend ist eine Situation, mit der ich konfrontiert bin? Bin ich häufig mit dieser Situation konfrontiert, also ist das Teil meines Alltags? Zum Beispiel im medizinischen Bereich ich oft mit schweren Schicksalsschlägen konfrontiert bin, ist das Teil meines Jobs? Oder nicht? Und da stufen wir sozusagen auch wieder ab. Und wenn es der Regelfall ist, dann bekomme ich da relativ viele Punkte." Messe Berlin unterwirft sich freiwillig dem TVöD Ob ihre Methode schon irgendwo angewendet wird, ist nicht bekannt. Ihr eigener Arbeitgeber – die Messe Berlin – praktiziere nun eine Art Mischform, berichtet sie: "Die Messe ist auf dem Weg dahin und wir sind da natürlich auch intensiv in Gesprächen mit unserem Betriebsrat, der das mitentwickelt hat und auch der Mitarbeiter, um zu schauen, um zu schauen: Was ist die beste Möglichkeit das zu implementieren? Wir haben uns jetzt darauf verständigt, dass wir im Prinzip ein zweistufiges Eingruppierungsverfahren haben, wir haben immer dieses System zuerst in der Anwendung, das heißt wir reduzieren unseren Ermessensspielraum und legen dann die Schablone des TVöD nochmal drauf." Modell würde Tarifverträge über den Haufen werden Das ist der Tarifvertrag öffentlicher Dienst, dem sich die Messe freiwillig unterworfen hat. Ein Dammbruch ist das nicht. Tatsächlich ist Borggräfes Ansatz so tiefgreifend, dass er das ganze bisherige System in Frage stellt und bei kompletter Umsetzung auch die bestehenden Tarifverträge angreifen würden. Daher sind auch die Gewerkschaften zurückhaltend, ihre Idee zu unterstützen: "Ich kann die Gewerkschaften natürlich auch verstehen, wenn sie sagen: Das würde unsere ganze Tarifsystematik auch ein stückweit über den Haufen werfen, weil die tarifliche Systematik ja eben auf diesem summarischen Modell aufbaut und nicht auf dem analytischen." Auch wenn die ganz großen starken Fürsprecher für ihr Modell also noch fehlen: Ans Aufgeben denkt Julia Borggräfe deshalb noch lange nicht. Getreu dem Zitat von Immanuel Kant, das sie zum Leitspruch in Ihrem eigenen Unternehmen Autenticon gewählt hat: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
Von Daniela Siebert
Frauen verdienen statistisch weniger als Männer, vergleichbare Jobs werden unterschiedlich entlohnt. Wie kann man Arbeit fair, objektiv und geschlechterneutral bewerten? Eine Personalchefin in Berlin hat ein Modell für gerechte Bezahlung entwickelt.
"2017-11-02T13:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:59:10.632000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschlechterneutrale-bezahlung-personalerin-entwickelt-100.html
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Kampfroboter heute und in Zukunft
Der Hersteller der Drohne "Taranis" arbeitet Berichten der Times zufolge unter der Prämisse, dass in Zukunft auch autonome Angriffe gefragt sein könnten (dpa / Chris Ryding ) Noch gibt es sie nicht, die Künstliche Intelligenz, die feindliche Kämpfer erkennt und bekämpft. Vollautonome Kampfroboter sind Science Fiction. Doch teilautonome Waffensysteme sind inzwischen in vielen Einsätzen Alltag. Teilautonome Waffentechnik bereits Realität An der innerkoreanischen Grenze patroullieren seit Jahren Roboter, die Menschen erkennen und angreifen können. Nur ist diese Funktion bisher angeblich nicht aktiviert worden. Großbritannien entwickelt die Drohne "Taranis". Sie soll beispielsweise feindlichen Radarstationen automatisch ausweichen können. Die "Times" hat berichtet, der Hersteller arbeite unter der Prämisse, dass in Zukunft auch autonome Angriffe gefragt sein könnten. Israel hat schon fliegende autonome Waffen, die Harpy-Rakete. "Das ist eine Rakete, die Radaranlagen finden und zerstören kann, ganz ohne menschliche Eingriffe. Sobald sie in der Luft ist, wartet sie darauf, Radiosignale zu empfangen, und sobald sie die erhält, greift sie das Radarsystem an, von dem die Signale kommen." Frank Slijper hat für die niederländische Non-Profit-Organisation PAX einen Bericht über den Trend zu autonomen Waffensystemen geschrieben. "Man kann sich leicht vorstellen, dass man mit kleinen Änderungen an der Technik eine Waffe entwickeln kann, die nicht auf Radarsysteme reagiert, sondern auf Menschen mit bestimmten Eigenschaften. Wir glauben, dass wir nur wenige Schritte von der Situation entfernt sind, wo wir Waffen haben, die ohne bedeutsame menschliche Kontrolle einen Menschen angreifen können." Noch keine Entwicklung in Richtung vollautomatischer Systeme Doch für einen anderen Friedensforscher liegt dieses Szenario nicht auf der Hand: Vincent Boulanin vom SIPRI, dem internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm. Er glaubt nicht, dass vollautonome Waffensysteme zwingend der nächste Schritt sind. "Es ist nicht besonders naheliegend. Vor allem, weil es gar keine Notwendigkeit dafür gibt. Oder auch wegen rechtlicher Bedenken, was Autonomie angeht. Die Technik mag nicht verlässlich genug sein, aber man will auch einfach die Kontrolle behalten. Das gilt auch für das Identifizieren und Angreifen von Zielen. Es ist ziemlich klar, dass in diesem Bereich noch keine Entwicklung in Richtung vollautonomer System stattfindet. Ich sage nicht, dass das nicht kommen wird, aber ich glaube nicht, dass es eine lineare Entwicklung ist." Zunehmende Automatisierung schon jetzt problematisch Vincent Boulanin hält es für einen Fehler, sich in der Diskussion auf vollautonome Systeme zu konzentrieren. Denn auch, wenn Menschen immer die letzte Entscheidung über den Einsatz einer Waffe fällen, wirft die zunehmende Automatisierung schon heute Fragen auf. Etwa, wie es Entscheidungen beeinflusst, dass der Soldat unter Umständen tausende Kilometer vom Geschehen entfernt ist. Es besteht die Gefahr, dass der Mensch das Gefühl dafür verliert, was in der jeweiligen Situation angemessen ist. Trotz aller Technik - oder gerade deswegen. "Wenn man die ganze Informationsverarbeitung automatisiert und der Mensch nur noch von der Maschine mit Informationen gefüttert wird, ohne dass er noch die Komplexität der Algorithmen versteht, dann wird es problematisch. Dann könnte man sagen, der Mensch kann keine rationale Entscheidung mehr treffen, weil er nicht weiß, wie die Maschine zu ihrem Schluss gekommen ist." Eine weitere Gefahr sehen beide, Vincent Boulanin und Frank Slijper darin, dass autonome Waffentechnik, ist sie erst einmal entwickelt, in die Hände von Terroristen geraten könnte.
Von Thomas Reintjes
Der Einzug von Künstlicher Intelligenz im Militär weckt Besorgnis. Zwar sind vollautonome Kampfroboter noch Science Fiction, doch schon jetzt werden häufig teilautonome Waffensysteme eingesetzt - und bereits dies birgt Gefahren.
"2018-04-09T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:00.013000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/autonome-waffensysteme-kampfroboter-heute-und-in-zukunft-100.html
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"Sport ist eine wichtige Komponente"
Das Logo der Kinderrechtsorganisation Plan International. (imago images / Hanno Bode / HANNO BODE via www.imago-images.de)
Katharina Hofmann im Gespräch mit Astrid Rawohl
Mehrere Sportverbände und Individualsportlerinnen und -sportler werben für die Kinderrechtsorganisation "Plan International". Der Sport sei ein "tolles Umfeld, um die Botschaft in die Welt zu tragen", sagt Sprecherin Katharina Hofmann im Dlf.
"2023-02-05T19:10:00+01:00"
"2023-02-05T21:02:42.667000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/plan-international-kinderhilfswerk-katharina-hofmann-100.html
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Klinikgruppe will für Pflegekräfte attraktiver sein
Die Gehaltserhöhung in Höhe von fünf Prozent sei völlig freiwillig, sagte Sabine Edlinger im Dlf (Imago ) Klemens Kindermann: In ihrer Regierungserklärung hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Pflegenden, ob privat oder beruflich, als "die stillen Helden" der Gesellschaft gelobt. Und im Koalitionsvertrag von Union und SPD wurde vereinbart, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in der Alten- und Krankenpflege sofort und spürbar zu verbessern. Doch noch ist davon wenig Konkretes von der Koalition zu hören. Die St. Elisabeth Gruppe aus Herne, die Akutkrankenhäuser, Fachkliniken und andere Einrichtungen mit insgesamt mehr als 4.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreibt geht jetzt voran: Sie zahlt Ihren Fachpflegekräften ab sofort fünf Prozent mehr Gehalt. Ich habe vor dieser Sendung mit Sabine Edlinger, Mitglied der Geschäftsleitung der St. Elisabeth Gruppe gesprochen und sie gefragt: Wie kam es zu dieser Entscheidung? Sabine Edlinger: Nachdem im Koalitionsvertrag zu lesen war, dass zum einen tatsächlich ein Handlungsbedarf bei der Pflegefinanzierung besteht und zum anderen auch eine zusätzliche Finanzierung folgen soll, da haben wir uns entschieden, hier tatsächlich in Vorleistung zu gehen. Wir wollen zum einen damit die Regierung auch ein Stück weit auffordern, tatsächlich zügig zu handeln. Insofern wollen wir auch ein wenig Druck erhöhen, denn das eine ist, sage ich jetzt mal, die Ankündigung, aber das andere ist, dann auch tatsächlich zügig Taten folgen zu lassen. Kindermann: Warum haben Sie denn nicht abgewartet, bis die Politik das dann sicherstellt, diese bessere Bezahlung der Pflegekräfte? Edlinger: Weil die Bezahlung beziehungsweise eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte in der Tat auch ein Thema ist, was nicht erst seit Bildung der neuen Regierung uns begleitet, sondern auch im Vorfeld schon eine Entwicklung letztendlich hinter sich gebracht hat. Kindermann: Können Sie das noch etwas näher erklären? Edlinger: Wenn man sich mal anschaut, wie die Vergütung zum Beispiel in anderen Bereichen ist, in denen ein Fachkräftemangel besteht, dann liegen da doch deutliche Welten zwischen diesen Bereichen und der Vergütung in der Pflege. Und wenn man dann noch mal sich vor Augen hält, dass gerade der Pflegeberuf ein hoch qualifizierter Beruf ist - die Mitarbeiter sind sehr gut ausgebildet, sie tragen eine hohe Verantwortung für die Patienten, die sie tagtäglich betreuen, und sie sind zum Beispiel auch im Schichtdienst unterwegs; das bedeutet eine Tätigkeit 24 Stunden am Tag, das sieben Tage in der Woche -, dann führt das schon dazu, dass man sagen muss, hier muss grundsätzlich etwas passieren und eine Anpassung der Gehälter nach oben auch erfolgen. "Wertschätzung zeigen" Kindermann: Vor Ihrer Initiative, hat es denn da Forderungen von Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegeben? Oder ist die tatsächlich völlig freiwillig jetzt? Edlinger: Die ist völlig freiwillig. Diese Gehaltserhöhung in Höhe von fünf Prozent, die wurde dann tatsächlich durch die Geschäftsleitung der St. Elisabeth Gruppe initiiert. Uns ist es ein Anliegen, den Pflegekräften darüber zum einen die Wertschätzung zu zeigen, aber zum anderen wollen wir auch noch mal betonen, dass es sich immer lohnt, wenn man berufsbegleitend sich weiterqualifiziert oder auch weiter spezialisiert. Kindermann: Wieviel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekommen diese Lohnsteigerung bei Ihnen und sind das sowohl Alten- als auch Krankenpflegerinnen? Edlinger: Das sind insgesamt rund zehn Prozent unserer insgesamt 2.200 Pflegekräfte, die jetzt die fünfprozentige Gehaltssteigerung erhalten. Die Mitarbeiter sind examinierte Kranken- und Kinderkrankenpfleger, die sich dann mit einer zweijährigen berufsbegleitenden Fachweiterbildung auf ganz besondere Bereiche in der Pflege spezialisiert haben. Hierzu zählen unter anderem Spezialisten, die zum einen auf der Intensivstation arbeiten, oder auch in der Endoskopie tätig sind. Es sind aber auch Pflegekräfte, die sich ganz häufig auf die besondere Versorgung von Krebspatienten spezialisiert haben. Kindermann: Das sind ja jetzt Fachpflegekräfte. Wird diese Lohnerhöhung auf die begrenzt bleiben, oder wird das dann auch auf die anderen Pflegekräfte ausgedehnt? Edlinger: Die Gehaltserhöhung, die bezieht sich tatsächlich auf diese Fachpflegekräfte. Eine Ausweitung ist erst dann möglich, wenn tatsächlich die Politik auch reagiert hat. Kindermann: Was kostet Sie diese Gehaltserhöhung? Edlinger: Die Gehaltserhöhung kostet uns eine dreiviertel Million jährlich. "Müssen gut mit dem Geld haushalten" Kindermann: Und wie stellen Sie das dar, die Finanzierung? Sie sind an gesetzliche Finanzierungsentscheidungen gebunden und auf eine Finanzierung aus Mitteln auch der gesetzlichen Krankenversicherung. Edlinger: Es ist in der Tat so. Mit der Behandlung eines Patienten erbringen wir medizinische und pflegerische Leistungen, und das ist dann tatsächlich so: Die werden dann von den gesetzlichen beziehungsweise von den privaten Krankenkassen auch bezahlt, diese Leistungen. Die Preise für einzelne Leistungen, die können wir natürlich nicht selber festlegen. Das ist tatsächlich gesetzlich geregelt. Neben diesen Zahlungen erhalten wir dann zum Beispiel auch ergänzende Leistungen oder Zahlungen des Landes, zum Beispiel für Investitionen. Diese sind nicht Teil der direkten medizinischen und pflegerischen Leistung. Das bedeutet für uns aber, wir müssen insgesamt gut mit dem Geld auch haushalten. Für uns ist immer wichtig, die Qualität für unsere Patienten zu optimieren, und um das gewährleisten zu können, müssen wir auch investieren können. Das bedeutet auch, dass wir die Kosten konsequent und permanent im Blick haben, und jetzt haben wir das große Glück, dass unsere Gruppe dank großer Einkaufsmengen zum Beispiel auch an vielen Stellen bei gleichbleibender Materialqualität Kosten optimieren kann. Das ermöglicht uns in diesem Fall auch zum Teil diese aktuelle Lohnerhöhung mit zu finanzieren. Kindermann: Wenn es bei Tarifverhandlungen weitere Lohnerhöhungen gibt, wird dann das fünf Prozent Plus damit verrechnet? Edlinger: Nein, das ist völlig unabhängig davon. Wir gehen auch davon aus, dass in diesem Jahr tatsächlich noch Tarifsteigerungen und Verhandlungen zum einen stattfinden und dann auch die Steigerungen erfolgen. Aber das ist völlig unabhängig von den folgenden Tariferhöhungen. Kindermann: Sie haben es schon gesagt: Sie wollen Druck auf die Politik machen. Aber was versprechen Sie sich selbst als Haus, angesichts des Fachkräftemangels? Meinen Sie, Sie sind dann dadurch attraktiver für Fachkräfte? Edlinger: Wir versprechen uns selbstverständlich auch davon, dass wir durch diese Gehaltserhöhung tatsächlich als Krankenhausgruppe und als Arbeitgeber für die Pflegekräfte attraktiver sind. Aber darüber hinaus versprechen wir uns auch eindeutig, dass die Politik, ich sage mal, handelt und auch zukünftig höhere Gehälter möglich macht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sabine Edlinger im Gespräch mit Klemens Kindermann
Die St. Elisabeth Gruppe in Herne wollte nicht auf die Politik warten und zahlt ihren Fachpflegekräften fünf Prozent mehr Lohn. Damit wolle man die Lücke zwischen dem Fachkräftemangel und der Bezahlung schließen, sagte Sabine Edlinger aus der Geschäftsleitung im Dlf. Außerdem solle die Entscheidung Druck auf die Politik ausüben.
"2018-03-29T13:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:44.130000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/freiwillige-gehaltserhoehung-klinikgruppe-will-fuer-100.html
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Künstliche Intelligenz für den Mittelstand
Arbeitsplätze werden durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zwar wohl nicht gefährdet, aber bei der technischen Nachrüstung von Produktionsanlagen lauern Hindernisse (imago / Science Photo Library) Einen Legobaukasten nennt Detlef Zühlke die Anlage, die Forscher und Entwickler aus Kaiserslautern zu Demozwecken in Halle 8 aufgebaut haben. Verbraucher wollten immer passgenauere Produkte in immer weniger Zeit, so Zühlke mit Blick auf die blinkenden und surrenden Kästen im Hintergrund. "Produktion muss demnächst individueller werden und sie muss damit näher an den Verbraucher herankommen. Und das geht nur, indem wir eine entsprechend hoch flexible Automatisierungstechnik bieten, die eben die Flexibilität bietet - aber eben auch zu annehmbaren Produkt- und Produktionskosten." Mit smarten Bausteinen flexibel nachrüsten Der frisch emeritierte Lehrstuhlinhaber für Produktionssysteme Zühlke ist Vorstandsvorsitzender der Smartfactory in Kaiserslautern. Die Plattform verbindet Forscher des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz mit Industrieunternehmen. Auf der Messe zeigt er mit Hilfe von Bosch über SAP bis zum TÜV Süd, wie Anlagen fit gemacht werden können für die digitale Ära. Retrofit heißt das. "Über die Jahre, die wir jetzt hier stehen, haben wir immer wieder gemeinsam an neuen Technologien gearbeitet mit dem Ziel, dass das, was wir mal erreichen wollen - so quasi die Legosteine, die wir zusammensetzen - dass das in der Praxis funktioniert und zu Produkten wird." Legosteine aus Künstlicher Intelligenz: Das bedeutet, in kleinen Einheiten Daten automatisiert zu erfassen, daraus zu lernen und das Gelernte wieder in präzise Arbeitsschritte zu übersetzen. Herkömmliche Produktionsanlagen können mithilfe solcher smarten Bausteine immer flexibler nachgerüstet werden, zum Beispiel auch mit Datenbrillen. Das ermöglicht es, Anlagen zu überwachen, zu warten oder zu steuern - personal-, zeit- und damit kostensparend. "Demnächst werden Menschen und Maschinen enger zusammen arbeiten. Das heißt aber auch, dass der Mensch die Maschinen verstehen muss, wie sie sich verhalten - auch entsprechend beeinflussen können muss." Technik wird den Menschen nicht ersetzen Genau da zeigen sich Hindernisse für die Nachrüstung: Die Systeme sind in der Bedienung kompliziert und müssen vereinfacht werden. Außerdem fehlen Fachkräfte - und für die bereits Beschäftigten eine entsprechende Qualifizierung. Und was ist mit den Arbeitsplätzen - werden sie durch Roboter eher vernichtet oder geschaffen? "Wir werden nach wie vor sehen, dass immer noch der Mensch derjenige ist, der die Dinge bestimmt, da brauchen wir in den nächsten 20, 30 Jahre keinerlei Ängste zu haben. Die Technik wird den Menschen nicht ersetzen beziehungsweise übergehen." Zühlkes Einschätzung teilt auch Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands des mit 3200 Mitgliedern stärksten Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer: "Die Zahl der Jobs wird nicht kleiner werden dadurch, dazu haben wir genug Empirie über die Geschichte der Automatisierungstechnik - dort gibt es eine einfache Faustformel: Je mehr Roboter in einem Land sind, desto mehr Beschäftigte werden neu eingestellt, das korreliert also positiv. Insofern kommt es darauf an, dass die Menschen mitgenommen werden und so qualifiziert werden, dass sie die neuen Tasks wahrnehmen können - und die Automatisierung, die KI und die Roboter sich konzentrieren darauf, was sie besser können. Letztendlich stehen unterm Strich mehr Jobchancen." Netzausbau muss endlich vorankommen Was der Branche Sorgen bereitet neben dem Fachkräftemangel: "Was die Digitalisierungsbremsblöcke angeht, schau ich im Moment mit einer gewissen Sorge darauf, dass die Politik es schafft, den Breitband-Ausbau hinzukriegen. Weil wir viele hidden champions in der Provinz haben - wo noch keiner mit einem Glasfaserkabel vorbei gekommen ist, aber das dringend sollte." Auch für den Forscher und Entwickler Detlef Zühlke von smartfactory ist der Netzausbau ein zentrales Anliegen. Ist es für die deutsche Industrie aktuell dabei fünf vor oder fünf nach 12? "Ich würde mal sagen: Da einigen wir uns auf 12."
Von Hilde Weeg
Immer passgenauere Produkte in immer weniger Zeit: Um den Wünschen der Verbraucher gerecht zu werden, müssen Produktionsanlagen nachgerüstet werden - mit hoch flexibler Automatisierungstechnik. Doch die Systeme sind kompliziert zu bedienen und es fehlt an entsprechender Qualifizierung.
"2018-04-23T13:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:49:14.886000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trends-auf-der-hannover-messe-kuenstliche-intelligenz-fuer-100.html
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Kampfansage an die Radlerstaus
Fahrradstraße in Minneapolis (imago/zuma press) Mit dem Velo-Taxi vom Hauptbahnhof zur Kongresshalle Rosengarten – Michael Düsterwald, heute Passagier, sonst Alltagsradler, erkennt sofort, "was in Deutschland Mangelware ist: ein schöner ausgebauter Verkehrs-Fahrradweg." In Kopenhagen und anderen Fahrradstädten verlaufen Radspuren direkt an der Fahrbahn, aber mit physischen Barrieren, Bordsteinen oder Pflanzenkübeln, abgetrennt davon. "Protected lanes" heißen in New York und Portland, Oregon, die breiten, sicheren Trassen, über die sich inzwischen Tausende von Berufspendlern bewegen. In Mannheim verläuft die typische deutsche Trasse eingekeilt zwischen parkenden Autos und Fußgängern. "Wir sind hier auf einer Nebenstraße unterwegs, wo ein separater Fahrradweg auf dem Bürgersteig ist und man sieht, wir holpern die ganze Zeit", sagt Düsterwald. Grüne Welle für Fahrräder Auch geübte Radler können auf einer so schmalen Buckelpiste nicht überholen. Ungeübte schreckt der Slalom zwischen Fußgängern und sich öffnenden Autotüren ganz ab. Kirsten, US-stämmige Berlinerin und heute als Shuttle-Fahrerin in Mannheim unterwegs, navigiert das mit zwei Passagieren und Gepäck etwa 400 Kilo schwere, elektro-unterstützte Dreirad-Taxi seelenruhig durch die Mini-Trasse. Ein Radler-Stau verhindert, dass sie bei grüner Fahrradampel die Straße queren kann. "Das ist so! Auch in Berlin ist es so. Wir haben Stau, Fahrradstau. Wir haben so viele Radler unterwegs – es ist manchmal frustrierend!" Nicht, dass immer mehr aufs Rad umsteigen, verursacht Frust, sondern dass den abgas- und geräuschfreien Pendlern so wenig Platz im Vergleich zum Autoverkehr eingeräumt wird. Velotaxi-Passagier Michael Düsterwald organisiert bei Siemens die Grüne Welle für Fahrräder, "…da, wo die Städte hingehen und Fahrradstraßen ausbauen. Also nicht auf den Hauptverkehrsstraßen, dem Mittleren Ring in München, das wäre jetzt kein gutes Beispiel für eine Fahrrad-Priorisierung, sondern eher in Nebenstraße, also man muss den Kompromiss der Geschwindigkeiten eingehen." Der Experte raubt Autofahrern ein paar Sekunden Grüne Welle, um sie Radlern zuzuschlagen. Grün für alle gibt es nicht, sagt er. Auch um dem Fahrrad auf abgetrennten Spuren je zwei Meter Platz zu geben, wie der ADFC und andere Radler-Verbände das nach Kopenhagener Vorbild fordern, muss man dem Auto in dicht bebauten Städten etwas wegnehmen. "Die Parkspuren am rechten Rand, die müssten meines Erachtens geopfert werden", meint Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann. "Das sind ein paar wenige Parkplätze, die vor allem den Rad-Verkehr behindern, und viel Park-Raum darstellen, aber viel nutzvollen Boden blockieren." Autofahrern Raum wegnehmen Auch dem fließenden Autoverkehr Raum zugunsten des Fahrrads wegzunehmen, fordert der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC, davon allerdings will man im CSU-geführten Bundesverkehrsressort nichts wissen - ebenso wenig wie vom Streichen der Pendler-Pauschale, die nach Meinung von Experten weite Autofahrten begünstigt. Sogenannte Rad-"Autobahnen", also kreuzungsfreie überregionale Radschnellwege fördert der Bund aber, so Staatssekretär Norbert Barthle. "In diesem Jahr mit 25 Millionen, und das soll pro Jahr bis zum Jahr 2030 zur Verfügung stehen. Radschnellwege sind eine besonders gute Möglichkeit, um rasche Verbindungen zu schaffen zwischen den verschiedenen Metropolen oder Ballungsräumen." 20 Millionen Euro kostet in Mannheim allerdings schon ein einzelner Radschnellweg durch die Innenstadt. 100 Millionen Euro jährlich gibt der Bund außerdem für Radwege an Bundesfernstraßen aus, unterstreicht Staatssekretär Barthle. Nur ein Zehntel dessen, was für eine Verkehrswende gebraucht werde, kontert der ADFC. Und: Peanuts im Vergleich zu den sechs Milliarden Euro für den Straßenbau.
Von Anke Petermann
In Holland und Dänemark beträgt der Anteil des Radfahrens am Gesamtverkehr 30 Prozent. Deutschland hinkt in dieser Statistik weit hinterher. Auch sind die Bedingungen schlechter: Radlerstaus sorgen in deutschen Städten für Frust. Das soll sich jetzt ändern, so die Forderungen auf dem Nationalen Fahrrad-Verkehrskongress in Mannheim.
"2017-04-04T12:19:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:02.204000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fahrradkongress-kampfansage-an-die-radlerstaus-100.html
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Zehn Milliarden für die Straßensanierung
Energie- und Kfz-Steuern machten voriges Jahr fast 48 Prozent aller Bundessteuern aus. (picture alliance / ZB) Sie gehören zum Wichtigsten der deutschen Volkswirtschaft, die rund 12.800 Kilometer Autobahnen, die fast 40.000 Kilometer Bundesstraßen und die etwa 600.000 Kilometer Landes-, Kreis-, und Gemeindestraßen in Deutschland. Nur mit ihrer Hilfe ist pünktliche Lieferung möglich. Sie sorgen damit für einen wichtigen Standort- und Wettbewerbsvorteil. Umso schwerer verständlich, dass bei Bundesstraßen etwa ein Fünftel und bei Landes- und Gemeindestraßen zwei Fünftel des notwendigen Ersatzbedarfs ungedeckt bleiben. Es liegt am Geld. Uwe Kunert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat gerechnet. Er weiß, was an jährlicher Investition in die Straßen fehlt: "In der Summe liegen wir etwa bei zehn Milliarden Bedarf über alle Straßenebenen - wir sprechen von Bundesfern-, von Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen -, von denen etwa drei Milliarden ungedeckt sind." Da will Deutschlands nördlichster Ministerpräsident Torsten Albig mit seiner Idee eines Reparaturfonds ran. Dessen Geld will er retten vor fremdem Zugriff: "Und wir tun es nicht in den allgemeinen Haushalt, wie die letzten 30 Jahre bei den anderen Straßenabgaben, Straßensteuern, PKW-Steuern, sondern nehmen es in einen Sonderfonds und verwenden es ausschließlich dafür, aus unseren Straßen, aus unserer Infrastruktur wieder die beste der Welt zu machen." Eine neue Steuer würde diesem Postulat nicht genügen. Deren Aufkommen flösse leicht anderen Zwecken zu. Es muss schon eine Gebühr sein wie die LKW-Maut, wenn ihr Aufkommen in den Straßenbau fließen soll. Uwe Kunert: "Es wird ja oftmals ins Feld geführt, dass über Steuern und Gebühren der Kraftfahrzeugverkehr ein erhebliches Aufkommen, Finanzaufkommen beiträgt. Das ist auf der einen Seite zwar richtig. Aber als Gebühr definiert, also direkt als Gegenleistung zu einer Leistung, kann man eigentlich nur die LKW-Maut auf den Bundesfernstraßen betrachten, die im Augenblick etwa 4,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt." Den zehn Milliarden Euro für notwendige Straßenreparaturen stehen also rund 4,5 Milliarden aus der LKW-Maut gegenüber. Dazu rund 40 Milliarden aus der früheren Mineralölsteuer, der jetzigen Energiesteuer, und weitere 8,5 Milliarden Euro aus der Kfz-Steuer. Aber zweckgebunden für den Straßenbau sind nur die 4,5 Milliarden aus der Maut. Denn die ist eine Gebühr, keine Steuer. Das Aufkommen aus Energie- und Kfz-Steuer haben Parlamente anders verplant, vor allem für Sozialhaushalte. Das dürfen sie, weil Steuern nicht zweckgebunden erhoben werden. Und wird ein Zweck genannt, verliert er sich oft. So wurde die Kfz-Steuer in den 1920-er Jahren als Luxussteuer erdacht. Im Zeitalter der Massenmotorisierung haben Autos ihren Luxuscharakter längst verloren. Aber die Steuer blieb. Energie- und Kfz-Steuern machten voriges Jahr fast 48 Prozent aller Bundessteuern aus.
Von Michael Braun
Etwa 100 Euro pro Jahr sollen Autofahrer in einen Reparaturfonds einzahlen - die Idee des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Torsten Albig sorgt seit den Ostertagen für hitzige Diskussionen. Trotz Gegenwind hat der SPD-Politiker seine Pläne jetzt bekräftigt.
"2014-04-22T17:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:07.243000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reparaturfonds-zehn-milliarden-fuer-die-strassensanierung-100.html
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Der revolutionäre Reporter
Der amerikanische Reporter John Silas Reed in einer undatierten Aufnahme (Fine Art Images) "Übers weite Meer, mein Vaterland, mein Amerika. Stahlgegürtet und in prunkender Rüstung, wie ein Held schmetterst Du die hehren Worte: Für Freiheit! Für Demokratie! Und in mir regt sich etwas, antwortet Dir, mein Vaterland, mein Amerika. Ganz so, als riefe in der stillen, menschenleeren Nacht meine erste, längst entschwundene Liebe mich – sie, die ich nicht mehr liebe, nicht mehr, nicht mehr …" Vier lange Wochen mit dem Schiff über den Atlantik. Dann, endlich, im August 1917, sitzen John Reed und seine Frau Louise Bryant voll fiebriger Erwartung in der Eisenbahn Richtung Petrograd, es geht über Schweden und Finnland. Sie notierte: "Niemand glaubte, dass unser Zug Petrograd wirklich erreichen würde. Ich war entschlossen, zu Fuß zu gehen, sollte er anhalten." Und Reed hielt fest: "Über Wyborg lag eine unheilvolle Spannung, … Im Dämmerlicht des späten Nachmittags standen auf dem Bahnsteig hunderte von Soldaten mit ausgezehrten Gesichtern. Die Gesprächsfetzen, die wir aufschnappten, ließen uns frösteln: Wir müssen uns von der Bourgeoisie befreien! Die Generäle sollte man alle töten! Nein, jemand töten ist immer falsch!" Ein ganz und gar nicht unparteiischer Reporter John Reed ist damals schon berühmt, durch brillante Reportagen ab 1914 vom Krieg in Europa, und vorher über die Revolution in Mexiko, die amerikanische Gewerkschaftsbewegung oder streikende Arbeiter in den Seidenmühlen New Jerseys. Louise Bryant ist Schriftstellerin, vertritt anarchistische Ideen und streitet für das Wahlrecht der Frauen. Den Sturz Zar Nikolaus des Zweiten im Februar 1917 haben die beiden nicht miterlebt, aber gehört, was in den Monaten des nachfolgenden Machtvakuums in Russland die Bolschewiki den von Jahrhunderten des Feudalismus gebeutelten Menschen versprachen: Alles Land den Bauern, den Arbeitern die Fabriken, Friede den Hütten, Krieg den Palästen – da müssen sie hin. Sind Reed und Bryant Sozialromantiker? Überzeugte Revolutionäre? Beobachter oder Agitatoren? Auf jeden Fall erlebnishungrige, ganz und gar nicht unparteiische Reporter, beseelt vom Glauben an Gleichheit und Gerechtigkeit. Wie im Delirium taumelt das junge Paar Tag und Nacht durch die unter Strom stehende russische Hauptstadt. Die russische Revolution als Familiensaga und SekteneposMehr als 20 Jahre hat der russisch-amerikanische Historiker Yuri Slezkine an seinem Buch gearbeitet. Entstanden ist ein Epos, das die Geschichte der russischen Revolution und der Sowjetunion als Geschichte eines Hauses erzählt. Interviews mit Trotzki und Lenin "Was für ein Anblick, die Arbeiter der Potilov-Werke, 40.000 Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten, wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte!" "Überall in Petrograd hingen Fahnen. Alle rot! Sogar das Denkmal für Katharina die Große war geschmückt. Da stand Katharina, an ihrem Zepter wehte die rote Fahne." Reed führt Gespräche mit Trotzki, mit Lenin und Alexander Kerenski, dem Ministerpräsidenten der provisorischen Regierung. Als nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 tief in der Nacht der Zweite Allrussische Kongress der Räte beginnt, sind Reed und Bryant in der verrauchten, drangvollen Enge des Großen Sitzungssaals im Smolny-Institut mit dabei. Vom Gründungs-Mythos zum blinden FleckNoch 1977, zum 60. Jahrestag der Russischen Revolution, feierte die sowjetische Staatsführung den 7. November 1917 als "höchsten Feiertag" und als Beginn des Siegeszug des Sozialismus. 40 Jahre später will Präsident Putin davon und vom damaligen Revolutionsführer Lenin jedoch nichts mehr wissen. Mitbegründer der US-KP "Der Petrograder Sowjet hatte die Provisorische Regierung niedergezwungen und dem Sowjetkongress den Staatsstreich aufgedrängt. Würde Russland folgen und sich erheben? Und die übrige Welt, was würde sie tun? Würden die Völker dem Rufe folgen und aufstehen zu einem roten Weltsturm?" Ein grausamer, fünf Jahre währender Bürgerkrieg beginnt. John Reed und Louise Bryant kehren zurück in die USA. Reed wird zum Mitbegründer der ersten kommunistischen Partei in seiner Heimat und steht in den nächsten anderthalb Jahren mehrfach vor Gericht, zuletzt wegen Hochverrats. Mit falschen Papieren flieht er nach Russland. Doch dort steckt er sich mit Flecktyphus an und stirbt mit nur 33 Jahren am 19. Oktober 1920, manche Quellen nennen auch den 17. . Der rote Reporter aus Amerika erhält in Moskau ein Staatsbegräbnis und wird an der Kremlmauer beigesetzt. Sein Buch über seine Erlebnisse während der Oktoberrevolution hatte John Reed nach seiner Rückkehr in die USA inkognito in einem Hotel geschrieben. "Zehn Tage, die die Welt erschütterten" wurde berühmt und mehrfach verfilmt. Die New York Times setzte es 1999 auf Platz sieben der 100 bedeutendsten journalistischen Werke.
