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Plötzlich sah man die Opfer und hörte ihnen zu | Klaus Barbie bei Prozesseröffnung am 11. Mai 1987. (picture alliance / dpa / Roland Witschel)
Der Prozess gegen den früheren Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, gilt in Frankreich als historisches Ereignis. Die Kuratorin der Ausstellung im Mémorial de la Shoah in Paris, Dominique Missika:
"Es war der erste Prozess in Frankreich gegen jemanden, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden. Und es war der erste Prozess, der - 43 Jahre danach - aus Lyon, das zuvor als Hauptstadt der Résistance, also des Widerstands, gegolten hatte, plötzlich die Stadt der 'collaboration' machte, der Mittäterschaft von Franzosen. Frankreich wurde plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert – zum ersten Mal nach dem Krieg."
Die Ausstellung erzählt mit aufwendig recherchierten Dokumenten und Filmausschnitten die Geschichte dieses Prozesses. Dass es ihn überhaupt geben konnte, ist ganz wesentlich dem deutsch-französischen Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld zu verdanken. Denn jener Klaus Barbie, der in seinem Hauptquartier in Lyon, in der Suite 68 im zweiten Stock des Hotels Terminus, Kinder, Frauen und Männer bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt, vergewaltigt, mit Elektroschocks gefoltert, in die Vernichtungslager geschickt oder eigenhändig ermordet hatte – dieser Klaus Barbie wurde zwar in Frankreich dreimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1947, 1952 und 1954 – doch sorgten britische, später amerikanische Geheimdienstkreise dafür, dass er nicht ausgeliefert wurde: Als Agent war Barbie nützlich für sie.
Beate Klarsfeld (dpa/picture alliance/Katerina Sulova)
Unter dem Schutz der USA konnte er 1951 nach Bolivien ausreisen, war von Bolivien aus auch für den Bundesnachrichtendienst tätig, noch im Januar 1983 wusste Bundeskanzler Helmut Kohl eine Auslieferung Barbies zu verhindern, um so eine weitere Kriegsverbrecherdebatte in Deutschland unbedingt zu vermeiden.
In Frankreich indes wollten Beate und Serge Klarsfeld genau eine solche Debatte auslösen, "nicht um Rache - um Gerechtigkeit" ging es ihnen. Schon zu Beginn der 70er Jahre hatten sie Klaus Barbie in Bolivien entdeckt und taten fortan alles, ihn nach Frankreich zu bekommen, Beweise gegen ihn zu sammeln, Zeugen zu finden – und mit Erfolg: Im Februar 1983 wurde Barbie nach Frankreich ausgeliefert, 69 Jahre alt.
Briefe, Fotos, Vernehmungsprotokolle
Minutiös folgt die Ausstellung dieser Spurensuche des Ehepaares Klarsfeld, zeigt Briefe und Telegramme, Fotos und Zeitungsauschnitte, Aktennotizen, Vernehmungsprotokolle, ähnlich akribisch verfolgt sie den Prozessverlauf: Am 11. Mai 1987 begann das Verfahren im Palais de Justice von Lyon.
"Das Problem bei einem Prozess ist es, Beweise zu erbringen. Und das war schwer: Im Falle einer Razzia etwa waren sich alle Zeugen sicher, damals Klaus Barbie gesehen zu haben. Viele konnten sich aber nicht wirklich erinnern, wussten keine Details mehr, und die Verteidigung tat alles, um die Zeugen zu irritieren, zu destabilisieren. Doch zum Glück hatten Serge Klarsfeld und seine Frau viele Beweismittel zusammengetragen, um die Schuld von Klaus Barbie zu beweisen."
Die Anklage lautete auf Deportation von insgesamt 842 Menschen. Barbie verteidigte sich wenig kämpferisch: Es sei halt Krieg gewesen, aber der sei doch längst zu Ende. Am 4. Juli wurde Klaus Barbie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Den Prozess begleiteten immense Sicherheitsvorkehrungen und ein Medieninteresse, wie es noch kein Prozess in Frankreich je gefunden hatte. Die Regierung unter Staatspräsident Francois Mitterand hatte eigens ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass Kameras im Gerichtssaal erlaubte: So wurden alle 37 Prozesstage in voller Länge dokumentiert – das gesamte Filmmaterial, 157 Stunden lang, wird in der Ausstellung gezeigt.
Kuratorin Dominique Missika: "Da Klaus Barbie an sehr vielen Verhandlungstagen nicht anwesend war, geschah es, dass die Zeugen sich direkt an die Richter wandten und an die Zuschauer. Auch hinter den Richtern waren Kameras aufgestellt, so dass auch die Fernsehzuschauer in den Abendnachrichten den Zeugen ins Gesicht sehen konnten, als sie ihre fürchterlichen Erlebnisse schilderten – und das hat die öffentliche Wahrnehmung dieses Prozesses und das ganze Denken darüber in Frankreich sehr verändert: Plötzlich sah man die Opfer! Und hörte ihnen zu! Und erkannte sie als Opfer an!"
Dieser neue Blick auf die eigene Geschichte hatte eine grundlegend neue und heftige öffentliche Debatte zur Folge: über französische Mittäterschaft bei Naziverbrechen, über französischen Antisemitismus. Auch an diese Debatte erinnert die Ausstellung im Mémorial de la Shoah – und verlängert sie damit sehr unaufdringlich in die Gegenwart. | Von Jürgen König | In Lyon hatte er im Zweiten Weltkrieg gefoltert und gemordet. Bis 1983 lebte der frühere Gestapo-Chef Klaus Barbie dann unbehelligt in Bolivien. Doch das Ehepaar Klarsfeld jagte ihn. Ab Mai 1987 wurde dem Kriegsverbrecher dann in Frankreich der Prozess gemacht. Eine Ausstellung in Paris zeichnet die Ereignisse nach. | "2017-04-01T17:30:00+02:00" | "2020-01-28T10:21:45.294000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ausstellung-der-prozess-klaus-barbie-lyon-1987-ploetzlich-100.html | 317 |
Happy End mit Hindernissen | Prinz Charles und Camilla, Herzogin von Cornwall. (dpa/picture alliance/Patrick van Katwijk)
Dass Camilla mal spontan ins Rampenlicht geht, das kommt nur selten vor. Aber bei diesem Besuch ihres Mannes, Prinz Charles, im Wetterstudio der BBC, da wagt sie sich dann doch auch mal an eine Wettervorhersage. Wolken, und ab und zu regen, keine Überraschung, sagt Camilla.
Unkompliziert, zugänglich und immer bereit zu einer Frotzelei: So ist Camilla, sagen die, die sie gut kennen. Immerhin so unkompliziert, dass sie sich beim Besuch im Wetterstudio der BBC spontan auf eine Vorhersage einließ.
Joe Little vom Royalty-Magazin Majesty meint: "Camilla ist eine wirklich nette Frau, sie kommt ihren Verpflichtungen in einer sehr professionellen Weise nach, und sie ist auch sehr warmherzig."
Behütete Kindheit
Camilla wächst in einer wohlhabenden Familie auf, mit einer Schwester und einem Bruder, zum Teil auf dem Land, und zum Teil in Kensington, dem Londoner Edel-Stadtteil. Freunde beschreiben Camilla als ein burschikoses Mädchen, das das Leben mit den Tieren liebt – Hunde, Katzen, Pferde –, aber auch viel liest. Shakespeare, zum Beispiel, auch wenn sie ihn erst nicht versteht, wie sie später gesteht.
"Jetzt verstehe ich es. Weil ich mir Stratford angesehen habe, seine Heimatstadt. Aber als ich Kind war – nein, da habe ich das nicht verstanden. Meine eigenen Kinder übrigens auch nicht. Bis zu dem Moment, als wir nach Stratford gefahren sind und sie die Orte dort gesehen haben – da hatten sie es dann."
Eine Tochter und einen Sohn hat Camilla, und von den beiden auch fünf Enkelkinder.
Charles, den britischen Thronfolger, lernt sie mit 23 kennen, die beiden verkehren in den gleichen Kreisen, aber die Beziehung endet, als Charles zur Navy geht. Wenig später heiratet Camilla Andrew Parker Bowles, bei der Hochzeit ist sogar die Königinmutter dabei.
Ein paar Jahre später heiratet auch Charles, und zwar Diana. Aber er hält den Kontakt zu Camilla, seine Ehe mit Diana zerbricht, ein Jahr nach der Scheidung kommt Diana bei einem Autounfall ums Leben – und zwei Jahre später sind Camilla und Charles wieder zusammen zu sehen. Viele geben Camilla die Schuld für das Scheitern der Ehe von Charles und Diana, bis heute, sagt Joe Little vom Magazin "Majesty".
Zweitwichitgste Frau im Königreich
"Ich würde nicht sagen, dass sie voll akzeptiert ist. Es wird immer Kreise hier im Königreich und im Commonwealth geben, die sie nie akzeptieren werden, weil sie sie immer im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten in Charles’s erster Ehe sehen."
Kaum vorstellbar damals, Ende der 90er-Jahre, dass Camilla im Juli 2013, nach der Geburt von Thronfolger George, vor der Klinik stehen und sagen würde: "Wunderbare Neuigkeiten, Mutter, Sohn und Vater geht es gut, es ist gut für’s Land und wunderbar für den Großvater – denn er ist toll mit Kindern."
Heute ist Camilla vom royalen Rang her die zweitwichtigste Frau des Königreiches, und sie ist mutmaßlich die nächste Königin. Dass sie den entsprechenden Titel "Queen" dann nicht erhalten sollte – wie dies vielfach diskutiert wird – das hält Joe Little für einen Fehler. Er hoffe, dass, wenn die Zeit da sei, sie auch Queen Camilla sein werde.
"Das halte ich für einen Fehler. Ich glaube, dass die Frau eines Königs auch Königin sein sollte, und ich hoffe sehr, dass, wenn die Zeit da ist, sie Queen Camilla sein wird." | Von Thomas Spickhofen | Camilla Mountbatten-Windsor, Herzogin von Cornwall, hatte nicht immer ein gutes Image in der britischen Öffentlichkeit. Lange gaben ihr die Briten die Schuld für das Scheitern der Ehe von Prinz Charles und Prinzessin Diana. Mittlerweile hat sie ihren Platz im royalen Geschehen gefunden. | "2017-07-17T05:05:00+02:00" | "2020-01-28T10:37:25.342000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/camilla-wird-70-happy-end-mit-hindernissen-100.html | 318 |
Ein Leben im Krieg | Trauer im Dorf - nach einem Massaker, das islamistische Rebellen begangen haben sollen (AFP / Kudra Maliro)
Kavuatto Myvayo steht etwas gebückt auf dem Feld, mit der linken Hand stützt sie ihren Rücken. Die 60-jährige Kongolesin sät an diesem Morgen Erdnüsse aus, aber die Feldarbeit fällt ihr nicht mehr leicht. Gerade hat sie ihre Arbeit unterbrochen und schaut Jeanette Masika Kirimbo zu, die auf dem Acker Fäden spannt. In so geraden Reihen müssten alle ihre Erdnüsse ausgesät werden, klärt sie auf: "Dann braucht ihr viel weniger Samen, als wenn ihr ungeordnet aussät. Außerdem könnt ihr die Pflänzchen hinterher leichter pflegen und das Unkraut besser jäten."
Ein gutes Dutzend Bäuerinnen und einige Bauern hören Kirimbo zu. Sie leben im Osten der Demokratischen Republik Kongo, nicht weit von der Stadt Beni entfernt. Obwohl sie schon jahrelang von der Landwirtschaft leben, lernen sie an diesem Morgen noch etwas dazu. Die deutsche Welthungerhilfe hat in der Region mehrere Demonstrationsfelder angelegt, auf denen Agrarberaterinnen wie Kirimbo erklären, wie man die Ernte mit ganz einfachen Mitteln verbessern kann.
Eine Region im Krieg
Das ist in dieser Region besonders wichtig, denn obwohl die üppig grüne, hügelige Landschaft friedlich wirkt, ist die Region im Krieg. Im Osten des Kongo ringen dutzende bewaffnete Gruppen seit mehr als zwanzig Jahren um Rohstoffe, Macht und Land. Vor den Kämpfen müssen die Menschen immer wieder fliehen, ihre Felder aufgeben. Wenn sie mal lange genug an einem Ort bleiben können, um eine Ernte einzubringen, sollte die möglichst gut sein. Denn der Ertrag muss für die Ansässigen und zusätzlich tausende Vertriebene reichen.
Augustin Kambalo Muyisa ist stellvertretender Projektleiter der deutschen Welthungerhilfe in der Region. "Die Sicherheitslage ändert sich ständig. Heute ist vielleicht alles ruhig, morgen kann es genau das Gegenteil sein. Angespannt ist die Lage immer, aber wir arbeiten trotzdem." An den ständigen Kämpfen ändert also auch die Präsenz der weltgrößten UNO-Mission nichts, der MONUSCO. Sie ist inzwischen 22.000 Mann stark, darunter 3.000 Mitglieder einer robusten Eingreiftruppe. Diese 3.000-köpfige UNO-Kampfbrigade wurde im November 2012 entsandt, nachdem die UN-Mission jahrelang wegen ihrer Untätigkeit kritisiert worden war. Praktisch vor den Augen der Blauhelmsoldaten waren Städte von Milizen überrannt, Menschen massakriert worden. Schlagzeilen machten die UN-Soldaten also nicht wegen militärischer Erfolge, sondern vor allem mit Prostitutionsgeschichten und ihrer Beteiligung am Rohstoffschmuggel.
Frieden erzwingen
Bei ihrer Entsendung im November 2012 galt die Eingreiftruppe als Novum. Ausgestattet mit Kampfhubschraubern und Scharfschützen sollte sie den Frieden, wenn nötig, erzwingen. Nach anfänglichen Erfolgen, vor allem gegen die damals berüchtigte M-23-Miliz, ist aber längst wieder alles beim Alten: Die Kämpfe gegen nun andere Milizen gehen weiter, Hunderttausende sind innerhalb der Region auf der Flucht. Augustin Kambalo Muyisa: "Deren Zahl ist schwer zu schätzen, weil die Menschen ständig in Bewegung sind. Sie müssen fliehen, bleiben irgendwo eine Weile, kehren nach Hause zurück, flüchten erneut. Sicher ist nur, dass es hier sehr viele Vertriebene gibt." Zwei davon leben schon seit einigen Monaten bei der alten Bäuerin Kavuatto Myvayo, die gerade etwas Neues zum Anbau von Erdnüssen lernt: "Ich kannte das Ehepaar vorher nicht. Aber sie waren in Not. Wie hätte ich sie da zurückweisen können?" Es gebe mit den beiden keine Probleme, sagt die Bäuerin. Erst auf Nachfragen stellt sich heraus, dass Myvayos Familie auf eine der täglichen Mahlzeiten verzichten muss, seit sie die Fremden aufnahm.
Die UNO-Mission MONUSCO ist hier im Norden des Kongo tätig, in der Region Nord-Kivu. (AFP / Federico Scoppa)
Hier in der Region ist Gastfreundschaft etwas Selbstverständliches. Hinzu kommt, dass jeder selbst schon mal auf der Flucht war und Hilfe von Fremden brauchte. Jeder weiß also, in welcher Situation sich die Vertriebenen befinden. Im Osten des Kongo gibt es deshalb kaum Flüchtlingslager, trotz 2,6 Millionen vertriebener Kongolesinnen und Kongolesen sowie ein paar zehntausend Flüchtlingen aus Burundi und anderen Nachbarländern. Dabei hatten die Menschen schon vor dem Krieg nur das Nötigste. Jetzt haben die Familien auch nicht mehr Einkommen oder eine bessere Ernte, müssen aber mit mehr Menschen teilen. Deshalb hat keiner genug zu Essen. Viele Familien essen jetzt nur noch zwei Mal am Tag, statt wie früher dreimal. Wobei die Mahlzeiten auch damals schon nicht immer sehr nahrhaft waren.
Kinder hungern
Mangelernährung ist die Folge. Muyisa spricht sogar von "verborgenem Hunger". Vor allem kleine Kinder seien betroffen. Einige Hilfsorganisationen unterstützten die Menschen in der Region, damit die wirtschaftliche Not von Vertriebenen und Gastfamilien nicht allzu groß wird. Myvayo und die anderen Bäuerinnen sind inzwischen fast mit der Arbeit des Vormittags fertig. Kurz vor Schluss bedecken sie die Erde noch mit Stroh, um ihre Aussaat vor Insekten und Vögeln zu schützen. Außerdem entzieht die Sonne dem bedeckten Boden weniger Wasser. Die Welthungerhilfe organsiert nicht nur landwirtschaftliche Beratung. Die Helfer haben in den Dörfern rund um Beni außerdem verbessertes Saatgut an rund 5.000 Haushalte verteilt, und zwar an Vertriebene, deren Gastgeber und andere Bedürftige. In dem Dorf Lume, im dem Kavuatto Myvayo auf dem Feld steht, bekamen sie Erdnüsse, Bohnen und Mais. Die Vertriebenen erhalten außerdem Gemüsesamen, denn das kann noch auf dem kleinsten Fleckchen wachsen. Außerdem bekommt jede Familie zwei Feldhacken.
Häufig bleiben die Vertriebenen viel länger, als sie sich ursprünglich jemals vorstellen konnten. Acht Monate sind es schon bei der 30-jährigen Masika Bahondira. In ihrer Heimatregion werden seit dem vergangenem Herbst immer wieder besonders grausame Massaker verübt: "Wir sind in Panik losgerannt. In der Eile konnte ich nichts mitnehmen. Bewaffnete hatten unser Nachbardorf überfallen, wir hörten die Schüsse. Ehe die Rebellen bei uns auftauchen konnten, sind wir geflohen." Ihren Mann verlor sie während der panischen Flucht aus den Augen, aber ihre Kinder behielt sie im Blick. Gemeinsam schafften sie es bis Lume. Dort fanden sie Unterschlupf bei einer Familie, die ihnen bis dahin fremd gewesen war. Bahondira: "Ich hätte nie gedacht, dass uns wildfremde Leute aufnehmen würden. Ich bin überrascht und vor allem sehr glücklich." Ihre Gastgeber seien immer noch freundlich, sagt Bahondira. Sie weiß aber, dass sie und ihre Kinder eine Last sind. Doch Bahondira wagt sich immer noch nicht in ihr Zuhause zurückzukehren, denn in den Dörfern rund um Beni hält die Terrorwelle immer noch an. Allein in den vier Monaten von Oktober bis Januar wurden nach offiziellen Angaben mehr als 300 Menschen mit Macheten und anderen groben Waffen brutal ermordet, manche regelrecht zerhackt.
Massaker in Dörfern
Mughanyiri Kambale bezweifelt diese Zahl. Er arbeitet für das Menschenrechtsbüro der MONUSCO: "Mir ist durch die Massaker rund um Beni klar geworden, dass die Welt nicht die geringste Ahnung davon hat, was hier im Kongo los ist. Es stimmt, 300 Menschen sind getötet worden. Aber tatsächlich sind es noch viel mehr! Es sind tausende! In aller Stille, niemand spricht darüber, keinen interessiert das. Hier werden jeden Tag Menschen ermordet. Tausende sterben, aber nur hin und wieder wird über eines der Massaker berichtet. Und dann heißt es schon: "Oh, da gehen schlimme Sachen vor sich!" Dabei ist das nichts gemessen an dem, was hier wirklich Tag für Tag passiert!"
Kambale räumt damit das Scheitern der UN-Mission ein: Sie soll ja laut Mandat die Bevölkerung schützen, ist dazu aber offensichtlich nicht in der Lage. Kambale sagt, das sei auch gar nicht möglich: "Die Rebellen kommen beispielsweise in einer Gruppe von zwanzig, wenn sie dreißig Menschen töten wollen. Das geht dann zack-zack-zack. Mit der Machete ist es eine Sache von drei, höchstens zehn Minuten, jemandem den Kopf abzuschlagen. So ein Massaker geht also schnell. Hinzu kommt das Problem mit der Kommunikation: Es dauert viel zu lange, bis die Leute ein MONUSCO-Camp erreicht haben und Hilfe holen können. Nehmen wir an, das Massaker fängt um 19 Uhr an. Das erfahren dann als erstes die lokalen Autoritäten, die sagen der MONUSCO Bescheid. Bis wir davon erfahren, dauert es also leicht bis zu zwei Stunden."
UNO-Mission im Kongo überfordert
Trotz ihrer rund 20.000 Blauhelme sei die MONUSCO im Kongo überfordert: das Land ist riesig, es gibt kaum befahrbare Straßen. Viele Dörfer sind von der Außenwelt praktisch abgeschnitten oder nur zu Fuß zu erreichen, nach tagelangen Märschen. Das alles ist richtig, und doch nur ein Teil der Wahrheit: Einige der blutigen Massaker werden in unmittelbarer Nachbarschaft von UNO-Stützpunkten oder Armeelagern verübt, und niemand kommt der Bevölkerung zur Hilfe. Auch dann nicht, wenn die Straßen gut asphaltiert und ausgebaut sind. Die UNO-Mission wirkt wie gelähmt, und das aus mehreren Gründen. Erstens blockiert sie sich selbst, denn sie ist intern tief gespalten. Das Verhältnis zwischen dem Kommandanten der MONUSCO, dem Leiter der robusten Eingreiftruppe und dem deutschen Leiter der UNO-Mission Martin Kobler gilt als angespannt.
Das zweite Problem liegt im Mandat begründet: Die MONUSCO soll die kongolesische Armee unterstützen, darf also nicht selbstständig Krieg führen. Aber das Verhältnis zwischen der UNO-Truppe und der kongolesischen Armee ist - vorsichtig ausgedrückt - schlecht. Die Mission wird von der kongolesischen Armee in der Region Beni praktisch boykottiert. Immer wieder verweigert die kongolesische Armee, kurz FARDC, den Blauhelmen nach einem Massaker den Zutritt zum Tatort. In einem Fall zehn Tage lang. Da verweigerte die Armee nicht nur den Blauhelmen den Zutritt, sondern der gesamten UNO-Mission. Eine hochkarätige Delegation sollte vor Ort ermitteln, was genau geschehen war. Das war unmöglich, weil sie nicht zum Tatort kam. Aber welches Interesse hat die FARDC daran, die UNO fernzuhalten? So ein Verhalten führt zu allerlei Mutmaßungen und schürt den Verdacht, dass einige Offiziere mit den bewaffneten Gruppen zusammen arbeiten. In einigen Fällen gab es glaubwürdige Informationen, sie bestätigten eine solche Zusammenarbeit. Für die Massaker in der Region Beni macht die kongolesische Regierung eine islamistische Miliz verantwortlich: die "Allianz der Demokratischen Kräfte" aus dem Nachbarland Uganda, kurz ADF-Nalu. Tatsächlich aber gibt es keine Bekennerschreiben, und auch sonst kaum plausible Belege für diese Behauptung. Moise Kambere Kayitavubya hat deshalb seine Zweifel. Er leitet einen Dachverband von Menschenrechtsgruppen namens GADHOP: "Es ist wirklich schwer, die Hintergründe der Massaker zu verstehen. Nicht zuletzt, weil die Regierung ihre Lesart unbedingt verbreiten will, nämlich dass angeblich die ADF-Nalu verantwortlich ist. Aber die jüngste Attentatsserie hat angefangen, nachdem die ADF-Nalu von der Armee zerschlagen worden war; jedenfalls wurde die Zerschlagung der Miliz behauptet. Aber kann eine Gruppe, die in alle Winde zerstreut ist, solche Massaker organisieren? Das fragt sich die Bevölkerung."
Bevölkerung ist kriegsmüde
Moise Kambere Kayitavubya und andere Menschenrechtler versuchen, selbst vor Ort zu ermitteln. Aber das ist schwierig und braucht seine Zeit. In der Bevölkerung steigt indes der Unmut. Sie verlangt Aufklärung über die Hintergründe der Gewalt: "Nach solchen brutalen Massakern wäre es nicht überraschend, wenn die Menschen neue Selbstverteidigungsgruppen gründeten. Aber die Folge wären noch mehr Milizen, noch mehr Gewalt. Wir und andere Bürgerrechtsgruppen haben den jungen Menschen deshalb diesmal eingebläut, dass wir nicht noch mehr bewaffnete Gruppen brauchen. Stattdessen haben wir politische Proteste organisiert, gegen die MONUSCO, gegen die Regierung. In Beni haben junge Taxifahrer eine Statue von Präsident Kabila zerschlagen. Ihre Botschaft: "Du existierst für uns gar nicht, weil Du nichts für uns tust." Die Bevölkerung stellt also politische Forderungen. Wir sind der Kriege müde."
In Goma, der Provinzhauptstadt im Osten des Kongo, gehen die Menschen am 22. Januar 2015 auf die Straße. Auch in der Hauptstadt Kinshasa begehrt das Volk im Januar auf. Der Grund: Präsident Joseph Kabila möchte das Wahlgesetz ändern und seine Amtszeit durch einen Trick um viele Jahre verlängern. Während der tagelangen Demonstrationen werden nach Angaben der Opposition mehr als 40 Menschen ermordet, über 350 Menschen verhaftet. Hans Hoebeke arbeitet für die "International Crisis Group". Deren Mitarbeiter beobachten politische Konflikte um sie zu verhindern oder zu lösen: "Die politischen Spannungen nehmen zu, seit der Wahlkalender veröffentlicht wurde. Jetzt weiß man, dass die Wahlen näher rücken. In den Kommunen und Provinzen sollen sie schon Ende dieses Jahres stattfinden, Präsidentschaftswahlen dann Ende 2016. Präsident Kabila darf nicht erneut kandidieren. Bei dieser Wahl steht für die Elite im Kongo also vieles auf dem Spiel. Das schafft Verunsicherung auf allen Ebenen. Interessant an den jüngsten Protesten war, dass sie offenbar nicht von der etablierten Opposition organisiert wurden, die schwach, schlecht organisiert und untereinander zerstritten ist. Auch die traditionellen bürgerrechtlichen Gruppen standen nicht dahinter; sie sind ebenfalls schwach und unzureichend organisiert und dem Regime bestens bekannt."
Hartes Vorgehen gegen Kritiker
Es gibt also neue Akteure auf der politischen Bühne im Kongo. Das könnte Hoffnung schüren, schürt aber derzeit womöglich Gewalt. Die Regierung geht unverkennbar mit harter Hand gegen ihre Kritiker vor. Die Bevölkerung und einige politische Beobachter stellen sich darüber hinaus noch viele weitere Fragen. Hat die Welle der brutalen Gewalt im Osten auch mit den Wahlen zu tun? Sicher ist derzeit nur eins: Durch Terror wird gezielt Panik und Misstrauen verbreitet und die Region destabilisiert. Wem aber nützt die allgemeine Verunsicherung? Teile der Armee, aber auch lokale Politiker und Geschäftsleute scheinen, so sagen Beobachter, ihre Hände im Spiel zu haben. Geht es nur um wirtschaftliche Interessen? Oder um das Begleichen politischer Rechnungen und den Erhalt von Macht? Fragen, auf die es vorerst keine Antwort gibt.
Währenddessen nimmt die Zahl der Opfer zu, der Toten und der Traumatisierten. Ein Krankenhaus in Butembo. Die Stadt ist gut 50 Kilometer von Beni entfernt. Das Haus wird von einer kongolesischen Hilfsorganisation namens FEPSI betrieben und mit Geld aus Deutschland unterstützt. Vor allem Überlebende sexueller Gewalt finden hier Hilfe, und davon gibt es viele: Vergewaltigung ist im Kongo eine Waffe des Krieges. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Opfer auf 25.000 im Jahr. Normalerweise nimmt diese Zahl der Vergewaltigungsopfer jedes Mal zu, wenn neue Kämpfe ausbrechen, sagt Marie-Dolorose Masika Kafanya, eine Mitbegründerin von FEPSI. Bei der jetzigen Welle der Gewalt sei das anders. Diesmal bringen die Täter alle um. Ohne Ausnahme. Bei den wenigen Überlebenden handelt es sich vielleicht mal um ein Kind, das sich irgendwo verstecken konnte. Oder einen Erwachsener, der noch rechtzeitig fliehen konnte. Aber das sind wirklich wenige.
Vergewaltigungen an der Tagesordnung
Eine dieser wenigen ist Izelte Kavira. Die 17-Jährige sitzt in einem Raum, dessen Wände in einem warmen Ockerton gestrichen sind; er wirkt fast wohnlich. Izelte dreht die Schleife ihres Kleides unablässig in der Hand. Die Schleife ist so farbenfroh wie ihr Kleid; es hat ein großes, gelb-violettes Muster. Ihren Sohn, den einjährigen Eli, hat sie zögernd aus der Hand gegeben. Er war zu unruhig während des Gesprächs. Izelte erzählt ihre Geschichte mit monotoner Stimme, als habe sie jedes Gefühl zu ihren Erinnerungen vergessen. Ihr Sohn, sagt sie, sei darin inzwischen ein Lichtblick. Dabei dauerte es eine Weile, bis sie ihn lieben konnte. Eli kam zur Welt, nachdem Izelte von drei Milizionären vergewaltigt worden war, nacheinander, immer wieder. Kurz vorher hatten die Bewaffneten ihre Eltern vor ihren Augen getötet. Bei einem Gewaltmarsch durch den Busch starb wenig später ihr jüngerer Bruder. Sie bedeckte seinen Körper mit Blättern und marschierte immer weiter. Einen Monat schlug sie sich durch den Busch, aß wilde Bananen, trank aus Bächen. Der Gedanke, der sie weiterlaufen ließ: dass in dem Ort Butembo noch eine Tante lebte von der sie annahm, dass sie dort willkommen sei.
"Sie kam abends an, die Nachtwächter gaben ihr ein Bett. Wir haben sie am nächsten Morgen gesehen. Sie war unglaublich schmutzig, die Füße geschwollen, die Augen verquollen. Uns war sofort klar, dass sie psychologische Hilfe braucht." Vivienne Esperance Masika ist Krankenschwester und psychologisch geschult, sie ist seit Izeltes Ankunft für die junge Frau da. Bei FEPSI werden Izelte und andere Überlebende nicht nur medizinisch betreut, sondern auch juristisch beraten. Außerdem bekommen sie Hilfe beim wirtschaftlichen Neustart. Inzwischen wagt Izelte erste Gedanken an die Zukunft: Sie möchte weiter lernen und Wirtschaftsinformatikerin werden. Ihr Sohn, so hofft sie, werde eines Tages zur Schule gehen. Beides aber setzt voraus, dass auch der Osten des Kongo irgendwann friedlich wird. | Von Bettina Rühl | Seit mehr als 20 Jahren leben die Menschen in der Demokratischen Republik Kongo mehr oder weniger im Kriegszustand. Einer UNO-Eingreiftruppe ist es bislang nicht gelungen, die Region zu befrieden. Nun terrorisieren islamistische Milizen die Kongolesen - und hinterlassen eine blutige Spur der Gewalt. | "2015-06-10T18:40:00+02:00" | "2020-01-30T12:41:25.780000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/kongo-ein-leben-im-krieg-100.html | 319 |
"Der Vorschlag Kramp-Karrenbauers ist gegenstandslos geworden" | Volker Perthes sieht deutliche Überreaktionen als Antwort auf die Militäroffensive der Türkei. (AFP / Bakr Alkasem)
Aus Sicht von Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ist der Vorschlag von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, eine international kontrollierte Schutzzone in Nordsyrien einzurichten, chancenlos. Im Deutschlandfunk-Interview der Woche sagte Perthes:
"Ich glaube, dass der Vorschlag für Syrien gegenstandslos geworden ist, spätestens am Dienstag, als Russland und die Türkei sich darüber geeinigt haben, diese Zone selbst zu kontrollieren und zu patroullieren. Und dass Russland als permanentes Mitglied des Sicherheitsrats sich dies durch einen deutschen Vorschlag qua UN-Mandat wieder abnehmen lassen würde, muss man nicht erwarten."
Schutzzone in Syrien / Politologe: "Kramp-Karrenbauer hat viel in Bewegung gebracht"Eine multilaterale Mission in Nordsyrien sei eine sinnvolle Initiative, sagte der Friedensforscher Michael Brzoska im Dlf. Dies funktioniere allerdings nur, wenn die Bundesregierung alte Positionen aufgebe.
Falls der Vorschlag Kramp-Karrenbauers ein Indiz dafür sei, dass Deutschland zukünftig nicht nur darauf warten will, dass andere Staaten immer die Initiative übernehmen, wenn es darum geht, sich um einen strategischen Ansatz für den Umgang mit Krisenregionen zu bemühen, dann könnte der Vorschlag dennoch nützlich gewesen sein.
"Exportstopp gegen die Türkei wirklich absurd"
Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht deutliche Überreaktionen als Antwort auf die Militäroffensive der Türkei. "Die Art und Weise, wie in der medialen und politischen Debatte nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien mit der Türkei umgegangen worden ist, die hat für mich schon ans Absurde gegrenzt", so Perthes im Interview der Woche:
"Wenn da gesagt wurde, jetzt müssen wir aber mal die Türkei aus der NATO rausschmeißen, ohne zu fragen, ob das überhaupt geht oder ein totaler Exportstopp gegen die Türkei, als wollten wir die Trumpsche Forderung, die Türkei ökonomisch zu zerstören, europäisch umsetzen, das war wirklich absurd und maßlos."
Das Ganze sei eine Art Ersatzhandlung dafür, dass die Europäer eben selbst keine effektive Syrien-Politik gehabt haben in den letzten zehn Jahren. Wenn man die Sicherheitsinteressen der Türkei und die Aufnahme von 3,6 Millionen Flüchtlingen in der Türkei anerkenne, dann habe man auch eine Gesprächsgrundlage für die Themen, "bei denen wir massive Kritik an türkischer Politik haben", so Perthes weiter.
Remme: Herr Perthes, willkommen zum Interview der Woche.
Perthes: Sehr gern, guten Morgen.
Remme: Hinter uns liegt eine Woche, in der sich die öffentliche Debatte sehr auf die Außenpolitik konzentrierte. Wieder einmal ging es um Syrien, genauer um die Folgen der völkerrechtswidrigen türkischen Militäroffensive im Norden des Landes. Der Rückzug der Amerikaner, die Rolle Russlands, die Stellung Assads und natürlich auch der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer für eine international kontrollierte Schutzzone sind davon nicht zu trennen. Bezogen auf Syrien selbst sind das ja alles Splitter in der Endphase eines fürchterlichen Kriegs, der Tod und Vertreibung brachte. Wir haben gleich auch Zeit, das Bild danach zu weiten, denn in Moskau, Washington, Ankara, anderen Hauptstädten geht es hier ja um weit mehr als einen Kriegsschauplatz. Sie verfolgen das alles seit Jahren. Sie leiten eine Stiftung, die sich der Politikberatung für die Bundesregierung verschrieben hat. Zeitweise haben Sie eng mit dem UN-Sonderbotschafter für Syrien zusammengearbeitet. Zunächst einmal an Sie die Frage: Ist das so? Ist dies klar die Endphase dieses Kriegs? Oder werden Sie vorsichtiger?
Perthes: Ich denke tatsächlich, dass der türkische Einmarsch und die ganzen Veränderungen, die wir in den letzten zwei Wochen gesehen haben, so etwas wie der vorletzte oder vielleicht der vorvorletzte Akt in diesem Syrienkrieg sind. Es gibt neben der Situation in Nordsyrien ja noch andere Teile Syriens, wo es keine Entscheidung gibt. Der Nordwesten, Idlib, umkämpft mit vielen Toten, mit vielen Vertriebenen, mit anhaltenden Bombardierungen. Es gibt nach wie vor die Frage, was geschieht im irakisch-syrischen Grenzgebiet, etwas weiter südlich am Euphrat, wo wir in den letzten Tagen wieder einmal eine neue Wendung amerikanischer Politik erlebt haben in Richtung der Forderung, doch schweres militärisches Gerät dort zu lassen, um bestimmte Öleinlagen zu schützen. Die Frage ist, gegen wen eigentlich oder für wen? Also, ganz zu Ende ist der Krieg noch nicht, aber strategisch ist er entschieden. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass, was immer in Deutschland und Europa über Syrien geredet wird, wir sagen müssen, ob uns das gefällt oder nicht, ob uns das Regime in Damaskus gefällt oder nicht, wir können die Realitäten nicht länger ignorieren.
Remme: Ich überlege mir bei diesem ganzen Geflecht von Interessen der Amerikaner, die sich zurückziehen, der Russen, die das Vakuum füllen, der Türken, die ihren Vorteil suchen, ist der Rückzug der Amerikaner in der Hinsicht ein Punkt, wo es lohnt anzufangen, das Ganze zu sortieren oder muss man weiter zurückgehen in die Vergangenheit, um zu verstehen, warum Erdoğan und Putin im Moment in so einer starken Position sind? Denn wir haben ja auch schon in den Vorjahren erlebt, dass der UNO- ... Friedensprozess mag ich es gar nicht nennen, die Suche der UNO nach einer politischen Lösung sich gabelte, es plötzlich einen Zweig in Sotschi gab, wo Russen, Iraner und Türken versuchten, ein eigenes Ding zu machen.
Perthes: Also, wir müssen sicherlich weiter zurückgehen, als jetzt nur diese vorletzte Wendung amerikanischer Politik, den Rückzug aus Nordost-Syrien zu analysieren. Der hat den türkischen Einmarsch natürlich erleichtert, hat ihm grünes Licht gegeben, aber hat ihn nicht verursacht. Da gab es ja Probleme. Da gab es Bedrohungswahrnehmungen aus der Türkei. Da gab es eine ungeklärte Lage, die wir auch vorher schon gehabt haben. Und wir wissen seit geraumer Zeit, dass Präsident Trump früher oder später die Truppenpräsenz in einem – und das bleibt wichtig – Teil der Region aufgeben wollte, die aus seiner Sicht für amerikanische geopolitische oder ökonomische Interessen nicht interessant ist. Für die Russen, für die Türken ist es interessant. Wir haben insgesamt die Entwicklung, ich würde den UN-Mediationsprozess nicht ganz sozusagen ad acta legen. Da haben wir ja ein kleines Fenster der Gelegenheiten, der politischen Gelegenheiten, das sich geöffnet hat durch die Zusammenstellung der Verfassungskommission, die ab nächste Woche in Genf tagen wird. Aber ja, Syrien ist der Punkt gewesen, wo fast alle Mächte des Nahen Ostens und viele internationale Player ihre Interessenkonflikte ausgetragen haben. Und was das angeht, sind wir tatsächlich kurz vor dem letzten Akt.
Der Krieg in Syrien sei kurz vor seinem letzten Akt, sagt der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes. (dpa / picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert)
Remme: Sie haben die mögliche Verlegung von amerikanischen Panzern in den Osten, Richtung Ölfelder-Schutzfunktion, erwähnt. Das passt so gar nicht zum Rückzug der vergangenen Tage, so, wie er von Washington aus, von Trump aus, geschildert wurde. Ist das aus Ihrer Sicht Ausdruck einer zunehmend erratischen Politik des Weißen Hauses oder sehen Sie ein Kalkül?
Perthes: Also, wir haben diese erratische Politik des Weißen Hauses. Wir haben eine Politik des Weißen Hauses, von der oft andere Teile der Administration entweder nichts wissen oder nichts halten oder beides. Und wir haben sehr, sehr schnelle Wendungen amerikanischer Politik, egal, wo sie herkommt. Ich finde es sehr schwierig, Aussagen über die Zukunft amerikanischer Politik gerade zu machen, aber würde vermuten, dass eine massive amerikanische Truppenpräsenz in den Ölfeldern Südostsyriens nicht lange anhalten wird. Es gibt dafür keinerlei völkerrechtliche Berechtigung. Das hat jetzt viele Akteure in Syrien nicht gestört. Es wird keine lokale Bevölkerung mehr geben, mit der die Amerikaner hier vertrauensvoll zusammenarbeiten können, weil sie das Vertrauen der Kurden und der kurdischen Miliz YPG verloren haben. Und, wenn wir hier amerikanische Einrichtungen haben an syrischen Ölförderanlagen, werden diese amerikanischen Truppen sich vermutlich ziemlich schnell zum Angriffsziel von terroristischen oder anderen Angriffen machen.
"Die Amerikaner machen Großmachtpolitik"
Remme: Weil Sie die Kurden erwähnen und in den letzten Tagen wird aus meiner Sicht ein bisschen zu wenig über sie gesprochen, sie gelten als klassischer Verlierer der Bewegung, die Sie geschildert haben. Sind die Kurden hier ein wirkliches Opfer par Excellence oder hätten sie aus eigenem Tun diese Niederlage vermeiden können?
Perthes: Ich denke, sie hätten die ganze Situation, wie sie sich entwickelt haben, also das Spiel der regionalen Großmächte und einiger internationaler Großmächte, nicht verhindern können. Was man ihnen vorwerfen kann – wenn das überhaupt ein Vorwurf ist – ist, dass sie aus der eigenen Geschichte nichts gelernt haben, nämlich, dass sie im Zweifelsfall für die größeren Mächte Verschiebemasse sind, genutzt werden, solange sie ins Kalkül passen, aber dann auch fallengelassen werden. Und da gibt es eine längere Geschichte, die über 100 Jahre zurückreicht. Aber es gibt auch eine kürzere. Das war der Aufstand gegen Saddam Hussein im Irak, nach dem Kuwait-Krieg, wo die Kurden, wie damals übrigens auch die irakischen Schiiten, sicher waren, dass sie von den USA unterstützt wurden, aber nicht unterstützt worden sind.
Türkische Soldaten patrouillieren in der nordsyrisch-kurdischen Stadt Tal Abyad. Es gebe bei aller Kritik an der türkischen Militäroffensive auch eine Gesprächsgrundlage mit der Türkei, so Perthes. (AFP / Bakr Alkasem)
Remme: Haben die Amerikaner die Kurden verraten?
Perthes: Ich finde, das ist mir eine zu moralische Kategorie. Die Amerikaner machen – und unter Trump noch sehr viel stärker als unter seinem Vorgänger –Großmachtpolitik und da sind nationale Minderheiten nicht eigentlich Partner, sondern sind Teile der Gesellschaften, in denen man operiert, über deren Köpfe man sich aber auch im Zweifelsfall mit anderen verständigt. Das mag nicht schön sein, aber das ist Großmachtpolitik.
Remme: Und in all das platzte am Montagabend – anders kann man das nicht nennen – dieser Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer. Nicht abgestimmt in der Bundesregierung, ohne Details, bestenfalls gut gemeint. Dennoch nützlich?
Perthes: Nützlich möglicherweise, wenn es ein Indiz dafür ist, dass Deutschland, also die Bundesregierung, zukünftig nicht nur darauf warten will, dass andere Staaten immer die Initiative übernehmen, wenn es darum geht, sich um einen strategischen Ansatz für den Umgang mit Krisenregionen zu bemühen, sondern dass man bereit ist, selber Initiativen zu nehmen und anderen die Antwort zu überlassen, ob sie nun mitmachen wollen oder wie sie mitmachen wollen oder ob sie gar nicht mitmachen wollen. Das wäre durchaus erwartet von unseren Partnern. Dabei geht es gar nicht nur um Militär und dabei geht es gar nicht notwendig um Syrien, sondern einfach zu sagen, wir ändern den Stil unserer Politik ein wenig und wir sind nicht immer nur diejenigen, die darauf warten, dass andere uns fragen, sondern jetzt fragen wir andere mal. In dieser Hinsicht ja, in anderer Hinsicht glaube ich, dass für Syrien, noch dazu für Nordsyrien, der Vorschlag gegenstandslos geworden ist, spätestens am Dienstag, als Russland und die Türkei sich in Sotschi darüber geeinigt haben, diese Zone selber zu kontrollieren und zu patrouillieren. Und, dass Russland als permanentes Mitglied des Sicherheitsrats sich dies durch einen deutschen Vorschlag qua UN-Mandat wieder abnehmen lassen würde, muss man nicht erwarten.
Nahostexperte Lüders "Den Preis zahlen am Ende wir Europäer"Der Nahost-Experte Michael Lüders kritisiert die fehlende Strategie der EU in der Region. 800.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland seien das Ergebnis einer unüberlegten Interventionspolitik, sagte er im Dlf. Dennoch übten die Europäer keinen Druck auf die Türkei aus, den Einmarsch in Syrien zu beenden.
Forderung nach Schutzzone in Syrien - "Das war mit der SPD nicht abgestimmt"Bei ihrer Forderung nach einer international kontrollierten Schutzzone in Syrien habe sich Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nicht mit der SPD abgesprochen, sagte der SPD-Politiker Fritz Felgentreu. Viele Fragen seien offen – etwa woher die benötigten Soldaten kommen sollten.
Remme: Jetzt begründet Kramp-Karrenbauer ihr Vorgehen damit, dass sie, hätte sie versucht, diesen Vorschlag abzustimmen, entweder am Abend davor im Koalitionsausschuss – viele sagen, das sei doch nun wirklich die passende Gelegenheit gewesen – dann dieser Vorschlag schnell tot gewesen wäre, weil der Widerstand der SPD praktisch programmiert gewesen ist. Überzeugt Sie die Erklärung?
Perthes: Na, sagen wir mal so, ich versuche, deutsche Politik zu beraten und nicht Politiker und ihr Verhalten zu bewerten oder zu analysieren. Dies ist tatsächlich eine Frage von Koalitionspolitik, wie man mit der Perspektive früherer oder späterer Neuwahlen umgeht und welche Art von Bundesregierung man im Ausland – auch bei der NATO, auch bei der EU – darstellen will.
"Die russischen Interessen sind nicht inkompatibel mit unseren"
Remme: Die Initiative von Kramp-Karrenbauer setzt ein Einvernehmen mit Russland voraus. Unter anderem, wenn man ein Mandat im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewinnen will. Russland gilt als politischer Gewinner der letzten Monate. Gleichzeitig ist doch allen klar, dass wenn es um den Wideraufbau eines zukünftigen Syriens geht, Russland die Rechnung dafür nicht bezahlen wird oder können wird, sondern dann wird der Westen gefragt. Mit anderen Worten: Bietet sich hier durch diese Verbindung eine Möglichkeit, mit Russland ins Geschäft zu kommen?
Perthes: Also, wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben darüber auch, was in Syrien geschieht. Und tatsächlich kann man sagen, es gibt hier zwar absolut keine Interessenkonkurrenz, aber die russischen Interessen sind nicht völlig inkompatibel mit unseren, was die Zukunft Syriens angeht. Russland zum Bespiel anders als Iran, die andere Vormacht in Syrien, die andere Siegermacht, wenn Sie so wollen in Syrien. Russland möchte nicht, dass Syrien zum Austragungsort oder zum Ausgangsort einer militärischen Konfrontation zwischen Israel und Iran wird. Da stimmen wir mit Russland überein. Russland möchte einen stabilen Verbündeten im Nahen Osten. Da haben wir ein anderes Verständnis von Stabilität, weil wir sagen, das muss auch auf den Schutz der Schwachen, das muss auch auf Partizipation, das muss auch auf Menschenrecht und Rechtstaatlichkeit beruhen. Russland sagt, Stabilität in jeder Hinsicht wird es nicht geben, ohne ein Mindestmaß an sozialem und wirtschaftlichem Wiederaufbau. Da müssen wir zustimmen. Und dann ist es die Frage: Kommen wir in ein Gespräch darüber, unter welchen Bedingungen, also zum Beispiel Schutz der Schwächsten, Schutz derer, die auch den Krieg verloren haben, Rechte der Flüchtlinge et cetera, Europa sich an einem Wiederaufbau beteiligen kann?
Türkisch unterstützte syrische Milizsoldaten patrouillieren am 20.10.2019 im nordsyrischen Tal Abiad auf einer Straße. Die Türkei sei nach wie vor ein NATO-Partner, den man nicht verlieren wolle, so Volker Perthes. (dpa / picture alliance / Anas Alkharboutli)
Remme: Sie haben eben den Iran erwähnt. Wir haben über Russland gesprochen. Kaum ein ausländischer Staatschef polarisiert in Deutschland stärker als der türkische Präsident Erdoğan. Auch die Bundesregierung verurteilt die türkische Offensive als völkerrechtswidrig, gleichzeitig ist Erdoğan Partner in der Flüchtlingspolitik. Ist die deutsche Türkeipolitik glaubwürdig?
Perthes: Ich denke, sie ist glaubwürdig, aber sie hat Dilemmata und Schwierigkeiten zu konfrontieren, die zum Teil auch in der Persönlichkeit des türkischen Präsidenten liegen. Aber – fangen wir bei uns selber mal an –, die Art und Weise, wie in der medialen und politischen Debatte nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien mit der Türkei umgegangen worden ist, die hat für mich schon gelegentlich ans Absurde gegrenzt. Wenn dann gesagt wurde: ‚Jetzt müssen wir aber mal die Türkei aus der NATO rauschmeißen‘, ohne zu fragen, ob das überhaupt geht, das war zum Teil ... Oder ein totaler Exportstopp gegen die Türkei, als wollten wir die Trumpsche Forderung, die Türkei ökonomisch zu zerstören europäisch umsetzen. Das war wirklich absurd und maßlos und hat ein bisschen den Charakter eine Ersatzhandlung dafür, dass die Europäer selbst eben keine effektive Syrienpolitik gehabt hätten in den letzten zehn Jahren. Und ich denke – lassen Sie mich den Satz noch sagen –, wenn man anerkennt, dass die Türkei, auch wenn man die Instrumente, die sie genutzt hat nicht teilt und nicht für richtig hält, wenn man anerkennt, dass die Türkei ein legitimes Sicherheitsinteresse hat und eine Bedrohung wahrnimmt in Nordsyrien – Rückzugsraum für Terroristen et cetera – und wenn man gleichzeitig anerkennt, dass die Türkei 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in den letzten Jahren untergebracht hat und sehr viel besser behandelt hat als andere Länder, dann hat man auch eine Gesprächsgrundlage für die Themen, wo wir massive Kritik an türkischer Politik haben.
Jürgen Trittin (Grüne) "Genau da versagt die Außenpolitik von Heiko Maas"Grünen-Politiker Jürgen Trittin vermisst eine klare Sprache von Bundesaußenminister Heiko Maas im Zusammenhang mit den Kämpfen im Norden Syriens. "Es ist bis heute von ihm nicht zu hören gewesen, dass dieser Krieg tatsächlich völkerrechtswidrig ist", sagte Trittin im Dlf.
Remme: Also – ich verstehe Sie richtig –, Sie halten es für falsch, wenn Rüstungsexporte in die Türkei mehr als nur eingeschränkt würden oder aber ökonomische Hebel, Sanktionen, Druckmittel, wie die Verweigerung von Hermesbürgschaften, umgesetzt würden?
Perthes: Wollen wir denn auch die Hermesbürgschaften – so es welche gibt – oder die Exporte in die USA stoppen, wenn Trump sagt, er lässt Panzer an den syrischen Ölförderanlagen?
Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk und wir sprechen mit Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wenn wir den aktuellen Krisenbogen weiten – Heiko Maas ist heute morgen nach Tunis geflogen, er wird auch Gespräche in Ägypten führen – und natürlich denken wir in dieser Region schnell an Libyen als Krisenherd, mit all seinen Folgen für das Thema Flüchtlinge. Hat die Bundesregierung in Libyen mehr Spielraum für Initiativen als etwa derzeit in Syrien?
Perthes: Sie hat hier einen Spielraum, weil sie als neutral gilt, weil sie nicht involviert gewesen ist in den Krieg, der zum Sturz von Gaddafi geführt hat im Jahre 2011. Und sie kann und sie tut das auch, sie bemüht sich darum – das Stichwort heißt "Berlin-Prozess". Sie bemüht sich darum, die Arbeit des Sondergesandten der Vereinten Nationen in Libyen zu unterstützen. Dieser kann mit den lokalen Gruppen reden und versuchen, da eine Gesprächsgrundlage zu schaffen für eine verfassungsgebende oder andere Versammlung, aber wird in seiner Arbeit ständig dadurch unterminiert, dass diverse regionale Mächte vor allem seine Arbeit dadurch stören, dass sie Waffen an die ein oder andere Partei liefern. Die Initiative der Bundesregierung, wie ich sie verstehe, geht darauf hin zu sagen: Wir versuchen die internationale Verständigung darüber zu schaffen, dass es, a) – und sei es auch nur für gewisse Zeit – einen Waffenstillstand gibt; b) das Waffenembargo, was international beschlossen worden ist, gegen Libyen, auch eingehalten wird von allen. Und das würde es der UNO und ihrem Sondergesandten erleichtern, in Libyen mit den lokalen Parteien wieder in einen Friedensprozess einzusteigen.
"Das Türkei-Flüchtlingsabkommen ist besser als kein Abkommen", sagte Perthes im Dlf. (AFP / Delil Souleiman)
Remme: Jetzt berichten unter anderem Organisation wie Ärzte ohne Grenzen von katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingscamps in Libyen. Eine humanitäre Verantwortung für Flüchtlinge auf hoher See, im Mittelmeer, ist ja in der EU tief umstritten. Vieles schiebt man auf die, ich will mal sagen, sogenannte libysche Küstenwache, die man finanziell unterstützt, die aber wiederum selbst im Zentrum der Kritik vieler steht. Drängt sich da nicht wieder der Eindruck auf, dass auch hier die Europäer, in diesem Fall die EU, auf Zeit setzt, zerstritten ist, keinen Plan hat, wenig Mittel hat, versagt?
Perthes: Also, das kann man so sehen und sozusagen auf die Abstimmungsprobleme und Interessenkonflikte in Europa schauen, die es selbstverständlich gibt. Jedes dieser Länder in Europa hat seine Innenpolitik, und es wäre einfach illusorisch zu erwarten, dass bestimmte Länder, dass die Regierungen bestimmter Länder etwas mitmachen, wo sie wissen, darüber verlieren sie – ohne dass das ihr vitales Interesse wäre –, darüber verlieren sie die Mehrheit bei den nächsten Wahlen. Da müssen wir dann tatsächlich überlegen, wie wir europäische Kompromisse so hinbekommen, dass jemand, der sich zum Beispiel nicht bereit sieht, sich zu beteiligen an der Aufnahme einer in der Regel begrenzten Zahl von Flüchtlingen, in anderer Weise europäische Politik in diesem südlichen Umfeld oder östlichen Umfeld Europas unterstützt. Da kann man über Grenzschutz reden, da kann man über Schiffe im Mittelmeer reden, da kann man über Entwicklungshilfe, über politische Hilfe oder eben auch über UNO-Missionen oder EU-Missionen, wie die in Mali, reden. Und das große Bild ist natürlich, dass wir so lange Flüchtlinge, nicht nur Migranten haben, die sich auch auf Stipendium bewerben würden, sondern echte Flüchtlinge haben, solange es uns und anderen und natürlich in erster Linie auch den Staaten dort in der Region nämlich gelingt, eine Form von nachhaltiger Stabilität in Nordafrika und dem Nahen Osten zu schaffen.
Die Türkei als NATO-Partner nicht verlieren
Remme: Und wir kommen deshalb auch im Moment noch nicht um Abkommen, wie das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei herum, von dem viele sagen, dass uns dieses Abkommen fesselt, was mögliche Reaktionen auf einen Völkerrechtsbruch angeht.
Perthes: Ja, das sagen viele. Und richtig ist, dass dieses Abkommen viel Kritik auf sich gezogen hat, wobei ich immer noch glaube, es ist besser als kein Abkommen. Die Kritik am Völkerrechtsbruch der Türkei haben wir geübt, einhellig, im Rat der europäischen Außenminister, wir haben auch die Rüstungsexporte suspendiert, solange der Grund dafür anhält. Und ich denke, das hätten wir nicht anders getan, aber wir hätten es auch nicht sehr viel schärfer getan, wenn wir kein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gehabt haben. Die Türkei ist nach wie vor ein NATO-Partner, den wir auch nicht verlieren wollen. Die Türkei hat ganz, ganz enge gesellschaftliche und ökonomische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, die wir vielleicht eher verstärken wollen. Vielleicht müssen wir gelegentlich auch stärker nochmal über positive Anreize nachdenken, auch wenn Präsident Erdoğan die nicht fordert. Ich finde Visa-Erleichterung, bis hin zur Visa-Freiheit für türkische Studenten und Geschäftsleute etwas, was der Europäischen Union gut anstehen wollte, wenn sie sagen würden: ‚Für uns ist die Türkei nicht nur Erdoğan‘.
Türkische Gemeinde - "Auch an die PKK appellieren, dass Terror keine Lösung ist"Die Türkische Gemeinde in Deutschland plädiert für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen der Türkei und den Kurden in Nordsyrien. Ihr Vorsitzender Gökay Sofuoğlu sagte im Dlf, alle Konfliktparteien trügen Verantwortung – auch die kurdische PKK. Sie versuche seit Jahrzehnten, mit Terror ans Ziel zu kommen.
Nordsyrien - "Türkei würde sich über Sicherheitszone freuen"Bülent Bilgi von der AKP-nahen Union Internationaler Demokraten hat die deutsche Forderung nach einer internationalen Sicherheitszone in Nordsyrien begrüßt. Die Türkei habe sie bereits seit längerem gefordert, sagte er im Dlf.
Remme: Kramp-Karrenbauer wollte ja eigentlich in erster Linie Deutschland vom Zaun holen – dieses Wort "Zaungast" spielte eine Rolle –, mit anderen Worten will, dass Deutschland mehr Verantwortung übernimmt. Das führt ja ganz schnell zurück ins Jahr 2014, zu dem Aufschlag von Gauck, von der Leyen und Steinmeier. Hat diese Koalition, haben Union und SPD mit ihrem Anliegen geliefert?
Perthes: Wissen Sie, für einen außenpolitischen Analysten und Ratgeber fällt vieles, was eine Regierung macht, immer hinter den Wünschen zurück. Aber ich glaube, wichtiger ist zu sagen, haben sie sich in die richtige Richtung bewegt. Und da, glaube ich, sind wir im europäischen Verbund schon dabei. Und da haben uns bestimmte Entwicklungen in unserer Umwelt, erstens keine andere Wahl gelassen, zweitens aber auch ein Stück weit zusammengeschweißt.
Remme: Beispiele?
Perthes: Beispiel: die zunehmende Konfrontation und Rivalität zwischen den USA und China, die ja fast ein neues Paradigma der internationalen Politik wird, nachdem wir 15 Jahre nur über den Kampf gegen den Terror gesprochen haben als den Rahmen, durch den zumindest die Amerikaner Weltpolitik betrachtet haben. Dazu gehört aber auch innerhalb Europas der Brexit, wo wir wussten, ein ganz starkes, ganz wichtiges Mitglied der EU ist auf dem Weg nach draußen. Und der dritte Faktor ist, dass wir innerhalb der einzelnen europäischen Staaten sehen, dass eine illiberale, populistische, nationalistische Tendenz den europäischen Konsens bedroht und das Bedrohungen liberaler Demokratie nicht nur aus China und Russland kommen, sondern zum Teil von innen. Und ich denke, alle haben begriffen, dass es nicht reicht, darüber zu lamentieren, sondern dass man tatsächlich fragen muss: Wo drückt denn den Bürgern der Schuh, die plötzlich glauben, nicht mehr repräsentiert zu sein, was muss man da anders machen?
Enges Verhältnis zwischen EU und Großbritannien is essentiell
Remme: Mit Blick auf die laufende Legislaturperiode werden jetzt viele Halbzeitbilanzen angestellt. Das ist wichtig – auch koalitionsintern – und das wird für unterschiedliche Themenfelder unterschiedlich ausfallen. Ist die Außen- und Sicherheitspolitik als Halbzeitbilanz der aktuellen Bundesregierung ein Pfund, mit dem sie wuchern kann?
Perthes: Ich denke, die Bundesregierung hat gezeigt, dass sie in bestimmten entscheidenden Fragen, auch vitalen europäischen Interesses, ein unverzichtbarer Spieler ist. Das gilt für Ukraine und die Diplomatie rund um die Ukraine. Das gilt für Afghanistan, wo viele andere abgezogen sind, die Deutschen aber nicht. Das gilt für Mali und den Sahel, wo vor zehn Jahren niemand erwartet hätte, dass vielleicht mal deutsche Soldaten mit französischen zusammen unterwegs sind. Das gilt für diplomatische Bemühungen etwa – darüber haben wir geredet –, bei Libyen sehr hilfreich zu sein, wenn sich sozusagen die lokalen Kräfte miteinander in ein Geflecht begeben, auf dem sie nicht mehr herauskommen. Das gilt durchaus auch für den Versuch, zusammen mit Frankreich eine Koalition, ein Netzwerk von multilateral gesinnten Staaten zu bauen. Das ist alles nicht so schlecht. Ich denke nur, bei der Halbzeitbilanz, die die Koalitionsparteien ziehen werden, ist das nicht die Priorität – und das bedauere ich immer ein bisschen –, sondern die Priorität werden innenpolitische, sozialpolitische Fragen sein.
"Ich denke, die Bundesregierung hat gezeigt, dass sie in bestimmten entscheidenden Fragen, auch vitalen europäischen Interesses, ein unverzichtbarer Spieler ist", so Perthes. Das zeige sich beispielsweise in Mali oder Afghanistan. (dpa / Michael Fischer)
Remme: Thema Brexit. Wir haben ja in den letzten Tagen und Wochen erstaunliche Irrungen, Wirrungen, Winkelzüge im britischen Unterhaus verfolgt, als wäre es das eigene Parlament, so will mir manchmal scheinen, in dem Detail, wie wir draufschauen. Unabhängig davon, wie dieses Drama ausgeht, ist ja Großbritannien nach der Entscheidung nicht von der Landkarte, auch nicht von der politischen Landkarte. Und ich frage mich, steht hier auch die Rolle Großbritanniens als außen- und sicherheitspolitischer Partner auf dem Spiel oder sehen Sie das als Konstante?
Perthes: Sie steht auf dem Spiel, aber das heißt ja nicht – wenn wir in der Metapher bleiben wollen –, dass man sie verloren hätte. Und ich glaube, es ist das gemeinsame Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten und Großbritanniens, wenn denn diese Brexit-Saga einmal hinter uns liegt, zu sagen: Wie bauen wir, stärken wir unsere Beziehungen, gerade auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich so, dass wir tatsächlich, wenn wir so Begriffe benutzen, wie strategische Autonomie oder europäische Souveränität, nicht von der strategischen Autonomie der Europäischen Union reden müssen, sondern von der strategischen Autonomie Europas reden können. Und ohne Großbritannien und ohne den diplomatischen Dienst Großbritanniens und ohne die Streitkräfte Großbritanniens, ist Europa auch in diesem sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich und im außenpolitischen Bereich sehr viel schwächer. Auch in der Entwicklungshilfe im Übrigen, auch in der Forschungs- und Entwicklungspolitik, unabhängig davon, was Großbritannien an Bruttosozialprodukt in die EU einbringt. Aber all diese Bereiche, die auch in Auseinandersetzungen mit China, über technologische Führerschaft, in der Frage, wie positioniert sich Europa, nicht nur die Europäische Union, sondern Europa zwischen den USA und China. Wenn die strategische Rivalität dort auf alle anderen Bereiche durchschlägt, ist es essentiell, dass die EU und Großbritannien ein ganz, ganz enges Verhältnis entwickeln.
Remme: Herr Perthes, ich bedanke mich sehr für das Gespräch.
Perthes: Vielen Dank. | Volker Perthes im Gespräch mit Klaus Remme | Der Vorschlag einer international kontrollierten Schutzzone in Nordsyrien sei mit der Einigung zwischen Russland und der Türkei gegenstandslos geworden, sagte der Politik-Experte Volker Perthes im Dlf. Dennoch könne der Vorstoß von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nützlich sein. | "2019-10-27T11:05:00+01:00" | "2020-01-26T23:16:23.801000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/swp-direktor-volker-perthes-der-vorschlag-kramp-100.html | 320 |
Merkel lehnt Verhandlungen vor Referendum ab | Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht im Deutschen Bundestag über den Schuldenstreit mit Griechenland. (AFP / Odd Andersen)
Gestern Abend war das Hilfsprogramm für das hoch verschuldete Griechenland abgelaufen. Eine fällige Rate an den Internationalen Währungsfonds zahlte Athen nicht. Die Euro-Finanzminister hatten einen Antrag auf Verlängerung der Hilfen abgelehnt. Dennoch gehen die Verhandlungen über eine Einigung im Schuldenstreit weiter.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat den Institutionen von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) einen weiteren Brief mit Sparvorschlägen geschickt. Gestern hatte Tsipras vorgeschlagen, dass Athen Gelder aus dem Europäischen Rettungsfonds ESM erhalten soll, während parallel umgeschuldet wird.
Tspiras erklärt sich nach einem Bericht der "Financial Times" in einem zweiten Brief an die Geldgeber bereit, deren Hilfsangebot unter bestimmten Bedingungen anzunehmen. Er soll etwa verlangt haben, die Mehrwertsteuer auf den griechischen Inseln auf niedrigem Niveau zu belassen und das Renteneintrittsalter langsamer anzuheben als zuletzt geplant. Über den Vorstoß wollen die Euro-Finanzminister am Nachmittag beraten.
Merkel: "Der Euro ist stark"
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erteilte dem Gesuch zumindest vorerst eine Absage. "Vor dem Referendum kann über kein neues Hilfsprogramm beraten werden", sagte sie im Deutschen Bundestag. Gespräche seien ohnehin nicht ohne ein Mandat des Bundestags möglich, weil es um den ESM gehe. "Wir können das auch in Ruhe abwarten, denn Europa ist stark." Die Zukunft Europas stehe nicht auf dem Spiel. Dennoch sei die aktuelle Lage eine Qual für die Menschen in Griechenland. Tsipras hatte für Sonntag ein Referendum über die Reformpläne angekündigt. Ein Regierungsvertreter in Athen betonte heute, dass die Abstimmung stattfinden solle. Verhandlungen würden danach fortgesetzt.
Während der Bundestags-Debatte kritisierte der Vorsitzende der Linksfraktion, Gregor Gysi, die Kürzungspolitik der deutschen Regierung und der Troika. Dieser Weg sei klar gescheitert. Die Bundeskanzlerin habe nun die Chance, in letzter Sekunde als Retterin der europäischen Idee in die Geschichte einzugehen - oder als deren Zerstörerin. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warf Merkel und Gabriel vor, innenpolitische Interessen vor die Interessen Europas zu stellen. Griechenland brauche nun endlich eine Umschuldung.