Von Almut Finck
Er war Reporter und Sozialrevolutionär. John Reed schrieb über die Revolution in Mexiko, Arbeiterstreiks in New Jersey, den Ersten Weltkrieg - und er war Zeuge der Oktoberrevolution. Nach seinem Tod mit nur 33 Jahren erhielt der US-Bürger an der Kremlmauer ein Ehrengrab.
"2020-10-19T09:05:00+02:00"
"2020-10-23T11:34:08.985000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/100-todestag-von-john-reed-der-revolutionaere-reporter-100.html
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Parlament beschließt Aufhebung von Abgeordneten-Immunität
Das türkische Parlament in Ankara. (dpa / Presidental Press Office ) In der abschließenden Abstimmung stimmten 376 der 550 Abgeordneten für die Verfassungsänderung. Betroffen von dem Votum sind in erster Linie die Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP. 50 der 59 Parlamentarier verlieren nun für einen gewisse Zeit ihre Immunität und dürfen damit strafrechtlich verfolgt werden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirft den HDP-Politikern vor, die verbotene Arbeiterpartei PKK zu unterstützen. Von der Aufhebung der Immunität sind aber auch Politiker anderer Parteien betroffen. Bei ihnen geht es etwa um deutlich weniger schwerwiegende Anschuldigungen wie Beleidigung, Körperverletzung und Amtsmissbrauch. Erdogan sprach von einer "historischen Abstimmung". Vor jubelnden Anhängern sagte er: "Mein Volk will in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier in diesem Parlament sehen." Nun seien die Gerichte am Zug. Kritiker glauben, Erdogans AKP will auf diesem Weg die HDP-Abgeordneten loswerden. Es ist damit zu rechnen, dass am Ende der Ermittlungen Haftstrafen stehen. Dadurch würden die Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Ihre Sitze müssten nachbesetzt werden. Bei solchen Nachwahlen rechnet sich die AKP große Chancen aus. Am Ende könnte es ihr somit gelingen, auf eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament zu kommen und Erdogans Ziel zu verwirklichen, den Staat von einem parlamentarischen in ein präsidiales System umzubauen. Aufhebung der Immunität stößt auf Kritik Bei zahlreichen Europa-Abgeordneten ist die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität auf Kritik gestoßen. Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Rebecca Harms, sagte, der türkischen Opposition versetze die Entscheidung einen entscheidenden Schlag. Der SPD-Abgeordnete Arne Lietz warnte davor, dass die Unruhen zwischen Kurden und türkischen Sicherheitskräften so verstärkt werden könnten. Kritik kam auch aus der Linksfraktion. Rund 70 Europa-Abgeordnete hatten sich am Dienstag in einer Petition gegen de Immunitäts-Aufhebung ausgesprochen. Auch aus Deutschland kommt Kritik. Bundesjustizminister Heiko Maas betonte, kritische Abgeordnete dürften nicht willkürlich der Strafverfolgung ausgesetzt werden. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der demokratische Pluralismus in der Türkei nimmt damit nachhaltigen Schaden. Es geht dabei ausschließlich um den Erhalt und Ausbau der Macht von Präsident Erdogan und der AKP". Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht die Beziehungen zur Türkei belastet. Eine "innenpolitsche Entwicklung dieser Dimension wirft mindestens einen Schatten auf die Beziehungen" und erfülle mit Sorge, sagte de Maizière in Brüssel. Darüber müsse offen mit Ankara gesprochen werden. Genau das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel vor. Regierungssprecher Steffen Seibert hat angekündigt, dass sie bei ihrem Treffen mit Erdogan am Montag die Aufhebung der Immunität zum Thema machen. (at/tgs)
null
Das türkische Parlament hat entschieden, die Immunität von 138 Abgeordneten zeitweilig aufzuheben. In allen drei Wahlgängen kam die für die Verfassungsänderung nötige Zweidrittel-Mehrheit zustande. Damit kann jetzt gegen die Abgeordneten ermittelt werden.
"2016-05-20T12:21:00+02:00"
"2020-01-29T18:30:21.414000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-parlament-beschliesst-aufhebung-von-abgeordneten-100.html
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Der Klinik-Kampf ist eröffnet
Die Münchner Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet gegen Bernard Broermann, Gründer und Gesellschafter der Asklepios, als auch weitere Manager des Hamburger Klinikkonzerns. Der Vorwurf lautet auf Marktmanipulation und Nötigung. Das hat ein Sprecher von Eugen Münch bestätigt, Münch wiederum ist Gründer und Aufsichtsratschef von Rhön-Klinikum.Münch hatte Anfang Juli Strafanzeige erstattet, denn sein Konzern Rhön-Klinikum hatte sich eigentlich vom Gesundheitskonzern Fresenius übernehmen lassen wollen, genauer gesagt, von dessen Kliniktochter Helios. Warum, das hatte Rhön-Chef Martin Siebert, den Rhön-Aktionären auf der Hauptversammlung vor wenigen Wochen erläutert:"Das Vorhaben war nichts anderes als eine weitsichtige strategische Offensive mit dem Ziel, gemeinsam in eine neue konzeptionelle Größenordnung vorzustoßen."Doch dann erwarben Asklepios als auch der Medizintechnikkonzern B. Braun große Aktienpakete und konnten so im vergangenen Jahr das Vorhaben verhindern. Denn die Übernahme wäre nur mit einer Mehrheit von 90 Prozent möglich gewesen.Asklepios als Partner wäre aber für Rhön keine Alternative gewesen, hatte Eugen Münch Mitte Juni erläutert:"Die Unternehmen passen von der Fläche her wunderbar zusammen. Aber alle anderen Synergien sind eine Anhäufung von Problemen, die sich verdoppeln, und nicht synergetisch Probleme lösen. Das ist der Grund, warum ich konkret Fresenius vorziehe."Asklepios weist die Vorwürfe Münchs zurück. Der hatte nämlich dem Konkurrenten Nötigung vorgeworfen, weil dieser auch verhindert hatte, dass Fresenius in einem zweiten Versuch die einfache Mehrheit zur Übernahme gereicht hätte. Dazu aber wäre die Kontrolle im Aufsichtsrat entscheidend gewesen: Von Rhön-Klinikum bestellte Aufsichtsräte hätten zurücktreten sollen, um Platz zu machen für solche, die von Fresenius bestellt worden wären. Ein Rücktritt aber hätte eine persönliche Haftung ausgelöst, hatte Asklepios damals gewarnt. Das wertet Rhön-Gründer Münch als Nötigung.Marktmanipulation aber hat die Finanzaufsicht BaFin bisher nicht erkennen können. Das hatte die Behörde schon am Freitag mitgeteilt. Mehr zum Thema:Juristisches NachspielSatzungsänderung bei Rhön-Klinikum für leichtere Übernahme wird angefochtenDas florierende Geschäft mit der GesundheitHauptversammlung des Privatklinikbetreibers Fresenius
Von Brigitte Scholtes
Das juristische Tauziehen um die Vorherrschaft auf dem deutschen Krankenhausmarkt geht in die nächste Runde. Rhön-Klinikum-Gründer Eugen Münch hat Strafanzeige gegen den Gründer des Klinik-Rivalen Asklepios, Bernard Broermann, gestellt. Der Vorwurf: Marktmanipulation und Nötigung.
"2013-09-02T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:33:40.883000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-klinik-kampf-ist-eroeffnet-100.html
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Der Mensch und sein Domestizierungsbaukasten
Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen? (imago images / Everett Collection ) Autorin Patricia Görg unternimmt einen Streifzug durch einige Gatter und seltsam bevölkerte Zimmer, in denen matte, lustige oder zähnefletschende Tiere wohnen – und ein paar Überlegungen zur Zucht, von Darwin "das größte biologische Experiment der Menschheit" genannt. Fazit: Ohne domestizierte Tiere würde es unsere Lebensform nicht geben, aber ohne die Existenz des Undomestizierten wären wir noch viel ärmer. Patricia Görg, geboren 1960, lebt in Berlin und ist als Schriftstellerin und Autorin für Radio tätig. Letzte Buchveröffentlichungen "Handbuch der Erfolglosen" (2012) und "Glas. Eine Kunst"(2013) sowie das Hörspiel "Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang" (Dlf Kultur 2019). Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen? Für den schottischen Lebemann Gavin Maxwell war das keine Frage. Er teilte im Laufe der 1950er und -60er Jahre Haus und Bett mit diesem kleinen, von vielen als putzig empfundenen Raubtier, nannte sich "manisch fixiert" auf ihr Beisammensein, schrieb darüber ein Buch, das bis heute ein Bestseller der angelsächsischen Literatur ist. Es heißt Ein Ring aus hellem Wasser, und stellt die Bestandsaufnahme einer skurrilen Beziehung dar, aber auch eine Reflexion über unser Verhältnis zur Natur. Aus niederem schottischen Landadel und aus den Lowlands stammend war Maxwell von seiner frühen Jugend an Jäger. Die Highlands im Norden bildeten den Ort seiner Sehnsüchte – und der Pirsch auf Rotwild. Er schildert, wie er und gleichgesinnte Kommilitonen selbst während des Studiums in Oxford schwere, genagelte Geländeschuhe sowie Jagdanzüge trugen, und dass sie ihre Stuben mit den Trophäen erlegter Hirsche schmückten. Liest man das Buch als Entwicklungsroman, ähnelt jener Teil entfernt den Frühphasen der Menschheit, beschwört den Anklang an die Dämmerung herauf, in der Jäger und große Tiere noch existenziell miteinander verbunden waren, im Kreis hintereinander herliefen wie archetypische Schattenrisse auf einer Lampe im Kinderzimmer. Doch der Autor wurde älter. Als er nicht mehr mit ständig gespannter Büchse unterwegs war, bot sich ihm die Gelegenheit, ein vollkommen einsam gelegenes Haus an der schottischen Westküste zum Rückzugsort zu machen. Ergriffen beschreibt er seine erste Begegnung mit diesem abgeschiedenen Refugium, nahe der Insel Skye in einer der zerklüfteten, fjordähnlichen Buchten versteckt, aus denen quasi die ganze Küste besteht. Es scheint ihm schmerzhaft schön, was sich vor ihm ausbreitet: Auf blendend weißem Muschelsand wartet ein neuer Lebensabschnitt auf ihn. In Schottlands Norden kommt die Landschaft über weite Strecken ohne Menschen aus. Einzig das schnell wechselnde Wetter führt auf der riesigen, kargen Seelenbühne Stimmungsstücke auf, welche pittoresk bemänteln, warum es hier so ruhig ist: Nach der gewaltsamen Vertreibung der zahlreichen Kleinpächter durch die Großgrundbesitzer, den sogenannten "clearances" während des 18. und 19. Jahrhunderts, blieb kaum ein Stein auf dem anderen und kaum jemand übrig, diese Gegend zu besiedeln. Stattdessen kamen die Schafe. Als die sich nicht mehr rechneten, kamen die Jagdpachten. Heute: Ölförderung vor der Küste und Tourismus im Landesinneren. Die Highlands – so selbstgenügsam und entvölkert ihre Heideflächen, kahlen Felsen, zerfallenden Burgen und ihr grandioses Licht schweigen, so beredt werden sie verehrt als Außenposten einer Natur, die an sich selbst zurückgefallen ist. Und dann, während vom Regen klar gewaschenes Abendleuchten über dem Land und dem Meer liegt, kommen Möwen ins Bild. Und Highland-Kühe. Und einige Schafssprenkel. Gavin Maxwell nimmt das völlig unmöblierte Cottage, ohne Strom oder Wasser, in Besitz. Seine nächste Nachbarsfamilie, das einzige andere Haus im Umkreis bewohnend, ist eineinhalb Kilometer entfernt. Im Kontrast dazu umgeben ihn so viele Tiere, als wäre die Arche Noah angelandet. Er hört den Flügelschlag und das Schnattern zutraulicher Wildgänse, erblickt morgens aus dem Fenster die prächtigen Geweihe einer Gruppe furchtloser Hirsche, sieht überall Kaninchen umherhoppeln, die von ebenso allgegenwärtigen Füchsen gefressen werden, und aus dem Meer lugen die neugierigen Köpfe brauner Robben. All diese Geschöpfe betrachtet er als seine eigentlichen Nachbarn. Er weidet sich daran, nur das Rauschen eines Wasserfalls, das Auflaufen der Brandung, Vogelrufe sowie das Klopfen der Kaninchen auf den Boden wahrzunehmen. Begleitet wird er dabei von einem Gefährten, den der Mensch seit der Steinzeit aus der Wildnis entnommen und sich dienstbar gemacht hat: einem Hund. In Maxwells Fall ist es der Springer Spaniel Jonnie, der schwarzweiß gefleckt vor seinen Füßen läuft. Springer Spaniel sind Jagdhunde, genauer gesagt Apportierhunde, die für den Jäger geschossenes Wild, zum Beispiel Rebhühner oder Enten, aufstöbern und ihm bringen. Ihre Rassemerkmale lauten: "Unglaublich anpassungsfähige, fröhliche Vierbeiner". Schon Jonnies Vater und Großvater arbeiteten für Maxwell. Jonnies Aufgabe ist es nun nur noch, ihm Gesellschaft zu leisten. In der ersten harten, unmöblierten Phase am Meer liegt der Kopf des Mannes beim Schlafen auf dem Körper seines Hundes. Aus der Vorzeit, unkalkulierbar weit zurück, grüßen Wölfe, die sich an menschlichen Abfällen zu schaffen machen. Sie kommen allmählich immer näher, verlieren etwas von ihrer Scheu, schließen sich lose dem Zweibeiner-Rudel an, teilen sich vielleicht sogar die Jagdanstrengungen mit ihm, kultivieren das Nebeneinander, bis eines Tages Wolfswelpen in menschliche Obhut genommen werden und man sie sich, geschlechtsreif geworden, untereinander paaren lässt. Diesen Moment könnte man als den Urknall der Domestizierung bezeichnen. Zum ersten Mal isoliert der Affennachfahre ein paar Vertreter einer anderen Spezies von ihren Artgenossen, beginnt mit der gezielten Züchtung erwünschter Eigenschaften. Beim Wolf sind das vor allem Zahmheit, Aggressionshemmung und Gehorsam. Lange gingen die Forscher davon aus, Mensch und Wolf hätten während der sogenannten neolithischen Revolution zueinander gefunden, als die ersten Jäger und Sammler sesshaft wurden und anfingen, Landwirtschaft zu betreiben. Genetische Untersuchungsergebnisse legen jedoch nahe, dass dies viel früher geschah. Und so kann man sich nomadisierende Wildbeuter vorstellen, deren Lager vielleicht schon von bellenden Wölfen beschützt wurden, bevor später Hütehunde Schafs- und Ziegenherden beaufsichtigten. Rätselhaft blieb jedoch, wie die physiologischen und Verhaltensänderungen in ihrer ganzen Breite auf dem Weg vom Wolf zum Hund entstanden. Um dies genauer zu verstehen, startete der russische Genetiker Dmitri Konstantinowitsch Beljajew 1959 ein berühmt gewordenes Zuchtexperiment. In der Nähe abgelegener sibirischer Pelztierfarmen begann er, Silberfüchse konsequent auf ihre Zahmheit zu selektieren, Generation für Generation nur die am wenigsten scheuen miteinander zu verpaaren. Schon 1963 hatte sich bei diesen Tieren, die als unzähmbar galten, etwas Entscheidendes getan: Der erste Silberfuchs wedelte freudig mit dem Schwanz, wenn sich ihm ein Betreuer näherte – ein Verhalten, das man bis dato nur von Hunden kannte. Im weiteren Verlauf begannen die Füchse, menschliche Hände zu lecken, sich auf den Rücken zu legen, um am Bauch gekrault zu werden, zu winseln und zu jaulen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Damit nicht genug änderte sich auch ihr Aussehen: Fellfärbungen traten auf, die man noch nie bei wilden Exemplaren gefunden hatte, der Kopf wurde kürzer mit breiterer Schnauze, Hängeohren und sogar Ringelschwänze entstanden. Die Geschwindigkeit dieser Modifikationen zeigte, dass es sich nicht nur um genetische Mutationen, die durch Auswahl weitervererbt werden, handeln konnte. Stattdessen entdeckte man das Prinzip der sogenannten Genkaskade: Durch Zucht beeinflusste Gene sind außer für Verhaltensmerkmale gleichzeitig beispielsweise für Fellfärbungen verantwortlich. Ein Eingriff kann also eine Kaskade von Wirkungen auslösen. Des Weiteren verfolgte man die Theorie, dass der signifikant niedrigere Adrenalinspiegel domestizierter Tiere bestimmte Gene aktiviert, die in freier Wildbahn durch ständigen Stress, also durch hohe Adrenalinspiegel, unterdrückt beziehungsweise deaktiviert sind – und auch dies kann zu raschen und deutlichen physiognomischen Veränderungen führen. Insgesamt zeigt Beljajews Versuchsanordnung also, dass Domestizierung nicht zwangsläufig bedeutet, jahrtausendelang erwünschte Merkmale herauszuzüchten, sondern eine Art Evolution im Zeitraffer auslöst, in deren Folge durchaus auch Unerwartetes auftritt. Obwohl er selbst nicht mehr lebt, wird sein Experiment bis heute fortgeführt. Ergebnis ist mittlerweile eine Fuchspopulation, von der ein Teil als sehr teure Haustiere angeboten wird. Im Gegensatz zu undomestizierten Silberfüchsen, die jeden direkten Augenkontakt als Aggression und Kampfansage auffassen, suchen sie den menschlichen Blick und erwidern ihn. Ein neuer treuer Gefährte ist entstanden. In der schottischen Oase, in der sich zunächst nur Mann und Hund einquartiert haben, zieht der Frühling ein. Gavin Maxwell erkundet, wohin er geraten ist. Er erfährt, dass im weiteren Umkreis die fast unauffindbaren Reste anderer Häuser verborgen sind, sein Cottage also früher einmal Teil eines Dorfes war. Wie an so vielen Orten Schottlands ist dieses Dorf nicht nur physisch ausgelöscht, sondern sogar aus der Erinnerung verschwunden. Maxwell freut sich, nicht allein zu sein. Neben ihm, aufmerksam auf seine Wünsche gerichtet, läuft gutgelaunt Jonnie. Springer Spaniel sind eine Hunderasse, die sogar Fingerzeige versteht. Man kann in die Richtung deuten, in der etwas zu Holendes außerhalb ihres Sichtfelds liegt, und sie werden es finden. Speziell solch eine Kommunikation über die Artengrenzen hinweg ist ungewöhnlich, muss der Hund doch ein für ihn völlig abstraktes Zeichensystem lesen lernen. Natürlich ist auch diese Fähigkeit das Resultat einer strikten Zuchtauswahl. Jonnie und seine Kollegen sollen Jagdbeute aufscheuchen, vor allem aber aus Busch und Sumpf apportieren, auch wenn sie nicht sehen können, wohin der geschossene Vogel niederfiel. Dass sie ein langes seidiges Fell sowie Pendelohren mit Dauerwelle haben, bildet eine Dreingabe, auf der jeder Käufer eines Springer Spaniels besteht, ist es doch teuer genug, einen reinrassigen Hund zu erwerben. Gemessen an der langen, ruhigen Geschichte der Domestikation, gemessen an ihren Schafsgattern, in denen mal weiß-, mal schwarzköpfige Woll- und Fleischlieferanten die Köpfe heben; an ihren Weiden, auf denen magere Rinder mit Rieseneuter oder fette Tiere ohne Hörner grasen; an Zwingern, in denen Wach-, Hüte- oder Jagdhunde bellen – gemessen an all diesen Zuchtvarianten, die hauptsächlich um den Nutzen kreisen, entwickeln sich die zahllosen Hunderassen wie eine Explosion. Erst 200 Jahre ist es her, dass ihre heutige Vielfalt in Angriff genommen wurde. Seit klar war, wie sehr sich das äußere Erscheinungsbild eines Hundes schon ungewollt durch die Zucht verändert, begann man, dieses Ziel zu forcieren. Ein Interessent kann jetzt durch das Kompendium der Rassehunde blättern wie durch einen Mode- oder Tapetenmusterkatalog: Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Die Körpergröße variiert vom Chihuahua (ab 15 cm) bis zur Deutschen Dogge (Widerristhöhe des Champions: 103,5 cm); Schnauzen können jede Form bis zum gänzlichen Verschwinden annehmen (zum Beispiel beim Mops); Fellfarben und ‑strukturen bedienen das gesamte Register – das Gleiche gilt für Hoch- und Kurzbeinigkeit, Ohren, Ruten und Charakter. Auch die Preise oszillieren, je nach Nachfrage. Wölfe, für lange Zeit fast völlig ausgerottet, haben ihr Erbe an einen Zirkus übergeben, der aberwitzige Verwandlungskunststücke vorführt. Verbände wachen streng über das Reglement. Und während des ganzen proteischen, an den Launen des Menschen ausgerichteten Treibens vermurkst er mit seinem unbekümmert eingesetzten Werkzeugkoffer die Lebensfähigkeit vieler Rassen immer mehr. Permanent nach Luft röchelnde Möpse und Bulldoggen, durch die abfallende Rückenlinie von Arthrose gepeinigte Schäferhunde, wegen häufiger Bandscheibenvorfälle gelähmte Dackel und so manche andere sind Qualzuchten. Auch das Erzeugen exotischer Fellfärbungen wie Silber, bläulich oder vollkommen bunt gescheckt (der sogenannte Merle-Faktor) ist mehr als fragwürdig. Durch die entsprechenden genetischen Manipulationen kommt es gleichzeitig häufig zu Blindheit, Taubheit oder anderen schwerwiegenden organischen Krankheiten. Schon die Inzucht, um bestimmte ästhetische Merkmale rein zu erhalten, schwächt das Material. Spontane Modeanforderungen geben dem bunten Reigen den Rest. Ob ein erprobter, mittelgroßer Straßenhundmischling einen dauerzitternden Zwergrehpinscher wohl noch als seinesgleichen erkennt? Gavin Maxwell, seelisch eingebettet in die Wildnis rund um sein Cottage, richtet allmählich sein temporäres Leben dort ein. Er improvisiert Möbel aus Treibgut, holt Wasser aus einem Bach, entzündet Petroleumlampen. Er befreundet sich mit der Familie, die oberhalb im nächstgelegenen Haus wohnt, den Steilhang hoch in eineinhalb Kilometern Entfernung. Dort holt er seine Post, gibt Bestellungen für Lebensmittel auf und lässt Jonnie in Obhut, sobald er wieder abreist. Die zwei jungen Söhne der Familie bringen ihm manchmal Benötigtes, der Hausherr erzählt die weltweisen Anekdoten der Gegend, und die Frau hat ein besonderes Verhältnis zu Tieren, ist darum auch sofort Bezugsperson für den periodisch zurückgelassenen Spaniel Jonnie. Ihr Haus liegt direkt an der schmalen, einspurigen Straße. Parallel zur Küstenlinie ragt einer der sanften, aber nicht zu unterschätzenden schottischen Bergzüge auf. An seinen Hängen, scheinbar völlig sich selbst überlassen, grasen ganzjährig Hochlandrinder: hellbraune Punkte in der Ferne, die sich langsam hin und her bewegen. Stoische Bestandteile der Landschaft, die sich weder durch Regen, Sturm noch Kälte aus ihrem Gleichmut bringen lassen, im Liegen wiederkäuend und dabei aufs Meer weit draußen schauend. Zuerst verlieren sie ihre Autonomie, dann ihre Widerstandsfähigkeit. Domestizierte Tiere leben fast völlig abhängig vom Menschen, sind nicht nur körperlich, sondern auch kognitiv eingeschränkt. Die Mehrzahl der Zuchtformen weist gegenüber der Wildform einen verkürzten, verbreiterten Gesichtsschädel auf, in dem die Gehirnmasse reduziert und weniger differenziert ausgebildet ist, sodass deutlich weniger Sinneseindrücke verarbeitet werden können. Hinter den Einfriedungen, vor den Futtertraufen, an den Leinen: Rückschritt. Wirtschaftlich oder spielerisch definierte Gestalten. Schwarzweiße Kühe, zum Stumpfsinn verdonnert, drängen sich im Hochsommer auf schattenloser Weide zusammen, stieren bewegungslos ins Leere. Nimmt man ihnen ihr neugeborenes Kalb weg, schreien sie eine Woche lang verständnislos nach ihm, bevor sie wieder ruhig werden. Die aufreizende Sanftmut setzt sich fort, wenn sie in den Lastwagen geladen werden, der sie zum Schlachthof bringt. Duldsamkeit und Dummheit, Fleischleistung und Milchleistung formen Betriebsfaktoren. Die Rinderrasse Charolais, viereckige, schwere Gesellen, so sehr auf Verwertbarkeit als Steak gezüchtet, dass ihre monströs großen Kälber nicht mehr durch den Geburtskanal passen, müssen regelmäßig Kaiserschnitte erleiden. Währenddessen grasen die kleinen schottischen Hochlandrinder einigermaßen unbehelligt, als Scheinselbständige bei jeder Jahreszeit draußen gelassen. Ihr dickes Zottelfell schützt sie vor Wetterunbilden und ihr Aussehen erinnert nicht nur entfernt an den Stammvater der Rinder, den Auerochsen, sondern sie tragen sogar als eine der ganz wenigen Rassen tatsächlich noch einen Rest Erbgut des Urs in sich. Wie zu erwarten, haben Züchter auch die sportliche Herausforderung angenommen, den ausgestorbenen Auerochsen wieder auferstehen zu lassen. Entlang seiner äußeren Merkmale kreuzten sie so lange Ähnliches, bis beispielsweise das Heckrind entstand: ein mit gewaltigen Hörnern versehener, ahnungsweiser Wiedergänger dessen, was frühe Höhlenmalereien feiern. Genetisch hat das Heckrind jedoch nichts mit dem Auerochsen gemein. Es ist eine sogenannte Abbildzüchtung, ein sentimentales Gespenst aus dem Evolutionsbaukasten. Nachdem Jonnie gestorben ist, ist der Platz eines Haustiers an Maxwells Seite verwaist. Es ergibt sich, dass er sich während einer Reise in den Irak einen schon länger gehegten, ungewöhnlichen Wunsch erfüllt: Man bringt ihm einen ganz jungen Fischotter. Maxwell ist entzückt. Entsprechend traurig reagiert er, als das Tierchen aufgrund seiner Unerfahrenheit und daraus resultierender Fütterungsfehler nur kurz überlebt. Um Ersatz bemüht, gelangt er schließlich an ein weiteres junges Exemplar, das er Mijbel nennt. Otter, früh genug an den Menschen gewöhnt, also auf ihn geprägt, werden völlig handzahm, suchen viel Körperkontakt, haben einen quasi nie erlahmenden Spiel- und Erkundungstrieb, kurz: halten die gesamte Umgebung, in die sie nicht gehören, auf Trab. Als Tiere mit enorm hochtourigem Stoffwechsel brauchen sie außerdem täglich ein Kilogramm Fisch, und ihr Gebiss, das Fischköpfe zermalmt, kann mühelos Finger abbeißen. Maxwell ist jedoch am Ziel seiner Wünsche, schreibt liebevoll, er lebe "in der Knechtschaft von Ottern". Irgendwann soll Mijbel vom Irak nach London und später weiter an die schottische Küste transportiert werden. Die Schilderung, wie der verstörte Gefangene aus seiner Reisekiste in den vollbesetzten Passagierraum eines Flugzeugs ausbricht und dort für Chaos sorgt, ist an Komik schwer zu überbieten – zumindest, wenn man nicht dabei gewesen ist. Und dann beginnt das Zusammenleben von Mensch und Wassermarder. Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen? Maxwell tut es mit Hingabe. Er baut sowohl seine Londoner Stadtwohnung als auch das Refugium an der Küste ottergerecht um, was vor allem heißt, dem Zerstörungstrieb Herr zu werden, und er widmet seinem neuen Gefährten, dem bald noch weitere seiner Art folgen sollen, enorm viel Zeit und Energie. Dabei eignet er sich immer mehr zoologisches – man könnte auch sagen: anekdotisches – Wissen über diese Spezies an, denn es ist durchaus nicht klar, ob ein in Gefangenschaft gehaltener Fischotter dieselben Verhaltensweisen zeigt wie ein in Freiheit lebender. Maxwell liefert regelrechte Charakterstudien. Und in der Tat: Betrachtet man Fotos von Mijbels Nachfolgerin Edal, wie sie mit perfekt dem Kindchenschema entsprechendem Kopf auf dem Rücken, ihre Arme vor der Brust verschränkt, in einem Schlafsack liegt, kann man sich der Vermenschlichung kaum entziehen. Noch weniger, wenn man Geschichten von diebischem Witz und Schläue liest. Aber es bleibt ein unbeherrschbarer Rest. Es bleiben unkalkulierbare Reaktionen, die jedem domestizierten Tier längst ausgetrieben worden wären. Der amerikanische Philosoph Mark Rowlands kauft in den 90er Jahren illegalerweise einen Wolfswelpen. Er hat viel Erfahrung im Umgang mit Hunden, ist schon im Elternhaus mit riesigen Deutschen Doggen aufgewachsen, nähert sich auch ihm unbekannten Tieren kundig und furchtlos. Was er mit diesem Wolfswelpen nach der Rückkehr in sein Haus erlebt, ist jedoch neu. Binnen Minuten, berichtet er, erhöht sich die Kaufsumme von 500 Dollar um weitere 500 Dollar durch Schäden im, am und unter seinem Haus. Dennoch gelingt es ihm, den Wolf Brenin mit Hilfe professioneller Tiertrainer‑Methoden in kürzester Zeit so zu erziehen, dass er ohne Leine an seiner Seite geht, weiß, wann Spiel oder Jagd beendet sind, und ihn überallhin begleitet. Letzteres ist unabdingbar, da Brenin zeit seines Lebens, irgendwo alleingelassen, seine jeweilige Umgebung komplett zerlegt. Er akzeptiert Rowlands jedoch als Alpha‑Tier, lässt sich von ihm noch nach Welpenmanier am Nackenfell hochheben, als er schon 54 Kilo wiegt. Furchterregend unberechenbar verlaufen nur Kämpfe mit großen Hunden. In diesen blitzschnellen Momenten zeigt Brenin, dass er nach wie vor ein Wolf ist, und einzig Rowlands‘ beherztem Ganzkörpereinsatz unter Inkaufnahme schwerer Verletzungen ist es zu verdanken, dass keine Leichen den Weg seines Haustiers pflastern. Rowlands, Philosophieprofessor, ist fasziniert von der Kraft und Schönheit, letztlich von der Autonomie des vierbeinigen Gefährten, der die meisten Dinge, zu denen man Hunde abrichten kann, für völlig unter seiner Würde hält. Der Philosoph und der Wolf heißt das Buch, das er über ihr elfjähriges Zusammenleben schreibt. Brenin ist ihm steter Anlass, über die Unterschiede äffischer – sprich menschlicher – und wölfischer Weltauffassungen nachzudenken, gipfelnd in der Erkenntnis: "Wir sind Geschöpfe der Zeit, doch Wölfe sind Geschöpfe des Augenblicks. Und wir empfinden Augenblicke als transparent. Wir strecken die Hand durch sie hindurch aus, wenn wir versuchen, Besitz von den Dingen zu ergreifen. Für uns sind Momente nie ganz real." Während Mark Rowlands also im waghalsigen Schulterschluss mit einem wilden Tier, das er zu seinem Glück im Griff hat, auf intensive Weise über das Leben nachdenkt, gibt es auch Grenzgänger, die ein solches Unterfangen zerrbildhaft ad absurdum führen. Werner Herzog porträtiert in seinem Dokumentarfilm "Grizzly Man" den selbsternannten Naturschützer Timothy Treadwell, der 13 Sommer lang nach Alaska reist, um dort in Nationalparks, unter Missachtung sämtlicher Vorschriften, in unmittelbarer Nähe von Grizzlys zu zelten. Er nimmt egomane Videos auf, beschimpft darin die ganze Welt, die Bären zu bedrohen, präsentiert sich als ihr Retter, erklärt, jedes Individuum zu kennen. Lange sind sie im Hintergrund der Videos gleichmütig bei der Nahrungssuche zu sehen, aber im 13. Jahr werden Treadwell und seine Begleiterin, die sich noch mit einer Bratpfanne zu wehren versucht, von einem Grizzly getötet und teilweise gefressen. Es fällt schwer, diesen Mann, der sich mit übersteigerten Gefühlen an die Wildnis anzubiedern versucht, nicht als tragischen Clown zu sehen. Auf eine verrückte Art vereinnahmt er die Bären, will sich gewissermaßen in ihnen spiegeln. Er glaubt sogar, ihr Mienenspiel lesen zu können. Werner Herzog kommentiert diesen Glauben lakonisch: "Ich entdecke keinerlei Verwandtschaft, kein Verstehen, keine Gnade. Ich sehe einzig die überwältigende Gleichgültigkeit der Natur." Die Otter-Idylle an der schottischen Küste ist mittlerweile zu einer regelrechten Wohngemeinschaft angewachsen. Wie Gavin Maxwell in einem Folgebuch beschreibt, beherbergt er zeitweise vier von ihnen gleichzeitig, außerdem hat er mehrere ständige Helfer bei ihrer Betreuung, schließlich auch eine Ehefrau, die dieses Leben mit ihm teilt. Es geschieht in jener Zeit, dass die vertrauten und verspielten Otter plötzlich, ohne Vorwarnung, aggressiv werden und ernsthaft zubeißen. Einer der jungen Betreuer verliert mehrere Finger. Schwere Knöchelverletzungen finden statt. Maxwell erklärt sich solche Attacken als Folge von Eifersucht. Damit schließt er den Kreis der Vermenschlichung, meint, die Persönlichkeiten seiner Tiere zu verstehen. Ob das zutrifft, steht dahin. Er benutzt auch den Begriff "domestiziert", um sein Zusammenleben mit den Ottern zu charakterisieren – was eindeutig falsch ist. Edal und ihre Kollegen leben lediglich in einem Haus, sind an Menschen gewöhnt und handzahm, mehr nicht. Domestikation ist nicht Zahmheit, sondern die sexuelle Isolierung der Kleingruppe einer Tierart und ihre genetische Beeinflussung. Domestikation bedeutet zwar eine Gewöhnung an den Menschen, vor allem aber das Brechen der Flucht- und Verteidigungsreflexe. Domestikation ist biologische Bildhauerarbeit. Als Ergebnis leben heute geschätzt zwischen einer und zwei Milliarden Hausrinder und -büffel, über 700 Millionen Schweine und 17 Milliarden Hühner auf der Erde. Ihre endlose kontrollierte Reproduktion bildet einen Tsunami der Verwertung, einen überquellenden Viehmarkt, auf dem neben den braven, erschöpften Nutztieren in den Seitengassen auch Gefährten fürs Gemüt angeboten werden. Hauskatzen beispielsweise, die im allgemeinen ihrer Stammform, der ägyptischen Falbkatze, äußerlich noch stark ähneln, haben durch die Zuchtwahl ebenso gravierende Verhaltensänderungen erfahren wie andere Tierarten. Sie sind in ihren Bewegungen wesentlich weniger schnell als die Falbkatze. Sie haben ein stark variierendes Beutefangverhalten, bis hin dazu, dass sie, unabhängig vom Futterangebot, teils gar nicht mehr jagen. Und sie setzen ihre Lautäußerungen anders ein als wilde Katzen. Das Schnurren zum Beispiel bleibt in der Stammform einzig den Jungtieren im Kontakt zur Mutter vorbehalten, bei erwachsenen Tieren hört man es nie. Auch die Hauskatzen sind also durch das modelliert, was Darwin "das größte biologische Experiment der Menschheit" nannte. Eines Tages fischt Maxwell während einer Bootsfahrt das dem Ertrinken nahe Exemplar einer jungen Wildkatze aus dem Wasser und überlässt ihr zur Erholung sein Schlafzimmer. Die Wildkatze, ein völlig undomestiziertes europäisches Kleinraubtier, meidet Menschen strikt, doch Maxwell, keinem Abenteuer abgeneigt, sieht die Sache als Herausforderung. Er will das Tier zwar nicht behalten, es aber zumindest eine Weile beobachten. Was er erlebt, ist zunächst die Verwüstung seines Schlafzimmers, außerdem, dass die wieder zu Kräften gekommene Katze sich absolut nicht berühren lässt und stets den unzugänglichsten Teil des Zimmers, einschließlich des Kaminaufstiegs, aufsucht, von wo aus sie den totalen Krieg erklärt. Maxwell erfährt ein Inbild des Unzähmbaren. Mit dieser Episode endet sein Buch. Vielleicht ist die Domestizierung manchmal ein wechselseitiger Prozess, eine freiwillige wechselseitige Annäherung. Es existiert das sehr interessante Phänomen möglicher Selbstdomestikation von Füchsen in Großstädten. Schon länger kann man dort ihre nachlassende Scheu beobachten. Sie werden am helllichten Tag beim Überqueren von Straßen gesehen, und sie finden in Menschennähe so viele und reichhaltige Nahrungsangebote, dass sie sich dort dauerhaft einrichten. Nun haben Untersuchungen an bereits länger in der Stadt lebenden Fuchspopulationen gezeigt, dass sie kürzere Schnauzen und eine geringere Gehirnmasse aufweisen als ihre Verwandten in Wald und Feld. Vielleicht wiederholt sich gerade neben uns eine Situation, die den Wolf einst in die Reichweite menschlicher Siedlungen brachte – und den Hund aus ihm machte. Noch lassen sich Stadtfüchse allerdings nicht streicheln. Am Nordatlantik, an einem verwunschenen Ort, liegen zwei Felsen als Grabsteine. Der eine erinnert an Gavin Maxwell, der voller Selbstironie seine Erfahrungen in diesem weltabgeschiedenen, zugleich großartigen wie rauen Paradies schilderte. Die erste deutsche Übersetzung seines Buchs wählte den robinsonhaften Untertitel: "Allein mit meinen Tieren an Schottlands Küste". Tatsächlich erlebte er dort Grundformen der Beziehung zwischen Mensch und Tier: Von der loyalen Verbindung mit Hunden, der gleichmütigen Kenntnisnahme wiederkäuender Rinder, den koboldhaften Capricen seiner Otter-Gäste bis hin zum kompromisslosen Zähnefletschen einer Wildkatze. Der zweite Stein erinnert an Edal, einen Fischotter, der sich eine Weile mit Gavin Maxwell vergnügte.
Von Patricia Görg
Menschen und Tiere, Haustiere, Tiere, die in der Nähe gehalten werden. Ein Essay über die Haustierwerdung von Wildtieren, von Menschen gemacht.
"2023-04-09T09:30:00+02:00"
"2023-04-09T09:30:00.384000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-mensch-und-sein-domestizierungsbaukasten-100.html
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Das Ende des Wandels
Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi kündigt seinen Rücktritt an. (dpa / picture alliance / Isabella Bonotto) Der italienische Ministerpräsident Renzi blieb sich auch angesichts der deutlichen Niederlage beim Verfassungsreferendum in Italien am Sonntag treu bis zuletzt. Seinen Abschied nahm er mit der ihm typischen jugendlichen Forschheit und leicht überzogenen Rhetorik des Selbstdarstellers, der sein Publikum zu bedienen weiß. "Man kann ein Referendum verlieren, aber die gute Laune darf man nie verlieren. Man kann eine Schlacht verlieren, aber nicht das Vertrauen in die Tatsache, dass dies das schönste Land auf der Welt ist und Ausdruck der Ideale von Gemeinsinn, Bildung und Schönheit, die uns groß machen und auch stolz machen auf unsere Lebensart." Der Ministerpräsident Italiens, Matteo Renzi, spricht im Palazzo Chigi in Rom. Im Hintergrund steht seine Lebensgefährtin, Agnese Landini. (picture-alliance / dpa / Gregor Fischer) Gut 59 Prozent der Italiener stimmten gegen die Reformpläne, etwa 41Prozent dafür, bei einer hohen Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent. Die Verantwortung für die Niederlage übernahm der 41Jahre junge Ministerpräsident, aber die Ursachen hätten nicht an seiner Reform gelegen, sondern am Unverständnis derer, die darüber abgestimmt haben. "Wir haben es versucht, haben den Italienern eine Gelegenheit zur Veränderung gegeben. Es war eine gute Chance. Aber wir haben es nicht geschafft. Es ist uns nicht gelungen die Mehrheit unserer Bürger zu überzeugen. Wir haben viele Millionen Ja-Stimmen erhalten, aber die reichen leider nicht. Deshalb übernehme ich die volle Verantwortung für die Niederlage." Heftige Diskussionen über Vor- und Nachteile Am Montagnachmittag reichte Sozialdemokrat Renzi bei Staatspräsident Sergio Mattarella seinen Rücktritt ein. Es ist das abrupte Ende eines der längsten und leidenschaftlichsten Wahlkämpfe, die Italien je erlebt hat. Nach der Verabschiedung der geplanten Verfassungsreform im Parlament im Oktober 2015 gab es bereits heftige Diskussionen über die Vor- und Nachteile, vor allem über die möglichen Gefahren einer autoritären Wende Italiens, verschleiert hinter der Forderung nach einer unumgänglichen Erneuerung. Diese bereits angeheizte Stimmung bereicherte Regierungschef Matteo Renzi Anfang dieses Jahres mit einer offiziellen Erklärung im römischen Senat, jener Kammer, die mit der Reform drastisch reduziert werden sollte, sowohl in ihren Befugnissen, wie auch in ihren Dimensionen "Sollte ich bei dem Referendum verlieren, dann würde ich meine politische Laufbahn als beendet betrachten. Und zwar deshalb, weil ich zutiefst an Werte glaube wie zum Beispiel die Würde eines politischen Amtsträgers." Reform wird zum persönlichen Anliegen Doch statt edler Motive bei einer Ablehnung der Verfassungsreform, unterstellten ihm seine Gegner natürlich genau dieses: ein Für- oder ein Gegen-Renzi, und damit viel mehr als nur eine Volksabstimmung über Reformen, die die meisten Bürger – zumindest im Detail - zunächst nicht verstanden. Renzi machte aus der Reform sein persönliches Anliegen. Er stürzte sich in einen beispiellosen Kampf für sein Reformprogramm, als ginge es um Alles oder Nichts, um eine Zukunft für Italien oder den Absturz in die Krise ohne Ausweg. Eine derartige Reduzierung komplizierter Inhalte nach Renzis Vorgaben war wohl einer der Gründe für die unerwartet klare Niederlage. Auch das Argument, die Verfassungsreform werde an die 500 Millionen Euro einsparen helfen, fiel zwar bei manchen Bürgern auf fruchtbaren Boden, aber eben lange nicht bei allen. Der Palazzo Chigi, der Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten. (AP) "Parlamentssitze werden verringert, Ausgaben in den Regionen gestrichen, Kosten der Politik reduziert. Endlich landet das Geld für Senatoren und Regionalräte in den Taschen der Italiener." Kostenersparnis rechtfertigte nicht Umfang der Verfassungsreform Tatsächlich, das haben amtliche Statistiker veröffentlicht, hätte die Reduzierung des Senates eine maximale Ersparnis von nicht mehr als etwa 60 Millionen Euro betragen. Damit alleine war eine so weitreichende Verfassungsreform auf keinen Fall zu rechtfertigen. 46 von den 159 Verfassungsartikeln sollten verändert werden. Der wichtigste Punkt war die Abschaffung des Zweikammersystems, in dem Abgeordnetenhaus und Senat bislang – und auch künftig - gleichberechtigt abstimmen. Für Matteo Renzi der Grund unvertretbarer Verzögerungen bei der Verabschiedung von Gesetzen und ursächlich für den Sturz zahlreicher Regierungen. "In diesem Land gab es in den letzten 60 Jahren 63 Regierungen. Es ist klar, dass sich das ändern wird, wenn nur noch eine Kammer ein Misstrauensvotum aussprechen kann. Zum zweiten wird es klarere Kompetenzen zwischen Staat und Regionen geben. Und, was der wichtigste Punkt ist, die Reform ist ein Zeichen der Vereinfachung. Dieses Land muss einfacher werden als bisher." Notwendige Modernisierung oder Rückschritt für die Demokratie? In der Tat hat Italien ein Heer von Institutionen, die sich oft gegenseitig ausbremsen. Die Regionen können durch Einsprüche beim Verfassungsgericht Parlamentsentscheidungen blockieren. Kritiker sahen dagegen in der geplanten Umwandlung des Senats in eine Versammlung von Regionalvertretern mit klar begrenzten Befugnissen, einen Rückschritt für die Demokratie. Diese wären von den Parteien entsandt, also nicht mehr direkt gewählt. Regionalräte und Bürgermeister, die für ihre Amtszeit von mindestens sieben Jahren parlamentarische Immunität genossen hätten. Ein heikles Problem. Etwa ein Drittel der jetzigen Volksvertreter hat bereits Probleme mit der Justiz, wird aber in der Regel vor gerichtlicher Verfolgung geschützt. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Politikverdrossenheit bei vielen Bürgern. Ernstzunehmende Gegner der Reform, wie der angesehene Verfassungsrechtler Gustavo Zagebrelsky verwiesen vor dem Referendum darauf, dass die bisherigen beiden Parlamentskammern keinesfalls doppelte, das heißt, unnütze Arbeit leisteten: "Die beiden Kammern hatten bisher zwar gleiche Kompetenzen, aber unterschiedliche Aufgaben. Eine Kammer kontrollierte die Arbeit der anderen. Das Zweikammersystem diente der Verbesserung von Gesetzesvorschlägen." Dass mit der Abschaffung der gleichberechtigten Senatskammer ein langwieriges Ping-Pong Spiel von Gesetzesvorlagen abgeschafft würde, bezweifelte Zagrebelsky. Schon bisher wurden 80 Prozent aller Vorlagen problemlos in beiden Kammern verabschiedet, der Rest scheiterte wegen Differenzen unter den Parteienvertretern im Parlament. Zagrebelsky vor der Abstimmung: "Des Übels Wurzel ist politischer Natur, nicht der Institutionen. Und deshalb sind viele Bürger besorgt, dass dies jetzt eine autoritäre Wende bedeutet. Eine Machtkonzentration an der Spitze der Institutionen. Wir riskieren jetzt den Wandel von einer Demokratie zu einer Oligarchie. Das ist keine demokratische Regierungsform." Stimmabgabe zum Referendum über die Verfassungsreform in Italien am 4. Dezember 2016 (imago/ZUMA Press) 2006 versuchte Berlusconi ebenfalls eine Verfassungsreform Das Hauptargument der Gegner im Wahlkampf hat eine historische Parallele aus jüngerer Zeit. Im Jahr 2006 versuchte Silvio Berlusconi eine ähnliche Verfassungsreform durchzusetzen, in der die Einführung eines Premierministers nach französischem Vorbild realisiert werden sollte. Damit wäre der Medienzar zu einer Art Alleinherrscher aufgestiegen. Die Italiener entschieden sich damals ebenfalls mit großer Mehrheit gegen diese Verfassungsreform. Matteo Renzi galt als Saubermann, der sowohl in der Politik wie privat jene moralischen und demokratischen Spielregeln achtete, die Berlusconi immer wieder mit Füßen trat. Auch deshalb hatte er von Anfang an viel bessere Chancen für die angepeilte Verfassungsreform. Doch hat sich Renzi gerade im Medienbereich ähnlicher Mittel bedient wie Berlusconi, um den Wählerwillen zu steuern. Im vergangenen Sommer, kurz vor der Endphase des Wahlkampfes ließ er über den von ihm eingesetzten Generaldirektor des staatlichen Fernsehens RAI massive personelle Umbesetzungen vornehmen. Als Erste musste Bianca Berlinguer, die Tochter des legendären Kommunistenführers Enrico Berlinguer und die wohl bekannteste Nachrichtenmoderatorin des staatlichen Fernsehens ihren Hut nehmen, weil sie den Gegnern des Referendums angeblich zu viel Raum gab. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi in der TV-Sendung "Porta a porta" Ende November 2016, die in dem öffentlich-rechtlichen Sender RAI ausgestrahlt wird. (picture alliance /dpa / Giuseppe Lami) "In der letzten Zeit gab es enormen Druck von oben, plumpe und vulgäre Attacken aus höchsten Kreisen der Politik. Doch unsere Tagesschau hat standgehalten und ich hoffe, dass das so bleiben möge." Personelle Veränderungen in wichtigen Hörfunk- und Fernsehprogrammen Wie ihr ging es auch anderen nicht linientreuen Mitarbeitern. "Renzismus" nannten die Kritiker die von der Regierung verordneten personellen Veränderungen in den wichtigsten Hörfunk- und Fernsehprogrammen der RAI. Im August noch mahnte Carlo Freccero, ein kämpferischer Verfechter der Meinungsfreiheit innerhalb des staatlichen Fernsehens: "Die von Bianca Berlinguer geleitete Tagesschau hat ausgewogen über das Für und Wider berichtet und deshalb musste sie gehen. Die Umbesetzungen sind die Vorbereitung auf das Referendum, denn Renzi hat Angst, dass er es verliert." Nicht durch den direkten Besitz von Medien – wie früher bei Berlusconi – sondern durch persönlichen Druck auf die einzelnen Medienmacher sei die öffentliche Meinung massiv beeinflusst worden. Kritik an Renzis Wahlkampagne gab es auch bei den Briefwählern aus dem Ausland, die auf Kosten der Staatskasse Werbebriefe von der Regierung für ein "Ja" zum Referendum erhielten. Knapp über vier Millionen Italiener leben im Ausland. Oft sind es Nachkommen, der schon vor Generationen ausgewanderten Landsleute, die selbst nie in Italien waren, aber einen italienischen Pass besitzen. Nach einem Gesetz aus dem Jahre 2001 dürfen sie in Konsulaten, aber auch per Briefwahl abstimmen, im Gegensatz zu den Wählern in Italien. Dabei haben sich in der Vergangenheit immer wieder Fälle von Wahlbetrug ereignet. Die von Renzi bewusst geschürte Kontroverse in Italien führte in der Schlussphase des Wahlkampfes auch zu besorgten Reaktionen im Ausland. Etwa als Renzi das Thema Migranten aufgriff. "Die Immigranten kommen heute in größerer Zahl als je zuvor. Der Grund ist, dass man in Libyen bombardiert hat ohne an die Folgen zu denken. Jetzt kommen von dort die Migranten. Es sind viel zu viele. Wie sieht eine sinnvolle Lösung aus. Erstens, man muss in Afrika investieren, damit die Leute nicht emigrieren. Zweitens, man rettet sie auf dem Meer. Drittens, wir brauchen ein effizienteres Aufnahmesystem. Wenn nun die anderen EU Länder weiterhin ihre Grenzen zu machen, dann werden wir unseren Geldbeutel schließen. Wir zahlen an Brüssel jährlich 20 Milliarden Euro und bekommen nur 12 Milliarden zurück. Wenn sie Mauern bauen wollen, dann bestimmt nicht mit unserem Geld." Renzi will Signal für starkes Italien setzen Bei der Verabschiedung des EU-Nachtragshaushalts enthielt sich Italien, obwohl darin sogar mehr Geld für die Flüchtlingshilfe beschlossen wurde. Ein Signal an die EU und an die italienischen Wähler. Renzi wollte Stärke beweisen, obwohl er gerade in der EU mit großen Problemen zu kämpfen hatte. Brüssel muss den italienischen Haushalt absegnen, doch immer wieder fehlten hier und dort Milliardenbeträge. Nach dem Erdbeben im vergangenen August hatte die Regierung versucht Sonderausgaben geltend zu machen, die aber im Haushalt nichts verloren haben, ebenso wenig wie jene für die Aufnahme von Immigranten, die Brüssel gesondert leistet. Während viele Italiener Renzis Vorgehen für gerechtfertigt und patriotisch hielten, schrillten in Brüssel die Alarmglocken. Sollte das etwa der Anfang vom Ausstieg Italiens aus der EU sein? Der hektische italienische Wahlkampf mit seiner Parole "Italien steht am Abgrund" sorgte für einen brüsken Vertrauensverlust auf den Finanzmärkten. Der Zinsaufschlag für italienische Anleihen stieg innerhalb der letzten zwei Monate von 138 auf 176 Punkte. Italiens Hauptproblem ist der immense Schuldenberg von 2,23 Billionen Euro; das bedeutet einen Schuldendienst von jährlich etwa 70 Milliarden Euro. Die Befürworter der Verfassungsreform sprachen bereits von einem drohenden Abgrund, sollte das Nein überwiegen. Finanzminister Pier Carlo Padovan versuchte zu beruhigen. "Ich bin ständig bestrebt, Italiens Ruf zu verteidigen, vor allem im Ausland. Dass der Wahlausgang des Referendums etwas mit der Stabilität der Finanzmärkte zu tun haben soll, das stammt garantiert nicht von mir. Das behaupten die Investment-Banken schon seit mehreren Wochen." Allerdings hatte Padoan selbst das Votum für die Reform an große wirtschaftliche Erwartungen geknüpft und damit wohl die Angst vor einem Nein auf den Finanzmärkten eher geschürt. "Der Grund, warum ich die Verfassungsreform unterstütze ist, dass sie der italienischen Wirtschaft enorme wirtschaftliche Vorteile bringen wird. Scheitert sie, dann werden wir eine wichtige Gelegenheit verpassen unsere strukturellen Probleme zu lösen." Skyline von Mailand mit Blick auf das Finanzviertel Porta Nuova. (picture alliance/dpa/Daniel Kalker) Wahlrechtsänderung sollte Regierung mehr Macht geben Von denen hat Italien tatsächlich genug. Einer der Hauptgründe für Renzis Niederlage ist die Tatsache, dass es auch ihm trotz aller Versprechungen nicht gelungen ist, den Schuldenberg abzubauen, die Verwaltung zu entschlacken, eine Verschärfung des Strafrechts etwa bei Korruption und eine strengere Verfolgung von Steuersündern durchzusetzen. Die Hinterziehung von Steuern beläuft sich in Italien nach vorsichtigen Schätzungen auf mehr als 200 Milliarden Euro jährlich. Auch das organisierte Verbrechen schlägt mit vielen Milliarden zu Buch. Die Misswirtschaft der Banken, die etwa 200 Milliarden Euro an faulen Krediten in ihren Büchern stehen haben, begleitete wie ein Schatten die fast dreijährige Amtszeit von Matteo Renzi. Immer wieder hat sich gezeigt, dass seine Regierungskoalition, in der auch einstige Vertraute von Ex-Ministerpräsident Berlusconi mehrheitsentscheidend sind, zu schwach war, um den Lobbyisten im Lande Paroli zu bieten. Vielleicht Renzis wichtigstes, wenn auch nie ausgesprochenes Argument für die Verfassungsreform. Mehr Macht für eine Regierung, die sie erhalten sollte durch das mit dem Referendum verknüpfte geplante neue Wahlrecht mit dem Namen Italicum. Es sah vor, dass eine Partei mit mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen automatisch eine 65-Prozent Mehrheit im Parlament erhalten sollte. Unterhalb der Hürde hätte eine Stichwahl zwischen den zwei stärksten Parteien entscheiden sollen. Und das sei der Haken, sagte der Verfassungsrechtler Gustavo Zagrebelsky. Eine Partei mit am Ende nur 25 Prozent Wählern hätte eine viel größere Macht erhalten. "Diese Partei darf dann fünf Jahre lang regieren. Das ist für mich keine Demokratie. Es ähnelt vielmehr dem, was Jean Jacques Rousseau einmal über die Engländer gesagt hat. Sie glauben, sie seien frei, aber das sind sie nur in dem einen Augenblick, in dem sie ihren Stimmzettel abgeben." Renzis Partei ist nach der Wahlschlacht zerrissen Matteo Renzi hoffte nach einem Sieg beim Referendum auf mehr Zuspruch bei den Wählern. Mit der Reform und dem neuen Wahlrecht ging es ihm wohl vor allem auch darum eine Machtübernahme durch die Fünf–Sterne-Partei zu verhindern. Doch seine eigene Partei ist nach der Wahlschlacht zerrissen und die Reformgegner, allen voran Pier Luigi Bersani, Renzis Vorgänger im Parteivorsitz, hatten immer wieder gewarnt, dass der Schuss nach hinten losgehen könnte. Die Reform hätte nicht nur Renzis Traum vom uneingeschränkten Regieren erfüllt sondern auch den Populisten Tür und Tor öffnen können. "Viele Wähler haben sich längst von uns abgewendet. Wollen wir dieses Problem nicht endlich zur Kenntnis nehmen. Ich sage das, weil ich verhindern will, dass uns die Rechten eines Tages überrollen. Das Nein kam aus unterschiedlichen Ecken Besonders die Fünf-Sterne-Bewegung rückte den Sozialdemokraten gefährlich auf den Pelz, was nach dem Sieg bei den römischen Kommunalwahlen deutlich wurde. Feiern in Rom: Die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung (dpa / picture alliance / Alessandro Di Meo) Zurück bleibt ein Scherbenhaufen, vor allem in Renzis Partei, aber auch im Parlament. Ganz abgesehen von der Frage der Bildung einer neuen Regierung und den jetzt wohl unumgänglichen Neuwahlen. Ein Jahr lang waren wegen des anstehenden Referendums viele wirkliche Probleme auf Eis gelegt. Im Parlament stauen sich die Gesetzesvorlagen. Sicher wäre für Italiens und auch Europas Stabilität ein Sieg Renzis bequemer gewesen. Und es ist unvermeidlich, dass sich nun die Populisten jeder Couleur die Hände reiben, Neuwahlen fordern und hoffen, endlich ein saftiges Stück vom künftigen Regierungskuchen abzubekommen. Aber das überwältigende Nein gegen Renzi ist nicht automatisch ein Ja, mit dem nun einer Fünf-Sterne-Partei oder anderen EU-Kritikern die Tür geöffnet wird. Das Nein kam aus zu vielen unterschiedlichen Ecken, wie etwa auch von den Linken bei Renzis Sozialdemokraten. Die Gegner der Reform haben immer wieder betont, dass das Votum eine rein italienische Angelegenheit sei. Nicht zu vergleichen mit Brexit oder der Wahl von Donald Trump. Und es scheint, dass auch die Finanzmärkte das vorläufig genauso sehen. Die befürchteten Kurseinbrüche an den Börsen blieben aus. Alles hängt jetzt davon ab, wie schnell eine neue Regierung die Geschäfte übernimmt, um den Haushalt zu verabschieden. Im Gespräch als Nachfolger von Renzi war heute der Finanzminister Pier Carlo Padoan. Sicherlich der richtige Mann um die Finanzmärkte auch weiter zu beruhigen.
Von Karl Hoffmann
Mit einem deutlichen Nein haben sich die italienischen Bürger gegen eine Reform der Verfassung ausgesprochen, die unter anderem eine Verkleinerung und Entmachtung des Senats vorsah. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen, vor allem in Renzis Partei, aber auch im Parlament. Wie geht es nun in Italien weiter?