Banken öffnen für Rentner
Rentner drängeln sich vor einer Bank in Athen, um ihre Renten ausgezahlt zu bekommen. (AFP / Louisa Gouliamaki)
In Griechenland bleiben die Banken und die Börse in Athen weitestgehend zu. Rund 1.000 Bankfilialen haben ausnahmsweise geöffnet, damit sich Rentner mit Bargeld versorgen können. Vor den Schaltern bildeten sich schon heute früh lange Warteschlangen. Viele griechische Rentner verfügen nicht über eine EC- oder Kreditkarte und sind somit nicht in der Lage, an den Automaten Geld abzuheben. Bis Freitag sollen die Banken für Rentner geöffnet bleiben. Ansonsten sind die Geldhäuser bis Montag geschlossen.
(hba/swe) | null | Griechenland ist ohne Geld von außen wohl bald zahlungsunfähig. Mit einem neuen Vorstoß will die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras doch noch zu einer Einigung mit den Gläubigern kommen. Die reagierten zunächst verhalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, Verhandlungen seien erst nach dem Referendum am Sonntag möglich. | "2015-07-01T12:43:00+02:00" | "2020-01-30T12:45:14.214000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/schuldenstreit-mit-griechenland-merkel-lehnt-verhandlungen-100.html | 321 |
"Die Grundmaximen des Leistungssports müssen in 50 Jahren definitiv andere sein" | Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph und Strafrechtler. (dpa / picture-alliance / Eventpress Stauffenberg)
Die Gesellschaft bis hin zum Innenministerium würden zwar Doping verurteilen, Hochleistungssport aber nur dann als wertvoll erachten, wenn zählbare Erfolge zu verzeichnen seien. Dies seien gegenläufige Imperative, sagte Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat, ehemaliger Leistungsschwimmer und Olympiateilnehmer 1968 in Mexiko.
Merkel bezeichnete die Sportphilosophie in Deutschland als unterentwickelt im internationalen Vergleich, in dem die Disziplin weit fortgeschritten sei. Er kritisierte zudem, dass in den obersten Gremien des Sports auf die Kompetenz der Ethiker verzichtet würde. Auch die Ethiker sollten in den Sportverbänden "aktiv werden und sagen, ihr habt eine noch nicht erledigte Aufgabe". Diese Aufgabe sei, die Grundlagen des Hochleistungssports zu reflektieren.
Man bewundere zwar Usain Bolt und Michael Phelps, sehe aber nicht, dass es in deren Hintergrund Zehntausende gebe, die potentielle Erfolge in ihrer sportlichen Karriere "mit physischen Leiden und biographischem Schieflaufen der eigenen Entwicklung bezahlen".
Das vollständige Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Reinhard Merkel im Gespräch mit Andrea Schültke | Nicht nur wegen Dopings sei das heutige System Spitzensport voller Mängel. Auch der ungedopte Hochleistungssport komme an die Grenzen seiner Existenzberechtigung, sagte Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat und ehemaliger Spitzensportler, im DLF. Denn er werde mit hohen Leidenskosten der Athleten bezahlt. | "2017-03-19T23:30:00+01:00" | "2020-01-28T10:19:40.337000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/leistungssport-die-grundmaximen-des-leistungssports-muessen-100.html | 322 |
Lugansk offenbar unter russischer Kontrolle | Ein russischer Soldat schaut aus einem Panzerfahrzeug (picture alliance / dpa / Ramil Sitdikov)
Ein Vertreter der Lugansker Exil-Gouverneursverwaltung berichtet davon, dass russische Truppen die Stadt Lugansk unter ihrer Kontrolle haben - nicht die prorussischen Milizen. Russische Militäringenieuren haben begonnen vor Wochen zerstörte Stromnetz zu reparieren, würde es jedoch nicht an das ukrainische, sondern an das russische anbinden. In Lugansk gehen russische Militärangehörige von Wohnung zu Wohnung, um Lebensmittelpakete zu verteilen, die dringend gebraucht werden, auch Geld. Pensionäre bekämen Renten in Rubel ausgezahlt, nicht in Griwna, der ukrainischen Währung. Zugleich werden russische Pässe ausgegeben. In den Schulen, so sie denn geöffnet haben, wird nach russischem Lehrplan unterrichtet, mit russischen Büchern.
Die Sorge, dass während der Waffenpause weiter derartige Fakten in Lugansk und Donezk geschaffen werden ist groß. Die Feuerpause scheint zu halten, sie wird verhalten aufgenommen, ohne Freude oder Erleichterung. Die ukrainischen Truppen haben den russischen weitaus überlegeneren wenig entgegen zu setzen, sodass die Waffenruhe eine Atempause verschafft. Man sorgt sich, dass sie wie im Juni nicht eingehalten wird und der ukrainischen Armee wieder schwere Verluste erleidet. | Von Sabine Adler, derzeit nahe Lugansk | Während die Feuerpause in der Ostukraine hält, werden im lange hart umkämpften Lugansk Fakten geschaffen: Russische Truppen haben die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht – und verteilen russische Pässe. Das berichtet ein Vertreter der Exil-Verwaltung unserer Korrespondentin. | "2014-09-06T07:24:00+02:00" | "2020-01-31T14:02:25.918000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ostukraine-lugansk-offenbar-unter-russischer-kontrolle-100.html | 323 |
Radiolexikon Gesundheit: Röntgen | "Das Großartige am Röntgen ist, dass man ohne äußere Verletzungen, ohne Aufschneiden in die Tiefe schauen kann und therapeutische Schlussfolgerungen ziehen."Ein großer Fortschritt für die Medizin - und eine Attraktion. Die ersten Röntgen-Durchleuchtungsgeräte wurden auch auf Partys genutzt. Den ganzen Abend lang bestaunte man vergnüglich das Innere seiner eigenen Hände und anderer Körperteile. Und bis in die Sechziger des vorigen Jahrhunderts gab es solche Apparate auch in Schuhgeschäften, um zu sehen, ob die Fußbekleidung ordentlich passt. Längst ist so etwas verboten, denn Röntgenstrahlen sind keineswegs harmlos. Auch wenn man sie nicht spürt: Es handelt sich um sehr energiereiche elektromagnetische Wellen, die Veränderungen im Zellkern und so Krankheiten auslösen können. Nicht ohne Grund bekommen Patienten eine schützende Bleischürze umgehängt, damit nur das zu untersuchende Organ erfasst und insbesondere die empfindlichen Fortpflanzungsorgane verschont werden. "Die ursprüngliche Technik war das Durchleuchten,"erinnert Dr. Dietrich Banzer, erfahrener Radiologe und Beauftragter für Strahlenschutz. Beim Durchleuchten ist die Bestrahlungsdauer entsprechend lang. Deswegen wird dieses Verfahren heute nur noch in speziellen Fällen vorgenommen, etwa, "wenn wir einen Katheter in die Gefäße schieben zum Beispiel die Herzkranzgefäße darstellen, müssen wir natürlich den Katheter unter Durchleuchtung führen." Diese Herzuntersuchung wird Angiographie genannt."Oder auch bei therapeutischen Eingriffen, wenn wir eine Engstelle im Gefäß aufmachen, dafür ist heute die Durchleuchtung da; mit allerdings höherer Strahlenbelastung."Die Strahlenmenge liegt bei Röntgen-Bildern bei nur einem Viertel davon. Die Strahlen werden nur kurz durch den Körper geschickt und das Bild sofort auf einen Spezialfilm gebannt. Es bleibt jedoch das Problem: Eine Schwellendosis, unterhalb derer keine Gefahr besteht, gibt es nicht. Außerdem sind die verschiedenen Organe unterschiedlich strahlenempfindlich, und zum Beispiel Embryonen und Kinder sind besonders gefährdet. Dietrich Banzer, der Strahlenschutz-Beauftragte der Ärztekammer Berlin:"Man muss natürlich wie bei jeder ärztlichen Handlung Nutzen- und Risiko-Abwägung vornehmen."Für den Strahlenschutz gelten drei "A's""Abstand halten, Aufenthaltszeit vermindern und Abschirmung. Und Abschirmung wird eben durch Blei gemacht. Ein Millimeter Bleidicke entspricht einer 13 cm dicken Stahlbetonwand. Durch die Bleischürze wird die Strahlung auf ein Hundertstel der Ausgangsgröße vermindert." Durch die heute verfeinerte Röntgentechnik ist zudem viel weniger Strahlung pro Untersuchung notwendig als früher. Die Belastung beim Röntgen von Skelett, Brustkorb oder Zähnen entspricht heutzutage der natürlichen Hintergrundstrahlung von allenfalls einigen Tagen. Trotzdem lautet die Devise: Nur so viel röntgen wie nötig. Doch die Bundesrepublik ist Vizeweltmeister, nur in Japan wird die Technik noch mehr eingesetzt. "Ja, es wird zuviel geröntgt. Und ein Grund ist sicher, dass der Großteil von Röntgenuntersuchungen nicht durch Radiologen, die speziell dafür ausgebildet sind, durchgeführt werden, sondern auch andere Fachärzte röntgen, und deswegen hat man in der Röntgenverordnung schärfere Bestimmungen eingeführt: Man muss eine Fachkunde im Strahlenschutz erwerben und eine Zusatzqualifikation, und wir erhoffen uns davon, dass eine strengere Indikationsstellung erfolgt, denn das ist eigentlich der Hauptgrund, dass die Methode überschätzt wird und dass zuviel geröntgt wird."Tatsächlich ordnen niedergelassene Ärzte mit eigenem Röntgengerät deutlich häufiger Röntgenuntersuchungen an als ihre Kollegen, die kein eigenes Gerät besitzen. Außerdem wird die hohe Zahl von Röntgenaufnahmen durch einen technischen Fortschritt ausgelöst: die Computertomographie, CT abgekürzt. Dabei werden die Bilder so bearbeitet, dass Körperteile in verschiedenen Schichten viel genauer abgebildet und zum Beispiel kleinste Tumore erfasst werden. Ob allerdings jede CT notwendig ist, bezweifeln Fachleute. Die Zahl solcher Aufnahmen ist erheblich gestiegen, und mitunter werden sie im Rahmen von "Gesundheits-Checks" als freiwillige Leistung angeboten. Die Strahlenbelastung ist beim CT deutlich größer als beim konventionellen Röntgen. Eine große Hilfe für die Diagnostik sind ferner Stoffe, die Organe besser sichtbar machen:"Kontrastmittel wird immer angewendet, wenn der normale Kontrast der Gewebe zu gering ist. Ich habe einen hohen Kontrast zwischen Knochen, kalkhaltigen Substanzen und Weichteilen. Aber die Weichteile untereinander unterscheiden sich nicht. Und wenn ich hier bestimmte Strukturen erkennen will, muss ich ein Kontrastmittel geben; also ich spritze zum Beispiel Kontrastmittel in die Gefäße und kann sie dann von dem umgebenden Bindegewebe abgrenzen. Oder ich lasse Kontrastmittel schlucken, um den Magen, den Darm zu sehen." Indessen können auch Röntgenkontrastmittel Nebenwirkungen haben, angefangen von allergischen Reaktionen bis zu, in seltenen Fällen, schwersten Komplikationen. Dr. Banzer:"Dafür muss aber jeder Röntgenologe vorbereitet sein, und zum Beispiel sofort Kreislaufmittel zu geben oder eine Beatmung durchzuführen." Insgesamt kann man als Patient auch selbst etwas tun, um unnötiges Röntgen zu vermeiden. Alle Einrichtungen, die solche Untersuchungen machen, müssen einen Röntgenpass anbieten. Der Nutzen ist für Professor Roland Felix, Chef der Strahlenklinik an der Charité, aber begrenzt: "Der Röntgenpass ist eine gute Einrichtung, nur die Praxis zeigt, dass er meistens vom Patienten vergessen wird. Wenn ein akuter Anlass ist, mit neuen Beschwerden, wäre er vielleicht nicht so sinnvoll. Aber wenn ein Mensch mit chronischen Beschwerden kommt und Sie sehen am Röntgenpass, dieses Organ ist ja im letzten halben Jahr schon zweimal untersucht worden, da wird man mit Sicherheit sagen: 'Na jetzt mal langsam, versuchen wir erstmal die alten Bilder zu bekommen, die schauen wir uns an und dann kommen Sie nochmal wieder'."Das Röntgen hat unschätzbare Vorteile, aber auch seine Probleme. Mittlerweile stehen neuere Methoden der Bildgebung zur Verfügung, bei denen keine Röntgenstrahlen verwendet werden. Zum einen die Sonographie: Hier machen Ultraschallwellen das Körperinnere sichtbar. Sie zeigen aber nur weiche, flüssigkeitsreiche Gewebe und können das Röntgen nicht überall ersetzen. Zum anderen die Magnet-Resonanz-Tomographie. Sie stellt ebenfalls nicht alles dar, ist aber besonders geeignet für die präzise Darstellung von Weichteilen und Gefäßen. Das MRT ist jedoch sehr teuer und nicht für alle Patienten geeignet. "Diese Verfahren, die röntgenologischen und nicht-röntgenologischen greifen ineinander, das heißt, sie haben unterschiedliche Vorteile und unterschiedliche Nachteile, sodass sie gemeinsam eine ganz ideale Mischung ergeben," sagt Professor Felix. Und Dr. Banzer ergänzt: "Wenn Sie mich fragen, dann glaube ich nicht, dass wir auf das Röntgen in absehbarer Zeit verzichten werden. Aber man darf nicht Methoden als verlängerten Zeigefinger sozusagen benutzen. Sondern das eigentliche Untersuchen des Arztes ist schon das Wichtigste." | Von Justin Westhoff | Röntgen-Diagnostik: Sie geht auf die Entdeckung des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen zurück. 1895 fand er - mehr zufällig - eine bis dahin unbekannte Art von Strahlen, die Unsichtbares sichtbar machen und somit ins Innere des menschlichen Körpers schauen lassen.
| "2009-03-24T10:10:00+01:00" | "2020-02-03T10:07:23.551000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-roentgen-100.html | 324 |
Ein gefährdeter Traum | Schwere Bagger räumen den Schutt vor dem Olympiastadion in Kiew zur Seite, Bauarbeiter reißen den Boden auf, bohren Löcher. Hier, mitten im Zentrum der Hauptstadt sind die Bemühungen der Ukraine um Spielstätten für die Fußball-Europameistschaft deutlich sichtbar: Bereits in einem Jahr soll das neue Stadion mit ausfahrbaren Dach und modernen Glaskonstruktion stehen.Noch drei Jahre hat die Ukraine Zeit, sich auf die Ausrichtung der Fußball-Europameisterschaft 2012 vorzubereiten. Doch der Stand der Bauvorhaben, hat westliche Länder und den Europäischen Fußballverband UEFA nervös werden lassen. Zu Unrecht, wie Vitalii Ivanko aus Sevastopol meint:"Auch wir machen uns Sorgen, genauso wie die Menschen in Europa. Aber ich denke, dass es letztlich klappen wird. Unsere Regierung wird alles unternehmen. Die Ukraine wartet auf die ausländischen Fußballmannschaften.”"Dieser Optimismus wird nicht überall geteilt - und ist bei einem Blick auf die Fakten auch nicht angebracht. In vier Städten soll 2012 der Ball rollen: Kiew, Lemberg, Donezk und Dnipropetrowsk. Die Stadien in Donzek und Dnipropetrowsk stehen bereits, doch an fehlenden Spielstätten wird die EM in der Ukraine nicht scheitern, wie Christoph Wesemann, ein deutscher Journalist aus Odessa, berichtet:""Das große Problem, das ich sehe, ist die Infrastruktur. Es gibt viel zu wenig Hotels, viel zu schlechte Straßen, viel zu kleine Bahnhöfe. Das Reisen ist unglaublich beschwerlich in der Ukraine. Also, die Straßen sind schlecht, die Zugverbindungen sind schlecht, die Züge sind langsam, die Flughäfen sind viel zu klein, die Verbindungen sind unheimlich schlecht. Das wird die große Herausforderung sein, das noch zu modernisieren, weil das Land rechnet, so weit ich weiß, mit 400.000 Touristen, EM-Touristen. Aber wo sollen die hin? Wo sollen die wohnen, wie sollen die sich fortbewegen, wie sollen die reisen?"Bestes Beispiel: Wesemanns Wohnort Odessa. Die Stadt am schwarzen Meer ist Reservekandidat für den Problemfall Lemberg: Seit Jahren versuchen deutsche Unternehmen im geschichtsträchtigen Odessa Fuß zu fassen, da die Nachfrage von Touristen - gerade auch aus Deutschland - immer größer wird. Doch einzelne Projekte scheitern immer wieder daran, dass sich auf ukrainischer Seite kein verlässlicher Partner findet. Zudem sprechen nur wenige Ukrainer englisch.Eine EM-Vorfreude kann Wesemann nicht feststellen, in der Bevölkerung sei das Turnier bisher kein großes Thema:"Von Euphorie spüre ich im Moment noch nichts. Ich weiß nicht, ob das so ein großes Thema ist. Man muss immer bedenken, die Ukrainer denken anders als wir Deutschen. Also wir Deutschen planen immer sehr weit im Voraus. Die Ukrainer, die denken von heute zu morgen. Sie wissen nicht was morgen ist. So wie sie nicht an die Rente denken, so denken sie wahrscheinlich jetzt auch noch nicht an die EM in drei Jahren oder 2012."Es ist genau diese Mentalität, die das Projekt EM 2012 für die Ukraine gefährdet, meint James Marson, Korrespondent des "Wall Street Journals" mit Sitz in Kiew:"Ukrainer haben eine sehr kurzfristig orientierte Mentalität, wahrscheinlich aufgrund ihrer Geschichte: Wenn Du nicht weißt, was am nächsten Tag passiert, kannst Du diesen auch schwer planen. Im Hinblick auf die EM 2012 heißt das: Ihnen wurde die EM 2007 zugesprochen, aber das ist fünf Jahre vor dem Turnier. Das ist also weit weg. Wie soll man also für etwas planen, was solange weg ist? Es können so viele Sachen passieren: Politische und wirtschaftliche Veränderungen beispielsweise ... " Die vorhandenen Infrastruktur-Probleme lassen sich nicht innerhalb weniger Monate korrigieren. Zumal das Geld fehlt: Die Finanzkrise hat die Ukraine voll getroffen, im Gegensatz zu Co-Gastgeber Polen, das 70 Millionen Euro von der EU bekommt, geht die Ukraine als Nicht-EU-Mitglied leer aus. Zusätzlich lähmt die im Januar anstehende Präsidentschaftswahl das Land. Seit Monaten werden daher Alternativ-Szenarien von der UEFA ins Spiel gebracht: Präsident Michel Platini nannte Deutschland als potentiellen Mitausrichter. Weitere Option: Es sei auch möglich, dass Mitgastgeber Polen sechs Stadien stelle, der Ukraine nur zwei Spielstätten und entsprechend weniger Spiele blieben. Und schließlich droht auch noch der komplette Entzug. Wie würden die Ukrainer das aufnehmen? Wall-Street-Korrespondent James Marson:" Es ist schwierig zu sagen, Ukrainer sind nicht leicht zu schockieren. Das Leben hier ist nicht vorhersagbar, vor allem nicht politisch. Wenn die EM weggenommen wird, werden die Leute mit den Schultern zucken und das als normal empfinden: Das ist Ukraine, würden sie sagen. Und das ist sehr enttäuschend. Es ist eine Chance für die Ukraine, zu zeigen, dass sie etwas machen kann."Anlass zur Hoffnung, dass die Ukraine das Turnier in geplanter Form ausrichten kann, gibt es jedenfalls wenig, meint Journalist Wesemann: "Also, zuversichtlich stimmt mich eigentlich nur Europa und die UEFA. Ich glaube, für Europa und die UEFA ist es viel zu wichtig, dass die EM in der Ukraine und Polen stattfindet. Vor allem in der Ukraine, weil damit auch ein Signal ausgeht von Europa in Richtung Osten, wir lassen Euch nicht alleine, wir wollen Euch haben, wir unterstützen Euch."Das UEFA-Exekutivkomitee will am 11. Dezember diesen Jahres endgültig über die Gastgeberstädte für 2012 entscheiden. Bereits jetzt steht fest, dass die Ukraine sich bis dahin noch kräftig anstrengen muss, damit das Endspiel am 1. Juli 2012 - wie geplant - in Kiew stattfinden kann. In jenem Stadion, an dem heute noch zahlreiche Bagger und Bohrer arbeiten. | Von Moritz Küpper | Die Fußball-Europameisterschaft 2012 ist eine große Chance für die Ukraine: Das Land erhofft sich dadurch einen wirtschaftlichen Aufschwung und will die Tür nach Europa öffnen. Doch die Krise und die aktuelle politische Situation gefährden die Ausrichtung des Turniers. | "2009-09-20T19:10:00+02:00" | "2020-02-03T09:56:28.544000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ein-gefaehrdeter-traum-100.html | 325 |
"Wir wollen weit kommen" | Oliver Roggisch, Teammanager der deutschen Handball-Nationalmannschaft (Deutschlandradio / Marina Schweizer)
Als Mitfavorit um den Handball-WM-Titel, der vom 11. bis 29. Januar 2017 ausgespielt wird, sehe Oliver Roggisch die deutsche Nationalmannschaft nicht - auch weil einige Spieler verletzungs- oder überlastungsbedingt fehlen: "Ich sage nicht, dass wir nicht um Medaillen mitspielen können - aber dafür muss einiges passen", sagte der Teammanager in der Sendung "Sport am Sonntag". Das Ziel: "Besser als Platz sieben."
Von Livestreams und "Hardcore-Fans"
Die Handball-WM 2017 wird in Deutschland nur im eingeschränkten "Livestream" - aufgrund des Engagements eines großen Sponsors - zu verfolgen sein. "Es ist natürlich schade, dass es nicht im Free-TV läuft", sagte Oliver Roggisch dazu: "Ich glaube aber, die wirklichen Hardcore-Fans treffen sich sowieso lieber zum Public Viewing."
Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Oliver Roggisch im Gespräch mit Philipp May | Holt die deutsche Handball-Nationalmannschaft nach dem EM-Titel 2016 nun auch den WM-Titel? "Es wird nicht immer so glatt laufen wie im letzten Jahr", sagte Teammanager Oliver Roggisch im DLF. Trotzdem blickt er dem Turnier in Frankreich optimistisch und ehrgeizig entgegen. | "2017-01-08T19:30:00+01:00" | "2020-01-28T09:26:56.035000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/vor-der-handball-wm-wir-wollen-weit-kommen-100.html | 326 |
Suche nach einer neuen Perspektive | Das Jüdische Museum in Berlin - erbaut nach einem Entwurf des Architekten Daniel Libeskind (picture alliance / imageBROKER)
Es sei einigermaßen harmonisch zugegangen, gestern auf der Krisensitzung des Stiftungsrats des Jüdischen Museums, erzählte ein Teilnehmer heute. Es ging um Trümmerbeseitigung und darum eine Perspektive für die Zukunft zu finden. Erst einmal soll das Museum ein Jahr lang kommissarisch geleitet werden, bis eine Findungskommission einen Nachfolger für das angeschlagene Museum gefunden hat. Am liebsten eine Frau, und auf jeden Fall eine Jüdin.
Und: Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Gründungsdirektor Michael Blumenthal hätten gegenüber dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, klargestellt, dass das Museum als Kultureinrichtung unabhängig von jedem politischen Einfluss sein müsse. Eine Ansage, die freilich erst kam, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Denn das Jüdische Museum droht, von der Politik zerrieben zu werden.
Und die Kritik an Grütters wird lauter. Sie habe sich nach Beschwerde der israelischen Regierung und des Zentralrates über angeblich zu israelkritische Ausstellungen und Programmbeiträge mit Gästen, die angeblich dem BDS nahestanden, nicht ausreichend hinter Schäfer gestellt. Zurücktreten musste er schließlich wegen eines Tweets, in dem das Museum einen kritischen Diskussionsbeitrag zum BDS-Beschluss des Bundestages verlinkt hatte.
Gravierender Versuch, Meinungsfreiheit zu blockieren
"Das ist meines Erachtens ein gravierender Versuch, Meinungsfreiheit zu blockieren und zu beschneiden. Und darüber hinaus ist dieser Fall auch ein Fall, wo man sich fragen muss, wer hat die Deutungshoheit, wenn es um die Präsentation des Judentums geht. Ist Israel hier stellvertretend für das Judentum immer dar. Oder ist die Meinung der israelischen Regierung nur eine Meinung unter vielen?"
Erklärte der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Gemeinsam mit dem früheren israelischen Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, hatte er gestern im "Tagesspiegel" unter dem Titel "Wer bestimmt, was jüdisch ist?" einen Artikel veröffentlicht, in dem beklagt wurde, die deutsche Politik und Gesellschaft lasse sich, geprägt durch die deutsche Schuld am Holocaust, von der israelischen Politik Denkverbote auferlegen, indem sie unreflektiert deren pauschale Gleichsetzung von jeder Kritik an Israels Politik mit Antisemitismus übernehme.
"Man hat ja hier nicht nur den Ministerpräsidenten Netanjahu, der direkt mit Merkel korrespondiert. Es gibt ein Ministerium für strategische Angelegenheiten, es gibt das Außenministerium. Und sie alle bemühen sich heute viel aggressiver als früher darum, dass so eine Bewegung wie die BDS-Bewegung, die Boykottbewegung gegen Israel, nicht an die Öffentlichkeit kommt, nicht in Amerika, in England, aber auch nicht in Deutschland.
Bundestag verurteilt BDS als antisemitisch
Der Bundestag hatte vor Kurzem die von Palästinensern gegründete Boykottbewegung in einem Beschluss pauschal als antisemitisch verurteilt. Projekten und Veranstaltungen, die den BDS unterstützen, soll jegliche Förderung entzogen werden. Das Museum hatte in seinem scharf krisitierten Tweet lediglich auf einen Artikel verwiesen, in dem sich 240 israelische Wissenschaftler, darunter rennommierte Holocaust-Forscher, gegen den Bundestagsbeschluss positioniert hatten.
Eine pauschale Stigmatisierung sei problematisch, heißt es in dem Text. Eine Unterstützung des BDS sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Auch die israelische Schriftstellerin Lissy Doron mahnte, es sei an der Zeit, dass Deutschland gegenüber Israel zu einem neuen Diskurs finde. Der Holocaust dürfe nie vergessen werden, aber der Blick allein auf die Vergangenheit reiche nicht mehr aus, um die Krise der Demokratie und der liberalen Werte, die vielfältigen Angriffe auf die Meinungsfreiheit in Israel und vielen anderen Ländern abzuwehren. | Von Christiane Habermalz | Auf Twitter hatte das Jüdische Museum Berlin einen Artikel empfohlen, der sich mit der israelkritischen BDS-Bewegung auseinandersetzt. Der Zentralrat der Juden intervenierte und Direktor Peter Schäfer musste gehen. Jetzt sucht der Stiftungsrat des Museums eine Perspektive für die Zukunft. | "2019-06-21T13:21:00+02:00" | "2020-01-26T22:58:26.636000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/juedisches-museum-suche-nach-einer-neuen-perspektive-100.html | 327 |
"'Get Brexit done' war eine große Lüge" | Um einen No-Deal-Brexit zu verhindern, müsste Premier Boris Johnson die Frist über Ende 2020 hinaus verlängern, auch wenn er gesagt habe, das wolle er nicht, sagte Noch-EU-Parlamentarierin von Wiese im Dlf (dpa-Bildfunk / Dominic Lipinski/)
Peter Sawicki: Es wirkt immer noch nach, das Ergebnis der Parlamentswahlen in Großbritannien vom Donnerstag. Der Erdrutschsieg der Tories ist für viele eine Zeitenwende. Dass das Königreich Anfang kommenden Jahres jetzt wirklich aus der EU austritt, bezweifelt niemand mehr ernsthaft, aber vor allem wie die Zukunft des Vereinigten Königreiches selbst aussieht, das scheint alles andere als klar zu sein. Die schottische Nationalpartei will schon bald über ein neues Unabhängigkeitsreferendum sprechen. Parallel müssen sich die unterlegenen Parteien neu sortieren. Dazu gehören die Liberaldemokraten, die den Brexit lange abgelehnt haben, und mit Irina von Wiese, einer Noch-EU-Parlamentarierin der Liberaldemokraten können wir jetzt sprechen. Schönen guten Morgen, Frau von Wiese!
Irina von Wiese: Ja, guten Morgen!
"Ich sehe jetzt dem Ende des Vereinigten Königreichs entgegen"
Sawicki: Das Ganze war ja ein deutlicher Sieg für Boris Johnson, Ihre Partei ist aber angetreten, um den Brexit noch zu verhindern. Müssen Sie sich eingestehen, dass Sie da eine Illusion verfolgt haben?
von Wiese: Ja, es war natürlich ein schlechtes Ergebnis für die Liberaldemokraten, aber vor allem ein katastrophales Ergebnis für Großbritannien, für Europa und die Welt als solches. Ich sehe jetzt dem Ende des Vereinigten Königreichs entgegen, ich glaube, es wird jetzt definitiv auseinanderbrechen, und natürlich eine Schwächung der Europäischen Union in einer Zeit, in der wir Putin, Xi und Trump haben, die mehr Einfluss in Europa gewinnen wollen. Wir sind natürlich sehr unglücklich über das Ergebnis – ein Ergebnis, das übrigens in einem Verhältniswahlrecht nie passiert wäre. Was jetzt weiter passiert: Wir kämpfen natürlich weiter für Europa, dafür, dass Großbritannien so nahe wie möglich an der Europäischen Union bleibt und irgendwann dann auch als Ganzes wieder eintreten wird und für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches.
Sawicki: Gut, das sind jetzt einige Punkte, die wir mal nacheinander durchgehen können, aber bleiben wir mal kurz bei den Ursachen für den Wahlausgang. Diese Mehrheit für Boris Johnson, diese ja deutliche Mehrheit – Sie haben das Wahlrecht zwar angesprochen, aber die Partei hat ja trotzdem eine deutliche Mehrheit bekommen, und Johnson hat ja den Brexit-Abschluss versprochen. Müssen Sie zum Beispiel als Liberaldemokraten - noch einmal - sich da nicht eingestehen, dass Sie da die Stimmung im Land völlig falsch eingeschätzt haben?
von Wiese: Nein, wir wissen, dass wenn wir eine Chance gehabt hätten auf ein zweites Referendum, was wir jetzt voraussichtlich nicht mehr bekommen, wenn wir eine solche Chance gehabt hätten, dann hätten wir ein zweites Referendum gewonnen, das heißt, es wäre dann im Sinne eines Verbleibs in der EU ausgegangen. Diese Chance hat das britische Volk nie bekommen, denn wir müssen ja auch dazu bedenken, dass in einem Verhältniswahlrecht die Mehrheit der Bürger sich für proeuropäische Parteien ausgesprochen hätten und dann auch proeuropäische Parteien gewonnen hätten. Das heißt, es nicht so, dass jetzt mehr als 50 Prozent der britischen Bevölkerung für einen Austritt gestimmt haben in dieser Wahl. Aber mit einem Mehrheitswahlrecht war es natürlich oft so, dass gerade die kleineren Parteien, insbesondere die zentralen Parteien wie die Liberaldemokraten, einfach zwischen zwei zunehmend extremen Positionen zerrieben wurden. Da hieß es dann, "vote LibDem, get Corbin" oder "vote LibDem, get Boris", je nachdem, wen man ansprechen wollte, und wir sind einfach in der Mitte hängen geblieben.
"Wir hätten als vereinigte Remain-Kraft gewonnen"
Sawicki: Und warum hat man das dann aber nicht geschafft, sich dann beispielsweise als große vereinigte Kraft zwischen den anderen Parteien dann gegen die Tories und dann gegen den Brexit zu stellen?
von Wiese: Das ist eine hervorragende Frage und eine Frage, die wir uns natürlich auch immer wieder stellen. Ich halte das für ein ganz, ganz, ganz großes Versäumnis, einen großen Fehler. Dazu muss man sagen, dass wir es versucht haben. Wir haben sowohl mit den Grünen, die ja keine große Kraft sind in Großbritannien, aber auch mit der Plaid Cymru und mit Labour zusammenarbeiten wollen. Die beiden kleineren haben zugesagt, Labour hat sich leider immer dagegen ausgesprochen, wollte in keinem einzigen Wahlkreis zurücktreten. Es hat nicht geklappt, ich finde es sehr, sehr schade, denn wir hätten als vereinigte Remain-Kraft gewonnen.
Sawicki: Gut, dann schauen wir jetzt nach vorne. Sie haben schon angedeutet, dass Sie einen Zerfall des Vereinigten Königreiches befürchten. Das setzt aber natürlich voraus, wenn man jetzt zum Beispiel auf Schottland schaut, dass Boris Johnson da einem Referendum überhaupt erst zustimmt über die Unabhängigkeit Schottlands. Warum sollte er das tun, er hat das ja jetzt schon abgelehnt?
von Wiese: Er hat es abgelehnt, aber ich glaube, dass wir in Schottland weiterhin eine Verstärkung der nationalistischen Tendenzen sehen werden, das heißt, die SNP wird gerade durch die Verweigerung der Johnson-Regierung immer weiter zur Unabhängigkeit getrieben. Und natürlich noch Irland dürfen wir nicht vergessen, denn der Deal, den Johnson sich da vorstellt mit der Europäischen Union, der zieht eine klare Grenze zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens. Und dann sehe ich persönlich Nordirland als Erstes das Vereinigte Königreich verlassen, und Schottland wird dem nachfolgen und irgendwann dann sicher auch Wales, denn Wales ist – das muss man dazusagen – auch sehr durch Brexit betroffen.
Sawicki: Aber ist das einfach ohne Weiteres auch rechtlich umsetzbar?
von Wiese: Rechtlich umsetzbar wissen wir leider noch gar nicht – was wird aus dem Deal, was wird aus diesem Abkommen –, denn wir müssen bedenken, dass ja die Einzelheiten im Rahmen der Handelsverträge im nächsten Jahr ausgehandelt werden, wenn sie dann überhaupt ausgehandelt werden. Das heißt, wie es rechtlich weitergeht, weiß noch keiner, wie es mit Brexit weitergeht, weiß auch noch keiner, und das wird natürlich auch dann Konsequenzen haben für die separatistischen Tendenzen in Nordirland und in Schottland.
Deal mit der EU: "Das schafft der nicht"
Sawicki: Was glauben Sie, wie es mit dem Brexit weitergehen kann, wenn dann erst mal der formale Austritt Ende Januar vollzogen ist?
von Wiese: Dann hat Boris Johnson theoretisch nur noch elf Monate Zeit, umfassende, komplexe Handelsabkommen mit der EU abzuschließen. Das schafft der nicht, das wissen wir aus eigener Erfahrung im Europaparlament, das hat uns auch Michel Barnier ganz klar gesagt.
Sawicki: Man könnte die Frist ja verlängern.
von Wiese: Er müsste die Frist wieder verlängern, das hat er gesagt, wollte er nicht machen, aber wir wissen ja von Boris Johnson, dass für ihn Fristen immer genau solche Halbwahrheiten sind wie die anderen Versprechungen, die er gemacht hat. Also, ich denke, es wird dann eine weitere Fristverlängerung geben müssen. Ansonsten sehen wir Ende 2020 dem gleichen Austritt ohne Deal, einem katastrophalen No-Deal-Brexit entgegen, dem wir ja schon zweimal entgegengesehen haben.
"Drohung, dann doch noch ohne Deal auszusteigen"
Sawicki: Und trotzdem könnte das ja natürlich dann sein, dass man das entsprechend so argumentiert, dass man jetzt im Sinne aller die Frist verlängert, was auch vielleicht den inneren Frieden befördern könnte.
von Wiese: That much for getting Brexit done – das war wieder natürlich eine ganz große Lüge, "Get Brexit done", es ist ganz im Gegenteil dazu. Jetzt wird es immer weitergehen mit Brexit, mit schmerzhaften Verhandlungen und mit der Drohung, dann doch noch ohne Deal auszusteigen. Wir wissen, dass das ganz klare dauerhafte negative Konsequenzen haben wird für die britische Wirtschaft, aber auch für den Rest Europas, deshalb: Das weiterhin als Drohgebärde im Hintergrund zu haben, ist natürlich vollkommen verantwortungslos.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Irina von Wiese im Gespräch mit Peter Sawitzki | Die Liberaldemokratin Irina von Wiese bedauert, dass es ihrer Partei nicht gelungen sei, sich mit Labour als Remain-Kraft zusammen zu tun. Die Gefahr eines No-Deal-Brexits bestehe indes weiter, sagte sie im Dlf. Johnson werde es nicht schaffen, mit der EU umfassende Handelsabkommen bis Ende 2020 abzuschließen. | "2019-12-14T06:50:00+01:00" | "2020-01-26T23:23:51.155000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/liberaldemokratin-zu-tory-wahlsieg-get-brexit-done-war-eine-100.html | 328 |
Hoffnung für die Pariser Vorstädte | Die PISA-Studie bestätigt, dass das französische Schulsystem soziale Ungleichheiten reproduziert und vertieft - mit gravierenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. (picture-alliance / Robert B. Fishman)
Die Schulwoche beginnt mit einer Zeremonie. Lehrer und Schüler stellen sich im Rechteck auf, der Direktor spricht ins Mikrofon: "Halten Sie sich aufrecht, nehmen Sie die Hände aus den Taschen", mahnt er. Der Direktor siezt die Kinder. Dann ruft er die einzelnen Jahrgänge auf, sie sind nach berühmten Schriftstellern benannt.
Die Schüler antworten mit einem energischen Schlachtruf, der in einen rhythmischen Wortwechsel übergeht, es folgt eine Ansprache des Schulleiters. Wegen des Feiertags haben Sie diese Woche nur drei Tage Unterricht, deshalb, sagt Albéric de Serrant, müsse jeder unverzüglich und mit voller Kraft an die Arbeit gehen, wie ein Sportler, der zum Sprint ansetzt.
"Geben Sie das Beste, so schnell wie möglich. Intelligenz, Courage, Hartnäckigkeit, das sind Sie Ihrer persönlichen Zukunft schuldig, das schulden Sie Ihren Eltern und den Menschen, die Geld für diese Schule spenden, Sie schulden es auch Ihrem Land, Frankreich."
Viele Hände sind längst wieder in die Hosentaschen gerutscht, aber die Jugendlichen hören aufmerksam zu. Drei Schüler tragen jetzt Fahnen in den Hof: die Trikolore, das europäische Sternenbanner und die Flagge der Schule. Kinder und Erwachsene legen die Hand aufs Herz und halten eine Schweigeminute, zu Ehren der Eltern und zu Ehren des eigenen Landes, betont der Direktor noch einmal. Erst dann beginnt der Unterricht.
Viele Jugendliche hängen untätig herum
Die Schule Alexandre Dumas ist ein Pilotprojekt der Stiftung "Espérance Banlieues". Treibende Kraft ist der Unternehmensgründer Eric Mestrallet.
"Als Firmenchef habe ich festgestellt, dass es vielen Bewohnern aus den Banlieues an wichtigen Kompetenzen mangelt: Sie machen Fehler im Französischen und kennen die Umgangsformen nicht. Das sind unüberwindbare Hürden, wenn man einen Job sucht."
Zufällig hörte der 46-Jährige von den sozialen Problemen der Pariser Vorstadt Montfermeil:18 Prozent Arbeitslosigkeit, 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 36 Prozent der Bewohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Aufgrund von Disziplinlosigkeit und Fehlverhalten wird jeder zehnte Schüler von der Schule geworfen, daher hängen viele Jugendliche untätig herum.
Montfermeil suchte händeringend nach einem alternativen Schulmodell, das die Stadt befrieden und die Kinder vor dem Scheitern bewahren könnte, berichtet Mestrallet. Der Unternehmer tat sich mit Experten zusammen, fand den Direktor und motivierte Lehrer. Anfangs hatten sie keine eindeutig definierte Methode, dafür viel Gespür für die Nöte und Probleme der Schüler, die fast alle aus Einwandererfamilien stammen.
Intelligent und zeitgemäß vorgehen
Schulleiter Albéric de Serrant hat vorher in katholischen Privatschulen unterrichtet und Erfahrungen mit Problemkindern. In der Schule Alexandre Dumas hat er seine Pädagogik weiter entwickelt. Er räumt ein, dass die Schulrituale Außenstehende überraschen könnten.
"Wir greifen zu allen erzieherischen Mitteln, die uns nützlich erscheinen. Wir trauen uns, Methoden der Pfadfinder zu benutzen, manches erinnert hier an Jugendlager, wir wenden uns paternalistisch an die Kinder, als ob wir eine große Familie wären. Aber wir bemühen uns dabei, immer intelligent und zeitgemäß vorzugehen, damit wir den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht werden."
Vor der Aufnahme eines neuen Schülers prüft der Direktor einzig die Motivation des Kindes und seiner Eltern.
Mit 108 Schülern ist die Schule Alexandre Dumas schon fast an ihre Grenze gelangt. Denn der familiäre Charakter sei Voraussetzung für ihren Erfolg, sagt Schulgründer Eric Mestrallet. | null | Die Vororte von Paris sind eine Bildungswüste. Nach Abschluss der Mittelstufe beherrscht nicht einmal jeder zweiter Schüler von dort das Grundwissen. Eine Stiftung mit Namen "Espérance Banlieues" hat jetzt speziell für Kinder aus diesen Banlieues ein alternatives Schulmodell entwickelt, dass ihnen Freude am Lernen vermitteln soll. | "2015-05-15T09:10:00+02:00" | "2020-01-30T12:36:55.053000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-hoffnung-fuer-die-pariser-vorstaedte-100.html | 329 |
Warten auf die Welle | Das Asphaltband der Interstate 12 führt schnurgerade nach Osten. Vor einer halben Stunde habe ich den Mississippi überquert, bei Baton Rouge, der Hauptstadt von Louisiana. Ausfahrt Livingston. Zu dem riesigen Detektor, wegen dem ich hier bin, geht es weiter auf Landstraßen, vorbei an Holzhäusern, vor denen Farbige in Schaukelstühlen dösen. Sattes Grün und schwülwarme Luft. Kein Ort an dem man ein gigantisches Teleskop vermuten würde.LLO heißt die Megamaschine: LIGO Livingston Observatory. Es ist ein Präzisionslineal aus Licht, das die geheimnisvollen Gravitationswellen erstmals direkt nachweisen soll: Eine gewaltige Antenne, die das Konzert des Kosmos belauscht.Das Hauptgebäude ist so groß wie ein Flugzeughangar. Auf dem Parkplatz davor stehen etwa 30 Autos. Mike Zucker erwartet mich bereits. Der Chef des Gravitationswellen-Teleskops bei Livingston trägt Jeans und Hawaiihemd. Passt irgendwie, schließlich wartet der Physiker mit seinem Team hier auf "die Welle".Mike Zucker schlägt vor, erst einmal aufs Dach zu steigen, um einen Überblick zu bekommen. GEO, damit meint er den deutsch-britischen Gravitationswellendetektor GEO 600 in einer Obstplantage bei Hannover. Die Forscher dort residieren in einem Baucontainer. Verglichen damit, ist das hier der Rolls-Royce unter den Schwerkraftantennen. Trotz Wolken und Wind: Bereits vormittags ist es hier so warm, dass das Treppensteigen schlaucht. Die Aussichtsplattform auf dem Dach erlaubt perfekten Rundumblick. Niemandsland, topfeben. Wasser, Wald und Sumpf soweit das Auge reicht. Und mittendrin zwei kilometerlange Betonröhren, die im rechten Winkel auseinander laufen. Es sind die Messstrecken des ultrapräzisen Laserlineals. Ihr Schnittpunkt liegt im Gebäude unter uns." Wir stehen hier direkt über dem Strahlteiler, der unseren Laserstrahl in zwei Teilstrahlen aufspaltet. Einer davon läuft nach Westen, der andere nach Süden - jeweils vier Kilometer weit. Am Ende der Laufstrecken hängen schwingungsisolierte Spiegel, die die Strahlen wieder hierher zurückschicken. Und wir vergleichen die Laufzeit der Lichtwellen in den beiden Armen. "" Von hier oben bekommen Sie ein Gefühl dafür, wie riesig unser Detektor ist. Wir versuchen, ein großes Stück der Raumzeit extrem genau zu beobachten. Dort in der Ferne, das sind die beiden Gebäude, in denen die Spiegel hängen. "Größe ist Trumpf bei der Jagd nach Gravitationswellen. Je länger die Messstrecken des L-förmigen Laserlineals, desto leichter lassen sich sie Schwerkraft-Schwingungen detektieren. Mit seinem baugleichen Pendant in Hanford, im US-Bundesstaat Washington, bildet der Detektor in Livingston die Speerspitze der internationalen Bemühungen, die von Albert Einstein vorhergesagten Gravitationswellen erstmals direkt nachzuweisen.Heinzel: " Er selber hat ja die Existenz von Gravitationswellen schon gefolgert aus seiner Theorie. Aber er war davon überzeugt, dass man sie niemals messen kann. "Ehlers: " Wer zum ersten Mal so was nachweisen kann, hat eine extrem gute Chance, den Nobelpreis zu kriegen. "Aufmuth: " Ich bin da eigentlich ganz optimistisch. Ich denke schon, dass wir das in den nächsten zwei oder drei Jahren schaffen werden. "Laserinterferometrisches Gravitationswellen-Observatorium, kurz LIGO - so heißen die beiden Detektoren in den USA. Außer LIGO liegen derzeit noch drei weitere Laserlineale auf der Lauer. Sie sind kleiner und damit weniger empfindlich als die Megamaschine in Livingston. Der japanische Detektor TAMA bei Tokio hat 300 Meter lange Messstrecken. GEO 600 in Deutschland hat 600 Meter Armlänge, der von Franzosen und Italienern gebaute VIRGO-Detektor bei Pisa 3 Kilometer.All diese Instrumente sind Interferometer, also Präzisionslineale der modernen Physik, die die Überlagerung von Lichtwellen nutzen, um kleinste Längenänderungen zu messen. Und genau dadurch sollen sich die Gravitationswellen verraten: Die von Einstein prophezeiten Schwerkraft-Schwingungen verzerren alles, was ihnen in die Quere kommt, erklärt Peter Aufmuth vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Golm bei Potsdam." Es ist eine Welle in der Struktur des Raumes. Und die führt dazu, dass zwischen den Objekten Längenänderungen auftreten. Dass praktisch anschaulich gesprochen alle Objekte verzerrt werden. In der einen Richtung werden sie verlängert, in der anderen gestaucht. "Peter Aufmuth ist seit 15 Jahren an Planung, Bau und Betrieb des deutsch-britischen Gravitationswellendetektors GEO 600 bei Hannover beteiligt." Eine Gravitationswelle ist eine Störung im Raum-Zeit-Gefüge. Eine Schwankung im Gravitationsfeld, die sich wellenförmig ausbreitet. Sie entsteht dann, wenn sich große Massen schnell verändern. Also zum Beispiel bei einer Sternenexplosion oder wenn Schwarze Löcher sich umkreisen. Das sind typische Objekte, die Gravitationswellen aussenden. "Laut Albert Einstein ist die Raumzeit krumm. Massive Körper wie unsere Sonne verzerren ihr vierdimensionales Gewebe - wie eine Bowling-Kugel eine Membran. Die Schwerkraft, die die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne hält, ist eine Folge dieser Krümmung des Raumes, erklärt Jürgen Ehlers, emeritierter Professor und Gründer des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik." Stellen sie sich vor eine elastische Membran und sie setzen jetzt auf diese Membran eine Kugel drauf. Die wird dann die Membran eindellen in der Mitte. Jetzt stellen sie sich aber vor, dass sie diese Kugel etwas rauf und runter bewegen. Oder aber auch, dass diese Kugel in ihrer Größe etwas hin und her schwankt. Dann wird doch die Membran etwas hin und schwingen, und zwar in einer zeitlich veränderlichen Weise. Und dann werden über die Membran so kleine Verformungswellen drüber weglaufen. So ähnlich, wie wenn man eine Wasseroberfläche hat und drauf einen Korken hin und her bewegt, sollten sich dann von dieser Stelle aus sozusagen Störungen in der Raum-Zeit-Geometrie ausbreiten und nach außen wellenartig weglaufen. Und diese Wellen sollten eben nach der Theorie mit der gleichen Geschwindigkeit durch den Raum laufen, wie eben das Licht und elektromagnetische Wellen. "Trifft solch eine Schwerkraftwelle die Erde, beeinflusst sie die senkrecht aufeinander stehenden Messstrecken der Laserlineale unterschiedlich. Einer der Arme wird also einen Tick länger als der andere. Dieser Längenunterschied wiederum bewirkt eine kleine Helligkeitsschwankung im Ausgangssignal des Interferometers, die sich messen lässt.Dummerweise sind die Längenänderungen, um die es geht, winzig: Eine typische Gravitationswelle sollte die 150 Millionen Kilometer lange Strecke von der Erde zur Sonne um gerade einmal einen Atomdurchmesser verkürzen - weshalb Einstein selbst davon ausging, dass man den Effekt wohl nie direkt würde nachweisen können. Seit einigen Jahren versuchen es Einsteins Erben trotzdem. Ihre präzisionsoptischen Messgeräte arbeiten an der Grenze des technisch Machbaren." Der Nachteil unserer Forschung ist der, dass die stärksten Signale relativ selten sind. Also eine Sternenexplosion passiert eben in der Milchstraße nur alle 30 Jahre. Und deswegen muss man auch so empfindlich sein, dass man auch noch Nachbargalaxien beobachten kann. Und das wird eben von allen Projekten angestrebt. Deswegen braucht man eben riesige Empfindlichkeiten. Wir müssen fähig sein, Längenschwankungen von 10 hoch minus 21 nachzuweisen. Auf unsere Messstrecke angewendet, heißt das, dass man fähig ist, eine Längenänderung nachzuweisen, die 1000 Mal kleiner ist, als ein Atomkern. "10 hoch minus 18 Meter, das ist die Größe der Stauchungen, die die Laserlineale nachweisen sollen. Es ist der Millionste Teil eines Milliardstel Millimeters. In Hannover haben die Forscher diese Empfindlichkeit trotz jahrelangem Tüfteln und Optimieren ihres Detektors immer noch nicht ganz erreicht. In Louisiana ist man seit Jahresanfang soweit." Ich kann es immer noch kaum glauben, dass wir es tatsächlich geschafft haben. Es sah nämlich lange nicht danach aus. Wenn sie an so einem wissenschaftlichen Großprojekt arbeiten, tauchen jeden Tag neue Probleme auf, die auf den ersten Blick unlösbar scheinen. Irgendwie haben wir es aber doch immer hinbekommen. "Die Projektanträge für den Bau der riesigen LIGO-Teleskope wurden 1989 geschrieben. Da war Mike Zucker noch Student. Die Jagd nach den Gravitationswellen hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Die blau-weiß gestrichene Halle, auf deren Dach wir stehen, wurde 1999 eingeweiht. 2001 war das Laserlineal erstmals in Betrieb. Bei der laufenden Messkampagne erzielt man endlich die angestrebte Empfindlichkeit: 10 hoch minus 18 Meter.Bevor wir wieder runtersteigen, erwähnt Mike Zucker beiläufig, dass die beiden vier Kilometer langen Laserröhren mit kugelsicherem Beton ummantelt sind. Das soll verhindern, dass Jäger versehentlich ein Loch hinein schießen, wenn sie den Wildvögeln und Alligatoren nachstellen, die es in der sumpfigen Gegend reichlich gibt." Ein Treffer mit einer Gewehrkugel könnte katastrophale Folgen haben. Wir betreiben hier das größte Hochvakuumsystem, das je gebaut wurde. Es wurde so konzipiert, dass unter keinen Umständen Luft hineinkommen darf. Deshalb müssen wir das um jeden Preis vermeiden. "Drinnen ist es angenehm kühl. Wir machen uns auf den Weg zum Herzstück der Anlage, dem Detektor, wo die beiden reflektierten Laserstrahlen wieder zusammen treffen. Weil die empfindliche Optik auf Störungen aller Art reagiert, ist der Zutritt normalerweise verboten. Aber an diesem Vormittag wurde die laufende Messung für Wartungsarbeiten unterbrochen. Ich habe Glück.Eine elektrische Schuhbürste wirbelt den Staub von unseren Sohlen. Sauberkeit ist das A und O hier. Ein Staubkorn genügt, um einen der hunderttausend Dollar teuren Spiegel unbrauchbar zu machen.Mike Zucker drückt mir Überzieher aus blauem Plastik in die Hand. Die muss ich über die Schuhe stülpen, damit der verbliebene Staub keinen Ärger macht.Wir gelangen in einen wohnzimmergroßen Vorraum, vollgepackt mit mannshohen Elektronikschränken. Überall Kabel und blinkende Leuchtdioden. Ein starkes Gebläse kühlt die Prozessoren." Die Elektronik hier kontrolliert die Position und Orientierung aller optischen Komponenten des Interferometers. Außerdem registriert sie alle seismischen und akustischen Ereignisse in der Umgebung. So können wir erkennen, ob ein vermeintliches Gravitationswellensignal nicht durch ganz profane Umwelteinflüsse erzeugt wurde. "Die Jagd auf Gravitationswellen gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die Laserlineale sprechen nämlich auf alle möglichen Längenänderungen an, nicht nur auf die durch Gravitationswellen hervorgerufenen. Erdbeben, Wirbelstürme, Meeresbrandung, in großer Entfernung vorbeifahrende Züge - all das registriert die Megamaschine in Livingston. Weil die Störsignale größer sind, als die zu erwartende Wirkung einer Gravitationswelle, werden ihre charakteristischen Muster automatisch herausgefiltert. Ein Sisyphosarbeit für hunderte elektronischer Regelkreise. Bevor es durch die Stahltür ins Allerheiligste geht, müssen wir Schutzbrillen aufsetzen. Durch das klobige Ding bekommt alles einen Blaustich. Wirklich nötig sei die Brille nicht, erklärt Mike Zucker. Aber die Sicherheitsvorschriften für starke Laser seien nun mal so.Die Halle ist so groß wie ein Flugzeughangar. Und es ist erstaunlich still darin.Kein Lüfterrauschen, keine Vakuumpumpen. Um den sensiblen Detektor nicht zu stören, wurde alles, was Krach macht, vor die Tür gesetzt.In der Mitte des Raumes: drei große Stahltanks. Meterdicke Metallrohre verbinden sie in Kopfhöhe, laufen weiter bis zur südlichen und westlichen Hallenwand - und von dort jeweils noch knapp 4 Kilometer ins Freie. Damit die unsichtbaren Laserstrahlen darin freie Bahn haben, ist das komplette System aus Röhren und Tanks luftleer gepumpt. Keine einfache Aufgabe, bei einem Volumen von über 8 Millionen Litern. Es ist das größte Hochvakuumsystem, das je gebaut wurde. Dass keine Pumpen zu hören sind, liegt daran, dass nur Flüstermodelle verwendet werden, die ganz ohne Motoren und bewegliche Teile auskommen. Mike Zucker bleibt vor dem riesigen Vakuumtank in der Mitte stehen. " Wir sind jetzt ziemlich genau unter der Stelle, an der wir vorhin auf dem Dach standen. In diesem Edelstahltank wird der einfallende Laserstrahl zweigeteilt und in die beiden 4 Kilometer langen Arme geschickt. Der Vakuumtank hat 3 Meter Durchmesser und ist 6 Meter hoch. Darin steckt ein ausgeklügeltes System zur Schwingungsdämpfung: Eine gestaffelte Anordnung von Pendeln, Federn und Edelstahlgewichten, die mehrere Tonnen wiegt und die optischen Komponenten vor Vibrationen schützt. "Wenn in ein paar Kilometern Entfernung Bäume gefällt werden, reicht das aber nicht. Weshalb die Gravitationswellenjäger in Livingston anfangs nur nachts messen konnten, wenn die Holzfäller in der Gegend Pause machten. Mike Zucker zeigt auf die mannshohen blauen Hydraulikzylinder, neben einem der Tanks. Der Einbau war ein teurer Spaß, der ursprünglich erst im Zuge eines späteren Umbaus geplant war." Das System misst die Bewegung des Bodens und steuert die Hydraulikzylinder so, dass sie diese Bewegung kompensieren. Die insgesamt acht Aktoren pro Tank sind in der Lage, jeden der Vakuumtanks samt seinem tonnenschweren Inhalt in Sekundenbruchteilen um ein paar Mikrometer zu verschieben, um Vibrationen zu dämpfen. Gesteuert wird das Ganze von einem elektronischen Regelkreis. Der ist auch jetzt aktiv, während wir hier herumlaufen. Die Erschütterungen, die unsere Schritte verursachen, werden registriert und aktiv herausgefiltert, bevor sie die empfindliche Optik im Tank erreichen können. "" Bei Waldarbeiten direkt neben unserem Gelände haben wir immer noch Schwierigkeiten. Aber in 95 Prozent aller Fälle stören uns die Holzfäller jetzt nicht mehr. Wir können rund um die Uhr messen, genau wie geplant. "Rund um den Globus liegen Forscher auf der Lauer und horchen mit ultraempfindlichen Laserlinealen ins All. Bislang ohne Erfolg. Doch die meisten Experten gehen davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis ihnen die erste Gravitationswelle ins Netz geht. Indirekte Hinweise für deren Existenz gebe es nämlich bereits, sagt Peter Aufmuth vom Detektor GEO 600 bei Hannover. Und zwar durch radioastronomische Beobachtungen von Doppelsternsystemen." Wenn zwei Sterne umeinander kreisen, senden sie Gravitationswellen aus. Dadurch verlieren sie Energie. Sie rücken dann näher zusammen und kreisen schneller umeinander. Und das kann man messen. Und wenn man jetzt nach der Einsteinschen Theorie ausrechnet, wie viel schneller sie pro Jahr umeinander kreisen sollten, dann stimmt das exakt mit dem überein, was man misst. Und das kann kein Zufall sein. "Da keiner weiß, wann die nächste Gravitationswelle anrollt, versuchen die Forscher, ihre Laserantennen ständig empfangsbereit zu halten. Bei laufender Messung arbeiten sie deshalb rund um die Uhr im Schichtbetrieb - egal ob in der Apfelplantage bei Hannover oder im Südstaaten-Sumpf bei Livingston.Ehlers: " Wer zum ersten Mal so was nachweisen kann, hat eine extrem gute Chance, den Nobelpreis zu kriegen. "Aufmuth: " Ich bin da eigentlich ganz optimistisch. Ich denke schon, dass wir das in den nächsten zwei oder drei Jahren schaffen werden. Ich vermute sogar, wenn man in 10 Jahren nichts sieht, dann wäre das schon eine Krise. "Die Suche nach den Kräuselungen der Raumzeit ist ein Spiel mit vielen Unbekannten. Einsteins Erben wissen nur ungefähr, nach welchen Mustern sie im Rauschen ihrer Detektoren Ausschau halten müssen. Mögliche Quellen für Gravitationswellen sind alle massereichen Objekte im All, die irgendwie periodisch an der Raumzeit-Membran rütteln könnten. Gefräßige Schwarze Löcher, die einen großen Materiebrocken verschlingen, zählen dazu. Aber auch miteinander verschmelzende Neutronensternpaare und Supernova-Explosionen.Aufwändige Computersimulationen verraten, wie sich solche kosmischen Katastrophen im Detektorsignal bemerkbar machen sollten. Doch die Prognosen der Theoretiker sind wacklig. Liegen sie daneben, könnte es erst einer empfindlicheren Detektor-Generation gelingen, erstmals eine Gravitationswelle direkt nachzuweisen - zum Beispiel LISA. " LISA ist "laser interferometric space antenna". Das ist ein Gravitationswellen-Detektor im Weltraum. Der besteht aus drei Satelliten in einem Abstand von 5 Millionen Kilometern - ein gleichseitiges Dreieck - zwischen denen Laserstrahlen hin und her geschickt werden. Und die Laserstrahlen messen winzige Abstandsänderungen im Pikometerbereich zwischen den Satelliten. Gravitationswellen machen sich als kleine Änderungen dieser Abstände bemerkbar. "Der Physiker Gerhard Heinzel von der Universität Hannover arbeitet an einer Testplattform, die 2008 ins All geschossen werden soll - als Vorläufer von LISA. Wenn dabei alles glatt geht, sollen die drei baugleichen LISA-Satelliten, die an überdimensionale Pucks erinnern, 2012 ins All starten. Gemeinsam bilden sie dann den größten Detektor, der je gebaut wurde. Peter Aufmuth." LISA ist nicht nur ein empfindlicheres Gerät, weil es eben längere Arme hat - da arbeite ich nicht nur mit 4 Kilometer langen Messstrecken, sondern mit 5 Millionen Kilometer langen Messstrecken, zwischen Satelliten. Das heißt: LISA ist automatisch eine Million mal besser als alles, was ich auf der Erde machen kann. Aber wegen der größeren Messstrecken reagiert es auch auf einen anderen Messbereich, nämlich auf den kleineren Frequenzbereich. LISA ist speziell für den Millihertz-Bereich ausgelegt. Dort liegen aber gerade einige interessante Quellen. Zum Beispiel alle Ereignisse, die irgendwie mit Schwarzen Löchern zu tun haben, und alle Doppelsternsysteme, die weiter weg sind und dann eben schwächer sind. Systeme von weißen Zwergen liegen in diesem Bereich. Da gibt's also eine Fülle von Quellen. Und deswegen muss man sich was einfallen lassen, um diesen Bereich auch beobachten zu können. Und dafür ist eben LISA da. "Der Mega-Detektor im Weltraum eröffnet den Astronomen also ein ganz neues Fenster ins All. Aber noch gibt es LISA nur auf dem Papier und der Detektor in Livingston bleibt bis auf weiteres die größte Präzisionsoptik im Sonnensystem. Der Laser, der den US-Forschern als Lichtquelle dient, füllt einen wohnzimmergroßen Verschlag. Ein Gewirr aus Linsen und Spiegeln sorgt dafür, dass die Infrarot-Lampe Licht einer genau definierten Farbe aussendet." Wir weiten den Laserstrahl auf 10 bis 15 Zentimeter auf und leiten ihn durch dieses Rohr hier auf den Strahlteiler. "Um die Empfindlichkeit des Interferometers zu steigern, laufen die beiden Teilstrahlen viele hundertmal zwischen den Spiegeln am Anfang und Ende der Messstrecken hin- und her. Optische Resonanz heißt das." Unser Laser hat 6 Watt Ausgangsleistung. Aber durch die optische Verstärkung in den beiden Armen steigt die Strahlleistung auf 14 bis 15 Kilowatt. Solche energiereichen Lichtwellen produzieren natürlich Wärme. Etwa ein Promille der Lichtleistung wird von den Spiegeln absorbiert. Sie erwärmen sich und verformen sich dadurch ein bisschen. Wir haben diesen thermischen Effekt einkalkuliert, aber wir haben nicht berücksichtigt, dass die Wärmeabsorption von Spiegel zu Spiegel unterschiedlich ausfällt. Das hatte zur Folge, dass das Interferometer bis vor kurzem gar nicht richtig funktionierte, weil die Spiegel im laufenden Betrieb teils stärker, teils schwächer gekrümmt waren, als geplant. "Um das Problem in den Griff zu bekommen, musste beim baugleichen LIGO-Detektor in Hanford im Juni 2005 einer der 10 Kilogramm schweren Endspiegel ausgewechselt werden. Eine aufwändige Prozedur, die ein paar hunderttausend Dollar kostete und die Forscher dort um Monate zurückwarf. In Livingston behalf man sich anders.Zwei zusätzliche Laser erwärmen die falsch gekrümmten Spiegel gezielt so, dass sie die richtige Form bekommen.Mike Zucker hat viele solcher Geschichten auf Lager. Unvorhergesehene Probleme, die irgendwie gelöst sein wollten - mit Technologien, die nie zuvor erprobt wurden. Auf dem Weg zum Ausgang der Detektorhalle betont er, wie wichtig die internationale Kooperation dabei ist - vor allem die mit den Kollegen in Hannover. Um mit ihrem relativ kleinen Detektor bis heute mithalten zu können, waren die nämlich gezwungen, schon mal ein paar Schritte voranzugehen.Verbesserte Schwingungsdämpfung, stärkere Laser, ausgeklügeltere Detektionsverfahren - eine Menge Hightech aus deutschen Labors soll in Livingston Einzug halten. Denn die US-Forscher wollen ihre Laserantenne weiter optimieren, um künftig noch tiefer ins All lauschen zu können. Derzeit liegen nur ein paar 100 Galaxien in Hörweite. Mit einem verschmelzenden Neutronenstern-Duo zum Beispiel ist da nur alle paar Jahre zu rechnen. Ein stärkerer Laser aus Hannover soll die Sensitivität aber schon im kommenden Jahr verdoppeln. Weitere Verbesserungen ab 2008 sollen die Empfindlichkeit verzehnfachen. Dann müsste der Detektor eigentlich alle paar Tage Alarm schlagen.Nachdem wir Schutzbrillen und Plastikgamaschen wieder abgelegt haben, geht es ins Kontrollzentrum. Überall Monitore und Steuerkonsolen, an denen sechs junge Männer auf bunte Grafiken starren." Von hier überwachen wir alle wichtigen Parameter: die Position und Orientierung der Spiegel, die Laserfrequenz und so weiter. Von dieser Schaltzentrale aus wird das Interferometer vom momentanen Ruhezustand wieder in den Betriebszustand gefahren - vermutlich in ein paar Stunden. Dann laufen hier auch die Daten ein: Das digitalisierte Ausgangssignal, das wir nach verräterischen Spuren von Gravitationswellen durchsuchen. "Computerprogramme durchforsten das Detektorsignal nach verdächtigen Mustern. Gravitationswellen müssten sich durch winzige Helligkeitsschwankungen bemerkbar machen. Sobald die Suchprogramme einen möglichen Kandidaten ausgemacht haben, wird er unter die Lupe genommen." Natürlich behaupten wir nicht bei jedem auffälligen Signal: Das war eine Gravitationswelle. Um Fehlalarme auszuschließen, vergleichen wir unsere Messungen mit denen der anderen Detektoren in den USA, Deutschland, Italien und Japan. Wenn die kurz vor oder nach uns dasselbe gemessen haben, wäre das ein starkes Indiz, dass wir wirklich etwas gefunden haben. "Ehlers: " Wenn man in 10 Jahren nichts sieht, dann wäre das schon eine Krise. "Aufmuth: " Also sagen wir mal so: Wenn auch LISA nichts sähe, dann würde irgendwas fundamental mit der Theorie nicht in Ordnung sein - was eigentlich keiner glaubt. "Heinzel: " Das wäre eine extrem große Überraschung und das würde bedeuten, dass die Gravitationstheorie und unsere Vorstellung vom Universum grundlegend falsch ist. "Noch ist den LIGO-Forschern keine Gravitationswelle ins Netz gegangen. Aber Mike Zucker, der Wellenjäger im Hawaiihemd, hat gelernt zu warten. Die derzeitige Messkampagne geht noch bis Jahresende." Es gibt eine reelle Chance, dass wir Dinge entdecken werden, die zuvor noch keiner gesehen hat. Denken Sie nur an kosmische Objekte, die weder leuchten noch Teilchen aussenden. Warum sollten solche Dinge nicht existieren? Durch Schwerkraftwellen könnten sie sich verraten. Ich glaube, unsere Situation ähnelt jener der ersten Radioastronomen. Die Astronomen im 19. Jahrhundert dachten: Im Universum gibt es nur Sterne und sonst nichts. Etwas anderes konnten sie mit ihren Teleskopen ja nicht erkennen. Als die ersten Radioastronomen dann behaupteten: Da draußen gibt es noch eine Menge anderer Dinge, von denen ihr nicht die leiseste Ahnung habt, da wollte das zunächst keiner glauben. Aber die Radioastronomie hat unser Bild des Universums revolutioniert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch wir in 10 bis 15 Jahren den ganzen Kosmos in völlig neuem Licht sehen werden, weil Gravitationswellen uns neue Einblicke geliefert haben. " | Von Ralf Krauter | Einstein hat viel vorausgesagt. Vieles davon ist längst bestätigt, nur eine der ganz großen Ankündigungen nicht: die der Gravitationswellen. Mitten in der schwülwarmen Landschaft Louisianas, entstand in den letzten Jahren eine Schwerkraft-Antenne, die die geheimnisvollen Gravitationswellen tatsächlich nachweisen könnte. | "2006-11-26T16:30:00+01:00" | "2020-02-04T11:15:47.093000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/warten-auf-die-welle-100.html | 330 |
Gefühl, Groove und große Geste | So wie in ihrem größten Hit "Kissing the sheets" aus dem Top Twenty Album "Liquefied days" von 1999 kannten wir Cultured Pearls und vor allem deren Sängerin Astrid North bisher. Leicht, locker, mit einem großen Schuss Soul und Pop. Manchmal sogar etwas angejazzt. Doch seit spätestens 2003 ging die Band eigene Wege. Besonders traurig war Astrid deswegen nicht. Im Gegenteil"Eigentlich dachte ich – in meiner jugendlichen Freude – super! Ich schreib jetzt Stücke und nehm die auf und dann sind die genau so, wie ich sie haben will und dann kann ich sie veröffentlichen und dann geht’s weiter. Und es war zwar so, dass ich viele Lieder geschrieben hab aber sie waren irgendwie nicht so, wie ich sie wollte. Und ich bin dann durch ziemlich viele Phasen gegangen... Also ich hab bestimmt schon drei Alben aufgenommen."Aber gut Ding will eben auch Weile haben. Nach neun Jahren intensiver Arbeit an zehn neuen Stücken fühlt sich die Sängerin aus Berlin jetzt endlich bereit, ihr Solo-Debüt "North" auch wirklich zu veröffentlichen. Und sie spart dabei nicht an Überraschungen..."Cultured Pearls war … auf jeden Fall waren die Singles leichter, nicht unbedingt die ganzen Alben, da gab’s auch einige schwerere oder intensivere... aber die Singles waren definitiv leichtgängig, leichtfüßig und da hab ich glaube ich keine einzige Nummer auf meinem Album, was so ist"Ja, die neue Astrid North ist unzweifelhaft nicht mehr so schmusig wie Cultured Pearls damals. Die 39-jährige Sängerin zerrt an Gitarrensaiten, hämmert auf Klaviaturen, malträtiert Trommelfelle. Wäre da nicht das vertraute dunkle, samtige Timbre ihrer Stimme, würde man kaum eine Verbindung herstellen können zu der einstmaligen deutschen Soulkönigin. Vielleicht noch durch die Melancholie und Traurigkeit einiger Stücke, die es früher ebenfalls gab. Damals eben gut versteckt. Heute nicht mehr."Ich glaube, dadurch, dass es bei Cultured Pearls auch solche Tendenzen gab und tatsächlich die leichteren Nummern eher aus Radiotauglichkeitsgründen entstanden sind, also ganz ehrlich gesagt, ist das schon eine Tendenz, die ich einfach hab. Das hab ich letztens eigentlich mir erst sagen lassen, da sagte jemand: Du ich hab dein Album gehört und du bist doch gar nicht so traurig"Dennoch geht Astrid Norths Solodebüt "North" unter die Haut. Auch wenn das Album auf den ersten Blick ganz schön sperrig und unnahbar wirken mag. Lässt man sich aber darauf ein, taucht man ab in die Gefühlswelt der Musikerin, die hier offenbar ihren jahrelang aufgestauten Frust auslebt und sich tief in die Seele schauen lässt. Soul – neu interpretiert. Natürlich geht das nicht ohne Reibungspunkte: Die Instrumentierung reicht von Pianoballade bis zur fast sinfonischen Alt-Arie. Die Musikstile wechseln gleich mehrfach, teilweise sogar innerhalb eines Stücks, und reichen dabei von Dada-istischem Akustikjazz über nervöses Elektrogezwirbel inklusive verzerrter Gitarren bis hin zu vertrackten Break-Beats. Pop und Rock sowieso.Die wesentlichen Grundsteine für "North" hat Astrid während eines zweiwöchigen Kreativurlaubs an der Algarve in Portugal, der Heimat des Fado gelegt. Wobei sie den thematischen Vergleich ihres eigenen Weltschmerzes zur dortigen Schicksalsmusik nicht ziehen will. Aber er drängt sich fast auf. Vielleicht ist es ihr nur noch nicht bewusst geworden, denn"Irgendwie haben wir uns da ein bisschen eingeschlossen und ich hab’s sehr genossen, keine Zeitfenster zu haben sondern einfach aufzustehen und nicht darüber nachzudenken, dass ja die Kinder dann und dann kommen oder dass meine Mutter, oder dass ich da noch zum Finan... wie auch immer, sondern halt eben zwei Wochen wirklich Freiheit, mit meiner Freizeit wirklich machen, was ich wollte und wir haben da wirklich ganz viel geschrieben."Bei soviel gefühlvoller Musik muss die Frage erlaubt sein: Wie ist das auf der Bühne? Kommen bei der Vergangenheitsbewältigung live nicht ab und zu mal die Tränen?"Ja, leider."Warum "leider"?"Weil sich’s beim Weinen nicht so gut singen lässt. Es schnürt sich mein Hals zusammen und die Töne – ich kann sie nicht kontrollieren, ich krieg ne rote Nase und seh’ aus wie Rudolph, the Red-Nosed Reindeer. Und es bewirkt zwar immer wieder irgendwas bei den Zuschauern aber es ist schon unangenehm."Muss es aber nicht, denn "North" von Astrid North ist ein großes Stück Musik. | Von Andreas Zimmer | Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhundert war guter Soulpop aus Deutschland Mangelware. Dann kamen Cultured Pearls und gaben dem Soulpop made in Germany eine neue Heimat. Die Band gibt es nicht mehr - dafür aber ein neues Solo-Album der Sängerin Astrid North. | "2012-07-28T15:05:00+02:00" | "2020-02-02T14:18:11.348000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/gefuehl-groove-und-grosse-geste-100.html | 331 |
Tunesier an auffällig vielen Straftaten beteiligt | Im Jahr werden in Sachsen insgesamt durchschnittlich 300.000 Straftaten verübt. (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
Von Januar bis September 2015 hat Sachsen 45.000 Zuwanderer aufgenommen. Von ihnen begingen 4.695 insgesamt 10.397 Straftaten, sagte Ulbig in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung. Vor allem Diebstähle schlagen zu Buche: Sie machen rund 40 Prozent der Delikte aus. 18 Prozent der Fälle sind Beförderungserschleichungen, elf Prozent Körperverletzungen und fünf Prozent Rauschgiftdelikte. Unter den Straftätern seien viele Mehrfach- und Intensivtäter. Auch hier sei der Anteil von tunesischen Staatsbürgern "auffallend hoch". Bereits im Dezember belegten Zahlen, dass 1,3 Prozent der Asylbewerber in Sachsen für fast die Hälfte aller Straftaten von Zuwanderern verantwortlich sind. Im Jahr werden in Sachsen insgesamt durchschnittlich 300.000 Straftaten verübt.
Abschiebung oft nicht möglich
Insgesamt sind laut Ulbig Personen aus den sogenannten Maghreb-Staaten Algerien, Marokko, Tunesien und Libyen überproportional an Straftaten von Zuwanderern beteiligt. Sie seien für rund 43 Prozent aller Vergehen von Migranten verantwortlich.
Bei Syrern zeige sich ein ganz anderes Bild: Obwohl fast 30 Prozent der Asylbewerber in Sachsen aus Syrien kommen, liegt ihr Anteil an Straftaten durch Zuwanderer bei weniger als fünf Prozent.
Eine Abschiebung straffällig gewordener Flüchtlinge ist oft nicht möglich - auch weil die viele Asylbewerber keine Reisedokumente haben und ihre Herkunftsländer sie deswegen nicht zurücknehmen. Ulbig forderte deswegen eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesjustizministerium, um eine schnellere Abschiebung zu ermöglichen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat angekündigt, mit den Maghreb-Staaten über eine kurzfristige Rückführung zu verhandeln.
De Maizière: Flüchtlinge genauso oft straffällig wie hiesige Bevölkerung
Das Bundeskriminalamt (BKA) stellte ebenfalls fest, dass auf Bundesebene Migranten vom Balkan und aus Nordafrika "besonders durch Straftaten" auffielen. Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien seien dagegen nicht so stark repräsentiert. Im November stellte das BKA einen Bericht zur "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" vor. Demnach stieg die Kriminalität nicht in gleichem Maße wie die Flüchtlingszahlen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte dazu: "Insgesamt zeigen uns die derzeit verfügbaren Tendenzaussagen, dass Flüchtlinge im Durchschnitt genauso wenig oder oft straffällig werden wie Vergleichsgruppen der hiesigen Bevölkerung. Der Großteil von ihnen begeht keine Straftaten, sie suchen vielmehr in Deutschland Schutz und Frieden." In dem Bericht hieß es auch, dass die Gesamtzahl der erfassten Straftaten durch Flüchtlinge in Deutschland sich im "niedrigen sechsstelligen Bereich" bewege. | Von Charlotte Voß | Tunesier machen laut Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) fast ein Viertel aller ermittelten tatverdächtigen Zuwanderer in dem Freistaat aus. Dabei kommen nur rund vier Prozent der Zuwanderer in Sachsen aus Tunesien. Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei Migranten aus Syrien. | "2016-02-09T19:12:00+01:00" | "2020-01-29T18:12:57.768000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/sachsen-tunesier-an-auffaellig-vielen-straftaten-beteiligt-100.html | 332 |
"Macron muss liefern" | Josef Janning vom European Council on Foreign Relations auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2008. (Imago / Wolf P- Prange)
"Er muss vorlegen - erst das wird ihm die Wucht verleihen, die er gerne hätte", so Janning. Das Ergebnis bei der Parlamentswahl sei zwar eindrucksvoll, der Rückhalt für Macron sei aber nicht eindeutig. Weder kontrolliere er den Senat, noch sei klar, wie sich die neuen lokalen Abgeordneten im Parlament zu ihm verhalten würden.
Innenpolitisch müsse er ein Reformprogramm umsetzen, das nicht populär sein könne, weil es den Franzosen Besitzstände nehme, die sie für ehern und unverrückbar hielten.
Auch mit Blick auf Europa erwartet Janning vieles von Macron. Es brauche Impulse für ein wirtschaftliches Wachstum, an dem alle teilhaben könnten. Zudem müsse es ein "Schutz- und Sicherheitssignal" geben, bei dem äußere und innere Sicherheit verknüpft werden.
May wird nicht Premierministerin bleiben
Gemeinsam mit Macrons Regierung könne Deutschland einiges bewegen. "Es gibt ein etwa zwei Jahre währendes Zeitfenster, in dem die beiden Länder Europa stärken könnten."
Gerade angesichts des Brexits brauche es ein starkes Frankreich. Die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich zum EU-Ausstieg werden laut Janning schwierig verlaufen, da Großbritannien ein schwacher Partner sei. Er glaubt nicht, dass Theresa May am Ende der Verhandlungen noch Premierministerin sein wird.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Josef Janning. Er ist Politikwissenschaftler und leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations, einer Denkfabrik für Themen europäischer Außenpolitik. Guten Tag, Herr Janning.
Josef Janning: Guten Tag, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Präsident Macron und seine Kandidaten haben haushoch gewonnen. Damit kann Macron (der Europafreund) durchregieren. Was bedeutet das für die EU?
Janning: Nun, das bedeutet zunächst, dass Macron in Bezug auf die französische Reformagenda liefern muss. Wenn er tatsächlich der Hoffnungsträger, der Inspirator der europäischen Politik sein will, dann muss er zeigen, dass er mit diesem eindrucksvollen Mandat zuhause diejenigen Aufgaben in Angriff nehmen kann, die seine beiden Vorgänger nicht haben erledigen können. Erst das wird ihm gewissermaßen auf europäischer Ebene die Statur und die Wucht verleihen, die er gerne hätte.
Dobovisek: Macron holt sich zwar die absolute Mehrheit im Parlament, wir haben es gehört, doch die Wahlbeteiligung war extrem niedrig und das französische Wahlsystem stärkt noch einmal die stärkste Partei. Wieviel Rückhalt erkennen Sie bei den Franzosen tatsächlich für Macrons Reformen, auch für den Europakurs?
"Das Ergebnis ist schon eindrucksvoll"
Janning: Das Ergebnis ist schon eindrucksvoll, aber der Rückhalt ist nicht eindeutig und ist auch nicht ohne Zwischenton. Denn die Wahlbeteiligung, Sie haben es angesprochen, signalisiert das, aber auch die Tatsache, dass selbst eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus noch nicht automatisch bedeutet, dass man durchregieren kann. Denn es gibt noch den Senat, den Macron nicht kontrolliert, und es gibt die vielen lokalen, regionalen Mandatsträger in Frankreich, die ebenfalls mehrheitlich nicht auf Macrons Seite sind. Das heißt, er muss versuchen, weiter mit dem Modus der Bewegung, das heißt, mit dem Appell an die Menschen direkt zu regieren und ein Reformprogramm durchzusetzen, das nicht populär sein kann, weil es den Franzosen Etliches von den Besitzständen nimmt, die sie glauben ehern seien und unverrückbar. Er kann ja nicht zaubern, sondern er muss versuchen, Frankreich zu dynamisieren in Wirtschaft, in Arbeitsrecht, in der Regulierungsdichte, aber auch in den sozialen Ansprüchen, um das Land wieder nach vorne zu bringen. Und das wird nicht populär sein. Das wird die neuen Abgeordneten, die keinerlei politische Vorerfahrung haben, im Parlament testen: Stehen sie, wenn die Demonstrationen auf der Straße eine Rücknahme von Gesetzesinitiativen verlangen, oder halten sie dem Präsidenten die Stange und stimmen sie mit ihrer Mehrheit für diese Gesetze.
Dobovisek: Sie nennen, Herr Janning, zurecht viele französische innenpolitische Punkte der geplanten Reformen von Macron. Das sind sicherlich die Punkte, die er auch als Erster angehen wird. Welche Punkte erwarten Sie als erste, als Dringendste mit Blick auf Europa?
Janning: Ich glaube, dass Macron im Blick auf Europa zwei Akzente setzen wird, nämlich einmal ein Europa, das wächst, das wirtschaftlich blüht, aber in dieser Blüte gewissermaßen alle teilhaben lässt. Und das könnte dazu führen, dass speziell in der Eurozone es einen Aufbruch, einen Impuls geben wird - ich erwarte den erst gegen Ende 2017 oder zu Anfang 2018 -, die die Betonung der Regeln der Eurozone mit einem Programm wirtschaftlicher Belebung und einer Art Eurozonen-Budget verbinden wird. Das zweite Signal, mit dem ich rechne, ist ein Schutz- und Sicherheitssignal, was versucht, die Felder der inneren Sicherheit, insbesondere was Terrorismus, was Grenzsicherung angeht, zu verknüpfen mit dem Feld der äußeren Sicherheit. Hier sieht sich Frankreich insbesondere mit einem Großbritannien, das aus der EU hinaustreibt, als die führende Kraft, als das Land, das die Klammer zwischen beiden Bereichen besser verkörpert und besser organisieren kann als jeder andere. Da werden wir Macrons Führungsanspruch in der Praxis erleben können.
Dobovisek: Im Zusammenspiel mit Deutschland, sozusagen mit einer Renaissance des deutsch-französischen Motors für Europa?
"Zwei Jahre währendes Zeitfenster"
Janning: Ich glaube das, ja. Wenn erst die deutsche Bundesregierung ein neues vierjähriges Mandat hat, gibt es ein etwa zwei Jahre währendes Zeitfenster, in dem beide Länder Europa tatsächlich gestalten können. Angela Merkel oder die Bundeskanzlerin, mit deren Wiederwahl ich im Moment rechne, wird Wert darauf legen, dass dies nicht ein Alleingang der beiden wird, sondern dass dies eingebettet ist in intensive Beratungen, die möglichst eine Reihe weiterer Mitgliedsstaaten ins Boot holen. Aber sie wird ebenso wie Macron im Zweifel auf das Momentum einer Initiative eines Kreises von Mitgliedsstaaten setzen, auch innerhalb der Eurozone mit Schritten voranzugehen, die die anderen dann mitziehen.
Dobovisek: Dieses Zeitfenster, das Sie erwähnen, zwei Jahre etwa, das deckt sich ja auch ungefähr mit dem Zeitfenster, das wir kennen mit Blick auf die Brexit-Verhandlungen, die heute in Brüssel begonnen haben. Bis dahin müssen die Scheidungsgespräche nämlich abgeschlossen werden. Jetzt hat uns der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok heute hier in den "Informationen am Morgen" erzählt: Bei einem Freihandelsabkommen müssten Übergangsfristen eingerechnet werden. Brok schätzt, dass solche Verhandlungen bis 2021 dauern würden. Das könnte, bildlich gesprochen, ein wenig Druck aus dem Kessel nehmen. Wäre das gut oder schlecht für die Verhandlungen?
Janning: Das kann gut sein. Brok hat ja einen langjährigen Erfahrungshaushalt, den er da einbringen kann. Die Verhandlungen werden ja in den nächsten Monaten schwierig verlaufen, weil der britische Verhandlungspartner schwach ist. Eine Regierung, die abhängig ist von verschiedenen kleinen Gruppen, die ihr die Mehrheit sichern – und das ist innerhalb der Tory-Fraktion der Fall -, kann keine großen Zugeständnisse machen, die gewissermaßen den Verhandlungsverlauf dynamisieren, sondern sie wird sehr zäh und sehr im Klein-Klein versuchen, ihre Positionen zu behaupten. Das macht die Sache nicht einfacher.
Wenn es dennoch gelingt, die Hauptfragen der Kosten des Austritts, der Rechte der Bürger in diesem Prozess und der Stellung Nordirlands und der Grenze zwischen beiden in diesem Jahr zu regeln, dann kann man in der Tat relativ frühzeitig in 2018 schon über das künftige Verhältnis verhandeln. Das setzt aber voraus, dass die britische Seite diese Grundstruktur akzeptiert und auch die Kosten des Austrittes den Kostenpositionen nach akzeptiert, damit dann etwa eine technische Verhandlungsgruppe daran gehen kann, die einzelnen Positionen der Höhe nach zu beziffern. Dass dann ein Abkommen mit der EU, wenn es zu einem umfassenden Freihandelsabkommen kommt, was ja auch im Interesse der Europäischen Union ist, einige Zeit länger dauern kann, dürfte nicht das größte Problem sein, wenn man am Anfang dazu kommt, sich auf diese Grundpositionen zu verständigen.
Dobovisek: Gehen Sie davon aus, dass am Ende, nach diesem zweijährigen Fenster, am Ende der Verhandlungen Theresa May noch Premierministerin Großbritanniens sein wird?
Janning: Nein. Ich glaube, dass Theresa May schon die erste Phase der Verhandlungen nicht überstehen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass ihre Amtszeit benötigt wird, um die aus Brüsseler Sicht notwendigen Zugeständnisse zu machen und sie dann mit diesem Gepäck in die Wüste zu jagen, sodass ein Nachfolger erklären kann, er hätte dem niemals zugestimmt, aber da man nun mal jenseits dieses Punktes sei, gelte es nun, pragmatisch den Blick auf die Ausgestaltung des künftigen Verhältnisses zu richten.
Dobovisek: Mit einem harten Brexit am Ende?
Janning: Ich glaube, die Briten werden sich schon bemühen, einen harten Brexit, das heißt, einen Brexit ohne Verhandlungsergebnis zu vermeiden, weil er für sie in der Tat nur Nachteile beinhaltet, im Gegensatz zu dem, was jetzt gesagt werden mag. Und deswegen glaube ich, dass man im Verlauf, nachdem man über einige Tricks gewissermaßen Ballast abgeworfen hat, am Ende zu einer Freihandelsvereinbarung kommen wird, die Großbritannien einen gesichtswahrenden Austritt ermöglicht, aber gleichzeitig die Chance bietet, an einigen der wirtschaftlichen Vorteile festzuhalten.
Dobovisek: Der Politikwissenschaftler Josef Janning. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Janning: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Josef Janning im Gespräch mit Mario Dobovisek | Der Politikwissenschaftler Josef Janning hat hohe Erwartungen an den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der mit absoluter Mehrheit im Parlament regieren kann. Er müsse nicht nur innenpolitisch eine unpopuläre Reformagenda umsetzen, auch mit Blick auf Europa brauche es Impulse von Macron, sagte Janning im Dlf.
| "2017-06-19T12:10:00+02:00" | "2020-01-28T10:33:05.036000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-und-europa-macron-muss-liefern-100.html | 333 |
Jubel und Skepsis | Vor zehn Jahren lieferte sich die Human-Genom-Organisation HUGO ein erbittertes Rennen mit Craig Venter. Damals ging es um die Entzifferung des menschlichen Genoms. Craig Venter hatte mit seinem damaligen Unternehmen Celera Genomics den Human-Genom-Forschern Konkurrenz gemacht. Aber das ist vergessen. Venters Durchbruch trifft bei seinen Kollegen weitgehend auf Anerkennung. Manche sind regelrecht begeistert, wie der indische Genomforscher Samir Brahmachari aus Neu Delhi. "Das ist ein phantastischer Schritt auf dem Weg zum synthetischen Bakterium. Ein vollständiges Erbgut mit einer Million Informationsbausteinen, das chemisch hergestellt wurde. Das ist brillant und wird die gesamte chemische Industrie verändern. "Die neue Synthetische Biologie war ein Hauptthema auf der diesjährigen Genomkonferenz. Craig Venter fehlte zwar, aber es war gelungen, einige prominente Vertreter der Forschungsrichtung für die Tagung in Montpellier zu gewinnen, wie Christina Smolke, Bioingenieurin von der Stanford-Universität in Kalifornien. "Was wir jetzt beobachten, die Forschung im Labor von Craig Venter, beweist, dass die Bautechnik zur Konstruktion von Lebewesen bereit steht. Aber es gibt nach wie vor eine große Kluft zwischen dem Bauen und dem Gestalten von Lebewesen."Um ein Bakterien-Design selbst zu entwerfen, muss man genau wissen, was man in den Bauplan hineinschreibt. Einfaches Abschreiben ist zu wenig. Aber auch dieses Ziel wird die synthetische Biologie bald erreichen, ist Christina Smolke überzeugt. | Von Michael Lange | Unter Biologen sorgte das Bakterium aus dem Labor vor reichlich Diskussionsstoff, zum Beispiel auf der Welt-Tagung der Human-Genom-Organisation, die in dieser Woche in Montpellier stattfand. | "2010-05-23T16:30:00+02:00" | "2020-02-03T17:36:09.861000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/jubel-und-skepsis-100.html | 334 |
Die Quote kommt! | Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Generaldebatte im Bundestag (AFP / Clemens Bilan)
Als Manuela Schwesig unmittelbar vor Beginn der Debatte die Regierungsbank betritt, wendet sich Angela Merkel mit freundlichem Lächeln ihrer Familienministerin zu. Ein kurzer Handschlag, ein paar Worte der Kanzlerin. Bis in die späte Nacht haben sie im Koalitionsausschuss über das Quotengesetz der Familienministerin verhandelt. Beide sind danach früh wieder aufgestanden. Angela Merkel ist Deutschlandfunkhörerin. Sie wird gehört haben, wie Schwesig ihr Gesetz um kurz nach sieben als epochalen Durchbruch preist.
"Deswegen wird es ein Kulturwandel werden. Es geht nicht um einzelne Posten oder Positionen. Und dass dieser Kulturwandel ins Haus steht, ist dringend nötig, und dass er auch befürchtet wird, das haben wir ja gesehen. Sonst wäre ja auch nicht so in den letzten Wochen damit hart gerungen worden, wenn es nicht so wichtig wäre.!
Der Morgen der Generaldebatte im Bundestag steht im Licht eines weiteren Prestigeprojekts der Sozialdemokraten, dem die Union am Ende des Vortages ihre Zustimmung geben musste. Und SPD Fraktionschef Thomas Oppermann feiert die Familienministerin als Königin der Quotennacht im Kanzleramt:
"Vor allem aber möchte ich der Frauenministerin Manuel Schwesig danken, dass sie so hartnäckig, so selbstbewusst und so erfolgreich für diese Quote gekämpft hat. Es ist gut, dass wir eine starke Frauenministerin haben.
"In unserer Fraktion gilt das nicht," ruft Volker Kauder in den Applaus hinein, der in diesem Moment überwiegend von der SPD Seite des großen Koalitionsblocks kommt. Die Quotendebatte hatte bis in die letzten Tage tiefe Kiele nicht nur zwischen Union und SPD, sondern auch zwischen die Lager innerhalb von Kauders Unionsfraktion getrieben. Kauder stand unter Druck der Quotengegner. Kurz vor Beginn der entscheidenden Verhandlungsrunde im Koalitionsausschuss hatte er Familienministerin Schwesig im Fernsehen „Weinerlichkeit" vorgeworfen. Für den Chef der grünen Oppositionsferaktion Toni Hofreiter ein gefundenes Fressen:
"Und wenn sich doch mal eine kleine nette Fortschrittsidee in ihren Koalitionsvertrag verirrt, dann veranstalten Sie - und da muss man wirklich sagen, liebe Herren von der Union - ein veritables Heulsusen-Konzert. Ihre Quote ist doch gerade mal ein Quötchen."
Für die Kanzlerin ist das jüngste Reformprojekt ihrer Koalition kein Gewinnerthema. Lange referiert Angela Merkel in ihrer Haushaltsrede über wirtschaftspolitische Erfolge, gute Beschäftigungsdaten und den historischen Entwurf eines Haushalts ohne Neuverschuldung. Merkel appelliert, das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zum Abschluss zu bringen und rechtfertigt ihre Kritik an Politik Russlands. Erst als sie auf die Ausweitung des Elterngeldes und neue Teilzeitregelungen zu sprechen kommt, erwähnt sie in einem Nebensatz auch das Reizthema Quote:
"Ich weiß, dass diese Regelung allen - auch den Arbeitnehmern - mehr Flexibilität abverlangt. Dennoch: Sie ist beschlossen und sie wird kommen und wir werden uns noch am 11. Dezember im Kabinett damit befassen. Wir können es uns nicht leisten, auf die Kompetenzen der Frauen zu verzichten."
Die Quote kommt – für Angela Merkel ist damit ein Streitthema beendet, das die Geschlossenheit ihrer Partei bis hinein in die Spitze auf eine harte Probe gestellt. Auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember wird es möglicherweise noch einmal ein Echo geben. Unmittelbar danach soll der Gesetzentwurf der Familienministerin im Kabinett verabschiedet werden. | Von Stephan Detjen, Hauptstadtstudio | Der Morgen der Generaldebatte im Bundestag steht im Licht eines Prestigeprojekts der Sozialdemokraten: der Frauenquote. Für die Kanzlerin allerdings ist das kein Gewinnerthema. Nur in einem Nebensatz geht sie auf die Einigung ein. | "2014-11-26T12:10:00+01:00" | "2020-01-31T14:15:40.634000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/generaldebatte-im-bundestag-die-quote-kommt-100.html | 335 |
"Wir waren wie die Staatssklaven" | "Schichtwechsel, Leute, es muss weitergehen…(deutsch)… trabajo, trabajo, trabajo.""Immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten – die hatten mir doch versprochen, dass ich hier studieren kann."So hatten sie es verstanden, damals in den 80er-Jahren, als sie frohen Mutes und voller Hoffnung in die DDR reisten. Sie dachten, sie würden nach dem Bürgerkrieg die gut ausgebildete Elite eines neuen, unabhängigen, sozialistischen Mosambiks werden. Stattdessen schufteten die meisten der rund 20.000 mosambikanischen Gastarbeiter nach Plan in sozialistischen Betrieben und Fabriken. Der 1979 geschlossene Deal zwischen den sozialistischen Bruderstaaten war einfach: Der DDR fehlten Arbeitskräfte durch die Abwanderung in die BRD, Mosambik brauchte nach der Unabhängigkeit von den Portugiesen Fachkräfte und musste zudem Schulden abbauen. Somit erhielten die Gastarbeiter 40 Prozent der Löhne auf die Hand und 60 Prozent gingen an den mosambikanischen Staat. Sie sollten – so war es den jungen Mosambikanern versprochen worden - nach der Rückkehr ausgezahlt werden, damit sie sich eine Zukunft in Mosambik aufbauen konnten.Das hatten die Gastarbeiter immer vor Augen, wenn sie in Güstrow, Dresden oder Karl-Marx-Stadt Trabis zusammenschraubten, Baumwolle spannen oder - kein bisschen in die DDR-Gesellschaft integriert - in ihren kleinen Wohnheimzimmerchen hockten. Zwar gab es Gastfamilien und sogenannte Adoptiveltern, und für viele war die Weihnachtseinladung ein Highlight der interkulturellen Begegnung, aber Beschimpfungen und Rassismus gehörten auch zum Alltag."Geh mal zurück ins Land des Hungers, du bist doch ein Affe, ein Schokoladen-Affe. Gibt es bei euch eigentlich Häuser?"Das Multimedia-Theaterstück "Identität – eine blutige Romanze" des Berliner Regisseurs Jens Vilela Neumann vermischt fiktive Geschichten mit historischem Filmmaterial. Es greift Klischees und Vorurteile auf, die beide Seiten – Deutsche von Afrikanern, aber auch Afrikaner von Deutschen - häufig haben, kokettiert mit ihnen und spitzt sie bis zur Absurdität zu, sodass jeder über sie lachen kann. "Das Theater hat eben die Kraft, spielerisch mit diesen Dingen umzugehen, wir versuchen nicht sie zu vermeiden, sondern wir sprechen die Klischees an, aber wir zeigen auch, dass ein Klischee eben nur ein Klischee ist. Ich glaube, dass es doch witzig geworden ist, obwohl die Thematik ja eher politisch und historisch ist, also eher trocken, aber wir haben versucht, sie möglichst komisch darzustellen."Am Premierenabend war der Saal gefüllt mit Hunderten Madgermanes. Die meisten waren begeistert und dankbar, dass ihre Geschichten endlich Gehör finden. "Es hat mir sehr gefallen, es hat genau illustriert, was damals war und jetzt auch in Mosambik. Also das ist eine tolle Geschichte, denn es wurde doch klar, dass wir waren wie die Staatssklaven.""Es war großartig, auch wenn dies alles nun der Geschichte angehört, wir sind immer noch da und wir gehen seit 23 Jahren auf die Straße. Wir haben uns an unseren Teil des Vertrags gehalten, hoffentlich bringt das Stück die Regierung zum Nachdenken."Seit 23 Jahren demonstrieren die einstigen DDR-Gastarbeiter. Jeden Mittwoch ziehen sie in Deutschlandfahnen gehüllt stundenlang durch Maputos Innenstadt. Sie sprechen von staatlichem Betrug, Diebstahl, falschen Versprechungen und verlorener Jugend. Und: Sie verlangen von ihrer Regierung die Auszahlung ihrer in der DDR gezahlten Sozialbeiträge, sowie die 60 Prozent des einbehaltenen Lohnes. In der Vergangenheit schlugen Mosambiks Sicherheitskräfte die Demonstrationen gewaltsam nieder, inzwischen werden sie schlicht ignoriert. Insofern: Auch wenn Jens Vilela Neumanns Inszenierung nun ein Stück weit Genugtuung und Anerkennung bietet, für die Madgermanes geht der Kampf weiter. | Von Dagmar Wittek | In den 80er-Jahren reisten junge Mosambikaner als Gastarbeiter in die DDR. Sie dachten, sie würden bei der Rückkehr die unabhängige, sozialistische Elite Mosambiks werden. Doch es kam anders, das zeigt das Theaterstück "Identität – eine blutige Romanze" von Jens Vilela Neumann. | "2013-10-26T17:30:00+02:00" | "2020-02-01T16:42:14.592000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/wir-waren-wie-die-staatssklaven-100.html | 336 |
Rolle rückwärts | Die "Amazonas-Synode" des Vatikan ist mit einer Messe im Petersdom eröffnet worden. (AFP / Tiziana Fabi)
Auf der Amazonas-Synode wurde der Weg zu einer vorsichtigen Reform bereitet, Papst Franziskus entschloss sich nun für einen Rückzieher – und damit hat er gerade die, um die es bei der Synode ging, tief enttäuscht, glaubt der in Brasilien lebende deutsche Theologe Paulo Suess.
"Er hat das Tor nicht geschossen"
"Ich habe das nicht gedacht, ich habe also wirklich gedacht, dass er den Ball, den man ihm da vor die Füße gelegt hat nimmt, um das Tor zu schießen. Er hat es nicht geschossen."
Ein Nein zur Z-Frage: Am Zölibat wird nicht gerüttelt. Und Frauen dürfen zwar Kraft und Zärtlichkeit spenden, wie Maria, so heißt es im Schreiben. Aber sie auch weiterhin keine Weihämter bekleiden. Auch nicht in Ausnahmefällen, auch nicht am Amazonas, wo die Kirche seit Jahren rasant an Einfluss verliert – schlichtweg weil ihr die Leute fehlen. Doch das Signal heißt nun: Rolle zurück, nur nicht nach vorn
"Je mehr Verantwortungen man übernimmt, in der Kirche oder der Gesellschaft, je größer werden auch die Erwartungen. Das ist, wie wenn man einen Baum hochklettert: Je höher man steigt, desto stärker der Wind und je schwächer die Äste. Vorsicht. Wenn man neue Verantwortungen übernimmt, wird es auch neue, starke Verpflichtungen geben."
So dagegen die Worte des brasilianischen Kardinal Claudio Hummes. Enger Vertrauter Franziskus und Generalrelator der Amazonas-Synode. Diese Positionen sind ein herber Schlag für Leute an der Basis. Wie Antonia Melo, die Katholikin kämpft seit Jahren an der Seite von Bischof Erwin Kräutler gegen die Umweltzerstörung in der Amazonasregion – sie ist so eine, die an die berühmten Grenzen geht. Dafür wurde sie angefeindet und bedroht, mehr Anerkennung bekommt sie von der Kirche nicht. Franziskus, der immer betonte, wie wichtig die Stimmen und Erfahrungen von vor Ort sind, habe ihre Forderungen gar nicht gehört, sagt Melo.
Die Konkurrenz schläft nicht
Sie sagt: "Das ist eine Enttäuschung für uns, dass diese Jahrtausende alte Kirche immer nur von Männern geführt wurde und weiterhin geführt werden soll. Warum dürfen wir Frauen nicht an die Macht? Ich sage stets- und ich sage es den Priestern ins Gesicht – warum habt ihr nur so viel Angst vor den Frauen?"
"Querida Amazonia", "Geliebtes Amazonien", das Lehrschreiben lese sich wie ein Liebesbrief, doch die Bereitschaft, auf die Geliebte zuzugehen, die sei nicht da, sagt auch Paulo Suess. Der Druck der konservativen Kräfte im Vatikan zu groß. Doch damit sägen sie am eigenen Ast, glaubt Suess. Denn die Konkurrenz schläft nicht. In ganz Lateinamerika verlieren die Katholiken Gläubiger an die Evangelikalen, die erzkonservativen Pfingstkirchen – die sind nämlich ausgerechnet bei der Frage der Weihämter sehr viel lockerer.
Suess sagt: "Wir haben wirklich diesen Evangelikalen zugearbeitet, ich kenne ja die Situation vor Ort. Denn die Gemeinden sagen, uns ist ein evangelikaler Pastor in der Hand lieber als ein katholischer Priester, der nur einmal im Jahr kommt, auf dem Dach."
Querida Amazonia, das erneute Bekenntnis zum Schutz der Amazonasregion, zum Kampf gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und auch gegen die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit – all es sei von strukturellen Reformen nicht zu trennen, findet Suess. Schließlich gelten gerade die Evangelikalen als größte Unterstützer des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro – er setzt am Amazonas auf Ausbeutung und Abholzung. Und nicht auf die Wahrung der Schöpfung. | Von Anne Herrberg | In Brasilien gewinnen evangelikale Bewegungen Anhänger, während die katholische Kirche Gläubige verliert. Vom Papst fühlen sich viele mit im Stich gelassen, vor allem die Katholikinnen. | "2020-02-13T09:35:00+01:00" | "2020-02-18T15:30:24.742000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/brasilien-zum-papstschreiben-rolle-rueckwaerts-100.html | 337 |
Klimasünder Fußballfan | Die meisten Fans reisen im Auto oder Bus zu den Spielen an - für die Ökobilanz verheerend (W.S. Treusch )
48 Fußball-Felder! So viel Fläche bräuchte man, um die CO2-Emissionen eines einzigen Bundesliga-Spieltages wieder auszugleichen. Das wäre eine Fläche, so groß wie ein Viertel des viel beachteten Hambacher Forstes. Fast 60.000 Bäume müssten darauf gepflanzt werden, um allein den CO2-Fußabdruck der Stadionbesucher in der ersten Liga klimatechnisch zu kompensieren.
"Das sind um genau zu sein 7.753 Tonnen CO2. Wir haben das Ganze aus der Perspektive eines Fans dargestellt. Also, was fällt an Verbrauch durch einen Fan an einem Spieltag an. Den Weg von der Haustür, zum Stadion, Konsum im Stadion und wieder zurück zur eigenen Haustür als Kernelement überlegt und dazu dann letztlich angefangen Daten zu suchen", sagt Patrick Fortyr von der Klimaschutzberatung CO2OL in Bonn.
So viel wie zehn Bundesbürger in einem gesamten Jahr
In einer Kurzstudie hat er zusammen mit dem Deutschlandfunk aus frei zugänglichen Zahlen, wie Jahresberichten der Klubs und einer Fan-Befragung eines Bundesliga-Vereins, den CO2-Fußabdruck eines Fußball-Fans an einem Spieltag berechnet.Ein Stadionbesucher konsumiert durchschnittlich einen halben Liter Bier, einen Bissen Bratwurst, das dazugehörige Brötchen und einen Schluck Limonade.
Zusammen mit dem damit verbundenen Müll, verursacht das über alle rund 400.000 Stadiengänger hochgerechnet an einem Spieltag rund 120 Tonnen CO2. So viel wie zehn Bundesbürger durchschnittlich in einem ganzen Jahr verursachen.
Wurst und Bier sind aber nur ein Bruchteil des CO2-Verbrauchs eines Fans. Der weitaus größte Anteil macht seine An-und Abreise aus, so Fortyr."Zwei Drittel der Emissionen fallen im Bereich Mobilität an, ein Drittel im Konsumbereich. Hätte man mich vor der Studie gefragt, hätte ich gesagt, das Verhältnis würde viel eindeutiger sein. Das würde so bei 90/10 oder 80/20 liegen. Insofern fand ich das etwas überraschend. Nichtdestotrotz zeigt das klar wo die Hebel zu Emissionsreduktion liegen und das ist der Mobilitätsbereich."
Bier und Bratwurst tragen das wenigste zum CO2-Verbrauch eines Fußball-Fans bei - das meiste entfällt auf die An- und Abreise (imago sportfotodienst)
Die große Mehrheit der Fans kommt mit dem Auto
Kombinierte Eintrittskarten und ÖPNV-Tickets, Shuttle-Busse oder Sonderzüge - all das gibt es schon. Manche Vereine experimentieren mit e-Bikes und e-Rollern.
Die große Mehrheit der Stadionbesucher kommt aber immer noch mit dem Auto. Das hat jedenfalls die Fan-Befragung eines aktuellen Bundesligisten ergeben. Er möchte anonym bleiben.
Seine Daten zeigen jedoch, dass rund 70 Prozent, also mehr als zwei Drittel der Befragten, zu Heimspielen mit dem Auto anreisen.Je nach Stadionlage könnte es bei den übrigen Bundesligisten etwas anders aussehen. In Sachen Umweltbewusstsein ist dennoch viel Luft nach oben, meint Norman Laws vom Institut für Nachhaltigkeitssteuerung an der Uni Lüneburg.
Die Anreise von Fußball-Fans im Zug läuft nicht immer problemlos, ist aber sehr umweltfreundlich. (picture alliance / dpa - Telenewsnetworks)
Auch wenn die Vereine manche umweltfreundliche Anreise wie das Kombi-Ticket anbieten, kommen sie ihrer Vorbildfunktion in dieser Hinsicht noch nicht nach, erklärt er. "Dazu gehört natürlich auch nicht nur Fans aufzufordern, umweltfreundlich anzureisen, sondern es auch selbst zu tun. Deutschland ist nun nicht gerade das allergrößte Land, es ist sicherlich auch möglich per Bahn und umweltfreundlicher anzureisen, als wenn man das mit dem Flugzeug tut."
Kein echtes Umweltbewusstseins im Fußballgeschäft
Wenn beispielsweise ein Fan von RB Leipzig zu einem Auswärtsspiel fährt, muss er im Schnitt 835 Kilometer zurücklegen. Insgesamt wären das pro Saison 14.000 Kilometer.
Fährt er das alles mit dem Auto, verursacht er knapp fünf Tonnen CO2. Das ist mehr als doppelt so viel, als der vom Weltklimarat empfohlene Jahresverbrauch.Leben kostet nun mal Energie. Unsere Berechnung ergibt: Mehr als 7500 Tonnen CO2 produzieren allein die Fans an einem einzigen Bundesliga-Wochenende. Das entspricht einem Jahresverbrauch von circa 700 durchschnittlichen Bundesbürgern. Und das an 34 Spieltagen pro Saison.
Die Inflation der Fußballspiele ist ökologisch ein Desaster
Manche Verbrauchswerte mussten deshalb hochgerechnet und verallgemeinert werden. Dennoch ist die Modellrechnung ein aussagekräftiger Annäherungswert, der einen ersten Hinweis geben kann, wo und in welcher Höhe die meisten Treibhausgase freigesetzt werden.
Das bestätigt auch Norman Laws von der Universität Lüneburg, der ebenfalls einen großen Nachholbedarf aufseiten der Bundesligisten sieht.
"Ein positives Image kann leicht erzeugt werden mit der Aussage, man hat eine nachhaltige Energieversorgung. Das ist natürlich einfach. Was aber fehlt, wenn man das mal mit den großen Dax-oder MDax-Unternehmen vergleichen möchte, ist, dass die gesamte Supply-Chain angeguckt wird."
Auch Fanartikel tragen zu CO2-Bilanz der Bundesligisten bei (dpa)
Die Supply-Chain, das ist die komplette Lieferkette für alle verbrauchten Güter und Produkte. Die Klima-Bilanz der Trikots von der Herstellung bis zum Fanshop, die Reisen zu den Auswärtsspielen, zu den Trainingslagern, der Fuhrpark, die Energieversorgung oder die Müllentsorgung.
Bislang wird da unter Umweltgesichtspunkten kaum hingeschaut. Und auch die jüngsten Signale aus der Fußball-Welt sind eher besorgniserregend. Immer neue Wettbewerbe. Europa League 2, Klub-WM, Welt-Liga. Aus ökologischer Sicht ein Desaster, meint Norman Laws:
"Diese Inflation von Spielen, führt eben auch zu einer negativen Öko-Bilanz. Das ist eine Sache die man ebenso angehen sollte. Das ist natürlich nicht im Sinne der Kommerzialisierung des Fußballs, aber im Sinne der Fans, der Spieler und der Umwelt."
Kompensationszahlungen an Umweltprojekte? Fehlanzeige
Kommerz gegen Umwelt. Das ist auch im Sport der ganz große Konflikt. Freiwillige Kompensationszahlungen an Umweltprojekte wären eine Möglichkeit, den CO2-Verbrauch auszugleichen.
Nach Deutschlandfunk-Recherchen macht das kein einziger Bundesligist. Besser wäre aber ohnehin Emissionen gleich ganz zu vermeiden. Aber würde das für den Fan bedeuten: Gleich ganz verzichten und gar nicht mehr ins Stadion gehen?
Norman Laws von der Uni Lüneburg: "Ich glaube nicht dass wir uns derart einschränken lassen müssen. Ich glaube, es kommt darauf an, wie wir zu Auswärtsspielen fahren, nicht ob wir zu Auswärtsspielen fahren." | Von Jonas Reese | Autoabgase, Bratwurst und Bier: Knapp eine halbe Million Fußball-Fans sind jeden Spieltag in der Bundesliga unterwegs, um die Spiele ihrer Mannschaften zu verfolgen. Ihr CO2-Fußabdruck ist gigantisch. Im Fußballgeschäft fehlt es an echtem Umweltbewusstsein. | "2019-01-01T19:41:00+01:00" | "2020-01-26T22:31:38.878000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/serie-endspiel-ums-klima-1-klimasuender-fussballfan-100.html | 338 |
Luthers Vermarktung im Reformationsjubiläum | Erfolgreicher als Darth Vader: Der Mini-Luther wurde bislang eine halbe Million mal verkauft. (Deutschlandradio / Claudia Hennen)
Längst ist er auch Teil der Unterhaltungs- und Freizeitindustrie: Als bislang meistverkaufte Playmobilfigur, als "Original- Luther-Socke" oder gar als Luther-Burger.
Ulrich Schneider, Geschäftsführer vom "Reformationsjubiläum 2017 e.V.", hat internationale Künstler in die Lutherstadt Wittenberg geholt (Deutschlandradio / Claudia Hennen)
Erstaunlich, wie der Mönch aus Eisleben zum Star unseres Medienzeitalters werden konnte. Verabscheute Luther doch den Reliquienkult seiner Zeit, kämpfte gegen Ablasshandel und wollte keinem dienen außer Gott.
Hatte die Idee für den Playmobil-Luther: Yvonne Coulin, Geschäftsführerin der Congress- und Tourismuszentrale Nürnberg (Deutschlandradio / Claudia Hennen)
500 Jahre später reist Claudia Hennen für "Das Wochenendjournal" quer durch Deutschland und untersucht, wie Luther gedeutet, inszeniert und vermarktet wird. | Von Claudia Hennen | Ein halbes Jahrtausend nach dem Thesenanschlag in Wittenberg ist der Reformator Martin Luther allgegenwärtig, und der Kirchentag in dieser Woche mit seinen Hunderttausend Besuchern wird seine Popularität weiter steigern. Luthers Konterfei prangt nicht nur auf Zeitungsseiten, Buchcovern, Museumsplakaten. | "2017-05-27T09:10:00+02:00" | "2020-01-28T10:28:52.925000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/popstar-spielfigur-ketzer-luthers-vermarktung-im-100.html | 339 |
Ein Freundeskreis im Parlament | Zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen wird Präsident Milos Zeman jetzt ganz im Zentrum der tschechischen Öffentlichkeit stehen. An seinem Amtssitz, in den herrschaftlichen Räumen der Prager Burg, des Hradschin, hatte Zeman schon den Rücktritt des konservativen Regierungschefs Petr Necas entgegengenommen, dann beauftragte der Präsident mit Jiri Rusnok den Premierminister seines Vertrauens, jetzt folgen die Minister. Mit der Ernennung dieser Regierung kommt der Präsident seiner Vorstellung der tschechischen Demokratie näher, doch seine Interpretation der Verfassung sorgt für Streit.Der neue Regierungschef Rusnok musste sich von Anfang an gegen Vorwürfe wehren, lediglich als verlängerter Arm des Präsidenten zu agieren. "Es stört mich nicht, wenn man uns als die "Regierung der Freunde von Zeman" bezeichnet. Ich denke, wenn Freunde regieren, die fähig sind, sich miteinander zu verständigen, ist das immer besser, als Politiker, die in merkwürdigen Beziehungen zueinander stehen. Es ist wichtig, dass wir unsere Aufgabe gut erfüllen. Wir werden die Tschechische Republik so regieren, wie das in den Gesetzen und der Verfassung steht."Eine Verfassungsänderung dürften viele, die vor Jahren darauf hingewirkt hatten, inzwischen bereuen: im Januar war mit dem früheren Sozialdemokraten Milos Zeman der erste, direkt vom Volk gewählte Präsident angetreten. Seine Vorgänger waren noch von den Abgeordneten bestimmt worden. Zeman befindet sich in einem Machtkampf mit dem Parlament. Für die Tschechische Republik sei das neu, sagt der Politologe Jiri Priban:"Der amtierende Präsident Zeman bildet die neue Regierung rasch und ungewöhnlich, ja unorthodox. Zwar hat bisher kein Verfassungsrechtler gesagt, das sei verfassungswidrig, weil Zeman die einzelnen Bestimmungen der Verfassung tatsächlich achtet. Aber er handelt nicht in ihrem Geist. Ich denke, dass Zeman Schaden anrichtet, weil er den Konflikt zwischen zwei Verfassungsinstitutionen sucht: und zwar zwischen dem Parlament und dem Präsidenten."Nach dem Rücktritt von Necas hatte Zeman zunächst mit Vertretern aller im Parlament vertretenen Parteien gesprochen. Den Vorschlag der bisher amtierenden Koalition, die Parlamentspräsidenten Miroslava Nemcova zur neuen Regierungschefin zu machen, schlug er jedoch aus. Dabei hätte sie eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich gehabt. Stattdessen also Rusnok, der Vertraute des Präsidenten. Lediglich die Kommunisten und die Abgeordneten einer kleineren Partei haben zu erkennen gegeben, dass sie ihn wählen wollen. Doch sie kommen nicht einmal auf die Hälfte der erforderlichen Stimmen. Auch Rusnok weiß, dass das schwer wird: "'"Selbstverständlich, es wird nicht einfach sein, das Vertrauen des Parlaments zu gewinnen, weil Koalitionsabgeordente dort in der Mehrheit sind. Sie sind von der Entwicklung natürlich enttäuscht. Wir werden aber mit allen Parteien verhandeln und unser Programm vorstellen. Ich denke, es wäre nicht normal, gegen eine Regierung zu stimmen, ohne sich vorher mit ihrer Haltung auseinanderzusetzen. Wir werden also sehen.""Mit präsidialer Unterstützung dürfte Rusnok versuchen, fraktionslose Abgeordnete umzustimmen, außerdem Zemans frühere Partei, die CSSD, die Sozialdemokraten. Bisher vertreten sie keine einheitliche Linie. Sollte Rusnok scheitern, muss Präsident Zeman wiederrum einen Premier bestimmen und mit der Regierungsbildung beauftragen. Sie könnte sich noch weiter hinziehen. | Von Gerwald Herter | Tschechiens Präsident Milos Zeman ist der erste direkt vom Volk gewählte Staatschef. Bei der Bildung seiner Regierung setzt er vor allem auf vertraute Gesichter. Doch die Ernennung von Jiri Rusnok zum Premierminister stößt auf Kritik. Viele sehen in ihm nur einen Handlanger des Präsidenten. | "2013-07-10T09:10:00+02:00" | "2020-02-01T16:25:42.958000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ein-freundeskreis-im-parlament-100.html | 340 |
Jeder New-York-Fluggast lässt drei Quadratmeter Arktis-Meereis schmelzen | Das Eis in Grönland und in der Antarktis schmilzt immer schneller. Und daran hat jeder Mensch einen persönlichen Anteil. (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer)
"Für jede Tonne Kohlendioxid, die eine Person irgendwo auf dieser Erde freisetzt, schmelzen drei Quadratmeter arktisches Sommer-Meereis." Auf diese kurze und prägnante Formel bringt der Hamburger Polarforscher Dirk Notz das Ergebnis seiner neuen Studie, die er gemeinsam mit einer Fachkollegin durchgeführt hat, und die die Fachzeitschrift "Science" jetzt abdruckt:
"Also zum Beispiel: Wenn Sie einmal von Deutschland nach New York und zurück fliegen, dann haben Sie etwa eine Tonne Kohlendioxid freigesetzt. In Deutschland liegen wir im Moment bei einem Kohlendioxid-Ausstoß von zehn Tonnen pro Jahr und Person, das heißt jeder von uns hier in Deutschland schmilzt jedes Jahr 30 Quadratmeter Meereis weg."
Jeder weiß, wie komplex die irdische Wetter- und Klimaküche ist. Und da soll es dann einen so simplen Zusammenhang geben zwischen dem persönlichen Treibhausgas-Ausstoß und dem Meereis-Rückgang im arktischen Sommer? Am Anfang war der Forscher vom Max-Planck-Institut für Meteorologie selbst skeptisch, wie er sagt:
"Da waren wir auch erst überrascht, als wir diesen linearen Zusammenhang gesehen haben. Allerdings ist dieser lineare Zusammenhang von Meereis zumindest in Bezug auf die globale Temperatur schon seit vielen Jahren bekannt. Wir konnten ihn bisher nur nicht erklären."
Beziehung von Treibhausgas-Emissionen und Meereis-Schwund
Also: Je wärmer die Erdatmosphäre wird, desto stärker schrumpft auch die Meereisfläche im arktischen Sommer. Ein Trend, den Klimaforscher schon seit dem Beginn der Satelliten-Ära vor knapp vier Jahrzehnten beobachten. Dirk Notz und seine niederländische Kollegin Julienne Stroeve gingen jetzt einen Schritt weiter. Sie zogen auch noch Messungen von Schiffen und Flugzeugen in der Arktis heran, die bis in die 1950er-Jahre zurückreichen. Und sie setzten den Meereis-Schwund in Beziehung zur Entwicklung der weltweiten Treibhausgas-Emissionen:
"Und sehen auch da diesen linearen Zusammenhang. Was für uns ein Anzeichen dafür ist, dass es einen ganz fundamentalen Mechanismus geben muss, der einfach diesen linearen Zusammenhang sozusagen erzwingt."
Entscheidende Dinge passieren dabei an der Meereis-Kante. Dort ist es gerade kalt genug für das Eis. Das heißt: Die geballte Kraft der Sonne und des Treibhauseffekts durch Klimagase wie CO2 ist ein bisschen zu schwach, um das Packeis an dieser Stelle zu schmelzen. Man könnte auch sagen, das Eis lässt sich durch die Strahlungsenergie, die an seinem Rand auftrifft, nicht aus dem Gleichgewicht bringen:
"Und wenn wir jetzt irgendwo auf der Erde eine Tonne Kohlendioxid freisetzen, dann wird das Klima insgesamt ein bisschen wärmer. Und das führt dann dazu, dass die Eiskante sich Richtung Norden bewegt, in eine Region mit geringerer Sonneneinstrahlung - einfach, um dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten."
"Wir können zum ersten Mal genau ausrechnen, wann das arktische Packeis verschwunden sein wird."
Mit der Formel "Eine Tonne CO2 = minus 3 Quadratmeter Sommer-Meereis" werden die Folgen unseres Tuns für das Klima viel anschaulicher. Aber nicht nur das. Dirk Notz geht davon aus: Diese Korrelation zwischen Kohlendioxid-Ausstoß und Packeisschwund bleibt auch in Zukunft gültig. Die Folge:
"Wir können jetzt zum ersten Mal sehr genau ausrechnen, wann das arktische Packeis im Sommer verschwunden sein wird. Und zwar ergibt sich das aus unserer Studie, dass das arktische Sommer-Meereis dann weg sein wird, wenn wir noch etwa tausend Gigatonnen Kohlendioxid freigesetzt haben. Das sind 1.000 Milliarden Tonnen. Im Moment setzt die Menschheit jedes Jahr etwa 35 Milliarden Tonnen Kohlendioxid frei. Das heißt, beim derzeitigen Ausstoß wäre die Arktis in etwa 30 Jahren den gesamten September über eisfrei."
Am Genau heute tritt der Klimavertrag von Paris in Kraft. Mit dem erklärten Ziel, die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Auch hier haben Forscher abgeschätzt, wieviel Kohlendioxid dann überhaupt noch in die Atmosphäre entweichen darf, um diese Ziel zu erreichen. Es sind sogar weniger als tausend Gigatonnen! Woraus der Hamburger Meteorologe ableitet, "dass das Zwei-Grad-Ziel nicht ausreicht, um das arktische Meereis im Sommer zu erhalten."
Kann der Weltklimagipfel in Marrakesch etwas bewegen?
Könnte die neue Studie also Politiker und Regierungen stärker aufrütteln, die sich ab der kommenden Woche 'mal wieder zum Weltklimagipfel treffen, diesmal in Marrakesch? Peter Lemke vom Alfred-Wegener Institut für Polar-und Meeresforschung ist da skeptisch: "Manchmal bin ich nicht so sicher, ob irgendetwas überhaupt hilfreich ist, um unseren Politikern zu zeigen, wie ernst die Lage eigentlich ist."
Persönliche CO2-Emissionen in arktische Eisverluste zu übersetzen - diese Idee hält der Klimaphysiker aber für durchaus seriös:
"Ich finde, das ist eine interessante Betrachtungsweise des Rückganges und dessen, was wir tun. Diese Verbindung kann man natürlich ziehen. Das ist eine Korrelation. Die ist interessant. Ob sie wirklich im Detail stimmt, das muss man abwarten." | Von Volker Mrasek | Die Schuld jedes Einzelnen am Klimawandel anschaulich machen: Das ist das Ziel einer Hamburger Forschungsgruppe. Für eine Studie haben die Wissenschaftler den Anteil berechnet, den jeder von uns am steigenden Verlust von Meereis in der Arktis hat - durch seine persönlichen Emissionen. | "2016-11-04T16:35:00+01:00" | "2020-01-29T19:02:39.113000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/klimawandel-jeder-new-york-fluggast-laesst-drei-100.html | 341 |
Investoren dringend gesucht | Ideen von Ökonomen und Wirtschaftslenkern gibt es genug: Griechenland könnte als Solarenergiestandort den schattigen Norden Europas zuverlässig mit Strom versorgen. Für den Handel könnten die Hellenen als Drehkreuz nach Afrika, Asien und den Nahen Osten fungieren. Und als Zulieferer für europäische Auto- und Maschinenbauer hätte Griechenland ebenfalls Zukunft, heißt es. Allein: Bisher ist es bei den Ideen geblieben. Die Krise ist Griechenlands Wirtschaft an die Substanz gegangen. Die Wirtschaftsleistung ist seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 um 26 Prozent zurückgegangen. Nach sechs Jahren in tiefer Rezession vermeldeten die Statistiker für 2014 zwar ein Miniwachstum um 0,75 Prozent, doch davon ist aktuell nichts mehr übrig. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka Bank, rät, dass sich Griechenland erst einmal auf seine alten Stärken besinnt:
"Im Tourismus läuft es gut, die Landwirtschaft hat Ansätze zur Verbesserung. Beispielsweise in Bereichen der Fischerei, Aquakultur. Das sind alles Sachen, die man weiter entwickeln könnte. Griechenland hat von der Logistik natürlich von der Lage der Häfen her Potenziale. Es gibt aber darüber hinaus auch immer Möglichkeiten, auch Neues zu entdecken. Das ist eigentlich der Kern des Standortwettbewerbs. Es gibt Beispiele, dass das das klappen kann. Das berühmteste Beispiel ist das Silicon Valley in den Vereinigten Staaten."
Griechenland zu einseitig aufgestellt
Auch in Europa gibt es solche Erfolgsgeschichten. So hat Irland sich zu einem attraktiven Finanzstandort entwickelt. Und auf den Industriebrachen im Osten Deutschlands sind neue Erfolgsgeschichten geschrieben worden, Solarunternehmen und Autozulieferer prägen das industrielle Bild. Die griechische Wirtschaft ist recht einseitig aufgestellt. Der Tourismus trägt 16 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Die mit einem Anteil von 12 Prozent immer noch starke Industrie stellt sogenannte "Halbzeuge" her, also Bauteile, die anderswo vor allem in der Elektronikbranche weiter verarbeitet werden.
Labyrinthisches System erzeugt
Ansonsten prägen vor allem mittelständische und kleine Betriebe aus Handel, Handwerk und Dienstleistung das Bild. Wachstum ohne Investitionen von außen, scheint kaum möglich. Und um die anzulocken, ist der Staat gefragt, sagt Ulrich Kater. Die griechische Regierung müsse entsprechende Rahmenbedingungen setzen:
"Wenn man sich streitet mit andern Geschäftspartnern, dann muss ein Rechtssystem vorhanden sein, wo dieser Streit relativ schnell und nach vernünftigen Regeln beigelegt wird. Wenn man eine Firma aufbauen möchte, dann muss ein Verfahren da sein, wie das relativ schnell geht und das geht eben nicht wenn man nicht weiß, welche Behörde zuständig ist, weil in Griechenland die Überschneidung der Zuständigkeit von Behörden ein labyrinthisches System erzeugt haben, über das die Teilnehmer selber nicht Bescheid wissen."
Investorentüren öffnen lassen
"Rechtssicherheit" lautet das Zauberwort, mit dem sich Investorentüren öffnen lassen. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble hat in seinem Positionspapier angemahnt, Griechenland müsse Reformen anstoßen, die langfristiges Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung fördern. Hier sehen Experten das größte Manko des Standorts Griechenlands, der ansonsten übrigens mehr Vorteile bietet, als man im Angesicht der Krise meinen könnte.
"Andere Länder aus der Region, die sich ebenfalls als Produktionsstandort ins Gespräch bringen - Stichwort die Türkei natürlich -, haben ebenfalls deutlich aufgeholt, aber der entscheidende Vorteil Griechenlands ist die Einbindung in das europäische Rechtssystem und auch Finanzsystem."