"2016-12-05T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:21.152000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italien-nach-dem-referendum-das-ende-des-wandels-100.html
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"Eines Tages wird es einfach nur Soul sein"
Den britischen Musiker Michael Kiwanuka faszinieren die Emotionen in der Soul-Musik aus den 1960er- und 70er-Jahren. (Deutschlandradio/Constanze Pilaski) Die Sendung können Sie nach der Ausstrahlung sieben Tage nachhören. "Ich liebe ziemlich viele Dinge, die Old School sind. Ich liebe es, sich Zeit zu nehmen, ein ganzes Album zu hören. Ich weiß nicht, ob den Leuten das auch mit meinem Album gelingt. Aber ich versuche, mein Bestes zu geben, dass man das auch mit meinem Album erleben kann." Michael Kiwanuka ist Brite mit ugandischen Wurzeln, nicht einmal 30 Jahre alt und er hat sich dem Soul verschrieben. 2012 erschien sein Debüt-Album, er wurde international als Soul-Sensation gefeiert. Sein zweites Album ließ lange auf sich warten – ganze vier Jahre. "Ein bisschen Druck gab es schon – mehr mit mir selbst. Ich versuchte, ein schönes Album zu produzieren - und ich liebe diesen Job. Ich wollte das beste Album machen, das ich konnte. Also hat es ein bisschen Zeit gebraucht." Musik "Love and Hate" "Ich wollte einfach das bestmögliche Album machen. Ich habe gemerkt, es braucht einfach Zeit. Ich war in mir gefangen, indem ich versuchte, einen guten Sound zu kreieren. Außerdem tourte ich mit meinem ersten Album zwei Jahre lang und ich bin wirklich nicht gut darin auf Tour Songs zu schreiben. Also brauchte es eine ganze Weile bis es wieder losging." Auf Michael Kiwanukas Schultern hatte sich eine Menge Druck aufgebaut: Von der BBC 2012 als wichtigster Newcomer gekürt, startete er mit dem Debüt "Home again" eine internationale Karriere. Mit seiner warmen, melancholischen Stimme und Musik aus ganz viel Soul, gepaart mit Rhythm-and-Blues- sowie Folk-Einflüssen, verzauberte Kiwanuka damals Fans wie Kritiker gleichermaßen. Musik "Home again" Vier Jahre zwischen zwei Alben sind in der Musikbranche eine Ewigkeit. Es gab Gerüchte, Kiwanuka sei kurz davor alles hinzuschmeißen. Doch im Juli veröffentlichte er sein zweites Album "Love and Hate". Im Sommer präsentierte er es bereits auf Festivals. Eine Station: das Haldern Pop am Niederrhein. In diesem Jahr eine feuchte und matschige Angelegenheit. Michael Kiwanuka hat angesichts des knöcheltiefen Matsches noch die Schuhe gewechselt. Mit festen Boots, brauner Cordjacke und Jeans kommt er zum Pressezelt - in Sichtweite der Hauptbühne gestapft. "Ich sollte einfach noch einmal neu beginnen" Er ist kein Newcomer mehr, bei der Arbeit am zweiten Album ist trotzdem nicht alles rund gelaufen. Entspannt, mit aufmerksamen Blick, aber auch zurückhaltend erzählt er vom langen Weg zum zweiten Album. Unzufrieden mit ersten Studioaufnahmen entschied er sich, die neuen Songs nicht zu veröffentlichen. "Manchmal musst du dich, um gutes Material zu bekommen, von Vorhandenem trennen. Man muss auch in der Lage sein, etwas abzubrechen. Das macht Platz für gute neue Musik. Ich dachte: Ich sollte einfach noch einmal neu beginnen und schließlich härter als zuvor arbeiten." Michael Kiwanuka kam mit seinem zweiten Album nicht voran. Doch dann meldete sich Brian Burton besser bekannt als Danger Mouse. Auf den amerikanischen Produzenten Burton haben in den vergangenen Jahren schon zahlreiche Künstler vertraut – unter anderen Adele, die Red Hot Chili Peppers und U2. Burton schrieb Kiwanuka eine E-Mail, bald darauf trafen sich beide in Los Angeles. "Zu diesem Zeitpunkt war es nicht für ein Album – wir trafen uns nur wegen einer Zusammenarbeit. Ich bin ein großer Fan von ihm und so ich fuhr nach Los Angeles. Ich dachte, das wird großartig. Ich hatte bislang noch nicht wirklich mit jemandem zusammengearbeitet, aber ich wollte es ausprobieren. Brian fragte mich: Du machst ein zweites Album? Und ich sagte: Ja, ich versuche es, aber es ist hart. Ich kann es nicht wirklich abschließen. Es fehlt etwas. Und so spielte ich ihm das Album vor, das ich zu dem Zeitpunkt hatte. Und fragte nach Hilfe. Er sagte ja und wir starteten die Zusammenarbeit." Musik "One more night" Der britische Sänger Michael Kiwanuka auf einem Festival in London (imago / Landmark Media) Für Michael Kiwanuka war die Zusammenarbeit mit Brian Burton ein Glücksfall: Burton nahm dem jungen Musiker Selbstzweifel und feilte am Sound. Kiwanuka ist dem renommierten Produzenten dankbar. Vor allem habe Burton ihm beim Songschreiben beeinflusst. Für "Home Again" schrieb Kiwanuka die Songs noch zuhause auf der Gitarre und ließ sie dann im Studio arrangieren. Für "Love and Hate" verließ er seine Komfortzone: "Ich lernte einen anderen Weg von Brian: Einfach ins Studio gehen und spielen – vielleicht zwei oder drei Akkorde auf der Gitarre oder dem Klavier, eine Basslinie oder einen Rhythmus ausprobieren. Einfach zuhören und versuchen, Melodien entstehen zu lassen. Im Studio ist es nicht unbedingt erforderlich, den Song an einem Tag fertigzustellen. Du kannst damit beginnen und ihn dann liegen lassen. Es ist einfach gut unterschiedliche Wege zu haben. An einem Tag schreibe ich einen Song zuhause mit der Gitarre, an einem anderen Tag schreibe ich einen im Studio. Das hält mich kreativ." Musik "Place I Belong" Kiwanuka ist fasziniert vom Soul vergangener Zeiten "Ich habe Soul-Musik durch eine Magazin-CD entdeckt. Mein Freund brachte sie mit zur Schule. Ich war 14 Jahre alt und er sagte: Check das mal aus. Ich hatte noch nie so eine Art von Musik gehört. Ich kaufte mir die CD und hörte sie immer und immer wieder. Auf der CD waren Ottis Redding, Sly Stone, The Staples Singers – und viele mehr. Ich dachte nur: Wow, das ist wirklich unglaublich." Den 29-Jährigen aus dem Londoner Norden faszinieren bis heute vor allem die Emotionen, die Soul-Musiker aus den 1960er- und 70er-Jahren mit ihrer Musik zum Ausdruck bringen. Kiwanuka ist überzeugt, du musst die Vergangenheit kennen, um in die Zukunft zu kommen. "Ich behaupte zwar nicht, dass ich Grenzen durchbrochen habe oder die Welt der Musik neu erfunden habe. Aber ich kann auf die Legenden und die Genies der Vergangenheit zurückgreifen. Sie kennen ihr Handwerk gut. Man sollte lernen, was bislang in der Musik gemacht wurde. Denn dann wird man frei, Grenzen einzureißen. Ich denke in jeder Form von Kunst, wie Sport, Schreiben oder was du eben auch immer tust – in jeder Ausdrucksweise musst du wissen, wie du es richtig machst. Und dann wird es zu einem natürlichen Sprungbrett und du kannst alles machen, was du willst." Musik "Rule the World" "Es war eine bewusste Entscheidung ein Soul-Album zu veröffentlichen. Eher ein dunkleres Soul-Album. Ich wollte diesen Sound entdecken und ich dachte auch, es wäre für große Shows gut. Folkmusic liebe ich natürlich immer noch und ich werde Folk auch weiter machen, aber dieses Mal sollte es eine Soul-Platte werden." "Cold Little Heart" - auch ein Statement gegen schnellen Musikkonsum Kiwanuka hat die Folk-Einflüsse, die auf "Home Again" präsent waren, fürs Erste hinter sich gelassen. Dass einiges anders ist, wird schon mit dem Eröffnungstitel klar: Allein die Länge von über zehn Minuten ist für den Vinyl-Liebhaber Kiwanuka auch ein Statement: ein Statement gegen den schnellen Musikkonsum im digitalen Zeitalter. Das Stück "Cold Little Heart" baut über fünf Minuten Spannung auf: nach und nach setzen Streicher, Klavier, dann der Chor und ein markantes Gitarren-Solo ein. Das Ganze erinnert an psychedelischen Rock á la Pink Floyd und das Gitarrenspiel von David Gilmour. Bis Michael Kiwanukas rauchig warme Stimme einsetzt und den Zuhörer in den Bann zieht: Musik "Cold Little Heart" Der amerikanische Soulsänger Marvin Gaye, aufgenommen bei einem Auftritt in den 70er-Jahren. (picture-alliance/ dpa) Kiwanuka hat sich nicht nur mit seinem zweiten Album Zeit gelassen. Er lässt sich auch Zeit den dunkleren Klang in seinen Songs auszubreiten. Neben "Cold Little Heart" sprengen außerdem das Stück "Fathers Child" und der Titelsong "Love and Hate" die Sieben-Minuten-Grenze. Auch wenn Kiwanukas Musik zuweilen episch ist, bleibt er in seinen Themen vage und bietet dem Hörer viel Spielraum für Interpretationen. Seine Texte kreisen um Verlust, Identitätssuche und Selbstzweifel – und schwanken dabei zwischen Kapitulation und dem Drang etwas zu verändern. "Für mich ist es einfacher, melancholische Songs zu schreiben. Es sollte ein dunkleres Album werden. Und diese dunklen Sounds rufen dunklere und melancholischere Texte hervor. Es gibt ja auch große Soul-Songs, die echt traurig sind wie 'Heard it through the Grapevine' von Marvin Gaye. Man tanzt dazu, aber es ist ein trauriger Song. Ich habe mich dieses Mal mehr auf traurige Emotionen bezogen, aber nicht jedes Album wird so sein." Kiwanuka und Beyoncé Ganz im Sinne des wichtigsten Stilmerkmals des Soul singt Michael Kiwanuka auf emotionale Weise mit warmer Baritonstimme. Und er wirkt dabei im Vergleich zu seinem Vorgängeralbum reifer und gefestigter. Jimi-Hendrix-Fan Kiwanuka greift zudem verstärkt zur E-Gitarre und spart nicht mit Gitarrensoli und verzerrtem Sound. Er ist ein hervorragender Gitarrist, spielt das Instrument seit seinem zwölften Lebensjahr. Eine seiner Akustik-Gitarren nennt er liebevoll Beyoncé – nach der amerikanischen R'n'B- und Pop-Sängerin Beyoncé Knowles: "Sie ist eine alte Gitarre, eine Gibson. Und sie sieht wirklich wunderschön aus. Naja, es ist ein bisschen lustig, sie hat eben einen großen Korpus, deswegen habe ich sie einfach Beyoncé genannt. Ich will damit nicht unhöflich sein, sie ist ja wirklich eine hübsche Gitarre. Ich dachte einfach, das ist ein cooler Name. Die anderen Gitarren sind bislang namenlos." Musik "Falling" "Ich fühle mich sehr britisch – also nein - bewusst beeinflussen mich meine ugandischen Wurzeln nicht. Ich denke, ein bisschen was von Uganda ist schon in meinem Blut. Es beeinflusst meine Art, Gitarre zu spielen, wie ich singe und die Rhythmen. In meiner Musik ist etwas von Uganda, etwas Afrikanisches." "Es wäre toll, wenn der Song als Protestsong verwendet würde" Aufgewachsen in einem wohlsituierten weißen Londoner Stadtteil fiel Michael Kiwanuka auf – mit seiner dunklen Hautfarbe und dem Namen, den viele Briten nicht richtig aussprechen konnten. In "Black Man In A White World" verarbeitet er diese Zeit. "Es geht um Identität, sich von der Masse abzuheben und etwas Einzigartiges über sich selber herauszufinden und darauf dann stolz zu sein. Es geht darum in welcher Beziehung Menschen zu einander stehen. Jeder ist anders, aber es ist leichter sich anzupassen. Und deswegen ist es beängstigend aus dieser Masse herauszutreten. Finde deine eigene Musik - ohne Rücksicht auf Trends. Versuche, deine eigene Mode zu finden, egal was die Leute sagen – aber auch Herkunft und Sprache. All das macht aus, wer du bist. Es gibt eine Zeit im Leben – während der Jugend -, in dem du dich besonders authentisch ausdrücken willst. Das scheint zunächst simpel, aber es ist manchmal wirklich hart. Ich denke, damit habe ich gerungen. Darum geht es in dem Song." Musik "Black Man In A White World" In dem Stück "Black Man In A White World" - wie gerade gehört – wiederholt der Backround-Chor die Titelzeile fast durchgängig und ist begleitet von drängendem Klatschen. Beides Stilmittel, die an die Tradition von afroamerikanischen Gospels und Spirituals erinnern. Angesichts der jüngsten rassistischen Gewaltausbrüche in Amerika und rechter Tendenzen in Europa trifft der Afro-Brite damit den Nerv der Zeit. "Den Song habe ich ursprünglich nicht als Protestsong geschrieben. Aber es ist wirklich cool, wenn Musik oder jegliche andere Art von Kunst auf diese Weise von Menschen verwendet wird. Ich denke es wäre toll, wenn der Song als Protestsong verwendet würde." Musik "I'll Never Love" "Der Begriff Retro-Soul ist ein bisschen nervig" Erst mit etwas Zeit entfaltet sich beim Hören die Vielschichtigkeit und Tiefe von Kiwanukas Musik. Abseits vom Zeitgeist hat er einiges ausprobiert und damit seine musikalische Identität erweitert. Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen, hofft er, dass bis zum nächsten Album nicht noch einmal vier Jahre verstreichen. Zunächst kann er sich aber mit wiedergefundener Gelassenheit den Vergleichen mit Soul-Ikonen - wie Marvin Gaye oder Isaac Hyes - stellen. Die zehn Stücke auf "Love and Hate" von Michael Kiwunaka zeigen, wie Soul-Musik von heute klingen kann. "Der Begriff Retro-Soul ist ein bisschen nervig. Ich habe mit dem Album versucht, dem zu entkommen. Offensichtlich gibt es in meiner Musik Einflüsse aus der Vergangenheit. Aber als ich im Studio war, haben wir versucht mit Schlagzeug-Sounds und Aufnahmetechniken, es so frisch wie möglich zu machen. Ich versuche, den Begriff des Retro-Soul abzuwenden, indem ich eben kreativ bin. Ja, es ist ok. Es macht mir nichts aus, aber eines Tages wird einfach nur Soul sein." Mit Beyoncé im Gitarren-Koffer, seiner fünfköpfigen Live-Band und seinen beiden Alben ist Michael Kiwanuka zur Zeit auf Europa-Tour. Im November spielt er in Berlin, München und Köln. Das war "Rock et cetera": Michael Kiwanuka – Der schwere Weg zum zweiten Album. Eine Sendung von Constanze Pilaski, Technik Sylvia Kraus und Holger Schneider, Redaktion Tim Schauen. Musik "The Final Frame"
Von Constanze Pilaski
Michael Kiwanuka ist nicht einmal 30 Jahre alt, Brite mit ugandischen Wurzeln und hat sich dem Soul verschrieben. In diesem Sommer hat er sein zweites Album "Love and Hate" veröffentlicht. Nach seinem erfolgreichen Debüt vor vier Jahren hatten sich Druck und Selbstzweifel bei ihm aufgebaut. Dem Soul ist er treu geblieben.
"2016-10-02T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:56:13.233000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/michael-kiwanuka-eines-tages-wird-es-einfach-nur-soul-sein-100.html
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Eine ganz andere Weihnachtsgeschichte
Willkommens-Schild an der Turnhalle Mainstraße in Köln (Andrea Schültke ) Sonntag, 1. Advent. Ein ruhiges Wohngebiet im Kölner Süden. Viele Mehrfamilienhäuser. Mittendrin ein Schwimmbad. Gleich daneben eine moderne Dreifachturnhalle. Ein Blick durch ihre großen Fenster zeigt Menschen in dunklen weiten Hosen und weißen Kitteln. Sie halten ungewöhnliche Bogen, am Ende der Halle stehen Zielscheiben. Hier trainiert die Kyudogruppe Köln. Japanisches Bogenschießen. Es wird ihr vorerst letztes Training in der Mainstraße sein. Denn zwei Tage vorher hat die erste Vorsitzende Karin Körner erfahren: die Halle wird zur Notunterkunft für Flüchtlinge. "Das war insofern auch etwas emotional fordernd, weil wir überlegt haben können wir überhaupt weitermachen. Wenn Sie das nicht regelmäßig machen, nicht oft genug machen, was hat das für Folgen für Ihren Sport? Es ist eine Körper-Geist-Seele-Geschichte. Diese Bewegungen, die man im Kyudo macht sind keine Alltagsbewegungen . Das heißt, man muss sie sich immer wieder abverlangen, weil Kyudo entwickelt sich kontinuierlich. Das heißt, man kann es nicht irgendwann und dann macht man das eben immer, sondern man entwickelt sich pro Training, pro Training, pro Training. Es ist nicht so einfach für eine lange Zeit diese Bewegungen nicht zu machen. Man fängt natürlich nicht bei null wieder an, aber es ist schon eine sehr anspruchsvolle Körpertechnik, die da zu exerzieren ist und deswegen ist die Kontinuität der Übungen sehr, sehr wichtig." Und von dieser Kontinuität kann am 1. Advent keine Rede sein. Das gilt auch für die Cologne Kangaroos. Die Handballer tragen sonntags in der Halle Mainstraße immer ihre Ligaspiele aus. Am 1. Advent zum letzten Mal. Verständnis bei Bernd Rölle, dem 1. Vorsitzenden der Cologne Kangaroos: "Am 1. Advent haben wir unser letztes Meisterschaftsspielwochenende dort gehabt und haben schon gesagt: ab Montag ist es zu. Es war natürlich sehr kurzfristig aber die Flüchtlinge kommen kurzfristig und man kann nicht sagen: jetzt schlaft mal zwei Wochen unter freiem Himmel und dann haben wir die Halle auch soweit und wir haben noch ein bisschen trainiert. Es geht nicht anders. Man muss es leider so hinnehmen wie es ist." Bernd Rölle (Andrea Schültke ) Außer den Handballern und der Kyudogruppe haben drei weitere Vereine die Halle an der Mainstraße nachmittags und an den Wochenenden genutzt, so die Stadt Köln. Tagsüber war die erst kürzlich renovierte Dreifachturnhalle reserviert für 1 400 Kinder und Jugendliche der drei benachbarten Schulen und für ihren Sportunterricht. Vorbereitungen für den Einzug laufen Sonntag, 2. Advent. Die katholische Kirche in der Nähe lädt zum Adventsgottesdienst. Die Vögel zwitschern, sonst ist es ruhig in der Mainstraße. Ein Blick in die Turnhalle ist von außen jetzt nicht mehr möglich. Auf den großen Fenstern klebt inzwischen eine blickdichte Folie. In der Halle brennt Licht. Mehr ist von den Vorbereitungen für den Einzug der Flüchtlinge nicht zu erkennen. Das ändert sich am nächsten Tag: Seit einer Woche ist die Halle für den Sport geschlossen. Nun werden auch außen die Vorbereitungen sichtbar für den Einzug der Flüchtlinge. Drei Männer errichten einen mobilen Bau-Zaun. Zu zweit tragen sie die zwei Mal drei Meter großen Stahlelemente und stecken sie in Betonfüße. "Können Sie mir sagen, was hier passiert? - Ich bin nicht berechtigt, Ihnen Antworten zu geben, am besten gehen Sie zur Schulleitung rein. Danke. Gerne." Blickdichte Folie auf den Fenstern (Andrea Schültke ) Eine der drei benachbarten Schulen, eine Grundschule, grenzt direkt an die Turnhalle. Die Rektorin dort werde ich später noch treffen. Am Nachmittag ist klar: der Bauzaun soll den Eingang zur Schule abgrenzen von dem Eingang zur Turnhalle. Dafür sorgt eine weiße Plastikplane. Sie ist über die Stahlelemente gespannt. Der Bauzaun als Sichtschutz. (Andrea Schültke ) Am nächsten Morgen schauen die Kinder auf dem Weg zur Schule neugierig den neuen Zaun an. Eine Tür zur Turnhalle steht offen, gibt den Blick frei auf das, was in den vergangenen Tagen dort passiert ist. Die Sporthalle ist zur Notunterkunft geworden. Keine Privatsphäre Nagelneue, dunkle Feldbetten stehen dicht an dicht auf dem hellen Holz, das den eigentlichen Hallenboden schützend abdeckt. Trennwände zwischen den Betten gibt es nicht, aus Brandschutzgründen. Keine Privatsphäre in der Schlafstatt für 200 Menschen. Wann sie kommen ist unklar. Es kann nicht mehr lange dauern. Die geöffnete Hallentür mit Feldbetten. (Andrea Schültke ) Mittlerweile hat die Stadt Köln nach eigenen Angaben 14 Turnhallen als Notunterkünfte für Flüchtlinge bereitgestellt, drei weitere kommen bis zum Jahresende hinzu, heißt es. Zehn Toiletten und zehn Duschen Turnhallen, die zur Notunterkunft werden, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, schreibt die Stadt. Wichtig sind demnach Zustand und Anzahl der Sanitäranlagen. In einer Dreifachturnhalle müssen für Männer und Frauen jeweils mindestens zehn Toiletten und zehn Duschen zur Verfügung stehen. Gibt es die nicht, muss auf dem Außengelände Platz da sein, für zusätzliche mobile Sanitärcontainer. Außerdem ist Raum für die Essensausgabe nötig. Die Halle soll möglichst am Rand des Schulgeländes liegen, damit der Schul- und Pausenbetrieb reibungslos ablaufen kann. So die Infos der Stadt Köln. Offenbar erfüllt die Turnhalle Mainstraße diese Kriterien. Aber wie sieht das in der Praxis aus? Wie wird aus einer Turnhalle eine Notunterkunft für Flüchtlinge? Und wie leben die Menschen dort? Ich bekomme die Erlaubnis, Antworten zu finden. Darf in die Notunterkunft. Und das, obwohl am Morgen tatsächlich die ersten Flüchtlinge in der Mainstraße angekommen sind. "Keine Töne, keine Fotos, Sie stehen mitten im Wohnzimmer dieser Menschen". Diese Infos gibt mir die Dame vom sozialen Dienst der Stadt noch am Telefon. Dann nennt sie mir einen Ansprechpartner vor Ort. Freundliche Begrüßung an der Tür (Andrea Schültke ) Dort angekommen melde ich mich beim Wachdienst in der Eingangshalle. Der bringt mich zum Heimleiter: "Mein Name ist Alfred Hungenbach, ich arbeite für das DRK hier in Köln und betreue die Mainstraße. Das ist eine Dreifachturnhalle, das ist Standard hier in Köln bei den Turnhallen als Notunterkünfte für 200 Menschen." "Was sehen wir, wie sieht das aus?""Man sieht eine leere Turnhalle gefüllt mit Feldbetten und Spinden. Heute sind die ersten Flüchtlinge angekommen. Heute 37 Flüchtlinge." "Woher kommen die Menschen?""Aus anderen Notunterkünften in NRW und aus den Ländern her in der Hauptsache aus Syrien und Afghanistan." "Wie verständigen Sie sich?""Ich hab zwei Hände und komme ganz gut klar, es war noch nie ein Problem mit der Verständigung. "Das ist jetzt so aufgeteilt, eine Dreifachhalle dazwischen Wände runterlassen mehr gibt es nicht?""Wir werden die aufteilen für Familien, hier werden nur Familien untergebracht, keine allein reisenden Männer und wir werden gleich die Betten so zusammenschieben, dass eine Familie vier, fünf, sechs Betten so eine Art Block haben, so ein bisschen separat sind aber ohne Sichtschutz so sechs Betten zusammen, so dass sie ein bisschen wissen, wo sie hingehören. Dann bekommen die Bettwäsche von uns, alles neu und dann richten sie sich ihre Liege ein und ein Spind da können sie ihre Privatsachen abschließen und dann gibt es was zu essen und zu trinken und dann heißt es erst mal warten." "Worauf?""Auf die nächsten Akte, die jetzt passieren müssen, die sind alle neu nach Köln gekommen, müssen registriert werden, zum Sozialamt Krankenscheine und Geld holen, müssen angemeldet werden, das sind die nächsten Gänge, die hier in Köln passieren." Essen nach Ampelsystem Unter den 200 Menschen in einer Notunterkunft Turnhalle seien in der Regel 80 Kinder von null bis achtzehn Jahren, erzählt Heimleiter Hungenbach weiter. Wir gehen in Richtung Essensausgabe. Ein Cateringdienst beliefere alle Notaufnahmen des Roten Kreuzes in Köln "Wir sehen den dritten Teil der Dreifachturnhalle. Zwei Teile mit Betten belegt , im dritten Teil... der dritte Teil ist teilweise auch noch mit Betten belegt und der Rest ist für die Essensausgabe vorgesehen." "Hier sehen wir jetzt Menschen, die da sitzen, teilweise auch mit dem Kopf auf dem Tisch sich ausruhen vielleicht können Sie mir die Essensausgabe zeigen..." "Wir haben hier ein Ampelsystem entwickelt mit 5 verschiedenen Farben, weil nicht alle auf einmal kommen sollen, sondern immer 30/40 Personen. Die kriegen von uns Bändchen in einer Farbe und dann können die zu den Zeiten eine halbe Stunde in Ruhe essen und dann kommt die nächste Gruppe dran. Abendessen die Farbe Grün hat ...von 16.30 bis 17 Uhr, die Farbe Gelb als letzte von 18.30 bis 19 Uhr. Dasselbe gibt es auch für Frühstück und Mittagessen. Ein grünes Armband für die Essensausgabe (Andrea Schültke ) So also hier ist jetzt der Bereich der Umkleiden. Jetzt sind wir bei den Frauenduschen, da sind Schilder, da steht in verschiedenen Sprachen drauf. Englisch, deutsch, arabisch, Farsi, zwei Toiletten, drei Duschen nebeneinander, manchmal fünf Duschen, das ist bei jeder Turnhalle anders." "Für Frauen und Kinder stehen jetzt zwei Toiletten und drei Duschen zur Verfügung?" "Hier in diesem Duschraum, es gibt noch separate Toiletten , die haben nichts mit dem Duschraum zu tun." "Drei Duschen, mehr gibt es nicht?" "Sechs Duschen zweimal, für die Herren also 12 Duschen insgesamt." "Gibt es da auch Bändchen und Pläne?" "Nein, das können die Menschen 24 Stunden rund um die Uhr benutzen, die stehen einfach offen." Grundversorgung sicherstellen Hausmeister seien bis nach Mitternacht in der Unterkunft im Einsatz. Sie würden auch die Sanitäranlagen reinigen. Ein Wachdienst ist rund um die Uhr vor Ort. Er selbst bleibe nur zwei oder drei Tage Heimleiter der Notunterkunft Mainstraße, erzählt Alfred Hungenbach: "Weil dann mache ich die nächste Turnhalle auf diese Woche, die Westerwaldstraße und nächste Woche noch zwei andere Turnhallen." "Sie sind dann immer der Heimleiter für den Anfang." "Ich bringe das zum Laufen und dann geht es in die nächste Turnhalle." "Turnhallen sind ein Notbehelf, wenn man ganz schnell viele Menschen unterbringen muss, richtig?" "Die Turnhallen sind einfach unter dem Gesichtspunkt zu sehen 'Vermeidung von Obdachlosigkeit' Wir bieten einen warmen Platz an, ein Bett, etwas zu essen und sorgen mit der Sozialberatung für medizinische Versorgung, Krankenschwester vor Ort oder Ärzten. Mehr darüber hinaus ist schön, aber mehr ist im Moment nicht möglich." Respekt vor Leistung der Flüchtlinge Davon konnte sich auch Karin Körner ein Bild machen. Die Kyudogruppe Köln hat ihre Gerätschaften noch in einem separaten Raum in der Halle Mainstraße gelagert. Daher war sie auch dort, nachdem die Flüchtlinge eingezogen waren. "Zunächst haben wir gesehen, dass unser Verlust, der Verlust unserer Räumlichkeiten anderen Menschen zu Gute kommt. Und mit solchen Verlusten kommt man immer besser zu Recht wenn man weiß, dass das für etwas gut ist und nicht einfach nur vergebens. Und insofern hat dann der Geist, dass wir jetzt helfen müssen und vor allem der Respekt vor den Leuten, was die eigentlich leisten um dort untergebracht zu werden, das hat die Sache dann nochmal in ein ganz anders Licht gebracht." "Sie waren in Halle, und haben sich einen Eindruck verschaffen können von den Menschen und der Situation - was haben sie bemerkt, festgestellt?""Uns hat schon schockiert, dass eine für unsere Vorstellungen unendlich große Zahl von Menschen da Feldbett an Feldbett und Schrank an Schrank miteinander leben müssen, bar jeder Intimität, jeder Privatheit und haben uns schon vorgestellt: Was ist das für eine Herausforderung für diese Leute mit dieser Situation fertigzuwerden. Und vor diesem Hintergrund sind fast unsere Ängste und Bedenken und unser Ärger, Ärger war es durchaus auch, dass wir diese Halle verlieren, diese Bedenken sind etwas gewichen zugunsten des Respekts der Leute, die dort mit dieser Lebenssituation zu Recht kommen müssen." Stadt lädt zur Infoveranstaltung Bestimmt 200 Personen sind in die Aula des Gymnasiums neben der Turnhalle gekommen. Die Stadt hat die Anwohner und alle von der Hallenschließung Betroffenen zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Schulleiterinnen sind da, viele Eltern von Kindern und Jugendlichen der drei Schulen, die sonst in der Turnhalle Sportunterricht haben. Auch viele Mitglieder der örtlichen Willkommensinitiative. Sie haben schon am Eingang Infoblätter verteilt. Nach der Begrüßung durch den Moderator hält Josef Ludwig seinen Einführungsvortrag. Er ist kommissarischer Leiter des Kölner Amtes für Wohnungswesen und zuständig für die Unterbringung von Flüchtlingen. Er zeigt den Zuhörern viele Tabellen, Listen und Grafiken. Darauf, die Zahlen der Flüchtlinge, die in diesem Jahr nach Köln gekommen sind - doppelt so viele wie im Vorjahr. "Obdachlosigkeit vermeiden" Bis zum Monatsende werden es 10 500 Menschen sein. Allein im Dezember erwartet Josef Ludwig jede Woche 400 Flüchtlinge, die ein Obdach brauchen. Dann berichtet er noch von den Schwierigkeiten, Grundstücke für den Bau von Heimen zu finden und warum welcher leerstehende Baumarkt nicht für die Unterbringung genutzt werden kann. Am Ende habe ich den Eindruck die Turnhallen würden nicht zur Notunterkunft umfunktioniert, wenn sie nicht wirklich gebraucht würden. Die Sportvereine ärgert allerdings, dass sie von der Schließung ihrer Halle immer erst ganz kurzfristig erfahren. Im Interview nach dem Infoabend schildert Josef Ludwig den Grund: "Wir haben eine Notsituation wir müssen Obdachlosigkeit vermeiden und ich muss abwägen zwischen dem hohen Gut ein Obdach zu haben und dem Gut Schulsport und Vereinssport ausüben zu können. Und dieses tu ich immer dann, wenn diese Abwägung notwendig ist und nicht schon Wochen vorher und die Abwägung fällt regelmäßig für das Obdach aus. Obdachlosigkeit darf es nicht geben in Köln im Flüchtlingsbereich und deshalb nehme ich dann in Notsituationen Turnhallen." "Bieten Sie einen Ersatz an den Vereinen oder den Schulen, die in diesem Fall davon betroffen sind?""Es wird von der Stadt von anderen Ämtern , dem Amt für Schulentwicklung, dem Bürgeramt und dem Sportamt geprüft, ob es Ersatzangebote geben kann, aber realistischerweise muss man zugeben, dass mit der Vielzahl von Turnhallen, die wir zurzeit belegen, keinen hundertprozentigen Ersatz anbieten kann. Es gibt Einschnitte im Schulsport und auch im Vereinssport. Auch außerhalb von Turnhallen kommen einige Unterbringungen wieder in die Belegung rein und wir werden sehen müssen, ob wir genug produzieren um die Flüchtlingszahlen im Januar auffangen zu können, ohne Turnhallen zu belegen." "Ein Dach über dem Kopf wird es immer geben" "Viele Turnhallen sind baufällig und möglicherweise auch deshalb nicht geeignet für die Unterbringung von Flüchtlingen. Kommt das jetzt noch hinzu, der Renovierungsstau?""Wir haben von den 270 städtischen Turnhallen knapp 170 ausgeschlossen, weil sie aus vielfältigen Gründen nicht in Frage kommen, nur ca. 100 Turnhallen stehen aus baulichen Gründen für die Belegung mit Flüchtlingen zur Verfügung. Und es gibt natürlich noch einen Renovierungsstau in einigen Hallen, einige sind gesperrt. Das erhöht natürlich noch den Druck auf die Vereine und auf den Schulsport." "Eine logistische Frage. Da stehen ganz viele Feldbetten, die neu waren. Wenn Sie sagen, es ist ganz schwierig überhaupt noch an diese Materialien zu kommen - woher bekommen Sie dann überhaupt noch Feldbetten?""Wir arbeiten hier sehr eng mit der Feuerwehr zusammen, die auch für den Katastrophenschutz Feldbetten vorrätig hält und wir bestellen in tausender Chargen diese Feldbetten, lagern die selber und ziehen sie dann heran, wenn es notwendig ist. Also da haben wir mittlerweile auch längere Lieferzeiten aber wir haben eine Vorratshaltung, die uns jetzt zu Gute kommt." "Also ein Bett bekommt jeder Flüchtling?""Ein Bett und ein Dach über dem Kopf wird's in Köln immer geben, ja." Hilfsbereitschaft ist groß Das erinnert irgendwie an die Weihnachtsgeschichte. Es muss ein Obdach gefunden werden. Aber das war den meisten der 200 Zuhörer in der Aula ohnehin schon vorher klar. Sie waren aber offenbar mit einem ganz anderen Anliegen gekommen: Sie wollten helfen. Ganz viele Wortmeldungen drehten sich um die Frage: Was können wir tun, an wen müssen wir uns wenden, wie können wir mit den Flüchtlingen Kontakt aufnehmen und wann? Auch Hildegard Höhfeld-Kalter war nach der Veranstaltung umringt von Menschen. Alle wollten der Direktorin einer der drei benachbarten Schulen ihre Hilfe anbieten wollten. Unterstützung für die Schulkinder, die nun keinen Sportunterricht in der Halle mehr haben. "Wann haben Sie erfahren, dass Sportunterricht ausfällt und wie haben Sie darauf reagiert?""Wann spielt 'finde ich' keine Rolle, weil wir alle wussten irgendwann kann das passieren, aber wir haben so reagiert, dass unsere Sportfachkonferenz sich sofort zusammengesetzt hat und wir haben das Thema 'Sport gibt's auch ohne Halle' ausgegeben und jetzt sind wir mal kreativ und überlegen, wie wir mit den Kindern Sport ohne Halle machen können. Zum Beispiel eine Kollegin im ersten Schuljahr hat mit den Erstklässlern Übungen in der Pausenhalle mit Bällen gemacht. Wir haben so kleine gute Bälle, die dann auf den Füßen und Balancierübungen und Ballwerfen hoch also das geht wir haben Schwimmunterricht nach wie vor das Schwimmbad ist ja hier also unsere Lehrer sind einfach kreativ, es gibt so viel Bewegungsmöglichkeiten für Grundschüler, die man nicht unbedingt in der Halle machen muss. Und wir haben jetzt auch noch mal herausgekramt - es gab ja früher nicht überall Hallen an Schulen, da gibt's ein kleines Büchlein "Sport im Klassenraum". Das haben wir für alle kopiert und daraus kann man auch nochmal was machen. Und wir haben noch die Idee gehabt, Sportprojekttage zu machen also wir fahren einen Tag in die Kletterhalle, also einmal im Monat einen Sportprojekttag. Das sind so, was mir spontan einfällt." "Auch die Eltern rennen Ihnen nicht die Tür ein und schimpfen?""Sie rennen nicht die Tür ein. Es sind wirklich nur ganz, ganz Wenige, Vereinzelte, die sich ein bisschen kritisch äußern. Aber die kann man wirklich an einer Hand abzählen. Die meisten sind ungeheuer positiv wollen helfen und sehen einfach die Lage als, die ist jetzt so an und wir müssen damit fertig werden. Also ich hab eben noch mit einem Vater unserer Schule gesprochen der gesagt hat, ich weiß noch, was meine Großmutter, die geflohen ist in der Nachkriegszeit mir erzählt hat. Wir sind doch so glücklich, dass wir eine Generation sind, die ohne Krieg und Flüchtlingssituation aus einem Erleben aufwachsen konnten also wir sind positiv eingestellt." Wir sind positiv eingestellt heißt: Wir machen das Beste aus der Situation. Und das scheint für die Schulen wesentlich einfacher als für die Vereine. Denn wenn es um Ersatz-Hallenzeiten geht, haben die Schulen Vorrang. Die Stadt ist nämlich nicht nur verpflichtet Obdachlosigkeit zu vermeiden. Sie muss auch den Schulunterricht sicherstellen, in diesem Fall im Fach Sport. Das bedeutet für die Mitarbeiter des Schulamtes: freie Kapazitäten in umliegenden Turnhallen finden oder auch Räume bei kommerziellen Anbietern anmieten. Ersatz gefunden Zehn Tage nach der Hallenschließung: Auch für die Kyudogruppe Köln hat sich die Situation ein wenig entspannt. Die schlimmsten Befürchtungen von Karin Körner haben sich nicht bestätigt. Für ihre 40 Bogenschießkünstler gibt es einen kleinen Ersatz. Immerhin eine Trainingseinheit anstatt der bisher drei ist möglich: "Hilft Ihnen das denn?""Das hilft uns enorm, weil wir erst mal überhaupt weiter bestehen können, wir hatten ja anfangs überlegt, das war's jetzt. Wer weiß, wann wir wieder irgendwann mal Kyudo machen können. Das hat uns sehr ermutigt und gefreut und ein Drittel ist besser als gar nichts. Das haben wir erst gar nicht zu hoffen gewagt. An drei Plätzen haben wir jetzt also Ausweichmöglichkeiten. Das Problem ist, dass wir in unserer Bogenschießkunst auf 28 Meter schießen. Das heißt wir brauchen mindestens eine Distanz von 35 Metern, weil wir haben Sicherheitsbedingungen für die Räume, wir müssen auch noch bestimmte Bewegungen durchführen um überhaupt zum Schießen zu kommen, bestimmte Zeremonien. Kyudo ist also nicht nur schießen sondern auch eine Bewegungskunst und es ist auch eine Bewegungsform damit verbunden, deswegen brauchen wir diesen großen Platz und Plätze diesen Umfangs sind einfach nicht so schnell und so leicht zu bekommen." Auch kleine Vereine ernst genommen "40 Personen sind in Ihrer Gruppe und wenn ich die Stadt Köln höre, die im Dezember jede Woche 400 Flüchtlinge aufnehmen muss. Haben Sie den Eindruck gehabt, Sie sind trotzdem mit Ihrem Anliegen ernst genommen worden? Oder haben Sie vielleicht den Eindruck gehabt, die haben gerechnet 40 Kyudoleute, die sollen sich nicht so anstellen?""Ich war sehr überrascht weil ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass dieser kleine exotische Verein von dem noch nicht mal alle Leute wissen, was die da überhaupt treiben, vielleicht eine Sekte oder Ähnliches, wer weiß, was die da für Rituale haben. Ich hatte fast damit gerechnet dass es heißt: erst Mal kommen die großen Vereine, da war ich sehr angenehm überrascht, dass die Stadt Köln uns gleichwertig behandelt hat. Ich war auch zugegen als die Pläne ausgehandelt wurden wer macht was. Das hat mich sehr gefreut, dass wir doch eben nicht hinten runtergefallen sind." Doppeltes Flüchtlingserlebnis "Jetzt ist Weihnachtszeit, ich denke an Maria und Josef, Obdach und Herberge - Ihre Gruppe kann sich jetzt ja mit sagen, wir haben mit anderen dafür gesorgt, dass kurz vor Weihnachten viele Menschen eine Herberge haben, ein Dach über dem Kopf.""Interessanterweise war das ja ein doppeltes Flüchtlingserlebnis. Wir sind gewichen, um Flüchtlingen einen Raum zu geben und wir waren selber Flüchtlinge und suchten ein Obdach und haben das von der Stadt bekommen. Insofern haben wir nun beide Aspekte dieser Flüchtlingsidee erlebt das haben wir uns dann irgendwann auch gesagt und konnten irgendwann darüber lachen." Die Cologne Kangaroos sind der kleinste Handballverein Kölns, mit 70 Mitgliedern, erzählt ihr 1. Vorsitzender Bernd Rölle. Auch für sie gibt es ein Ausweichquartier. Die erste Herrenmannschaft hat für ihre Liga-Spiele in der Handball-Kreisklasse Zeiten in einer anderen Halle bekommen. Aber die sechs bis acht Trainingsstunden pro Woche in der Halle Mainstraße fallen für seinen Verein aus, so der 1. Vorsitzende der Handballer: "Was machen Ihre 70 Mitglieder – wie gehen die mit der Situation um?""Ich hab am Anfang gedacht, da wird bestimmt der ein oder andere sich beklagen und sagen, das geht doch nicht und die Flüchtlinge sollen da bleiben wo sie sind. Hab ich so ein bisschen mit gerechnet, ist aber nicht passiert. Also tatsächlich haben die Leute, mit denen ich gesprochen habe, von denen ich gehört habe alle ein Einsehen und sagen jawohl wir müssen helfen, es geht ja nicht anders, die Leute können ja nicht unter freiem Himmel schlafen und ich habe dann auch mal die Gegenfrage gestellt bei dem ein oder anderen wollt ihr vielleicht tauschen? Und dann sagen alle besser nicht, das ist kein Leben, die haben's schon schwer genug. Wenn das für eine bestimmte Zeit ist – und das muss die Maxime sein – es kann nur für eine bestimmte Zeit sein, müssen wir uns damit arrangieren, dass wir die Halle nicht zur Verfügung haben. Es darf nur keine Dauerlösung sein, aber ich habe nicht das Gefühl, dass das eine Dauerlösung werden soll. Es wird ja überall gebaut und gewerkelt und versucht andere Unterkunftsmöglichkeiten zu finden und ich hab das Gefühl, das wird bald greifen. Hier im Kölner Norden entstehen gerade einige Flüchtlingsunterkünfte. Vielleicht ist das ein Modell für noch mehr Lösungen dieser Art, dass die Turnhallen den Vereinen wieder zurückgegeben werden, weil das kann man eine Zeitlang kompensieren aber nicht dauerhaft, dann gehen die Vereine kaputt." "Warum gehen die Vereine kaputt?""Wenn man nicht mehr trainieren kann fällt die ganze Sache auseinander. Man kann nicht einen Meisterschaftsbetrieb machen ohne dass man die nötigen Trainingszeiten hat, ohne dass man sich darauf vorbereiten kann. Sobald man nicht vernünftig trainiert beginnt man die Spiele zu verlieren und nach und nach steigt man ab. Und die Leute verlieren die Lust und hören auf." Handballer sind solidarisch "Haben auch schon Mitglieder Ihres Vereins angedeutet, wenn das länger dauert, trete ich aus?""Nein, das nicht. Da ist auch die Solidarität unter den Handballern so groß, dass man nicht solche Entscheidungen fällt. Im Übrigen, wenn man zu einem anderen Verein geht kann es sein, dass da morgen die Halle auch geschlossen wird. Handballer sind in der Regel so eingestellt, dass sie sehen wo ist Not und das auch akzeptieren und sagen, da müssen wir helfen. Natürlich hätten wir gern unsere Halle noch, aber man muss auch der Realität ins Auge schauen." "Fühlen Sie sich von Behörden gut informiert und gut aufgefangen?""Also wir sind sofort informiert worden sobald die Stadt wusste was passiert. Das ist umfassend gemacht worden, es hat eine Infoveranstaltung gegeben man hat sofort nach Lösungen gesucht, wie der Spielbetrieb weitergehen kann, hat uns sofort eine Alternativhalle zur Verfügung gestellt für Meisterschaftsspiele am Wochenende. Trainingszeiten, da kann man halt nichts machen, aber ich habe das Gefühl, dass die Stadt da die Mitarbeiter sich sehr bemühen zu helfen und nicht zu sagen ist mir doch egal, die Vereine interessieren uns nicht, uns interessieren nur noch die Flüchtlinge ich hab schon das Gefühl, dass die Mitarbeiter der Stadt sich sehr bemühen." "Wenn Sie sich in Sachen Sport und Flüchtlinge etwas wünschen könne, was wäre da ihr Wunsch?""In Sachen Sport natürlich klar, dass wir unsere Halle irgendwann wiederbekommen und für die Flüchtlinge, dass sie irgendwo unterkommen und menschenwürdig leben können und was das wichtigste ist, dass ihnen in ihrer Heimat so geholfen wird, das sie dableiben können weil ich glaube nicht, dass die meisten der Flüchtlinge große Lust haben ihre Heimat zu verlassen, weil Heimat ist was Wichtiges und ich glaube nicht, dass die Leute aus einer fixen Idee heraus die verlassen. Sondern die Not muss schon sehr groß sein dass man sagt: ich lasse alles zurück nehme meine zwei Kinder und eine Handtasche und gehe Richtung Westen." "Ist der Sport solidarisch?""Auf jeden Fall ist er solidarisch man muss nur aufpassen, dass er über der Solidarität nicht kaputt geht. Da muss man natürlich Lösungen finden. Alle ziehen an einem Strang aber man muss natürlich sehen: Was kann man machen und wie kann man die Situation für die Verein verbessern ohne die Flüchtlingsproblematik außer Acht zu lassen." "Situation für Verein verbessern – was wäre das? Wie könnte das aussehen?""Die Situation kann man natürlich nur verbessern indem man den Weg zurück in die Hallen findet, das heißt für die Flüchtlinge vernünftige, menschenwürdige Unterkünfte schnell errichtet, ich weiß nicht wie das schnell gehen soll, aber so müsste es sein, so dass die Hallen wieder ihrer ursprünglichen Nutzung zugeführt werden können. Dafür sind sie ja gemacht und die Unterkunft für Flüchtlinge in den Turnhallen kann nur eine kurzfristige Lösung sein." "Ist ihrem Verein bisher schon finanzieller Schaden entstanden?""Nein solange wie unsere Mitglieder nicht sagen wir verlassen den Verein entsteht uns dadurch erst Mal kein Schaden. Das befürchte ich auch nicht, wir müssen als kleiner Verein natürlich sehen , wo wir bleiben, wir haben schon mit Hallennutzungsgebühren zu kämpfen, die wir jetzt hoffentlich nicht bezahlen müssen, weil wir die Halle ja nicht nutzen können, aber ich denke mal, da wird sich eine Lösung finden und der Verein wird mit dieser Situation zu Recht kommen und irgendwann werden wir in die Hallen zurückkommen und dann geht wieder normal weiter." Für bedrohte Vereine soll es nun einen Notfalltopf der Stadt in Höhe von 110 000 Euro geben. Damit sollen Verbandsstrafen wegen Spielabsagen im Ligabetrieb ausgeglichen werden. Oder auch Honorarforderungen von Trainern und Übungsleitern aufgrund ausgefallener Kurse oder auch Einnahmeverluste durch Vereinsaustritte. Jeder betroffene Verein kann aus diesem Topf maximal 4000 Euro bekommen. Alle Kommunen in Deutschland stehen zurzeit vor einer riesengroßen Aufgabe. "Obdachlosigkeit vermeiden" höre ich immer wieder. Das ist die Pflicht der Behörden. Aber nicht alle Kommunen greifen in dieser Notsituation auf Turnhallen zurück. Freie Sportplätze als Lösung Andreas Bomheuer ist Dezernent für Kultur Sport und Integration der Stadt Essen. Bei einem Telefonat erzählt er, die Ruhrgebietsmetropole habe als Ultima Ratio vorübergehend drei Turnhallen als Notunterkunft herrichten müssen. Das sei im Vorfeld mit den Betroffenen besprochen worden - zwei Schulen und neun Vereine. Mitte Dezember seien aber bereits zwei der drei Turnhallen wieder für den Sport frei gewesen, dank mobiler Unterkünfte auf Sportplätzen: "Wir haben freie Sportplätze gehabt vor dem Hintergrund, dass die Stadt Essen in den letzten Jahrzehnten sehr viele Einwohner verloren hat. Wir hatten mal 750tausend Einwohner nun sind wir bei 580tausend Einwohnern. Vor diesem Hintergrund fahren wir eine Strategie dass wir sagen, wir wollen Sportvereine auf einem Platz konzentrieren, damit wir die Plätze sinnvoll nutzen. Aus zwei Sportplätzen machen wir einen und da das System längere Zeit läuft, haben wir freie Sportplätze gehabt. Die Sportplätze haben insofern den Vorteil, als Erschließungskosten mit Elektro, Wasser Abwasser natürlich schon liegt." Also keine weiteren Kosten entstehen. Die Situation scheint nicht vergleichbar mit der in Köln. Die viertgrößte Stadt Deutschlands bekommt im Gegensatz zu Essen immer mehr Einwohner dazu und sucht nach Darstellung der verantwortlichen Behörde händeringend nach Grundstücken für mobile Unterkünfte. Diese Flächen scheint es in Essen zu geben. Turnhallen als Notbehelf waren daher in der Ruhgebietsstadt offenbar nur kurzzeitig ein Thema: "Vor allen Dingen haben wir dadurch, dass wir die Hallen sehr schnell freigezogen haben an Glaubwürdigkeit gewonnen. Auch bei den Sportvereinen. Ich glaube, die würden das wieder mit uns machen. Und sich darauf verlassen, dass wir nicht hinterher die Vereine hängen lassen und sagen OK, jetzt haben wir mal Eure Halle und wir holen die Menschen, die wir da einquartiert haben nicht wieder raus und bringen sie anders unter. Ich glaube, wir haben diese Glaubwürdigkeit gewonnen weil wir sehr schnell gehandelt haben und immer deutlich gemacht haben, wir möchten euch so schnell wie möglich diese Hallen wiedergeben." Innerhalb von nur drei Tagen hätten die Hallen wieder für den Sport zur Verfügung gestanden. Bremen: Turnhallen als letztes Mittel Die Hallen wiedergeben. Davon kann in Bremen noch längst keine Rede sein. Bei einer Diskussion des Nordwestradios erklärte auch Petra Kodré, Leiterin des Referats für Auswandererangelegenheiten wie ihre Kollegen in anderen Kommunen: Obdachlosigkeit vermeiden sei das große Ziel und die Verpflichtung. Die Belegung der Turnhallen sei bei dem rasanten Anstieg der Flüchtlingszahlen das einzige Mittel gewesen: "In unseren Plänen ist es so, dass wir im März/April die Hallen wieder verlassen, aber das Problem ist nur, ich habe schon so viele Pläne gemacht, da kamen nie Turnhallen vor, aber die Flüchtlinge halten sich nicht an meine Pläne. Wir versuchen alles um die Hallen schnell wieder dem Sport zur Verfügung zu stellen." In Bremen seien derzeit 18 Turnhallen belegt, das seien zwei Drittel aller Dreifachturnhallen des Stadtstaates erklärte Andreas Vroom im Nordwestradio. Vereinssterben befürchtet Der Präsident des Landessportbundes Bremen malte am 9.Dezember in der Diskussion des Senders ein düsteres Bild von der Situation des Sports. Seine größte Sorge war eine nicht kalkulierbare Zahl möglicher Vereinsaustritte: Wenn zehn Prozent der Mitglieder austreten ist der Verein fertig. Das ist nicht zu kompensieren. Wir haben Fixkosten und dann fängt das Vereinssterben an und das wäre ein extrem hoher Preis für die Belegung von Turnhallen. Konkrete Zahlen über Vereinsaustritte gebe es nicht, schreibt der Deutsche Olympische Sportbund, DOSB, auf Anfrage. Laut einer Hochrechnung des Dachverbandes seien knapp 4000 der 90 000 Vereine in Deutschland von der Belegung der Sporthallen durch Flüchtlinge betroffen. Bis zum Jahresende geht der DOSB von 1000 Hallen in Deutschland aus, die als Notunterkünfte für Flüchtlinge dienen. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen) Große Erwartungen Von all diesen Zahlen, Sorgen und Befürchtungen des Sports, bekommen die Flüchtlinge in der Turnhalle im Kölner Süden nichts mit. Sie haben ganz andere Nöte und Probleme. Sonntag, 3. Advent. Es regnet, die Tropfen prasseln auf den Schirm, kein Mensch auf der Straße. In der Halle brennt Licht. Langsam wird es hell. Am Zaun zur Turnhalle hängt mittlerweile ein riesengroßes Plakat. Knallgelb der Untergrund, darauf steht ganz groß "Welcome". Bei genauerem Hinsehen wird klar: farbige Kinderhände haben sich zu den großen Buchstaben zusammengefügt. Seit fünf Tagen wohnen die Flüchtlinge mittlerweile in der Turnhalle Mainstraße. Vor dem Eingang der Halle drei Männer, sie rauchen. Einer von ihnen spricht englisch und ist bereit mit mir zu reden. Er heiße Imat erzählt er und komme aus Syrien. Er wirft einen Blick auf das große bunte Plakat. Willkommen fühlt er sich offenbar nicht, versteht nicht, warum er zusammen mit so vielen anderen Menschen in einer Turnhalle übernachten muss: "All People here, is a Problem. Why Germany go me and sleep here, why?" Schnell wird klar: Imat und seine Familie sind mit sehr großen Erwartungen nach Deutschland gekommen: "The Germany good. I come Germany very, very good, you help me, no sleep here. Germany help me I come here help me why no sleep, why no home. I need small home no big home I need close door for family." Er hat auf Hilfe gehofft hier in Deutschland und auf eine abgeschlossene Unterkunft mit Privatsphäre für seine Familie und sich. Daraus geworden sind Feldbetten in einer Turnhalle mit 200 Menschen. Imat kennt die Flüchtlings-Zahlen in Köln nicht. Woher soll er wissen, dass im Dezember jede Woche 400 Menschen wie er in Köln ankommen. Offenbar hat ihm niemand gesagt, dass die Alternative zu seinem Feldbett in der Turnhalle das Schlafen auf der Straße bedeutet hätte. Und dass in Deutschland händeringend gesucht wird nach menschenwürdigen Unterkünften für Menschen wie Imat und ihre Familien. Das kurze Gespräch macht deutlich: Es gibt hier eine riesengroße Kluft zwischen den Erwartungen und Hoffnungen mit denen die Menschen nach Deutschland gekommen sind und der Realität in einer Notunterkunft. Es gebe keinen Arzt für sein Baby, sagt Imat. "I need doctor no doctor go, go you doctor the ticket, ticket bus, no me go you why? Germany good. Why speek me this speek. I need doctor." Imat zeigt ein Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel. Wundert sich, dass er allein mit seinem Kind per Bus oder Bahn zu einem Arzt fahren soll und dass er dabei keine Unterstützung bekommt. Allerdings ist das so gewollt. Das System sei auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtet, erklärt Hanna Machulla vom Deutschen Roten Kreuz auf Nachfrage. Die Flüchtlinge seien in der Turnhalle nicht eingesperrt, könnten sich frei bewegen. Sie sollen sich so weit wie möglich eigenständig um ihre Angelegenheiten kümmern, etwas tun und nicht warten, bis sie etwas präsentiert bekommen. Zeitnah werde es auch eine Krankenschwester in der Unterkunft geben und die Sozialarbeiter vor Ort seien ansprechbar. Aber in den ersten Tagen nach Ankunft der Flüchtlinge könne es durchaus schon mal an der ein oder anderen Stelle haken. Es geht um die Grundversorgung hatte auch Heimleiter Hengenbach vor einigen Tagen erzählt: Dach über dem Kopf, ein Platz zum Schlafen, Essen und Trinken. Mehr ist nicht möglich hatte er gesagt. Infos kommen zu spät Diese Situation ist auch Klaus Hoffmann vollkommen klar. Der ehemalige Sportlehrer ist Vorsitzender des Stadtsportbundes Köln mit seinen etwa 800 Vereinen. Bei einem Ortstermin an der Halle Mainstraße wirkt auch er hin- und hergerissen: "Einmal finde ich es ganz toll, dass man hier geschafft hat, Willkommenskultur zu leben, dass man Flüchtlinge, die aus Ländern kommen, wo man um das Leben bangen muss, dass man hier zunächst eine Unterkunft gefunden hat. Andererseits, was machen jetzt meine Sportvereine, ich sag einfach meine weil der Sport in der Stadt mir sehr am Herzen liegt." Klaus Hoffmann vor dem Willkommes-Schild. (Andrea Schültke ) "270 Sporthallen gibt es in Köln, 17 davon sollen bis Jahresende belegt sein. Das hört sich nicht viel an - was bedeutet es für Sport in der Stadt?""Es muss auf jeden Fall zusammengerückt werden, aber es ist auch möglich und ist in einigen Stadtteilen so, dass Vereine nicht von heute auf morgen eine Bleibe finden so wie Weihnachten Maria und Josef auf der Suche. Die Stadt ist zwar sehr bemüht aber es wird immer schwieriger werden." "Gibt es Vereinsaustritte, haben Sie gehört, dass die Mitglieder das nicht mehr mittragen?""Ich habe davon gehört, wir hatten die betroffenen Vereine abgefragt und da waren auch Hinweise, dass es zu Austritten gekommen ist. Dem gehen wir nach und wenn das der Fall ist, müssen wir diese Vereine unterstützen. Mir liegt besonders am Herzen, dass wir Solidarität zeigen, dass Vereine auffordern "bleib bei deinem Verein wir helfen gerne aus unterstütze den Verein", der jetzt, wenn das so ist die Mitglieder nicht laufen gehen." "Wie klappt die Zusammenarbeit mit Behörden/Stadt?""Die Information kommt einfach zu spät, wie hier Mainstraße haben die Vereine sogar die Schule erst am Freitag erfahren, dass am Montag kein Schul- Vereinssport stattfinden kann. Ich war lange Sportlehrer, habe mit Plänen zu tun gehabt, den Sportplan mit erstellt und das ist schon wahnsinnige Logistik, wenn man von Freitag auf Montag sagt, die Halle kann nicht mehr benutzt werden." "Jetzt sagt die Stadt: Im Dezember kommen jede Woche 400 Flüchtlinge und Turnhallen sind die letzte Möglichkeit um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Was sagen Sie aus Sicht des Sports?""Wir können und werden uns nicht dagegen wehren, dass Hallen als Notunterkunft dienen, aber es kann nur eine Notunterkunft sein weil für meine Person unvorstellbar mich wirklich für mehrere Tage, Wochen mich in so einer großen Halle aufzuhalten wo es soviel ich weiß es keine Privatsphäre gibt und gerade in dem Zusammenhang auch wo Flüchtlinge aus Ländern kommen, die ja auch traumatisiert sind durch die Ereignisse, ist das wirklich nur eine Notlösung, das sagt der Sport und dafür lässt er sich die Sporthallen auch wegnehmen. Ich weiß nicht wie das weitergeht im Dezember das wird sehr eng, ich hätte gern aber schon mal gewusst, welche die nächsten Hallen sind." Kinder der Schule auf Ausflug? Kinder machen sich für Ausflug bereit, Ersatzveranstaltung für ausgefallenen Sport. Ein Blick auf die Internetseite der Stadt zeigt: soviel Sportstunden fallen gar nicht aus. Fast überall können die betroffenen Schulen für ihren Sportunterricht auf Turnhallen von Nachbarschulen ausweichen. Wenn darüber hinaus noch Sportzeiten fehlen gibt es manchmal zusätzlichen Schwimmunterricht. Oder Schulsport in Kletter – Soccer- und Bechvolleyballhallen, in Fitness-Studios oder Tanzschulen. Eine Kletterhalle (picture alliance / dpa Foto: Hans Wiedl) Für Vereine sieht das anders aus. Alternativen häufig Fehlanzeige. Das macht Klaus Hoffmann vom Stadtsportbund Köln Sorgen: "Für mich als derjenige, der sagt Vereine sind ein wichtiger Faktor in der Gesellschaft, die das Ehrenamt praktizieren, die eine ganze Menge für Integration tun wir haben ja hier im Sport die Möglichkeit auch nonverbal mit wenigen Regeln Menschen zusammenzubringen im Spiel in der Bewegung, beste Voraussetzungen und jetzt nehmen sie uns auch noch die Grundlage, wo man das tun kann. Fußball kann man draußen tun aber wenn's regnet wird das auch schwierig." "Haben Sie Informationen über Vereine die ganz spezielle Sportangebote für Flüchtlinge in den Hallen, die jetzt noch offen sind?""Die Sportjugend fährt mit einem Spielmobil zu den Hallen wo Flüchtlinge sind aber auch zu den Vereinen, die kooperieren oder Unterkünften und macht dort diese Angebote. Man überlegt sogar, dass es ein zweites Spielmobil gibt, was dann auch mit eingesetzt werden kann." Willkommenskultur im Sport "Willkommen im Sport" So heißt ein neues Projekt, das der Deutsche Olympische Sportbund ins Leben gerufen hat. Finanzielle Unterstützung kommt von der Bundesbauftragten für Migration und Flüchtlinge und vom Internationalen Olympischen Komitee. Insgesamt knapp eine halbe Million Euro. Interessierte Vereine können damit zum Beispiel Bewegungsangebote in Flüchtlingsunterkünften machen oder bieten Flüchtlingen einen Platz in ihren Kursen oder Mannschaften an. Auch Übungsleiter können sich mit dieser finanziellen Unterstützung auf Sportkurse mit Flüchtlingen vorbereiten. Eine Willkommenskultur in den Vereinen sieht Klaus Hoffmann vom Stadtsportbund auch in Köln:"Sie haben vorhin schon von Weihnachten gesprochen und Obdach, Sie klingen sehr moderat, also schon Weihnachtsstimmung und Verständnis für die Menschen die ein Dach über dem Kopf brauchen?""Die Grundstimmung bei den Vereinen ist so, das finde ich ganz toll und das passt auch gut in die Zeit rein." "Was wünschen Sie sich für Sport und für Turnhallen für Zukunft?""Man hat uns ja versprochen, dass Turnhallen Ende des Jahres wieder frei werden. Das scheint nicht der Fall zu werden. Flüchtlingszahlen werden weiter bleiben oder steigen. Ich wünsche mir, dass auf jeden Fall Ersatzmöglichkeiten, bessere Möglichkeiten gefunden werden für Unterbringung von Flüchtlingen, dass man sie schneller aus den Hallen in normale Unterkünfte bringt in Leichtbauhallen, die auch möglich sind. Die sind versprochen worden und sind wohl Anfang nächsten Jahres zur Verfügung und ich hoffe, dass dann die ersten Hallen wieder dem Sport zurückgegeben werden. Das wäre nämlich ein schöner Neujahranfang, wenn es im Januar heißt 'ok, wir geben die erste Halle wieder zurück'." Mehr als ein Dach über dem Kopf Sonntag, 4. Advent. Es ist was los. In der Grundschule gleich neben der Notunterkunft. Die örtlichen Willkommensinitiativen haben zum Fest eingeladen. Vor zweieinhalb Wochen sind die Menschen in die Turnhalle eingezogen. Jetzt die erste Annäherung zwischen den Anwohnern und ihren neuen Nachbarn aus der Notunterkunft. Es gibt Musik, Kinderschminken und etwas zu Essen. Das Willkommensfest für die Flüchtlinge in der Grundschule Köln-Rodenkirchen. (Andrea Schültke ) Viele Flüchtlinge von nebenan sind gekommen. Und viele, die helfen wollen. Die können sich gleich am Eingang in Listen eintragen, und ihren Fähigkeiten entsprechend Angebote machen: Sprachunterricht, Sport, medizinische Betreuung oder Hilfe bei Behördengängen. Die Listen füllen sich schnell. Imat habe ich nicht mehr getroffen, weiß nicht, ober er Hilfe bekommen hat für sein Baby. Mein Eindruck ist aber: Die Herberge Turnhalle kann manchmal doch mehr sein als ein Dach über dem Kopf, ein Feldbett, etwas zu essen und zu trinken
Von Andrea Schültke
Die Not ist groß. Hunderttausende Flüchtlinge kommen nach Europa, ein Dach über dem Kopf bieten oft nur Turnhallen, zum Beispiel die an der Kölner Mainstraße. Vier Wochen haben wir sie beobachtet vom Umbau über den Einzug der Flüchtlinge bis zum ersten Willkommensfest.
"2015-12-26T19:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:15:32.064000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/turnhallen-als-herberge-fuer-fluechtlinge-eine-ganz-andere-100.html
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Militärjunta will Übergangsregierung einsetzen
93 Prozent der Thailänder sind mit den Maßnahmen der Militärjunta zufrieden, 64 Prozent meinen, dass ihr Leben sicherer geworden ist, diese und andere Erfolgsmeldungen sind in der thailändischen Tageszeitung Bangkok Post derzeit zu lesen - Ergebnisse einer Umfrage des renommierten Suan Dusit Institutes. Prani verkauft Gemüse an einem kleinen Stand am Straßenrand in der Innenstadt Bangkoks. Prani lacht wütend: "Ich weiß nicht, wen sie da gefragt haben, mich nicht. Fragen sie mal die Straßenhändler, die Taxifahrer, wir sind alle nicht glücklich und zufrieden." Es soll nun alles besser werden, wettert Prani. Davon könne sie jedenfalls nichts spüren: "Der Wirtschaft soll es seit dem Putsch wieder besser gehen, heißt es. Wir merken nichts davon. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen kaum Geld ausgeben. Ich weiß nicht, warum." Die Militärjunta bemüht sich, so vernünftig wie möglich zu agieren, fast versucht sie, es allen recht zu machen. Pitch Pongsawat ist Politikwissenschaftler an der Chulalongkorn Universität in Bangkok und er hat dafür eine Erklärung: "Das Militär versucht derzeit, so neutral wie möglich zu sein, es ist vorsichtig, um möglichst viel Legitimation zu erlangen. Keine Seite soll das Gefühl haben, die Gegenseite bekomme jetzt mehr. Die Rothemden, die Anhänger der gestürzten Shinawatras sind natürlich unter Druck, aber sie sehen auch, dass den Gelbhemden ebenfalls nichts geschenkt wird. Es ist der Moment, in dem keiner bevorzugt wird. Daher rührt die hohe Akzeptanz des Putsches." Geschenke von der Junta Lotterielose werden günstiger, während der Fußball-WM waren alle Spiele, ursprünglich nur im Bezahlfernsehen zu empfangen, plötzlich umsonst zu sehen, die Lizenzen für Motorradtaxis werden ab jetzt kostenlos vergeben - die Tageszeitungen in Thailand sind derzeit voll mit Berichten darüber, dass die Junta versucht, sich beliebt zu machen, indem sie Geschenke verteilt, auch an die Rothemden, die Unterstützer der vom Militär gestürzten Regierung von Yingluck Shinawatra. Das Ziel sei es, den Putsch mit seinen Folgen möglichst unsichtbar zu machen - und damit die Forderung nach Demokratie weitgehend verstummen zu lassen, meint Pitch Pongsawat. Auch Pitch war bereits von der Armee vorgeladen, wie viele Oppositionelle und kritische Geister, und er weiß auch warum: "Sie wollten mir Informationen geben, die ich wissen sollte, etwa, dass der Putsch unausweichlich war, dass manche Dinge in einem demokratischen System nicht zu regeln sind." Woraauth Boonkerdlap fährt einen Minibus - und er ist froh, dass das Militär eingegriffen hat: "Die Lage ist viel besser, es herrscht Recht und Ordnung, alles ist wieder geregelt. Ich sehe das sehr positiv." Lampon Imlamai kontrolliert die Fahrkarten in Woraauths Bus. Und er stimmt seinem Fahrer zu: "Ich bin sehr zufrieden, wir können wieder ruhiger arbeiten, die Passagiere können ohne Sorge reisen, das Leben ist wieder einfacher." Die Siam Intelligence Unit ist unabhängig, schreibt Gutachten für die Wirtschaft und kann es sich leisten, weiterhin eine eigene Meinung zu haben. Kan Yuengyong leitet den Think Tank. Dass es eine große Zustimmung zu dem Putsch gibt, überrascht ihn nicht: "Die Thailänder haben andere Erfahrungen mit demokratischer Kultur als etwa Europäer. Für uns als Buddhisten geht es vor allem darum, Konflikte zu vermeiden. Das Militär hat die Konflikte im Land gestoppt und darüber sind viele glücklich." Weg zur Demokratie? Kan Yuengyong glaubt, dass die Militärs zwar einen Weg in Richtung Demokratie mit den Wahlen im Oktober 2015 aufzeigen, aber keine wirkliche Demokratie zulassen wollen: "Sie wissen doch, dass wenn es Wahlen gibt, die Shinawatras wieder gewinnen, das werden sie nicht zulassen. Sie werden die Hälfte der Parlamentssitze nicht zur Wahl stellen, sondern bestimmen, dann bleibt die Kontrolle über die Macht." Eine Übergangs-Nationalversammlung, eine Verfassung, irgendwann Ende 2015 Wahlen, dass alles klingt wie der Weg zu Demokratie, aber, so sagt Kan Yuengyong, die Militärs hätten Interessen zu verteidigen und zu vertreten, und die seien nicht demokratisch. Die Verfassung ist nicht so wichtig, meint Politikexperte Pitch Pongsawat. Die Zusammensetzung der Übergangsregierung dagegen werde hoch interessant, schließlich würden die Mitglieder vom Militär bestimmt und nicht gewählt: "Ich mache mir nicht viel Gedanken über die Verfassung, wir hatten so viele Verfassungen, aber wenn wir wissen, wer in der Übergangsregierung sitzt, dann können wir sehen, wer hinter dem Putsch steckt." Anchang Neng sitzt im Schneidersitz auf einer kleinen Empore in seinem Tatoo-Studio, neben ihm viele Buddha-Statuen, vor ihm das Handwerkszeug des Tätowierers. Anchang Neng ist heiliger Tätowierer, er hat eine natürliche Distanz zu den politischen Dingen da draußen, aber trotzdem eine Meinung: "Ich glaube, es wird besser werden, das Militär wird wieder in Richtung Demokratie gehen müssen - derzeit wird uns vieles vorenthalten, damit es keine Konflikte gibt, aber es wird besser werden." Pitch der Politikwissenschaftler, müht sich, den Putsch und seine Folgen mit amüsierter Distanz zu sehen, er müht sich auch, nicht zu kritisch zu sein, am Ende möchte er nicht noch einmal von den Militärs vorgeladen werden: "Der Sozialismus macht alle arm und das ist dann Gleichheit und hier in Thailand passiert gerade etwas Ähnliches: Alle verarmen politisch gleich stark, das ist dann auch eine Form der Gleichheit."
Von Udo Schmidt
Die Militärjunta in Thailand plant bis zum September, eine Übergangsregierung zu installieren. Gemeinsam mit einem Reformrat soll sie die neue Verfassung ausarbeiten - unter Ausschluss des Volkes. Im nächsten Jahr sollen dann Wahlen stattfinden. Ist das der Weg zu mehr Demokratie?