Urteilt Ulrich Kater. Ein Austritt aus dem Euro würde diesen Vorteil zunichtemachen. Das Argument vieler Ökonomen, dass nur die Rückkehr zur Drachme die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands wiederherstellen könne, teilt Kater nicht. Die Löhne in Griechenland seien im europäischen Vergleich günstig. Aktuellen Berechnungen zufolge sind die Lohnstückkosten in Griechenland deutlich unter das Niveau Italiens oder Frankreichs gefallen. | Von Stefan Wolff | Die griechische Wirtschaft ist recht einseitig aufgestellt. Der Tourismus trägt allein 16 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Ansonsten prägen vor allem mittelständische und kleine Betriebe das Bild. Wachstum ohne Investitionen von außen scheint kaum möglich. Um Investoren anzulocken, müsste die griechische Regierung aber entsprechende Rahmenbedingungen setzen. | "2015-07-12T18:40:00+02:00" | "2020-01-30T12:47:23.421000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/griechenlands-wirtschaft-investoren-dringend-gesucht-100.html | 342 |
Salafistenschrift aus dem offenen Bücherschrank | "Um acht Uhr klingelte es, es standen Polizisten im Plural vor der Tür mit schusssicheren Westen und mit dem Vorwurf, dass ich mich der Volksverhetzung in Tateinheit mit jugendgefährdeten Schriften belastet habe." Sonja Röder versteht die Welt nicht mehr. Erst als die Beamten den Titel der Schrift nennen: "Missverständnisse über Menschenrechte im Islam" - ahnt die 48-jährige Bonnerin, worum es geht, und erinnert sich, woher sie das Buch hat."Es gibt hier in Bonn eine Reihe von sogenannten offenen Bücherschränken. Dort kann man Bücher einstellen und sich auch welche mitnehmen. Ich habe dieses Buch ungefähr 2010 mitgenommen, im Glauben, es ginge ganz einfach um eine Einführung eben in den Islam. Habe dann gemerkt, ich lese das jetzt doch sowieso nicht, wie es halt bei vielen Büchern so ist, und habe es dann bei Amazon zum Kauf angeboten." Das war 2010. Ein Käufer fand sich nicht, das Buch stand bei Sonja Röder irgendwo im Regal, bis die Polizei es letzte Woche konfiszierte. Die frühere Lektorin ist auch Schriftstellerin, kümmert sich aber zurzeit hauptsächlich um ihre Tochter. Dass sie ein übles Salafisten-Pamphlet, verfasst in Saudi-Arabien, ins Netz stellte, war ihr damals nicht klar."Ich ärgere mich, dass ich mich nicht vorher informiert habe. Also es geht so weit, dass halt zum Mord aufgerufen wird, also es ist ein Buch schlimmster Art." Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien setzt diese Schrift im Juni 2012 auf den Index. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart schaltet sich ein. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg stellt fest: Das Buch ist nicht nur jugendgefährdend, sondern auch volksverhetzend. Anfang 2013 beginnen die Ermittlungen – im Internet. Das LKA findet über Suchmaschinen elf Personen, die das Buch im Netz angeboten haben sollen, darunter Sonja Röder – eine Salafistin? "In der Tat besteht sicherlich die Möglichkeit, dass hier Personen Beschuldigte sind, die sich vielleicht nicht unbedingt mit dem Inhalt des Buches vertraut gemacht haben. Das muss jetzt im Nachgang natürlich geklärt werden, aber letztlich ist erst einmal jeder dafür verantwortlich, wenn er etwas verkauft, dass er letztlich auch weiß, worum es sich handelt oder zumindest es hätte wissen müssen."Sagt Stefan Biehl, Pressesprecher der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. "Dann muss man jetzt natürlich klären, bei welchen Personen liegt eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung vor, welche Personen haben tatsächlich gewusst, was für Bücherschriften sie hier zum Verkauf anbieten. Die werden dann entsprechend auch strafrechtlich verfolgt. Und bei allen anderen besteht natürlich die Möglichkeit, dass die Verfahren dann eingestellt werden."Ein juristisch korrektes Verfahren. Dennoch gibt es auch kritische Stimmen zum Vorgehen der Polizei. Der Netzaktivist mit dem Pseudonym "Padeluun" engagiert sich in der Bielefelder Organisation "Digitalcourage" vor allem für den Datenschutz im Internet. "Da sieht man auch ein bisschen, wie gefährlich das sein kann, wenn man Polizeien erlaubt, einfach mal so auf digitale Streifenfahrt zu gehen. Man erzeugt sich geradezu Verdächtige. Ich finde, wenn man das schon macht, dann sollte man auch einmal gucken, ist das jetzt wirklich etwas, wo eine Hausdurchsuchung, was ja ein ganz heftiger Grundrechtseingriff ist, ist das wirklich notwendig. Oder reicht es, dass ihr einfach mal den Telefonhörer aufnehmt und die Person entsprechend anruft und euch überhaupt mal ein Bild darüber macht."Stefan Biehl von der Staatsanwaltschaft Stuttgart hält dagegen."Das sind zunächst einmal Personen, die diese Schrift im Internet angeboten haben. Wer genau dahinter steckt, das konnte natürlich so durch die Internetrecherchen und Ermittlungen nicht festgestellt werden. Und auch durch die ansonsten erfolgte Personenabklärung durch die örtlich zuständigen Polizeidienststellen konnte da jetzt auch nicht näher aufgeklärt werden, um was für Personen es sich handelt, welchen Personengruppen die Beschuldigten zuzurechnen sind."Erst die Durchsuchungen würden Klarheit bringen. Die Staatsanwaltschaft sieht sie als Erfolg: Die Polizei habe immerhin volksverhetzende Schriften aus dem Verkehr ziehen können. Doch für Sonja Röder stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Aktion. Es scheinen dabei eher kleine Fische ins Netz gegangen zu sein, manche, die wohl auch ohne Vorsatz gehandelt haben. Dazu Netzaktivist "Padeluun":"Wir müssen lernen mit unseren - wie Frau Merkel sagte - "Neuland"-Netzen zu leben, und mit denen zu arbeiten, ohne dass wir uns daraus einen Strick drehen. Wenn ich früher in mein Tagebuch schrieb: 'Mann, dem würde ich aber gern mal die Fensterscheibe einschlagen', dann stand das in meinem Tagebuch. Heute schreibe ich vielleicht so was auf Facebook. Das heißt ja nicht, dass ich das wirklich vorhabe, aber in dem Moment, wo die Sachen abgreifbar sind, wo sie quasi permanent erfasst werden, wo präventiv tief in Daten hineingeguckt wird, wie wir es jetzt beim NSA-Skandal erleben, da fängt es an, dass unsere Gedanken nicht mehr frei sind. Und das ist ganz gefährlich, das darf in einer Demokratie nicht passieren."Datenschutz einerseits und Schutz vor Islamistenhetze andererseits – um die richtige Balance wird weiter politisch gerungen. Mit den Durchsuchungen jedenfalls wollte die Polizei wohl ein Signal der Abschreckung aussenden. Das ist bei Sonja Röder nachhaltig angekommen."Bei einem Poltern auf den Treppen bekommt man wieder vollkommen irrational Herzpochen: Kommt jetzt die zweite Runde? Dann natürlich: Was denken die Mitmieter hier im Haus, die natürlich von dieser Durchsuchung auch mitbekommen haben? Wurde ich vorher observiert, also was wird mir letztlich angehängt?" | Von Susanne Grüter | Die Polizei geht auch digital auf Streife, etwa um jugendgefährdende oder volksverhetzende Schriften aus dem Verkehr zu ziehen. Kürzlich handelte sich eine Bonnerin eine Hausdurchsuchung ein, weil sie im Internet ein Buch zum Kauf angeboten hatte - ohne den Inhalt zu kennen. | "2013-08-22T19:15:00+02:00" | "2020-02-01T16:32:15.060000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/salafistenschrift-aus-dem-offenen-buecherschrank-100.html | 343 |
Ryanair-Chef: Lufthansa wird das vermasseln | Benjamin Hammer: Wir sind in der Firmenzentrale von Ryanair in Dublin. Und der Eingangsbereich ist etwas staubig, die Sofas dreckig und da ist eine kaputte Jalousie. Ist das der Unterschied zu Lufthansa – mit einem strahlenden Hauptquartier in Frankfurt? Michael O'Leary: Das ist unfair da nur Lufthansa zu nehmen. Es geht auch um British Airways, KLM und all die anderen. Die haben wundervolle Paläste als Zentralen, wo die Manager völlig losgelöst sind von der Realität. Bei Ryanair haben wir nicht so viel Geld für die Zentrale verschwendet. Übrigens: Der Empfangsbereich ist nicht staubig, der ist sauber, aber wir waren eben sparsam. Ryanair gibt es, damit Fliegen für die Europäer billiger wird. Nicht, damit ein Manager in einem Marmorpalast in irgendeinem Wald wohnt. Hammer: Aber mit Ryanair zu fliegen kann sehr anstrengend sein. Wenn man von einem Flughafen fliegt, den Sie Düsseldorf Weeze nennen, dann befindet der sich in Wahrheit 80 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Es dauert also erst einmal ziemlich lange dort hinzukommen. Und wenn man dann angekommen ist und seine Bordkarte vergessen hat, dann kassiert Ryanair von mir eine Bearbeitungsgebühr von 60 Euro pro Ticket. Sie lieben Ihre Kunden nicht wirklich, oder? O'Leary: Ich liebe meine Kunden, ich habe 80 Millionen Kunden in diesem Jahr. Wir geben unseren Kunden, was Lufthansa nicht bietet: günstige Tarife, pünktliche Flüge, keine Streiks und neue Flugzeuge. Ich glaube die Leute mögen Lufthansa einfach nicht, weil sie wissen, dass sie abgezockt werden mit hohen Tarifen. Und jetzt ändern sie ihre Strategie. Sie stärken Germanwings - und sogar Lufthansa gibt zu: Das wird dann immer noch nicht billig. Hammer: Was halten Sie denn von diesem Vorstoß, Ryanair ein bisschen zu kopieren und die Firmentochter Germanwings zu stärken. Haben Sie Angst?O'Leary: Das ist doch großartig. Jedes Mal, wenn Lufthansa versucht hat, einen Billigflieger zu betreiben, haben sie es vermasselt. Und das wird auch jetzt passieren. Du kannst nicht Germanwings betreiben und damit werben, dass es günstig ist, aber nicht billig. Kein Zweifel Lufthansa bietet einen tollen Service. Aber man muss sehr reich oder ein Geschäftsmann sein, um sich das leisten zu können. Hammer: Aber es gibt doch Flüge mit Lufthansa von Köln nach Barcelona oder nach München für 99 Euro hin und zurück. Und da ist ein Gepäckstück inklusive, ich bekomme etwas zu trinken und muss nicht zu Provinzflughäfen wie Hahn oder Weeze reisen. O'Leary: Ja, aber wenn Du nach Hahn oder Weeze gehst, dann bekommst Du den Flug für 19 Euro und zahlst drei Euro für den Drink. Und bei Lufthansa gibt's vielleicht nur zwei Plätze zu den guten Preisen. Hammer: Lassen Sie uns über Ihre Sicherheit sprechen. Billig fliegen und sicher fliegen, da gibt es doch einen Zusammenhang. Die Leute können vielleicht billig mit Ihnen fliegen aber in den letzten Wochen scheint es da einige Kompromisse bei der Sicherheit gegeben zu haben. Gleich drei Ryanair-Flieger mussten in Valencia notlanden, einer davon hatte eine Tankfüllung unter den gesetzlichen Bestimmungen. Und in den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen über technische Probleme. Sparen Sie zu viel? O'Leary: Nein! Wenn Sie sich unsere Statistik der letzten 28 Jahre anschauen, die ist herausragend. Schauen Sie sich die Erklärung der irischen und spanischen Verkehrsministerien an. Darin steht, dass Ryanair zu den sichersten Airlines gehört. Und was die Vorfälle von Valencia betrifft: Alle drei Flugzeuge wurden ausreichend betankt. Sie mussten einfach umgeleitet werden, wegen des Wetters über Madrid. Zwei der Flieger hätten noch über 30 Minuten fliegen können, eine Maschine noch 29 Minuten. Niemand war in Gefahr. Und die offiziellen Untersuchungen bestätigen, dass sich Ryanair-Piloten an die geltenden EU-Regeln halten. Du kannst nicht so einfach auf 80 Millionen Passagiere wachsen und 1500 Flüge pro Tag, wenn Du es nicht sicher machst. Und das haben wir jetzt seit 28 Jahren getan. Hammer: Aber Sie üben doch Druck aus auf die Piloten, nicht zu viel Kerosin zu tanken!O'Leary: Das stimmt absolut nicht. Wir haben unsere Piloten niemals unter Druck gesetzt. Jeder Kapitän entscheidet bei uns selbst, wie viel er tankt. Alles, worum wir bitten, ist das, wenn Du mehr tankst, als eigentlich berechnet wurde, dann sag uns einfach warum! Meistens geht es da um Verspätungen oder das Wetter. Piloten wurden bei uns noch nie unter Druck gesetzt. Hammer: Es gibt einen Piloten, der anonym einer irischen Tageszeitung gesagt hat: Seine Autorität wird ihm von Ryanair weggenommen, und wenn er sich zu erkennen gäbe, dann bekäme er große Probleme. O'Leary: Das ist doch nur ein angeblicher anonymer Pilot, produziert von einer Tageszeitung. Was der Pilot eigentlich gesagt hat, ist das: Es gibt bei uns eine Liste, wie viel Sprit welcher Pilot verbraucht hat. Und wenn Du da herausragst, dann musst Du zum Gespräch zu O'Leary. In meinen 26 Jahren bei Ryanair musste noch nie ein Pilot wegen so einer Sache zu mir. Ich habe doch ohnehin keine Ahnung vom Fliegen. Diese Vorwürfe sind einfach Schwachsinn. Hammer: Lassen Sie uns jetzt noch auf Irland schauen. Wie konnte das eigentlich passieren? Dass ein Land mit Erfolgsstorys wie Ryanair wirtschaftlich so tief gefallen ist. O'Leary: Wir haben einfach ziemlich doofe Politiker gewählt. Dann belohnen wir sie auch noch. Wir wählen sie wieder, weil sie uns das sagen, was wir hören wollen. Und dadurch hatten wir diese Immobilienblase und die Bankenblase. Jeder in Irland dachte, er habe die Wirtschaft neu erfunden. Und die Blase ist eben geplatzt. Das hätte nicht passieren können, wenn die EU-Defizitregeln eingehalten worden wären. Hammer: Eine Menge von dem was Sie sagen, klingt nach dem Ruf nach einer freien Wirtschaft. War nicht genau das Irlands Problem? Das Fehlen von Regulierung? O'Leary: Jeder unregulierte Kapitalismus wird aus dem Ruder laufen. Ja, die Regulierung hat hier ohne Zweifel versagt. Es gab ja Regeln auf EU-Ebene und auch in Irland. Aber das wurde nicht genug überwacht. Hoffentlich lernen wir aus den Fehlern. Das Problem ist, dass uns viele Regeln gar nicht schützen, sie schaffen nur Jobs für nutzlose Beamte. Wir müssen effektiver werden. Die deutsche Wirtschaft hat gezeigt, wie das geht – in dem sie wettbewerbsfähig ist. Hammer: Ryanair ist stark gewachsen in den letzten Jahren, Sie haben 300 Flugzeuge und sind eine der größten Airlines der Welt. Wo wollen Sie in zehn Jahren stehen? O'Leary: In zehn Jahren möchte ich an einem Strand auf den Bahamas sein, als Pensionär mit viel Geld und schönen jungen Damen um mich herum. Leider passiert das wohl nicht. Also in fünf Jahren wollen wir von 80 auf 120 oder 130 Millionen Passagiere wachsen, wir wollen unseren Durchschnittstarif auf 30 Euro pro Flug senken. Und wenn wir das schaffen, dann wachsen wir weiter. In jedem Land Europas gibt es nur Raum für zwei Fluggesellschaften: Es gibt die etablierten Anbieter wie Lufthansa, die sind für die reichen Leute. Und dann gibt es Ryanair. Wir sind wie Lidl und Aldi – für ganz Europa. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Michael O'Leary im Gespräch Benjamin Hammer | Lufthansa plant die Billigfluglinie Germanwings auszubauen. Den Konkurrenten Ryanair schockt das nicht. Bei der Lufthansa hätte es bisher nicht funktioniert, einen Billigflieger zu betreiben und das würde sich auch jetzt nicht ändern, sagt Ryanair-Firmenchef Michael O'Leary.
| "2012-10-22T08:20:00+02:00" | "2020-02-02T14:30:12.166000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ryanair-chef-lufthansa-wird-das-vermasseln-102.html | 344 |
"Ich halte es auch für einen Fehler, die Brennelementesteuer zeitlich zu befristen" | Christian Bremkamp: Am Telefon begrüße ich jetzt Claudia Kemfert, sie leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Guten Tag, Frau Kemfert.Claudia Kemfert: Guten Tag! Ich grüße Sie.Bremkamp: Nicht nur die Oppositionsparteien und diverse Umweltverbände zeigen sich empört, auch viele Stadtwerke kritisieren den Atomkompromiss scharf. Haben Sie Verständnis für deren Bedenken?Kemfert: Ja, ich verstehe die Sorgen, die man dort hat. Aber man muss wirklich sehen, was die Regierung vorhat, und das finde ich schon beeindruckend, dass man tatsächlich den Umbau des Energiesystems sich vorgenommen hat. 80 Prozent der Stromerzeugung in den nächsten vier Jahrzehnten will man aus erneuerbaren Energien gewinnen, gleichzeitig will man den Energieverbrauch halbieren, im Gebäudesanierungsprogramm sehr viel tun. Also das finde ich schon sehr ambitioniert, um eben die Klimaschutzziele von minus 80 Prozent der Treibhausgase in diesem Zeitraum zu erfüllen. Das ist das Eigentliche, was mir daran sehr gefällt und was ich auch sehr gut finde, aber leider stößt man sich da nur an diesem einen Puzzle-Stein, und das ist die Kernenergie.Bremkamp: Frau Kemfert, lassen Sie uns beim Jetzt bleiben. Ist es nicht in der Tat ungerecht, auf kommunaler Ebene versucht man erneuerbare Energien zu fördern und auszubauen, schlussendlich aber bekommt die Atombranche so etwas wie einen Zuschlag?Kemfert: Also ich teile diese Kritik nicht, denn die Förderung erneuerbarer Energien wird ja gar nicht angetastet, denn die erneuerbaren Energien haben weiterhin Vorrang, wir haben die Vergütung und das wird auch weiter so laufen. Wir sind heute bei 16 Prozent der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien und die mittelständischen Anbieter, oder auch eben Stadtwerke, kommunale Anbieter, werden weiter investieren. Das sehe ich in keinster Weise gefährdet.Die großen Energieversorger in der Tat müssen jetzt auf den Zubau von Kohlekraftwerken verzichten, weil die braucht man in dem Moment nicht mehr, wo man die Kernkraftwerke länger laufen lässt, und wenn man das so macht, dann sind die Netze auch frei für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Gleichzeitig muss man natürlich auch die Infrastruktur ausbauen und die Speichermöglichkeit erhöhen, aber das sehe ich nicht im Konflikt mit dem derzeitigen Programm, was man sich da vorgenommen hat.Bremkamp: Nicht angetastet, sagen Sie. Der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Harry Voigtsberger moniert, das Ganze, die Laufzeitenverlängerung, vergrätze innovative Investoren. "Jetzt verstopft billiger Atomstrom die Netze."Kemfert: Nur in dem Moment, wo auch der Kohlestrom noch da ist. In den nächsten zehn Jahren gehen ja aus Altersgründen hoffentlich die alten Kraftwerke vom Netz, das sind ungefähr die Hälfte. Heute hat man ja knapp 50 Prozent des Stroms, der eben mit Kohle gewonnen wird. Davon könnte die Hälfte dann weggehen. Wenn man diese 25 Prozent dann ersetzt, eben mit den erneuerbaren Energien, gleichzeitig die Infrastruktur ausbaut, sehe ich da keine Vergrätzung von Investoren, im Gegenteil. Ich glaube, die Zeit ist günstig. Und dass die Bundesregierung die erneuerbaren Energien deutlich fördern will, das sieht man ja am Energieprogramm, denn das soll ja deutlich ausgebaut werden.Bremkamp: Aber machen Laufzeitverlängerungen volkswirtschaftlich überhaupt Sinn, wenn Alternativanbieter dadurch möglicherweise ins Hintertreffen geraten können?Kemfert: Also ich sehe es nicht, dass die Alternativanbieter ins Hintertreffen geraten, weil die Förderung ja weiter läuft und auch die Infrastruktur ausgebaut wird. In dem Moment, wo allerdings die Kohlekraftwerke, die man derzeit in Planung hat, die 26, auch tatsächlich gebaut werden, dann hat man die Netze wiederum voll, dann hat man den Kraftwerkspark so festzementiert, wie er heute ist, auf die nächsten 40 Jahre, und das ist natürlich schon ein Problem. Aber ich denke, die Großkonzerne werden weniger Anreiz haben, in die Kohlekraftwerke zu investieren, oder man muss es dann auch politisch nicht genehmigen, den Zubau von Kohlekraftwerken. Dann ist der Weg frei für den Ausbau der erneuerbaren Energien und da haben natürlich die Kommunen und auch die Stadtwerke, mittelständische Anbieter dann die Nase vorn.Bremkamp: Neue Kohlekraftwerke sind in Planung, werden gebaut, sagen Sie. Warum braucht man dann noch Atomkraft?Kemfert: Ja, entweder oder. Ich denke nicht, dass man neue Kohlekraftwerke bauen sollte und auch nicht in dem Umfang. 26 sind derzeit in Planung, davon werden einige gebaut. Die Restlichen sollte man dann nicht mehr bauen. Das braucht man nicht mehr und die Genehmigungsverfahren können jetzt eingestellt werden.Bremkamp: Aber geht das so einfach?Kemfert: In dem Moment, wo die Kernkraft tatsächlich durch ist. Das hat man ja noch nicht entschieden. Das geht nicht so einfach, aber ich denke, die Politik muss hier eine entsprechende Entscheidung treffen: Entweder sie will Kohle oder sie will Kernenergie. Beides macht natürlich keinen Sinn.Bremkamp: Das erneuerbare Energien-Gesetz sieht vor, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bis 2020 auf mindestens 30 Prozent zu erhöhen. Glauben Sie, dass es dabei bleiben wird?Kemfert: Ja, wenn nicht sogar noch erhöht. Mit dem jetzigen Programm ist ja noch viel mehr geplant, denn die 35 Prozent, die man ja jetzt anvisiert hat, sind durchaus erreichbar. In dem Moment, wo man auch die Vergütungssätze jetzt anpasst und entsprechend die Förderung auch weiterlaufen lässt und die Infrastruktur, sich darum kümmert, dass es ausgebaut wird und die Speichermöglichkeiten auch geschaffen werden, halte ich es für durchaus realistisch. Zusätzlich will man ja auch noch die Offshore-Windparks fördern, mit mehr Förderprogrammen oder expliziten Förderprogrammen, und auch eine Netzumlage einrichten, die eben den Netzausbau auch voranbringt, und dann, denke ich, sind diese 30 Prozent, wenn nicht sogar noch mehr, durchaus realistisch in den nächsten zehn Jahren.Bremkamp: Frau Kemfert, ich will gerne noch zu einem anderen Punkt kommen. Brennelementesteuer nur befristet bis 2016, dazu steuerlich absetzbar. Was erleben wir hier gerade, wie die Atombranche eine Bundesregierung vorführt?Kemfert: Ja. Ich halte es auch für einen Fehler, die Brennelementesteuer zeitlich zu befristen. Das ist überhaupt gar nicht notwendig, denn die Steuer wird ja nur dann bezahlt, wenn man auch Kernkraft nutzt. Da hätte ich mir gewünscht, dass die Lobbyisten sich da nicht durchgesetzt hätten. Das haben sie an anderer Stelle ja auch nicht. Aber hier wird deutlich, dass man vor der Wirtschaft eingeknickt ist. Und auch bei den Zusatzgewinnen wäre durchaus mehr möglich gewesen. Man hat hier zwar sehr dezidiert gerechnet und auch sich angeschaut, was am Ende da übrig bleibt, aber man braucht eben auch erhebliche finanzielle Beträge, um den Umbau des Energiesystems zu schaffen, die Infrastruktur und auch die Neuinvestitionen, die da zu tätigen sind. Also da hätte ich mir mehr gewünscht, aber die Lobbyisten haben sich da nicht voll und ganz durchgesetzt, denn Großteile dieser Zusatzgewinne werden ja einbehalten.Bremkamp: Mehr Geld bräuchte man auch für die Sanierung des Endlagers Asse.Kemfert: Ganz genau, und dafür soll ja auch die Brennelementesteuer teilweise zumindest eingesetzt werden. Ich finde das sehr schade, dass man es zur Haushaltssanierung so stark einsetzt, aber ich hoffe einfach, dass sich das im Zeitablauf verschiebt, wenn die Kassen auch wieder etwas in Richtung weniger großes Defizit gehen.Bremkamp: Claudia Kemfert war das, Energieexpertin beim DIW in Berlin. Herzlichen Dank für das Gespräch.Kemfert: Ich danke Ihnen.Weitere Informationen zum Thema:"Er hat wirklich keinerlei Durchsetzungskraft mehr"- Interview mit dem rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der Umweltminister Norbert Röttgen den Rücktritt nahe legt (DLF, 7.9.20120)"Wir brauchen kostengünstige Stromversorgung"- Interview mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten (DKultur, 7.9.2010)Merkel lobt Energiekonzept als "Revolution" - Akuell zum von der Regierung beschlossenen Atomkompromiss, 6.9.2010 | Claudia Kemfert im Gespräch mit Christian Bremkamp | "Was die Regierung vorhat, und das finde ich schon beeindruckend", sagt Claudia Kemfert, Expertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, zum Energie-Konzept der Bundesregierung - leider stoße man sich an diesem einen Puzzle-Stein, der Kernenergie. | "2010-09-07T12:10:00+02:00" | "2020-02-03T18:10:06.427000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ich-halte-es-auch-fuer-einen-fehler-die-brennelementesteuer-100.html | 345 |
Halbe Wahrheiten und späte Einsichten | Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln in London auf der Wahlparty von Leave.eu. (Michael Kappeler, dpa picture-alliance)
"Insider packen aus": Wenn ein Buch so beworben wird, dann ist es meist reißerisch und enthält nur die halbe Wahrheit. Beides trifft auf Arron Banks' Buch zu, die einzige Brexit-Analyse in Buchform, die aus der Perspektive der Sieger verfasst ist.
Banks, erfolgreicher Unternehmer und Sponsor der populistischen United Kingdom Independence Party UKIP, hat auch die inoffizielle "Leave"-Kampagne finanziert. Er ist ein rückhaltloser Bewunderer des ehemaligen UKIP-Chefs Nigel Farage - und von Donald Trump, wie er kürzlich im britischen Fernsehen erklärte: "Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Donald Trump und Nigel Farage. In beiden Fällen ist es, als hätte das Volk einen Vorschlaghammer in die Hand bekommen, um das Establishment zu zertrümmern."
In seinem Buch "The Bad Boys of Brexit" erzählt er die schmutzige Vorgeschichte des Brexit-Referendums: Wie Farage und UKIP gemeinsam mit der Boulevardpresse die Europäische Union und vor allem Zuwanderer als Sündenböcke für alles brandmarkten, was im eigenen Land schief läuft.
Populisten kitzelten Instinkte
Doch die ungenierte Art, mit der sich Banks darin sonnt, die unfähige "Elite" des Landes durch den Dreck gezogen zu haben, erklärt den Sieg der Brexiteers nur zum Teil.
Gleiches gilt für den Insiderbericht der Gegenseite, vorgelegt von Sir Craig Oliver, dem ehemaligen Kommunikationschef des zurückgetretenen Ministerpräsidenten David Cameron. Oliver bei einem BBC-Auftritt:
"Wir haben einige große Fehler gemacht. Wir haben komplett darauf gesetzt, dass das Argument des wirtschaftlichen Risikos durchdringt. Aber je näher das Abstimmungsdatum rückte, desto klarer wurde, dass Einwanderung als Thema viel stärker zog. Und darauf hatten wir keine Antwort."
"Unleashing Demons" heißt das Buch folgerichtig, zu Deutsch etwa: "Entfesselte Dämonen". Der Hass auf Einwanderer, einmal von der Leine gelassen, lässt sich, auch das zeigt sich jetzt in Großbritannien, nur schwer wieder einfangen.
Jeden Winkel des Dramas ausgeleuchtet
Wer sich als Kontinentaleuropäer auf eine sachliche Spurensuche begeben will, ist mit drei etwas ausgewogeneren Darstellungen besser bedient. Der Huffington-Post-Reporter Owen Bennett, intimer UKIP-Kenner, prangert in "The Brexit Club" an, wie skrupellos die Populisten von UKIP Anti-Ausländer- und Anti-Establishment-Instinkte kitzelten. Gary Gibbon hingegen vom Fernsehsender Channel 4 News konzentriert sich in "Breaking Point" auf die himmelschreienden Fehleinschätzungen der Brexit-Gegner.
Diese beiden kenntnisreichen Teilbetrachtungen werden allerdings deutlich übertroffen von der herausragenden Gesamtschau, die Tim Shipman geschrieben hat. Er leitet das Politikressort der Sunday Times und zeigt sich in seinem Buch "All Out War" als überzeugter "Remainer". Großbritannien werde nach dem Brexit zu einem selbstbezogenen Land, von der Welt abgewandt, so seine Prognose.
Ob die stimmt, sei dahingestellt; ziemlich sicher aber stimmt Shipmans Diagnose; denn der Autor hat jeden Winkel dieses Dramas ausgeleuchtet und mit fast jedem relevanten politischen Entscheider gesprochen, der beim Brexit-Referendum seine Finger im Spiel hatte. Das ist leider zugleich der Pferdefuß seiner 630 Seiten dicken Darstellung: Wer nicht voll konzentriert liest, verliert sich im Anekdotischen.
Die Fehler der "Remainer"
Shipman kommt zu dem Schluss, dass das Referendum auch anders hätte ausgehen können - wenn die Pro-Europäer die Sache nur halb so ernst genommen hätten wie die Gegenseite:
"Wenn nur 600.000 Leute anders abgestimmt hätten, hätten wir ein anderes Ergebnis gehabt. Und da gab es eine Menge, was David Cameron während dieser Kampagne falsch gemacht hat; einiges, womit er die 600.000 hätte überzeugen können."
Doch auch die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn trägt, das wird hier sehr klar, erhebliche Mitschuld am Ausgang der Brexit-Abstimmung. Corbyn, anders als die meisten Labour-Abgeordneten selbst ein Europa-Kritiker, ließ sich nur butterweiche Bekenntnisse zu Europa entlocken und blieb bestenfalls unengagiert - vor allem, weil er seinem Tory-Rivalen Cameron keinen Erfolg gönnte.
"Bei einem Treffen der pro-europäischen Kabinettsmitglieder hat die Tory-Wirtschaftsministerin Anna Soubry, deren Wahlkreis in Nottinghamshire immer auf der Kippe zwischen Tories und Labour stand, warnend gesagt, sie sorge sich um die Labour-Wähler. Deren Unterstützung für die "Remain"-Kampagne sei sehr verhalten, und Labour tue überhaupt nichts dagegen."
Die Wirkung von Unwahrheiten
Shipman beschreibt in seinem Buch auch die Strippenzieher der "Leave"-Kampagne und ihre Strategie. Da ist zum Beispiel der intellektuelle "posh boy" und britische Europaabgeordnete Daniel Hannan, oder, hemdsärmeliger, Dominic Cummings. Er verpasste der "Vote-Leave"-Kampagne die Ruchlosigkeit, der das "Remain"-Lager am Ende so hilflos gegenüberstand.
"Vote Leave" versprach den Wählern: Nach dem Brexit würden jede Woche 350 Millionen Pfund ins britische Gesundheitssystem fließen. Eine glatte Lüge, schnell entlarvt, aber Cummings hielt bis zum Schluss daran fest.
"'Holt Euch die Kontrolle zurück' war ein brillanter Slogan. Von 350 Millionen Pfund zu sprechen war natürlich skandalös, es war einfach nicht wahr, aber das hielt sich hartnäckig, obwohl so viele kritisierten, dass es gelogen war. Bei der Zielgruppe kam das einfach gut an."
Zugpferde für die Intellektuellen
"Remain" blieb in der Defensive: Die Pro-Europäer hatten einer manipulativen Yellow-Press, die die Labour-Wählerschaft in ihren Vorurteilen gegen Ausländer und Eliten bestätigte, nichts entgegenzusetzen. Ebenso wenig kamen sie gegen Boris Johnson und Michael Gove an, die Zugpferde für die gebildeten Tories:
"Johnson und Gove haben zwar nicht den Sieg eingefahren, aber sie haben ihn möglich gemacht, weil sie der Brexit-Sache Glamour, Öffentlichkeit und intellektuelles Gewicht verliehen haben."
Die weltoffene britische Mitte, als Establishment beschimpft, hatte weder der alt-konservativen Sehnsucht nach früherer britischer Größe noch der platten, ausländerfeindlichen Schmutzkampagne etwas entgegenzusetzen.
Versagen pro-europäischer Politiker
Weder die gemäßigten Tories noch Labour hatten das Format, den Wählern reinen Wein einzuschenken: dass es nicht die EU-Regulierung oder die Zuwanderung waren, die ihre Situation verschlechtert hatten, sondern eine hausgemachte Politik, die die Bedürftigen im Lande jahrelang vernachlässigt hat.
Und so kommt Tim Shipman in seiner brillant recherchierten und exzellent geschriebenen Gesamtschau zu dem Schluss, dass das Brexit-Votum vermeidbar gewesen wäre. Dass es doch so kam, erklärt er nicht nur mit der populistischen Eliten-, Europa- und Ausländerverhöhnung, sondern vor allem mit dem krassen Versagen vieler pro-europäischer Tory- und Labour-Politiker, die zu spät, zu zaghaft oder mit falschen Mitteln für einen Verbleib in der EU gekämpft hatten.
Arron Banks: "The Bad Boys of Brexit. Tales of Mischief, Mayhem & Guerrilla Warfare in the EU Referendum Campaign" Biteback Publishing, 368 Seiten, ca. 24 Euro.
Owen Bennett: "The Brexit Club. The Inside Story of the Leave Campaign's Shock Victory" Biteback Publishing, 352 Seiten, ca. 14 Euro.
Gary Gibbon: "Breaking Point. The UK Referendum on the EU and its Aftermath" Haus Curiosities, 92 Seiten, ca. 5 Euro.
Craig Oliver: "Unleashing Demons. The Inside Story of the EU Referendum" Hodder and Stoughton, 420 Seiten, ca. 15 Euro.
Tim Shipman: "All Out War. The Full Story of How Brexit Sank Britain's Political Class" William Collins, 688 Seiten, ca. 12 Euro. | Von Sandra Pfister | Im Juni stimmte die Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Warum die "Vote-Leave"-Kampagne so wirkungsvoll war und die "Remainer" sich nicht durchsetzen konnten, das versuchen jetzt zahlreiche neue Bücher zu erklären. | "2016-12-19T19:15:00+01:00" | "2020-01-29T19:08:47.221000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/brexit-halbe-wahrheiten-und-spaete-einsichten-100.html | 346 |
"Rassisten fühlen sich ermutigt, weil jetzt ihr Mann im Weißen Haus sitzt" | Titelseiten der Zeitungen "New York Post" und "Daily News" zu den Aussagen von US-Präsident Trump zu der Kundgebung in Charlottesville. T (imago/Levine-Roberts)
Christoph Heinemann: Nach den Ausschreitungen in Charlottesville hat Präsident Trump zunächst beiden Seiten, dann den Neonazis und dann wieder beiden Seiten die Schuld gegeben. Was sagt Ihnen das über die Position des Präsidenten?
Daryle Lamont Jenkins: Das sagt mir, dass der Präsident versucht, seine Basis zu schützen. Seine Basis sind nicht die Vereinigten Staaten so wie sie sein sollten. Das sind Leute, die ihn mögen und ihn unterstützt haben. Um den Rest des Landes kümmert er sich nicht, auch nicht darum, was dieser Rest denkt. Er kümmert sich nur um diejenigen, die sich ihm zugewandt haben. Diese Leute versuchen auf vielerlei Hinsicht das Land zu zerstören.
Und das bedeutet, dass gegenwärtig ein gefährlicher Mann im Weißen Haus sitzt. Jemand, der nicht für den Erhalt der Vereinigten Staaten steht, sondern der das Land in einen Niedergang führen könnte.
Suprematisten üben Einfluss aus
Christoph Heinemann: Sie sagten, er wolle seine Basis schützen: glauben Sie, dass heute weiße Nationalisten, Suprematisten, also Verfechter der Vorherrschaft der weißen Rasse und Neo-Nazis die US-Politik beeinflussen können?
Daryle Lamont Jenkins: Viele Menschen sprechen in diesem Zusammenhang über Steve Bannon. Und er verkörpert die Antwort: und die lautet ja! Er verfügt über das Ohr des Präsidenten. Trump hört nicht nur ihm zu, sondern auch Leuten, die in die weiße Suprematisten-Szene eingebunden sind. Ja, sie können Einfluss ausüben. Und das gibt Anlass zur Sorge. Es ist nicht so, dass es das bei früheren Präsidenten nicht auch gegeben hätte. Alarmierend ist allerdings, dass ein Präsident dies ganz offen versucht, während der Rest des Landes sich von diesem Unsinn entfernt hat. Deshalb versuchen Menschen, etwas dagegen zu unternehmen.
Christoph Heinemann: Halten Sie Präsident Trump für einen Rassisten?
Daryle Lamont Jenkins: Ja. Etwas Anderes lässt sich dazu nicht sagen. Er hat in dieser ganzen Woche nichts Positives gesagt. Es gibt doch in der Welt keine Entschuldigung dafür, dass er diese weißen Suprematisten nicht verurteilt. Außer der einen: er mag sie.
Christoph Heinemann: Der Präsident hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass in Virginia auf beiden Seiten schlimme Leute unterwegs waren. Hat er Recht?
Daryle Lamont Jenkins: Nein, die Bösen gab es nur auf einer Seite. Das waren diejenigen, die die Frau getötet haben.
"Auf Donald Trump muss wesentlich mehr Druck ausgeübt werden"
Christoph Heinemann: Der Präsident hat darauf hingewiesen, dass auch die anderen Gewalt angewendet haben …
Daryle Lamont Jenkins: Die anderen haben versucht, diesen Haufen daran zu hindern, auf ihre Gegner weiter einzuschlagen. Das haben Menschen dort berichtet. Friedliche Demonstranten wurden von den weißen Suprematisten angegriffen. Die haben das sogar vorher angekündigt. Deshalb sind sie mit Schilden, Helmen, Pfefferspray, Schlagstöcken und in militärischer Formation angerückt. Die haben klargestellt, dass sie gekommen sind, um zu kämpfen. Seit Mai schüchtern sie diese Stadt ein. Deshalb sind wir gekommen. Wir haben gesagt, wir müssen diese Stadt vor dieser Gruppe schützen, denn unsere Regierung tut das nicht. Trump hat sich nicht darum gekümmert, Charlottesville vor diesen Idioten zu schützen, die aus dem ganzen Land angereist sind, um Schaden anzurichten.
Christoph Heinemann: Mitglieder des Repräsentantenhauses haben Präsident Trump aufgefordert, drei Berater zu entlassen: Stephen Bannon, Stephen Miller und Sebastian Gorka. Wird der Präsident darauf eingehen?
Daryle Lamont Jenkins: Nein. Ich glaube, auf Donald Trump muss wesentlich mehr Druck ausgeübt werden, bevor diese Leute und andere zur Einsicht gelangen, dass es Zeit ist zu gehen. Solange man ihm alles durchgehen lässt, und so war das bisher, gibt es offenbar nicht genug Druck auf ihn. Er sieht nicht gut aus damit, er hat Ärger, Schaden wird angerichtet, aber damit kann er umgehen. Das bleibt vorerst so und das ist beunruhigend. Die Republikaner kämpfen um ihre Stellung im Land. Solange die nicht merken, dass sich etwas zusammenbraut, muss man auf sie zugehen. Zum Kongress, auf die Senatoren, von denen einige, das muss man zu ihren Gunsten sagen, Trump und die Suprematisten verurteilt haben. Aber nicht wirkungsvoll.
"Rassisten fühlen sich ermutigt, weil jetzt ihr Mann im Weißen Haus sitzt"
Christoph Heinemann: Steve Bannon hat für Breitbart News Network gearbeitet. Welchen Einfluss übt diese Nachrichtenplattform aus?
Daryle Lamont Jenkins: Die Menschen sehen Breitbart heute als das, was es ist: das Medium der sogenannten Alternativen Rechten. Es war immer eine rassistische Webseite, auch unter der Leitung von Andrew Breitbard. Seit seinem Tod hat sich nichts verändert. Die Menschen sehen in Breitbart etwas, dem sie nicht vertrauen können.
Nur die Leute, die dem Narrativ von Breitbart folgen, vertrauen dem Medium auch. Für alle anderen ist Breitbart die Blaupause dessen, was solche Leute denken. Für uns besteht der Nutzen darin, dass wir sehen, hier lügen sie, das ist falsch und das müssen wir bekämpfen. Nur so verwenden wir Breitbart in diesem Land.
Christoph Heinemann: Neonazis, Ku Klux Klan, Suprematisten, Alt-Rights, wächst die Zahl dieser Bewegungen?
Daryle Lamont Jenkins: Nein. Allerdings fühlen sie sich ermutigt, weil jetzt ihr Mann im Weißen Haus sitzt. Und sie möchten so viel wie möglich daraus machen. Während des Wahlkampfes haben sie gesagt, dies sei ihre letzte Chance. Wenn sie diesmal nicht siegen, dann würden sie keine Gelegenheit mehr haben, den Kurs des Landes zu ändern. Jetzt glauben sie, dass sie das können. Ich glaube das zwar nicht, aber bei dem Versuch kommen Menschen zu Schaden.
"Und für viele von denen bin ich der erste Schwarze, mit sie jemals geredet haben"
Christoph Heinemann: Auslöser der Gewalt war der Plan, ein Denkmal für den Südstaaten-General Robert E. Lee zu entfernen. Donald Trump hat gesagt, auch George Washington habe Sklaven gehalten und der Präsident fragte dann, ob auch alle Washington-Statuen entfernt werden müssten. Was antworten Sie darauf?
Daryle Lamont Jenkins: Ironischerweise hat er auch Thomas Jefferson in diesem Zusammenhang erwähnt und gesagt, auch der habe Sklaven gehalten. Jefferson stammte aus Charlottesvillle. Bei Robert E. Lee geht es nicht nur um Sklavenbesitz. Robert E. Lee hat diese Nation verraten. Es hätte niemals ein Denkmal für ihn errichtet werden dürfen. Dieses Denkmal ist etwa 50 Jahre nach dem Bürgerkrieg errichtet worden, als Anerkennung für die Weißen Suprematisten. Eine Art ausgestreckter Mittelfinger für diejenigen, denen es um die Einheit des Landes ging, um die wir uns auch heute bemühen.
Das hat nichts mit der Geschichte von Robert Lee oder der Geschichte des Bürgerkrieges zu tun, sondern mit dem Erbe von Hass und Selbstgerechtigkeit der Weißen Suprematisten. Seit etwa 60 Jahren lehnen die meisten Menschen dies ab. Deshalb wollen viele dieses Denkmal entfernen.
Christoph Heinemann: Ihre Organisation hat Neo-Nazis beim Ausstieg geholfen. Wie haben Sie das geschafft?
Daryle Lamont Jenkins: Durch eine Politik der offenen Tür. Wir bekämpfen sie hart, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch Menschen sind. Das funktioniert. Verstehen Sie mich nicht falsch: nur weil wir mit denen reden, heißt das nicht, dass wir vergessen würden, wieviel Leid sie anrichten. Meistens führe ich diese Gespräche, weil man mit mir leicht ins Gespräch kommt. Und für viele von denen bin ich der erste Schwarze, mit sie jemals geredet haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Christoph Heinemann im Gespräch mit Daryle Lamont Jenkins | Die Kundgebung in Charlottesville und die Gewalt dort haben viele entsetzt. Dass der US-Präsident die Suprematisten nicht verurteilt hat, erklärt sich Daryle Lamont Jenkins so: Er mag sie. Der Gründer einer Anti-Rassismus-Organisation und Helfer von Aussteigern sagte im Dlf, Trump sei ein gefährlicher Mann. | "2017-08-18T05:05:00+02:00" | "2020-01-28T10:46:26.214000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/donald-trump-und-rechte-gewalt-rassisten-fuehlen-sich-100.html | 347 |
Verzweifeltes Warten auf die Räumung | Flüchtlingskinder an einem mit Stacheldraht ausgestatteten Zaun an der griechisch-mazedonischen Grenze im Lager Idomeni. (picture alliance / dpa / Kostas Tsironis)
Kleine Kinder finden nach wie vor leere Tränengaskartuschen oder Golfballgroße Gummigeschosse der mazedonischen Polizei auf dem Feld direkt vor dem Grenzzaun. Es sind die Reste der gewaltsamen Auseinandersetzungen vom vergangenen Wochenende und der ganzen Woche über, in der Flüchtlinge den Grenzzaun zum Teil eingerissen hatten. In der Zeltstadt Idomeni leben nach wie vor rund 11.000 Menschen. Wisam, 26, aus Syrien, ist seit 57 Tagen mit ihrer Familie hier. Sie zeigt auf ein selbstgemaltes Bild:
"Das ist Idomeni. Ich stecke fest, wie in einem Gefängnis", sagt sie über sich, die abgebildete Frau mit Tentakel-Kopf. Während Wisam weiter erklärt, üben mehrere Hubschrauber des griechischen Militärs Manöver über den Köpfen der Flüchtlinge. Viele sind irritiert, fühlen sich erinnert an Krieg in ihren Ländern. Wisam zuckt mit den Schultern und zeigt auf ihr Kunstwerk:
"Schau auf meine Hände, ich stecke fest, ich kann mich nicht bewegen. Hier sind ganz viele Gedanken und das Rote da auf meinem Nacken. Es ist das Gefährlichste, es kann mich töten, mit der Farbe, die ich am meisten gesehen habe: Blut."
Zurzeit kann sie nicht weitermalen, es fehlen ihr Pinsel und Acrylfarben, um aus dem schwierigen Alltag auszubrechen:
"Ich fühle mich glücklich, wenn ich male, denn dadurch fühle ich mich einsam und ich vergesse meine derzeitige Situation."
Die derzeitige Situation in Idomeni: Eine Mischung aus Verzweiflung und Warten. Auf das, was kommt und wohl auch: wann geräumt wird.
Paula Lehnert, 26 Jahre alt, ist seit zwei Monaten in Idomeni, um zu helfen. Sie gehört keiner großen Nichtregierungsorganisation an. Sie kocht gemeinsam mit anderen täglich rund 6.000 Mahlzeiten oder verteilt Lebensmittel zum Selbstkochen an die Flüchtlinge. Ihre Arbeit werde seit kurzem aber erschwert, berichtet sie. Auf allen Zufahrtsstraßen stünden Polizisten, die jedes Auto kontrollierten. Die griechische Regierung bereite langsam eine Räumung vor, befürchtet sie:
"Niemand will die Verantwortung dafür tragen, was da passiert und deswegen soll es so still und leise wie möglich passieren und es passiert am besten, wenn niemand da ist, der es sehen kann. Und so lange die Repression eben steigt, werden immer mehr Leute hier weggehen und sich zurückziehen und Angst kriegen, um ihre eigene Haut - völlig verständlicherweise. Und das ist das, was gerade passiert. Es werden random Leute festgenommen, Papiere kontrolliert, Autos massiv durchsucht. Ja klar ist das eine strategische Maßnahme."
Laut Polizeiangaben wurden diese Woche mehrere Menschen vorübergehend in Gewahrsam genommen und mindestens zwölf Personen festgenommen. Eine Deutsche soll wegen des Besitzes von Pfefferspray vor Gericht kommen, weil es in Griechenland als Waffe gilt. Berichte, Aktivisten würden Flüchtlinge zum Grenzübertritt anstacheln, weist Paula Lehnert zurück:
"Es braucht keine Paula die sagt: Leute springt mal gegen den Zaun, weil die Leute sehr sehr gute Gründe haben, auf der Flucht zu sein. Und es wird ihnen nicht mal zugestanden etwas zu wollen, sie werden viktimisiert, sie werden ins Lächerliche gezogen als unbeholfene, manipulierbare, handlungsunfähige Nicht-Mal-Menschen."
Mensch sein, das möchte auch die 36-jährige Sherin Brahim aus Syrien:
"Alle hier in Idomeni sind nach Europa gekommen, weil wir einen Job brauchen, eine Arbeit und weil wir lernen wollen. Warum sollen wir hier bleiben? Wir wollen hier nicht sitzen und darauf warten, dass man uns was zu Essen und Kleidung gibt."
Presseberichte: Griechische Regierung will Idomeni räumen
Sherin Brahim will weiterreisen, fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Laut der griechischen Zeitung "Eleftheros Typos", plant die griechische Regierung in fünf Schritten, das Camp in Idomeni zu räumen.
Der erste Schritt: Mehr Polizeikontrollen und Einschränkung der Aktivitäten von NGOs. Danach Durchsuchungen von Ehrenamtlichen, die den Behörden "verdächtig" vorkommen. Als Drittes soll laut der Zeitung der freiwillige Transport von Kindern und Familien weiter forciert werden. Vierter Schritt: Kein Zugang mehr für Journalisten. Und Fünftens: Räumung am Morgen und so laut Zeitung die "Entfernung" aller restlichen Flüchtlinge.
Ein Polizeisprecher sagte auf Anfrage, dass eine gewaltsame Räumung des Camps, das zum größten Teil aus Familien und Kindern besteht, niemand möchte. Ausschließen wollte er es aber auch nicht.
Ob dieser sogenannte Fünf-Punkte-Plan tatsächlich gelten soll, ist unklar. Die meisten in Idomeni halten ihn aber für realistisch. | Von Panajotis Gavrilis | Im Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze steigt die Verzweiflung. Über den Köpfen der Flüchtlinge fliegen griechische Hubschrauber, Helfer werden massiv von der Polizei kontrolliert. Hoffnung gibt es für die Wartenden wenig. Eine Räumung scheint bevorzustehen. | "2016-04-15T04:25:00+02:00" | "2020-01-29T18:24:09.009000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/idomeni-verzweifeltes-warten-auf-die-raeumung-100.html | 348 |
„Milliarden für sozialen Wohnungsbau, nicht für die Immobilienwirtschaft“ | Klara Geywitz (SPD), Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, kritisiert die frühere Praxis der Neubauförderung als Steuergeldverschwendung. (IMAGO / Jens Schicke)
Der Neubau von Wohnungen ist in letzter Zeit wegen der stark gestiegenen Kosten deutlich zurückgegangen. Trotzdem will Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) die Neubauförderung kürzen. Die bisherige Praxis kritisiert sie als Steuergeldverschwendung. „Das, was in der Vergangenheit passiert ist, war ein allgemeiner Baukostenzuschuss. Warum sollten wir das Steuergeld nehmen, um Menschen, die für ihre Altersvorsorge sich ihre vierte oder fünfte Wohnung besorgen, dabei noch einen Zuschuss zu geben?", so die Ministerin.
Sozialen Wohnungsbau fördern
Stattdessen will Geywitz den sozialen Wohnungsbau weiter fördern, Azubi- und Studentenwohnungen sowie junge Familien mit einem geringen Einkommen, die preiswerte Immobilienkredite bekommen sollen. „Milliarden für die Immobilienfinanzierung ja, auf jeden Fall. Aber nicht Milliarden für die Immobilienwirtschaft, sondern für den sozialen Wohnungsbau“, sagt die SPD-Politikerin.
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Geywitz verteidigt auch die Pläne, dass ab 2024 neue Heizungen mit mindestens 65 Prozent Erneuerbaren Energien betrieben werden müssen, um die Klimaschutzziele im Gebäudesektor zu erreichen. „Wir können diese Heizungsumstellung nicht auf ewig vor uns hinschieben“, sagt die Ministerin. Ihr Ziel sei es, „dass es ökonomisch sinnvoll ist, sozial ausgewogen ist, niemanden überfordert, aber auch die notwendige ökologische Umsteuerung mit sich bringt.“
Mieterinnen und Mieter werden geschützt
Im aktuellen Entwurf seien Mieterschutzregelungen vorgesehen, betont die Ministerin und verspricht, dass es „für jeden eine sozialverträgliche Option gibt und niemand dasitzt und keine Heizung hat. Wir werden das natürlich mit Fördermitteln begleiten.“ Eine konkrete Summe nennt Geywitz nicht, sondern verweist auf die laufenden Verhandlungen: „Hier werden wir natürlich auch sehen müssen, zusammen mit Christian Lindner, was der Haushalt hergibt.“
Das Interview im Wortlaut:
Panajotis Gavrilis: Frau Geywitz, in den vergangenen Wochen war energiepolitisch vor allem ein Thema zentral: Ihre Heizungspläne und die des Wirtschaftsministers, Robert Habeck. Ab dem nächsten Jahr sollen neue Heizungen nur noch dann eingebaut werden, wenn sie mit mindestens 65 Prozent Erneuerbaren Energien betrieben werden. Der Aufschrei ist groß. Bleibt es bei der 65-Prozent-Vorgabe, dem faktischen Verbot von neuen Gas- und Ölheizungen? Klara Geywitz: Also, das wäre das Verbot von reinen Öl- und Gasheizungen und der Einstieg in ein Umstellen unserer Heizungsflotte, der sehr, sehr viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Aber wenn man sich vorstellt, 2045 wollen wir klimaneutral sein, müssen wir klimaneutral sein, und eine neue Heizung, die hält mal locker eben 20 Jahre, dann brauchen natürlich die Hausbesitzer eine Planungssicherheit. Aber auch die Hersteller brauchen eine Planungssicherheit. Und wenn wir zurückschauen ins letzte Jahr, wir hatten Riesengasprobleme, Explosion des Gaspreises, es war überhaupt nicht klar, ob wir genug Gas haben für alle, die welches brauchen, und trotzdem wurde 600.000 neue Gasheizungen in Deutschland eingebaut.
Das zeigt, dass wir natürlich jetzt einen Bedarf haben ein Gesetz zu machen. Mein Ziel ist, dass es ökonomisch sinnvoll ist, dass es sozial ausgewogen ist, niemanden überfordert, aber natürlich auch die notwendige ökologische Umsteuerung mit sich bringt.
Robert Habeck reißt keine Heizungen raus
Gavrilis: Sie sagen, Planungssicherheit. Was raten Sie denn, um es mal konkret zu machen, einem Rentnerehepaar, das gerade erst für eine Gasheizung – eine neue Gasheizung – 10.000 Euro ausgegeben hat? Geywitz: Es ist ja nicht so, dass ab dem 1. Januar irgendjemand in den Keller kommt – wie jetzt die 'Heute Show' gezeigt hat – und dann kommt Robert Habeck und reißt die neue Heizung raus, sondern es geht vor allen Dingen erstmal um die Frage … Gavrilis: Oder Sie. Geywitz: Ja, ich mache das auch nicht. Es geht um die Frage, was jetzt bei Neuanschaffungen gemacht wird. Weil, das ist ja eine wichtige Investition. Das ältere Ehepaar, das eine Gasheizung hat, wird die natürlich so lange auch weiterbenutzten können, bis die Gasheizung irgendwann einmal nicht mehr funktioniert. Aber es ist natürlich nicht sinnvoll, dass wir immer, immer weiter Gasheizungen bauen. Weil es auch für die Menschen natürlich klar sein muss, wenn wir die CO2-Bepreisung haben, dann ist es ja nicht mehr so, dass irgendwann die Gasheizung die billigste Heizung ist, sondern dann habe wir natürlich aufgrund mindestens der CO2-Bepreisung, aber auch des generellen Anstieges des Gaspreises, dann im Zweifelsfall eine sehr teure Lösung neu verbaut.
ReferentenentwurfPläne zum Verbot von Gas- und Ölheizungen ab 2024
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Energiewende"Veraltete Heizungssysteme bis 2045 umwandeln"
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Und das ist nicht sinnvoll, auch nicht für Hausbesitzer. Und natürlich werden wir das nur schaffen – und das ist sozusagen das Zwillingskind zur Heizungsgesetzgebung –, wenn wir eine kommunale Wärmeplanung haben. Wir haben jetzt sehr viel Wärme, die wir überhaupt nicht nutzen: Abwärme. Wir haben Abwasserwärmekanäle, wo man mit großen Wärmepumpen die Wärme nutzen kann. Wir haben Rechenzentren, die einfach so ihre Wärme dann in die Umgebung abgeben. Das sind alles noch schlummernde Potenziale, die wir heben können und müssen, wenn wir CO2-sparend heizen wollen. Weil, der Heizungsbereich ist im Gebäudebereich einer der großen Brocken, was unsere CO2-Bilanz anbelangt.
Mieterschutzregelungen im Gesetzesentwurf
Gavrilis: Die Verunsicherung ist groß. Hausbesitzer, aber auch Mieterinnen und Mieter, die wissen nicht so richtig, was auf Sie zukommt. Wir wissen: Nach Abschluss von Modernisierungsarbeiten dürfen Vermieterinnen und Vermieter die Miete begrenzt erhöhen. Wie wollen Sie denn konkret verhindern, dass Mieterinnen und Mieter aus Klimaschutzgründen die Miete dann nicht mehr zahlen können, weil eben die Heizung ausgetauscht wurde? Geywitz: Also, ich bin jetzt in einer ein bisschen doofen Situation, weil, der Gesetzentwurf ist ja noch in der Regierungsabstimmung. Eine sehr frühe Form wurde dann an die Zeitungen gegeben. Aber wir haben – so viel kann ich, glaube ich, auch verraten – natürlich Mieterschutzregelungen vorgesehen, damit es nicht auch zu ökonomisch sinnlosen Investitionen kommt. Dass man zum Beispiel in ein nicht geheiztes Haus eine Wärmepumpe einbaut und man hat dann wahnsinnige Nebenkosten für die Mieter. Das wird nicht passieren, das ist im Gesetzesentwurf jetzt schon beinhaltet.
Und dieser Gesetzentwurf geht jetzt in die Regierungsabstimmung. Dann wird er mit den Verbänden, mit den Ländern besprochen, dann wird er sicherlich nochmal überarbeitet und geht dann in den Bundestag und da kommen dann natürlich auch nochmal die Bundestagsabgeordneten mit ihrem Feedback aus ihren Wahlkreisen. Und mein Ziel ist, dass wir am Ende des Tages einen Einstig haben, der sozialverträglich ist, aber vor allen Dingen Planungssicherheit schafft, damit halt alle, die ein Haus haben und die jetzt überlegen, wie sie in drei, vier Jahren ihre Heizung umbauen, auch wissen, was sie dann machen können. Gavrilis: Das muss aber ganz schnell gehen, weil, das soll ja ab dem nächsten Jahr greifen. Das Problem, aus Ihrer Sicht, ist vielleicht, es gibt einen Koalitionspartner, der sagt – nämlich die FDP –, das, was da in dem Entwurf drinsteht, das geht weit über das Vereinbarte hinaus. Wie lösen Sie den Streit? Geywitz: Ich bin da sehr zuversichtlich. Das, was der FDP wichtig ist, ist auch mir wichtig, nämlich eine Technologieoffenheit. Es gibt ja eine große Präferenz, insbesondere der Grünen, dass man überall, wo es geht, eine Wärmepumpe einbaut. Ich sage, Häuser sind keine Autos – da hat man ja die Frage, „all electric“, ja, jetzt auch gerade ganz aktuell –, sondern wir werden auch Häuser brauchen, die man mit was anderem als einer Wärmepumpe beheizt, und die brauchen auch eine Technologie.
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Und demzufolge haben wir uns in der Abstimmung auch mit dem Wirtschaftsministerium schon sehr früh darauf verständigt, dass wir zum Beispiel auch grüne Gase zulassen, dass wir im Bestand auch zulassen Biomasseanlagen und natürlich auch die Dekarbonisierung von Fernwärme mit einrechnen. Das heißt, wer jetzt einen Fernwärmeanschluss hat, der hat erstmal gar keinen Veränderungsbedarf. Und da treffen wir uns auch mit der FDP. Wir werden jetzt sicherlich nochmal Details besprechen, aber ich sehe uns nicht so weit auseinander, dass wir das nicht in wenigen Wochen hinkriegen.
"Hausaufgaben im Gebäudebereich auf Note 3"
Gavrilis: Darf ich fragen, wie Sie heizen?
Geywitz: Wir sind noch mit einer Gasheizung versehen und wir haben noch dazu ein denkmalgeschützes Haus. Und mein Mann führt genau diese praktische Debatte, immer wenn er mich erwischt: Wie denn das alles gehen soll. Gavrilis: Haben Sie denn schon Handwerker gefunden, die Ihnen dann diese Gasheizung irgendwann austauschen? Das ist ja die große Frage: Wer soll denn die neuen Heizungen einbauen? Denn in sanierungsrelevanten Bereichen, da fehlen laut IG Metall bereits heute bis zu 190.000 Beschäftigte. Geywitz: Ja, ich habe noch die große Herausforderung, dass bei uns der Fußboden unter Denkmalschutz steht, also wir ihn noch nicht mal aufnehmen können. Aber ich war am kommenden Montag in Frankfurt bei der großen Leitmesse weltweit, zum Heizen und Sanitär, und die Branche ist im Aufbruch. Wir hatten zwei große Wärmepumpengipfel mit dem Wirtschaftsministerium zusammen, wo die Branche auch selber nochmal sich committet hat und gesagt hat, 500.000 Wärmepumpen halten sie für machbar, wo wir auch eine Ausbildungsinitiative verabredet haben.
Und die Botschaft in Frankfurt von dieser Leitmesse war, die Branche ist unterwegs auch zu einem erstaunlichen Prozentsatz mit Wasserstoff als Technologie fürs Heizen, was ja immer heftig diskutiert wird, ob das wohl eine Option wäre oder nicht. Und ganz ehrlich, ich kann jeden verstehen der sagt, das ist jetzt aber sehr viel, sehr schnell. Aber nochmal: Wenn wir ’45 klimaneutral sein wollen, Heizungen 20 Jahren halten, dann könnte ich jetzt natürlich sagen, das war jetzt die Schuld der Vor- oder Vorgängerregierung, dass sie nicht schon mal 2012 angefangen hat, eine kommunale Wärmeplanung mit einer Dekarbonisierungsstrategie zu machen.
Treibhausgas-BilanzKlimaziel 2022 eingehalten - aber nur wegen des Krieges
05:18 Minuten15.03.2023
EU-ParlamentSanierungspflicht für alte Gebäude beschlossen
Bloß, das nützt ja jetzt weder dem Hausbesitzer noch dem Heizungshersteller etwas, wenn ich sage, das wurde vor zehn Jahren verschlafen. Wichtig ist doch, es jetzt nicht zu tun oder zu sagen, okay, wir machen das jetzt zum Jahr 2030. Das würde erstens ganz viele verlorene Investitionen mit sich bringen, ich glaube, das wäre auch ein Standortnachteil für die deutsche Heizungsindustrie und natürlich würde dann der Klimapfad immer steiler, den wir machen müssten und die Projektierung immer unrealistischer. Ich meine, wir hatten vor ein paar Tagen die Vorstellung des UBA-Gutachtens, der Wärmesektor …
Gavrilis: Des Umweltbundesamtes. Geywitz: Genau. Also, da wurde gesagt, die Hausaufgaben im Gebäudebereich sind, na ja, sagen wir mal, auf Note 3 erfüllt. Die geben sich viel Mühe, aber es reicht noch nicht.
Bei Heizungsumstellung sozialverträgliche Option geplant
Gavrilis: Na ja, ich würde eher sagen, die Klimaziele wurden erneut verfehlt. Das ist das, was das Umweltbundesamt gesagt hat, zusammen mit dem Verkehrssektor. Geywitz: Ja, aber das hat auch mich sehr gefreut, dass der Chef des Umweltbundesamtes auch deutlich gesagt hat, dass im Bauministerium hart daran gearbeitet wird, die Klimaziele zu erreichen. Und das heißt, wir können jetzt diese Heizungsumstellung, weil das einer der Kernkomponenten ist, der CO2 verbraucht, können wir nicht auf ewig vor uns hinschieben. Wir werden das so machen, dass es für jeden eine sozialverträgliche Option gibt und niemand dann dasitzt und keine Heizung hat.
Und wir werden das natürlich begleiten mit Fördermitteln. Und hier werden wir natürlich auch sehen müssen, zusammen mit Christian Lindner, was der Haushalt hergibt. Und wir werden jetzt nicht eine Situation schaffen, wo jemand, weil er sich die neue Heizung nicht leisten kann, sein Haus verkaufen muss. Aber wir müssen anfangen, diesen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess miteinander zu gehen. Weil, wenn weiter jedes Jahr 500.000, 600.000 Gasheizungen verbraucht werden, weil dass die Technik ist, an die wir uns alle gewöhnt haben, dann werden wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben, nicht erreichen.
Und für die Hausbesitzer ist das auch schlecht, weil die natürlich dann unter Umständen in zehn, 15 Jahren mit Gaspreisen konfrontiert sind, wo sie sich dann entscheiden, die Heizung auszutauschen, obwohl sie eigentlich noch gehen würde. Also, insofern ist das sehr vernünftig, auch wenn es momentan natürlich für viele erstmal eine Zumutung ist.
Harter Eingriff in Eigentumsrechte
Gavrilis: Frau Geywitz, ich würde noch einen Punkt ansprechen. Das EU-Parlament hat in dieser Woche für strengere Anforderungen gestimmt, also innerhalb von zehn Jahren sollen dann alle Gebäude eine mittlere Effizienzklasse beim Energieverbrauch erreichen, Neubauten dürften dann ab 2028 kein CO2 mehr ausstoßen. Das ist so in etwa das Pendant zum Verbrenner-Aus für PKW. Unterstützen Sie diese Pläne, die ja letztendlich eine Art Sanierungspflicht per Gesetz wären? Geywitz: Das kann man jetzt beklagen oder nicht, aber das finde ich immer eine sehr gute Sache zu sagen, ich mache nicht „Wünsch-Dir-was“, sondern ich gucke, was realistisch ist. Wenn man die Pläne umsetzen wollen würde, müsste man diese Sanierungsquote in Deutschland um 100 bis 150 Prozent steigern. Das ist nicht besonders realistisch, wenn man sieht, dass wir gleichzeitig auch zum Beispiel einen Rieseninvestitionsstau bei der Bahn haben, einen Rieseninvestitionsstau bei Brücken und Autobahnen und natürlich für die Energiewende, den Ausbau der Stromnetze, den Ausbau von Windrädern ja auch Baukapazitäten brauchen.
Das ist das eine. Das andere ist, ich persönlich halte das auch mit dem Grundgesetz nicht für vereinbar, dass man per Gesetz einen Sanierungszwang macht. Weil das ist ein absolut harter Eingriff in die Eigentumsrechte der Hausbesitzer darstellt und aus meiner Sicht auch unverhältnismäßig ist. Ich meine, wenn wir jetzt über sehr viel staatliches Geld für die Sanierung und die Verbesserung des Gebäudebestandes reden, würde ich sagen, gut, dann sanieren wir erstmal alle Schulen, alle Schwimmhallen, alle Sporthallen, alle Rathäuser, alle Pflegeeinrichtungen auf ein wunderbares Niveau und dann haben wir auch schon extrem viel CO2 gespart. Weil ich glaube, dass wir natürlich die Menschen mitnehmen müssen.
Bei der Heizungstechnologie sage ich, es ist auch im Interesse des Hausbesitzers, dass wir ihn jetzt nicht einfach in so eine Technologiefalle laufen lassen und er sich im Jahr 2027 noch eine Gasheizung einbaut. Aber wir können natürlich auch nicht, gerade in Bereichen, wo die Wertsteigerung der Häuser nicht da ist, sondern die Leute einfach in ihnen wohnen und kein Geld haben um sie zu sanieren, per Ordnungsrecht sagen, du investierst jetzt bitte 100.000 Euro, die du nicht hast, in dein Haus, was vielleicht einen Wert hat von 80.000.
Gaspreise bremsen Bauprojekte
Gavrilis: Sprechen wir übers Bauen: Baupreise, Baukosten und Mieten steigen, Bauland ist teuer. Sie sind mit dem Ziel angetreten, für 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu sorgen, davon 100.000 öffentlich gefördert. Das Ziel werden Sie zumindest für 2022 und dieses Jahr, 2023, nicht erreichen, das haben Sie selbst gesagt. Warum sollte es dann 2024 klappen?
Geywitz: Also, wir sind in einer Ausnahmesituation. Wir haben einen Zinssprung gesehen, der ist von so einem Sprung gewesen, dass er wirklich historisch seines Gleichen sucht. Das Zweite ist, wir hatten aufgrund der Gaspreisentwicklung natürlich auch bei den Materialien eine Baukostensteigerung, die war so hoch, dass man teilweise die Projekte nicht mehr kalkulieren konnte. Wenn Sie sich vorstellen, viele Bauprodukte werden mit Gas hergestellt, und der Gaspreis ist explodiert, dass Bauherren einfach gesagt haben, es ist ein absolut unsicherer Markt und ich lege jetzt erstmal eine Pause ein.
Dazu kam natürlich, gerade im privaten Bereich, wenn sie die furchtbaren Bilder sehen, des Krieges in der Ukraine, der natürlich auch viele Menschen verunsichert, war das eine Situation, wo viele im letzten Jahr gesagt haben: Sie warten jetzt erstmal ab, bevor sie die größte Investition in ihrem Leben stemmen, wie sich die Situation entwickelt. Dafür habe ich ganz starkes Verständnis. Und mein Ziel ist, dass wir jetzt durch diese schwierige Phase kommen, indem wir eine Nachfragestützung machen, auch für die Baukonjunktur, durch einen absoluten Push des sozialen Wohnungsbaus.