"2014-07-19T13:30:00+02:00"
"2020-01-31T13:53:49.700000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thailand-nach-dem-putsch-militaerjunta-will-100.html
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Der Kampf um die Kohle
Proteste gegen die Braunkohle - in Brandenburg gibt es aber auch lautstarke Befürworter. (dpa / Patrick Pleul) Die drei großen Parteien in Brandenburg sind SPD, LINKE und CDU. Ihre Spitzenkandidaten: "Ein Landwirt, ein Lehrer, ein Arzt. Nur einer von ihnen kann Brandenburg führen, nur einer kann Ministerpräsident werden, nur einmal diskutieren alle zusammen." ...und nur einmal waren sie bei der Wahlsendung des RBB einer Meinung: Der Kohleabbau ist wichtig und darf nicht so schnell beendet werden. Dietmar Woidke (SPD): "Wir werden heimische Energieträger, konventionelle Energieträger so lange brauchen, bis wir rund-um-die Uhr-Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit bei erneuerbaren haben!" Christian Görke (Linke): "Wir glauben, dass das Braunkohlefenster sich schließt bis 2040. Einen weiteren Tagebau braucht man nur, wenn man ein neues Kraftwerk baut." Michael Schierack (CDU): "Und ich sage durchaus entschleunigen, also langsamer Ausbau der Alternativen Energien, solange wir nicht die entsprechenden Speicherkapazitäten haben und auch nicht die Frage geklärt ist: Wie viel Strom brauchen wir deutschlandweit?" Der Tagebau bedroht die Dörfer Die Betroffenen sehen das naturgemäß anders: Grabko, ein kleiner Ort, 50 Häuser, 150 Einwohner - noch. Geht es nach den Plänen des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall, dann sind die Tage von Grabko gezählt, unter dem Ort liegt die begehrte Braunkohle. "Kinder sind gar nicht mehr hier, deswegen - sieht alles gar nicht gut aus, nicht schön, dass das so kommt." 820 Menschen sind betroffen, wenn der Tagebau Jänschwalde erweitert wird, wenn Grabko, Atterwasch und Kerkwitz weichen müssen, um das nahe Kraftwerk weiter mit Kohle zu versorgen. Zu den politischen Gegnern, die sich für einen schnellen Ausstieg aus der Kohle aussprechen, gehören die Piraten und Bündnis 90/die Grünen. Grüne Spitzenkandidatin Ursula Nonnemacher: "Braunkohleverstromung ist die absolut schädlichste Form der Energieerzeugung, der Stromerzeugung. Und wir werden unsere Klimaziele nie einhalten und unsere gute Bilanz – wir haben viele erneuerbare Energien in Brandenburg – die wird kaputt gemacht von der Braunkohleverstromung." Beim Braunkohletagebau Welzow-Süd wurden massive Grenzwertüberschreitungen festgestellt. (picture-alliance / dpa-zb / Andreas Franke) Immer wieder kommt es zu Aktionen in der Lausitz, an einer Menschenkette bis nach Polen, das zu fast 100 Prozent auf die Kohle setzt, nahmen immerhin über 7000 Menschen teil. Ihre Argumente neben dem Raubbau an Natur und Heimat: Beim Verbrennen der Kohle entsteht Kohlendioxid, das als Klimakiller gilt. Der CO2-Ausstoß in Brandenburg hat in den letzten beiden Jahren zugenommen, das Land kann die selbst gesteckten Ziele beim Klimaschutz nicht einhalten. Und durch das Absenken des Grundwassers, um die Kohle aus dem Boden zu holen, kommt Eisen mit Luft in Berührung, es rostet. Steigt das Grundwasser wieder an, löst sich der ockerfarbene Schlamm und färbt die Fließe braun. Eine Gefahr für den Spreewald, schon jetzt hervorgerufen durch die ehemaligen Tagebaue zu DDR-Zeiten. Die Verockerung schreitet fort. Greenpeace und der BUND stellten Strafanzeige gegen Vattenfall. Die Umweltschutzorganisationen hatten massive Grenzwertüberschreitungen von Eiseneinträgen aus dem aktiven Braunkohletagebau Welzow-Süd in die umgebenden Fließgewässer festgestellt. Arbeitsplätze als Argument Die Kohlebefürworter wollen den Gegnern das Feld nicht komplett überlassen. Wolfgang Rupieper, Vorstandsvorsitzender des Vereins "Pro Lausitz": "Die Arbeitsplätze, die bei Schließung der Kohlegruben wegfallen würden, dass die also durch anderweitige Industrie oder anderweitige Arbeitsplätze, die geschaffen würden, ersetzt werden - das bezeichnen wir als Märchen." Allerdings ist die Zahl der Arbeitsplätze in der Braunkohle umstritten. Von 4200 direkt in Brandenburg Beschäftigen schrieb die Landesregierung in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Landtag. Die Anwohnerin in Grabko wurde hier geboren. Ob sie bis zum Lebensende hier bleiben kann, weiß sie nicht. "Arbeitsplätze sind natürlich ein Argument", sagt sie. "Das bestreitet ja niemand. Aber Unser Dorf ist eben auch ein Argument."
Von Axel Flemming
Die Energiewende hat Auswirkungen auf ganz Deutschland und damit auch auf Brandenburg. Dort wird erbittert gestritten, wie die Stromlücke gefüllt werden kann. Die einen möchten gerne 100 Prozent Erneuerbare, die anderen die längere Verbrennung fossiler Energien - auch im Wahlkampf ist das ein Thema.
"2014-09-13T06:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:03:34.413000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahlkampf-in-brandenburg-der-kampf-um-die-kohle-100.html
302
Konkurrenz und Kooperation liegen eng beieinander
Der chinesische Präsident Xi Jingping (dpa/picture alliance/Ed Jones / Pool) Noch gestern musste die amerikanische Bundespersonalbehörde OPM eingestehen, dass beim jüngsten Hackerangriff die Fingerabdrücke von 5,6 Mio amerikanischer Bundesangestellter abgezapft worden sind. Als Täter werden chinesische Regierungsstellen vermutet. Auch Angriffe auf amerikanische Unternehmen durch mutmaßlich chinesische Hacker seien nicht akzeptabel, hieß es aus dem Weißen Haus, von Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice. "Unternehmensspionage durch das Internet schadet China und den USA. Denn immer mehr amerikanische Firmen fragen sich, ob es sich angesichts dieser Spionage noch lohnt, in China zu investieren. Dieses Verhalten muss aufhören." Chinesische Cyberattacken auf Behörden belasten Verhältnis Die chinesischen Aktivitäten im Cyberspace stellten für die USA nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein Sicherheitsproblem dar. "Das belastet unser Verhältnis enorm. Und das ist ein entscheidender Faktor bei der zukünftigen Bewertung des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses." Während China die Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik auf Asien als kaum verhohlenes amerikanisches geopolitisches Eingrenzungsmanöver betrachtet, sind die USA wiederum besorgt über das aggressive Vorgehen Chinas im südchinesischen Meer. China schüttet auf Korallenriffen Inseln auf, stationiert dort Militär, und versucht unter anderem, andere Staaten der Region an Ölbohrungen zu hindern. Menschenrechte bieten auch Reibungspunkte Auch das Thema Menschenrechte ist zwischen den USA und China immer wieder Anlass für Reibungen. Obama hat angekündigt, dies bei den Gesprächen mit Xi Jinping offen anzusprechen. Kurt Campbell war im US-Außenministerium für Asien zuständig. Die derzeitigen Konflikte unterminierten das gegenseitige Verhältnis zu einer Zeit, in der man eigentlich mehr Zusammenarbeit brauche. "Ich glaube, das wird eines der schwierigsten Gipfeltreffen in Obamas Amtszeit werden." Konkurrenz und Kooperation liegen eng beieinander im chinesisch-amerikanischen Verhältnis. Im Moment verhandele man ein Abkommen, mit dem Cyberangriffe auf zivile Infrastruktur in Friedenszeiten ausgeschlossen werden sollen, hieß es aus dem Weißen Haus. Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, das Xi und Obama jetzt schon zu einem Abschluss kommen. China ist derzeit in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase. Das Wachstum geht zurück, die Finanzmärkte sind instabil, die chinesische Währung musste abgewertet werden. Für China hat deshalb die Unterzeichnung eines gegenseitigen Investitionsschutzabkommens hohe Priorität. Doch dagegen gibt es Opposition aus dem Kongress, und ob die Obama-Regierung mit Blick auf die immer neuen Cyberangriffe aus China bei diesem Thema zu Zugeständnissen bereit ist, darf bezweifelt werden.
null
Chinas Präsident Xi Jinping startet heute den offiziellen Teil seines USA-Besuchs. Neben Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern wird er mit Präsident Barack Obama zusammenkommen. Das amerikanisch-chinesische Verhältnis gilt als deutlich angeschlagen, besonders wegen der Vorwürfe über chinesische Cyberattacken auf amerikanische Unternehmen und Behörden.
"2015-09-25T08:35:00+02:00"
"2020-01-30T13:01:20.247000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chinas-praesident-in-den-usa-konkurrenz-und-kooperation-100.html
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Brüchige Waffenruhe in der Ostukraine
Gestern Abend traf sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko mit Bewohnern von Swjatogorsk im Donezker Gebiet, wo er auch den Antikrisenstab der Nationalgarde besichtigte. Es war sein erster Besuch in der Konfliktregion, er machte damit seine Ankündigung wahr, dass er seine erste Reise im neuen Amt in den Donbass unternimmt. Zuvor hatte er den Befehl für eine einseitige Waffenruhe bis kommenden Freitag gegeben, die von den prorussischen Milizen bestätigt wurde. Diese machten zugleich klar, dass sie die Zeit nutzen würden, sich aufzurüsten und neue Kämpfer zu werben. Um 22 Uhr gestern Abend haben die ukrainischen Regierungstruppen das Feuer eingestellt, dennoch wurden sie weiter von den Aufständischen angegriffen, es soll wieder Tote gegeben haben. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Feuerpause kritisiert, sie trage viel mehr den Charakter eines Ultimatums. Gespräche würden nicht beginnen. Möglich sei außerdem, dass die Einstellung der Kämpfe nur erfolgte, weil ein Geschoss der ukrainischen Streitkräfte auf russisches Gebiet eingeschlagen sei und einen Grenzbeamten verletzt habe. Poroschenko gibt den Separatisten eine Woche Zeit, die Waffen niederzulegen, wer dies nicht tue, werde vernichtet. Das erklärte er im gefleckten Tarnanzug im Lager der freiwilligen Kämpfer der neu geschaffenen Nationalgarde. In der Krisenregion ist der Schritt Poroschenkos, der zudem einen umfassenden Friedensplan vorgelegt hat, umstritten, denn in der Bevölkerung wird befürchtet, dass die Feuerpause nur den aufständischen Milizen Zeit verschafft, um neue Kräfte zu sammeln, statt entschlossen gegen sie vorzugehen.
Von Sabine Adler
In der Ostukraine gilt seit Freitagabend eine Waffenruhe. Trotzdem soll es weitere Tote bei Zusammenstößen gegeben haben. Ukraines Präsident Poroschenko kündigte an, wenn die Milizen ihre Waffen nicht binnen einer Woche niederlegten, würden sie vernichtet.
"2014-06-21T06:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:48:23.685000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-bruechige-waffenruhe-in-der-ostukraine-100.html
304
Singend im Schatten der Stars
Die Backgroundsängerinnen Darlene Love, Merry Clayton, Judith Hill und Lisa Fischer (v.l.n.r.) vor der Oscarverleihung 2014. (picture alliance / dpa / Michael Nelson) Lou Reed hat ihnen irgendwie ein musikalisches Denkmal gesetzt. Er singt von den schwarzen Girls singt, die das Do-be-do-be-do singen. Und das singen sie dann natürlich auch in "Walk On The Wild Side". Das mit dem musikalischen Denkmal mag ja auch ganz nett sein, es mag ja auch für Black Singing Power stehen - denn die Background-, vor allem Sängerinnen, deren Geschichte "20 Feet From Stardom" erzählt, sie waren alle Afroamerikanerinnen, aber hat nicht, was Background-Gesang betrifft, hat nicht viel eher Mick Jagger recht, der meint, dass er keine Lust hätte, von all diesen "Uhs" und "Ahs" leben zu müssen. Ist das despektierlich, was Mr. Rolling Stone hier sagt? Na, den schnappen wir uns gleich noch mal. "Gimme Shelter" kommt später. Lynn Mabry, die mit Sly and the Family Stone, mit Bette Midler und den Talking Heads arbeitete, 1984, vorne auf der Bühne bei "Slippery People", neben David Byrne, bringt das auf den Punkt, was die Black Singing Power ausmacht, von der die Talking Heads ebenso wie Springsteen oder die Stones, Tom Jones oder oder profitierten. Wenn die Stimmen loslegen, dann kommt die Kraft in die Sache, dann entsteht die menschliche Verbindung. Also, wer kennt die Stars in dieser Musikdokumentation "20 Feet From Stardom", wer die Namen Lynn Mabry, Darlene Love, Merry Clayton, Claudia Lennear? Ihren Gesang gehört, klar, aber ihre Namen. Morgan Neville erzählt ihre Geschichte in einem wunderbaren Rhythmus von Musik, Interviews mit den jungen und alten Background-Sängerinnen und den Stars, für die sie sangen und singen. Erinnerungen an keineswegs nur gute, aber ebenso wenig nur schlechte Zeiten. Gute und böse Geschichten eben. Gruselgeschichten Beispielsweise die von Darlene Love, eine dieser göttlichen Stimmen, die mit Elvis Presley, Sony & Cher, Tom Jones oder Sam Cooke arbeitete, die Produzent Phil Spector bis aufs Blut ausbeutete und ihren Namen auf den Platten nicht nannte. Eine dieser Gruselgeschichten aus dem Business. Irgendwann hörte Darlene Love ihre Stimme aus dem Radio, und zwar da, wo sie gerade irgendjemandes Haus putzte. Natürlich gibt es in "20 Feet From Stardom" auch die wunderbaren Anekdoten. Was Wunder, bei einem Trip durch so viele Jahre Musikgeschichte von den 40er, 50er Jahren bis in die Jetztzeit. Und damit wären wir noch einmal bei den Stones und Mick Jagger inklusive der Frage, was "Gimme Shelter" - 1969 auf "Let It Bleed" das erste Mal erschienen - ohne das wäre, was Merry Clayton da im Hintergrund, ja, dazu tat. "Wir fanden es toll, wenn eine Frau den Teil über Vergewaltigung und Mord singen würde. Es war mitten in der Nacht. Ich kannte sie nicht. Nur Adam. Sie kreuzte in Lockenwicklern auf. Sie war schon im Bett gewesen. Und sollte diesen anrüchigen Text singen. - Ich sagte, was, Vergewaltigung, Mord? Nur einen Schuss entfernt? Dann sang ich mit Mick. - Sie steckte viel eigenen Ausdruck rein. Genauso sollte es sein." Für Filmemacher Morgan Neville sind die afroamerikanischen Background-Sängerinnen allerdings nicht einfach die benutzten Musikarbeiter im zweiten Glied, die gesanglich alles Zeug zum Star gehabt hätten. Denn grandiose Stimmen allein sind noch nicht ausreichende Basis für eine Solokarriere. Bruce Springsteen macht das in "20 Feet From Stardom" deutlich. Es sind eben nicht nur ein paar Schritte von da hinten, vom Background her nach vorne, meint er, es ist viel komplizierter. Du musst dich da vorne wohlfühlen, du musst diesen Narzissmus, dieses Ego haben, ohne den es vorne nicht geht. "Wenn du in diesem Geschäft nicht jemanden findest, der dich so versteht, so erkennt, wie du bist, dann kannst du ein noch so toller Sänger sein, aber der nächste Schritt zum Star, der klappt nicht." "Manche wollen einfach singen, anstatt berühmt zu werden" Meint Bruce Springsteen im Film. Bestes Beispiel, Lisa Fischer, deren Geschichte Morgan Neville ausführlich erzählt. Lisa Fischer, das ist die schwarze Sängerin, die seit 1989 bei jeder Stones-Tournee dabei ist und mit Mick Jagger zusammen "Gimme Shelter" singt, so, dass man den Atem anhält oder wahlweise den Mund nicht zu bekommt. Lisa Fischer hat eine kurze Solo-Karriere gemacht, gewann einen Grammy Award für die beste weibliche R&B-Sängerin, arbeitete u. a. mit Sting, Tina Turner zusammen, aber sie sagt nach all den Jahren im Geschäft: "Es gibt Leute, die wollen unbedingt berühmt sein. Andere wollen einfach singen, mit anderen in diesen einzigartigen Raum der Musik eintauchen. Das ist das Größte." Das Schöne an diesem Film "20 Feet from Stardom" von Morgan Neville: Er macht nicht nur Lisa Fischer, sondern auch die anderen nicht zu Opfern eines bösen Geschäftes, das übel ist, aber nicht nur. Und dann kommen sie am Ende natürlich alle zusammen, diese schwarzen Stimmen, hervor aus dem Background und legen richtig los.
Von Hartwig Tegeler
Die Musikdoku "Standing in the Shadows of Motown" berichtet von Musikarbeitern, die der Motown-Musik Rhythmus und Sound gaben. Morgan Nevilles oscar-prämierte Dokumentation "20 Feet From Stardom" holt unbekannte Backgroundsängerinnen aus dem Halbschatten ins Rampenlicht.
"2014-04-26T15:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:47.896000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/20-feet-from-stardom-singend-im-schatten-der-stars-100.html
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Wie funktioniert der weltweite Kunstmarkt?
Wie kommen die teils als absurd wahrgenommenen Preise eigentlich zustande? (dpa/picture alliance/Diego Azubel) "Wie entstehen Preise im Kunstmarkt? Das ist etwas, was sich als absolut intransparent für den normalen Kunstinteressenten darstellt." "Mir ist das oft ein Buch mit sieben Siegeln, was denn bei heutiger Kunst als qualitativ hochwertig eingeschätzt werden soll und was nicht." "Man hat nicht so etwas wie klare Qualitätskriterien, mit deren Hilfe man sagen kann, dieses Kunstwerk wird in zehn Jahren angesehen sein und hohe Preise erzielen". "700.000. Niemand mehr? 700.000. Zum ersten, zum zweiten … ich darf zuschlagen, zum dritten". 700.000 Euro für einen 'Gerhard Richter' sind natürlich 'Peanuts'. Seine teuersten Bilder liegen im zweistelligen Millionenbereich. Höhepunkt bisher: sein fotorealistisch verwischter "Domplatz Mailand" für 37,1 Millionen Dollar. Mittlerweile ist Gerhard Richter aber als teuerster noch lebender Künstler abgelöst: der "Balloon Dog" des Amerikaners Jeff Koons, eine tonnenschwere Vergrößerung von in Hundeform verknoteten Luftballons, erzielte 58,4 Millionen Dollar. Und der britische Künstler Damien Hirst veranstaltete 2008 eine Auktion bei Sotheby’s in London. Er ließ dort 56 seiner Werke versteigern. Erlös: rund 140 Millionen Dollar. 10,3 Millionen erreichte allein sein "Goldenes Kalb", ein Jungbulle in Formaldehyd, Hörner und Hufe aus 18-karätigem Gold, auf dem Kopf eine ebenfalls aus massivem Gold gefertigte strahlende Scheibe. Ulli Seegers, Professorin für Kunstgeschichte an der Uni Düsseldorf: "Wenn ich mir angucke, was im Moment im Markt hoch gehandelt wird, stelle ich fest, dass das nicht die Kunst ist, die kritisch ist, die widerständig ist, die zu neuem Denken anregt, sondern die eher affirmativ mit einer bestimmten Hochglanzästhetik und leicht verdaulich einher kommt." Es ist verpönt, Kunst als Ware zu begreifen. Gewöhnlich werden deshalb in Galerien Bilder auch nicht mit Preisschildern versehen. Die Kunst zähle, nicht das Geld, so die Botschaft. Kunst ist Selbstzweck, ist Berufung, ohne Hintergedanken an Geschäft und Nutzen. Auch wenn Salvador Dali einmal bekannte: "Alles, was mich interessiert ist Geld". Und Andy Warhol Dollarzeichen aufs Papier brachte, die man sich dann als Objekte an die Wand hängen konnte. "Ich habe heute gerade eine sehr hübsche Anekdote gelesen über Hans Thoma, den Karlsruher Maler, der in einer Ausstellung hinter einem Vorhang die Reaktionen von Besuchern mithörte." Dr. Johannes Nathan vom Forum "Kunst und Markt" an der TU Berlin. Dass Kunst und Geld nicht zusammen gehen, ist ein Mythos "Und da sagte ein Paar: Was hat sich der Künstler da wohl gedacht bei diesem Bild? Das war ein Landschaftsbild. Und in dem Moment stürmt Thomas hinter den Vorhang hervor und sagt, na der Künstler wollte das Bild verkaufen, verkaufen wollte er es. Das ist tatsächlich etwas, was man bei der Kunstbetrachtung leicht vergisst, dass viel von dieser Betätigung doch auf einen ökonomischen Erlös, auf einen beträchtlichen Gewinn abzielt. Und das schon seit Jahrhunderten." Dass Kunst und Geld nicht zusammen gehen, ist ein Mythos. Bereits 1675 schrieb die französische Adlige Marquise de Sévigné, dass Gemälde wie Goldbarren seien und jederzeit für das Doppelte ihres Einkaufspreises verkauft werden könnten. Der erste Kunstboom fand im Goldenen Zeitalter der Niederlande statt. Im 17. Jahrhundert waren die Niederlande nicht nur Handelsnation und Weltmacht geworden, sondern auch eine gigantische Kunstwerkstatt. Denn die Konsumlust reich gewordener Bürger war erwacht und verlangte nach sichtbarer Materialisierung. "Im 17. Jahrhundert hat diese holländische Gesellschaft so wahnsinnig prosperiert, da gab es einen Mangel an Bargeld und Gold, wo man sein Erwirtschaftetes mit anlegen konnte und da haben viele, die dann zu Wohlstand gekommen sind, überlegt, wie kann ich es sonst noch unterbringen? Und da war Kunst eine sehr beliebte Sparte für die Investition." Kaum ein anderer Markt allerdings ist von solchen Ungleichheiten geprägt wie der Kunstmarkt. Da gibt es die wenigen Malerfürsten mit ihren Millioneneinnahmen, während 95% der Künstler, so Schätzungen, von ihrer Kunst nicht leben können. Es herrscht ein Überangebot an Kunst. Oft ziert sie nur die Wände von Cafés, Altenheimen oder Werkskantinen, wo sie darauf wartet, für wenig Geld gekauft zu werden. Nicht selten aber scheitert sogar das. "Es gibt Diskussionen, wenn ein Werk von Jeff Koons so teuer ist, warum hat meins keinen Marktwert? Und das ist ganz brutal Angebot und Nachfrage. Und das hat es im Kunstmarkt immer schon gegeben", so Professor Kasper König, bis Ende 2012 Direktor des Museums Ludwig in Köln. Es sind schnöde Marktgesetze, die den - finanziellen - Wert eines Kunstwerks bestimmen. Teuer ist, was nachgefragt ist. Ist das zugleich der Ausweis für Qualität? "Ich finde es schwierig, mit dem Begriff der Qualität zu hantieren. Da kann es sein, dass ein junger Künstler mit vielen Ideen vielleicht auch mal eine Produktion in Gang setzt, die … nicht die höchsten Qualitätskriterien erfüllen, die aber irgendwelche knackigen oder interessanten Ideen auf einen guten Punkt bringen." Dr. Johannes Nathan, Kunsthistoriker an der TU Berlin ist zugleich Direktor der Galerie Nathan Fine Art in Zürich und Berlin. "Dann kann das für eine Galerie durchaus Anreiz sein, sich für diese Person weiter einzusetzen. Dann wird das mit der Aktivierung eines großen Netzwerkes einhergehen, dann wird man versuchen, den Journalismus zu aktivieren, man wird auch Institutionen versuchen zu gewinnen, die vielleicht den Künstler schon ausstellen. Und da kann es dann gelingen, dass ein Kreis von potenten Sammlern gewonnen wird, die anfangen diese Werke zu kaufen. Und das Ganze kann, wenn es eine kritische Masse überschreitet, eine derartige Wucht entfalten, dass so ein Künstler in höchste Höhen kommt. Ich würde aber zögern zu sagen, das ist einzig Folge der Qualität dieser Werke." Anders als andere Waren hat Kunst keinen "funktionalen Wert" Da die Qualität von Kunstwerken prinzipiell schwer auszumachen ist, so die beiden Soziologieprofessoren Jens Beckert und Jörg Rössel in ihrem Aufsatz "Kunst und Preise", steht der potenzielle Käufer von Kunst vor dem Problem einer "fundamentalen Ungewissheit". Anders als andere Waren hat Kunst keinen "funktionalen Wert", der sich in ihrem unmittelbaren Nutzen niederschlägt. Ebenso wenig lasse sich ihr Wert durch die Herstellungskosten bestimmen. Und dass es auch nicht der technisch-künstlerische Aufwand ist, der ein Werk zu einem Kunstwerk macht, ist spätestens klar, seit Marcel Duchamp im Jahr 1917 ein handelsübliches Pissoir versehen mit einer Signatur ausstellte. Dessen Repliken befinden sich mittlerweile in zahlreichen namhaften Museen. Professor Jörg Rössel, Soziologe an der Universität Zürich: "Die Soziologie hat sich schon früh gegen die Vorstellung gewandt von solitären Künstlern, die quasi in ihrer Individualität singulär Kunstwerke herstellen. Es braucht auch Personen, die die Kunstwerke bewerten, zum Beispiel Kunstkritiker, Kunsthistoriker, Kuratoren, Galeristen, um aus einem bestimmten Objekt überhaupt ein Kunstwerk zu machen. Das heißt die Idee ist, ein Kunstwerk wird nicht durch seine materiellen Eigenschaften zu einem Kunstwerk, sondern durch die zugeschriebenen Eigenschaften, die bestimmte Akteure im Feld der Kunst einem Objekt zuschreiben." Ein Objekt gilt also dann als Kunstwerk, wenn sich Künstler, Kritiker, Galeristen, Museumsdirektoren, Kuratoren und Sammler darin einig sind, dass es Kunst ist. Egal ob dies, wie die Münchener Kunsthistorikerin Piroschka Dossi in ihrem Buch "Hype. Kunst und Geld" ironisch anmerkt, ein Tierkadaver, eine Nasenoperation oder ein mit Acrylfarbe gemalter rosa Pudel ist. Das Urteil über den ästhetischen Wert eines Werkes wird die Grundlage zur Bestimmung des ökonomischen Wertes. Soziologisch gesprochen: Der Wert des Kunstwerks ist eine "Konstruktion". Und für Rössel liegt in dieser Konstruktion etwas durchaus Beliebiges. Philosophisch gesprochen: eine Kontingenz. "Da steckt sehr viel Kontingenz drin. Es gibt es viele Studien aus dem Feld der Kunst, die zeigen, was jetzt ein Erfolg wird oder was als ästhetisch hochwertig betrachtet wird, mit relativ hohen Zufällen behaftet ist. Wenn man sich eine Kohorte von Absolventen einer Kunsthochschule auswählen würde und dann sagen würde, wer von denen wird am Ende wirklich berühmt? Also es gibt da sehr schöne experimentelle Studien, dass sowohl Laien als auch Kunstsachverständige doch relativ große Mühen haben, wenn sie das Gekritzel von Kindern und von zeitgenössischer Kunst unterscheiden sollen." Die Düsseldorfer Kunsthistorikerin Ulli Seegers sieht eine zunehmende Verengung des Feldes der Akteure, die über den künstlerischen und damit auch den pekuniären Wert eines Werkes urteilen. Der Vermarktungserfolg wird mehr denn je zu einem Netzwerkphänomen. Galerien verbinden sich mit anderen, Händler schließen sich zu Großfirmen zusammen. Die globale Vernetzung des Kunsthandels bleibt nicht ohne Folgen für den Wettbewerb. Sie führt zu einer Konzentration der Nachfrage auf Künstler, die von diesen global arbeitenden Firmen protegiert werden. Mittlerweile, so wiederum Piroschka Dossi, seien es nur noch 30 - 40 Künstler, "die mit ihren Werken die Geschmacksvorlieben einer globalen Geldelite bedienen." "Wie entstehen Preise im 21. Jahrhundert im Kunstmarkt? Das sind Großgalerien, die sich international zusammengetan haben, die eine Geschäftsbeziehung haben und die bestimmte noch unbekannte Künstler entdecken und dann gegenseitig auf verschiedenen Kontinenten in einflussreichen Kunstorten zeigen und vermarkten. Und durch dieses Zusammenspiel ist für einen noch relativ unbekannten Künstler in kurzer Zeit so etwas wie eine Marktmacht gegeben. Also ich werde vom Noname zum Bigname, idealerweise." "Wir alle werden vom Geld korrumpiert" Je bekannter ein Künstler aber wird, schrieb der New Yorker Galerist Leo Castelli bereits Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, "um so mehr wird er unter dem Blickwinkel des Investments betrachtet." Und gab gleichzeitig zu: "Wir alle werden vom Geld korrumpiert". Heute versuchen Künstlerrankings und Kunstindexe, den Erfolg eines Künstlers messbar zu machen und in Zahlen und Preisen darzustellen. Zunehmend gilt das Prinzip der Börse: buy - hold - sell. Also: Kaufen - Halten - Verkaufen. "Das Ziel ist keineswegs der Aufbau einer kunsthistorisch bedeutenden individuellen Privatsammlung, sondern das Ziel ist klar formuliert, das Ziel ist Return of Investment, die Kunst als Investitionsobjekt. Und natürlich werden diese Werke nicht irgendwo aufgehängt, sondern die werden gelagert, in angemieteten Lagerhallen, zollfrei, die explosionsartig aus dem Boden sprießen." Verändert sich so auch der Charakter der Kunst? Sind intellektuelle Tiefe und Komplexität eines Kunstwerks nicht länger erwünscht? Ulli Seegers, die im Dezember ein Buch "Ethik im Kunstmarkt" veröffentlicht, sieht Kunst zunehmend von einer vordergründigen "Konsumästhetik" geprägt: "Dabei geht es darum, mit einer bestimmten Form von Ästhetik, die nicht mehr risikoreich ist, sondern die unsere Zeit abbildet und insofern gesellschaftsfähig ist. Ich will nicht dem das Wort reden, dass es heute keine kunsthistorisch bedeutende Kunst mehr gäbe, aber die Frage nach Ismen, nach neuen Stilen, nach interessanten Positionen, wie sie kunsthistorisch vielleicht in den nächsten 100 Jahren noch interessant bleiben werden, das ist sehr stark zurückgetreten gegen die Betrachtung von Kunst als Investition." "500 five hundred… zum ersten, nein 520, 540, 600, vielen Dank, 620, six hundred" Jede Kunst braucht einen Markt. Und Markterfolg und künstlerische Glaubwürdigkeit bedingen einander. Im Innern aller Kunstwerke, die durch den Kunstmarkt groß werden, glitzert - das Geld. Nur das Geld? Oder ist da noch ein anderer Wert, jenseits des Warenwerts der Kunst? Für den Schriftsteller Walter Benjamin besaß das Kunstwerk eine "Aura", so definierte er 1935 in einem Aufsatz: In der Kunst zeige sich die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag". In ihr erscheine etwas Transzendentes, was über das Angeschaute hinaus geht. Kunst, so wiederum der Maler Paul Klee, gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. "Ich würde sagen, Kunst kann auf ganz entscheidende Weise unsere Wahrnehmung formen und verändern." Dr. Johannes Nathan, Kunstwissenschaftler und Galerist: "Das ist aber etwas, was man im Moment kaum sieht, weil es so schockierend. Wenn man zum Beispiel an Munchs berühmten Schrei denkt, der zu seiner Zeit die meisten, auch die Kunstkritiker abgestoßen hat, wo man vielleicht rückblickend im Zug der fürchterlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts noch mal besser versteht, wie gut es dem Künstler gelungen ist, Urängste des Menschen auf ein klares Bild zu bringen." Erst die Zeit wird entscheiden Traditionell ist es das Museum, das aus der profanen Ware Kunst einen ästhetischen Gegenstand macht. Allerdings geraten die Museen selbst finanziell zunehmend unter Druck und können bei steigenden Marktpreisen im Wettbewerb um Kunst kaum noch mitbieten. Und trotzdem: Wenn das Kunstwerk ins Museum kommt, verlässt es die Welt des Marktes. Das Museum drückt der ausgestellten Ware sozusagen sein Gütesiegel als "staatlich geprüftes Kulturgut“ auf. Es gibt ihm eine Dauer über den kommerziellen Hype hinaus. Prof. Kasper König, langjähriger Direktor des Museums Ludwig in Köln: "Wenn wir es im Museum zeigen, dann ist das ja kein Verkaufsraum, dann ist der ökonomische Wert sekundär. Es gibt viele Dinge, die im Markt keinen außerordentlichen Wert darstellen, die aber in der Ideengeschichte extrem wichtig sind. Im Bewusstsein einer bestimmten Generation ist das Teil dieser Ästhetik. Aber wie das in zehn Jahren sein wird, das wissen wir nicht" "Wie das in 10 Jahren sein wird, das wissen wir nicht". Erst die Zeit entscheidet also, ob aus einem Millionenhype auch ein kunsthistorisch bedeutendes Werk wird, das sich in das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft einprägt. Oder ob es sich dabei um so etwas handelt wie des Kaisers neue Kleider, die niemand zu entlarven wagt, aus Angst als Banause da zu stehen. Erst die Zeit wird entscheiden, ob z.B. Jeff Koons Balloon Dog, jener 56 Millionen-Dollar-Blechpudel zum Epoche bildender Neo-Dada gekürt oder nur eine Fußnote der Kulturgeschichte bleiben wird. "Ich würde sagen, das ist ein Preis, den man in 20, 30 Jahren mit anderen Augen betrachten wird. Das ist etwas, was in der Kunstgeschichte immer wieder passiert ist, dass es Künstler gab, die zu ihren Lebzeiten unglaublichen Erfolg hatten, deren Werke für große Summen verkauft wurden, deren Werke fast vergessen sind, deren Werke vielleicht in den Museen im Depot schmachten und die auf dem Markt nur noch geringe Preise erzielen."
Von Ingeborg Breuer
Warum werden für Kunstwerke des einen Künstlers Millionenbeträge bezahlt und warum gehen andere - nicht weniger talentierte - leer aus? Und wie kommen die teils als absurd wahrgenommenen Preise eigentlich zustande? In mehreren Forschungsprojekten und Veröffentlichungen haben Wissenschaftler versucht, die Mechanismen des weltweiten Kunstmarktes zu entschlüsseln.
"2014-10-09T20:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:07:15.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-wert-der-kunst-wie-funktioniert-der-weltweite-kunstmarkt-100.html
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Klassenziel verfehlt
Walter Hirche (UNESCO): "Wir müssen insbesondere für Mädchen- und Frauenbildung in den nächsten Jahren eine Menge tun." (picture alliance / dpa / Carola Frentzen) Markus Dichmann: Alle Kinder dieser Welt sollen als absolutes Minimum eine Grundschulausbildung erhalten. Das war der Plan im Jahr 2000, vor 15 Jahren, das war der Plan der Vereinten Nationen, dem auch ein Name und ein Budget gegeben wurden: "Bildung für alle" hieß das UN-Projekt, auf eben 15 Jahre angelegt, und heute mit dem UNESCO-Weltbildungsbericht können wir ein Fazit ziehen – und es ist ein ziemlich ernüchterndes Fazit. Es ist gerade mal die Hälfte aller Staaten dieser Welt geworden, die den Kindern eine Grundschulausbildung gewährt, die Zahl der Analphabeten sollte halbiert werden, das hat ebenfalls in Dreiviertel aller UN-Länder nicht funktioniert, und insgesamt sind die Bildungsziele nur von einem Drittel der Mitgliedsstaaten umgesetzt worden. Ich kann jetzt Walter Hirche in der Sendung begrüßen, langjähriger Präsident der deutschen UNESCO-Kommission und heute Vorsitzender ihres Bildungsausschusses. Guten Tag, Herr Hirche! Walter Hirche: Einen schönen guten Tag, Herr Dichmann! Dichmann: Sind Sie heute eigentlich nicht bodenlos enttäuscht, wenn Sie diese Ergebnisse hören? Hirche: Nein, die Ergebnisse überraschen leider nicht, wir haben ja die Entwicklung in den letzten Jahren schon gesehen. Es ist noch ein weiter Weg zu gehen, und es ist auch keine Entschuldigung, dass in der Zwischenzeit die Weltbevölkerung vielleicht stärker gewachsen ist, als man im Jahr 2000 angenommen hat. Wenn immer noch 100 Millionen Kinder weltweit die Grundschule nicht abschließen, dann ist das ein trauriges Signal für die Zukunft. "Zusammenhang von Armut und Bildung ist unterschätzt worden" Dichmann: Wenn ich mir diese so ganz simple Frage erlauben darf – und ich weiß, es wird sicherlich nicht einen Grund haben –, aber Herr Hirche: Woran lag es, wieso ist so wenig erreicht worden? Hirche: Das hat verschiedene Ursachen. Einmal ist es in den Ländern offenbar nicht gelungen, eine ausreichende Zahl von Lehrern rechtzeitig auszubilden. Man hat auf Zugang zu Schulen geguckt und gesagt, dass da Anmeldungen erfolgen, aber keine qualifizierten Lehrer gehabt, und das heißt, viele Kinder sind auch vielleicht eingeschult worden, aber haben dann die Schule wieder verlassen. Es ist auch nach wie vor der Zusammenhang zwischen Armut und Bildung unterschätzt worden, denn in vielen Ländern ist es so, dass wir Kinderarbeit haben und die Eltern fast die Einkünfte der Kinder brauchen, weil sie selber nicht genug haben. Also dieser Zusammenhang ist unterschätzt worden. Überhaupt die Vernetzung der Probleme ist von vielen der Regierenden in den einzelnen Staaten nicht erkannt worden, und wir im Norden der Erdkugel, wir haben uns konzentriert auf unsere eigene Situation und im Süden nicht genug darauf geguckt, dass die Bildungsstrukturen besser ausgebaut werden. "Bildung muss anders organisiert werden" Dichmann: Hat der Norden also, wenn ich Sie richtig verstehe, dem Süden nicht genügend unter die Arme gegriffen. Hirche: So ist es. So ist es – vor allen Dingen auch geglaubt, Entwicklungshilfe hat dann schon ihr Ziel, wenn wir hier mal ein Krankenhaus und dort eine Straßenverbindung einweihen und bezuschussen. Aber das sind Augenblicksprojekte, die sind notwendig, aber viel notwendiger oder man kann sagen existenzieller ist eben, jetzt die Jugend auszubilden, damit die morgen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können und eben nicht mehr auf Hilfe von außen angewiesen sind. Dafür müssen Gelder umgesteuert werden, aber es muss auch mehr Qualität in die Bildungseinrichtungen selber kommen. Es muss vielleicht mehr Verbindung auch von Bildung mit praktischen Problemen, also mit der Lösung von Gesundheitsfragen, mit Ernährungsfragen gemacht werden. Insofern muss Bildung ein bisschen anders organisiert werden als in der Vergangenheit. Dichmann: Da sprechen wir jetzt an dieser Stelle aber oft auch von der Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten, solche Projekte zu verwirklichen. Wir wissen, die UN kann da nichts erzwingen, aber trotzdem: Haben sich die UN, auch die UNESCO vielleicht selbst Fehler zuzuschreiben bei dieser Entwicklung? Hirche: Also es ist so, dass man, glaube ich, zu lange geglaubt hat, wenn man Ziele aufstellt, dann werden die schon erreicht. Klar geworden ist, es muss – wie das so neudeutsch heißt – gemonitort werden, es muss überprüft werden, es muss kontrolliert werden, und dann müssen Weichen neu gestellt werden, es müssen also Schrauben anders angezogen werden oder anders angesetzt werden. Das ist nicht ausreichend gemacht worden, und es sind vielleicht zu viele Schönwetterberichte gemacht worden. Das ist ja gerne so, damit ein Staat gut dasteht oder besser dasteht, und dann wird erst mal gesagt, wir schaffen das und wir machen das. Und das wird nicht mehr ausreichen in Zukunft. Der neue Ansatz ist ja für die Entwicklungsziele, die die UN-Vollversammlung im Herbst dieses Jahres beschließen will, dass wir nicht getrennte Ziele jetzt für Nord und Süd aufstellen, sondern dass die Welt in der Gesamtverantwortung ist, und wir im Norden müssen eben auch gucken, in Partnerschaften, in Kooperationen mit Staaten im Süden, dass die besser vorankommen. Und die schwierigsten Situationen sind nach wie vor in den Subsahara-Staaten, also insbesondere in Afrika, aber auch Südostasien haben wir viele Problemkinder. Südostasien ist ein Beispiel, Myanmar, wo die Situation ganz schlecht ist im Augenblick, allerdings in letzter Zeit einige Anstrengungen unternommen werden, aber in Afrika ist es eben so. In Mali und Niger und Tschad, in diesen Staaten, die auch in kriegerischen Wirren sind, ist der Ausbau des Bildungssystems sehr langsam vorangekommen. "Das Tempo reicht einfach nicht aus" Dichmann: Herr Hirche, gibt es denn bei aller Enttäuschung über diesen Bericht auch irgendetwas Positives, was wir aus den letzten 15 Jahren herauslesen können? Hirche: Es ist ganz sicher als positiv zu verzeichnen, dass heute auf der Welt 50 Millionen mehr Kinder in die Schule gehen als 1999, das ist schon mal positiv, aber das Tempo reicht einfach nicht aus. Auch im Bereich der Erwachsenenbildung haben wir die Verbesserung weitgehend daraus zu erklären, dass eben mehr Jugendliche in die Schule gegangen sind und dann natürlich nicht mehr Analphabeten sind als Erwachsene, aber wir werden noch über einige Jahrzehnte mit einem großen Anteil an Analphabeten zu rechnen haben. Und was mich besonders bedrückt, ist eben, dass nach wie vor Mädchen oder Frauen besonders benachteiligt sind in der Bildungsbeteiligung. Da aber Frauen oft die alleinige Verantwortung noch tragen für Kleinkindererziehung, droht sich damit eine negative Entwicklung fortzusetzen in die Zukunft. Das bedeutet, wir müssen insbesondere für Mädchen- und Frauenbildung in den nächsten Jahren eine Menge tun. Dichmann: In "Campus & Karriere" haben Sie gerade Walter Hirche gehört, langjähriger Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission, heute Vorsitzender ihres Bildungsausschusses. Danke für das Gespräch, Herr Hirche! Hirche: Danke, Herr Dichmann! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Walter Hirche im Gespräch mit Markus Dichmann
Heute gehen weltweit 50 Millionen Kinder mehr zur Schule als 1999. Das ist aber auch das einzig positive Ergebnis des aktuellen UNESCO-Weltbildungsberichts. Noch immer gibt es zu viele Analphabeten, zu wenig Bildungschancen für Frauen und kaum internationale Partnerprojekte, kritisiert Ex-UNESCO-Kommissionspräsident Walter Hirche im DLF.
"2015-04-09T14:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:30:50.247000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unesco-weltbildungsbericht-klassenziel-verfehlt-100.html
307
Niederlande wollen Assad-Regime vor Gericht stellen
Immer wieder kommt es in Syrien zu Angriffen der Regierungstruppen auf die Zivilbevölkerung (picture alliance/dpa/ Sputnik) Sie heißt Nur und ist eines von 50 syrischen Flüchtlingskindern, die 2017 in einem Lager in Jordanien fotografiert wurden - alle sieben Jahre alt, so der niederländische Außenminister Stef Blok. Blok hat das Porträt von Nur noch im selben Jahr mit nach New York genommen, um es auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats demonstrativ in die Höhe zu halten: "Ich bin selbst Vater und mit Sicherheit nicht der einzige hier", so Blok, "Bilder von Kindern, die nichts als Krieg in ihrem Leben kennen, sollten niemanden unberührt lassen." Die Niederlanden konnten im UN-Sicherheitsrat nicht überzeugen Mit diesem Appell hat Blok gehofft, den UN-Sicherheitsrat zu überzeugen. Dieser kann einstimmig beschließen, Menschenrechtsverletzungen wie sie das syrische Regime unter Präsident Baschar al Assad begangen haben soll, vor den ICC zu bringen, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Weil Syrien kein Mitglied des ICC ist, kann der Strafgerichtshof nur dann ermitteln, wenn der UN-Sicherheitsrat ihn dazu auffordert. Doch wie erwartet legte Russland, das hinter Assads Regime steht, dagegen sein Veto ein. "Prozesse sind dazu geeignet, den Nimbus von Macht anzufechten" Mit dem Prozess gegen mutmaßliche Folterer des syrischen Regimes sei die Hoffnung verbunden, dass in Syrien selbst ein Nachdenken losgehe, sagte der Anwalt Wolfgang Kaleck im Dlf. Aber, so Blok heute: "Wir haben einen zweiten Weg gefunden, Damaskus zur Verantwortung zu ziehen. Über einen Vertrag, den auch Syrien unterschrieben hat: die Anti-Folter-Konvention von 1984." Darin verpflichten sich die Staaten, nicht zu foltern. Und in dieser Konvention haben sie auch abgesprochen, dass sie sich gegenseitig zur Rechenschaft ziehen können, wenn einer der Staaten sich nicht daran hält. Genau das haben die Niederländer Ende September getan, mit einem diplomatischen Schreiben, das sie bei der syrischen Botschaft in Genf abgegeben haben. Darin werfen sie Damaskus formell vor, sich der Folterungen schuldig gemacht zu haben, und fordern ein Ende der Verbrechen: Assad müsse die Folterer verurteilen lassen und die Opfer entschädigen. Ermittlungen am Internationalen Gerichtshof möglich Als Basis soll Beweismaterial dienen, das die Niederlande seit 2017 zusammen mit anderen Ländern gesammelt haben: Aussagen von Augenzeugen, Gutachten, Filme und Fotos. Assad könne nicht länger alles abstreiten und behaupten, es gebe keine Beweise. "Die haben wir jetzt", so jedenfalls Blok. Ob Damaskus auf das Schreiben reagiert hat, ist offen; hinter den Kulissen laufen diplomatische Gespräche zwischen Den Haag und Damaskus. Sollten sie scheitern, wäre der Weg für ein gerichtliches Verfahren frei – in diesem Falle vor dem Internationalen Gerichtshof im Haager Friedenspalast, dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen, erklärt Marieke de Hoon, Assistenz-Professorin für internationales Recht an der Freien Universität Amsterdam: "In Artikel 30 der Anti-Folter-Konvention steht, dass Staaten, wenn Gespräche zu nichts führen, den Fall dem internationalen Gerichtshof vorlegen können. Auch damit hat sich Syrien bei der Ratifizierung dieses Vertrages einverstanden erklärt!" Das Urteil des internationalen Gerichtshofs ist bindend. Er verhängt keine Strafen gegen einzelne Angeklagte, sondern schlichtet Konflikte zwischen Staaten. Blok: "Wir lassen nicht locker" Damaskus könnte das Urteil zwar ignorieren. Aber sollte der Hof zu dem Schluss kommen, dass sich die syrische Regierung der Folterungen schuldig gemacht hat, dann würde das in jedem Falle Anerkennung für die Opfer bedeuten, so de Hoon. Doch bis dahin können Jahre vergehen, wie auch Außenminister Blok weiß – und erinnert an das Schicksal der kleinen Nur, deren Porträt seit 2017 in seinem Arbeitszimmer hängt: "Mit diesem Schritt geben wir ein Signal ab – nicht nur an Assad, sondern an alle, die auf der verkehrten Seite stehen. Wir lassen nicht locker. Der Krieg in Syrien darf kein vergessener Krieg werden."
Von Kerstin Schweighöfer
Die Niederlande wollen die Regierung von Syriens Präsident Baschar al Assad wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen. Ein Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag scheiterte am Veto Russlands. Nun soll es über die Anti-Folter-Konvention gelingen.
"2020-10-23T09:10:00+02:00"
"2020-10-24T11:20:07.259000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buergerkrieg-in-syrien-niederlande-wollen-assad-regime-vor-100.html
308
"Eine alternde Bevölkerung wird Kosten steigen lassen"
Bettina Klein: Mit Blick auf die bevorstehenden Probleme in der Kranken- und vor allem in der Pflegeversicherung bleibt für einen Bundesgesundheitsminister jede Menge Arbeit. Die alternde Gesellschaft, die höhere Lebenserwartung, die demografischen Probleme rufen immer wieder die Warnungen der Fachwelt hervor. Daniel Bahr von der FDP ist jetzt genau 100 Tage im Amt, nachdem es vor einigen Monaten einen Personal- und Führungswechsel in seiner Partei gegeben hat. Ich habe ihn gefragt, was er persönlich für seine größte Leistung bisher hält.Daniel Bahr: Die ersten 100 Tage waren geprägt von großen Bewältigungen bei EHEC. Da haben wir es hingekriegt, dass wir in kurzer Zeit rausgefunden haben, wo die Ursache liegt - das ist weltweit nicht selbstverständlich, in 90 Prozent der Fälle wird es nicht gefunden - und wir haben auch innerhalb meiner ersten 100 Tage als Gesundheitsminister Konsequenzen daraus gezogen, denn wir werden jetzt die Meldefristen verkürzen, sodass uns früher beim zuständigen Robert-Koch-Institut die Meldungen aus den Krankenhäusern künftig vorliegen und wir schneller agieren können. Und das zweite große Thema war für mich natürlich die Situation der Versicherten bei der City BKK, die pleite gegangen war, dort hinzukriegen, dass sie nicht abgewimmelt werden. Das war ein unwürdiges Verhalten, das einige Krankenkassen gezeigt haben. Auch da haben wir Konsequenzen draus gezogen. Und ich kann ja sogar vermelden: In meinen ersten 100 Tagen ist ein großes Gesetz, was die Versorgung der Menschen vor Ort verbessert, mit dem Versorgungsstrukturgesetz jetzt auf den Weg gebracht worden. Also das war schon ein ganz schönes Arbeitsprogramm in den ersten 100 Tagen.Klein: Lassen Sie uns kurz bei dem letztgenannten Punkt bleiben. Es gab da natürlich auch Kritik daran. Eine, die sich daran entzündet hat, dass möglicherweise das nicht ausreichend sei – die Kritik kommt natürlich immer schnell – und speziell der Punkt: Es wird eben nicht nur Anreize geben, dass Ärzte sich eben verstärkt in ländlichen Regionen zum Beispiel ansiedeln, also da, wo es zu wenig Ärzte gibt, sondern eben es hätte auch eine Art von Malus geben müssen, dass sozusagen ein Negativanreiz da ist, dass eben man nicht in die attraktiven Städte geht, in die Metropolen vielleicht, wo es besonders viele Ärzte gibt. Weshalb halten Sie das für nicht gerechtfertigt?Bahr: Wir machen das ja. Wir setzen auch Anreize, dass Überversorgung in Großstädten abgebaut wird, dort, wo Überversorgung festgestellt wird. Also dort, wo wir zu viele Ärzte haben, haben jetzt die kassenärztlichen Vereinigungen die Möglichkeit, frei werdende Arztsitze aufzukaufen, so dass die nicht wieder besetzt werden. Das heißt, die Mediziner, die jetzt überlegen, wo sie sich niederlassen, haben dadurch noch mehr und bessere Anreize, in die Fläche zu gehen. Wovon wir nichts halten, ist die Regelung, die lange im Gesetz stand, aber nie angewandt wurde - aus guten Gründen -, ist, dass man einfach den Ärzten in den Großstädten das Honorar kürzt, weil keiner deswegen seine Praxis von Berlin in die Uckermark verlegt oder keiner von Stuttgart auf die Schwäbische Alb geht oder keiner aus Köln seine Praxis ins Oldenburger Münsterland verlegt, nur weil es gewisse Honorarkürzungen gibt. Diese Regelung stand lange im Gesetz, die wenden wir nicht an, weil wir die richtigen Anreize setzen wollen, um jemanden zu locken auf die Fläche, und das sind Zuschläge, das ist der Abbau von Bürokratie, das ist, Sorge zu nehmen, wenn ich mehr Patienten habe, werde ich immer schlechter für den einzelnen Patienten vergütet, oder die Sorge, dann werde ich in Regress genommen für zu viele Arzneimittel. Ich glaube, das sind die richtigen Maßnahmen, die man ergreifen muss.Klein: Da sind wir beim Kostenfaktor, das wird eine Menge Geld kosten. Was sagen Sie den Kritikern, die sagen, so viele Milliarden – und Wolfgang Schäuble war einer von denen, der das wirklich beklagt hat, der Bundesfinanzminister –, das ist einfach nicht finanzierbar auf Dauer?Bahr: Also es wäre auf Dauer viel teurer, wenn wir nichts täten. Wir sehen das in Brandenburg, das ist das Land, was die geringste Arzt-Patienten-Dichte hat, die haben also die wenigsten niedergelassenen Ärzte pro Einwohner, haben aber die höchsten Krankenhauskosten, die höchsten Rettungsdienstkosten und Krankentransportkosten. Das heißt, wenn ich nicht vor Ort einen Arzt habe, werden die Kosten größer, weil die Leute dann vielleicht länger fahren müssen, teurere Untersuchungen machen müssen und dann erst recht ins Krankenhaus kommen. Das heißt, ich spare Geld, wenn ich jetzt gegen diesen drohenden Ärztemangel arbeite, ich investiere, dass eine alternde Bevölkerung ... dass diese demografische Entwicklung, die wir festzustellen haben in Deutschland, dazu führend wird, dass in den nächsten Jahrzehnten Gesundheit nicht billiger wird, das ist, finde ich, eine Erkenntnis, die jemand nur bösartig zerstreuen kann. Also ich bin nicht der Gesundheitsminister, der verspricht, es kann alles billiger werden, weil wir wissen: Eine alternde Bevölkerung wird Kosten steigen lassen. Deswegen müssen wir ja jetzt richtige Strukturen schaffen, um Kosten nachher zu vermeiden, müssen wir auf Vorsorge setzen, müssen wir auf Eigenverantwortung setzen, damit Gesundheit nicht exorbitant teurer wird.Klein: Stichwort alternde Gesellschaft: Das nächste Projekt, was die Koalition wohl angehen wird, ist die Reform der Pflegeversicherung. Sie haben angekündigt, Sie werden in den kommenden Wochen Eckpunkte zur Reform der Pflegeversicherung herausbringen. Können Sie schon andeuten, welche das sein werden, von welchem Zeitraum Sie da ausgehen?Bahr: Wir haben gesagt, dass wir die im Sommer vorlegen, und der Sommer dauert bis zum 23. September. Insofern haben wir noch Zeit. Wir sind noch mitten in den Beratungen, die sehr gut verlaufen. Da ist noch nichts vorentschieden, aber die Koalition hat sich ja im Koalitionsvertrag darauf vereinbart, dass wir eine Pflegereform machen wollen. Andere Regierungen haben in ihren Legislaturperioden gar nichts bei der Pflege gemacht, beispielsweise Rot-Grün, zwei Legislaturperioden, hat gar nichts gemacht. Wir gehen das an, wir wollen Verbesserungen für Angehörige, Pflege wird sehr stark in der Familie gemacht, viele in der Familie sind aber überfordert, brauchen Unterstützung. Wir wollen ambulante Pflege vor stationärer Unterstützung, weil die Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben wollen und nicht ins Heim abgeschoben werden sollen. Leider sind teilweise die Anreize so, dass ambulant vor stationär nicht genügend der Anreiz gesetzt wird. Wir wollen auch etwas tun, dass die Bürokratie, die wir in der Pflege besonders zu beklagen haben, zurückgeführt wird, und vor allem wollen wir die Finanzierung so stärken, dass sie Vorsorge trifft für die steigenden Kosten einer alternden Bevölkerung und damit Vorsorge stärkt für die steigenden Kosten von immer mehr Pflegebedürftigen.Klein: Mehrere Punkte haben Sie jetzt genannt, wichtige Punkte. Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren, was zum Beispiel Unterstützung von Angehörigen angeht?Bahr: Ich will ja noch nichts vorwegnehmen, weil wir sind ja noch mitten in den Beratungen, aber wir haben ja auch in Dialogen mit vielen Experten und auch Betroffenen darüber gesprochen, da sagten Angehörige, sie brauchen eine bessere Information: Wo sind die Leistungen, die ich in Anspruch nehmen kann? Wir müssen auch mal eine Auszeit nehmen können, wir wollen Hilfe haben, dass wir nicht das Gefühl haben, wir müssen illegale Beschäftigung nutzen, um überhaupt unsere Angehörigen, unseren Großvater, unsere Großmutter, unsere Mutter, unseren Vater pflegen zu können. Wir wollen das nicht, dass das in illegalen Beschäftigungsverhältnissen ist, sondern dass es regulär ist. Dafür muss man entsprechende Anreize setzen und auch Regelungen verändern. Ich kann das noch nicht abschließend sagen, weil wir noch mitten in den Beratungen sind, aber um diese Themen kümmern wir uns.Klein: Die Caritas zum Beispiel bietet ja inzwischen, ich sage mal, Haushaltshilfen aus Polen an, die legal angemeldet sind, die Vorbereitungskurse bekommen, Deutschkurse bekommen, wo man sich sozusagen auch um die Herkunftsfamilie in Polen zum Beispiel kümmert. Das ist nicht illegal, das ist legal, das ist teurer als die illegalen Pfleger. Ist das eine Alternative, wo Sie sagen, darauf sollte man setzen, obwohl das Pflegekräfte sind, die nicht voll und nicht so gut ausgebildet sind wie die deutschen, dafür aber deutlich günstiger in den Preisen sind? Ist das eine Alternative für Sie?Bahr: Ich halte nichts davon, dass wir jetzt ein Dumping bei Pflegelöhnen erleben. Das ist auch nicht gerechtfertigt für das, was dort geleistet wird – und das, was die Menschen, die in der Pflege arbeiten, leisten, ist nicht zu unterschätzen, das ist eine große Bedeutung, das verdient auch einen anständigen Lohn. Und die Regierung hat ja auch einen Pflegemindestlohn eingeführt, um auch nach unten eine Grenze zu setzen und nicht ein Dumping nach unten zu haben. Aber gleichwohl ist das auch in einem europäischen Arbeitsmarkt sinnvoll, wenn auch Leute aus Osteuropa, aus Polen oder Tschechien hier herkommen, hier arbeiten und ihre Beschäftigung suchen, dass wir auch verhindern durch gezielte Maßnahmen, dass es zu illegaler Beschäftigung kommt. Auch heute schon gibt es Anreize, dass nicht illegal beschäftigt werden muss, es gibt besondere Förderprogramme, es gibt Ansprüche. Ein Problem ist, dass viele nicht wissen, was sie nutzen können, da braucht es bessere Information, auch dazu soll diese Reform beitragen.Klein: Sie sagen, es gibt sozusagen zwei Probleme, die eigentlich im Gegensatz zueinander stehen: Auf der einen Seite können sich viele Familien nicht leisten, privat Pflegekräfte zu engagieren, auf der anderen Seite ist der Beruf der Pflegenden unterbezahlt in der Gesellschaft, zu wenig angesehen. Ja, im Prinzip, die Lösungen für diese beiden Probleme schließen sich ja scheinbar aus: Wir brauchen mehr Geld, um Pflegende zu bezahlen, möglicherweise die Löhne auch zu erhöhen. Auf der anderen Seite ist die Frage: Wie ist das finanzierbar?Bahr: Das ist der Interessenausgleich, den wir schaffen müssen. Es ist richtig, man kann nicht nur einfach ein Problem lösen und damit schafft man sich viele neue Probleme. Der Koalition geht es deswegen darum, dass wir hier nicht etwas überstürzen, sondern dass wir hier einen fairen Interessenausgleich finden. Ich sage aber auch: Die Pflege wird in Deutschland überwiegend von Familien gemacht, das ist auch richtig so, denn es geht bei der Pflege mir auch um den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Nämlich um die Frage: Wie gehen wir in einer Bevölkerung, in der immer weniger Kinder sind und Nachwuchs kommt, mit einer menschenwürdigen Pflege und menschenwürdigem Altern um? Und diesen Zusammenhalt in der Gesellschaft wollen wir leisten, dafür ist Familie übrigens auch da. Familie heißt ja nicht nur, dass man in guten Zeiten füreinander da ist, sondern dass man auch in schwierigen Zeiten füreinander da ist. Und wenn man jemanden in der Familie hat, wie ich es auch erlebt habe, jemand, der pflegebedürftig ist, dann muss man sich gegenseitig unterstützen, dann müssen wir als Politik die Rahmenbedingungen so setzen, dass Familien das auch leisten können.Klein: Abschließend, Herr Bahr: In Ihrer Partei hat es vor einigen Monaten einen Führungswechsel gegeben, Sie selbst sind, wir haben es gerade gesagt, 100 Tage jetzt im Amt. Ein Ziel war, dass man die Wahrnehmung der FDP, die sich ja auch gerne in Umfragewerten niederschlägt, verbessert, den Zuspruch, den Ihre Partei hat, erhöht. Jetzt haben wir sozusagen über Umfragewerten zwischen vier und fünf Prozent, das ist, ich sage mal, verglichen mit dem Wahlergebnis von vor zwei Jahren einiges weniger. Sind Sie zufrieden mit dem, was da bisher passiert ist?Bahr: Ja, weil ich nie die Erwartung hatte, dass wir innerhalb von 100 Tagen wieder auf das alte Bundestagswahlergebnis kommen. Das braucht länger, denn dass die Umfragen wieder besser werden, das kommt immer danach, wenn die Stimmung schon besser ist. Insofern sage ich, zur Hälfte der Legislatur ist das Spiel noch nicht zu Ende, wir haben noch die zweite Spielhälfte, und die müssen wir jetzt nutzen, um den Rückstand aufzuholen.Klein: Geben Sie uns ein Beispiel, wie wollen Sie es nutzen?Bahr: Wir müssen in diesen zwei Jahren die Reformen, die wir entschieden haben, wirken lassen, wir müssen zeigen, dass wir besser mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger umgehen können als andere Parteien, das zeigt sich jetzt: Wir haben die Euro-Bonds, als Beispiel, verhindert, wir schaffen es, dass die Schulden gesenkt werden in Deutschland, während beispielsweise in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung unter Rot-Grün die Schulden immer weiter erhöht hat. Wir kriegen bei der Steuerentlastung glaube ich auch etwas auf den Weg, was alles miteinander verbindet, Haushaltskonsolidierung, Währungsstabilität, aber trotzdem noch den Spielraum lässt, dass die, die den Wirtschaftsaufschwung erarbeiten, auch etwas davon zurückbekommen und nicht hauptsächlich der Staat von Gehaltserhöhungen profitiert.Klein: Vielen Dank, Herr Bahr!Bahr: Vielen Dank Ihnen!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Bahr im Gespräch mit Bettina Klein
Man müsse auf die Eigenverantwortung der Menschen setzen, um die Kosten des demografischen Wandels abzufedern, fordert der FDP-Politiker. Mit der geplanten Reform der Pflegeversicherung will der Minister auch den Zusammenhalt in Familien stärken.
"2011-08-19T07:20:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:37.577000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eine-alternde-bevoelkerung-wird-kosten-steigen-lassen-100.html
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Ukraine blockiert russische Internetportale
Startseite des russischen sozialen Netzwerks vk.vom (Deutschlandradio/Charlotte Voß) Mit der Entscheidung folgte Präsident Petro Poroschenko einem Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats. Die russischen Internetportale und Programme seien eine Bedrohung für die Ukraine, so der Leiter des Sicherheitsrats, Oleksander Turtschynow: "Der Geheimdienst hat herausgefunden, dass einige dieser Portale dazu benutzt werden, illegal Daten über unsere Bürger zu sammeln. Das ist Spionage. Außerdem wurden Viren über russische Server und Programme verbreitet - zielgerichtet, als Angriff. Das sind Gefahren für den ukrainischen Cyberspace, die wir ausschalten müssen." Russischer Geheimdienst wollte Zugriff auf "Vkontakte" Als besonders wertvoll für Russland gilt das soziale Netzwerk "Vkontakte". Über 15 Millionen Zugriffe verzeichnete es täglich in der Ukraine und war damit populärer als das US-amerikanische Konkurrenzprodukt "Facebook". Auch ukrainische Soldaten haben dort Konten - zwar eigentlich nur privat, dennoch können die Nachrichten, die sie dort austauschen, für ausländische Geheimdienste wertvoll sein. Selbst die Angabe ihres jeweiligen Standorts sei eine wichtige Information, sagen Experten. Schon während der prowestlichen Demonstrationen in Kiew vor dreieinhalb Jahren soll der russische Geheimdienst FSB Druck auf "Vkontakte" ausgeübt haben. Er habe Zugriff auf die Daten von Teilnehmern verlangt, erklärte einer der Gründer des Unternehmens, Pawel Durow. Filme und Musik können nicht mehr heruntergeladen werden Trotzdem stieß die Entscheidung von Präsident Poroschenko auch in der Ukraine auf heftige Kritik, so beim fraktionslosen Parlamentsabgeordneten Serhij Taruta: "Wenn diese Maßnahme vor drei Jahren gekommen wäre, als der Krieg im Donezbecken viele Todesopfer forderte, hätten alle gesagt: Ja, wir müssen drastische Maßnahmen ergreifen. Aber wie kommt der Sicherheitsrat ausgerechnet jetzt auf diese Idee? Wollen wir dem Westen zeigen, dass auch wir Sanktionen gegen Russland durchsetzen? Meine Enkelin, die in die zehnte Klasse geht, hat mich angerufen und gefragt: Macht die Regierung eigentlich auch mal etwas Gutes für das Land? Jetzt können wir keine Filme und keine Musik mehr herunterladen." So sehen es viele Beobachter: Präsident Poroschenko will Stärke gegen Russland zeigen - und damit den Partnern im Westen ebenso imponieren wie den Wählern. Zuvor hatte er schon Sanktionen gegen russische Banken verhängt, die sich nun nach und nach aus der Ukraine zurückziehen. Ukraine wird in der Rangliste der Pressefreiheit nach unten rutschen Seine Kritiker meinen jedoch, beim Verbot der Internet-Portale gehe es um mehr. Der als Russland freundlich geltende Abgeordnete Jewhen Murajew: "Wenn die Staatsmacht Angst vor ihren Bürgern hat, dann beginnt sie, den Zugang zu Informationen zu beschränken. Das kennen wir eigentlich aus totalitären Systemen. Ich fürchte, im Westen wird das eher schlecht ankommen. Die Ukraine wird in wichtigen Ranglisten nach unten rutschen, wenn es um das Investitionsklima geht oder um die Pressefreiheit." User finden Wege, das Internet weiter zu nutzen Tatsächlich kritisieren auch internationale Nicht-Regierungsorganisationen die Entscheidung. "Human Rights Watch" forderte Präsident Poroschenko auf, seinen Erlass zurückzunehmen. Präsident Poroschenko versuche, den öffentlichen Diskurs in der Ukraine zu kontrollieren, erklärte die Leiterin der Organisation in der Ukraine. Auch die Vereinigung "Reporter ohne Grenze" protestierte. Die Blockade der Seiten heißt jedoch nicht, dass Ukrainer sie nicht mehr besuchen werden: Schon kurz nach Poroschenkos Entscheidung war das ukrainische Internet voll mit Anleitungen, wie Nutzer die Blockade umgehen können.
Von Florian Kellermann
Heute Nacht läuft die Frist ab: Bis dahin müssen ukrainische Internetanbieter russische Internetseiten blocken, auch das Facebook-Pendant Vkontakte. Das greift in das Leben von Millionen Ukrainern ein. Bürgerrechtsorganisationen sehen darin eine Einschränkung der Pressefreiheit.