Wir geben jetzt eine Rekordsumme aus. Wir haben nochmal extra ein Programm gestartet, 500 Millionen Euro für Azubi-Wohnungen und für Studentenwohnungen. Und ich sehe mit Freude, dass viele Bundesländer jetzt auch ihre eigenen Fördersätze für den sozialen Wohnungsbau deutlich erhöhen. Weil, das war über Jahrzehnte eine gute Tradition in Deutschland. Wir hatten mal drei Millionen Sozialwohnungen und wir sind jetzt runter auf eine Million. Und das merken natürlich ganz viele, die auf eine preiswerte Wohnung angewiesen sind.
Nicht mit der Gießkanne subventionieren
Gavrilis: Jetzt gibt es aber ein Bündnis aus Mieterbund und Baugewerkschaft und Sozial- und Bauverbänden, die sagen, 700.000 Wohnungen fehlen und sie fordern nicht weniger als ein, ja, Sondervermögen von 50 Milliarden Euro und sagen auch, die 14,5 Milliarden Euro, die sie für den sozialen Wohnungsbau ausgeben, das reicht nicht.
Geywitz: Das sind ja nur die Mittel, die der Bund ausgibt. Dazu kommen natürlich auch noch die vielen Milliarden aus den Ländern. Und das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, die wir jetzt überall sehen, dass die Länder wieder einsteigen in ihre Investitionen in den sozialen Wohnungsbau.
Wohnungsbau
Was die reformierte Neubauförderung leisten soll
Wohnungsbau
Was die reformierte Neubauförderung leisten soll
Mit einem neuen Förderprogramm will die Bundesregierung den stockenden Wohnungsbau in Deutschland ankurbeln. Das Programm soll zugleich dabei helfen, die deutschen Klimaziele zu erreichen. Was genau wird gefördert - und welche Kritik gibt es daran?
Und das Zweite ist natürlich: Sie müssen da sehr genau auch vorgehen und nicht mit der Gießkanne fördern, weil, ansonsten kommt es natürlich dazu, dass die Preise einfach nach oben gehen. Da zahlt dann aber auch jeder Bauherr die Zeche. Demzufolge ist die Förderung im Wohnungsbereich immer sehr sensibel zu steuern, damit das sozusagen keine Mitnahmeeffekte gibt und in die Preisbildung einkalkuliert wird.
Gavrilis: Jetzt gibt es aber die Bau- und Immobilienbranche, die sagt, wenn wir beim Thema Neubauförderung sind – das sind knapp über 1,1 Milliarden Euro, die Sie zur Verfügung stellen, das war früher wesentlich mehr, im zweistelligen Bereich – und jetzt sagt eben die Bau- und Immobilienbranche, das ist zu wenig und es gibt zu hohe Standards, vor allem Klimaschutzstandards. Warum gibt es da nicht mehr Geld, um eben den Neubau auch anzukurbeln, weil eben, und das zeigen auch die Daten, immer weniger Private, vor allem, bauen? Geywitz: Die Privaten bauen nicht, weil sie individuell jetzt erstens die Situation abwarten, dass sie sich beruhigt – preislich und natürlich auch von der Situation in Europa. Und das Zweite ist, dass die häufig ein Kalkulationsproblem haben, aufgrund der gestiegenen Bauzinsen. Da werden wir ab Sommer ein Programm starten, das Familien einen preiswerten Kredit für Immobilien gibt, damit sie genau dieses Zinsproblem klären können. Das, was in der Vergangenheit passiert ist, war ein allgemeiner Baukostenzuschuss. Das heißt, sie haben Geld des Staates bekommen und zwar nicht eine Zinsreduktion, sondern tatsächlich einen Zuschuss.
Keine Viert- oder Fünftwohnung für die Altersvorsorge fördern
Gavrilis: Aber das braucht man doch? Und jetzt setzen Sie auf Kredite.
Geywitz: Na ja. Also, ehrlich gesagt, wenn Sie ein Penthouse bauen für Ihre Altersvorsorge und dann … Gavrilis: Es muss ja nicht immer gleich ein Penthouse sein, man könnte ja auch sagen, es ist einfach ein ganz normales Einfamilienhaus. Geywitz: Okay, lassen Sie mich das doch mal erklären.
Gavrilis: Gerne. Geywitz: Die alte BEG-Förderung hat der Staat gezahlt für Wohngebäude und nicht Wohngebäude, Garage oder Wohnung. Er hat es gezahlt, egal ob die Wohnung klein war oder groß, da gab es den gleichen Zuschuss. Und er hat ihnen den Zuschuss gegeben, egal, ob sie so nett waren, anschließend den Zuschuss des Staates an die Mieter weiterzureichen und eine preiswerte Miete anzusetzen oder aber sich ein Penthouse in der Berliner Innenstadt zu kaufen und dann 18,50 Euro Miete zu nehmen.
Und da frage ich Sie, warum sollten wir das Steuergeld nehmen, um Menschen, die für ihre Altersvorsorge sich ihre vierte oder fünfte Wohnung besorgen und dazu noch einen Zuschuss geben. Das andere ist, wir haben uns die Zahlen angeguckt, im Januar letzten Jahres sind teilweise pro Tag eine Milliarde dieser Förderung rausgegangen, weil man sie auch für alles gekriegt hat. Und damit haben wir über 300.000 Wohneinheiten in Deutschland subventioniert – 300.000. Das ist mehr als die Baukapazität, die Fertigstellung, im Jahr 2021. Und das in einer Zeit, wo wir eine extrem hohe Auslastung der Bauwirtschaft hatten.
Und in diesen Markt pumpen sie dann nochmal zehn Milliarden, dann wundern sie sich anschließend, wenn die Gebäudepreise hochgehen und die Baustoffpreise hochgehen und der Handwerker ihnen eine Rechnung schickt, wo sie denken, dass sie die Handwerksfirma ja nicht kaufen wollten. Und deswegen ist es nicht so einfach zu sagen: ‚Gibst du viel Geld, kriegst du viel Wohnung‘. Sondern wenn sie das in diesem Bereich machen, kann auch eine zusätzlich staatliche Finanzierung dazu führen, dass es teurer wird.
Wir machen jetzt eine spezifische Förderung für den sozialen Wohnungsbau in Milliardenhöhe, Rekordsummen, damit die nicht wieder in der Zahl sinken, sondern wieder steigen. Wir machen eine Förderung für Azubi-Wohnungen und Studentenwohnungen. Wir unterstützen junge Familien mit einem geringen Einkommen dadurch, dass die preiswerte Immobilienkredite bekommen. Und wenn ein Investor – egal welcher Natur – sagt, ich will ein besonders ökologisch anspruchsvolles Haus bauen, dann kriegt er dafür auch noch mal eine Unterstützung, weil das tatsächliche Mehrkosten in der Bauphase mit sich bringt.
Diskussion um Erweiterung des Kanzleramtes
Gavrilis: Frau Geywitz, ich würde gerne noch auf einen Punkt kommen. Der ist insofern aktuell, als Bundesfinanzminister Christian Lindner, der hat Kritik geäußert an dem begonnenen Erweiterungsbau des Kanzleramtes – man kann es hier von unserem Studio so ein bisschen erkennen, dass da die ersten Bäume schon gefällt wurden. Lindner hat gesagt: „Ich glaube,“ – ich zitiere ihn – „dass in Zeiten von mehr Homeoffice und ortsflexiblem Arbeiten, ein mindestens 800 Millionen teurer Neubau neben dem Kanzleramt entbehrlich ist.“ Teilen Sie seine Ansicht? Geywitz: Im Fall des Baus des Bundeskanzleramts haben wir jetzt natürlich die Situation, dass die Baufeldfreimachung da ist. Wir sind am Ende eines mehrjährigen Planungsprozesses. Und wenn sie ein Gebäude planen, mit 770 Millionen Kosten, können sie davon ausgehen, dass in der Planungsphase locker ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag plus Vergabe der vorbereitenden Ausgaben schon getätigt wurde.
Das heißt, die Wirtschaftlichkeitsberechnung muss jetzt so positiv sein, dass man die verlorenen Investitionen mit einspart. So, und dann ist die Frage Homeoffice. Da ist ja so, Mitarbeiter im Kanzleramt unterstehen ja der absolut höchsten Sicherheitsstufe. Das heißt, ich gehe mal davon aus, dass die ihr Homeoffice nicht im örtlichen WLAN betreiben können, mit ihrem Fritz-Router, sondern die brauchen alle, wenn sie zu Hause arbeiten eine absolut sichere Standleitung. Wenn sie das mit ein paar hundert Mitarbeitern mal machen, kann ich mir vorstellen, dass da auch eine extrem hohe Summe zur Verfügung kommt. Und natürlich können die ihre Akten nicht am Montagabend mit in die S-Bahn nehmen und damit gemütlich nach Blankenfelde fahren und es da ins Wohnzimmer legen und nachlesen.
So, das klingt immer alles so super. Deswegen warne ich davor zusagen, das sparen wir jetzt ein, wenn wir den Bau nicht machen. Weil, das, was auf jeden Fall passiert, wenn man in der jetzigen Situation sagt, wir stoppen das – egal was – und wir planen das nochmal um, dauert das mindestens zwei bis drei Jahre.
Gavrilis: Aber man könnte Geld sparen, was man anders investieren könnte? Geywitz: Ja. Und in diesen zwei bis drei Jahren, die Sie für die Umplanung brauchen, haben Sie aber gleichzeitig wieder so eine Baukostensteigerung, dass Sie dann am Ende des Tages vielleicht etwas Kleineres bauen, was genauso teuer wäre, wie etwas Größeres drei Jahre davor. Gavrilis: Ich muss abkürzen. Der Neubau oder der Erweiterungsbau ist nicht entbehrlich, so wie es Herr Lindner sagt? Geywitz: Wichtig ist, dass die öffentliche Hand bei ihren Investitionen immer dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegt. Das heißt, dass wenn jemand jetzt feststellt, eine andere Lösung wäre vermutlich preiswerter, dass man das neu kalkulieren muss. Und da muss man dann natürlich die schon getätigten Vorinvestitionen mit einberechnen, sodass mir ein wenig die Fantasie fehlt, dass eine andere Lösung jetzt preiswerter wäre als die, die man vor vielen Jahren als die wirtschaftlichste berechnet hat.
Mietpreisbremse: Justizminister hat andere Prioritäten
Gavrilis: Ich würde zum Schluss noch zu einem nicht ganz unwichtigen Punkt kommen, nämlich Mieten. Die SPD versteht sich selbst als Partei der Mieterinnen und Mieter. Jetzt muss man sagen, in dieser Regierung passiert in Sachen Mieterschutz eigentlich relativ wenig. Die Bundesregierung zögert, bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorhaben umzusetzen, darunter die Absenkung der Kappungsgrenze, um in angespannten Märkten die Mieten zu begrenzen oder auch eben die Verlängerung der Mietpreisbremse oder auch die Wohngemeinnützigkeit. Das soll alles kommen, aber wo bleibt es?
Geywitz: Bei der Wohngemeinnützigkeit, das ist ja in meinem Ministerium in der Verantwortung, da sind wir gerade intensiv dabei, die konzeptionellen Arbeiten voranzubringen. Wir hatten auch mit Verbänden, mit Interessierten, mehrere Workshops zu den einzelnen Punkten. Also, wie ist die steuerliche Ausgestaltung, was verstehen wir überhaupt unter Wohngemeinnützigkeit, wie hoch dürfen die Mieten dann sein, was braucht man auch für ein Fördersetting, damit das zum Beispiel für Kommunen attraktiv ist, dann diese Gemeinnützigkeit auch anzubieten.
Wir haben auch sehr intensiv gesprochen jetzt mit den Verbänden in der Wohnungswirtschaft, wo nicht alle hellauf begeistert sind, um auch zu zeigen, dass das jetzt eine zusätzliche Möglichkeit ist und keine Gefährdung der jetzigen Strukturen. Sondern wirklich auch für Investoren, die insbesondere bei den ESG-Kriterien nach einer guten Anlagemöglichkeit für das S-Kriterium suchen, sehe ich eine große Attraktivität, und da sind wir auch in guten Gesprächen mit dem Finanzministerium und wollen das jetzt auch im Frühjahr jetzt vorstellen im Deutschen Bundestag, sowohl im Bauausschuss, aber auch im Finanzausschuss. Bei den mietrechtlichen Fragen ist es so, Sie haben ja gesagt, die SPD ist die Partei für die Mieterinnen und Mieter…
Gavrilis: Sie versteht sich so, ja.
Geywitz: Es ist allerdings so, dass die FDP, die ja in dieser Frage die Zuständige im Ressort von Herrn Buschmann ist, sich offenbar weniger als die Partei der Mieterinnen und Mieter versteht. Jedenfalls hat sie da eine andere Priorität. Ich sage das schon seit Anbeginn, dass es zwar jetzt nicht so besonders komplizierte Gesetzesvorhaben sind und ich sehr frustriert bin, dass es so lange dauert.
Allerdings ist es so, das federführende Ressort in der Bundesregierung legt in eigener Verantwortung fest, welche Gesetze sie als erste und dann anschließend bearbeiten, und demzufolge müssten sie da natürlich Marco Buschmann fragen, der an dieser Stelle eine andere Priorität hat als Klara Geywitz. Das wissen wir beide auch voneinander. Und immer wenn ich ihn sehe, erinnere ich ihn daran. Aber er hat andere Gesetzesvorhaben, die er jetzt erst mal prioritär bearbeitet.
Bezahlbarer Wohnraum für ausländische Fachkräfte
Gavrilis: Deutschland braucht Fachkräfte – und das noch abschließend – vor allem aus dem Ausland. Was sagen Sie konkret, sagen wir, einer Erzieherin aus Portugal, die hier Sprachkurse besucht und eine Wohnung sucht, in Berlin, Potsdam, in Köln, wo auch immer, und sagt, ich kann mir einfach nichts leisten, denn für zwei Zimmer 1000 Euro kalt auszugeben, das geht einfach nicht?
Geywitz: Der würde ich sagen, Deutschland ist ein sehr heterogenes Land. Es gibt 1,7 Millionen leerstehende Wohnungen, es gibt einen Fachkräftemangel, zum Beispiel auch in Thüringen, in Sachsen, in Gegenden, wo wir sehr, sehr niedrige Mieten haben. Das ist das eine. Und das andere ist…
Gavrilis: Soll sie da hin? Geywitz: Das wäre auch eine supergute Idee. Das ist ganz, ganz deutlich, dass wir natürlich gerade in den Ostländern in einen massiven Fachkräftemangel reinrutschen und natürlich jetzt viele auch die Attraktivität des Landlebens auch nach Corona wiederentdecken. Und das wird unserem Land guttun, wenn wir uns nicht nur auf die Ballungszentren konzentrieren.
Und das andere ist, dass wir wieder sozialen Wohnungsbau brauchen, damit die Förderung des Staates bei den Leuten ankommt, die tatsächlich eine preiswerte Wohnung brauchen. In Hamburg, zum Beispiel, sind 50 Prozent der Bevölkerung wohnberechtigungsschein-berechtigt. Und demzufolge ist das mein Petitum: Milliarden für die Immobilienfinanzierung, ja, auf jeden Fall, aber nicht Milliarden für die Immobilienwirtschaft, sondern für den sozialen Wohnungsbau.
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gelesen und erkenne diese ausdrücklich an. | Klara Geywitz im Gespräch mit Panajotis Gavrilis | Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hat die Kürzungen bei der Neubauförderung verteidigt: Sie wolle stattdessen den sozialen Wohnungsbau fördern. Die geplante Umstellung der Heizungssysteme werde sozialverträglich gestaltet, sagt Geywitz. | "2023-03-19T11:05:00+01:00" | "2023-03-18T13:57:06.257000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/interview-der-woche-klara-geywitz-verteidigt-heizwende-und-will-sozialen-wohnungsbau-foerdern-100.html | 349 |
FDP-Politiker warnt vor einem "erheblichen Eingriff in die Privatsphäre" | Jasper Barenberg: Bis Ende der Woche hat die Bundesregierung noch Zeit, dann droht ein Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel, dann drohen Strafzahlungen. Diese Pistole hat die EU-Kommission der Koalition auf die Brust gesetzt, weil sich Union und FDP beim Thema der sogenannten Vorratsdatenspeicherung lange schon unversöhnlich gegenüberstehen, weil sich die Koalition deshalb nicht auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf einigen konnte – ein Gesetz, das den europäischen Anforderungen und Regeln entspricht. Auch der jüngste Vorschlag aus dem FDP-geführten Justizministerium wurde vom CSU-geführten Bundesinnenministerium zurückgewiesen. Am Telefon mitgehört hat Jimmy Schulz, er sitzt für die FDP im Bundestag. Einen schönen guten Tag, Herr Schulz.Jimmy Schulz: Ja guten Tag!Barenberg: Wie peinlich ist es eigentlich für die Koalition, dass sie sich seit Monaten und Monaten nicht verständigen kann auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf?Schulz: Also ich glaube nicht, dass das peinlich ist, denn es war ja von Anfang an klar, dass wir als FDP und gerade mit der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hier eine ganz klare Linie haben, dass es eine sechsmonatige anlasslose Speicherung aller Verkehrsdaten aller Kommunizierenden in Deutschland nicht geben wird. Das ist doch keine Überraschung.Barenberg: Ja, aber geeinigt haben Sie sich nicht, und das ist ja keine befriedigende Situation für eine Bundesregierung, die jetzt dann drauf und dran ist, Gefahr zu laufen, Strafzahlungen leisten zu müssen.Schulz: Na ja, also so weit sind wir ja noch nicht. Jetzt haben wir ja erst mal diesen Termin Ende nächster Woche, und ob dann ad hoc sofort irgendwas passieren wird, das werden wir dann sehen, oder ob man da sich in Europa vielleicht auch noch ein bisschen Zeit lassen wird. Denn es ist ja nun so: Gerade zum Beispiel Irland hat ja vor dem EuGH noch eine Klage anhängig gegen die Vorratsdatenspeicherung. Des Weiteren ist ja seit vielen, vielen Monaten eine Evaluierung auf europäischer Ebene, die möglicherweise hinterfragt, ob denn das überhaupt so richtig ist, was man da macht mit dieser Vorratsdatenspeicherung, anhängig. Auch da warten wir übrigens auf Ergebnisse, die uns schon vor Monaten, nämlich Ende letzten Jahres, schon mal versprochen worden waren. Die sollen jetzt im Juni, Juli wohl vorliegen. Ich halte es für nicht klug, wenn wir jetzt etwas beschließen sollten, was dann möglicherweise und damit auch die Internetprovider zum Beispiel oder die Telekommunikationsanbieter zu etwas verpflichten würde, was dann nach der Evaluierung möglicherweise sich ganz anders darstellt.Barenberg: Herr Schulz, Sie haben gerade gesagt, nun warten wir mal die Frist ab. Also Sie haben kein Problem damit, dass Deutschland in dieser Frage als einziges Land in der EU eine Richtlinie der Europäischen Union nicht in geltendes Recht umsetzt? Das ist für Sie kein Problem?Schulz: Sie haben ja auch gerade im Bericht gehört, dass wir momentan 74 solcher Richtlinien nicht umsetzen und da auch schon in anderen Bereichen, nämlich zum Beispiel beim VW-Gesetz, Strafzahlungen in Aussicht stehen. So weit sind wir ja hier noch gar nicht.Barenberg: Dann kommt es auf die eine oder andere mehr auch nicht an?Schulz: Nein, das sage ich gar nicht. Ich sage nur, dass es sich hier nicht um einen einmaligen Sonderfall handelt, und übrigens ist es ja mitnichten so, dass alle europäischen Mitgliedsstaaten diese Richtlinie schon umgesetzt hätten. Da sind einige Staaten dabei, die auch ernsthafte Probleme damit haben, und ich sage nur, dass es vielleicht nicht klug wäre, jetzt etwas umzusetzen, was in zwei, drei Monaten schon wieder sich ganz anders darstellen könnte. Das ist meiner Meinung nach nicht hilfreich, weil wir damit nämlich die Kommunikationsanbieter und auch die Internetserviceprovider heute zu etwas möglicherweise verpflichten würden, was sich dann in Monaten oder in einem halben Jahr ganz anders darstellt und sie dann alles wieder umstellen müssen. Das halte ich nicht für hilfreich.Barenberg: Herr Schulz, Einwände gegen diese Haltung, jetzt erst mal noch ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, dürften insbesondere die Fahnder haben, die Polizisten, die Praktiker, die mit der Aufklärung schwerer Straftaten zu tun haben, die ja ein ums andere Mal eingefordert haben, dass sie ganz dringend Zugriff in bestimmten Fällen brauchen auf solche Kommunikationsdaten. Was sagen Sie denen denn, die sollen jetzt auch ein paar Monate noch warten, da kann die eine oder andere Straftat eben unaufgeklärt liegen bleiben?Schulz: Also ich habe mich sehr ausführlich insbesondere gerade mit den Ermittlern, die in diesen Bereichen ermitteln, beschäftigt. Es handelt sich ja hierbei, bei der Vorratsdatenspeicherung, um eine Ermittlungshilfe, die in besonders schweren Fällen, nämlich internationale Kriminalität, internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität greifen soll, so jedenfalls ursprünglich der Plan. Wenn man mit denen spricht: Was brauchen die denn wirklich? Das, was die Vorratsdatenspeicherung, wie wir sie umgesetzt hatten, also die Große Koalition, und dann vom Bundesverfassungsgericht ja auch wieder kassiert wurde - zum Glück -, vorgesehen hat, ist ein deutliches Mehr als das, was die Ermittler wirklich brauchen. Wenn man sie fragt, was wollt ihr denn wirklich, dann kommt die Antwort fast unisono immer heraus, wir brauchen eigentlich nur die Zuordnung von einer IP-Adresse – das ist so eine Art Telefonnummer im Internet – zu der Anschlusskennung, also wem gehört die denn, weil die ja alle 24 Stunden ungefähr in den meisten Fällen verändert werden beziehungsweise durchtauschen. Das heißt also, diese Zuordnung von der Telefonnummer zu der Anschlusskennung, also Adresse zum Beispiel oder Name und Adresse, wo denn diese Telefonnummer für die 24 Stunden auffindbar war. Diese Zuordnung würden wir ja mit dem Vorschlag der Ministerin, der jetzt schon seit über einem Jahr auf dem Tisch liegt, auch als Gesetzesentwurf, lösen, weil diese Taten sollen ja in diesem Quick-Freeze-Plus-Verfahren für sieben Tage gespeichert werden. Jetzt kann man darüber streiten, ob dieser Zeitraum vielleicht ausreichend sei, aber was mir die Ermittler sagen ist, dass ein Zeitraum von vier Wochen mehr als ausreichend ist genau für das, was sie brauchen. Den ganzen Rest der Vorratsdatenspeicherung, wer wem eine E-Mail geschickt hat und, und, und, und, und, das brauchen die gar nicht. Ebenso brauchen sie nicht eine Speicherung von sechs Monaten. Also ich warne davor, dass wir sozusagen die Bedürfnisse der Ermittler übererfüllen und damit natürlich auch einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre aller in Deutschland Kommunizierenden tun.Barenberg: Das sagt der FDP-Innenpolitiker Jimmy Schulz. Vielen Dank, Herr Schulz, für dieses Gespräch.Schulz: Danke sehr.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Jasper Barenberg sprach mit Jimmy Schulz | Mit der FDP werde es "eine sechsmonatige anlasslose Speicherung" von Kommunikationsdaten nicht geben, sagt der FDP-Abgeordnete Jimmy Schulz. Für Behörden, die bei schweren Straftaten ermitteln, sei eine Datenspeicherung von vier Wochen mehr als ausreichend. | "2012-04-17T13:10:00+02:00" | "2020-02-02T14:44:06.602000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/fdp-politiker-warnt-vor-einem-erheblichen-eingriff-in-die-100.html | 350 |
Erst ausprobieren, dann entscheiden | In naturwissenschaftlichen Fächern ist die Quote der Studienabbrecher nach dem ersten Semester sehr hoch. (dpa / picture alliance / Thomas Frey)
Mit 18 Abitur, dann gleich an die Uni. Und am besten ein zukunftsträchtiges ingenieurwissenschaftliches Fach studieren - wegen des Fachkräftemangels. Aber viele Studienanfänger scheitern, die Abbrecherquoten sind hoch. Weil ein MINT-Fach eben doch nicht das Richtige ist. An der TU Berlin können Abiturienten ein Jahr lang genau das testen. Ohne Leistungsdruck.
Testlauf Studium
Morgens um kurz vor zehn im großen Hörsaal des Mathematikgebäudes der TU Berlin. Gerade ist die Vorlesung "Organische Chemie für Hörer anderer Fakultäten" zu Ende gegangen. Unter den Studierenden sind auch Tim Zander und Theresa Staudacher, 19 und 18 Jahre alt. Sie besuchen als eingeschriebene Studierende Lehrveranstaltungen wie alle anderen auch. Was sie jedoch unterscheidet: Sie absolvieren die letzten Wochen ihres Schnupperstudiums MINT grün und haben ein Jahr lang ausprobiert, ob ein Studium im ingenieurwissenschaftlichen, mathematischen oder naturwissenschaftlichen Bereich überhaupt das Richtige für sie wäre.
Tim Zander: "Das Angebot, mal auszuprobieren, fand ich super, weil ich mir nicht gleich nach dem Abitur, mit 18 Jahren, riesigen Druck aufbauen und voll anfangen wollte zu studieren, sondern erstmal ruhig gucken. Und dann nach einem Jahr weiß ich, was ich machen will, dann bin ich auch motiviert, weil ich weiß, auf was es hinausläuft. Und das heißt: Wissen, was studiere ich danach. Ich habe Chemie mir angeguckt, dann habe ich mir Mathe angeguckt. Dann habe ich mir Mikrobiologie angeguckt, das war richtig super, hat mich sehr überzeugt." Theresa Staudacher: "Ich hatte Mathe und Chemie-LK. Und das hat mich total interessiert. Aber ich wollte eben nicht Mathematik studieren oder reine Chemie. Und ich hatte gar keine Ahnung, was es sonst noch gibt."
Anforderungen des Uni-Allltags
Inzwischen weiß Theresa Staudacher, welche Anforderungen der Uni-Alltag bereit hält: "Ich habe Vorlesungen, dann Tutorien. Und ich habe auch MINT grün-Labore, die extra angeboten werden. Und man muss Hausaufgaben machen. So ein ganz normaler Studienalltag, den lernt man auch bei MINT grün halt kennen."
Die Studierenden auf Probe können zwar bereits Leistungspunkte erwerben und für ein späteres Fachstudium anrechnen lassen. Im Vordergrund des Orientierungsjahrs steht jedoch der Realtiätscheck. Denn viele Studienanfänger in den MINT-Fächern erleiden einen Schock, wenn sie in den Grundlagenvorlesungen mit Mathematik, Physik oder Chemie konfrontiert werden, die nichts mehr mit dem vertrauten Schulstoff zu tun hat. Die Folge: Die Studienabbrecherquoten liegen in den Ingenieurstudiengängen im Schnitt noch immer bei 40 Prozent. Tim Zander kommt zwar mit fast allem gut zurecht, hat nun aber realistischere Vorstellungen von den getesteten Fächern. Auch weil das Studienjahr intensive Betreuung und viele praktische Übungen vorsieht. Tim Zander: "Durch MINT grün habe ich dann mitbekommen, wie die Studiengänge Lebensmitteltechnologie und Biotechnologie in der Praxis sind, dadurch dass ich verschiedene Praktika und zudem auch noch ein Projekt mitmachen konnte. Und habe dabei entdeckt, dass Biotechnologen und Lebensmitteltechnologen größtenteils im Labor arbeiten - was für mich nichts wäre. Theresa schwankt noch zwischen Maschinenbau oder Verfahrenstechnik: "Aber ich weiß auch, dass Studieren genau das Richtige für mich ist. Das ist so die größte Erkenntnis - und dass MINT genau das ist, was ich will."
Seit zwei Jahren gibt es das Schnupperstudium
Solche Äußerungen freuen Christian Schröder, den Projektleiter von MINT grün. Das Projekt läuft seit zwei Jahren und wird aus Mitteln des Qualitätspakts Lehre des Bundesbildungsministeriums finanziert. 177 Studierende waren es im zweiten Durchlauf. Bislang sind vier Fakultäten daran beteiligt, bald könnten auch die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer dabei sein. Noch liegen keine konkreten Zahlen über die Wirkung des Schnupperstudiums vor, "aber bisher, nach allem was wir bis jetzt wissen, sieht es gut aus, dass diese Studierenden sich eben nach einem Jahr viel bewusster für ein Studium entschieden haben, eine fundierte Studienwahl getroffen haben. Und hinterher nicht mehr abbrechen", so Schröder.
Die TU scheint mit ihrem Orientierungsjahr im Trend zu liegen. Es gibt Nachahmer. Schröder: "Also, wir haben uns schon ausgetauscht mit mehreren Hochschulen, die uns gefragt haben, wie wir es gemacht haben, um ein ähnliches Konzept bei sich selbst aufzubauen. Ein direktes Vorbild waren wir für ein jetzt in diesem Wintersemester startendes Programm: Das Studium MINT an der TU München. Die haben sich sehr intensiv mit uns ausgetauscht, auch im Vorfeld, um Impulse zu kriegen, wie sie das weiterentwickeln." | Von Mareike Knoke | Besonders in den naturwissenschaftlichen Studiengängen ist die Abbrecherquote sehr hoch. 40 Prozent der Erstsemester setzen ihr angefangenes Studium nicht fort. Abhilfe könnte ein Projekt der TU Berlin verschaffen, das darauf und dran ist, Schule zu machen. | "2014-07-09T14:35:00+02:00" | "2020-01-31T13:51:47.822000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/schnupperstudium-erst-ausprobieren-dann-entscheiden-100.html | 351 |
Radiolexikon Gesundheit: Seekrankheit | " Es ist die Tatsache, dass das visuelle System sagt: Ich bewege mich nicht, und das Gleichgewichtsystem insistiert: Ich bewege mich doch, und dieser Konflikt, wenn das anhält lange genug, dann erreicht jeder seine Schwelle, wo Neurotoxine ausgeschüttet werden und das Brechzentrum angesprochen wird, dann löst das die sogenannten Kinetosen oder Bewegungskrankheit aus."Sie treten vor allem eben bei der Nutzung moderner Transportmittel auf. Aber Schiffe, Flugzeuge, Busse - die gibt es doch auch nicht erst seit gestern. Wieso hat sich der Mensch nicht daran gewöhnt?" Die Evolution geht viel langsamer. Früher haben wir auch gesagt, Kinetosen ist eine "man-made" Symptomatik, dadurch dass er dieses künstliche Transportsystem benutzt. Wo fängt man aber an. Zum Beispiel Kamelreiten leiden viele unter Kinetosen, Pferdereiten weniger, also es ist die Gangart und bestimmte Frequenzen der Bewegung, wo offensichtlich der Mensch besonders empfindlich ist."Und das trifft für die Mehrheit zu. Nur etwa 15 Prozent der Menschen sind fast oder ganz unempfindlich gegen die Reisekrankheit. Dass Frauen häufiger an Reiseübelkeit leiden als Männer, ist nicht bewiesen. Nur eine Gruppe ist nachweislich besonders empfindlich:" Ich wurde als Kind grundsätzlich reisekrank, also schon bei fünf Kilometern Autofahrt, das hat sich aber alles im Lauf der Jahre - mit 14, 15 Jahren war es schlicht und ergreifend weg."Vielleicht hat diese gar nicht seltene Erfahrung Stefan Burkhart ermutigt, später Reisekaufmann zu werden. Was Kinder von Erwachsenen unterscheidet, erläutert der amerikanische Professor in Berlin:" Sie haben ein internes Modell, das überwacht und steuert, wie eine Bewegung abläuft. Wenn Sie die Straße entlang laufen oder wenn Sie Ski fahren, normalerweise müssen Sie nicht denken, was Sie machen, das läuft automatisch. Und bei Kindern sind sie in der Entwicklungsphase bis sieben, acht Jahre, beim Aufbau von diesen verschiedenen internen Modellen, die das Verhaltensrepertoire steuert oder bestimmt. Und da sind sie einfach wesentlich empfindlicher, wenn sie passiv bewegt werden. Auf der anderen Seite, sie spielen gerne mit dem Gleichgewicht, Sie sehen viele Kinder, die drehen sich, und dann fallen sie um und kichern, und sind euphorisch. "Sehr gut möglich ist ferner, dass bei Reisekrankheiten oft auch seelische Faktoren eine Rolle spielen. Der Inhaber eines Reisebüros in Berlin hat da so seine Erfahrungen:" Es gibt immer wieder Fälle von Leuten, die vor der Reise sagen, sie bekämen es, und nach der Reise zurück kommen und sagen, sie hätten es nicht."" Ich denke schon, dass wenn eine ängstliche Person in ein Flugzeug steigt, und es fangen Turbulenzen an, dann es kann eine Prädisposition dazu führen. Es gibt Leute, die müssen sich nur vorstellen, dass sie eine Wendeltreppe hoch gehen, und es wird denen schwindelig. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster hängen damit, weil es ist ein bisschen umstritten und schon spekulativ, Temperatur, Tagesrhythmus, Diät, psychischer Zustand, Müdigkeit, also das spielt alles eine Rolle. Also es wäre schön, wenn man das wirklich dingfest kriegen könnte, aber wir sind immer noch nicht so weit."Was kann man tun, um möglichst zu vermeiden, dass einem übel wird? Vor allem die Welt um sich herum beobachten, sagt Andrew Clarke." Also klassischerweise, wenn man auf einem kleinen Boot Probleme hat, setzt man sich am besten ans Ruder, in der Situation soll man so viele authentische, übereinstimmende Sinnesinformationen bekommen wie möglich, das heißt, auf den Horizont schauen, so dass man sieht, wie das Boot sich bewegt visuell, das schlimmste, was man machen kann, ist unter Deck zu sitzen und vielleicht ein Buch zu lesen. Auf einem großen Boot: draußen stehen, und beobachten, was abläuft, nicht unter Deck sitzen und Angst haben. Im Auto: Vorne sitzen und schauen, wie das Auto sich bewegt. Nicht im Fonds mit einem Comic oder einer Zeitung sitzen und lesen, ein typisches Beispiel, was man nicht machen soll. Flugzeug ist schwieriger, da ist man ziemlich ausgesetzt, da kann man eigentlich nur die üblichen Sachen machen, gut ausschlafen, nicht zu viel Alkohol trinken, wenn es schlimm wird nicht zu viele Kopfbewegungen machen. Es gibt Leute, die chronisch einfach nicht fliegen können sie müssen zu Medikamenten greifen."Diese Mittel sind "Antihistaminika", also Arzneien, die den erwähnten Botenstoff bremsen, in Form von Tabletten oder Kaugummis. Sie wirken gut, aber:" Das Problem bei denen: sie sind alle zentralvernös dämpfend, und das ist der Nachteil, da ist man einfach "lädiert", wenn man solche Medikamente nimmt. Professionelle Flieger, Astronauten zum Beispiel, die nehmen teilweise eine Depotspritze dann können sie damit zurecht kommen."Gibt es eine Alternative zu den müde machenden Antihistaminika? Der Reisefachmann:" Auch wir werden nach diesen Tipps gefragt. Ich habe mich dann selbst mal bei einem befreundeten Arzt erkundigt, ich dachte, ich muss die erste Kreuzfahrt machen und hoffentlich werde ich nicht seekrank. Und er sagte mir: Nimm kandierten Ingwer. Und ich habe schon festgestellt auf einem Kreuzfahrtschiff, dass nach dem Essen im Restaurant ein Ober mit weißen Handschuhen und einem silbernen Tablett und - kandiertem Ingwer steht."Warum nicht, sagt Professor Clarke, auch wenn der Nutzen wissenschaftlich nicht endgültig belegt ist:" Allgemein gesagt: Wenn es wirkt, dann soll man es machen. "Clarkes Hauptaufgabe ist die Weltraumforschung. Die Charité-Forscher machen selbst entsprechende Tests. Werden sie reisekrank?" Im Rahmen unser Weltraumgeschichten, wir sind mehrmals Parabelflüge geflogen. Schwerelosigkeit und dann doppelte Schwerkraft, immer abwechselnd, 27 mal hintereinander. Ich habe noch nie Probleme damit gehabt. Aber wenn ich auf einer Kinderschaukel sitze, da spüre ich, dass es mich irgendwie ein bisschen ankitzelt. "Und noch mehr wundert sich der Weltraumforscher über Menschen, die sich auf der Kirmes freiwillig wildesten Fahrten aussetzen:" Ich staune immer über Feste hier, die Leute gehen auf diese Maschinen - wir würden die zugelassen bekommen, für Experimente - sie werden rumgeschleudert, und die kommen raus. Also das zeigt, dass da irgend was ausgelöst wird im Nervensystem, sprich mit euphorischer Wirkung." | Von Justin Westhoff | Mit Flugzeug, Auto, Bus oder Schiff: auf in die Ferien. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er 'was erleben - oft aber leider im negativen Sinne: Übelkeit, Schwindel, Erbrechen. | "2007-07-10T10:10:00+02:00" | "2020-02-04T14:03:16.869000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-seekrankheit-100.html | 352 |
Über Transidentität bei Kindern | Die Geschlechterstereotype werden schon Babys aufgedrängt: Der rosa Schnuller ist für das Mädchen, der blaue für den Jungen. Doch was ist, wenn sich das Kind nicht mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht identifiziert? (Patrik Pleul/dpa picture alliance)
"…hier sieht man auch: Es ist ein Junge…"
Statistik der Geburten, Deutschland, 2015. Lebendgeborene: 737.630
"Ein Junge! Oh!"
Davon männlich: 378.503
Christian Meyer: "Wir wussten dann schon im Vorfeld, dass es ein Junge werden wird. Wir haben uns auf einen Jungen gefreut und haben auch einen Jungen großgezogen, vier Jahre lang." Und dann? "Also war dann einfach nicht. Emma. Emma hieß vorher Vincent."
Davon weiblich: 359.127
"Die ersten Jahre hab ich mit Jessica verbracht." - Aber? - "Ich bin Cosmo. Das Pronomen, was ich verwende, ist 'er'."
Timo Nieder: "Die Ärzte und Psychologen haben Angst, die Eltern haben Angst. Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Aber sonst haben alle Angst. Was Falsches zu machen."
Autorin: "Und du? Als wer wurdest du geboren?"
Alex: "Naja, ich wurde als Mensch geboren. Und meinen Geburtsnamen erwähne ich nicht."
Es beginnt spätestens kurz nach der Geburt: Ärzte oder Hebammen werfen einen Blick auf die Genitalien eines Kindes und weisen ihm ein Geschlecht zu: Kind mit Penis männlich, Kind mit Vagina weiblich. Fast immer ist diese Zuordnung mit Erwartungen verbunden.
"Ich freute mich aufs Zöpfe flechten, Kleider kaufen", heißt es in einem Bericht der Familie eines Trans*Jungen, aufgeschrieben für den Verein Trans-Kinder-Netz. "Als Greta zwei Jahre alt war, bekam sie einen Puppenwagen. Ein Mädchen braucht einen Puppenwagen."
"Philipp freut sich, dass er einen Bruder bekommt", schreibt die Mutter eines Trans*Mädchens. "Bei uns wird in Zukunft sicher viel Fußball gespielt."
Die Mehrheit der Kinder empfindet sich als Mädchen oder Junge. Übereinstimmend mit ihrem Körper und dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Und die meisten verhalten sich auch so, mehr oder weniger, wie Eltern und Freunde, Verwandte und andere Bezugspersonen es erwarten - von einem Mädchen oder einem Jungen.
Die meisten. Aber nicht alle.
"Bei meiner Tochter war es so, dass die dann, in den Kindergarten gehend, Mädchen-Kleidung anziehen wollte, also klassische Mädchenkleidung, die wir als solche bezeichnen", berichtet Christian Meyer, Vater von Emma. Die nach der Geburt als männlich bestimmt wurde:
"Der Nachteil ist dann unser liberales Milieu, da ist's egal ob Mädchen- oder Jungskleider oder so. Bis man kapiert: Diese klare Zuschreibung ist das, was sie eigentlich will."
Seit dem Jahr 2000 werden immer mehr Kinder wegen Fragen der Geschlechtsidentität vorstellig
"Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst" (picture alliance / dpa / ZB / Patrick Pleul)
Trans-Menschen empfinden einen Widerspruch - zwischen dem Geschlecht, in dem sie sich selbst erleben - und dem Geschlecht, das ihnen aufgrund ihrer Körpermerkmale zugewiesen wurde. Erleben sie sich klar dem sogenannten "Gegengeschlecht" angehörig, spricht man auch von transidenten Personen, oder - ein wenig veraltet - von Transsexuellen.
"Und das sagen auch kleine Kinder schon, wenn sie fähig sind, sich sprachlich zu äußern, also mit drei, vier. Sätze wie: Ein Mädchen sein, das fühlt sich einfach besser an, das da unten, das gehört nicht zu mir, das soll ab - fällt es irgendwann noch ab?", sagt Karoline Haufe vom Verein Trans-Kinder-Netz:
"Und es kommen manchmal solche Wünsche: Warum kann ich denn nicht nochmal geboren werden, dann möchte ich gleich als Mädchen geboren werden und warum ist denn das so?"
Wie viele Kinder und Jugendliche diesen Konflikt erleben, dazu gibt es in Deutschland keine repräsentativen Zahlen. Etwa seit Anfang 2000 beobachten Ärzte und Psychologen jedoch, dass immer mehr Kinder mit Fragen zu ihrer Geschlechtsidentität bei ihnen vorgestellt werden. In der Spezial-Sprechstunde des Universitätsklinikums Frankfurt/Main etwa suchten im Zeitraum von 1987 bis 2000 insgesamt 49 Minderjährige Rat. Inzwischen ist ihre Zahl auf etwa 640 gestiegen - jede Woche kommen vier neue dazu.
Die Kinder stehen im Zentrum einer aufgeladenen Kontroverse. Im Kern geht es um die Frage, wer sie überhaupt sind. Gibt es als Jungen geborene Kinder, die tatsächlich Mädchen sind - und umgekehrt? Und wenn ja: wie unterstützt man sie dann am besten darin, ihre Identität zu leben? Oder: ist es Ausdruck einer Störung, wenn als Jungen oder Mädchen geborene Kinder sich transident äußern? Muss man ihnen dann nicht eher helfen, die Folgen dieser Störung zu lindern?
"Ich hab auch früher eher mit Matchbox gespielt statt mit Barbies. Und ich hab mich - die meisten würden das jetzt als männlich betrachten - angezogen", schildert Cosmo. "Und dann haben auch die Mädchen versucht mich zu schminken oder mir einzureden, ich müsste mich anders anziehen. Und da hab ich dann gemerkt, dass das einfach nicht ich bin. Ich fand das nicht nur körperlich unbequem, ich hab mich gefühlt, als würde ich irgendein, auch wirklich hässliches, Kostüm tragen. Ich hab mich wie so ein Clown gefühlt. Der da einfach nicht reinpasst."
"Lea spielte hin und wieder Prinz und Prinzessin, aber nur, wenn sie der Prinz sein durfte", berichtet die Familie von Leo. "Mit fünf Jahren begann der Schwimmkurs. Lea weigerte sich, das Bikinioberteil anzuziehen, weil Jungs sowas nicht haben. Sie lief auch sonst beim Baden in die Jungenumkleide und auf das Jungenklo."
Einige Studien zeigen, das Geschlechtsidentitätsstörungen mit der Pubertät meist vergehen ...
Hartmut Bosinski: "Einzelne Symptome rechtfertigen keinesfalls die Vergabe einer Diagnose - der Junge, der lieber Klavier als Fußball spielt, das Mädchen, das lieber auf Bäume klettert als mit Barbie spielt, hat keine Störung. Es hat eine zu tolerierende Varianz des geschlechtlichen Verhaltens."
Bis zu fünf Prozent aller Kinder unter zwölf Jahren zeigen im Laufe ihrer Kindheit sogenanntes "geschlechts-atypisches Verhalten". Phasen, in denen sie von den Normen abweichen, die in der Gesellschaft für Mädchen und Jungen gelten.
"Dagegen ist die Geschlechtsdysphorie, also eine Vielzahl dieser Merkmale verbunden mit Leidensdruck, äußerst selten. Wir gehen von einer Häufigkeit von unter 0,1 Prozent aus."
Hartmut Bosinski ist Professor für Sexualmedizin in Kiel. Er ist einer der ersten Wissenschaftler in Deutschland, die zur Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen geforscht haben.
In den meisten Fällen - so zeigen Studien aus den Niederlanden und Kanada - vergeht die Störung wieder. Ein Großteil der Kinder mit Geschlechtsdysphorie arrangiert sich im Laufe der Adoleszenz mit dem eigenen Körper und entwickelt eine homosexuelle Orientierung, so Bosinski:
"Es ist in der Tat wichtig für das weitere Schicksal des Kindes, festzustellen, dass 80 Prozent der Kinder mit dem Vollbild der Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter nach der Pubertät dieses Problem nicht mehr haben. Nur bei 20 Prozent bleibt die Störung über die Pubertät hinaus bestehen. Das sind die persistierenden Verläufe, die dann auch im Jugendalter die Diagnose einer Transsexualität erfüllen und denen dann nur mit medizinischen Maßnahmen zu helfen ist."
... doch die Methoden und Ergebnisse dieser Studien werden infrage gestellt
Die Studien sind methodisch hochumstritten: Zu wenige Kinder seien einbezogen worden und auch solche, die nur leicht geschlechtsdysphorisch gewesen seien. Nicht alle seien über die Gesamtdauer der Studien beobachtet worden. Und bei denen, die am Ende nicht mehr dabei waren, sei man einfach davon ausgegangen, dass sie sich mit ihrem Geburtsgeschlecht arrangiert hätten.
Trotz aller Schwächen verweisen die Arbeiten aber auf einen entscheidenden Punkt: Bisher kann die Forschung keine gesicherten Aussagen darüber liefern, wie ein betroffenes Kind sich nach der Diagnose ins Erwachsenenleben hinein weiterentwickeln wird.
"Ich war auch relativ untypisch so als Kind. Ich hab auch mit Jungs Fußball gespielt und so."
Alex. Als Mädchen geboren und aufgewachsen.
"Aber ich hab mich nie als Mädchen gefühlt. Am Anfang hab ich sehr versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass ich kein Mädchen bin. Weil ich nicht wusste, dass es auch Menschen gibt, die keins von den zwei Geschlechtern haben. Ich dachte: ‚Okay, wenn ich kein Mädchen bin, muss ich ja wohl das Gegenteil sein. Und ja, jetzt bin ich so wie ich bin."
Alex bezeichnet sich heute als agender - weder "sie" noch "er":
"Weil ich mich nicht auf dem binären Spektrum, also Mann und Frau, identifiziere."
Sollte die kindliche Entwicklung der Geschlechtsidentität psychologisch beeinflusst werden?
Wenn Jungen mit Puppen spielen, gilt das schnell als "geschlechts-atypisches Verhalten", ... (dpa picture alliance / Jens Wolf)
Geschlechtsdysphorie - schon um die Diagnose toben Grabenkämpfe. Kenneth Zucker, Psychologe und einer der ersten überhaupt, die dieses Phänomen als Störung beschrieben haben, musste Ende 2015 seinen Hut nehmen. Die Child Youth and Family Gender Identity Clinic in Toronto, die seit 1975 geschlechtsdysphorische Kindern betreut hatte und deren Leiter er lange Jahre war, wurde geschlossen. Der Vorwurf: Die Klinik ziele auf eine Umerziehung von Trans*-Kindern ab und zwinge sie unnötig lange dazu, im falschen Geschlecht zu leben.
Wer die Ansicht teilt, dass Kinder mit Geschlechtsdysphorie unter einer Störung leiden, die wahrscheinlich mit der Pubertät verschwindet - der ist zurückhaltend mit allen Maßnahmen, die das Kind früh darin bestärken, in der Rolle des als richtig empfundenen Geschlechts zu leben. Dessen Fokus liegt eher darauf, mögliche Rollen-Konfusionen aufzudecken und aufzulösen.
Bosinski: "Wir sehen beispielsweise wesentlich mehr Jungen, die vorgestellt werden, im Kindesalter, als Mädchen. Warum? Ein Junge, der mit Puppen spielt, wird stärker in die Optik genommen als ein Mädchen, weil sie lieber Hosen trägt, was eher ein Wildfang ist. Das hat weniger Probleme. Wir können daran sehen, wie stark die Rolle der kulturellen Bewertung fürs Verhalten eines Kindes ist. Ein Junge, der gerne pinke Sachen trägt, muss deswegen nicht zum Mädchen werden. Ein Mädchen, was lieber Fußball spielt, muss nicht zum Jungen gemacht werden."
Stattdessen sollten Psychotherapeuten die Kinder ermuntern, eine Vielzahl von Möglichkeiten auszuloten, in denen sie ihr Geburtsgeschlecht ausdrücken und in ihm leben können. Die Fokussierung auf das Gegengeschlecht solle aufgebrochen - letztlich auf eine Aussöhnung mit dem eigenen Körper hingewirkt werden.
Der Ansatz basiert auf der Annahme, dass das Umfeld eines Kindes die Entwicklung seiner Geschlechtsidentität wesentlich beeinflusst. Es ist nicht unmöglich, sagen dessen Vertreter, dass - zum Beispiel - ein Junge im Kleinkindalter mitbekommt, dass die neugeborene Schwester mehr Aufmerksamkeit von den Eltern erhält. Und er daraufhin beginnt, die Rolle eines Mädchens einzunehmen, um die gleiche Aufmerksamkeit zu bekommen. Solche Konflikte müssten entdeckt und aufgelöst werden, um die Störung zu beheben.
... während fußballspielende Mädchen gesellschaftlich inzwischen viel akzeptierter sind (picture-alliance / dpa / Tobias Hase)
Doch gerade das, warnt die Gegenseite, verursacht Leid:
Karoline Haufe: "Da gibt es viele Beobachtungen von Eltern, dass sie sagen: mein Kind ist traurig aber auch aggressiv und ich weiß gar nicht, was das ist. Und nach dem Coming Out beobachten viele Eltern, dass die Kinder aufblühen, wenn man sie so leben lässt, wie sie das wollen."
"Nach einem Dreivierteljahr des Probierens zu Hause wechselte Karl die Rolle komplett ins weibliche, also auch in der Kita. Sie hieß nun Lisa", so der Bericht der Mutter eines Trans*Mädchens für den Verein Trans-Kinder-Netz: "Auf Bemerkungen von mir wie: 'Es könnte sein, dass nicht alle verstehen, dass du Mädchenkleidung trägst', Lisa ganz selbstsicher: 'Keiner schafft es mich zu verändern'. Da war sie fünf Jahre alt. Sie wirkte auf einmal so stark. So kannte ich mein Kind gar nicht."
Christian Meyer: "Der eigentliche Wow-Effekt war dann, wo der Name geändert wurde, das Schulzeugnis geändert wurde, das war dann sozusagen ein neuer Geburtstag. Ab dem Tag ging sie als Mädchen in die Schule, alles war gut. Ist ein anderes Kind dadurch. Ein noch glücklicheres."
Oder sollte man Trans*-Kinder darin bestärken, so zu leben, wie sie wollen?
Etwa seit den frühen 2000er Jahren vollzieht sich ein Paradigmenwechsel - in der Sicht auf Trans*-Kinder und in der Art, sie zu begleiten. Unterstützt von Eltern-Initiativen, erwachsenen Trans-Personen und Aktivisten vertritt eine Reihe von Forschern inzwischen einen "gender-affirmativen Ansatz".
Er geht davon aus, dass man Kinder mit einer Trans-Identität als solche identifizieren kann - und dass man ihnen früh den Weg in ein Leben mit dem richtigen Geschlecht ebnen sollte.
"Wir wissen inzwischen eine Menge darüber, was man in Therapien machen kann, um Kinder in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität zu beeinflussen. Über den anderen Weg wissen wir dagegen noch gar nichts: Was passiert, wenn man ihnen sagt: Okay, Du kannst so leben, wie Du willst. Ich werde Dich darin unterstützen."
Die Psychologin Kristina Olson von der University of Washington in Seattle untersucht seit 2014 die Entwicklung der Geschlechtsidentität von US-amerikanischen und kanadischen Kindern zwischen drei und zwölf Jahren - die sich als transgeschlechtlich identifizieren und von ihren Eltern unterstützt werden. Vergangenes Jahr präsentierte sie erste Ergebnisse von Tests mit 32 dieser Kinder, die sie mit anderen Gleichaltrigen verglichen hatte:
"Eine Frage, die ja immer wieder gestellt wird, ist: 'Sind diese Kinder wirklich transident? Vielleicht tun sie ja nur so!' Deshalb haben wir die Kinder unter anderem einem Assoziations-Test unterzogen. Dabei müssen sie Bilder von Kindern zuordnen zu Begriffen wie 'weiblich' oder 'männlich', 'ich' oder 'nicht ich' - und ein Computer misst, wie schnell sie diese Verbindungen herstellen.
Je klarer sich jemand identifiziert, desto schneller ist er, es ist sehr schwer, sich dabei zu verstellen. Und: Aus den Antworten lässt sich letztlich nicht erkennen, ob sie von einem Mädchen oder einem Trans-Mädchen kommen. Aber man kann - in dem Fall - sicher sagen, dass sie nicht von einem Jungen kommen."
Trans*-Kinder, die in ihrem als richtig empfundenen Geschlecht leben dürfen, sind den ersten Ergebnissen zufolge psychisch kaum belasteter als andere Kinder. Und - so fand Olson: Auch in der Art, wie Trans*-Kinder ihre Geschlechtsidentität ausdrücken, unterscheiden sie sich nicht: Auch sie durchlaufen Phasen, in denen sie sich mehr oder weniger explizit als Junge oder Mädchen verhalten.
Ob sich auf Basis solcher Tests sagen lässt, ob die damit identifizierten Kinder sich auch als Erwachsene noch transgeschlechtlich erleben - dazu lassen sich frühestens in zehn Jahren Aussagen treffen. Zwar liefern Biologen und Neurowissenschaftler mehr und mehr Hinweise, dass Geschlechtsdysphorie oder Transidentität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal ist. Das sich früh zeigen kann und erhalten bleibt. Ausreichend belegt ist das aber nicht.
Ist eine frühzeitige "soziale Transition" unter Umständen problematisch?
Kein Test, kein Marker, kein Blutwert kann eine Transidentität bisher eindeutig identifizieren. Und trotzdem: Dass Kinder schon als Vier- oder Fünfjährige komplett die Rolle wechseln - von Haarschnitt und Kleidung bis hin zur Änderung von Vornamen und Pronomen - das setzt sich mehr und mehr durch. Zahlen der Amsterdamer Gender Identity Clinic zufolge waren es zwischen den Jahren 2000 und 2004 rund drei Prozent der dort vorgestellten Kinder, die so eine vollständige soziale Transition vollzogen hatten. Zwischen 2005 und 2009 waren es fast 9 Prozent.
"Grundsätzlich spricht nichts dagegen, das Kind in der Rolle leben zu lassen, wie das Kind es wünscht."
Timo Nieder. Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat der Psychologe 2013 zusammen mit Kolleginnen das erste interdisziplinäre Transgender-Versorgungszentrum Deutschlands gegründet, eine Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche gehört dazu. Wird ein früher umfassender Rollenwechsel professionell begleitet, so die Erfahrung dort, dann kann er einem Kind helfen, zu wachsen und sich zu entwickeln:
"Es gibt aber auch Fälle, in denen eine soziale Transition früh unterstützt wurde und alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, damit das Kind entsprechend leben kann. Und das Kind aber im Zuge der Pubertät sich doch anders entschieden hat. Und dann Ängste hatte, dass dem Kind vielleicht nicht geglaubt werden könnte, wenn es doch wieder in die ursprüngliche Rolle zurückkehren möchte. Das darf passieren. Es ist nicht dramatisch, wenn ich mal für ein paar Jahre in der einen Rolle und andere Jahre in der andern Rolle gelebt habe."
Eine Rück-Transition könne mit Leiden verbunden sein, das möglicherweise größer ist als das, das entsteht, wenn man Kindern eine frühe soziale Transition verwehrt. Argumentieren dagegen Thomas Steensma und Peggy Cohen-Kettenis. Die Forscher hatten 2011 am University Medical Center in Amsterdam junge Erwachsene befragt, die als Kinder sozial transitioniert waren und später wieder in ihrem Geburtsgeschlecht leben wollten. Zwei Mädchen berichteten von einer langen Phase voller Scham darüber, erklären zu müssen, dass sie mit ihrem kindlichen Empfinden falsch gelegen hatten.
Hartmut Bosinski: "Eine zu frühe soziale Transition legt das Kind frühzeitig fest! Und es spricht alles dafür, dass eine zu frühe Transition den Weg in eine hormonelle und chirurgische Transformations-Behandlung bahnt. Und das ist kein Spaziergang, sondern ein komplexer, schwerwiegender, komplikationsbelasteter und lebenslanger Eingriff in den gesamtkörperlichen Haushalt."
Durch GnRH-Analoga kann die Entwicklung einer "falschen Pubertät" unterdrückt werden
Mit GnRH-Analoga kann die Entwicklung der Pubertät unterdrückt werden, bis sich das Kind über seine Geschlechtsidentität besser im Klaren ist. Ob das den Leidensdruck verringert oder sogar erhöht, ist umstritten. (picture alliance / dpa/ Jens Kalaene)
Karoline Haufe: "Diese sogenannte 'soziale Transition' ist nicht mehr ausreichend, wenn körperliche Veränderungen in der Pubertät bevorstehen. Also: der Bart soll nicht wachsen, gibt's da Tabletten dagegen? Das sind ganz klare Reaktionen, die Kinder haben."
"Ja. Ich ekel mich halt immer noch davor. Vor den Brüsten", sagt Cosmo. "Ich erinnere mich noch, wie ich das meiner Mutter gesagt hab, welches Mädchen sagt schon mit zwölf Jahren: Ich würde mir am liebsten die Brüste abhacken! Alle anderen haben sich gefreut: Jetzt kann ich einen BH tragen! Und ich wollte die am liebsten gar nicht haben."
Haufe: "Und dann sind die Familien damit konfrontiert: Nehmen wir medizinische Behandlungen in Anspruch? Dann geht es darum, Blocker zu geben oder im nächsten Schritt dann gegengeschlechtliche Hormone oder auch geschlechtsangleichende Operationen."
Bei vielen älteren Kindern steigt der Leidensdruck massiv, sobald sich die sekundären Geschlechtsmerkmale zu entwickeln beginnen. Um dem zu begegnen, gibt es seit rund zwanzig Jahren die Möglichkeit, pubertäts-unterdrückende Hormone zu geben - sogenannte GnRH-Analoga, synthetische Varianten des Neurohormons Gonadotropin-Release-Hormon. Sie blockieren den GnRH-Rezeptor im Gehirn und unterdrücken dadurch die Produktion der Sexualhormone Testosteron oder Östrogen. Brüste oder Bart wachsen nicht, Menstruation oder Stimmbruch setzen nicht ein.
Haufe: "Für ganz viele ist das ein ersparter Leidensweg. Es verhindert die falsche Pubertät."
"Bei manchen Leuten, die hier herkommen, die muss man erstmal beglückwünschen, dass sie noch am Leben sind", berichtet Mari Günther. Die Therapeutin betreut rund 30 Trans*-Kinder und Jugendliche im Berliner Verein queer leben.
Alex: "Weil ich so sehr unzufrieden war mit meinem Körper. Ich hatte Essstörungen, ich wollte mich umbringen, ich habe mich selbst verletzt, ich konnte nicht in den Spiegel kucken und irgendwas sehen, was ich mag. Also, die Pubertät war wirklich schwer für mich."
Cosmo: "Ja, also ich war auch sehr frustriert immer und aggressiv. Und ich hatte wirklich diesen schrägen Gedanken, dass ich vielleicht doch noch zum Jungen werde. Oder so."
Alex: "Ich hätte mir tatsächlich gewünscht, dass sich gar nichts verändert hätte. Also, bevor die Pubertät passiert ist, so wie ich davor war, wenn ich das hätte einfrieren können. Ja, das wär' gut gewesen."
Wird durch eine pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung eine altersgerechte sexuelle Entwicklung behindert?
Kritiker meinen, dass die Hormonbehandlung altersgerechte sexuelle Erfahrungen, die für die Festigung der Geschlechtsidentität wesentlich sind, unterdrücke (Picture Alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
Sind sekundäre Geschlechtsmerkmale erstmal entwickelt, ist es kaum möglich, dies rückgängig zu machen. Werden die als falsch empfundenen Körpermerkmale jedoch gar nicht erst vollständig ausgeprägt, sind viele langwierige Behandlungen später nicht nötig.
In erster Linie ist die Pubertätssuppression aber eine Art Moratorium. Sie verschafft den Kindern und Jugendlichen zwei bis drei Jahre Zeit, um mehr Klarheit zu gewinnen. Unter psychotherapeutischer Begleitung wird der individuell passendste Weg gesucht, mit der Identität, dem Körper, dem Umfeld zurechtzukommen - vielleicht auch außerhalb der herrschenden zweigeschlechtlichen Lebensentwürfe. Allerdings, so Timo Nieder:
"Mir ist kein Fall bekannt, in dem nach einer pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung nicht die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung gefolgt ist. So dass ich schon den Eindruck habe, mit Beginn der pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung wird ein Track geschaffen, der dann eine Eigendynamik entwickelt."
Bosinski: "Es scheint so zu sein: wenn der Weg einmal gebahnt ist, scheint er irreversibel in Richtung Transsexualität zu gehen. Das zweite, was man sagen muss: Diese GnRH-Analoga, die für die Pubertäts-Blockade genutzt werden, sind in ihren Langzeitwirkungen nach der Anwendung im Kinder- und Jugendalter noch völlig unzureichend untersucht. Es ist durchaus anzunehmen, dass die Hirnreifung, die noch nicht abgeschlossen ist in der Kindheit, dadurch beeinflusst wird. Es ist zu fragen, wie es sich auf den Knochenstoffwechsel auswirkt etc."
Neurobiologen weisen seit einigen Jahren daraufhin, dass es in der Pubertät zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt. Es wird sensibler und flexibler, unter anderem entwickeln sich die Fähigkeiten zur Empathie und komplexem Denken. Welche Rolle die Sexualhormone dabei spielen, ist unklar. Klar ist aber: die hormonellen Umstellungen in der Pubertät verändern nicht nur den Körper. Sie erst ermöglichen Erfahrungen, die wesentlich für die Festigung der Geschlechtsidentität sind.
Bosinski: "..dass es nun zum Auftauchen sexueller Fantasien kommt. In der Pubertät erfährt der Jugendliche, wie er seine sexuellen Wünsche in Übereinstimmung bringen kann mit seinen körperlichen Gegebenheiten. Ob es ihm möglich ist, seine Körperlichkeit lustvoll zu erleben und auch lustvoll beispielsweise auf Angehörige des eigenen Geschlechts einzubringen."
Wird die Pubertät blockiert, fürchten Kritiker der Behandlung, bleibt die Auseinandersetzung mit sexuellen Fantasien aus. Auch andere altersgerechte, psycho-sexuelle Erfahrungen blieben den Jugendlichen verwehrt - und wie sie sich unter dem Einfluss der Hormone ihres Geburtsgeschlechts entwickelt hätten, ist nicht mehr herauszufinden. Letztlich sei nicht auszuschließen, dass ein anhaltendes Zugehörigkeitsgefühl zum Gegengeschlecht erst durch die Blockade hervorgerufen - oder zumindest verfestigt wird.
Die klinische Erfahrung zeigt bisher, dass behandelte Kinder keine emotionalen, sozialen oder kognitiven Auffälligkeiten aufweisen - die Behandlung wird seit Mitte der 2000er Jahre mehr und mehr akzeptiert. Denn auch das Nicht-Eingreifen in die natürliche Pubertät kann bei transidenten Jugendlichen einen gesunden Reifeprozess verhindern.
Über die richtige Herangehensweise scheiden sich nach wie vor die Geister
"Wir wissen, dass der Leidensdruck, der häufig geäußert wird zu Beginn der Pubertät, aufgrund der sich entwickelnden Körpermerkmale, dass der dazu führt, dass diese Jugendlichen häufig mehr psycho-soziale Probleme haben oder beeinträchtigt sind in ihrem Leben und in ihrer psychischen Entwicklung."
So berichtet Inga Becker, wissenschaftliche Betreuerin der Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche am Transgender-Versorgungszentrum Hamburg-Eppendorf. Ihre Erfahrung: Aus Scham und Unsicherheit gehen viele Trans-Jugendliche keine Freundschaften ein und verzichten auf sexuelle Kontakte:
"Und das heißt, dass diese medizinischen Maßnahmen, wenn sie dann diesen Leidensdruck reduzieren, erst einmal ermöglichen, dass überhaupt all diese Erfahrungen möglich sind."
Therapeutin Mari Günther: "Erst wenn sie das Gefühl haben: 'Okay, mein Körper, der lässt mich jetzt mal ein Weilchen in Ruhe', kann man auch über andere wichtige Themen reden: 'Wie kann das in der Schule gehen, wie stelle ich mir das in meinem Beziehungsleben vor, hab ich Kinderwunsch' - und all diese Sachen. Die natürlich in diesem Alter nicht oben auf liegen, die aber in einer solchen Situation wichtig zu besprechen sind."
Eine Hormonbehandlung ist vertretbar, schreibt die britische Medizin-Ethikerin Simona Giordano, wenn die vermuteten langfristigen Folgen einer Nicht-Behandlung schwerwiegender sind als die vermuteten langfristigen Folgen einer Behandlung.
Konkreter wird kaum jemand derzeit, in der Debatte um Kinder mit Geschlechtsdysphorie.
Timo Nieder: "Die Ärzte und Psychologen haben Angst, die Eltern haben Angst. Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Aber sonst haben alle Angst. Was Falsches zu machen."
Hartmut Bosinski: "Das sollte uns aber nicht Anlass dazu sein, nun schwerwiegende körperliche Eingriffe vorzunehmen. Zunächst einmal wäre es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir in der Gesellschaft eine wesentlich größere Toleranz brauchen gegenüber geschlechts-atypischen Verhaltensweisen, wie wir sie kulturell festgelegt haben."
Inga Becker: "Zum aktuellen Zeitpunkt ist es so, dass man mit einer sozialen oder körperlichen Transition erst ab dem Jugendalter anfangen würde. Und da kann man schon sehen, dass die Jugendlichen ein besseres psycho-soziales Funktionsniveau aufweisen als jene, die erst später, also nach der abgeschlossenen Pubertät, behandelt werden.
Deswegen ist eine Behandlung, sei es psycho-sozial als auch körpermedizinisch, auch ethisch vertretbar aus meiner Sicht. Ab wann man damit beginnt, das ist immer noch die Frage - und da gibt's auch kaum wissenschaftliche Erkenntnisse dazu."
Karoline Haufe: "Kindern wird ganz oft die Fähigkeit abgesprochen, die Tragweite einer Entscheidung abschätzen zu können. Aber, sofern sie nicht ungeoutet leben, erfahren sie ja jeden Tag, dass sie vermeintlich anders sind als die anderen. Und diesen Weg geht kein Kind dauerhaft freiwillig. Und insofern können Kinder sehr wohl diese Entscheidung über ihr Selbst treffen."
Nieder: "Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Muss man mal sagen."
Alex: "Ich denke, dass man Kinder auf jeden Fall ernst nehmen sollte. Wenn sie über ihre Gefühle sprechen. Und selbst, wenn sie nur rumexperimentieren - man sollte sie es machen lassen."
Es sprachen: Janina Sachau, Stefko Hanushevsky, Gerd Daaßen, Anja GawlickTon und Technik: Stephanie BrückRegie: Claudia KattanekRedaktion: Christiane KnollProduktion: Deutschlandfunk 2016 | Von Lydia Heller | Beratungsstellen registrieren immer mehr und immer jüngere Kinder, die sich nicht ihrem natürlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Wie schnell sollen Eltern reagieren, vor allem mit irreversiblen Eingriffen? Ungeklärt ist noch: Handelt es sich bei Transidentität um eine Krankheit, eine Störung oder einfach um eine normale Variante geschlechtlicher Entwicklung? | "2016-08-21T16:30:00+02:00" | "2020-01-29T18:47:01.943000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/lea-ist-leo-ueber-transidentitaet-bei-kindern-100.html | 353 |
Kampf gegen ein musikalisches Trauerspiel | Statt dem bescheidenen Instrument soll im Prager Veitsdom bald eine Meisterorgel erklingen - so wünscht es sich zumindest die Kirchenleitung (Stefan Heinlein)
Josef Ksica zieht alle Register. Doch so sehr der Domorganist auf die Pedale drückt und in die Tasten haut, sein Instrument ist zu klein für die große Kathedrale. Die Musik kommt nicht bis in die hinteren Winkel des gewaltigen Kirchenschiffes. Ein akustisches Trauerspiel für viele der bis zu 7.000 Gottesdienstbesucher:
"Die Menschen hören die Orgel nur aus weiter Ferne. Ich bemühe mich zwar nach Kräften aber die schwächeren Register kann ich überhaupt nicht verwenden. Ich muss immer mit sehr großem Ausdruck spielen."
Jahrhundertelang wurde am Prager Veitsdom gearbeitet. Erst 1929 wird das nationale Prestigeprojekt nach seiner Erweiterung von Staatspräsident Masaryk endgültig eingeweiht. An der Orgel wird jedoch gespart. Das bescheidene Instrument findet ihren Platz in einem Seitenchor und nicht über dem Haupteingang. Ein Provisorium, das schon bald der Vergangenheit angehören soll, so Stepan Svobóda vom Erzbistum Prag:
"Wir wollen eine große Meisterorgel. Ein echtes Kunstwerk. Viele Spitzenfirmen aus ganz Europa haben sich bereits gemeldet. Wir machen ihnen keinerlei Vorgaben. Auch vier Firmen aus Deutschland sind mit im Rennen."
Ein ehrgeiziger Plan
Etwa drei Millionen Euro sind für die Meisterorgel eingeplant. Doch der eigens eingerichtete Stiftungsfonds hat bislang nur rund ein Viertel der Kosten beisammen. Im Sommer soll deshalb eine große landesweite Spendenaktion auf die Beine gestellt werden. In einer feierlichen Zeremonie appelliert Kardinal Dominik Duka an die Großzügigkeit der Gläubigen:
"Es ist wichtig, dass wir mit der neuen Orgel die Botschaft des Vaters in unserer Heimat weiter verbreiten. Der Dom ist auch für unser Land von zentraler Bedeutung. Wir wollen die neue Orgel zum 100. Jahrestag unserer Staatsgründung im Jahr 2018 fertigstellen."
Ob dieser ehrgeizige Zeitplan tatsächlich erfüllt werden kann, steht jedoch noch in den Sternen. In der Vergangenheit scheiterten bereits vier Anläufe für die Finanzierung einer standesgemäßen Domorgel. Die Gottesdienste in Tschechien sind meist spärlich besucht. Nur gut 20 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zu einer Religionsgemeinschaft. | Von Stefan Heinlein | Der Prager Veitsdom ist gewaltig, die Orgel dagegen ein mickriges Provisorium. Jetzt soll die Kathedrale ein neues Instrument bekommen. Dafür ruft das Erzbistum zu einer Sammelaktion auf. Kein leichtes Vorhaben in einem mehrheitlich atheistischen Land. | "2016-04-26T09:35:00+02:00" | "2020-01-29T18:25:59.910000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/tschechien-kampf-gegen-ein-musikalisches-trauerspiel-100.html | 354 |
Erdogan verlängert Ausnahmezustand | Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (AFP / ADEM ALTAN)
Das Kabinett in der Hauptstadt Ankara hat die Maßnahme am Montag beschlossen. Zuvor hatte der Sicherheitsrat eine Verlängerung empfohlen. Der von Präsident Recep Tayyip Erdogan verhängte Ausnahmezustand nach dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli war am 21. Juli für 90 Tage in Kraft getreten. Unter ihm kann der Staatspräsident per Notstandsdekret regieren.
Die türkische Führung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich und geht per Notstandsdekret massiv gegen mutmaßliche Anhänger vor.
Kampf gegen Gülen-Bewegung
Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus sagte, die Türkei werde den Kampf gegen alle "Terrororganisationen", allen voran gegen die Gülen-Bewegung, mit Entschlossenheit weiterführen. "Und mit den rechtlichen Möglichkeiten, die der Ausnahmezustand bietet, wird dieser Prozess, so Gott will, in kürzester Zeit mit Erfolg abgeschlossen."
Das Parlament muss dem Kabinettsbeschluss noch zustimmen. Die größte Oppositionspartei CHP und die pro-kurdische HDP sind gegen den Ausnahmezustand. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kritisierte, Erdogan missbrauche die Maßnahme, um seine Macht auszubauen und die Opposition zum Schweigen zu bringen.
Seit Verhängung des Ausnahmezustands wurden Zehntausende Menschen festgenommen. Mehr als 50.000 Menschen wurden per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Per Dekret wurden zudem Dutzende Medien geschlossen. | null | In gut einer Woche sollte der Ausnahmezustand in der Türkei auslaufen - nun hat ihn die Regierung in Ankara um drei Monate verlängert. Begründung: Der Kampf gegen den Terror nach dem Putschversuch im Sommer. Die Opposition wirft Präsident Erdogan Machtmissbrauch vor. | "2016-10-03T18:08:00+02:00" | "2020-01-29T18:57:11.513000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-erdogan-verlaengert-ausnahmezustand-100.html | 355 |
Amnesty prangert Massenhinrichtungen an | Eine vor den Dschihadisten geflohene Jesidin in einem Flüchtlingscamp im Nordirak (AFP / Ahmad Al-Rubaye)
Massenmorde, Entführungen, Vergewaltigungen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt die Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak eine Kampagne der "systematischen ethnischen Säuberungen" durch. Die Opfer sind Minderheiten wie Jesiden, Christen oder schiitische Turkmenen.
Es gebe neue Beweise für die Verbrechen der IS-Miliz, sagt Amnesty-Mitarbeiterin Donatella Rovera, die sich derzeit in der Region aufhält. In dem Bericht der Menschenrechtler kommen Überlebende von Massakern zu Wort. Sie schildern, wie die Dschihadisten in der Region Sindschar im Norden des Irak zahlreiche Männer und Jungen zusammengetrieben haben. Sie wurden mit Lastwagen aus ihren Dörfern weggebracht und hingerichtet.
Neue Beweise für Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten im #Irak durch #IS: http://t.co/U3exWVDJQa pic.twitter.com/gKb6MZysJo— Amnesty Deutschland (@amnesty_de) 2. September 2014
Amnesty hat Hinweise auf mehrere solche Massenexekutionen im August mit hunderten Toten. Zudem sollen zahlreiche Frauen und Kinder der jesidischen Minderheit verschleppt worden sein, seit der Islamische Staat die Region unter seiner Kontrolle hat.
Die Extremisten-Miliz "Islamischer Staat" - vormals ISIS - beherrscht weite Teile des Nordirak und Syriens. Dort hat sie Ende Juni ein islamisches "Kalifat", einen Gottesstaat, ausgerufen. Die Terroristen finanzieren sich durch Spenden aus arabischen Ländern. Zudem haben sie Ölfelder unter ihre Kontrolle gebracht. Im Nordirak kämpfen die kurdischen Peschmerga gegen die Dschihadisten. Sie sollen nun auch aus Deutschland Waffen erhalten.
Ziel des IS sei es, "alle Spuren von Nicht-Arabern und nicht-sunnitischen Milizen zu beseitigen", erklärte Amnesty. Die Organisation rief die irakische Regierung in Bagdad auf, die Zivilisten vor den Übergriffen der Terroristen zu schützen. Zudem müssten die Verantwortlichen verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden.
(lob/bor) | null | Die Terrormiliz "Islamischer Staat" verfolgt im Nordirak gezielt Minderheiten und führt nach Angaben von Amnesty International "ethnische Säuberungen" durch. In einem neuen Bericht der Menschenrechtler kommen Überlebende von Massakern zu Wort. | "2014-09-02T14:13:00+02:00" | "2020-01-31T14:01:47.332000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/irak-amnesty-prangert-massenhinrichtungen-an-100.html | 356 |
Diagnose Krebsrisiko als Chance | Damit es nicht dazu kommt, dass so wie hier im Gewebe ein Brustkrebsgeschwulst entsteht, wird die Patientin an einer intensiven Früherkennung teilnehmen. (epa Quintiles / Handout; )
"Hallo Frau Neumann – Hallo Frau Dr. Rhiem."
Uniklinik Köln. Sprechstunde bei PD Dr. Kerstin Rhiem vom Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs. Anna Neumann ist zum zweiten Mal hier in der Beratung.
"Wir sehen uns heute, denn Sie hatten sich entschlossen, dass Sie eine Testung auf eine Genveränderung machen, die wir in Ihrer Familie, bei Ihrer Mutter gefunden hatten."
Anna Neumann ist 32 Jahre alt. In ihrer Familie sind ungewöhnlich viele Frauen an Krebs erkrankt, entweder an Brust- oder an Eierstockkrebs. Ihre Mutter erkrankte zwei Mal an Brustkrebs. Bei ihr wurde die BRCA1 – Mutation gefunden. Nun hat sich Anna Neumann testen lassen, ob sie diese Genveränderung geerbt hat.
Nachweis der Genveränderung
"Heute treffen wir uns, um dieses Ergebnis zu besprechen. Frau Neumann, ich hatte Ihnen im Erstgespräch gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Sie diese Genveränderung von Ihrer Mutter geerbt haben, bei 50 Prozent liegt und im Test konnten wir nun eindeutig nachweisen, dass Sie diese Genveränderung auch tragen – ok, ja, ja gut, wäre schön, wenn es nicht so gewesen wäre. Es hat für mich immer eine Rolle gespielt im Leben, dass man damit aufgewachsen ist mit den ganzen Erkrankten, war eigentlich immer diese Sache präsent und man hat immer gedacht, irgendwann ist man die nächste, von daher, ja gut."
"Sie haben diese Genveränderung geerbt und Sie sagten gerade, dass Sie immer befürchtet haben, zu erkranken. Vielleicht können wir gemeinsam im Gespräch herausarbeiten, dass dieses Ergebnis für Sie auch eine große Chance bedeuten kann – ja – denn mit dem Nachweis der Genveränderung sind Sie ja nicht krank – das stimmt – sondern Sie haben erhöhte Risiken im Laufe des Lebens an Brustkrebs und oder Eierstockkrebs zu erkranken."
Mit einem Risikokalkulationsprogramm hat Dr. Kerstin Rhiem das Erkrankungsrisiko für Anna Neumann berechnen lassen. Im nächsten Jahr liegt es bei ein bis drei Prozent.
"Wie schnell steigt das jetzt? Wie schnell müsste ich mich für eine Option entscheiden? – Die Risiken steigen kontinuierlich in den nächsten Jahren so pro Jahr um zwei bis drei Prozent zusätzlich. Das bedeutet, wenn sie 35 Jahre alt sind, Sie zu 90 Prozent in dem Jahr gesund bleiben. Und wenn Sie fragen, wie schnell muss ich mich entscheiden, biete ich Ihnen zeitnah die Teilnahme am intensivierten Früherkennungsprogramm für Brustkrebs an. Das bedeutet, Sie bekommen einmal im Jahr eine Kernspintomographie kombiniert mit einem Brustultraschall und bekommen nach sechs Monaten noch eine Ultraschalluntersuchung der Brust."
Intensivierte Früherkennung und prophylaktische Operation
"Ich hatte schon Kontakt mit dem BRCA-Netzwerk und habe schon mit einer Dame gesprochen, die hat so eine prophylaktische Operation machen lassen, war da auch sehr zufrieden mit. Also das wäre etwas, was ich mir vorstellen könnte, um der ganzen Sache für mich ein Ende zu setzen, dass ich weiß, das Thema ist abgeschlossen und ich muss nicht immer darauf warten, dass es doch vielleicht irgendwann kommt."
"Ich denke, ich werde mit dieser intensivierten Früherkennung erstmal anfangen, dass ich mir in Ruhe Gedanken machen kann, wie ich mich prophylaktisch operieren kann, um danach weiter zu entscheiden, welche Schritte ich weiter gehe – dann können Sie mir nochmal Rückmeldung geben, wie es Ihnen geht mit dem Befund und was vielleicht für Fragen aufgekommen sind und dann könnten wir uns dieser Fragen annehmen – ja, vielen Dank, Frau Neumann dann tschüss – tschüss." | Von Renate Rutta | Anna Neumann ist 32 Jahre alt. In ihrer Familie sind ungewöhnlich viele Frauen entweder an Brust- oder an Eierstockkrebs erkrankt. Mit einem Gentest können die Ärzte testen, ob die Patientin diese Genveränderung geerbt hat - und im Falle einer Erkrankung frühzeitig reagieren. | "2017-03-21T10:10:00+01:00" | "2020-01-28T10:19:59.045000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/genetische-beratung-diagnose-krebsrisiko-als-chance-100.html | 357 |
"Orbán gefällt sich in der Rolle des Provokateurs" | Der ungarische Premierminister Viktor Orban - "eine schillernde Persönlichkeit" und ein "populistisch begabter Nationalkonservativer", findet der CDU-Politiker Andreas Nick (AFP)
Christoph Heinemann: Vor einer halben Stunde haben wir mit Andreas Nick, CDU, gesprochen. Er ist im Auswärtigen Ausschuss Berichterstatter der Unionsbundestagsfraktion für die Beziehungen zu Ungarn. Guten Tag, Herr Nick!
Andreas Nick: Guten Tag!
Heinemann: Warum ist Viktor Orbán so beliebt?
Nick: Viktor Orbán ist zumindest mal eine schillernde Persönlichkeit, seine Beliebtheit ist jetzt nicht eindimensional. Er hat einen starken politischen Rückhalt in Ungarn, aber ist ja international durchaus auch eine umstrittene politische Persönlichkeit, die auch sehr stark polarisiert. Er hat aber mit seiner Fidesz-Partei in Ungarn wohl nach wie vor einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt, wobei der Ausgang der Parlamentswahlen ja durchaus auch nicht ganz so sicher prognostizierbar ist, wie das vielleicht in Ihrer Fragestellung angenommen ist.
Andreas Nick, Bundestagsabgeordneter der CDU ist im Auswärtigen Ausschuss Berichterstatter der Unions-Bundestagsfraktion für die Beziehungen zu Ungarn (Bianca Richter)
Heinemann: Warum diese Unterstützung nach wie vor in Ungarn für ihn?
Nick: Man muss dort, glaube ich, sehen, dass es eine… Das hat sicherlich auch was mit der Schwäche der Opposition in Ungarn zu tun, es hat etwas mit einer durchaus erfolgreichen Wirtschaftspolitik zu tun. Ungarn hat einen Großteil der Wirtschafts- und Finanzkrise, die auch dieses Land ja sehr stark betroffen hat, aus eigener Kraft überwunden - das ist auch ein Stück Stolz hier in der ungarischen Gesellschaft -, aber es hat natürlich auch damit zu tun, dass gewisse Ressentiments auch immer wieder geschickt adressiert werden - mit der Furcht vor Migration, mit der Furcht vor ausländischer Einflussnahme. Und das erleben wir ja auch gegenwärtig wieder in dieser Wahlkampagne.
Auf George Soros zugeschnittene Kampagne
Heinemann: Wieso, Stichwort, führt Orbán einen antisemitisch gefärbten Wahlkampf?
Nick: Ich würde mir jetzt die Formulierung antisemitisch nicht vorrangig zu eigen machen wollen …
Heinemann: Das sagt aber der UN-Menschenrechtsausschuss.
Nick: Es gibt in der Tat einige Aspekte, und zwar diese sehr auf die Person von George Soros zugeschnittene Kampagne auch mit bestimmten Plakatmotiven, die zumindest mal auch aus einer deutschen Sicht etwas mehr als Stirnrunzeln verursachen, sondern unangenehme Erinnerungen wachrufen. Das haben wir auch immer wieder sehr nachdrücklich kritisiert.
Ich habe den Eindruck, dass Herr Orbán immer ein Feindbild braucht, gegen das er polarisiert, vor dem er dann angeblich auch die ungarische Gesellschaft schützt in seiner Darstellung, und möglicherweise auch in Ermangelung politischer Gegner im eigenen Land muss dann jemand wie Herr Soros dafür herhalten.
"Ein populistisch begabter Nationalkonservativer"
Heinemann: Sie sprachen vom Feindbild - halten Sie Viktor Orbán für einen Populisten?
Nick: Er ist jedenfalls sicherlich jemand, der populistische Züge in erheblichem Maße trägt. Seine persönliche politische Entwicklung ist ja auch recht schillernd, wenn man die Anfänge bedenkt, in denen er ja noch in der Wende in Ungarn 88/89 eine ganz wichtige Rolle als junger Studentenführer gespielt hat, aber er ist zumindest mal ein populistisch begabter Nationalkonservativer, um das freundlich zu charakterisieren.
Heinemann: Wenn man sich diesen Werdegang anschaut, den Sie gerade erwähnt haben, er hatte ja immerhin den Mut, die Abschaffung der kommunistischen Diktatur zu fordern, als das noch durchaus gefährlich war. Wie erklären Sie sich seinen weiteren Werdegang?
Nick: Ich glaube, das ist eine sehr komplexe Frage. Er ist ja nach seiner ersten Ministerpräsidentschaft auch mal abgewählt worden. Ich hab schon den Eindruck, dass auch bei vielen seiner Weggefährten, die aus dieser sehr aktiven antikommunistischen Bewegung kamen, eine Wahrnehmung der Welt sich herausgebildet hat, wo man sich überwiegend von Feinden umgeben fühlt. Die ganze Frage ausländischer Einflussnahme - er hat ja auch sehr stark mit antikapitalistischen Ressentiments gerade auch gegen amerikanische und andere ausländische Investoren gearbeitet.
Und das adressiert glaube ich, auch ein bisschen ein Grundgefühl, was auch aus historischen Erfahrungen in der ungarischen Gesellschaft vorhanden ist. Insofern macht er sich da bestimmte Stimmungslagen einfach auch sehr geschickt zunutze und hat es geschafft und verstanden, dort ein System zu etablieren, das offensichtlich relativ robust an dieser Stelle ist.
Hoffen auf Entspannung in der ungarischen Gesellschaft
Heinemann: Herr Nick, wo liegen für Sie die Grenzen von Orbáns sogenannter illiberaler Demokratie?
Nick: Der Begriff ist natürlich für uns ein absolutes Reizwort, da kann man sich auch irgendwann nicht mehr hinter angeblichen Übersetzungsproblemen verschanzen. Ich glaube, wir müssen differenzieren: Da, wo es um unterschiedliche Auffassungen in einzelnen Politikfeldern geht - das betrifft sicherlich auch ein weites Stück den Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik -, müssen sie auch innerhalb der Europäischen Union gewisse Spannungsfelder aushalten.
Wo es nicht mehr akzeptabel ist, ist dann, wenn die innere Verfasstheit einer Gesellschaft beginnt, sich von demokratischen Strukturen abzuwenden. Ich bin ja auch Delegationsleiter in der parlamentarischen Versammlung des Europarates, wir haben jetzt auch die Venedig-Kommission beauftragt, den neuen Entwurf des NGO-Gesetzes innerkritisch zu beleuchten. Bisher hat Ungarn sich immer sehr bemüht, am Ende den Anforderungen auch der Venedig-Kommission, die auch für die EU ein wichtiger Maßstab ist, gerecht zu werden.
Ich hoffe persönlich, dass es nach der Wahl unter Ende der Polarisierung auch zu einer Entspannung in der ungarischen Gesellschaft kommt. Ob das da eintreten wird, ist alles andere als gewiss, aber wir werden diese Fragen, soweit es dann um Regelverstöße gegen Regeln der Europäischen Union und des Europarats geht, auch sehr kritisch in den Blick nehmen müssen.
"Ungarn profitiert von der wirtschaftlichen Integration"
Heinemann: Glauben Sie, dass Orbán diesen Begriff illiberal bewusst wählt, um Brüssel auf die Palme zu bringen?
Nick: Der Ursprung ist, glaube ich mal, dass es doch sehr stark - das wird jedenfalls immer von ungarischen Gesprächspartnern so dargestellt - um eine antikapitalistische Betrachtungsweise ging. Ob das wirklich so gemeint war, wage ich dabei noch ein bisschen infrage zu stellen. Er gefällt sich natürlich ein Stück weit in der Rolle des Provokateurs, auch im Zusammenspiel mit den anderen Visegrád-Staaten. Die meines Erachtens für Ungarn auch in Zukunft schwierige Frage oder entscheidende Frage wird sein, ob man an diesem selektiven Mitwirken in Europa festhält.
Ich glaube mal, Ungarn profitiert in ungeheurer Weise von der wirtschaftlichen Integration. Ungarn möchte auch im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik intensiver mitarbeiten, aber es wird Grenzen dessen gaben, wenn es in anderen Bereichen von Rechten der Zivilgesellschaft, von demokratischen Strukturen, von Pluralismus und Meinungsfreiheit Entwicklungen gibt, die mit europäischen Vorstellungen nicht mehr zu vereinbaren sind.
Heinemann: Der CDU-Außenpolitiker Andreas Nick, das Gespräch haben wir gegen zehn vor zwölf aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Andreas Nick mit Christoph Heinemann | Regierungschef Viktor Orbán sei zwar international umstritten, habe aber starken politischen Rückhalt in Ungarn, sagte der CDU-Politiker Andreas Nick im Dlf. Orbán brauche immer ein Feindbild, gegen das er polarisiere. Im Wahlkampf habe er Ressentiments immer wieder geschickt adressiert. | "2018-04-06T12:21:00+02:00" | "2020-01-27T17:46:41.311000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ungarn-vor-der-wahl-orban-gefaellt-sich-in-der-rolle-des-100.html | 358 |
Audio mobil | Ausgebaute Autoradios zum Verkauf (imago / Westend61)
Die populäre Musik griff das Gefühl der Dynamik des Autofahrens auf. Umgekehrt wirkte sich die automobile Nutzung auf die Entwicklung von Radiogeräten und Radioprogrammen aus.
Verkehrsfunkwellen mit viel Musik und kurzen Wortbeiträgen wurden vor allem für Autofahrer entwickelt - die täglichen Spitzenzeiten der Radionutzung werden bis heute als "Drivetime" bezeichnet.
Im Verlauf der Jahrzehnte wandelte sich die Bedeutung des Autoradios - vom Luxus zum Standard. Und heute, wo jedermann einen eigenen iPod hat, scheint sich die Audiomobilität von der Automobilität abgekoppelt zu haben. Ist die Geschichte des Autoradios vielleicht schon bald vorbei?
Regie: Thomas WolfertzProduktion: DLF 2012
Geschichten vom Radio Teil 6: 26.12.2016 um 15.05 Uhr | Von Roland Söker | 1932 war es die Sensation auf der Berliner Funkausstellung: das Autoradio. Es verknüpfte zwei noch relativ junge technische Erfindungen unmittelbar vor deren Durchbruch zur industriellen Massenware. Auto und Radio bildeten fortan eine Symbiose: Das Radio brachte die Unterhaltung ins Auto.
| "2016-12-26T14:05:00+01:00" | "2020-01-29T19:04:38.558000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/geschichten-vom-radio-5-7-audio-mobil-100.html | 359 |
Campus & Karriere auf der didacta 2015 | Didacta 2015 in Hannover eröffnet (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
Und am Samstag senden wir eine Stunde live von der didacta. Kate Maleike diskutiert über die aktuellen Entwicklungen in der Lehrerausbildung.
Die Themen im Überblick
24.2.2015Digitales Schulbuch
Es gibt immer mehr Tablet-Klassen in deutschen Schulen, gleichzeitig basteln die Verlage an digitalen Schulbüchern. NRW will ab dem kommenden Jahr selbst ein digitales Schulbuch entwickeln. Wie sind die ersten Erfahrungen mit den digitalen Büchern? Wo liegen die Vor- und Nachteile?
25.2.2015Sind Lehrer fit für die digitale Zukunft?
Bis zum Jahr 2020 soll nach Willen der EU-Kommission jeder Klassenraum digital sein. Digitale Pläne sind das eine - doch wie weit sind die Lehrer? Gibt es genügend Schulungen? Zwei Drittel aller Pädagogen wünschen sich von ihrer Schule entsprechende Weiterbildungsangebote, wie eine Studie der Bitkom zeigt.
26.2.2015MOOCs: Digitales Lernen an den Hochschulen
Hochschultag 2015, Schwerpunktthema: MOOC, Massive Open Online Course. Was können die leisten? Wo liegen die Grenzen? Was machen die Hochschulen? Wo gibt es noch Potenzial?
27.2.2015Digitales in der Kita
Sollten digitale Medien in der Kita eine Rolle spielen? Und wenn ja: welche? Sind die Erzieher darauf vorbereitet? Oder ist das alles Quatsch?
28.2.2015Aktuelle Enwicklungen in der Lehrerausbildung
Digitale Fähigkeiten sind zunehmend gefragt, Klassen werden immer heterogener, der Umgang mit SchülerInnen, die eine Behinderung haben, soll selbstverständlich werden. Viele Lehrkräfte fühlen sich darauf nicht ausreichend vorbereitet, wünschen sich mehr Praxis im Studium. Rufe nach einer Reform der Lehrerausbildung in Deutschland werden deshalb immer lauter. Denn auch die Schulstruktur verändert sich rapide. Ein Studium für Grund- und Hauptschule etwa ist für viele Lehramtsstudierende nicht mehr so interessant, da die Einsatzmöglichkeiten bundesweit weniger werden. | null | Auf der Messe didacta 2015 in Hannover trifft sich in dieser Woche, wer in der Bildungsbranche Rang und Namen hat - und Campus & Karriere ist live dabei. Von Dienstag bis Freitag berichtet das Bildungsmagazin täglich vom Deutschlandfunk-Stand, am Samstag senden wir eine Stunde live von der didacta. | "2015-02-24T14:35:00+01:00" | "2020-01-30T12:23:38.396000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/bildungsmesse-campus-karriere-auf-der-didacta-100.html | 360 |
"Die Suche nach Schuldigen hat eine lange Geschichte" | Der Umgang mit dem Corona-Virus - aus dem Blick einer Historikerin (dpa-Bildfunk / Roberto Pfeil)
Hamsterkäufe, Mundschutzbestellungen und Streit um das letzte Desinfektionsmittel im Supermarkt: Die Corona-Epidemie löst bei manchen Menschen große Ängste aus. Angst und Panik - das seien Reaktionen, die Menschen auch schon früher im Angesicht von unbekannten Epidemien gezeigt hätten, berichtet die Historikerin Andrea Wiegeshoff im Deutschlandfunk. Wiegeshoff beschäftigt sich an der Uni Marburg speziell mit dem Thema Seuchenbekämpfung aus historischer Perspektive.
Auch bei wieder auftretenden Krankheiten zeigten Menschen diese Emotionen, so Wiegeshoff. Im späten 19. Jahrhundert sei zum Beispiel die Pest noch einmal pandemisch ausgebrochen und habe auch den europäischen Kontinent betroffen - das habe massive Angstreaktionen ausgelöst, weil diese Krankheit der "Schrecken des europäischen Mittelalters" gewesen sei.
Suche nach dem Sündenbock
Die Suche nach einem Schuldigen bei Krankheitsausbrüchen habe "leider eine sehr lange Geschichte", so Wiegeshoff. Die Epidemien seien dabei aber nicht unbedingt Auslöser für soziale Spannungen, die es vorher nicht gegeben habe, sondern Seuchenängste würden sich mit anderen Vorbehalten verbinden.
Im Fall des Corona-Viruses werde zum Teil die ethnische Zugehörigkeit von Menschen mit der Idee gleichgesetzt, ein "Erregerreservoir" zu sein - vermehrt berichten chinesische oder asiatisch-aussehende Menschen über Diskriminierung wegen der Krankheit. Dieses Motiv reiche ebenfalls ins 19. Jahrhundert zurück, als noch einmal die Pest ausgebrochen sei. In den USA zum Beispiel seien damals chinesische Arbeiter für die Einschleppung von Seuchen verantwortlich gemacht worden - was sich aber mit der Sorge um Arbeitsplätze und Überfremdung verbunden habe.
Im Mittelalter sei Krankheit dagegen oft als "göttliche Strafe" gesehen worden. Insofern sei ein Lösungsansatz gewesen, vermeintlich moralisch verwerfliche Personen auszusondern und im schlimmsten Fall zu töten: "eine moralisch-spirituelle Reinigung, um Gott versöhnlich zu stimmen".
Quarantäne schon lange bekannt
Viele der Maßnahmen, die wir heute gegen Epidemien anwenden, haben laut Wiegeshoff ebenfalls schon eine lange Geschichte. Dazu gehöre zum Beispiel die Quarantäne - sie gehe schon zurück auf die Pest-Pandemie im europäischen Mittelalter. Die Isolierung von Erkrankten sei auch von Leprakranken bekannt.
Allerdings seien solche Isolierungen damals nicht versucht worden, weil man das Prinzip von Erregern und Ansteckung gekannt habe. Dieses Konzept sei sehr modern und erst aus dem 19. Jahrhundert näher bekannt, so Wiegeshoff. Stattdessen habe man zum Beispiel versuchen wollen, die Luft rein zu halten, oder im Beispiel der Judenprogrome im Mittelalter, die "moralische Verschmutzung durch Andersgläubige" beheben zu wollen.
Großangelegte Quarantäne-Maßnahmen demonstrierten auch staatliche Handlungsfähigkeit, meint Wiegeshoff - die Abschottung ganzer Städte in China zum Beispiel erscheine wie eine Demonstration, dass der Staat in dieser Krise reagieren könne. | Andrea Wiegeshoff im Gespräch mit Anja Reinhardt | Beim Ausbruch von Epidemien suchen Menschen oft nach einem Sündenbock - das sei auch schon früher so gewesen, meint die Historikerin Andrea Wiegeshoff im Dlf. Auch Reaktionen wie Angst oder Panik habe es zum Beispiel beim Wiederaufleben der Pest im 19. Jahrhundert gegeben. | "2020-03-01T17:30:00+01:00" | "2020-03-17T08:52:24.464000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/corona-epidemie-die-suche-nach-schuldigen-hat-eine-lange-100.html | 361 |
"Atomwaffen werden als Instrumente der Stärke gesehen" | US-Präsident Donald Trump hat den Ausstieg aus dem INF-Abkommen angekündigt. Russland reagierte erbost auf die Neuigkeiten. (J. Nukari/dpa)
Christine Heuer: Seit 30 Jahren gibt es ihn, den sogenannten INF-Vertrag – ein Abrüstungsabkommen zwischen Russland und den USA über nukleare Kurz- und Mittelstreckenwaffen. Seit Jahren werfen sich beide Vertragsparteien Verstöße vor. Jetzt hat Donald Trump angekündigt, den INF-Vertrag aufkündigen zu wollen. Sein nationaler Sicherheitsberater John Bolton ist nach Moskau gereist, um die Sache dort zu besprechen. In Europa wächst die Sorge vor einem neuen Wettrüsten.
Wir möchten das Thema vertiefen mit Oliver Thränert. Er ist Politikwissenschaftler und leitet den Think Tank am Zentrum für Sicherheitsstudien an der ITH Zürich. Guten Morgen, Herr Thränert.
Oliver Thränert: Schönen guten Morgen nach Köln.
"Rüstungskontrollabkommen ist in Gefahr"
Heuer: Steht jetzt die Rückkehr in den Kalten Krieg ins Haus?
Thränert: Was wir hier sehen ist, dass tatsächlich eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen aus der Zeit des Kalten Krieges in aktueller Gefahr ist, dass die Gefahr besteht, dass dieses Abkommen nicht mehr umgesetzt wird, und dass beide Seiten, Russland und möglicherweise auch die USA, hier in eine nukleare Aufrüstung einsteigen. Russland hat ja hier schon die Vorlage geliefert und das ist ja auch der Grund dafür, warum die weitere Umsetzung dieses Vertrages jetzt in Zweifel steht.
Heuer: Horst Teltschik, der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat vor ein paar Minuten bei uns im Deutschlandfunk gesagt, das sei eine riesige Katastrophe. Hat er recht?
Thränert: Ich würde jetzt nicht diese Formulierungen benutzen. Ich würde jetzt nicht in Panik machen. Noch ist der Vertrag intakt. Der amerikanische Sicherheitsberater Bolton wird heute in Moskau mit dem Außenminister der Russischen Föderation darüber sprechen, auch mit anderen Offiziellen dort. Vielleicht gibt es noch eine Gelegenheit, die Zweifel an der russischen Einhaltung des Vertrages auszuräumen. In der Tat bin ich da allerdings nicht besonders optimistisch. Von einer Katastrophe würde ich nicht sprechen, aber es ist schon eine recht negative Entwicklung, die wir hier sehen. Insbesondere sehen wir, dass Atomwaffen auf allen Seiten eigentlich als Instrumente der Stärke gesehen werden, nicht als Instrumente, die eine besondere Verantwortung beinhalten aufgrund ihrer großen Zerstörungswirkung, und das macht mir in der Tat große Sorgen.
Heuer: Aber ich verstehe Sie richtig? Auch Sie glauben oder gehen davon aus, dass Moskau den INF-Vertrag verletzt?
Thränert: Nach allem, was man aus öffentlichen Quellen weiß, ist das so, und zwar schon seit längerer Zeit. Das ist jetzt – das muss man auch immer wieder betonen – durchaus keine Idee oder keine Vorhaltung der Trump-Administration, sondern das sind Dinge, die schon während Barack Obama eine wichtige Rolle gespielt haben, und schon diese Administration und dieser Präsident haben deutlich gesagt, vor Jahren schon, dass sich Russland nicht an das Abkommen hält.
Abschreckung der südlichen Nachbarn Russlands
Heuer: Was heißt denn das eigentlich konkret, Herr Thränert? Heißt das, es gibt wieder Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa?
Thränert: Das heißt, dass Russland schon seit längerer Zeit auf Kernwaffen in seiner Militärdoktrin einen großen Wert legt, dass diese Kernwaffen in der russischen Militärdoktrin eine große Rolle haben. Bisher hat sich das beschränkt im Wesentlichen auf solche Kernwaffen, die eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern haben. Das heißt, das betrifft den INF-Vertrag nicht. Aber nun haben sie auch eine Rakete entwickelt und wohl auch stationiert, die mehr als 500 Kilometer Reichweite hat, und das zeigt, dass gerade in der Doktrin der Russischen Föderation Kernwaffen eine größere Bedeutung zukommt. Das hat nicht nur etwas mit Europa zu tun; das hat auch etwas damit zu tun, dass sich Russland von seiner Südflanke her bedroht sieht durch nukleare Aufrüstungen von China, Nordkorea, Indien und auch Pakistan.
Heuer: Das wäre nämlich genau die Frage. Wo genau sind denn diese Kernwaffen stationiert, beziehungsweise wen bedrohen sie genau?
Thränert: Das sind sicherlich Kernwaffen, die sowohl für den europäischen Schauplatz, als auch für die Abschreckung von südlichen Nachbarn Russlands vorgesehen sind.
Heuer: Moskau sagt jetzt umgekehrt, die USA würden auch gegen den Vertrag verstoßen. Stimmt das?
Thränert: Das sehe ich nicht so. Die Vorhaltung der Russen ist ja, dass die Raketenabwehrsysteme, die die NATO, die die Amerikaner in Polen und Rumänien stationieren, dass die auch aus technischen Gründen gegen den INF-Vertrag verstoßen, weil man von den dortigen Abschussrampen für Abwehrsysteme auch offensive Marschflugkörper einsetzen könnte. Das halte ich für eine typische russische Vorhaltung, die darauf abzielt, einen Keil zwischen die Alliierten, zwischen die Europäer und die Amerikaner zu treiben.
Russisches Kernwaffensegment wird aufgerüstet
Heuer: Es gibt jetzt Gespräche, heute jedenfalls. John Bolton – ich habe das gesagt – ist in Moskau. Was ist denn, wenn Russland und die USA sich nicht einigen können? Droht dann ein neuer Rüstungswettlauf von beiden Seiten?
Thränert: Ich habe es schon gesagt. Die Russische Föderation ist ohnehin dabei, in diesem Kernwaffensegment seit langer Zeit aufzurüsten. Die amerikanische Seite hat in der Nuklearstrategie der Trump-Administration, die dieses Jahr im Frühjahr veröffentlicht worden ist, darauf hingewiesen, dass man neue seegestützte Marschflugkörper stationieren möchte, um den russischen Aufrüstungsbestrebungen etwas entgegenzusetzen. Ich glaube zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, dass wir eine neue Debatte sehen werden über die landgestützte Stationierung von neuen Kernwaffen in Europa, weil, glaube ich, klar ist, dass das in der Bevölkerung auf große Widerstände stoßen würde und eine große politische Herausforderung für das Bündnis demgemäß wäre.
Heuer: Aber gefährlicher würde es auf jeden Fall. Gefährlicher als vor 30 Jahren?
Thränert: Wie gesagt, die Situation ist die, dass man anders als im Kalten Krieg in der heutigen Zeit feststellt, dass solche Leute wie Präsident Trump, wie Präsident Putin, auch andere Staaten, die über Kernwaffen verfügen, sich der gemeinsamen Verantwortung, die mit diesen Waffen einhergeht, nicht bewusst sind, dass wir Aufrüstungsprozesse sehen, ohne gleichzeitig Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Beschränkungen von Waffensystemen. Das ist in der Tat eine gefährliche Entwicklung.
"Wir sollten jetzt nicht in Panik machen"
Heuer: Wie sollte Europa reagieren?
Thränert: Wie gesagt, wir sollten jetzt nicht in Panik machen. Das Gespräch mit den Amerikanern sollte so eng wie möglich geführt werden. Man sollte aber auch darauf hinweisen, dass der Verursacher dieser Problematik in diesem konkreten Fall auf jeden Fall bei der russischen Seite ist, und deswegen kommt es insbesondere darauf an, trotz aller Kritik, die teilweise auch berechtigt ist, was die Trump-Administration anbelangt, so gut als möglich den Zusammenhalt über den Atlantik aufrecht zu erhalten.
Heuer: Hat Europa eine reale Möglichkeit, da Einfluss auf Russland zu nehmen? Oder liegt das dann am Ende trotzdem alles in Washington?
Thränert: Der Einfluss, den Europa ausüben kann, ist, den Russen gegenüber deutlich zu machen, dass ihr Ziel, dass Moskaus Ziel, Amerikaner und Europäer auseinanderzutreiben, nicht funktionieren wird. Das ist ganz wichtig, dass die europäischen Regierungen darauf achten, dass das auch sichergestellt wird.
Heuer: Oliver Thränert vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ITH Zürich über die voraussichtliche Aufkündigung des INF-Abrüstungsvertrages. Herr Thränert, vielen Dank fürs Interview.
Thränert: Ja, sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Oliver Thränert im Gespräch mit Christine Heuer | Nach der Ankündigung von US-Präsident Trump, aus dem Abrüstungsabkommen INF mit Russland auszusteigen, sieht der Politologe Oliver Thränert die Gefahr einer nuklearen Aufrüstung. Beide Seiten würden der besonderen Verantwortung nicht gerecht, die eine nukleare Bewaffnung mit sich bringe, sagte er im Dlf. | "2018-10-22T07:40:00+02:00" | "2020-01-27T18:16:40.601000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/abkehr-von-inf-abkommen-atomwaffen-werden-als-instrumente-100.html | 362 |
Zingaretti zum neuen Oppositionsführer gewählt | Kurswechsel der italienischen Oppostion auch in Wirtschaftsfragen erwartet: Neuer Vorsitzender der italienischen Demokraten Nicolas Zingaretti (picture alliance / ROPI)
Für den Sieger ist es ein Lebenszeichen des anderen Italiens. Über 1,5 Millionen Menschen haben sich an der Urwahl des neuen Chefs der Demokratischen Partei beteiligt. Und damit deutlich gemacht, sagt Nicola Zingaretti, dass es eine Opposition gibt gegen die populistische Regierung aus Lega Nord und Fünf-Sterne-Bewegung:
"Danke dem Italien, das sich nicht beugt. Danke dem Italien, das sich einer unliberalen und gefährlichen Regierung entgegenstellen will."
Der Präsident der Hauptstadt-Region Latium war als Favorit in die Basisabstimmung gegangen. Am Ende wurde es für den 53-Jährigen nicht nur einfach ein Sieg, sondern ein Triumpf. Fast 70 Prozent wählten Zingaretti und kührten ihn damit zum neuen Vorsitzenden der Demokratischen Partei - und zum Hoffnungsträger des Mitte-Links-Lagers.
Linkskurs erwartet
Vor knapp einem Jahr waren die Demokraten bei der Parlamentswahl auf knapp 19 Prozent abgestürzt und hatten sich seitdem von diesem Schlag nicht mehr erholt. Während vor allem die rechtspopulistische Lega Nord unter Innenminister Salvini in immer neue Umfragehöhen klettert, verharrt der sozialdemokratisch orientierte PD bei unter 20 Prozent. Jetzt verspricht Zingaretti einen neuen Aufbruch:
"Unsere Partei hat nach der Wahlniederlage Angst gehabt, sie hat sich gespalten, ist verletzt. Jetzt aber hat sie gezeigt, dass sie reagieren kann, dass sie kämpferisch ist. Sie hat unserer Republik eine Lektion in Demokratie gegeben."
An der Wahl der Parteichefs der Demokraten können sich stets alle Italiener über 16 Jahre beteiligen. Auch zahlreiche Prominente aus der Kultur bekannten sich wieder zum PD und gingen zu den Wahlständen. Unter anderem der Schauspieler und Komiker Roberto Benigni oder Regisseur Nanni Moretti.
Zingaretti steht für einen politisch wieder linkeren Kurs der Demokratischen Partei. Er hat unter anderem angekündigt, einen Teil der Arbeitsmarktreformen zurückzunehmen, die die Demokraten unter Regierungschef Matteo Renzi beschlossen hatten. Renzi sicherte dem neuem Parteivorsitzenden dennoch Unterstützung zu. Auch der bisherige, kommissarische PD-Chef Maurizio Martina signalisiert Rückendeckung für den neuen Vorsitzenden der Demokraten:
"Ich denke, der PD ist in guten Händen. Und ich glaube, dass sich eine schöne Zeit des gemeinsamen Engagements für uns auftut."
Martina gehört zu den Wahlverlierern. Der ehemalige Landwirtschaftsminister kam auf rund 20 Prozent: Der Parlaments-Vizepräsident Roberto Giacchetti erreichte etwas mehr als zehn Prozent. Beide stehen politisch Renzi nahe.
Erfolgreicher Wahlkämpfer
Zingaretti kündigte in seiner ersten Rede in der Nacht eine neue politische Agenda für die Demokratische Partei an. Unter anderem sollen die Themen Schule, Wissen, Arbeit, Gerechtigkeit und Infrastruktur im Mittelpunkt stehen. Der frühere Vorsitzende des Jugendverbands der kommunistischen Partei hat sich in den vergangenen Jahren einen Ruf als erfolgreicher Wahlkämpfer erarbeitet. Gegen den nationalen Trend gelang Zingaretti im vergangenen Jahr die Wiederwahl als Regionalpräsident im Latium. Noch bekannter als er selbst war in Italien bislang sein Bruder: Luca Zingaretti, dem der etwas jüngere Nicola sehr ähnlich sieht, spielt seit fast zwei Jahrzehnten den beliebten italienischen Fernseh-Kommissar Montalbano. | Von Jörg Seisselberg | Die italienische Demokratische Partei (PD) hat einen neuen Vorsitzenden: Der ehemalige Kommunist Nicolas Zingaretti ging als deutlicher Sieger aus einer Basisabstimmung der sozialdemokratischen Partei hervor. Unter seiner Führung wird ein Linksruck der Partei erwartet. | "2019-03-04T12:10:00+01:00" | "2020-01-26T22:40:32.305000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/italien-zingaretti-zum-neuen-oppositionsfuehrer-gewaehlt-100.html | 365 |
Wenn der Bus nicht kommt | Auf dem Land ist man ohne Auto oft wenig mobil (dpa / Fredrik Von Erichsen)
Ireen Beyer kommt viel rum, überall in Brandenburg. Die 17-jährige Abiturientin wohnt in Groß Machnow. Das ist ein Ortsteil der Kleinstadt Rangsdorf, im Speckgürtel südlich von Berlin. Die leidenschaftliche Reiterin fährt zu ihrem Pferd im Nachbarort, besucht Freunde und die Oma, ist für den Landesschülerrat unterwegs. Mit allem, was Räder hat: Fahrrad, Bus, Bahn. Und seit letztem Sommer auch mit Auto und Roller.
Ireen Beyer: "Die Mobilität für Jugendliche ist hier relativ anstrengend. Klar kann man relativ viel hier machen und man kommt überall hin, aber das ist mit enormen Kosten und teilweise enormem Aufwand verbunden. Man muss hier halt teilweise fünfmal umsteigen, um irgendwo hinzukommen. Und das ist, wenn man schnell irgendwo hinmöchte, sehr, sehr, sehr nervig."
Vier Kilometer bis zum nächsten Bahnhof
Zum Berliner Alexanderplatz zum Beispiel dauert es von der Bushaltestelle Groß Machnow Kirche eine Stunde und 15 Minuten und man muss drei Mal umsteigen. Zum nächsten Bahnhof sind es vier Kilometer und in der Woche nach 18 Uhr und am Wochenende fährt kein Bus mehr. Der Landkreis sagt, man arbeite dran: Allein für 2019 seien im Kreishaushalt anderthalb Millionen Euro Mehraufwand eingeplant, um den kommunalen ÖPNV zu verbessern.
Ireen nimmt all den Aufwand in Kauf: "Ich würde nicht lieber in der Stadt leben, nur weil ich da kürzere Fahrzeiten hätte, weil ich das Dorfleben sehr schätze." Trotzdem hat sie vor allem einen Wunsch: "Für Jugendliche in Brandenburg müsste mehr getan werden. Zum Beispiel müssten von der Politik die Fahrpreise reduziert werden."
3,40 Euro sind von Groß Machnow bis Berlin zu berappen, ermäßigt immer noch 2,50 Euro. Die rot-rote Landesregierung hat gerade ein vergünstigtes Jahresticket für 365 Euro für alle Azubis in Brandenburg beschlossen, doch die Schüler blieben außen vor.
Ohne Auto geht nichts
Prädikow im Landkreis Märkisch Oderland, 50 Kilometer östlich von Berlin, ist ein hübsches Örtchen: Kopfsteinpflaster auf der Dorfstraße, Schafe und Ponys lugen neugierig aus großen Gärten. Prädikow hat um die 200 Einwohner. Der Bus ins zehn Kilometer entfernte Strausberg, wo es einen S-Bahnanschluss nach Berlin gibt, fährt nur dreimal am Tag.
Martin Luge: "Also früh, Mittag, dann nachmittags, wenn die Schulkinder kommen, und das war es, Wochenende gar nicht. Und dann muss man natürlich sehen, dass man irgendwie mit dem Auto dann von A nach B kommt."
Mediengestalter und Designer Martin Luge hat an der Universität der Künste in Berlin studiert. Er war Mitte 30, als er mit seiner Frau und dem ersten Kind von Pankow raus ins Grüne nach Prädikow zog. Nach dem Blick auf den Busfahrplan war klar: Ein Auto muss her. In Berlin hatten sie keins. "Viele haben ja hier draußen zwei Autos. Wir haben gesagt: Wir müssen das mit einem Auto hinkriegen, haben uns dann mit einem Nachbarn noch zusammengetan, wo wir gesagt haben: Ja, es klappt nicht ganz, weil die Pendelei zu Berlin dann doch relativ hoch ist, wir kaufen uns zusammen ein Auto."
Der neue, 80 Seiten dicke Nahverkehrsplan des Landkreises Märkisch Oderland sieht zwar bessere Verbindungen von und nach Strausberg vor, Taktverdichtungen und Verlängerungen der Betriebszeiten in den berlinnahen Gegenden. Der Kreistag hat dafür für 2019 im Haushalt knapp zwölf Millionen Euro eingeplant.
Im Dörfchen Prädikow aber musste Martin Luge sich selber helfen, um die Kinder zur Grundschule und zur Kita nach Strausberg zu bringen. Seine Frau arbeitet an zwei Tagen in der Woche als Yogalehrerin in Berlin. "Und da können wir die Kinder aus dem Dorf dann entsprechend mitnehmen. Und so fing das an, da auch alternative Lösungen zu finden, zu sagen: Wir haben alle die gleichen Ziele, es führt im Prinzip nur eine Straße dahin, lasst uns doch irgendwie das gemeinsam organisieren."
Mit der App durch die Pampa
Martin Luge und seine Mitstreiter in Prädikow haben eine kostenlose App fürs Smartphone entwickelt: "Pampa" heißt sie und funktioniert so ähnlich wie eine Mitfahrzentrale.
"Und dann kann man Fahrten eingeben, wo man sagt: Ich möchte auf der Strecke jemand mitnehmen, Tag, Zeit, man kann einen Kommentar dazu schreiben und dann noch Zwischenstationen. Zum Beispiel von Zuhause, Kita, Schule, S-Bahn. Und diese Fahrt kann dann wiederum von anderen gefunden werden und wenn man die richtige Fahrt gefunden hat, kann man denjenigen kontaktieren."
Bislang nutzen etwa 150 Leute aus Prädikow und den Nachbardörfern die Mitfahr-App, erzählt Martin Luge. Alternative Mobilitäts-Ideen entwickeln: Für Martin Luge ist das kein mühsames Ärgernis, sondern im Gegenteil ein Beispiel für die Lebensqualität auf dem Land.
"Was seit dem Auszug aus der Stadt mir besonders auffällt, ist, dass man halt Dinge anfassen kann. Also man kann Probleme lösen. In einer Stadt ist man irgendwie schneller anonymisiert oder denkt man sich, das Problem geht einen wirklich nichts an oder man hat keine Chance, da irgendwas zu bewegen. Aber auf dem Land ist es so: Wenn man nichts macht, sieht man, dass eben nichts passiert und dann spürt man das auch direkt." | Von Vanja Budde | Umfragen zufolge zieht es vor allem junge Menschen wieder aufs Land. Aber die Infrastruktur in der Provinz lässt zu wünschen übrig. In Brandenburg kommt der Ausbau des ÖPNV nur schleppend voran. | "2019-02-26T14:00:00+01:00" | "2020-01-26T22:39:38.759000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/nahverkehr-in-brandenburg-wenn-der-bus-nicht-kommt-100.html | 366 |
"Trump äußert sich klar als Skeptiker der Klimawissenschaft" | Präsidentschaftskandidat der Republikaner: US Milliardär Donald Trump ((c) dpa)
Jule Reimer: Jetzt ist es passiert: Der Multimilliardär Donald Trump ist offiziell zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekrönt worden. Am Telefon in Boston bin ich jetzt mit Susanne Dröge von der deutschen Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik verbunden. Frau Dröge, Sie sind extra für uns ganz früh aufgestanden; es ist jetzt dort wo Sie sind, in Boston, 5:45 Uhr. Sie beobachten die Präsidentschafts-Kandidatennominierung direkt vor Ort. Was lässt sich denn über Trump und das Thema Umweltpolitik sagen?
Susanne Dröge: Guten Morgen nach Köln. Ich habe nur festzustellen, dass das Thema keine große Rolle spielt, jedenfalls nicht bei der Nominierung. Aber Trump hat sich zum Thema Umweltpolitik und Klima ja bereits sehr oft deutlich geäußert, wenn auch nur kurz, und da sieht man ganz deutlich: Das Thema möchte er auf keinen Fall besetzen, indem er es voranbringt. Er möchte dagegen ankämpfen, was bisher die Obama-Regierung gemacht hat.
Reimer: Gibt es genauere Aussagen zu dem einen oder anderen Aspekt? Bezweifelt er, dass Klimaschutz notwendig ist?
Dröge: Er selber äußert sich ganz klar als Skeptiker, was die Klimawissenschaft angeht, und hat zum Beispiel markige Worte gefunden. Er möchte das Pariser Abkommen, das wir ja im Dezember letzten Jahres verabschiedet haben - und 196 Staaten haben dem zugesagt - da möchte er wieder raus. Er möchte es abschaffen, er möchte die USA da rausholen. Die Umweltagentur, die hier in den USA ja eine sehr große Agentur ist, nicht so wie bei uns in Deutschland sehr klein, wo 2.000 Beamte arbeiten, die möchte er abwickeln, abschaffen. Und was ganz schlimm ist, was er natürlich hin und wieder von sich gibt: Man lässt sich nicht international diktieren, ob man Haarspray benutzen darf, denn es kann doch gar nicht sein, dass das, was man im Badezimmer benutzt, die Umwelt schädigt. Und was noch ganz wichtig ist: Er hat die Erfindung des Klimawandels auch den Chinesen in die Schuhe geschoben. Das hält er auch für eine Einmischung von außen. Dass dieses Thema angeblich so wichtig sei, kann er nicht glauben, teilt er nicht.
Trump will Umweltagentur abwickeln
Reimer: Eine Bitte: Die Verbindung ist nicht so gut. Vielleicht könnten Sie noch schauen, ob eine kleine Standortänderung das ein bisschen verbessert. Jetzt gibt es ja einen Vizepräsidentschaftskandidaten, den Donald Trump erwählt hat: Mike Pence, Gouverneur des US-Bundesstaates Indiana. Teilt der auch diese Positionen?
Dröge: Mike Pence ist sicherlich jemand, der in dieser Frage nicht ein Neuling ist, der sich schon 2009 in Interviews geäußert hat, und er teilt selbstverständlich die Meinung von Donald Trump, dass Klimawissenschaften ein zwielichtiges Thema sind, dass man dem nicht unbedingt trauen kann, dass es nicht genügend Beweise gibt für den Klimawandel. Er hatte sich auch in der Vergangenheit so geäußert, dass er das Anliegen durchaus teilte, wackelte dann aber, und das wird ihm momentan auch von der Presse vor Augen geführt. Er positioniert sich sehr konservativ, gläubig, religiös, wo in den USA dann immer die Frage ist, wie er zur Evolution steht, was ja im Zusammenhang mit Umweltfragen ein wichtiges Thema ist. Insofern reiht er sich da mit Donald Trump ein, äußert sich aber differenzierter dazu.
Reimer: Was haben wir denn von der Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, von Hillary Clinton zu erwarten in Sachen Umwelt- und Klimaschutz?
Clinton beim Thema Umweltschutz zurückhaltend
Dröge: Hillary Clinton ist sicherlich jemand, die das Thema schon früh in ihrem eigenen Wahlkampf benutzt hat oder getestet hat. Wollen wir mal so sagen. Ihre eigene Partei verlangt jetzt von ihr - und das wird man nächste Woche dann bei dem Parteitag der Demokraten hören - einen eigenen Programmpunkt aufzusetzen und, dass sie ganz stark für die erneuerbaren Energien eintritt, einen CO2-Preis einführt und auch eine grüne Transformation generell in der amerikanischen Gesellschaft voranbringt. Hillary selber ist da ein bisschen zurückhaltend. Sie will auf gar keinen Fall das heiße Eisen CO2-Bepreisung anfassen. Auch unter Obama - da war sie ja Außenministerin - ist das ja schon mal gescheitert. Aber sie ist sicherlich jemand, der das Thema immer wieder im Wahlkampf benutzen wird und auch die Politik Obamas fortsetzen wird.
Reimer: Soweit Susanne Dröge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Schönen Dank nach Boston!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Susanne Dröge im Gespräch mit Jule Reimer | Für den offiziellen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Donald Trump, spiele das Thema Klimaschutz keine große Rolle, sagte Susanne Dröge von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Er behaupte, dass die Chinesen ihn erfunden hätten. Außerdem sei es Trumps Ziel, die USA von den Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens zu entbinden. | "2016-07-20T11:35:00+02:00" | "2020-01-29T18:42:14.608000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/us-wahlkampf-trump-aeussert-sich-klar-als-skeptiker-der-100.html | 367 |
Staatsfonds macht Verluste | Der Atomfonds soll für die Kosten für Zwischen- und Endlagerung des Atommülls aufkommen (dpa /Andreas Endermann)
Von Anja Mikus könnte es unter anderem abhängen, ob der Atomausstieg und die Entsorgung des radioaktiven Abfalls die Steuerzahler viel Geld kosten werden. Die erfahrene Vermögensverwalterin leitet den "Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung" (KENFO).
Der soll das Geld, das für die Endlagerung vorgesehen ist, verwalten und gewinnbringend anlegen. Zwei Jahre nachdem die Bundesregierung den Fonds als öffentlich-rechtliche Stiftung gegründet hatte, wurde nun Bilanz gezogen. Anja Mikus sieht den Fonds auf einem guten Weg:
"Und damit kann ich sagen dass die Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung aus heutiger Sicht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sichergestellt ist."
Bis 2100 soll der Atomfonds das Geld versiebenfachen
Etwas mehr als 24 Milliarden Euro hatten die Energieversorger RWE, Eon, EnBW und Vattenfall 2017 auf einen Schlag an den Fonds überwiesen. Das waren ihre Rücklagen für die Entsorgung des Atommülls. Mit dem Geld haben sie auch die Verantwortung an den Staat abgegeben.
"Und da war ein wichtiger Punkt, dass wir das Geld gesichert haben, also in einen Topf gebracht haben, der ein sicherer war und auch nicht von verschiedener anderer Stelle angegriffen werden kann", sagt Thorsten Herdan. Er ist Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium und sitzt im Kuratorium, also dem Aufsichtsrat der Stiftung. Herdan macht auch noch einmal deutlich, was sich die Bundesregierung von dem Fonds erhofft.
"Ziel ist, dass wir aus 24,3 Milliarden Euro, die eingezahlt wurden, rund 169 Milliarden Euro bis zum Jahr 2100 machen."
169 Milliarden Euro – so viel, rechnet das Wirtschaftsministerium, soll die Zwischen- und Endlagerung am Ende kosten. Trotz der optimistischen Worte von Anja Mikus: Bisher ist das Geld beim Fonds weniger geworden, anstatt mehr. Von den ursprünglich eingezahlten 24 Milliarden Euro waren Ende des vergangenen Jahres noch 23,6 Milliarden übrig.
Das liegt zum einen an den regelmäßigen Kosten - zum Beispiel für die Zwischenlagerung des radioaktiven Abfalls und für die Endlagersuche. Aber der Fonds selbst hat 2018 auch Verluste gemacht - 71 Millionen Euro. Grund ist die Niedrigzinspolitik, die viele Anleger belastet.
Sichere Investitionen - zum Beispiel in Staatsanleihen - bringen momentan kaum Rendite. Der sogenannte "Entsorgungsfonds" parkt einen Großteil des Vermögens bisher bei der Bundesbank und zahlt dafür Negativzinsen von 0,4 Prozent. Man sei aber auf gutem Kurs, meint Mikus.
Umweltverbände sind skeptisch, ob das Geld reicht
"Mit diesem Ergebnis sind wir insgesamt zuversichtlich, dass wir mit unserem Stiftungsergebnis 2019 bereits in der Gewinnzone landen. Das ist ein Jahr früher als geplant."
Stand jetzt sind knapp 9 Milliarden investiert worden, vor allem in Aktien und in Staatsanleihen von Industrie- und Schwellenländern. Auch bei bester Investmentstrategie ist allerdings offen, ob das Geld am Ende wirklich reicht, um die Kosten der Endlagerung abzudecken. Umweltverbände hatten bei der Einrichtung des Fonds kritisiert, die 24 Milliarden seien zu knapp kalkuliert und die Unternehmen hätten sich verhältnismäßig günstig aus ihrer Verantwortung gezogen. | Von Josephine Schulz | Deutschland steigt aus der Atomkraft aus – für die Kosten für Zwischen- und Endlagerung des Atommülls soll ein Fonds aufkommen, in den die Energieversorger 24 Milliarden Euro eingezahlt haben. Das Geld wird angelegt – doch der Fonds macht Verluste. | "2019-07-23T17:05:00+02:00" | "2020-01-26T23:03:10.051000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/atommuell-entsorgung-staatsfonds-macht-verluste-100.html | 368 |
Bewaffnete Fußballfans | Im Blick der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE): Fans von Roter Stern Belgrad. (imago sportfotodienst)
Es gehe dabei vor allem um Anhänger der beiden verfeindeten Belgrader Clubs Roter Stern und Partizan, erklärte Sabine Adler in der Sendung "Sport am Sonntag". Die Dlf-Reporterin hat in Serbien recherchiert und dabei auch den OSZE-Berichterstatter Davor Lukac getroffen. "Das Problem", sagt Lukac, "sind nicht die normalen Bürger und ihre Waffen, sondern die Extremisten und ihre Waffen. Sie geben den Ton an bei Partizan Belgrad genauso wie bei Roter Stern Belgrad."
Verbindungen in die Politik
Offiziell gehörten die Vereine dem Staat. "Aber in den Vereinsvorständen sitzen Ultras", so Lukac, "Extremisten mit Waffen. Und die haben eine Armee von rund 20.000 Mann hinter sich, darunter Hooligans, die sie aufstacheln können: mit Liedern gegen die Regierung, mit Bannern, oder mit Demonstrationen. Sie sind jederzeit zu mobilisieren."
Unter anderem deswegen schrecken Politiker in Serbien laut Lukac davor zurück, zu scharf gegen diese Gruppen vorzugehen - beziehungsweise existierten Belege dafür, dass es teilweise sogar enge Verbindungen zwischen ranghohen serbischen Politikern und gewaltbereiten Fußballfans gebe: So liege Lukac etwa ein Video vor, auf dem der Sohn des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic bei der Fußball-WM in Russland mit serbischen Ultras zu sehen sei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Sabine Adler im Gespräch mit Marina Schweizer | In Serbiens Zivilgesellschaft soll es zwischen 200.000 und 900.000 Waffen geben - bei einer Bevölkerung von sieben Millionen Menschen. Laut einem aktuellen OSZE-Bericht sollen die Waffen zu einem großen Teil im Besitz von Fußballanhängern sein, berichtet Dlf-Korrespondentin Sabine Adler. | "2018-09-02T00:00:00+02:00" | "2020-01-27T18:09:04.611000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/serbien-bewaffnete-fussballfans-100.html | 369 |
Erdogan sieht Verschwörung verfeindeter Terrororganisationen | Bei der Beerdigung eines Todesopfers in Gaziantep tragen Menschen den Sarg des Opfers auf ihren Händen. (AFP / Ilyas Akengin)
In der südtürkischen Millionenstadt Gaziantep trauern die Angehörigen um die Opfer des Terroranschlags. Viele Särge stehen aufgebahrt auf einem Platz im Stadtteil Bahcebey. Die Menschen sind erschüttert. Aus den Nachrichten hören sie, dass der Selbstmordattentäter noch ein Kind war, etwa 12 bis 14 Jahre alt, und dass er wohl im Auftrag der Terrormiliz IS die Bombe gezündet habe.
Plötzlich mischen sich in die Trauer Buh-Rufe, die trauernde Menge ist wütend. Dann Sprechchöre: "Mörder Erdogan", rufen die Angehörigen. Sie machen Staatspräsident Erdogan mitverantwortlich für diesen Anschlag. Die Trauernden sind sicher: Der Selbstmordattentäter hatte ganz bewusst die Hochzeitsfeier einer kurdischen Familie angegriffen, die sich politisch engagiert; einige Familienmitglieder gehören der pro-kurdischen Partei HDP an.
Die Kurden, die hier trauern, fühlen sich von Präsident Erdogan und der türkischen Regierung im Stich gelassen. Deshalb die Protestrufe. Die pro-kurdische HDP hat heute Nachmittag in einer Erkärung der Regierung vorgeworfen, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausbreite. Die Terrormiliz IS hatte schon mehrfach gezielt Anschläge gegen Kurden in der Türkei verübt.
Angehörige finden Streit unerträglich
Präsident Erdogan freilich interpretiert das Selbstmordattentat der vergangenen Nacht völlig anders. Er vermutet zwar auch, dass die Terrormiliz IS hinter diesem Anschlag steckt. Aber er zieht gleichzeitig eine Verbindung zur kurdischen PKK und zur Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich gemacht wird. Präsident Erdogan heute Nachmittag:
"Die Türkei ist einem Angriff ausgesetzt, der immer demselben Ziel folgt, auch wenn die Anschläge von unterschiedlichen Terrororganisationen ausgehen. Die Terrororganisationen stehen in engen Beziehungen zueinander. Am 15. Juli hatte die Fethullah-Gülen-Terrororganisation unser Volk angegriffen. Aber ohne Erfolg. Deswegen haben die anderen Terrororganisationen nun die Aufgabe übernommen."