"2017-05-31T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:30:16.390000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sanktionen-ukraine-blockiert-russische-internetportale-100.html
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"Zoodles" und "Bingewatching"
Bowl mit Zoodles (imago / Westend61) Deutschland im Dezember 2018. Irgendwo zwischen Filterblase, Candystorm und Welterschöpfungstag liegt die Stadt Mannheim. Und während überall sonstwo in der Republik die Menschen noch hohldrehen und herumstressen - sei es wegen Weihnachten, sei es wegen der neuen Spiegel-Affäre oder sei es wegen der dunklen Wolken über Helene Silbereisen und Florian Fischer - während all dessen lehnt man sich in Mannheim bereits zurück und zieht Bilanz. Über das ablaufende Jahr und über das auch allmählich ablaufende Jahrzehnt. Also das Jahrzehnt von Clickbaiting und Clean Eating, von Crowdfunding und Cybergrooming, von Twerking und Co-working. Ein ziemlich bestes Jahrzehnt, zumindest was die Ausbeute an neuen Wörtern betrifft. Diese legt uns nämlich das Institut für Deutsche Sprache mit Sitz in Mannheim jetzt unter den Baum, und das nenne ich nice. Das Duckface im Darknet, das Emoji im Escaperoom, das Fatbike im Flugmodus, die Paketdrohne hinter der Paywall und ja, auch den Flexitarier mit dem Fitnessarmband und die Gruselclowns von der GroKo - sie alle, kaum mehr wegzudenken aus unserem Leben, hat es vor Beginn der Zehnerjahre ebenso wenig gegeben wie Influencer und Superfood. Juwelen wie die "Pushnachricht" und die "Doodleliste" Zweihunderteinundzwanzig - so die Anzahl der Einträge, um die das Neologismenwörterbuch des Instituts für Deutsche Sprache seit 2010 gewachsen ist. Auf den ersten Blick mag das eher kümmerlich aussehen, zumal es die Nullerjahre noch auf 725 und die Neunziger sogar auf 1028 Neueinträge brachten. Aber waren da Juwelen wie Hipsterbart und Pushnachricht und Doodleliste und Freistoßspray dabei? Oder solche Tacheles-Knaller wie Shitstorm und Reichweitenangst und Freundschaft plus? Eben nicht. Und derart erlesene Neuschöpfungen sind eben mit mehr Aufwand verbunden, die müssen in Ruhe entwickelt werden, die lassen sich nicht so en gros raushauen. Die Zehner sind übrigens auch die erste Dekade der Welt, die aus dem Namen einer Bundeskanzlerin oder eines Bundeskanzlers ein gebräuchliches Verb gemacht hat: merkeln. Da konnte der Gerhard zuvor schrödern, so laut er wollte, und an den Stäben unserer Wortschatzkammern rütteln – so weit hat er es nicht gebracht. Außerdem müssen wir den Zehnerjahren beim Nachzählen doch zugute halten, dass in ihnen nicht nur neue Wörter erfunden, sondern auch ganz alte Wörter erfolgreich wiederbelebt wurden. Von Lügenpresse zum Beispiel oder von Volksverrätern hatte man siebzig Jahre lang nicht gehört. 51 Neuwörter aus 2018 Überhaupt, der modische Mimimi-Faschismus, wie er die Sprache bereichert! Ohne ihn und all die Hater, die ihn unentwegt liken, wären wir ja nie im postfaktischen Zeitalter angekommen. Jetzt kann jeder »Fake News!« brüllen, sobald ihm etwas nicht in den Kram passt. Nach diesem Prinzip werden ja mittlerweile ganze Staaten regiert, ganze Weltmächte - und wem das nicht passt oder wer gar befürchtet, dass derlei den ganzen Planeten zerstören wird, der kann ja abzwitschern, der kann ja auswandern auf das Gendersternchen. Oder? Wie auch immer: Ein Hoch auf 2018! Denn von den erwähnten Neuwörtern dieses Jahrzehnts stammen allein 51 aus dem gerade ablaufenden Jahr. Ich finde, das lohnt es sich zu retweeten. Darauf ein Craftbeer oder einen Cold Brew.
Von Michael Ebmeyer
Welche Wortneuschöpfungen sind es wert, ins Neologismenwörterbuch aufgenommen zu werden? Über 2000 Einträge verfügt das Handbuch des Instituts für Deutsche Sprache schon. Jetzt gibt es neue - etwas mehr als nur "Freundschaft plus" ist auch dabei.
"2018-12-20T17:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:26:42.555000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wortneuschoepfungen-2018-zoodles-und-bingewatching-100.html
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Auf Platz eins des Klima-Risiko-Indexes: Puerto Rico
Der Hurrikan Maria hat im September 2017 in Puerto Rico schwere Schäden verursacht. (AFP / Hector Retamal) Immer wieder die Karibik und immer wieder Südasien: Diese beiden Regionen sind Jahr für Jahr besonders stark von Katastrophen betroffen, die mit der Erderwärmung in Verbindung stehen. Im vergangenen Jahr stehen Puerto Rico, Sri Lanka und die Karibikinsel Dominica auf den ersten Plätzen des Klimarisiko-Indexes, den die umwelt- und entwicklungspolitische Organisation Germanwatch bei der Klimakonferenz in Kattowitz vorgelegt hat. David Eckstein gehört zu den Verfassern des Berichts. "Das Event, das am meisten eingeschlagen hat in den Ergebnissen, war der Hurrikan Maria, der extreme Verwüstungen in Puerto Rico verursacht hat, aber auch in Dominica, wo, ich glaube über das doppelte Bruttoinlandsprodukt an Schäden verursacht wurden. In Puerto Rico sieht es ähnlich aus, da gab es über 3.000 Tote, und das erklärt das hohe Ranking dieser beiden Staaten." "Das ganze Land wurde aus der Bahn geworfen" Lloyd Pascal ist im Umweltministerium auf Dominica für die Bewältigung der Folgen des Hurrikans Maria zuständig, und er ist Kummer gewohnt. "Wir liegen fast im Zentrum des Hurrikangürtels. Die atlantischen Hurrikans, die sich aus Afrika in die Karibik und nach Amerika bewegen, ziehen immer an Dominica vorbei - nicht alle treffen uns." Hurrikan Maria traf Dominica und die Folgen werden noch viele Jahre spürbar sein. "Das ganze Land wurde aus der Bahn geworfen - in jeder Hinsicht. Alle Straßen waren blockiert, viele Brücken wurden einfach weggeblasen. 90 Prozent der Häuser wurden beschädigt oder zerstört. Viele Menschen starben. Wir kennen nicht die exakten Zahlen, doch wir haben mitbekommen, wie ein Haus einfach weggeschwemmt wurde. Die Bewohner wurden nie gefunden, niemand konnte sie begraben." In Sri Lanka waren es im vergangenen Jahr extreme Regenfälle, die für ungewöhnlich starke Zerstörungen sorgten. Auch in der langfristigen Bilanz sind die Karibik und Südasien besonders betroffen - für den Zeitraum von 1998 bis 2017 stehen Puerto Rico, Honduras und Myanmar ganz oben im Index. Maik Winges von Germanwatch dazu: "Wir sehen, dass natürlich die Länder, die besonders wenig zum Klimawandel beigetragen haben, besonders stark darunter leiden. Das bedeutet aber nicht, dass Industrieländer und Länder in Europa nicht davon betroffen sind. Wir sehen, dass regelmäßig auch die USA und in Europa alle Länder Mitteleuropas relativ weit oben in unserem Index landen." Anpassung an den Klimawandel Deutschland steht in dem Index in der langfristigen Bilanz auf Platz 23, der Hitzesommer 2003 mit vielen Todesfällen ist ein Grund dafür. Für 2018 liegen noch keine Daten vor, doch vermutlich gab es mehr katastrophale Ereignisse als zuvor. Für den Index nutzt Germanwatch Daten des Naturkatastrophen-Dienstes des Versicherers Munich Re. Erfasst werden sowohl der Verlust von Menschenleben als auch ökonomische Schäden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und Größe des jeweiligen Landes. Bei der Klimakonferenz in Kattowitz dürfte die Katastrophenbilanz für Diskussionen sorgen. Entwicklungsländer fordern von den Industrieländern mehr Hilfe bei der Anpassung an den Klimawandel - die Industrieländer sind hier zurückhaltender als bei der Hilfe etwa für den Einsatz erneuerbarer Energien. Marie-Lena Hutfils von Germanwatch nennt Forderungen. "Im Bereich Klimaschutz und Anpassung muss natürlich mehr getan werden, aber auch der Umgang mit Klimawandel bedingten Schäden und Verlusten muss vermehrt in den Vordergrund geraten. Gerade wenn es jetzt auf der Klimakonferenz um das Regelbuch geht, also die Umsetzung des Paris-Abkommens, muss in der Hinsicht mehr getan werden." Das Regelbuch steht im Zentrum der Konferenz, es soll eine Art Gebrauchsanleitung für das Pariser Abkommen werden. Entwicklungsländer fordern möglichst genaue Festlegungen für ihre Unterstützung im Klimaschutz - und zuverlässige Finanzflüsse, um mit den Folgen von Naturkatastrophen fertig zu werden, die durch die Erwärmung häufiger oder auch intensiver werden.
Von Georg Ehring
11.500 Tote und ein Gesamtschaden von mehr als 275 Milliarden US-Dollar – 2017 war weltweit das schlimmste Extremwetterjahr der jüngeren Geschichte. Die Umweltorganisation Germanwatch hat auf der Klimakonferenz in Kattowitz ihren Klima-Risiko-Index vorgestellt. Manche Regionen trifft es immer.
"2018-12-04T11:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:50.462000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katastrophenbilanz-2017-auf-platz-eins-des-klima-risiko-100.html
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Immer mehr Türken lernen Deutsch
Das Interesse an den Deutschkursen beim Goethe-Institut steigt seit Jahren weltweit - auch in Istanbul. (picture alliance / dpa / Soeren Stache) "Artikel?" "Ähm, das." "Nein, die. Die Provision. Was ist denn die Provision? Der, die, das …. Das macht auch Cecil schwer zu schaffen. Trotzdem beißt sich die junge Istanbuler Zahnärztin beim Sprachkurs am Goethe-Institut durch. Sie will auswandern, und zwar nach Deutschland, obwohl ihr eigentlich Englisch besser ist: "Deutsche sind, wie soll ich sagen, nette Leute. Ich liebe Deutschland, ich liebe Berlin. Ich kann sagen, ich habe meine beste Zeit in Berlin verbringen...verbrungen...verbracht!" Cecil hat schon ein Jahr in Berlin gelebt, will jetzt noch einen Masterstudiengang in Zahnmedizin in Deutschland draufsetzten. Dafür gibt sie in der Türkei viel auf. Mit ihren 25 Jahren hat sie schon eine eigene Praxis am Taksim-Platz. Aber wenn nicht jetzt, wann dann, sagt sie und lacht schüchtern. Die deutsche Hochschullandschaft hat einen guten Ruf Und damit gehört sie zur Mehrheit. Denn Hauptgrund für Türken Deutsch zu lernen ist: "Dass die deutsche Hochschullandschaft weiterhin ein großes Ansehen im Ausland hat, dass viele ein Studium in Deutschland anstreben, vor allem in den Ingenieurwissenschaften, aber auch Architektur, Design, auch viel im Bereich Musik und Kunst", sagt Verena Sommerfeld, stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts in Istanbul. Der 23-jährige Rdwan lernt erst seit ein paar Monaten Deutsch: "Um ehrlich zu sein, alles fing mit einem deutschen Rapper an." Jetzt übt er Deutsch, in dem er die Songtexte der Rapper ins Türkische übersetzt. Rdwan studiert Volkswirtschaft in Istanbul. Er will auswandern, nach Tschechien oder eben Deutschland: "Ich würde gerne trinken Bier, aber es ist sehr teuer in der Türkei." Aber nicht nur das treibt ihn weg. Die aktuelle Lage in der Türkei, die Unsicherheit – das macht ihm zu schaffen: "Die politische Situation, die wirtschaftliche, es gibt keine wirkliche Redefreiheit." Die Entwicklung in ihrem Land bereitet den Kursteilnehmern Sorge Das Interesse an den Deutschkursen beim Goethe-Institut steigt seit Jahren, sagt Sommerfeld, weltweit. In der Türkei hat es allerdings nach dem Putschversuch noch mal einen kleinen Schub gegeben. Auch die Jura-Studentin Nasli investiert die knapp 300 Euro in den Kurs. Sie will später mal bei einem internationalen Unternehmen in Istanbul arbeiten, erzählt sie erst: "Aber vielleicht werde ich gehen. Es passiert viel in unserem Land, es macht mir ein bisschen Angst." Nach und nach lassen einige Kursteilnehmer durchblicken, dass ihnen die Entwicklung in ihrem Land Sorgen bereitet. Bietet ihnen die Türkei wirklich die Zukunft, die sie sich wünschen? Deutschland steht in Naslis Augen für mehr Stabilität, und nicht nur das: "Die Leute sind lustig und Ordnung ist sehr wichtig für sie. Ich mag die Ordnung." Cecil, der jungen Zahnärztin geht‘s dagegen weniger um Stabilität: "Man muss nicht nur in seinem Land bleiben, man muss neue Leute kennenlernen, neue Kulturen kennenlernen, um das Leben zu verstehen."
Von Karin Senz
Immer mehr Akademiker wollen ihre türkische Heimat verlassen, um in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten. Das merkt auch das Goethe-Institut in Istanbul: Die Anfragen für seine Deutsch-Kurse sind in den letzten Monaten nach dem Putsch-Versuch noch einmal gestiegen.
"2016-10-24T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:59.994000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auswanderungsplaene-immer-mehr-tuerken-lernen-deutsch-100.html
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Macron will europäischen Finanzminister
"Wir müssen dafür sorgen, dass die Eurozone gegenüber den Vereinigten Staaten und China konkurrenzfähig bleibt", sagte Emmanuel Macron in seiner Grundsatzrede an der Pariser Universität Sorbonne. (AFP / ludovic Marin) Der französische Präsident Emmanuel Macron möchte die Zusammenarbeit innerhalb der EU vertiefen. Es geht ihm um eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Er möchte ein gemeinsames europäisches Budget für die Verteidigung. Er wünscht sich eine europäische Polizei. Er will, dass die Staaten der EU ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus weiter vertiefen. Auch sollen sie eine bessere gemeinsame Einwanderungspolitik gestalten, die sich vor allem auch um Integration der Flüchtlinge bemühen soll, alles andere sei mit den Werten der EU nicht vereinbar. Arbeitslosigkeit reduzieren Den Klimawandel, die Umweltpolitik hat er auch Blick. Und die Wirtschaftspolitik. Macron möchte eine weitere Integration der Euro-Zone und einen EU-Finanzminister mit eigenem Budget einsetzen, der kontrolliert wird von einem Eurozonen-Parlament. Er weiß, dass in Deutschland innerhalb der Union und der FDP viele gegen einen EU-Finanzminister sind. Aber er sagt, hier gehe es nicht darum, etwa alte Schulden zu vergemeinschaften oder finanzielle Probleme notleidender Staaten zu regeln, sondern: "Die Herausforderung ist es, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Immer noch ist einer von fünf Jugendlichen in der Eurozone arbeitslos. Wir müssen dafür sorgen, dass die Eurozone gegenüber den Vereinigten Staaten und China konkurrenzfähig bleibt - und gleichzeitig müssen wir dieses Problem lösen, was seit zehn Jahren nicht gelingt: Arbeitsplätze zu schaffen und dafür zu sorgen, dass die aktuelle junge Generation nicht der Arbeitslosigkeit anheim fällt." Jeder müsse in seinem Land tun, was zu tun sei. Er hat ja in Frankreich grade die Arbeitsmarktreform durchgesetzt. Starkes Europa durch Vielfalt Macron hielt ein Plädoyer für den europäischen Geist und die europäische Kultur, die sich aus vielen Ländern und Sprachen speise - und genau das sei Europas Stärke. Ungeachtet aller Differenzen schlug er den Deutschen vor, die Zusammenarbeit zu vertiefen und die Regeln für die Märkte in beiden Ländern bis 2024 zu harmonisieren.
Von Anke Schaefer
Mehr Sicherheit, mehr Integration, weniger Arbeitslose: Für die Gestaltung eines starken Europas sprach sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für eine vertiefte Zusammenarbeit innerhalb der EU aus. Erneut forderte er einen EU-Finanzminister. Nur so könne Europa eine "starke weltweite Wirtschaftsmacht" sein.
"2017-09-27T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:00.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rede-zu-europa-macron-will-europaeischen-finanzminister-100.html
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Kam das Gedenken an die Opfer zu kurz?
Kerzen am Eingang der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am Breitscheidplatz in Berlin. (Deutschlandradio / Sandra Stalinski) Je suis Berlin – ich bin Berlin, steht auf einem Banner, das vor hunderten Grablichtern ausgebreitet ist. Darauf gemalt: eine erhobene Faust in den Farben der Trikolore und eine deutsche Flagge. Es ist eine von vielen Botschaften der Trauer, der Anteilnahme und auch des Durchhaltewillens, wie sie auf den Stufen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche täglich abgelegt werden. Eine Art inoffizieller Gedenkort hat sich hier gebildet, an dem auch vier Monate nach dem Attentat permanent Menschen stehenbleiben, die Bilder und Plakate betrachten, vereinzelt Blumen niederlegen oder Kerzen anzünden. An Anteilnahme der Bevölkerung hat es von Anfang an nicht gefehlt, meint Martin Germer, der Pfarrer der Gedächtniskirche. "Es waren ja in den ersten Wochen noch eine ganze Reihe von Orten, innerhalb des Weihnachtsmarktes und im Bereich drumherum, wo Inseln von Kerzen und Blumen entstanden waren. Überall kamen dauernd Menschen, legten etwas dazu, blieben stehen, hielten inne. Also ich habe hier rund um den Breitscheidplatz eine sehr breite und große Anteilnahme und Trauer auch wahrgenommen." Opfer kritisieren zu späte staatliche Reaktionen Doch große Trauerkundgebungen wie nach dem Anschlag auf die Pariser Satirezeitung Charlie Hebdo blieben aus. Stattdessen schien es, als seien die Berliner schnell zur Tagesordnung übergegangen. In der öffentlichen Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die, die einst unsägliches Leid über andere Völker gebracht haben, heute nicht in der Lage seien, um sich selbst zu trauern. Einzelne Angehörige von Opfern beklagten bald mangelnde staatliche Anteilnahme. Martin Germer kann diese Kritik nur teilweise nachvollziehen: "Ich erinnere dann immer daran, dass am ersten Tag danach in dem abendlichen Gottesdienst das gesamte Bundeskabinett, die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, also die ganze Staatsspitze versammelt war, der Regierende Bürgermeister gesprochen hat, dass im Fernsehen Menschen aus ganz Deutschland daran teilgenommen haben, das ist ja eine Menge. Und dann war wenige Tage danach Weihnachten - und im Feiern des Weihnachtsfestes, in Gottesdiensten, was auch immer öffentlich gesagt wurde in Weihnachts- und Neujahrsansprachen, wurde das mit einbezogen. Von daher kann ich überhaupt nicht finden, dass das öffentlich nicht präsent gewesen wäre." Martin Germer, Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. (Deutschlandradio / Sandra Stalinski) Andreas Schwartz war am Abend des 19. Dezember auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, als der LKW in die Menge raste. Dabei wurde er an Wirbelsäule und Hüfte verletzt. Er ist einer von vielen, die nach wie vor mit den Verletzungen und dem Trauma dieses Anschlags kämpfen. Seiner Meinung nach kam die Reaktion der Politik zu spät. Eine Gedenkminute im Berliner Abgeordnetenhaus fand erst dreieinhalb Wochen nach dem Attentat statt. Der Bundestag gedachte der Opfer eine weitere Woche später, erst nachdem ein solches Gedenken bereits von vielen Seiten gefordert worden war. Andreas Schwartz sagte in den 'Tagesthemen'. "Nicht erstmal einen Monat warten und dann auf öffentlichen Druck das zu machen. Das ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Also einfach nur enttäuschend – und allgemein, wie sie mit uns umgehen, das ist traurig. Opferbeauftragter gegen bürokratische Hürden Der Umgang mit den Opfern unmittelbar nach dem Attentat sei gerade von Behördenseite dilettantisch gewesen. Angehörige der Toten bekamen zum Teil mehrere Tage weder eine Auskunft, ob ein geliebter Mensch unter den Toten sei, noch an wen sie sich wenden konnten. Auch mit Fragen der Behandlung von Verletzten und der Kostenübernahme durch Versicherungen mussten sie sich allein herumschlagen. Damit sich so etwas nicht wiederholt, hat die Bundesregierung im März den früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zum Opferbeauftragten des Bundes gemacht. Seine Aufgabe sieht er darin: "Aus dem Blickwinkel und den Erfahrungen der Betroffenen aufzuzeigen, wo Reibungen entstanden sind. Wo ungeschickte Vorgehensweisen entstanden sind. Bei der Identifikation der Verstorbenen. Beispielsweise nach den Obduktionen, wo Rechnungen mit Mahnungen verbunden verschickt worden sind. Aber es geht auch darum zu überlegen, gibt es eine Chance unmittelbar nach einem solchen Unglück, eine Anlaufstelle für Besorgte, Betroffene oder Angehörige zu errichten. Das alles wird man aufzeigen und dann einspeisen in die Politik, auf Bundesebene und auf Länderebene." Denkmal oder Stele oder eine Gedenktafel? Kurt Beck kümmert sich inzwischen um 130 Betroffene. Er führt nun auf Bundesebene weiter, was der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber auf Landesebene bereits begonnen hat. Auf der praktischen Ebene konnte er bereits einiges erreichen. Im Fall von Andreas Schwartz, der sich seit dem Anschlag einen Papierkrieg mit Ämtern und Versicherungen lieferte, konnte er in zumindest einem Fall vermitteln. In Einzelgesprächen mit den Betroffenen, versucht er nun herauszufinden, wo er helfen kann. Kümmert sich beispielsweise um Opferentschädigungen oder Waisenrenten. Kurt Beck, ehemaliger rheinland-pfälzischer Ministerpräsident. Er soll zwischen Opfern und Behörden vermitteln. (Klaus-Dietmar Gabbert, dpa picture-alliance) Und auch darüber, wie ein dauerhaftes, würdiges Gedenken an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche seinen Platz finden kann, tauscht er sich mit Angehörigen und Betroffenen aus. Denn einig sind sich alle darin, dass es einen solchen Ort braucht. Nur, wie er aussehen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ob es ein Denkmal sein sollte, eine Stele etwa oder eine Gedenktafel? "Mich erreichen Anregungen, die sagen, Amri kennt jeder, aber die Opfer sind anonym. Eine wichtige Überlegung. Andere sagen mir, stellt aber die Opfer nicht aus, indem ihr ihre Namen veröffentlicht. Das alles muss man reflektieren und sich dann eine abschließende Meinung bilden. Und es wird sicher eines künstlerischen Beitrages bedürfen, um dann die Gestaltung einer solchen Idee vorzunehmen." In drei Wochen, am 13. Mai, wird es einen stillen, nicht-öffentlichen Gottesdienst mit Betroffenen und Politikern geben. Im Anschluss daran sollen mit allen gemeinsam diese Fragen bei einem Gespräch im Berliner Rathaus erörtert werden.
Von Sandra Stalinski
Kurz vor Weihnachten ermordete der islamistische Attentäter Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen. Viele Verletzte kämpfen bis heute mit den Folgen des Anschlags. Kurz danach entbrannte eine Diskussion: Gab es genug Anteilnahme seitens Politik und Bevölkerung für die Opfer? Stand der Täter zu sehr im Zentrum?
"2017-04-19T09:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:23:22.034000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/terroranschlag-von-berlin-kam-das-gedenken-an-die-opfer-zu-100.html
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Tanz des Feminismus
Eine Szene aus dem Stück "ATARA" von der israelischen Choreografin Reut Shemesh (Öncü Gültekin) Ein gut sichtbar auf die Wand projiziertes Foto zeigt zwei zusammengelegte Frauenhände auf einem Tisch: Die Fingernägel sind nicht lang, aber sorgfältig lackiert – in einer unbestimmten, eher gedeckten Farbe, irgendetwas zwischen Rosé, Pink und Lila. Einen der Finger schmückt ein dicker Ring, ein kleines Brillantkettchen windet sich um das Handgelenk. Andere Bilder zeigen Alltagsszenen: einen Tisch mit Thora und einer halbvollen Plastikwasserflasche, die Auslagen eines Perückengeschäfts, die Menorah, den siebenarmigen Leuchter auf einer Fensterbank. Perücke mit modischer Halblangfrisur Es sind Familienfotos von Reut Shemesh. Die israelische Choreografin, die bereits seit einigen Jahren in Köln lebt, ist nicht in eine orthodoxe Familie hineingeboren worden. Die Mittdreißigerin ist säkular aufgewachsen, doch ihre Brüder haben im Erwachsenenalter zum orthodoxen Glauben gefunden. Den aus ihrer Sicht 'richtigen Weg' betreiben sie nun umso strenger. "In Israel habe ich mich manchmal für meine Familie geschämt, für meinen Bruder und seine Frau, die so komische Sachen tragen. Unsere Weltanschauungen und Lebensweisen unterscheiden sich fundamental voneinander. Das führt oft zu Konflikten und wirft viele Fragen auf. Sie glauben, dass früher oder später der Messias kommt und alles in Ordnung bringt. Ich habe einen Goj, also einen nicht-jüdischen Freund – das ist für sie wiederum unmöglich - ein No-Go. Die Arbeit an dieser Tanzproduktion gibt mir die Möglichkeit zu sagen: Seht mal, das ist meine Familie, sie ist seltsam, aber ich bin trotzdem stolz auf sie. So stolz, dass ich in meinem Stück Bilder aus ihrem Fotoalbum zeige." Und so lässt Reut Shemesh in ATARA die subtilen Facetten des orthodoxen Lebens tanzen. Die drei Tänzerinnen auf der Bühne sehen sich fast zum Verwechseln ähnlich: schwarzer Rock, der über die Knie geht. Schwarze Strümpfe, flache Schuhe. Hochgeschlossenes Oberteil. Perücke mit modischer Halblangfrisur. Mit ernstem Gesicht oder strahlendem Lächeln erheben sie die Arme zum 'V' und senken sie anschließend mit energischen Gesten Richtung Boden. Trippeln auf abgezirkelten Wegen durch den Raum und stampfen dabei immer wieder wie trotzig mit den Füßen. Chassidische Volkstanzelemente und folkloristische Wucht wechseln sich ab mit mädchenhaftem Hüpfen. In der Choreografie treffen beengende Mechanik und federnde Leichtigkeit, synchroner Formationstanz und individuelle Bewegungsgestaltung aufeinander. Die Tradition scheinen diese Tänzerinnen im Griff zu haben; eine Befreiung findet nur ganz subtil statt, etwa wenn der strenge, leicht entrückte Blick einer Tänzerin auf einmal ganz weich, fast sinnlich wird. "Als religiöse Frau meinen eigenen Weg finden" In ATARA verarbeitet Reut Shemesh das, was sie über das Leben orthodoxer Frauen recherchiert hat - aber auch ihre eigene Familiengeschichte. "Die Tochter meines Bruders ist 14 und hat entschieden, dass sie nicht mehr religiös leben möchte. Eine ganze Weile war das ein großer Konflikt in der Familie. Mein Bruder und seine Frau haben es inzwischen akzeptiert, genauso, wie sie mich als säkulares Familienmitglied akzeptiert haben. Mich hat immer beschäftigt, dass ich durch ihre Entscheidung, religiös zu leben, vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Sie kamen einfach eines Tages und sagten: Wir leben ab jetzt so. Und gaben mir gleichzeitig das Gefühl: wir akzeptieren dich trotzdem. Das ärgert mich – und es macht mir zugleich Schuldgefühle. Wenn du dich einer Person gegenüber siehst, die für sich in Anspruch nimmt, alles richtig zu machen – und du machst es anders – dann fühlst du dich unweigerlich schuldig – und fragst dich: wenn sie alles richtig machen, mache ich es dann falsch?" Fragen, die sie auch in ihrer Tanzproduktion thematisiert – und mit ihren Kolleginnen bespricht. Eine von ihnen ist die Israelin Tzipi Nir. Tänzerin und jüdisch-orthodoxen Glaubens. "Ich fühle mich Gott sehr nah. Ich habe meinen eigenen Vertrag mit ihm und meine eigene Form des Glaubens gefunden. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, als religiöse Frau einen eigenen, inneren Weg zu finden. Das ist einfacher, wenn du mit der Religion aufgewachsen bist, als wenn du dich erst im Laufe deines Lebens dafür entscheidest – wie Reuts Bruder zum Beispiel, für den der Weg in die Orthodoxie einer Revolution gleichkam. Heute ist es so, dass streng religiöse Menschen zu mir sagen: du bist nicht orthodox. Und Nicht-Religiöse sagen: du bist sehr orthodox!" "Du bist von Gott beschenkt" Auch wenn das Beispiel Tzipi Nirs zeigt, dass es keine eindeutigen Kriterien dafür gibt, was jüdisch orthodox ist und was nicht – es ist ungewöhnlich, dass Frauen wie sie auf der Bühne stehen und tanzen; mehr noch, dass sie mit und vor Männern tanzen. Genau das tut Tzipi Nir, denn eine der drei weiblichen Rollen in ATARA wird von einem Mann verkörpert – und es sind Männer im Publikum zugelassen. "Als ich begann zu tanzen, konnte ich nicht ahnen, auf welche Reise ich mich damit begebe. Für meine Eltern ist es in Ordnung, dass ich tanze. Sie haben mich nie unter Druck gesetzt. Als ich damit anfing, war ich bereits verheiratet und hatte schon Kinder und ein eigenes Leben. Meine Eltern unterstützen mich darin, weil sie verstehen, dass dies mein Weg ist. Meine Mutter sagt immer: du bist von Gott beschenkt, dagegen kann ich nichts sagen. Du tust, was du tun musst. Sie ist sehr offen – und das ist einzigartig. Denn einfach ist es nicht für sie." Vermittlerin zwischen den Welten Tzipi Nir lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem kleinen Dorf zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Anders als in ultra-orthodoxen Gemeinschaften, in denen die Frauen alles mit ihrem Rabbi besprechen, entscheidet Tzipi Nir vieles selbst: was sie trägt, was sie tut, wohin sie reist. Gerade hat sie in der religiösen Schule, in der sie als Lehrerin arbeitet, eine Tanzabteilung für orthodoxe Mädchen eröffnet. Auch wenn die Mädchen dabei Kleidung tragen, die ihren Körper vollständig bedeckt, nicht mit Jungen zusammen tanzen und sich auch sonst im Rahmen des Unterrichts an die religiösen Gesetze halten, fühlt sich Tzipi Nir oft als Vermittlerin zwischen verschiedenen Welten. "Hier in Deutschland tanze ich ohne Kopfbedeckung und mit und vor Männern – in der Schule wäre das nicht erlaubt. Aber meine Studentinnen nehmen mich zum Vorbild; und zuhause können sie ohnehin machen, was sie wollen. Viele tragen sogar Shorts – und empfinden sich dennoch als orthodox. Aber wenn sie nach Jerusalem fahren, bekommen sie gesagt: So wie ihr herumlauft, könnt ihr gar nicht religiös sein!" Orthodox und feministisch Tzipi Nir ist nicht die einzige orthodoxe Frau in Israel, die innerhalb ihrer Familie und religiösen Gemeinschaft neue Freiheiten sucht. Bereits seit 1997 gibt es ganz offiziell die Jewish Orthodox Feminist Alliance – kurz: JOFA genannt – eine Organisation, in der sich Frauen orthodoxen Glaubens für mehr Sichtbarkeit, Gleichberechtigung und Autonomie einsetzen. Unter den tausenden von Frauen, die in der JOFA organisiert sind, gibt es viele Ansichten, aber die meisten sagen, nicht mit den Regeln der Orthodoxie brechen zu wollen, sondern nur Ungerechtigkeiten in ihrer religiösen Gemeinschaft verändern zu wollen. Eine jüngere Generation von orthodoxen Frauen geht sogar noch weiter – und bezeichnet sich selbst als feministisch. 'I'm a feminist and orthodox' – heißt eine Facebookseite, auf der orthodoxe Frauen sogar fordern, zur Armee gehen zu dürfen. Choreografin Reut Shemesh kennt die gesellschaftlichen Schwierigkeiten, denen sie ausgesetzt sind. "Diese Frauen werden von den säkularen Feministinnen nicht akzeptiert, weil sie aus deren Sicht nicht feministisch genug sind. Und in der eigenen Gemeinschaft werden sie auch nicht akzeptiert, weil sie nicht demütig genug sind. Leider gibt es in Israel sowohl auf der säkularen als auch auf der religiösen Seite viele Vorverurteilungen. Diese Frauen sitzen also zwischen den Stühlen. Deswegen ist es so wichtig und erstaunlich, dass sie sich zusammenschließen. Und die Aufgabe der säkularen Frauen ist es, religiöse Frauen viel stärker zu akzeptieren."
Von Elisabeth Nehring
Die israelische Choreografien Reut Shemesh inszeniert derzeit in Deutschland die Tanz-Performance "Atara". Dort treten orthodoxe und säkulare Jüdinnen gemeinsam auf. So sollen Klischees, Vorurteile und Lebensweisen hinterfragt werden.
"2019-05-15T09:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:52:00.262000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/orthodoxes-und-saekulares-judentum-tanz-des-feminismus-100.html
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