Erdogan konstruiert einen Zusammenhang, als hätten sich die miteinander verfeindeten Terrororganisationen miteinander verschworen - zum Angriff auf die Türkei.
Für die Angehörigen, die in Gaziantep trauern, ist dieser Streit unerträglich. Einer von ihnen sagt:
"Es schmerzt immer, wenn jemand stirbt. Besonders schmerzhaft ist es aber, wenn in diesen sinnlosen Tod auch noch die Religion und dann sogar noch die Politik mit hineingebracht werden. Unsere Angehörigen, die hier getötet wurden, waren doch unschuldig. Unser Schmerz ist groß. Wir leiden alle."
Der Terroranschlag von Gaziantep mit mehr als 50 Toten zeigt somit einmal mehr, welch ein Riss sich durch die türkische Gesellschaft zieht. | Von Thomas Bormann | Für den Anschlag in Gaziantep mit 51 Toten macht der türkische Präsident Erdogan die Terrormiliz IS verantwortlich. Ein 12 bis 14 Jahre altes Kind habe den Selbstmordanschlag begangen. Erdogan sieht eine Verschwörung gegen die Türkei. Die miteinander verfeindeten Gruppen IS, PKK und die Gülen-Bewegung würden gemeinsam sein Land angreifen. | "2016-08-21T18:10:00+02:00" | "2020-01-29T18:48:43.636000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/anschlag-in-der-tuerkei-erdogan-sieht-verschwoerung-100.html | 370 |
Schwierige Lage nach USA-Rückzug | Das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser (UNRWA) muss auch bei den Bildungsangeboten kürzen (dpa / AP Photo / Hassan Ammar)
Ein Hotel am Rande von Gaza-Stadt mit Blick aufs Meer. Hierhin musste sich Matthias Schmale zum Arbeiten zurückziehen - Bodyguards schirmen ihn ab. Der Deutsche leitet das UN-Flüchtlingshilfswerk in Gaza, kurz UNRWA. Vor kurzem musste er Entlassungen des Personals verkünden und wurde so zum Feindbild einiger Angestellter in der UNRWA-Zentrale.
"Ich fühle mich wie der Kapitän eines Schiffs, der vom Steuerrad entfernt wurde und in seiner Kabine arbeiten muss. Das geht nicht. Man kann kein Schiff durch schwierige Wellen manövrieren, ohne das Steuerrad in der Hand zu haben. Das ärgert mich. Das ist im Prinzip eine Meuterei unseres eigenen Personals."
Schmale erlebt schwere Zeiten bei der UNRWA. Die USA, traditionell größter Geldgeber, haben in diesem Jahr bislang nur etwa 60 statt zuletzt 360 Millionen Dollar gezahlt.
Weil dem Hilfswerk nun auch in Gaza Geld fehlt, hat Schmale rund 110 von etwa 13.000 Mitarbeitern gekündigt. Zudem müssen fast 550 fortan in Teilzeit arbeiten. Er habe priorisieren müssen, argumentiert Schmale.
Fünf Millionen Menschen profitiern von UNRWA-Hilfen
Dienstleistungen wie psychologische Betreuungsangebote werden zurückgefahren, um die Lebensmittelhilfe in Gaza aufrecht zu erhalten und die Schulen weiter betreiben zu können.
"Wenn wir etwa eine Million Menschen nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgen würden, dann würde es hier Hunger geben. Unsere Nahrungsmittelhilfe ist im Moment keine Reaktion, sie dient dazu, den Hunger zu verhindern. Und wenn unsere 275 Schulen zumachen müssten, dann hätten wir es mit 270.000 Kindern zu tun, die keine Alternative haben. Die dann auf der Straße oder zu Hause rumlungern würden."
Der Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Palästinenser (UNRWA) (dpa / APA / Mahmoud Ajour)
Die UNRWA wurde in Folge des arabisch-israelischen Krieges von 1948/1949 gegründet. Sie kümmert sich um palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten und um deren Nachkommen. Heute profitieren geschätzt fünf Millionen Menschen etwa von Bildungsangeboten und Gesundheitsversorgung.
Im abgeriegelten Gazastreifen haben rund 1,3 von etwa zwei Millionen Bewohnern den palästinensischen Flüchtlingsstatus.
Teile der Belegschaft machen den Leiter verantwortlich
Hier sei die UNRWA ein Stabilitätsanker, so beschreibt die Gewerkschaftlerin Amal El Batsh die Rolle des Hilfswerks. Kaum eine andere Institution im von der radikal-islamischen Hamas regierten Gaza zahlt ihre Gehälter so zuverlässig.
"Es gibt viele Arbeitslose. Und da haben vielleicht viele geheiratet, weil ihr Partner einen Vertrag mit der UNRWA hat. Das hilft dann der ganzen Familie, dem Bruder, der Schwester, dem Neffen und so weiter. Und deshalb hat das Auswirkungen auf die Wirtschaftslage und die soziale Situation in Gaza."
Amal El Batsh sitzt in einem Innenhof der UNWRA-Zentrale in Gaza. Um sie herum streikende Kollegen. Sie protestieren gegen den Kurs des Direktors. An Betonpfeilern haben sie Schilder aufgehängt: "Matthias Schmale go out".
Teile der Belegschaft machen ihn für die Situation verantwortlich. Der Psychologe Dabar Sabed sagt, er sei im Hungerstreik.
"Das hat doch mit der finanziellen Situation der UNWRA nichts mehr zu tun. Das ist ein politisch gewolltes Problem."
Dabar Sabed spielt auf Berichte aus den USA an, wonach die Regierung Donald Trumps die UNRWA zerschlagen, und Millionen Palästinensern den Flüchtlingsstatus entziehen will. Die Organisation habe die Situation der palästinensischen Flüchtlinge verstetigt und nicht geholfen, wird ein US-Regierungsvertreter zitiert.
Deutschland unterstützt mit 16 Millionen Euro
Von diesen US-amerikanischen Erwägungen hält Matthias Schmale, der die UNRWA in Gaza leitet, nichts.
"Das bedeutet, dass man das Thema Gerechtigkeit für die Vertreibung von vor siebzig Jahren vom Tisch nimmt und das ist aus unserer Sicht moralisch und politisch nicht zu rechtfertigen."
Die Bundesrepublik Deutschland hat 8,4 zusätzliche Millionen für die Lebensmittelhilfe in Gaza zugesagt. In diesem Jahr will Deutschland insgesamt 16 Millionen Euro überweisen.
Doch wie die Zukunft der UNRWA vor dem Hintergrund des aktuellen US-Kurses aussieht ist offen. Offiziell heißt es, die amerikanische Finanzhilfe liege auf Eis, solange die Palästinenser nicht zu Friedensverhandlungen mit Israel bereit sind. | Von Kilian Neuwert | Lebensmittelhilfe, Bildungsangebote, psychologische Betreuung - das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser (UNRWA) muss seine Hilfe nach dem Finanzierungsrückzug der USA immer mehr zurückfahren. Zudem wurden 100 Mitarbeiter entlassen. Und die Zukunft der Organisation ist ungewiss. | "2018-08-09T05:05:00+02:00" | "2020-01-27T18:05:22.266000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/un-fluechtlingshilfswerk-fuer-palaestinenser-schwierige-100.html | 371 |
"Gegen Fake News und populistische Parolen zusammenhalten" | ARD und ZDF stehen seit Monaten in der Kritik - eine "Kampagne"? (picture alliance / Peter Kneffel/dpa)
"Normalerweise berichten wir nicht über uns selbst, aber wir müssen uns mal dringend in eigener Sache zu Wort melden.
Wir wenden uns dabei vor allem an die Kolleginnen und Kollegen der Zeitungen und Zeitschriften. Wir fühlen uns nämlich diskreditiert, wenn wir als Staatsfunk bezeichnet werden und uns unterstellt wird, wir seien politisch gesteuert.
Das ist absolut abwegig und es verunglimpft unsere Arbeit. Und diese Diffamierung einiger Medienhäuser schadet dem Journalismus insgesamt. Viele hundert Journalistinnen und Journalisten arbeiten in ARD, ZDF und Deutschlandradio jeden Tag zusammen mit Cuttern, Technikern, Kameraleuten usw. daran, die Hörer, Zuschauer und Leser zu informieren. Wir sind vor Ort, wir recherchieren, wir reden mit Leuten und wir sind dabei kritisch in alle Richtungen.
Wir brauchen beides - starke Zeitungen und Zeitschriften und einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir appellieren deshalb an die verantwortungsbewussten Kolleginnen und Kollegen in den Medienhäusern. Wir sollten gegen Fake-News und populistische Parolen zusammenhalten. Wir sollten Brücken bauen zwischen den auseinander fallenden Teilen der Gesellschaft.
Und noch was zum Schluss: Natürlich stellen wir uns der Kritik, jeden Tag und überall. Aber sie muss sachlich sein."
Hubert Krech ist Redakteur beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und Sprecher des Redakteursausschusses. In der "Frankfurter Erklärung" beklagen er und weitere Redakteure eine seit Monaten laufende Kampagne einiger Printmedien gegen die öffentlich-rechtlichen Sender und weisen deren Kritik zurück. Mehr dazu hier. | null | Redakteure öffentlich-rechtlicher Sender fühlen sich von Zeitungskollegen diskreditiert. Hubert Krech vom ZDF-Redakteursausschuss erklärt im Deutschlandfunk, was ihn und seine Kollegen stört. | "2017-11-02T15:35:00+01:00" | "2020-01-28T10:59:20.143000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/60-sekunden-fuer-hubert-krech-gegen-fake-news-und-100.html | 372 |
"Wir müssen mehr testen" | Der Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) (picture alliance/Kay Nietfeld/dpa)
Der Test müsse für die Betroffenen kostenlos sein, betonte Lauterbach. Aus Bonn war ein Fall bekannt geworden, wo eine Klinik einem 22-jährigen Studenten 130 Euro dafür berechnen wollte.
Das bisherige Krisenmanagement in Deutschland bezeichnete Lauterbach, der selbst Mediziner ist, als "im Großen und Ganzen gut gelaufen". Wenn sich das Virus weiter ausbreite, werde aber der Mangel an hochqualifiziertem Pflegepersonal das Problem Nummer eins. Es gebe viele Krankenhäuser, aber nicht genug Pflegekräfte. "Da sind wir nicht ganz so gut gerüstet", sagte der SPD-Politiker.
Die wichtigsten Beiträge zum Thema Coronavirus finden Sie hier (imago / Science Photo Library)
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Herr Lauterbach, ich würde gerne mit einer Geschichte aus Nordrhein-Westfalen beginnen, wo Sie ja auch herkommen, und zwar aus Bonn. Dort wurde am Wochenende ein 22-jähriger Student positiv getestet, nach dem Besuch zahlreicher Karnevalsfeiern. Er wurde allerdings erst bei seinem zweiten Besuch in der Klinik getestet. Das berichtet der "Bonner General-Anzeiger". Beim ersten Mal, da habe die Klinik ihm nämlich 130 Euro für den Test berechnen wollen, weil er nicht zur Risikogruppe eins gehört habe. Daraufhin sei er dann wieder gegangen, am nächsten Tag wiedergekommen, war natürlich in der Zwischenzeit in der Öffentlichkeit, hätte Menschen anstecken können. Ein Infizierter, der nicht direkt getestet wurde, weil er den Test hätte selbst bezahlen müssen. Ist da was kaputt in unserem Gesundheitssystem, wenn im Fall einer Epidemie Tests selbst bezahlt werden müssen?
Karl Lauterbach: Dass der Test selbst bezahlt werden muss – der Test ist sehr teuer und er wird sowieso zu wenig gemacht in Deutschland -, das ist falsch. Das ist ganz klar. Der Test muss so nicht mehr erschwinglich sein, er sollte eigentlich kostenlos sein. Dort wo er begründet eingesetzt wird – und das war ja hier klar der Fall nach der Risikobeschreibung, die hier ja unstrittig steht -, hätte der Test nicht bezahlt werden müssen. Das ist kein Test, der zu Lasten der Versicherten abgerechnet werden muss.
"Der Test sollte kostenlos angeboten werden"
Büüsker: Hätte das eher geregelt werden müssen? Inzwischen hat Minister Spahn es ja den Ärzten vereinfacht, den abzurechnen. Aber hätte man das schon eher machen müssen?
Lauterbach: Es ist müßig, darüber nachzudenken, aber auf jeden Fall sollte der Test den Betroffenen nicht günstig, sondern schlicht kostenlos angeboten werden.
Büüsker: Wieso finden Sie es müßig, darüber nachzudenken?
Lauterbach: Weil es jetzt passiert ist und man kann sich das nachträglich überlegen, aber ich glaube nicht, dass der Test oft nicht gemacht wurde, weil er etwas kostet. Die meisten, die den Test in Anspruch nehmen, haben keine Ahnung, wie teuer er ist, und dass jemand weggeht, weil der Test ihm zu teuer ist, das höre ich jetzt auch zum ersten Mal. Da sind keine weiteren Fälle bekannt. Dennoch ist es richtig: Der Test muss kostenlos sein für die Betroffenen.
Büüsker: Haben Sie nicht die Sorge, dass solche Einzelfälle, wo Dinge schieflaufen, etwas fundamental auch am Vertrauen der Menschen in das System kaputt machen?
Lauterbach: Das kann passieren, das ist wahr. Aber im Großen und Ganzen, glaube ich, ist das Krisenmanagement in Deutschland bisher einigermaßen gut gelaufen. Ich bin jetzt ein paar Tage in den USA gewesen und habe mich dort mit Kollegen an der Harvard-Uni ausgetauscht. Dort ist man in einer ganz anderen Situation und die haben bisher die großen Fehler vermieden. Man muss das Positive hier betonen und von daher, glaube ich, sind wir in keiner schlechten Verfassung bisher. Es gibt immer nachträglich Dinge, wo man weiß, das hätte man etwas anders gestalten müssen, aber ich halte nicht viel davon. Wenn jetzt etwas wäre, was mir auffiele, was ich definitiv ganz anders machen würde, dann würde ich es auf jeden Fall sagen.
"Wir sind jetzt in einer kritischen Phase"
Büüsker: Sie finden, bisher alles hervorragende gelaufen?
Lauterbach: Nicht hervorragend, aber nicht schlecht. Ich glaube, dass man bei der Absage der Großveranstaltungen noch einmal nachdenken muss. Ich stimme auch der Position persönlich zu, die da zum Teil geäußert wurde, dass wir jetzt Großveranstaltungen nur durchführen sollten, wenn sie wirklich sehr gut begründet sind und wenn die Sicherheit gewährleistet ist, dass niemand aus Risikogebieten kommt. Sonst sollten wir uns überlegen, von Großveranstaltungen im Moment abzusehen, weil wir sind jetzt in einer kritischen Phase des Geschehens. Man darf nicht vergessen: Die Fälle, die wir heute bemerken, die jetzt heute festgestellt werden, die heute Symptome bringen, die sind vor einer Woche oder oft schon vor zwei Wochen entstanden. Man schaut bei so einer Infektion immer nach hinten in die Vergangenheit und die Leute, die sich heute anstecken, die werden wir in einer Woche oder vielleicht auch erst in zwei Wochen bemerken. Das heißt, wir sind in einer kritischen Phase, dass gerade das Absagen von Großveranstaltungen zum jetzigen Zeitpunkt sehr wichtig ist. Das wäre auch meine Empfehlung übrigens an die Bürger, Großveranstaltungen zu meiden und die bekannten Sicherheitsregeln einzuhalten, die da wären: Kontakt meiden zu Infizierten, wenn man infiziert ist, sich sofort zurückziehen, telefonisch Kontakt aufzunehmen mit Ärzten und sich testen zu lassen, wenn das einem empfohlen wird, und das Händewaschen und die Hygieneregeln. Das ist sehr wichtig im Moment.
Büüsker: Herr Lauterbach, wenn Sie sagen, Großveranstaltungen lieber zur Sicherheit absagen, gilt das auch für Fußballspiele?
Lauterbach: Bei den Fußballspielen sind die Experten uneinig und ich glaube, wir haben bisher noch eine Durchdringung, eine Zahl von Fällen, die das nicht unbedingt notwendig macht. Aber wir müssen auf jeden Fall mehr testen, um ein Gefühl davon zu bekommen, ab wann wir eine kritische Grenze erreichen. Das heißt, dann hat man so viele Fälle, die schon infiziert sind, ohne Symptome zu machen, dass so etwas auch erwogen werden muss. Noch sind wir nicht so weit. Von dem, was wir bis zum jetzigen Zeitpunkt wissen, ist es noch nicht so weit. Wir müssen aber mehr spontan testen. Wir haben noch kein gutes Gefühl dafür, wie weit das Virus zum jetzigen Zeitpunkt verbreitet ist in Deutschland.
"Mangel an Personal insbesondere in der Intensivpflege"
Büüsker: Schauen wir vielleicht noch mal auf unser Gesundheitssystem und inwieweit das vorbereitet ist. Vor wenigen Wochen ist ein neues Krankenhaus-Barometer veröffentlicht worden, und darin ist die Rede von 17.000 vakanten Pflegestellen in deutschen Krankenhäusern. Wie nervös macht Sie so eine Zahl mit Blick auf die aktuelle Lage?
Lauterbach: Wir haben da einen Flaschenhals. Das ist ganz klar. Wir haben zwar viele Krankenhäuser. Wir haben fast 2.000 Krankenhäuser. Das ist im europäischen Vergleich sehr viel, das ist ja bekannt. Aber uns fehlt es an Pflegekräften und die Sorge, die ich hätte, ist: Bei der Zahl der Pflegekräfte, die wir haben, können uns nicht viele Pflegekräfte ausfallen durch Krankheit selbst, um in eine kritische Lage zu kommen. Das heißt, tatsächlich sind wir an der Stelle nicht ganz so gut gerüstet. Wir müssen dann umbauen. Da gibt es natürlich auch Maßnahmen. Dann müssten die Eingriffe, die planbar sind, die aber nicht eilig sind, die müssten dann abgesagt werden. Die Krankenhäuser werden vorbereitet, aber in der Tat ist der Flaschenhals, das fehlende Personal im Bedarfsfall, insbesondere da wir in die Grippesaison hineingekommen sind – wir haben derzeit Glück, kann man sagen, weil der Winter relativ leicht verläuft, aber wir sind noch lange nicht aus dem Schneider und die nächsten zwei Wochen werden kritisch sein.
Büüsker: Woran liegt es denn, dass die Krankenhäuser nicht gut personell ausgestattet sind? Ist das tatsächlich Fachkräftemangel, oder liegt das auch daran, dass die Krankenhäuser, insbesondere die in privater Hand, auf Rendite aus sind?
Lauterbach: Die Rendite spielt auch eine Rolle, aber tatsächlich ist es so: Wir haben über zehn Jahre hinweg an der Pflege gespart. Wir haben aus dem Grunde ja jetzt auch die Pflege aus den Fallpauschalen rausgenommen. Wenn Sie pro Fall eine Pauschale bekommen, liegt das auch daran, dass Sie gerne am Pflegepersonal sparen, um damit zum Beispiel dann Ärzte einstellen zu können. Dann können Sie mehr Fälle abrechnen und Sie machen ein Geschäft. Das haben wir gerade in dieser Legislaturperiode geändert, weil das ein unhaltbares System war. Das wird aber eine Zeit lang dauern, bis die Pflege wieder besser dasteht, und man muss im Nachhinein sagen, wir hätten mehr bei der Pflege schon vor ein paar Jahren machen müssen. Da ist immer wieder was unternommen worden; das hat aber noch nicht durchschlagend geholfen. Der Mangel an hochqualifiziertem Pflegepersonal insbesondere in der Intensivpflege ist das Nummer-eins-Problem, wenn die Epidemie sich wirklich stark ausbreiten würde in Deutschland.
Büüsker: Diese Situation in den Krankenhäusern, dazu viel Unsicherheit, was die Verbreitungswege angeht – können Sie nachvollziehen, dass es vielen Bürgerinnen und Bürgern gerade nicht so wohl ist mit Blick auf diese Epidemie?
Lauterbach: Das kann ich durchaus. Das ist auch nicht unangemessen. Allerdings Panik ist auch der schlechteste Ratgeber hier. Hier muss jeder schauen, dass er insbesondere versucht, selbst alles zu tun, um sich nicht zu infizieren, und wenn er das Gefühl hat, er könnte infiziert sein, dann muss schnell getestet werden. Wir brauchen hier einen kühlen Kopf. Man darf die Situation nicht runterspielen. Wir werden deutlich mehr Fälle sehen. Das Fallgeschehen wird noch eine Zeit lang steigen. Wir müssen lernen, in den nächsten Wochen damit zu leben. Wir dürfen keine Fehler machen. Dazu gehört einfach, dass man auch sehr stark darauf achtet, selbst keine Fehler zu machen. Die Aufklärung, die jetzt überall stattfindet, auch in Sendungen wie den Ihrigen, ist daher wichtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Karl Lauterbach im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | Beim Umgang mit dem Coronavirus steckt Deutschland nach Ansicht des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach in einer kritischen Phase. Die Absage von Großveranstaltungen sei wichtig, sagte er im Dlf. Zudem müssten mehr Menschen auf das Virus getestet werden, um die Verbreitung besser abschätzen zu können. | "2020-03-02T06:50:00+01:00" | "2020-03-17T08:52:21.572000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/lauterbach-spd-zum-coronavirus-wir-muessen-mehr-testen-100.html | 373 |
Zwei Drittel aller Flüge ausgefallen | Nichts geht mehr: Eine Anzeigetafel auf dem Frankfurter Flughafen am Dienstag (AFP / DANIEL ROLAND)
Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit hatte den seit gestern dauernden Streik am Dienstag auf die Langstreckenverbindungen ausgeweitet. Der Ausstand dauerte bis Mitternacht. Doch bereits jetzt müssen sich Fluggäste auf mögliche neue Behinderungen im Flugverkehr einstellen. Die Vereinigung Cockpit drohte die Streiks fortzusetzen. "Sollte sich im Tarifkonflikt weiterhin nichts tun, sollte bei der Lufthansa weiter gemauert werden, dann schließen wir weitere Streiks in dieser Woche nicht aus", sagte Markus Wahl von der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit.
Die Lufthansa bekräftigte ihre Verhandlungsbereitschaft. Ein Eilantrag der Lufthansa, mit dem der Konzern die Gewerkschaft zu einem Ende der Streiks zwingen wollte, war am Dienstag auch in der zweiten Instanz vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht gescheitert.
Noch einige Behinderungen
Die Lufthansa hatte an den zwei Streiktagen mehr als 1.500 Flüge gestrichen, etwa 166.000 Passagiere waren betroffen. Auch nach Streikende kommt es am Frankfurter Flughafen noch zu einigen Ausfällen. Der Konzern hat einen Sonderflugplan in Kraft gesetzt, der am ersten Streiktag laut Lufthansa auch wie geplant habe umgesetzt werden können.
In dem Tarifstreit, der schon seit Monaten anhält, geht es vor allem um die Frühverrentung der Piloten. Die Lufthansa will die Altersgrenze dafür anheben, weil sie die derzeitige Regelung auf Dauer für unbezahlbar hält. Die Pilotengewerkschaft "Vereinigung Cockpit" lehnt diese Änderungswünsche allerdings ab.
(tön/ach) | null | Wegen des Streiks ihrer Piloten sind bei der Lufthansa heute zwei Drittel aller Flüge ausgefallen. In Frankfurt am Main blieben nahezu alle Langstreckenmaschinen am Boden, rund 166.000 Passagiere waren betroffen. Noch vor dem Ende des Streiks drohen die Piloten mit neuen Ausständen. | "2014-10-21T18:20:00+02:00" | "2020-01-31T14:09:24.747000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/streik-bei-der-lufthansa-zwei-drittel-aller-fluege-100.html | 374 |
Rückkehr an die Weltspitze | Die USA sind wieder führende Wirtschaftsweltmacht. (picture alliance / dpa / Igor Zehl)
"Das ist keine Theorie, das ist meine Beobachtung. Es ist nicht das erste Mal, dass Amerika in der Krise ist und zurückkommt."
Bei seinem letzten Berlin-Besuch im Dezember überraschte Professor Vaclav Smil von der Universität in Manitoba, Kanada, seine deutschen Zuhörer. Seit 35 Jahren beobachtet er die Wirtschaft Nordamerikas. Und die Realität gibt ihm recht: Die USA haben ihren Platz an der Spitze der Weltwirtschaft zurückerobert, wenn sie ihn je ernsthaft verloren hatten. Die zehn wertvollsten Unternehmen sind in amerikanischer Hand, allen voran der IT-Konzern Apple, gefolgt vom Ölmulti Exxon, der Internetsuchmaschine Google und Microsoft. Zum Vergleich: Die vier großen US-Firmen sind um 125 Milliarden Euro wertvoller als alle 30 Dax-Unternehmen zusammen. Auch bei den Top-100 spielen die USA eine herausragende Rolle: 47 von 100 der erfolgreichsten Unternehmen haben ihren Sitz in den Vereinigten Staaten.
Amerika, so Professor Vaclav Smil, hat wieder eines beherzigt: Zähle auf deine Industrie.
"Die Amerikaner haben gelernt, dass sie zu viele Jobs nach China und Asien verlagert haben. Jetzt sind sie dabei, sie wieder zurückzuholen. Es ist besser, wenn du dein Hauptquartier hier hast."
Für den wachsenden Erfolg sind zwei Entwicklungen ebenfalls entscheidend: Die USA haben ihre Position als Motor der Internetbranche nicht nur gehalten, sondern ausgebaut. Apple ist nach wie vor nicht von Platz 1 zu verdrängen und Google hat sich innerhalb von 15 Jahren zur führenden Suchmaschine entwickelt. Sie profitieren von einem Image, das in der Wirtschaftskrise fast verblasst schien.
"Das ist ein Land, in dem die Menschen arbeiten wollen. Der Pool von Arbeitskräften ist immens. Es hat seine Anziehungskraft nicht verloren."
Hinzu kommt: Niedrige Energiepreise drücken die Produktionskosten. Die USA bauen die in Deutschland umstrittene Fracking-Methode zur Rohölgewinnung konstant aus. Bis zum Jahr 2017 werden sie sich laut einer Prognose der Internationalen Energieagentur vom weltgrößten Energieverbraucher zum größten Energieproduzenten wandeln.
"In dieser Welt wird die USA weiterhin die Nummer Eins sein. Zumindest in der vorhersehbaren Zukunft." | Von Nana Brink | Die USA nehmen wieder den unangefochtenen Platz an der Weltspitze ein: Die zehn wertvollsten Firmen sind ausschließlich amerikanische. Ein Grund: Die USA haben ihre Rolle als Motor der Internetbranche weiter ausgebaut. | "2014-01-07T00:00:00+01:00" | "2020-01-31T13:20:45.694000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/us-wirtschaft-rueckkehr-an-die-weltspitze-100.html | 375 |
Angola - eine junge Demokratie im Aufbruch? | "Wir haben jetzt für 300 bis 400 Meter gut 45 Minuten gebraucht".Mittags in der Baixa, der Unterstadt von Luanda. Der Verkehr steht - wie so oft in Angolas Hauptstadt. Logistiker Humberto Leite lehnt sich geduldig in seinen Autositz zurück. Zwischen überfüllten Minibustaxis und Jeeps drängeln sich junge Männer durch die Gassen zu den Fahrern durch, sie bieten Zeitungen, Kleiderbügel und Sportschuhe an. Humberto Leite erwirbt einen Stadtplan.Luanda gilt als teuerste Stadt der Welt für Ausländer. Einfamilienhäuser sind für bis zu 60.000 US-Dollar im Monat zu mieten - kostenlos ist nur die Aussicht auf das Meer der Blechdächer von Luandas Slums. Dort wird jeden Tag um das tägliche Brot gekämpft. Humberto Leite, der mit 950 US-Dollar Gehalt ein Vielfaches der meisten Angolaner verdient, könnte sich in Luanda niemals eine Wohnung leisten - er lebt bei der Familie in einem Vorort: "250 Dollar zahle ich für die Uni, ich habe eine zweijährige Tochter, die ich unterstütze und der Rest reicht nicht für große Sprünge, denn in Luanda sind die Lebenshaltungskosten sehr hoch."Dennoch herrscht erstmals seit Jahrzehnten echte Aufbruchstimmung in Angola, das lange nur mit Meldungen über Hungersnöte und Korruption Schlagzeilen machte. Viele Berufstätige, die wegen des Krieges keine Ausbildung machen konnten, beginnen wie Humberto Leite neben dem Job ein Studium. Die Wirtschaft verzeichnete in den letzten fünf Jahren zweistellige Wachstumsraten. 2008 hat das OPEC-Mitglied Angola Nigeria als größten Ölförderer Afrikas abgelöst. Die reichen Diamantenvorkommen gehören zu den hochwertigsten der Welt. Ab 2012 will die Regierung Gas verflüssigen und in die USA exportieren. "Deutschlandfunk - 23 Uhr - Die Nachrichten. Der Anführer der angolanischen Rebellenorganisation UNITA, Savimbi, ist nach Angaben der Regierung in Luanda bei Kämpfen im Südosten des Landes von Soldaten getötet worden. Eine entsprechende Erklärung wurde in den Medien des südwestafrikanischen Landes verlesen." 27 Jahre lang hatte Jonas Savimbi gegen die regierende MPLA - die "Volksbewegung zur Befreiung Angolas" - gekämpft. Diese hatte 1975 staatsstreichartig die Macht ergriffen, als die Portugiesen wegen des Unabhängigkeitskrieges die Kolonie Hals über Kopf aufgaben. Mehrere Friedensversuche zwischen MPLA und UNITA scheiterten - unter anderem an der kompromisslosen Haltung Savimbis. Sein Tod am 22. Februar 2002 machte den Weg frei für einen endgültigen Frieden. Die MPLA hatte bis dahin den Ruf erworben, sich wenig um die soziale Situation im Land zu scheren. Erst das Friedensabkommen habe es ermöglicht, für ganz Angola einen Entwicklungsplan vorzulegen, verteidigt Paulo Jorge seine Partei. Der frühere Außenminister gilt als einer, der sich niemals bereichert hat. "Als einen Eckpfeiler unseres nationalen Wirtschaftsprogramms haben wir die Entwicklung der Landwirtschaft, der Industrie, der Fischerei und des Bergbaus beschlossen, um dann die Einnahmen daraus in Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau, Infrastruktur und Wasserversorgung zu investieren. Und mit diesem Programm begann Angola, sich in den letzten sechs Jahren so außerordentlich zu verändern." Angola wirkt an manchen Stellen wie eine große Baustelle: mit einem milliardenschweren Investitionsprogramm werden die im Krieg zerstörten Straßen, Brücken, Flughäfen und Eisenbahnlinien wieder aufgebaut. Die Liste der beteiligten Unternehmen liest sich wie das "Who is who" der brasilianischen, chinesischen und portugiesischen Bauindustrie. Im Städtchen Caimbambo, das an einer der Hauptverkehrsstraßen in Zentralangola liegt, gibt es bislang keine Trinkwasserversorgung - aber ein chinesisches Unternehmen verlegt schon mal ein Glasfaserkabel. "Chinas Eisenbahnbauer wünschen viel Glück","steht über einem Tor, das die Zufahrtsstraße zu Angolas zweitgrößter Stadt Huambo einrahmt. Am Straßenrand reparieren Mechaniker Mokicks, Marke Keweseki und Yama, made in China. China ist diskret, aber überall präsent in Angola, mit Tausenden von eigenen Arbeitern - auch beim Wiederaufbau der Benguela-Bahn, die Angolas Atlantikküste mit der rohstoffreichen Katanga-Provinz im Südkongo verbindet. 50 Prozent des angolanischen Erdöls gehen nach China, die andere Hälfte landet in den USA. China hat Angola in den letzten Jahren Kredite von schätzungsweise fünf Milliarden Dollar eingeräumt. Der Aufschwung hat auch die Kleinstadt Wakukungo erreicht. Das Angebot auf dem Markt ist gut: Obst, Gemüse, große Fische, ganze Ziegenkeulen. An der Tankstelle warten in einer langen Schlange Autos und Mokicks auf Treibstoff. ""Das Unternehmen Aldeia Nova braucht Fachleute und es gibt nicht viele mit meiner Ausbildung. Deshalb hatte mich die Direktion gefragt, ob ich nicht hier arbeiten möchte. Ich fand es eine gute Gelegenheit, mal aus Luanda rauszukommen und mehr vom Land kennen zu lernen." José Tomas ist Elektromechaniker und spezialisiert auf die Wartung von Schlachter- und Molkereimaschinen. Seit über einem Jahr arbeitet er in Wakukungo für Aldeia Nova, einem angolanisch-israelischen Gemeinschaftsunternehmen. 2003 wurden dort 600 Familien angesiedelt, darunter viele Ex-Soldaten. Sie sollen Mais, Soja, Geflügel, Rindfleisch und Milchprodukte in industriellem Maßstab produzieren. Angolas Regierung will künftig weniger von Öl und Diamanten abhängig sein und unter anderem Investitionen in die Landwirtschaft fördern. Vor der Unabhängigkeit gehörte Angola zu den größten Exporteuren von Kaffee und Sisal. Als Zukunftsmarkt gilt die Produktion von Zuckerrohr und Ethanol, aber auch von Reis.Deutlich bescheidener geht es in Mangue zu. In das Dorf 50 Kilometer westlich von Wakukungo gelegen führt nur ein schlaglochübersäter Feldweg. Lehmhütten von Kleinbauern ducken sich in üppig grüner Natur. Seitdem die Felder wieder zugänglich sind, muss in Mangue zumindest keiner mehr hungern. Seit 2006 ist der Gesundheitsposten in dem kleinen Backsteingebäude wieder in Betrieb. 20.000 Menschen gehören zu seinem Einzugsgebiet. Zwei Krankenpfleger arbeiten dort, Graciano Chikumbe ist einer von ihnen. Chikumbe zeigt seine Medikamentenausstattung: je ein Malaria-, Durchfall- und Schmerzmittel, fünf Antibiotika, fast alle in Tablettenform. Auch die Basisimpfstoffe stellt der Staat. Aber die Provinzverwaltung liefert zu wenig Treibstoff für die kleine Kühltruhe, in der der Impfstoff lagert. Nur das Engagement der Dorfgemeinschaft gewährleistet die Kühlung. Wird ein Kleinkind krank und braucht einen Saft als Medizin, müssen die Mütter diesen in dem kleinen Apothekenladen neben dem Gesundheitsposten extra kaufen. Dennoch stellt Albertina Texeira, Mutter von fünf Kindern, anerkennend fest:"Früher gab's hier gar nichts, da waren die Leute ständig krank. Jetzt existiert wenigstens der Gesundheitsposten, man kann sich untersuchen lassen und ein paar Medikamente gibt's dort schon." Der Preis für die jahrelange Vernachlässigung des Gesundheitswesens ist hoch. Laut UN-Statistik stirbt jedes siebte Kind vor seinem fünften Geburtstag. Mittlerweile investiert die angolanische Regierung mehr in die Versorgung. In manchen ländlichen Gebieten arbeiten sogar Ärzte: sie stammen aus Nordkorea oder Usbekistan und beherrschen kaum die Landessprache.Flotte Rhythmen, gesungen von coolen Jungs und gutaussehenden, selbstbewussten Mädchen: Geschickt wusste die Regierungspartei MPLA im Wahlkampf um die Parlamentsmehrheit vergangenen September die staatlichen Medien für sich zu nutzen, normales staatliches Handeln als ureigensten Verdienst der Partei darzustellen. Tatsächlich wurde vor den Wahlen einiges geleistet: Schulen wurden wieder aufgebaut, das kriegszerstörte Huambo - ursprünglich eine Hochburg der UNITA - bekam eine Grundsanierung finanziert. In den nächsten vier Jahren, so versprach die MPLA, wolle sie eine Million Sozialwohnungen bauen. Die Wähler lohnten es ihr: Die MPLA errang fast 82 Prozent der Stimmen. Nachgeholfen wurde auch: Auf dem Land, fern der liberalen Hauptstadt Luanda wurde Druck ausgeübt, berichtet einer, der anonym bleiben möchte: "Im öffentlichen Dienst wurde man indirekt aufgefordert, MPLA zu wählen. Wer sich dazu nicht bereit zeigte, dem wurde deutlich gemacht, dass er seinen Job riskierte und er wurde als oppositionell gebrandmarkt, wobei Opposition unglücklicherweise mit UNITA-Anhängerschaft gleichgesetzt wurde. Das hinderte viele daran, frei zu wählen, weil keiner Lust hatte, seine Beförderung aufs Spiel zu setzen oder seinen Job aus rein politischen Gründen zu verlieren." Die UNITA sackte auf rund zehn Prozent ab. Das lag auch - aber nicht nur - an den Manipulationen der MPLA. Viele Angolaner erinnern sich noch allzu gut an die Gräueltaten des militärischen Flügels unter Jonas Savimbi. Zumindest in den 70er- und 80er-Jahren war Angola ein Opfer des Ost-West-Konfliktes. Lange setzte der Westen - einschließlich der Bundesrepublik - auf Savimbis UNITA-Rebellen. Die DDR unterstützte die sozialistische MPLA, der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker gratulierte 1979 in Luanda zur Unabhängigkeit: "Heut sind die Arbeiter und Bauern, sind Sie, liebe angolanische Freunde, die wahren Herren Angolas. Sie haben die Geschicke des Ihres Landes in die eigene Hände genommen."Die DDR schickte Militärberater und Lehrer, Russland Waffen und Kuba Ärzte und Soldaten. Aus den USA kamen die Ölkonzerne, deren Förderanlagen von kubanischen Soldaten gegen die Angriffe der UNITA geschützt wurde, die wiederum von der Reagan-Regierung und dem rassistischen Südafrika gestützt wurde. Als die Mauer fiel, endete auch das sozialistische, autoritäre Angola. Die MPLA bekannte sich fortan zu Demokratie und Marktwirtschaft - und errang so die Anerkennung der USA, die schon früh die Bedeutung der Region am Golf von Guinea für die eigene Energieversorgung erkannten. Mit dem vereinten Deutschland wuchs zwar der Warenaustausch, deutsche Direktinvestoren in Angola lassen sich jedoch an einer Hand abzählen. Das würde Angolas Regierung gerne ändern. Unter ihrem jetzigen Präsidenten Isaias Samakuva hat die UNITA die Niederlage bei den Parlamentswahlen im September anerkannt:"Wir haben das Ergebnis der Wahlen akzeptiert. Es war trotz allem gut, sie abzuhalten, denn der letzten Urnengang lag sehr lange zurück. Jetzt sind wir in einen ganz normalen Zyklus eingetreten, in dem wir dann gemäß der üblichen Perioden die nächsten Wahlen abhalten werden."Die UNITA befürchtet, dass die MPLA ihre satte Mehrheit dazu nutzen wird, mittels einer Verfassungsänderung Staatspräsident Eduardo dos Santos noch mehr Macht in die Hände zu legen. Auch andere glauben, dass die MPLA ihre autoritäre Tradition nicht ganz abgelegt hat. Elias Isaac leitet in Luanda das Büro von "Open Society", einer Stiftung des US-Milliardärs George Soros, die sich die Demokratieförderung auf die Fahnen geschrieben hat. Drei Monate nach der Parlamentswahl bilanzierte er: "Angola macht Rückschritte. Wir dachten, die MPLA würde jetzt ihre Versprechen einlösen: mehr Demokratisierung, Förderung der Menschenrechte und der Transparenz. Aber wir sehen das Gegenteil: Dass Menschen verhaftet werden, dass Journalisten eingeschüchtert werden. Es gibt eine Reihe von Verhaltensweisen, die typisch für die Zeit der Einparteienherrschaft vor 1991 gewesen waren, und die jetzt wieder hochkommen." Angola ist nicht irgendein Land in Afrika. Die Regierung hat in den letzten Jahren im Nachbarstaat Demokratische Republik Kongo - früher Zaire - militärisch interveniert. Angolanische Militärberater unterstützen den kongolesischen Staatspräsidenten Joseph Kabila. Angola konkurriert mit Nigeria und Südafrika um die Hegemonie am Golf von Guinea und im südlichen Afrika. Staatspräsident Eduardo dos Santos - der jetzt Deutschland besucht - regiert Angola seit 30 Jahren. Neben seinem Widersacher Jonas Savimbi wirkte dos Santos, der in Moskau Ingenieurwissenschaften studiert hat, sehr zurückhaltend. Selten geht er an die Öffentlichkeit, so wie im Wahlkampf im September 2008. Die MPLA wolle nur Stimmen, die unter freien und fairen Bedingungen abgegeben würden, rief er damals seinen Anhängern zu.Seine Macht sichert Eduardo dos Santos durch ein Patronagesystem ab. Zwischen 1997 und 2001 verschwanden 5 Milliarden US-Dollar an Öl-Einnahmen in dunklen Kanälen, irgendwo zwischen Präsidentenpalast, der staatlichen Ölfirma Sonangol und der Zentralbank. Publik machte das der damalige Repräsentant des Internationalen Währungsfonds in Luanda. Die Folge waren schwere Verstimmungen zwischen Angolas Regierung und dem IWF, dessen Chef damals Horst Köhler hieß. Wie viele der verschwundenen Dollars in Waffenkäufe für den Krieg gegen die UNITA flossen oder wie stark sich die Familie dos Santos dabei bereicherte, ist nicht geklärt. Dos Santos' Kinder und hohe MPLA-Funktionäre aus seiner Umgebung haben sich jedenfalls als mächtige und reiche Unternehmer in Angola etabliert. Zu Bestechung gehören immer zwei, spielt MPLA-Vertreter Paulo Jorge den Ball an die Ölfirmen zurück, aber er bestätigt, dass Angolas Regierung mehr gegen Korruption tun müsse. Den Verdacht, die MPLA würde wieder die Einheitspartei anstreben, weist Paulo Jorge strikt zurück:"Wenn das Volk wählt und dieses Ergebnis bestimmt, dann hat das doch nichts mit Einparteienherrschaft zu tun. Außerdem sind noch fünf weitere Parteien im Parlament. Vielleicht hilft ihnen jetzt diese Erfahrung, sich besser zu organisieren, damit sie bei der nächsten Wahl mit überzeugenderen Programmen auftreten können. Aber wir haben keinesfalls die Absicht, ein Einparteiensystem einzuführen."Ausländische Beobachter erkennen an, dass das Finanzministerium seit 2002 mehr Licht in die Konten des Staates gebracht hat. Anders als Nigeria mochte sich dos Santos jedoch bislang nicht der internationalen Transparenzinitiative "EITI" anschließen. In ihr verpflichten sich Ölfirmen und Empfängerregierungen, alle Zahlungen und Einnahmen offenzulegen. Angola, also eine junge Demokratie auf dem Weg zum Wohlstand für alle? Noch ist nicht absehbar, ob die MPLA auf dem Weg in die Moderne die Menschen in den städtischen Slums und die Kleinbauern mitnehmen wird. Ob es um die Errichtung neuer Stadtviertel in Luanda, den Bau von Bahngleisen oder die Ansiedlung von landwirtschaftlichen Großprojekten geht: Mehrfach stellte sich heraus, dass bei der Neuansiedlung die Vorbesitzer einfach vertrieben wurden. ""Man kann doch nicht Armut damit bekämpfen, indem man wieder Armut schafft","zeigt sich Pater Piu Jacinto von der Katholischen Universität Luanda skeptisch gegenüber den staatlichen Entwicklungsplänen. Angolas Regierung plagen allerdings derzeit andere Sorgen. Fällt der Ölpreis deutlich und dauerhaft unter 55 Dollar, wäre auch in Luanda die Aufbruchstimmung erstmal vorbei. | Von Jule Reimer | Seit inzwischen 30 Jahren regiert Staatspräsident Eduardo dos Santos in Angola. Hungersnöte, Korruption, Bürgerkrieg - mit diesen Themen machte das afrikanische Land früher Schlagzeilen. Doch inzwischen herrscht Aufbruchstimmung. Die Wirtschaft verzeichnet zweistellige Wachstumsraten, Angola hat Nigeria als größten Ölförderer Afrikas abgelöst, die reichen Diamantenvorkommen gehören zu den hochwertigsten der Welt. | "2009-02-27T18:40:00+01:00" | "2020-02-03T10:08:50.859000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/angola-eine-junge-demokratie-im-aufbruch-100.html | 376 |
Künstler als Investigativreporter | "The Walker": Ein Video des taiwanesischen Künstlers Su Hui-Yu (Videonale Bonn)
Junge Menschen schauen kein klassisches Fernsehen mehr, sie streamen Serien und sie gucken Videos - vorzugsweise auf YouTube. Das Video als Informationsquelle, als politisches und künstlerisches Medium, ist aber gar nicht so jung wie die neuen Plattformen, und so gibt es auch die Bonner Videonale schon seit mehr als 30 Jahren. Das Event versteht sich selbst als "Festival für Video und zeitbasierte Kunstformen" und findet alle zwei Jahre statt. In diesem Jahr unter dem Motto: "Refracted Realities" - frei übersetzt - "gebrochene Wirklichkeiten".
Mit neuer Ästhetik auf Missstände aufmerksam machen
"Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit der Realität auseinanderzusetzen", sagte Tasja Langenbach, Kuratorin der Videonale, im Deutschlandfunk. Der Eindruck sei, dass die Flut an Quellen zu einer Polarisierung führe, und die Videonale wolle unter anderem zeigen, was dies mit uns macht.
Die Künstlerinnen und Künstler nutzten die Möglichkeit, neue Fakten zur Sprache zu bringen und mit Hilfe einer anderen Ästhetik auf Missstände aufmerksam zu machen. Sie übernähmen hin und wieder fast die Rolle der Presse - aber sie böten andere Perspektiven an, so Langenbach. Beispielsweise zeige das Video "Tiefenschärfe", das sich mit den NSU-Tatorten und -Tätern auseinandersetzt, gekippte Bilder, rücke die Wahrnehmung in ein anderes Licht und nenne laut und deutlich die Namen der NSU-Opfer in Nürnberg.
Mehr als Youtubevideos und Selfies
Auch wenn das Internet Künstler*innen als Inspirationsquelle diene, entstünden am Ende keine YouTube-Videos; und es würde nicht die Selfiekultur befeuert. Vielmehr setzen sich die Kreativen auf profunde Art mit den Themen unserer Zeit auseinander, sagte Langenbach. Die Videonale könne zeigen, was die Bilder- und Informationsflut auslöse, der vor allem auch Jugendliche sehr stark ausgesetzt seien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Tasja Langenbach im Corsogespräch mit Susanne Luerweg | Der immer dichtere Informationsdschungel aus Fernsehen, Radio, Zeitung und Internet ist Thema des Kunstfestivals Videonale in Bonn. "Die Vielzahl von Filterblasen führt dazu, dass kein Dialog mehr stattfindet", sagte Kuratorin Tasja Langenbach im Dlf. Prominentes Beispiel: die Nazi-Terrorzelle NSU. | "2019-02-20T15:05:00+01:00" | "2020-01-26T22:38:39.049000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/videonale-in-bonn-kuenstler-als-investigativreporter-100.html | 377 |
Welche Kulturberichterstattung erwarten Sie im Radio? | Wie viel klassische Musik gehört in ein Kulturradio? (imago images / epd / Jens Schulze)
Immer wieder gibt es Überlegungen, den Inhalt von Radioprogrammen zu verändern bzw. diesen anzupassen an veränderte Hörgewohnheiten. So könnte beispielsweise der Hessischen Rundfunk seinen Kultur-Sender HR2 demnächst in eine Hörfunkwelle für klassische Musik umwandeln.
Was meinen Sie – wird ein Kulturradio dadurch mehr und mehr zu einem Nischenprogramm?
Was erwarten Sie als Hörerinnen und Hörer: Informationen aus Kunst, Literatur, Musik, Bühne, aus Geistes- und Naturwissenschaft oder möchten Sie lieber mit Musik durch den Tag begleitet werden?
In welchem Maße braucht das (Kultur-)Radio Ihrer Ansicht nach das "Wort"?
Wie würden Sie den öffentlich-rechtlichen Auftrag des Radios beschreiben und in welchem Umfang sollte Berichterstattung aus den verschiedenen Bereichen der Kultur dazu gehören? | null | Beim Hessischen Rundfunk gibt es derzeit Überlegungen, das Kultur-Programm in eine Hörfunkwelle für klassische Musik umzuwandeln. Wir möchten mit Ihnen diskutieren, welche Kulturberichterstattung Sie sich im Radio wünschen. Tel.: 0221 345 345 1 oder E-Mail: mediasres-dialog@deutschlandfunk.de | "2019-07-19T15:35:00+02:00" | "2020-01-26T23:02:34.841000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/mediasres-im-dialog-welche-kulturberichterstattung-erwarten-100.html | 378 |
Angst vor der Zerstörung eines Kulturerbes | Ein Tourist steht im November 2011 vor Ruinen in der antiken Stadt Palmyra in Syrien. (Imago / Xinhua / Yin Bogu)
Imposante Säulen, ausladende Straßen, riesige Ruinen - die antike Oasenstadt Palmyra in Syrien gehört zu den berühmtesten Zeugnissen römischer Baukunst. Jahrzehnte lang war sie Anziehungspunkt für Tausende Touristen. Doch seit dem Beginn des Bürgerkriegs kommen keine Besucher mehr. Die Reise nach Syrien ist lebensgefährlich - und Palmyra, die ehemalige Handelsmetropole mitten in der Wüste, bleibt sich selbst überlassen. Bislang wurde sie von Truppen des syrischen Regimes kontrolliert. Doch jetzt haben sich Anhänger des selbst ernannten "Islamischen Staat" bis einen Kilometer vor die Kulturstätte gekämpft. Nicht nur in Syrien wächst die Sorge, dass die Extremisten das UNESCO-Weltkulturerbe zerstören könnten. Experten aus aller Welt befürchten, dass der IS die noch erhaltenen Tempelreste, Säulenstraßen und Bogentore dem Erdboden gleichmachen könnten - wie Deborah Lehr von Antiquities Coalition, einer amerikanischen Nichtregierungsorganisation, die sich für den Schutz von bedrohtem Kulturgut einsetzt: "Wir glauben, dass der Islamische Staat die Vernichtung und Plünderung von Kulturstätten als Mittel zur Einschüchterung nutzt - und sich dadurch auch finanziert. Und wir hoffen, dass wir die Regierungen in der Region zusammenbringen können, damit klar wird, dass das kein Problem eines einzelnen Landes ist. Sie sollten gemeinsam Stärke zeigen im Kampf gegen das, was wir organisiertes Verbrechen, kulturelles Gangstertum nennen."
Handel mit Kulturgütern bringt Milliarden
Palmyra wäre nicht die erste Kulturstätte, auf die es die Extremisten abgesehen haben. Im benachbarten Irak haben IS-Anhänger bereits an vielen historischen Orten gewütet: zum Beispiel in Nimrud, einer antiken Stadt aus dem 13. Jahrhundert vor Christus. Von der Stätte am Ufer des Tigris dürfte kaum noch etwas erhalten sein. Ein Video im Internet zeigt, wie sie in die Luft gesprengt wird. Auch im Museum in der nordirakischen Stadt Mossul haben die IS-Kämpfer zertrümmert, was ihnen in die Hände geriet - und sich bei ihrem Feldzug gefilmt. Ein bärtiger Mann begründet sein brutales Vorgehen: "Diese Statuen sind die Idole vergangener Jahrhunderte. Sie wurden anstelle Gottes angebetet. Und die, die Assyrer, Arkadier oder anders genannt wurden, hatten eine Regen-Göttin und einen Gott der Pflanzen und des Krieges, und sie haben nicht an (den einen) Gott geglaubt. (…) Der Prophet hat uns befohlen, diese Statuen und Überreste loszuwerden, und seine Gefolgsleute haben dasselbe getan, als sie nach ihm Länder eroberten."
Was die Terroristen nicht zerstören, verkaufen sie. Mittelsmänner schmuggeln die gestohlenen Antiquitäten über die Grenze, in den Libanon zum Beispiel oder in die angrenzende Türkei. Für jedes alte Stück, das seinen Besitzer wechsele, erhebe der Islamische Staat bis zu 20 Prozent Steuern, heißt es in einem Bericht der BBC. Von den Nachbarländern aus werden die Kostbarkeiten weiterverkauft, oft nach Europa. Der Schaden sei enorm, sagt der irakische Minister für Tourismus und Altertümer, Adel Fahd Al-Schirschab: "Bei der Plünderung von antiken Stätten durch Terrorgruppen hat der Irak einen sehr hohen Preis bezahlt. Der Handel mit den Kulturgütern brachte den Terrorgruppen bislang etwa sechs Milliarden Dollar ein."
Dass der Islamische Staat mit Antiquitätenhandel Millionen verdient und so seinen Terror finanziert, ist aber nur ein Teil des Problems. Ähnlich schwer wiegt die Tatsache, dass seit Beginn des Bürgerkriegs große Teile des irakischen und syrischen Kulturerbes unwiederbringlich zerstört wurden. In Palmyra steht eine Architektur auf dem Spiel, in der griechisch-römische und orientalische Elemente verschmelzen. Mit jeder Statue, jedem Stein, den IS-Anhänger zertrümmern, geht ein Teil jener Kultur verloren, die für die Syrer Jahrzehnte lang eine gemeinsame Basis war. | Von Anne Allmeling | Die weltberühmte Stadt Palmyra zählt zu den wichtigsten Zeugnissen antiker Baukunst. Seit 1980 gehört die ehemalige Handelsmetropole in der syrischen Wüste zum UNESCO-Weltkulturerbe. Jetzt stehen IS-Terroristen einen Kilometer vor der Stadt. Beobachter fürchten, dass die Extremisten das Kulturerbe zerstören könnten - ähnlich wie die irakischen Kulturstätten Nimrud und Hatra. | "2015-05-16T06:10:00+02:00" | "2020-01-30T12:37:05.215000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/antike-stadt-palmyra-angst-vor-der-zerstoerung-eines-100.html | 380 |
Kulturminister brüskiert mit Äußerung zur Militärdiktatur | Darío Lopérfido (rechts im Bild zusammen mit Chrystian Colombo, einem Mitglied der Regierung von 2001) zieht den Unmut von Künstlern auf sich. (Walter Papasodaro / NA / AFP)
In Argentinien sind keine 30.000 Menschen verschwunden: Lässig sagte es der Kulturminister von Buenos Aires, Darío Lopérfido, dahin und löste damit einen Aufstand von Kunst- und Kulturschaffenden aus. Bei einer Podiumsdiskussion Ende Januar fügte der Minister noch hinzu, die Zahl von 30.000 Verschwundenen sei eine Lüge und konstruiert worden, um Subventionen zu erhalten: eine Anspielung auf das Bemühen argentinischer Menschenrechtler um internationale Unterstützung während der Militärdiktatur von 1976 bis '83.
"Er beleidigt nicht nur uns, sondern vor allem das Andenken an die 30.000, an unsere verschwundenen Kinder", empörte sich Tati Almeida, eine der Mütter der Plaza de Mayo, die seit Mitte der 1970er-Jahre ihre Söhne und Töchter suchen.
Nicht nur gegen linke Guerilleros, auch gegen Studenten und Gewerkschafter führten die argentinischen Militärs einen schmutzigen Krieg. Die Desaparecidos, Verschwundenen, wurden verschleppt, gefoltert und in den meisten Fällen ermordet. Nach der Diktatur arbeitete eine staatliche Kommission die Verbrechen auf und bezifferte die Zahl der Desaparecidos schließlich auf knapp 9.000. Doch Menschenrechtsorganisationen und viele Angehörige der Opfer glauben, dass es mehr waren. Sie sprechen seit Jahrzehnten von 30.000. Die Zahl ist zu einem Symbol geworden: für den Staatsterrorismus, für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
"Mit unserem Brief wollen wir nicht in die Diskussion über die Zahl der Verschwundenen einsteigen, sondern klarstellen, dass der Minister uns, die Kulturschaffenden von Buenos Aires, nicht repräsentiert."
2.500 Kulturschaffende fordern Rücktritt
Juan Pablo Gomez ist Dramaturg und Regisseur. Wie er haben bisher rund 2.500 argentinische Theatermacher, Schauspieler und andere Künstler die Rücktrittsforderung an Darío Lopérfido unterzeichnet. Sie alle sehen in Lopérfidos Äußerungen eine Leugnung oder zumindest eine Banalisierung, des Staatsterrorismus. Regisseur Gomez:
"Es ist gefährlich, dass ein Vertreter des Staates solche Aussagen macht. Andere könnten seinem Beispiel folgen. Möglicherweise wird die Zahl der Verschwundenen von Politik und Menschenrechtsorganisationen noch einmal debattiert werden. Aber die Art und Weise, in der sich Lopérfido geäußert hat, immerhin unser Kulturminister, ist nicht akzeptabel."
An den Äußerungen des 51-jährigen Ministers stört die ehemalige Politikerin Graciela Fernández Meijide weniger der Inhalt als der Ton. "Fast frivol" sei es ihr vorgekommen, wie Lopérfido von der Tragödie der Argentinier sprach, sagt sie. Es ist auch ihre ganz persönliche Tragödie, denn Fernández Meijides Sohn verschwand während der Diktatur als Schüler. Die Mutter arbeitete später in der Kommission, die die Fälle der Verschwundenen dokumentierte - und hatte mit der Zahl 30.000 immer ihre Probleme:
"Von 30.000 zu sprechen, ist für mich eine Banalisierung. Damit wird man den Verschwundenen nicht gerecht und verwandelt sie in ein Nichts. Die Opfer haben ein Recht darauf, dass man sie genau zählt, jedes von ihnen einzeln."
Sorge um laschen Umgang der neuen Regierung mit Vergangenheit
Doch der Aufruhr, den der Kulturminister von Buenos Aires mit seinen öffentlich vorgetragenen Zweifeln an der Zahl 30.000 auslöste, zeigt, wie heikel das Thema für die argentinische Gesellschaft nach wie vor ist. Hinter der Entrüstung steckt auch die Sorge, die neue Mitte-Rechts-Regierung, zu deren Vertretern Darío Lopérfido gehört, könnte einen Schlusspunkt unter die juristische Aufarbeitung der Verbrechen setzen.
Die Regierung bestreitet jedoch, dass sie das vorhat. Und ihr Menschenrechtssekretär distanzierte sich von Lopérfidos Worten. Der Minister selbst erklärte auf seiner Facebook-Seite, er habe nicht beabsichtigt, die furchtbaren Verbrechen der Diktatur zu relativieren. Seinen Rücktritt fordert ein Teil der Kulturwelt von Buenos Aires trotzdem. | Von Victoria Eglau | Darío Lopérfido wurde im Dezember zum Kulturminister von Buenos Aires ernannt, eines von vielen Ämtern, das er innehat. Er ist nicht nur wegen dieser Ämteranhäufung umstritten. Jetzt fordern 2.500 Künstler seinen Rücktritt - nachdem er die Zahl der Verschwundenen der Militärdiktatur in Frage gestellt hatte. | "2016-02-14T07:05:00+01:00" | "2020-01-29T18:13:42.220000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/argentinien-kulturminister-brueskiert-mit-aeusserung-zur-100.html | 381 |
Schlapphüte feiern auf dem Oktoberfest | Ein halbes Hendl und drei Maß Bier: Der BND übernahm auf dem Oktoberfest die Bewirtungskosten. (picture alliance / dpa / Frank Leonhardt)
In der Antwort auf die Kleine Anfrage heißt es, dass seit 2001 "zentral organisierte Großveranstaltungen ausländischer Nachrichtendienste auf dem Münchner Oktoberfest durchgeführt" wurden. Nur im Jahr 2011 fiel die Wiesn-Sause demnach aus. Zu den geladenen Gästen gehörten auch "Vertreter ausländischer Nachrichtendienste", die "in der Verantwortung einzelner Organisationsbereiche des BND" eingeladen wurden. Der BND übernahm laut dem Schreiben die Bewirtungskosten in Höhe von 40 bis 50 Euro pro Person. Dafür bekommt man auf dem größten Volksfest der Welt beispielsweise ein halbes Hendl und drei Maß Bier.
Der zuständige Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche erklärte, "Diese Veranstaltungen dienen der Pflege von partnerschaftlichen Beziehungen, beruhen auf Gegenseitigkeit und unterstützen so die gesetzliche Auftragserfüllung". Die Termine würden mit Fachgesprächen verbunden, "um den direkten Nutzen für das dienstliche Interesse zu ziehen". Weitere Einzelheiten wollte Fritsche nicht nennen, weil sich dies "nachteilig für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland auswirken" könnte.
(tj/tön) | null | Das Oktoberfest in München zieht nicht nur Touristen aus aller Welt an, sondern auch Mitarbeiter von Geheimdiensten. In einer Antwort des Bundeskanzleramts an eine Kleine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele steht, dass der BND andere Nachrichtendienste regelmäßig zu Großveranstaltungen auf die Wiesn eingeladen hat. | "2015-06-19T15:27:00+02:00" | "2020-01-30T12:43:06.265000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/auslandsgeheimdienst-bnd-schlapphuete-feiern-auf-dem-100.html | 382 |
Bund und Länder wollen Verteilzentren einrichten | Bundeskanzlerin Angela Merkel (M.), Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg und Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, äußern sich bei einer Pressekonferenz am 15.09.2015 nach der Sondersitzung der Ministerpräsidenten der Länder (Picture Alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Am Ende dauerte das Treffen im Kanzleramt mehr als doppelt so lange wie geplant. Nach vier Stunden traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Dietmar Woidke und Reiner Haseloff vor die Presse. Den großen Durchbruch hatten die drei nicht zu verkünden. Aber es sei auch mehr als das Vorbereitungstreffen gewesen für den 24. September, sagt die Kanzlerin. Dann, beim nächsten Bund-Länder-Gipfel soll es ums Geld und notwendige gesetzliche Fragen und Änderungen gehen: "Es ging heute vor allem darum, zu sehen, wie können wir auf diese Herausforderung reagieren."
Ein Thema: Die Unterbringung der Flüchtlinge: Zukünftig will der Bund gemeinsam mit den Ländern die Verteilung der Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel organisieren. Dabei spielen die Steuereinnahmen, also die Finanzkraft der Länder, sowie ihre Einwohnerzahl eine entscheidende Rolle. Auch große Verteilzentren soll es geben.Außerdem, sagte Merkel, habe Innenminister Thomas de Maiziere einen Vorschlag gemacht: "Wie der Bund bei der Zurverfügungstellung von Plätzen noch entlasten kann. Hier ist ein Vorschlag unterbreitet worden von bis zu 40.000 Plätzen."
Genau Details soll es in der kommenden Woche geben. Die Kanzlerin machte aber auch deutlich, bei dem Treffen habe große Einigkeit zwischen den Vertretern von Bund und Ländern geherrscht, so die Kanzlerin, "dass wir alles menschenmögliche tun. Auf der anderen Seite war aber auch klar, dass die, die keine Bleibeperspektive haben, in unserem Land nicht bleiben können."
Vier Entscheidungszentren
Diejenigen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, müssten schneller als bisher abgeschoben werden, sagte Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff, denn: "Sie binden Unterbringungskapazität und auch Finanzen und ermöglichen es nicht, auch diejenigen, die noch in Zelten wohnen, beziehungsweise, die jetzt noch untergebracht werden müssen, entsprechend in festen Unterkünften unterzubringen."
Doch noch immer ist der Rückstau bei der Bearbeitung der Asylanträge riesig. Um die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu unterstützen, sollen vier Entscheidungszentren ihre Arbeit aufnehmen, um Altfälle zu bearbeiten. Angela Merkel: "Heute konnte der Präsident des Bundesamtes mitteilen, dass ab ersten oder vierten Oktober diese Zentren ihre Arbeit aufnehmen werden. Zweitens hat man jetzt die technischen Voraussetztungen geschaffen, um mobile Teams herumzuschicken."
Mehr Details - nächste Woche. Die Fragen rund um Unterkunft, Verpflegung und soziale Betreuung schnell zu klären, sei notwendig und wichtig, erklärte der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke: "Aber die große Herausforderung in den kommenden Monaten und Jahren wird es sein, die Integration zu organisieren. Und diese Integration wird zusätzliches Geld kosten."
Um das soll es beim nächsten Treffen gehen. Für dieses Jahr hat der Bund Nothilfen in Höhe von einer Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Nächstes Jahr sind im Bundeshaushalt drei Milliarden eingeplant und weitere drei für Bund und Länder. Das werde aber bei Weitem nicht genügen, heißt es von Länderseite. Die Hilfen müssten mindestens doppelt so hoch sein. | Von Stefan Maas | Der Bund will die Länder bei der Unterbringung von Flüchtlingen stärker unterstützen und unter anderem 40.000 Plätze zur Erstaufnahme schaffen. Das kündigte Kanzlerin Merkel nach Beratungen mit den Länderchefs an. Doch viele Details bleiben offen – etwa die Frage, wer die Flüchtlingsversorgung bezahlen soll. | "2015-09-16T05:05:00+02:00" | "2020-01-30T12:59:55.923000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/sondertreffen-zur-fluechtlingskrise-bund-und-laender-wollen-100.html | 384 |
Mit Pflanzen gegen Wüstenbildung | Am Beginn von Tony Rinaudos Tätigkeit im Sahel stand ein kompletter Fehlschlag."Wir begannen nach der großen Hungersnot von 1975 mit Restgeldern aus den Hilfsfonds Bäume zu pflanzen, um die Wüstenbildung zu bekämpfen. Wir zogen in Baumschulen exotische Bäume, Neem und Eukalyptus, pflanzten sie aus. Die Ergebnisse waren entmutigend. Das Klima war zu harsch und die Leute machten nicht mit, sahen den Sinn nicht ein. Wir kämpften gegen Windmühlenflügel. Es war ein Fehlschlag." Die Hilfsorganisation World Vision hatte Tony Rinaudo nach Maradi geschickt, einer Provinz im Süden des Niger. In guten Zeiten versorgten die Bauern Maradis das ganze Land. Aber als in den 1970er-Jahren der Regen ausblieb, verdorrten die Felder: "Dieser Teil des Lands ist keine Wüste. Dort wachsen Bäume, allerdings haben wir sie zunächst nur für Buschwerk gehalten, weil die Farmer sie jedes Jahr radikal zurückschnitten und die Äste und Zweige verbrannten, um Dünger zu erhalten. Wir mussten also nicht neu aufforsten, sondern die Bauern nur überreden, ein paar Bäume wachsen zu lassen." Ein paar Dutzend Bäume auf einem Feld machen einen Unterschied: Sie brechen den Wind und verlangsamen die Bodenerosion. Sie halten Feuchtigkeit im Boden und binden mit ihren Wurzeln Stickstoff. Den Menschen liefern sie Brennmaterial, dem Vieh Futter, und die abfallenden Blätter düngen den Boden. Nur weil die Bäume wuchsen, ergrünten innerhalb weniger Jahrzehnte die wüstenhaften Landschaften in Maradi und im benachbarten Zinder: "Die Bauern in Maradi und Zinder haben in den vergangenen 20 Jahren etwas Bedeutsames erreicht. Sie haben fünf Millionen Hektar wieder aufgeforstet. Das ist die größte Umweltveränderung in Westafrika, wenn nicht in ganz Afrika." Chris Reij von der Freien Universität Amsterdam begleitet die Bemühungen im Sahel seit Jahren. Von Niger aus haben sich diese Graswurzel-Initiativen in die Nachbarländer Burkina Faso und Mali ausgebreitet und weiter bis nach Äthiopien und in den Senegal. Allerdings zieht das simple Rezept, Bäume wachsen zu lassen, nicht überall. "Da, wo Sie sehr stark versiegelte und verkrustete Böden haben, funktioniert eine solche natürliche Regenerierung nicht mehr. Der Boden ist zu hart, da ist auf weiter Fläche einfach nichts mehr zu finden, was man schützen kann, und da muss man dann schon mit etwas intensiveren technischen Maßnahmen der Regenerierung da nachhelfen."Anneke Trux von der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Verkrustete Böden müssen erst aufgebrochen und dann neu bepflanzt werden. Dann zeigt sich ein Effekt. "Da kann man von einem auf das andere Jahr oft eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion um 50 oder 100 Prozent beobachten. Also wir haben da dokumentierte Beispiele, wo vor der Durchführung solcher Maßnahmen der Getreideertrag bei Hirse bei 200 Kilogramm pro Hektar gelegen hat, und nach solchen Regenerierungsmaßnahmen bei bis zu 1000 Kilo, und das ist natürlich ein ganz starker ökonomischer Anreiz für die Bauern, diese auch sehr schwere Arbeit auf sich zu nehmen." Überall im Sahel laufen solche Projekte, die allmählich ein Netzwerk von Bäumen bilden. Die Kosten sind gering, das meiste erledigen die Menschen vor Ort. Ganz anders bei der jüngsten Initiative der Sahel-Regierungen: die Große Grüne Mauer. Über 7500 Kilometer hinweg soll ein Waldstreifen von bis zu 15 Kilometer Breite die Sahara zurückdrängen. Kostenpunkt: drei Milliarden Dollar. Das Echo der Experten auf diese Idee ist jedoch negativ - denn trotz immenser Kosten und des beeindruckenden Vergleichs mit der Chinesischen Mauer greife sie viel zu kurz: "Mit einer grünen Mauer aus Bäumen entlang irgendeiner gedachten Linie im Sahel die Desertifikation zu stoppen, das ist ungefähr so, als wollte man das Problem des Fluglärms im Rhein-Main-Raum mit einer Lärmschutzmauer entlang der Startbahn West bekämpfen." Die Vielzahl kleiner Projekte, die über den Sahel hinweg eine Art Parklandschaft entstehen lassen, bringe Ökosystemen und Menschen sehr viel mehr. So bleiben die Dörfer, die in der Region Zinder ihre Bäume wachsen lassen, seit Jahren von Hungersnöten verschont – selbst wenn es ihren Nachbarn schlecht geht. | Von Dagmar Röhrlich | Die afrikanische Sahel-Zone gilt als Trockengürtel südlich der Sahara. Dürren führten dort zu vielen Hungersnöten. Inzwischen ergrünt der Sahel an vielen Stellen - vor allem dort, wo Graswurzelinitiativen in einzelnen Dörfern und Provinzen die Ernteerträge steigen lassen. | "2011-08-09T16:35:00+02:00" | "2020-02-04T02:13:14.706000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/mit-pflanzen-gegen-wuestenbildung-100.html | 385 |
Psychologin: "Narzissmus der kleinen Differenzen" | Hier wird Farbe unter die Haut gebracht. (picture-alliance / ZB / Arno Burgi)
Juliane Reil: Tätowierungen und Piercings – ursprünglich hat man das mit Matrosen und zwielichtigen Gestalten aus dem Rotlichtmilieu verbunden. Heute sind Nasenring und Tribal längst gesellschaftsfähig und ein Massenphänomen geworden. Wie schwer Tätowierungen und Piercings nach wie vor im Trend liegen, zeigt eine aktuelle Studie der Universität Leipzig. Ada Borkenhagen ist Psychologin und hat die Studie mit initiiert. Willkommen zum Corso-Gespräch, Frau Borkenhagen.
Ada Borkenhagen: Ja, vielen Dank.
Reil: Laut Ihrer Studie ist jeder fünfte Deutsche tätowiert. Dabei können sich vor allem Frauen für diesen Körperschmuck begeistern. Rund die Hälfte aller Frauen zwischen 25 und 34 Jahren sind tätowiert, konnte ich da nachlesen, 19 Prozent mehr als im Jahr 2009. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Borkenhagen: Ja. Zunächst kann man sagen, dass dieser Anstieg sicherlich ein Hinweis darauf ist, dass Körpermodifikationen und vor allen Dingen Tätowierungen weiter im Trend liegen und auch noch zunehmen, und das es vor allen Dingen auch für Frauen eine besondere Attraktion hat, sich tätowieren zu lassen.
Die Psychologin und Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
Reil: Warum glauben Sie das, dass das eine besondere Attraktion für Frauen ist?
Borkenhagen: Ich denke, dass es zu einer legitimen und sehr akzeptierten Form des weiblichen Körperschmucks geworden ist, also der Form, den Körper auch schmücken zu können. Und die Selbstästhetisierung ist ja immer noch etwas, was stärker von Frauen in Anspruch genommen wird in unserer Kultur, als von Männern.
"Die Art der Tattoos hat sich geändert"
Reil: Das zeigt Ihre Studie ja auch, dass die Frauen da den Männern weit voraus sind. Also mehr Frauen lassen sich tätowieren, so dass man denkt, eigentlich, ja, das ist wirklich zum weiblichen Phänomen wird, was es ja zu Beginn der Geschichte von Tätowierungen, wenn man eben zurückschaut, Matrosen, Seefahrt et cetera nicht gewesen ist.
Borkenhagen: Ich denke, das hat auch etwas damit zu tun, dass sich innerhalb dieser Tätowierungsszene so etwas wie eine Kultur herausgebildet hat. Das heißt, wir haben ja auch eine Mode, die Art der Tattoos hat sich verändert. Heutzutage sind nicht mehr so stark Tribals In, sondern mehr Motiv-Tattoos, und es hat sich so eine ganze Mode entwickelt und ich denke, die Tattoos sind auch künstlerischer. Das ist etwas, was Sie zum einen in der Szene beobachten können. Wenn Sie mal Tattoostudios befragen, dann ist ganz deutlich, dass bestimmte Motive wirklich Out sind. Das berühmte 'Arschgeweih' ist sozusagen, was in den 90er Jahren ganz stark in Mode war, ist heute kaum noch gefragt.
Reil: Also Ursprünglich hat man sich ja tätowieren lassen - oder ich könnte es mir zumindest vorstellen, dass es eine Motivation ist - um stärker zu betonen, dass man individuell unterwegs ist. Aber mittlerweile ist es eine Massenbewegung. Heißt das, dass das individuelle Moment eigentlich obsolet geworden ist?
Borkenhagen: Das würde ich nicht sagen, sondern ein individuelles Tattoo eignet sich immer noch dazu, auch die eigene Individualität auszudrücken und zu unterstreichen. Ich denke, es geht hier mehr um den kleinen Unterschied sozusagen, den Narzissmus der kleinen Differenzen, was für ein Motiv ich mir auf die Haut aufbringen lasse.
"Die Modifikation des Körpers ist wichtiger geworden"
Reil: Passt dieser Narzissmus gut in unsere Zeit?
Borkenhagen: Würde ich sagen. Der Körper und die Modifikation des Körpers ist heutzutage wichtiger geworden. Überhaupt das Aussehen des Körpers ist bedeutender dafür, wie ich mich als Individuum fühle und wie ich mich als Individuum darstelle. Das tue ich heute sehr viel stärker über meinen Körper und das Aussehen meines Körpers, als in früherer Zeit durch bestimmte Kleidung oder einen bestimmten Habitus. Wir konnten gut sehen, dass die jungen Frauen sich ja stark tätowieren lassen, also das wirklich ein Modetrend für die geworden ist.
Reil: Aber das ist interessant, weil die Modetrends sind ja wirklich auch so ein Bäumchen wechsel dich. Das Schönheitsideal wechselt ständig, ein Schönheitsideal ist ja eigentlich auch die makellose Haut. Wie erklären Sie sich so einen aktuellen Trend - den ich für mich ausgemacht habe - dass es eigentlich zum großflächigen Tattoo hingeht.
Borkenhagen: Sie sagen ganz zurecht, wir haben sehr wohl als übergeordneten Trend die makellose Haut. Das heißt aber nicht, dass ich mir kein Tattoo machen lassen kann. Denn das Tattoo ist ja etwas gewolltes und die Makellosigkeit der Haut bezieht sich vor allen Dingen auf ungewollte Makel, zum Beispiel so was wie Falten oder Narben, die wirklich nicht gewollt sind, also keine Schmucknarben sind.
Reil: Das Tattoo hat ja schon längst den Bereich des Privaten im Prinzip verlassen, rein ins Museum und auch Kunstsammler interessieren sich für Tätowierungen. Es gibt ja diesen einen Fall dieses Schweizer Mannes, der seinen Rücken hat tätowieren lassen und den dann an einen Kunstsammler verkauft hat. Heißt das, dass das Tattoo jetzt wirklich gesellschaftsfähig ist?
Borkenhagen: Ich denke, es ist für breitere Bevölkerungsschichten wirklich gesellschaftsfähig.
Reil: Die Psychologin Ada Borkenhagen von der Universität Leipzig. Danke Ihnen.
Borkenhagen: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Ada Borkenhagen im Corsogespräch mit Juliane Reil | Nasenring und Tribal sind längst gesellschaftsfähig und ein Massenphänomen. Dass der Trend sogar zunimmt, zeigt eine aktuelle Studie der Universität Leipzig. Psychologin Ada Borkenhagen hat die Studie mit initiiert. Menschen stellten sich heute mehr über den Körper als Kleidung dar, sagte sie im Dlf. | "2017-09-27T15:05:00+02:00" | "2020-01-28T10:53:04.210000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/neue-studie-zur-koerpermodifikation-psychologin-narzissmus-100.html | 386 |
"In Erfurt fühle ich mich sicherer als in Berlin" | Reinhard Schramm, Vorsitzender der Thüringer jüdischen Landesgemeinde (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Die Tür der Erfurter Synagoge hat außen keine Klinke. Eine Sicherheitsfrage. Also muss jeder anklopfen. 15 Männer und fünf Frauen kommen an diesem Freitagabend zum Sabbat-Gottesdienst. Jeder, der eintritt, legt kurz die rechte Hand auf die Mesusa, einen kleinen Behälter am Türpfosten, in dem ein Stück der Thora steckt, und küßt danach seine Finger. Drinnen grüßt man mit "Schalom" oder "Strastwuitje". Denn fast alle Gemeindemitglieder stammen aus der Sowjetunion.
Die Frauen gehen gleich hoch, auf die Empore. Die Männer setzen sich drinnen alle auf die rechte Seite. Die linke bleibt leer. Da saßen früher die Frauen, murmelt einer der Männer, aber seit der orthodoxe Rabbi da sei, ist das nicht mehr erlaubt. Ins Mikrofon aber will keiner so recht reden. Das Deutsch sei nicht so gut. Oder: Man wolle keine Öffentlichkeit.
Rabbiner Benjamin Kochan sagt: "Ich begrüße alle ganz herzlich. Und wir beginnen unseren Gottesdienst auf der Seite 21. Schabat schalom! Natschinajem… dwazat adin!"
Das Gesangsbuch ist dreisprachig. Hebräisch, die deutsche Laut-Umschrift des Textes, die deutsche Übersetzung. Nicht alle Männer singen mit.
Die Synagoge ist sehr schlicht gehalten. Außer zwei Menora, Kerzenleuchtern, gibt es kaum ein Schmuckstück im Raum. Der Vorgängerbau wurde 1938 bei den antisemitischen Pogromen geplündert, zerstört und abgebrannt; der Nachfolgerbau von 1952 durfte nach Anweisungen der Stadt Erfurt nur unscheinbar sein – innen wie außen.
Die Erfurter Synagoge ist schlicht gehalten - innen wie außen (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Der Rabbiner Benjamin Kochan ist in Russland geboren. Im Alter von 14 Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Seit knapp drei Jahren ist er in Erfurt. Sein Vorgänger trat 2010 sein Amt an – als erster Rabbiner in Erfurt seit 72 Jahren. Kochan ist orthodox – und traf in Erfurt, wo ein Großteil der etwa 800 Thüringer Juden leben, auf eine Gemeinde, die mehrheitlich in einer religionsfeindlichen Umgebung aufgewachsen ist.
Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben
Benjamin Kochan: "Ich bin eigentlich aufgewachsen in solchen Verhältnissen, also, ich verstehe die Leute. Ich kann das alles nachvollziehen. Daher ist es für mich nicht leicht, aber ich kann damit gut umgehen. Da ist es mir einfacher, eine passende Sprache mit den Leuten zu finden. Das heißt, die Leute haben wenig Erfahrung mit Judentum, aber das, was sie wissen, sie erwarten von einem Rabbiner, dass er zumindest es richtig macht!" Er lacht.
Die Aushänge im benachbarten Gemeindezentrum sind ausschließlich auf Russisch. Nicht ganz leicht für Mitglieder ohne Russisch-Hintergrund wie Daniel Kohn, der spät zum Judentum gefunden hat und bald in die Gemeinde aufgenommen werden will.
Daniel Kohn sagt: "Ich habe, genauso wie viele DDR-Bürger, meine sechs Jahre Russisch gelernt, hab viel vergessen, manche Wörter, die sie sprechen, erinnern mich daran, was ich mal gelernt habe. Ja, es erdrückt einen erst, weil man denkt, das Russische dominiert sehr in der Gemeinde. Aber, wenn man dann genauer guckt, dann ist es nicht ganz so. Man findet auch deutsche Hinweise oder hebräische."
Die Jüngeren, schon hier Geborenen, sprächen ohnehin als erste Sprache Deutsch, meint der Rabbiner. Die Gemeindearbeit sei eine ganz normale.
Die meisten Aushänge im Gemeindezentrum sind auf Russisch (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
Benjamin Kochan: "Im Mittelpunkt steht sicher die Synagoge, das heißt, wir stellen sicher, dass wir die Feiertage zusammen feiern, dass wir den Kiddusch, die Mahlzeiten haben, die feierlichen Mahlzeiten. Genauso wichtig ist uns die Kinder- und Jugendarbeit. Dafür haben wir eine Sonntagsschule. Und wir schaffen auch ein Netzwerk mit anderen Gemeinden. Es gibt gemeinsame Schabbatot, das heißt, dass die Kinder sich treffen für Schabbat, dass sie es zusammen erleben, dass sie ein Gefühl bekommen, dass sie zu einer großen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in der Welt gehören, dass sie nicht in Erfurt auf einer Insel sind."
Viele der Jüngeren zögen jedoch weg aus Thüringen, in den Westen, zu den besseren Jobs, da sie hier noch kaum verwurzelt seien. Zurück bleiben oft die Alten. Zwei Sozialarbeiter der Gemeinde kümmern sich um sie. Dabei könne man sich als Jude in Erfurt vergleichsweise sicher fühlen, meint Kochan, der hier dennoch die Kippa öffentlich unter einer Mütze trägt und schon einmal auf der Straße von einem Araber als Jude beschimpft wurde.
Benjamin Kochan sagt: "Also, es steht zwar kein Polizeiauto vor der Tür, aber es gibt immer Polizeiautos während des Gottesdienstes. Und es gibt auch Kameras, die dann direkt an die Zentrale ein Bild liefern. Ich fühle mich viel sicherer z.B. in Erfurt als in Berlin! Das kann ich auf jeden Fall sagen, ja!'"
"Sie müssten sich von Herrn Höcke distanzieren"
Die Unterstützung der Landespolitik für die jüdische Gemeinde ist groß. Als es vor kurzem hieß, "Thüringen trägt Kippa", stand Ministerpräsident Bodo Ramelow selbstverständlich in der ersten Reihe, neben Vertretern von CDU, SPD und Grünen, die sich nicht nur an solchen Tagen für jüdische Kultur in Thüringen und gegen Antisemitismus engagieren.
Die AfD wurde nicht gesehen, obwohl sie andernorts um Juden und Russlanddeutsche wirbt, die Angst vor einer Islamisierung haben. Die Partei ist auch nicht in der Gemeinde willkommen, solange Landesverband und Fraktion voll hinter dem Vorsitzenden Björn Höcke stehen, der in seiner Dresdner Rede im vergangenen Jahr die deutsche Gedenkkultur verächtlich gemacht und einer "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert hat. Das sagt der Vorsitzende der Landesgemeinde, Reinhard Schramm:
"Eigentlich, wenn sie einen anderen Weg einschlagen würden, dann müssten sie sich davon distanzieren. Und sie müssten sich von Herrn Höcke distanzieren. Und da gibt es auch keinen Kompromiß. Das, was er vorschlägt, ist Relativierung des Nationalsozialismus und damit der Verbrechen. Insofern werden wir auf diese Partei nicht zugehen. Wir schauen, was sie tun, wenn sie was Böses tun, reagieren wir, und haben die Hoffnung, dass es nicht zu viele Mitläufer gibt."
Aber Schramm gibt die Hoffnung nicht auf. Er geht sogar seit Jahren zu jungen Neonazis ins Gefängnis, um ihnen von der Geschichte seiner Familie im Holocaust zu erzählen. | Von Henry Bernhard | Rund 800 Juden leben in Thüringen, es ist eine der kleinsten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Fast alle Mitglieder stammen aus Russland. Kürzlich hieß es: Thüringen trägt Kippa. Alle Parteien machten mit - bis auf die AfD, obwohl die ansonsten um Russlanddeutsche wirbt. | "2018-05-23T09:35:00+02:00" | "2020-01-27T17:53:24.208000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/juedische-gemeinde-in-erfurt-fuehle-ich-mich-sicherer-als-100.html | 387 |
Es wurde kräftig geschimpft | Machten gestern in Jena Wahlkampf für die AfD: die Landtagsabgeordnete Wibke Muhsal (l), Thüringens Spitzenkandidat Stephan Brandner (r) und die Bundes-Spitzenkandidatin Alice Weidel (M) (dpa / picture alliance / Martin Schutt)
(Rufe "AfD! AfD!") Eine kleine Bühne im Zentrum Jenas. Die AfD-Landtagsabgeordnete Wibke Muhsal begrüßt die etwa 200 Wartenden davor: "Herzlich willkommen zu unserer dritten Demo hier in Jena, die wir natürlich wie alle anderen Male auch friedlich hinter uns bringen wollen."
(Rufe "Nazis raus! Nazis raus!") Der Widerstand gegen AfD-Kundgebungen in Jena ist jedes Mal erheblich, etwa 1000 Gegendemonstranten haben sich hinter den Absperrgittern versammelt. Neben der Antifa, der SPD, Linken, Grünen steht auch bürgerliches Publikum. Einer bläst seinen Protest in seine Posaune.
Gegendemonstranten und Journalisten angegangen
Zuerst redet der lokale Direktkandidat, ein Gewerkschafter und Betriebsrat. Sein Thema: soziale Gerechtigkeit. Er arbeitet sich an allen anderen Parteien ab und geißelt am Ende die Zuwanderung der Flüchtlinge in die Sozialsysteme.
"Warum drängen sie mich hier weg? Das ist Bundestagswahl, eine Wahlkampfveranstaltung!" Am Rande kommt es zu Rempeleien. Ein paar Studenten verteilen Handzettel mit Kritik am sozialpolitischen Programm der AfD. Sie werden von Ordnern und einigen AfD-Anhängern bedrängt. "Er hat mich angefaßt und rausgeschubst und stark angepackt."
"Fotoapparate weg!" Jetzt geht es gegen die Fotografen, einem wird die Kamera nach unten geschlagen. "Was haben sie denn gegen die Presse?"
Ordner sympathisiert mit AfD-Migrationspolitik
Die Ordner sind unsicher, was Pressefotografen auf öffentlichen Veranstaltungen dürfen und was nicht. "Da drüben kannst du filmen, aber nicht hier. Halt doch deine Schnauze! Zieh doch einfach ab! Was willst du hier?""Sie beleidigen mich…""Leck mich am Arsch!""Nein, jetzt machen wir das nicht."
Ein sehr seriös aussehender, elegant gekleideter Herr wendet sich dem DLF-Mikrofon zu. Und schreit: "Wo bist du her, vom SPIEGEL, oder? Zu dir kann man überhaupt nichts mehr sagen!"
Ein Ordner kommt dazwischen, drängt den Mann ab. Und versucht die Aggressionen zu erklären: "Also, AfD hat alle gegen sich, alle. Also man fühlt sich als einer, der hier mit so einer Weste rumläuft, wie beim Kesseltreiben. Alle sind gegen einen!"
Er sei kein Parteimitglied, sorge sich aber um die Zukunft seiner Enkel: "Man kann keinen Sozialstaat versprechen wie die Linken da drüben, wenn man nicht die Massenimmigration von Millionen von Zugereisten unterbindet. Und das sind die Einzigen, die das wirklich unterbinden. Wenn sie die Aufgabe erfüllt haben, ist eigentlich ihre Mission erfüllt. Für mich."
Thüringer Kandidat beledigt Grüne und Gegendemonstranten
Als Nächstes spricht Stephan Brandner, Spitzenkandidat der Thüringer AfD. Er beschimpft die Gegendemonstranten als Brut, als häßlich, als Ergebnis von Inzucht und Sodomie und vergleicht sie mit der SA: "Kein AfDler will mit euch fucken! Oder steht hier einer?"
Die Grünen erklärt er zu Koksern und Kinderschändern und für ungebildet. Danach erklärt er jeden Vergleich mit Nazis für unangemessen. Und, warum man AfD wählen sollte: "Weil unser Programm einfach genial ist, liebe Freunde!" Auch weiter argumentiert er so, dass er nur selten die Nähe der Gürtellinie erreicht.
Alice Weidel fordert Untersuchungsausschuss gegen Merkel
Nach ihm ist Alice Weidel dran, die Spitzenkandidatin, die in den letzten Tagen unter Druck gekommen ist durch eine rassistische Mail, deren Urheberschaft sie aber bestreitet. Weidel kündigt einen Untersuchungsausschuß gegen Angela Merkel an, verschweigt aber, dass sie dafür ein Viertel aller Abgeordneten des Bundestages bräuchte:
"Sie hat Europa gespalten wie niemand anderes zuvor. Und das muss man dieser Frau vorwerfen."
Lange hält sie sich an das Thema Finanzen: Die Haftung für die Schulden anderer Länder, die Nullzinspolitik, die angeblich drohende schleichende Abschaffung des Bargelds. Fordert eine effektive Grenzsicherung und glaubwürdigen Kampf gegen den Terror.
Auf die ihr zugeschriebene rassistische Mail geht sie nicht ein. Auf Nachfrage erklärt sie: "Dazu ist alles gesagt worden am Wochenende. Nächste Frage!"
Halbwegs friedlich geht die AfD-Wahlveranstaltung zu Ende. Ein Polizist wurde von einem Gegendemonstranten geschlagen, es gab zwei Anzeigen wegen Körperverletzung und 25 Platzverweise. Die zwei Wasserwerfer blieben unbenutzt. | Von Henry Bernhard | Die AfD zieht wahrscheinlich in den Bundestag ein, aber den zivilisierten Umgang mit Journalisten und Andersdenkenden scheint sie noch nicht verinnerlicht zu haben. Bei einem Wahlkampfauftritt in Jena ging es jedenfalls ziemlich beleidigend zu. | "2017-09-13T06:20:00+02:00" | "2020-01-28T10:50:39.773000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/afd-wahlkampfauftritt-in-jena-es-wurde-kraeftig-geschimpft-100.html | 388 |
"Die Demokratie ist ein zartes Pflänzchen" | Der tunesische Ministerpräsident Ali Larayedh eröffnete im Mai 2013 in Tunis die zweite Phase des Nationalen Dialogs. Das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs (dpa / epa / Mohammed messara)
Der Friedensnobelpreis für das tunesische Dialog-Quartett, das erfolgreich zwischen den zerstrittenen Parteien des Landes vermittelt habe, sei auch ein Appell an die internationale Gemeinschaft und die Europäer, den Demokratisierungsprozess des Landes weiter mit allen Kräften zu unterstützen, sagte der Staatsrechtler Rainer Grote im DLF. Es gehe dabei auch um wirtschaftliche und politische Unterstützung. Diese müsse kontinuierlich sein und nicht erst dann einsetzen, wenn es zu spät ist.
Die Demokratie in Tunesien sei "ein zartes Pflänzchen", das von radikalen Kräften bedroht werde, sagte Grote. Inzwischen gebe es zwar funktionierende demokratische Institutionen wie das Parlament und ein mit großer Mehrheit gewähltes Kabinett. Wie prekär die Lage dennoch sei, hätten aber die Anschläge im Frühjahr gezeigt. Es gebe starke islamistische Kräfte. Und auch die wirtschaftliche Lage sei weiter schwierig. Grote wies zudem darauf hin, dass aus Tunesien - im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung - mehr Kämpfer zur Terrormiliz IS gegangen seien als aus anderen nordafrikanischen, arabischen oder europäischen Ländern.
Das vollständige Interview können Sie im Audio-Bereich nachhören. | Rainer Grote im Gespräch mit Britta Fecke | Die Rolle des mit dem Friedensnobelpreis geehrten tunesischen Dialog-Quartetts bei der Demokratisierung des Landes könne gar nicht genug gewürdigt werden, sagte der Staatsrechtler Rainer Grote im DLF. Das Land habe im Sommer 2013 am Rande eines Bürgerkriegs gestanden. | "2015-10-11T00:00:00+02:00" | "2020-01-30T13:03:43.173000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/lage-in-tunesien-die-demokratie-ist-ein-zartes-pflaenzchen-100.html | 389 |
Eine globale Verpflichtung | Volker Gerhardt entfacht eine neue Debatte: Humanität als Verantwortung für das Ganze (Buchcover: C.H. Beck Verlag, Foto: dpa/picture alliance/Jens Ressing)
Als Kant alle Fragen der Philosophie zu einer einzigen zusammenfasste, konnte er nicht ahnen, wie sehr diese Frage zahllose Wissenschaftler und Disziplinen in den folgenden Jahrhunderten beschäftigen würde: Was ist der Mensch? Eine ganz neue Art der Wissenschaft entstand, die sich ausschließlich der Erforschung des Menschen widmete: die Humanwissenschaft. Mit der Abnahme religiöser Orientierung ging die Karriere der Anthropologie einher. Der Mensch war auf sich selbst gestellt. Und ein starker Singular tauchte am Horizont auf: die Menschheit. Damit war nicht bloß die Gattung gemeint, sondern eine große Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle Menschen. Heute zerfällt dieser Singular. Und die Hoffnung ist ziemlich gedämpft.
Dagegen stemmt sich der Philosoph Volker Gerhardt mit seinem neuen Buch "Humanität". Das Wort hätte auch mit einem Ausrufezeichen versehen sein können. Denn es handelt sich nicht um eine analytische Untersuchung, sondern um einen Appell und eine Verteidigung. Sein Untertitel lautet: "Über den Geist der Menschheit". Nicht um den einzelnen Menschen geht es hier, sondern um den Begriff der Menschheit, den höchsten Begriff, den die humanistische Tradition zu bieten hat und ohne den es keine allgemeinen Menschenrechte gäbe. Es geht also um viel. Und das macht der Autor auch gleich im Vorwort deutlich:
"Längst ist offenkundig, dass die viel zu eng und sachlich problematisch gewordenen Leitbilder der Nation, der Religion, der Klasse oder der Rasse untauglich sind, weltoffenen Gesellschaften Ziel und Halt zu geben. Sie sind erst recht nicht in der Lage, die existenzielle weltpolitische Wende anzuleiten. Und das es nicht in Zweifel stehen darf, dass alles, was nötig ist, im Interesse und im Namen der Menschheit zu erfolgen hat, liegt es nahe, das ethische und politische Handeln unter das Ideal der Humanität zu stellen."
In einer Zeit, in der das Konzept der Nation eine unerwartete Renaissance erlebt, bleibt demnach allein der Begriff der Menschheit übrig, um die Egoismen von Individuen und Gruppen zu überwinden und eine ernsthafte Weltpolitik zu betreiben, die in der Lage ist, die globalen Probleme zu lösen.
Die ethische Gemeinschaft
Mit dieser Sicht bezieht sich Gerhardt maßgeblich auf Kant, der die Menschheit in jedem Individuum als gegeben ansah. Denn bei seiner Selbstbestimmung setzt sich jedes Individuum mit allen anderen Individuen in Beziehung, die das Gleiche tun. Mit dem Begriff der Menschheit sind somit nicht bloß alle existierenden Menschen bezeichnet, sondern eine ethische Gemeinschaft, auf die sich die Einzelnen normativ in ihren Handlungen beziehen.
Allerdings weiß auch Gerhardt sehr genau, dass diese Konzeption der Menschheit in den letzten Jahrzehnten stark in die Kritik geraten ist. Denn das Problem, das Kant nicht weiter verfolgt hat, besteht darin, dass die Abgrenzung der Menschen von anderen Lebewesen gerade dann besonders strikt ausfallen muss, wenn der Mensch zur alleinigen Quelle des ethischen Handelns wird. Im Unterschied zum Gedanken der Schöpfung werden dann alle anderen Lebewesen auf der Erde zu Sachen. Insbesondere die Epoche der Aufklärung, die Kant wie kein anderer philosophisch zum Ausdruck gebracht hat, steht für eine Versachlichung der Natur, die vom Menschen in Besitz genommen werden darf.
Für viele Kritiker ist der Humanismus aus diesem Grund in genau die Probleme verstrickt, die seine Verteidiger mit der Anrufung der Menschheit zu lösen versprechen. Sie plädieren daher für einen Posthumanismus, in dem nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren und den Pflanzen ihre eigenen Rechte zustehen. Das Schlagwort dieser Kritiker lautet: Speziesismus. Auf diese Kritik einzugehen, ist eines der Hauptanliegen des Buches:
"Umso kurioser ist das Tabu, das im Zeichen des 'Anti-Speziesismus' über den Humanismus verhängt wird. Die Umkehrung wäre besser begründet: Nämlich eine Berufung auf den Humanismus, der es nicht zulassen kann, dass Tiere gequält, Urwälder gerodet, Böden verseucht, die Luft verpestet oder Meere vergiftet werden – erst recht nicht, wenn befürchtet werden muss, das mit alledem auch menschliches Leben verunmöglicht wird."
Zurecht weist Gerhardt darauf hin, dass die Kritiker des Humanismus dies meist im Namen eines verbesserten Humanismus tun, auch wenn sie ihn nicht mehr so nennen. Selbst die, die vorgeben, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen, machen das letztlich immer nur aus ihrer eigenen Sicht. Aus der Begrenztheit der eigenen Perspektive gibt es keinen Ausweg.
Jenseits des Humanismus
Wer dagegen, wie der australische Philosoph Peter Singer, die humanistische Idee wirklich aufgeben will, muss dann auch damit leben, dass die Tierrechte auf Kosten der Menschenrechte gehen. Sein umstrittener Vorschlag, die Verteilung der Rechte an die Zuschreibung von Schmerzempfinden zu binden, führt konsequenterweise dazu, dass nicht nur die Rechte von Tieren aufgewertet, sondern auch die Rechte von Menschen in bestimmten Zuständen abgewertet werden. Ungeborenem Leben oder kranken Menschen kämen dann unter Umständen weniger Rechte zu als gesunden Menschen. Damit wäre nicht nur die Menschenwürde in ihrer Universalität in Frage gestellt. Auch das humanistische Kernanliegen der Verpflichtung des Einzelnen auf die ethische Gemeinschaft wäre obsolet. Denn wenn es ein objektives Kriterium gäbe, um die Würde der Lebewesen festzustellen, wäre es nicht mehr nötig, diese Verpflichtung als Auftrag zu begreifen. Aber gerade darauf kommt es Gerhardt an, wenn er nicht nur im Horizont zukünftiger Möglichkeiten der synthetischen Biologie, neue Lebewesen zu erzeugen, sondern auch angesichts der anhaltenden Umweltzerstörung festhält, dass sich dieser Verantwortung niemand entziehen kann:
"Das Neue in der Lage des modernen Menschen besteht nur darin, dass jeder Einzelne, stärker als das jemals zuvor der Fall gewesen sein dürfte, nicht nur für seine Existenz als Individuum, sondern auch für die der Menschheit Verantwortung trägt. So ist die Humanität das Schicksal, das aus der Selbstbestimmung des Menschen folgt und ihn zur Verantwortung für das seiner Wirksamkeit zugängliche Ganze verpflichtet."
Volker Gerhardt hat ein profundes Buch geschrieben, das nicht nur gut lesbar ist, sondern die Debatte um den Humanismus neu entfachen wird. Auf die Reaktionen darf man gespannt sein.
Volker Gerhardt: "Humanität. Über den Geist der Menschheit" Verlag C.H. Beck, München. 314 Seiten, 32 Euro. | Von Leander Scholz | Mit dem Konzept des Humanismus verband sich einst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seit einigen Jahrzehnten aber steht der Humanismus mit seiner Konzentration allein auf den Menschen in der Kritik. Angesichts globaler Probleme unternimmt der Philosoph Volker Gerhardt den Versuch einer Erneuerung. | "2019-08-13T16:10:00+02:00" | "2020-01-26T23:05:53.990000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/volker-gerhardt-humanitaet-ueber-den-geist-der-menschheit-100.html | 390 |
Cannabis auf Rezept | Jason Wax hatte in einem Autounfall schwere Verletzungen erlitten. Seit dieser Zeit plagen ihn noch immer heftige Schmerzen. Doch dagegen ist offenbar ein Kraut gewachsen: Marihuana, also die getrockneten Blüten und Blattspitzen der weiblichen Hanfpflanze. In Kalifornien darf es seit rund 13 Jahren auf Rezept an Patienten verteilt werden - an bestimmten Ausgabestellen, die meistens durch ein grünes Kreuz gekennzeichnet sind. Jason Wax besucht eine davon regelmäßig."Ich komme hier her, weil das nah an meiner Wohnung ist. Ich kann schnell nach Hause zurück, ohne dass ich Ärger mit der Polizei bekomme. Aber, naja, solange man sich an die Gesetze hält und das Marihuana nur für den persönlichen Gebrauch kauft und nicht weiter verkauft, solange ist es doch in Ordnung."Ärger mit der Polizei können die Patienten und vor allem die Händler bekommen, weil ein Bundesgesetz die Droge verbietet – egal für welchen Zweck. Seit letzter Woche aber hat sich das Blatt für viele Patienten gewendet. US-Justizminister Eric Holder hat nun für Klarheit gesorgt: In den Staaten, in denen Marihuana per Landesgesetz als Medizin erlaubt ist, sollen die Patienten in Zukunft nicht mehr mit einer Verhaftung rechnen müssen. Eine Politik, die sich bereits Anfang des Jahres angedeutet hatte, als der Minister während einer Pressekonferenz seine Position dargelegt hatte."Wir werden uns auf Personen und Organisationen konzentrieren, die bedeutende Mengen von Marihuana anbauen – und dabei Bundes- und Landesgesetze verletzen."Die Befürworter des medizinisch genutzten Marihuana führen an, dass es vielen schwer kranken Patienten helfen könne; Menschen mit chronischen Schmerzen zum Beispiel, die die lindernde Wirkung der Inhaltsstoffe schätzen. Und vor allem Krebspatienten, die während einer Chemotherapie ihre Übelkeit damit bekämpfen. AIDS-Kranke nutzen die Pflanze, um während einer Therapie ihren Appetit anzuregen. Kritiker hingegen führen an, dass für die meisten der Fälle sehr viel effektivere Medikamente zur Verfügung stehen, die zudem weniger Nebenwirkungen haben. Die Wirkstoffe der Cannabispflanze können akute Psychosen auslösen und unter Umständen die Gefahr für einen Herzinfarkt erhöhen. Und weil die meisten Patienten das Kraut rauchen, drohen ihnen Atemwegserkrankungen. Laut einer Studie aus dem neuseeländischen Wellington ist der Rauch von Marihuana bis zu fünfmal schädlicher als der einer herkömmlichen Zigarette. Und in Kalifornien kommt mittlerweile das Problem hinzu, dass viele der Ausgabestellen die Droge nicht nur gegen Rezept an Kranke verteilen. Dazu sagt Steve Cooley, der Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles:"Wir werden mit dem illegalen Verkauf von Marihuana an den Arzneiausgaben Schluss machen. Die große, große Mehrheit, fast hundert Prozent dieser Apotheken im Kreis und in der Stadt Los Angeles ist illegal."In Deutschland wurde Marihuana erstmal zu Beginn dieses Jahres an Kranke abgegeben. Sieben Patienten hatte im Februar eine Ausnahmegenehmigung erhalten. | Von Arndt Reuning | Marihuana darf in vierzehn US-Bundesstaaten als Medikament verabreicht werden. Weil das aber im Widerspruch zum Bundesgesetz steht, mussten Patienten damit rechnen, für ihren Marihuana-Kauf zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch das dürfte sich nun ändern. | "2009-10-27T10:10:00+01:00" | "2020-02-03T10:07:36.481000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/cannabis-auf-rezept-100.html | 391 |
"Die Schulen fit machen fürs 21. Jahrhundert" | Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Claudia Bogedan (SPD) begrüßt die Ankündigung von Frau Wanka, mehr Geld für die Digitalisierung in den Schulen in die Hand zu nehmen. (dpa/picture alliance/Ingo Wagner)
Markus Dichmann: Eine Hand wäscht die andere, ich geb’s Geld, ihr macht die Arbeit. Das ist mal ganz verkürzt zusammengefasst, was im Zusammenhang mit dem sogenannten Digitalpakt gerade passiert ist. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka stellt fünf Milliarden Euro zur Verfügung, um die Schulen im Land digital auszubauen, also zum Beispiel reden wir da von freiem WLAN an allen Schulen, von neuen Technologien für Schüler und Lehrer und natürlich auch von neuen Konzepten für den Unterricht.
Im Gegenzug aber sollten die Länder eine konkrete Strategie entwickeln, wie dieser Ausbau stattfinden soll. Auf so eine Strategie haben sich die Länder heute bei der Kultusministerkonferenz geeinigt und die aktuelle Präsidentin der KMK, Claudia Bogedan, Bildungssenatorin in Bremen, ist jetzt am Telefon. Ich grüße Sie, Frau Bogedan!
Claudia Bogedan: Ja, einen schönen guten Tag!
Dichmann: Also, was stellen wir an mit den fünf Milliarden Euro?
Bogedan: Ja, ich fange mal andersherum an. Denn die Kultusministerkonferenz arbeitet nicht erst nach der Idee von Frau Wanka an einer Digitalstrategie, sondern seit zwölf Monaten findet hier ein intensiver Prozess statt, in dem sich 16 Länder jetzt auf ein Kompetenzmodell verständigt haben. Und ehrlich gesagt kommt uns da natürlich dann die Ankündigung von Frau Wanka, für fünf Milliarden die Schulen dabei zu unterstützen, natürlich sehr entgegen, denn sie greift einen wichtigen Punkt auf, dass nämlich eben auch Technik vorhanden ist, die funktioniert. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Fragezeichen, das will ich nicht verhehlen, denn bislang ist das Geld von Frau Wanka noch nicht da. Und deshalb haben wir mit der Bundesbildungsministerin verabredet, dass wir uns im Januar zusammensetzen, denn ein Ziel muss ja sein, dass diese Milliarden dann auch eben so eingesetzt werden in den Ländern und in den Schulen, dass auch ein nachhaltiger Erfolg eben dann möglich ist und wir tatsächlich die Schulen fit machen fürs 21. Jahrhundert.
Digitale Medien im Unterricht einsetzen
Dichmann: Wenn die fünf Milliarden Euro an die Länder gehen würden aus dem Bund, dann, Frau Bogedan, wie sähen dann die Klassenzimmer in Zukunft aus? Wie können wir uns die im Sinne der KMK und der Strategie, die heute vorgestellt wurde, in Zukunft vorstellen?
Bogedan: Ja, wir machen ein Versprechen. Wir sagen, bis 2021 soll möglichst in allen Schulen der Zugang zum Netz jederzeit eben möglich sein. Denn unser Ziel ist es, dass in jedem Unterricht, das heißt, in jedem Fach, zu jeder Zeit, es eben möglich ist, digitale Medien einzusetzen, um das Unterrichtsgeschehen zu unterstützen und die Didaktik eben auch an der Stelle zu verbessern. Das Zweite ist, dass wir gesagt haben, wir wollen, dass alle Schülerinnen und Schüler, die zukünftig eingeschult werden, über bestimmte Kompetenzen verfügen, wenn sie die Schule verlassen. Und diese Kompetenzen gehen eben weit darüber hinaus, dass sie nur kompetent diese digitalen Endgeräte letztlich nutzen können, sondern wir wollen, dass sie aktiv und gestaltend in das gesellschaftliche Leben eingreifen können, auch im Sinne von demokratischer Mitwirkung an der Gesellschaft und der Gestaltung an der rasanten Umwälzung, die wir gerade beobachten können.
Neue Arbeits- und Kooperationsprozesse zwischen den Schülerinnen
Dichmann: Diese Kompetenzen, von denen Sie sprechen, sind auch formuliert in Ihrem Papier. Gut 50 Seiten ist es stark, da stehen so Sachen wie Suche, Verarbeiten, Aufbewahren oder Kommunizieren und Kooperieren. Alles sehr blumig, vielleicht geht es aber noch etwas konkreter: Wie soll denn der Unterricht tatsächlich jetzt in nächster Zukunft aussehen?
Bogedan: Na, ich mache das mal ganz konkret an dem Beispiel Kommunizieren und Kooperieren. Eine Möglichkeit, die ja die Digitalisierung schafft, ist eine ganz neuartige Form der Vernetzung, der Vernetzung von Wissen einerseits, aber auch eben der Vernetzung in der Zusammenarbeit. Das heißt, das gemeinschaftliche Arbeiten an einem Produkt, sei es in der Industrie, in der eben die Produktionsprozesse sich ganz neu gliedern werden, als eben auch in der Wissenschaft oder in der Dienstleistung, diese Kompetenzen müssen Schülerinnen und Schüler haben. Und das heißt, in der Schule müssen sie lernen, was diese Arten von Kooperationen bedeuten, wie man auch klug kooperieren kann, wie man Arbeitsprozesse dann auch selbst mitsteuern und -gestalten kann. Und das geht natürlich über alle Schulfächer nur hinweg, sei es eben das gemeinsame Arbeiten an Texten oder das Arbeiten auf einer Plattform, wo man über unterschiedliche Zeit- und räumliche Bedingungen hinweg arbeitet, oder sei es sogar die Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern aus anderen Schulen oder gar aus anderen Ländern, wie wir das im Erasmus-Programm hier schon ermöglichen.
Dichmann: Das klingt natürlich aber schon nach tief greifenden Umwälzungen, Reformschritten im Unterricht. Sie sprachen auch von dem flächendeckenden Ausbau von Netzverfügbarkeit, von WLAN in den Schulen. Wann kann das denn alles aber wirklich losgehen, wann spüren wir davon was im täglichen Schulbetrieb?
Bogedan: Ich glaube, dass in den Schulen, in den Ländern das jetzt schon gespürt wird. Denn die meisten Länder haben sich ja schon auf den Weg gemacht, sicherlich natürlich in einem ungleichzeitigen Tempo. Also, sagen wir, es wird nicht so sein, dass wir jetzt einmal über Deutschland fliegen mit dem großen Helikopter und über allen Schulen Tablets abwerfen. Das ist immer so ein Bild, was in der Vergangenheit ja stark gebraucht worden ist. Sondern wir sagen ja genau, wir wollen beim Primat des Pädagogischen ansetzen und wollen deshalb unsere Schulen auch ertüchtigen, Möglichkeiten zu nutzen. Und da heißt es zum Beispiel vielleicht in einem ersten Schritt, dass die Schulen insofern in die Lage versetzt werden, in einer geschützten Lernumgebung, in einem geschützten Netzkontext eben dann auch Angebote zu machen, Software einzusetzen, die den Unterricht unterstützt, aber eben auch digitale Medien überhaupt in Schule verfügbar zu machen.
Zusätzliche Gelder, um Lehrerinnen fit fürs Digitale zu machen
Dichmann: Jetzt gehen wir mal einen Moment davon aus, dass dieses Konzept, Ihre KMK-Strategie gut ankommt in Berlin und die fünf Milliarden aus dem Digitalpakt werden fließen. Wird das dann reichen oder werden Sie und Ihre Landeskollegen noch zusätzlich in die Tasche greifen müssen?
Bogedan: Wir werden definitiv zusätzlich in die Taschen greifen müssen, denn ein wichtiger Bereich ist ja bislang noch gar nicht angesprochen worden, das betrifft die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung. Denn eine wichtige Gelingensbedingung ist eben, dass wir auch Lehrkräfte haben, die in dem Bereich sich sicher und fit fühlen. Wir haben in Deutschland die bestausgebildeten Lehrkräfte, deshalb ist mir da gar nicht bang, dass wir die auch fit machen können fürs 21. Jahrhundert, aber nichtsdestotrotz sind da weitere Veränderungen in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung notwendig, aber eben auch in der Fortbildung, damit die Lehrerinnen und Lehrer auch eben fit sind. Und das wird natürlich länderseitig vor allem erfolgen.
Dichmann: Sagt Claudia Bogedan, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hier in "Campus und Karriere", das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Claudia Bogedan im Gespräch mit Markus Dichmann | Die Kultusminister haben eine "Digitalstrategie" für Schulen beschlossen. Ziel sei, dass es in jedem Fach zu jeder Zeit möglich ist, digitale Medien einzusetzen, sagte Claudia Bogedan, Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, im DLF. Das schaffe eine neue Art der Vernetzung von Wissen. | "2016-12-08T14:35:00+01:00" | "2020-01-29T19:07:48.349000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/digitalstrategie-der-kultusminister-die-schulen-fit-machen-100.html | 392 |
Elias Howe - Erfinder der Nähmaschine | Genialer Erfinder, aber miserabler Geschäftsmann: Elias Howe (picture alliance / Glasshouse Images)
"Er war ein grübelnder Kopf, dieser Elias Howe ... Er schlenderte bei den Schneidern umher und sah wieder und immer wieder der Procedur des Nähens mit einer Aufmerksamkeit zu, daß die Leute an seinem Verstande zu zweifeln begannen. Sie lachten laut auf, wenn er seufzend die Haufen zugeschnittener Tuchstreifen betrachtete, die sämmtlich eines und desselben Stiches bedurften, um sich zu Kleidern zusammenzufügen, und klagte, daß eine so einfache, so wenig Kraftaufwand erfordernde Manipulation nicht mittels einer Maschine bewerkstelligt werden könnte."
Fünf Jahre lang hat Elias Howe, dessen Leben und Leiden ein Artikel in der "Gartenlaube" so anschaulich beschrieb, von seiner Nähmaschine geträumt, von der er hoffte, dass sie ihn aus seinem Elend würde befreien können.
Menschliche Hand als Vorbild
Howe, der am 9. Juli 1819 in Spencer in Massachusetts geboren wurde, hatte sich schon als Kind für Technik interessiert. Er hatte eine Ausbildung zum Mechaniker in einer Baumwollfabrik begonnen, war infolge einer landesweiten Wirtschaftskrise arbeitslos geworden und schließlich bei einem Hersteller von Präzisionsinstrumenten in Boston gelandet, wo er zufällig mit anhörte, wie ein Kunde zu seinem Chef sagte: "Wer eine Maschine erfände, die nähen kann, der wäre ein gemachter Mann!"
Seitdem musste Howe unablässig an diese Maschine denken, von der er zunächst annahm, dass sie die Bewegung der menschlichen Hand nachahmen müsste.
"Nachdem er sich Hunderte von Stunden fruchtlos mit dieser Idee beschäftigt hatte, kam ihm plötzlich der Gedanke, ob denn nicht ein anderer Stich möglich sei."
Erste Konstruktion einer Doppelstich-Maschine
1844 bastelte sich Howe, inzwischen als selbständiger Mechaniker niedergelassen, sein erstes Gerät, das die wesentlichen Merkmale einer modernen Nähmaschine besaß und, anders als bei früheren Versuchen mit solchen Apparaten, auch tatsächlich nähte. Es hatte einen Ober- und einen Unterfaden, die mit Hilfe eines "Schiffchens", wie man es von Webstühlen kannte, umeinander geschlungen wurden. Der so genannte Doppelstich ermöglichte eine "abgeschlossene Naht", erklärt Karin Hein vom Nähmaschinenmuseum im brandenburgischen Sommerfeld, das auch zwei Nähmaschinen aus der Werkstatt von Elias Howe beherbergt.
"Eine abgeschlossene Naht ist eine Naht, die sich nicht wieder aufräufelt. Heute haben wir Spulen, kein Schiffchen mehr. Aber im Prinzip ist das immer noch die gleiche Verfahrensweise."
Nähmaschine von Elias Howe aus dem Jahr 1845 (akg / picture alliance)
1846 bekam Howe ein Patent auf seine Nähmaschine. Sie schaffte 250 Stiche pro Minute - viel mehr als bei der Arbeit von Menschenhand. Trotzdem gelang es Howe nicht, die Schneider vom Nutzen seiner Erfindung zu überzeugen.
"Die edlen Ritter von der Nadel erblickten in der Nähmaschine nur den sicheren Ruin ihres Gewerbes."
Howe beschloss, sein Glück in England zu versuchen. Dort wurde er von einem Koffer-, Regenschirm-, Korsett- und Schuhfabrikanten übers Ohr gehauen, der ein Vermögen mit der Nähmaschine machte - während Howe leer ausging. Karin Hein:
"Er war ein grandioser Konstrukteur, aber ein miserabler Geschäftsmann."
Patentkrieg mit Singer
Als Howe 1849 nach Amerika zurückkehrte, musste er feststellen, dass sich die Nähmaschine dort inzwischen großer Beliebtheit erfreute. Andere hatten seine Pläne abgekupfert, aber das wollte Howe nun doch nicht auf sich sitzen lassen.
"Sofort begann er den Rechtsstreit gegen die Usurpatoren."
Der Streit mit seinem mächtigsten Gegner, dem späteren "Nähmaschinenkönig" Isaac Merritt Singer, wuchs sich zu einem regelrechten "Patentkrieg" aus, der nicht nur vor Gericht, sondern auch in der Presse ausgefochten wurde.
Am Ende siegte Howe. Singer musste ihm fortan Lizenzgebühren zahlen. Wie Pilze schossen Nähmaschinenfabriken damals aus dem Boden. Die Geräte waren teuer, doch viele Firmen boten Ratenzahlungen an, so dass sich auch Menschen, die ins soziale Abseits geraten waren, eine Nähmaschine leisten konnten. Zu denen, die davon besonders profitierten, gehörten Mütter unehelicher Kinder. Karin Hein:
"Die Mütter hatten Arbeit, die konnten zu Hause nähen. ... Und dann haben die halt Tag und Nacht gearbeitet, bis sie ihre Nähmaschine eben bezahlt hatten und davon auch leben konnten! ... Und - da ziehe ich wirklich den Hut davor."
Elias Howe konnte zufrieden sein. Viel Zeit blieb ihm allerdings nicht mehr, um den Wohlstand zu genießen, zu dem er schließlich doch noch gelangt war. Howe starb am 3. Oktober 1867 in Brooklyn im Alter von nur 48 Jahren. | Von Irene Meichsner | Elias Howe erfand die erste funktionsfähige Nähmaschine, lebte dennoch die meiste Zeit seines Lebens in bitterer Armut. Der Tüftler aus Massachusetts kämpfte lange gegen andere Hersteller, die seine Pläne abgekupfert hatten - am Ende behielt er im Patentstreit die Oberhand. | "2019-07-09T09:05:00+02:00" | "2020-01-26T23:00:57.559000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/vor-200-jahren-geboren-elias-howe-erfinder-der-naehmaschine-100.html | 393 |
Hildebrandt: Ich bin dagegen, dass man sie gewähren lässt | Durak: Michel Friedman führt ein Interview mit dem Neonazi Horst Mahler, wird mit "Heil Hitler" begrüße, führt das Interview dennoch weiter und alles wird veröffentlicht – in "Vanity Fair", kein Massenblatt, aber immerhin. Schmidt und Pocher bestreiten ihr Entree als neues Medienpärchen auch mit Hilfe eines von ihnen so benannten Nazometers, ließen es ausschlagen, wenn ihrer Meinung nach geschichtsbelastete Begriffe fielen – die haben sie fallen lassen – wie Duschen oder Gasherd. Wo sind die Grenzen bei der Beschäftigung mit Neonazis, mit rechtsextremistischen Parolen bei der Satire, wo bei der politischen Berichterstattung? – Am Telefon ist der Kabarettist Dieter Hildebrandt. Schönen guten Morgen! Hildebrandt: Guten Morgen! Durak: Herr Hildebrandt, wir wollen sorgsam trennen zwischen Satire und politischer Berichterstattung, zwischen Kunst und Journalismus. Was dürfen Sie auf der Bühne tun, was ich hier am Mikrofon tunlichst unterlassen sollte? Hildebrandt: Ich habe glaube ich ein paar Möglichkeiten mehr, wenn ich auf einer Bühne bin, weil von vornherein die Verhältnisse für das Publikum ja auch klarer sind. Ich darf vielleicht etwas mehr tun, aber im Moment scheint mir das auch ein bisschen aus der Rolle zu laufen. Man muss vorsichtig sein. Ich sehe mit Erschrecken, dass diese Grenze immer fließender wird und dass man diesen Hitler tatsächlich zu einer Witzfigur macht. Das war er nun offensichtlich eben nicht. Loriot hat das ja auch richtig gesagt, für meine Begriffe richtig gesagt. Da muss es eine Grenze geben, die man einhalten muss. Diese Massenmörder sind nicht komisch gewesen und man kann sie nicht komischer machen. Man kann sie auch im Nachhinein nicht komischer machen. Das scheint mir so zu sein, dass es vielleicht auch eine Frage der Jugend oder des Alters ist, dass man hier mit Entsetzen Scherz treibt. Da glaube ich haben wir alle, sowohl Sie als Journalistin und ich als Kabarettist, irgendwo eine Grenze einzuhalten. Durak: Irgendwo ist schwer zu begreifen oder schwer zu definieren, Herr Hildebrandt. Können Sie es genauer machen? Hildebrandt: Ganz genau kann ich das auch nicht machen. Ich glaube das ist ein Gefühl, das man dafür haben muss. Ich habe natürlich meine Jugend beschrieben, als ich in diesen Brennpunkt gelangt bin mit Walser und mit Lenz, und habe dann das natürlich übertrieben. Wir haben vielleicht eine Grenze ein bisschen überschritten, als ich auf der Bühne stand und nachmachte, wie ich auf dem Kurfürstendamm stand und dieses Grüßen war. Man musste ja jeden grüßen. Jeder musste jeden grüßen. Jeder musste den Vorgesetzten grüßen, und wenn er nur einen Stern mehr hatte oder so. Das habe ich dann vorgemacht und habe diesen Hitler-Gruß auf der Bühne praktiziert. Ich glaube das ging noch, aber so ganz wohl war mir nicht dabei.Ich glaube man darf das bis zur Lächerlichkeit, die man mitteilt, wie lächerlich das wohl gewesen ist. Das darf man schon. Man darf es nicht leicht nehmen. Man muss immer dazu sagen, was das verursacht hat, was diese Leute, was diese Zeit hervorgebracht hat. Man muss immer gleichzeitig sagen, wer diese Leute in Wirklichkeit waren. Man muss immer sagen, dass es sich um Mörder gehandelt hat und um Verbrecher. Durak: Sie sind als Konsument journalistischer Berichterstattung kein Produzent. Wollen Sie wissen, was Altnazis wie Horst Mahler oder neue von Gott und der Welt halten? Würden Sie ein solches Interview lesen wollen? Hildebrandt: Das weiß ich inzwischen. Ich muss das nicht ununterbrochen noch einmal berichtet bekommen. Ich bin dagegen, dass zum Beispiel Michel Friedman ein solches Interview macht, sich das gefallen lässt. Ich bin dagegen, dass man sie gewähren lässt. Ich bin dafür, dass man diese Partei zum Beispiel verbietet, und ich bin immer noch nicht der Meinung, dass man sie nicht verbieten darf. Ich meine diese Verfassung, in der wir uns befinden, hat die Verpflichtung, dieses zu verbieten. Sie sagen ja, die Verfassung wollen sie nicht haben und sie wollen sie weg haben. Dann kann man es doch der Verfassung nicht in die Schuhe schieben, dass man sie nicht verbieten darf. Das kann doch nicht wahr sein! Durak: Noch gibt es aber die NPD und sie wird gewählt. Darf man gewählte NPD-Vertreter ausblenden aus der Berichterstattung? Hildebrandt: Das meine ich ja. Das darf man, ja. Ich finde, dass man eine politische Vereinigung eine kriminelle Vereinigung nennen darf, wenn sie ganz deutlich sagen, sie wollen diese Demokratie abschaffen. Durak: Und wer soll dann die Aufklärung übernehmen, die Satire? Hildebrandt: Die Aufklärung? Das ist eine Frage des Journalismus. Das ist ganz klar! Da unterscheiden wir uns tatsächlich. Durak: Das wollen Sie also nicht tun? Hildebrandt: Das Aufklären? Durak: Ja. Hildebrandt: Ja selbstverständlich! Ich sage ja, die Grenzen sind fließend. Das muss jeder selber bestimmen. Ich bin schon bereit aufzuklären über das, was sie wollen. Dafür ist doch die Verfassung da, dass man sie einhält und dass man sagt, diese Leute dürfen keine Partei gründen. Durak: Nun ist es aber so. Es gibt diese Parteien. Es gibt auch junge Mitläufer. Es gibt viele junge Menschen, die dieser Partei zulaufen. Wie kann man ihnen beim Denken helfen, wenn man in der politischen Berichterstattung sich nicht direkt mit solchen Leuten auseinandersetzen soll, wenn wir Ihnen folgen? Hildebrandt: Da fragen Sie mich zu viel. Das weiß ich auch nicht. Die Berichterstattung bleibt ja. Nur ich finde man sollte ihnen nicht zu viele Möglichkeiten geben, ihre kruden Ziele zu veröffentlichen. Ich meine deswegen ist ja die Berichterstattung nicht weg. Die ist ja deswegen doch immer noch möglich oder? Durak: Ich denke schon. Hildebrandt: Ja eben! Durak: Danke! – Dieter Hildebrandt, Kabarettist. Umgang der Medien mit rechtsextremen Parolen und Personen. Danke fürs Gespräch. Hildebrandt: Danke auch! | Moderation: Elke Durak | Der Kabarettist Dieter Hildebrandt hat sich für ein Verbot der NPD ausgesprochen. Eine Partei, die die bestehende Verfassung ablehne, habe kein Recht, von dieser geschützt zu werden. Er sprach sich auch dagegen aus, Neonazis wie dem Anwalt Horst Mahler ein Forum in einem Magazin zu bieten. Michel Friedman, der ehemalige Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hätte ein solches Interview nicht führen dürfen, betonte Hildebrandt. | "2007-11-13T00:00:00+01:00" | "2020-02-04T13:38:36.633000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/hildebrandt-ich-bin-dagegen-dass-man-sie-gewaehren-laesst-100.html | 394 |
Die Angst vor dem importierten Terror | Das BKA beschäftigt sich auf seiner Tagung auch mit der Diskrepanz zwischen Ängsten gegenüber Flüchtlingen und der realen Terrorgefahr in Deutschland (dpa/Arne Dedert)
Mit dem Verbot des islamistischen Vereins "Die Wahre Religion" in zehn Bundesländern hat die Polizei die salafistische Szene nach Einschätzung des BKA-Präsidenten verunsichert. Die Razzien hätten sich gelohnt, bilanziert Holger Münch, obwohl es keine Haftbefehle gab. Festnahmen seien nicht das Ziel gewesen. Sondern: einen Verein zu verbieten, der mindestens 140 Muslime dahin brachte, dass sie ausreisten, um am unheiligen Terror-Krieg teilzunehmen. Wie, umreißt Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU.
"Nun, das Verteilen von Koran-Übersetzungen war das Lockmittel, um im weiteren Verfahren Menschen zu radikalisieren. Es gibt auch personelle Verflechtungen zwischen denen, gegen die wegen Terror-Verdachts ermittelt wird, und den Verteilern ..." von Koran-Übersetzungen. In Bezug auf die Bedrohungslage sei zu beobachten, so BKA-Chef Münch, "dass über die Dschihad-Reisenden und Rückkehrer, die zu ganz, ganz großen Teilen aus der salafistischen Szene stammen, wir ein Anwachsen des Personenpotentials haben, ein Anwachsen des Risikos, eine Belastung des Sicherheitsgefühls haben."
Ängste der Deutschen nehmen zu
Allerdings: Die Ausreisen zum selbst ernannten Islamischen Staat sollen jüngst "nahezu zum Erliegen gekommen" sein. Das steht nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung in einer als Verschlusssache eingestuften Studie, die Ende des Monats die Innenministerkonferenz im Saarland beschäftigen soll. Anlass zur Entwarnung ist das aber genauso wenig wie die IS-Niederlagen in Syrien und im Irak. Denn die könnten zur Folge haben, dass die Terror-Miliz Anschläge in Deutschland und Europa plant, um aufzutrumpfen. Obwohl das individuelle Risiko, Opfer zu werden, eher gering sei, hätten die Ängste der Deutschen davor stark zugenommen, konstatiert Münch. Der Sozialwissenschaftler Emmanuel Ndahayo ist anerkannter politischer Flüchtling aus Ruanda.
"Wir als Zuwanderer bekommen das mit, wir spüren das auf der Straße. Ich verstehe wirklich die Leute, die Ängste haben. Ich habe aber kein Verständnis für die Leute, die Ängste schüren, das führt zu Unsicherheit und Destabilisierung der Gesellschaft", sagt der Dürener Kommunalpolitiker, der sein unterbrochenes Studium in Deutschland abschloss und jetzt promoviert. Sein Glück war, dass er ehrenamtliche Hilfe beim Deutschlernen bekam. Denn fast drei Jahre dauerte es bis zur Anerkennung. "Eine gründliche Prüfung", meint er, doch andere Asylbewerber habe das lange Warten in die Verzweiflung, gar in die psychische Krankheit getrieben.
"Natürlich ist es für Menschen, die sich in einem unsicheren Aufenthaltsstatus befinden, ein großes Problem, damit umzugehen, nicht zu wissen, was in einem halben Jahr sein wird", kommentiert der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner, "Das bringt Menschen auf dumme Gedanken und kann auch dazu beitragen, Kriminalität zu fördern."
Aus Terrorflüchtlingen werden keine Terroristen
In der Regel jedoch werden aus Terror-Flüchtlingen keine Terroristen. Der IS hat allerdings welche mit ihnen nach Europa geschickt. Das sät Misstrauen. Dschihadisten versuchen im Netz und in Flüchtlingsheimen, Attentäter zu rekrutieren. Damit treiben IS-Propagandisten einen Keil zwischen die Flüchtlinge und die Aufnahmegesellschaft, beobachtet der BKA-Präsident.
Haben islamistische Ideologen Anwerbe-Erfolge bei Muslimen, so Andreas Pott, Direktor des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung, ergibt sich das nicht zwangsläufig aus vorheriger Diskriminierung. Aber: "Die spielt im Einzelfall durchaus hinein, das sehen wir bei diesen sogenannten "Homegrown Terrorist", die in dem Land als zweite Generation geboren wurden und mehr oder weniger erfolgreich integriert sind, und sich dennoch zu solchen Taten entscheiden."
"Unsicherheit ist ein schlechter Ratgeber"
Transnationale Entwicklungen in den Blick zu nehmen, fordert die Polizei dauerhaft heraus. Immer noch nicht geklärt zu haben, wie Integration funktioniert, so Professor Wagner, belastet die Aufnahmegesellschaft.
"Das Gleiche gilt aus der Sicht von Geflüchteten, die häufig nicht wissen, wie die Entwicklung mit ihnen weitergeht. Und Unsicherheit ist ein schlechter Ratgeber. Unsicherheit öffnete die Türen für Populisten, um diese Unsicherheit mit einfachen Lösungen zu füllen." | Von Anke Petermann | Faktisch ist Deutschland ein Einwanderungsland. Viele, die kommen, flüchten vor Krieg, Terror, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit. Nur die wenigsten importieren Terror und Konflikte. Doch die Angst davor wird hierzulande immer größer. Die BKA-Herbsttagung entkräftet manche, aber nicht alle Befürchtungen. | "2016-11-17T06:10:00+01:00" | "2020-01-29T19:04:33.144000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/bka-herbsttagung-die-angst-vor-dem-importierten-terror-100.html | 395 |
Angst vor Gewalt und Übergriffen | Absolventen der Columbia University während der Commencement Ceremony in New (imago / Xinhua / Wang Lei)
Die alternative Rechte in den USA besteht unter anderem aus weißen Nationalisten und Rechtsradikalen. Sie bekämpft den Feminismus, Einwanderer, Globalisierung und Gleichheit – und ist seit Donald Trumps Präsidentschaftskandidatur auch wieder auf den Unigeländen zu finden.
"Einige von Ihnen kennen sicher den Begriff "Alternative Rechte". Die progressive Presse benutzt ihn zur Panikmache, er beschreibt aber den dynamischen Konservatismus von Leuten wie Donald Trump."
So Milo Yiannopolous kürzlich bei seinem Auftritt im Dartmouth College, einer Eliteuni in New Hampshire. Um seine Männlichkeit zu beweisen und das Publikum zu schockieren, trank der Star des rechtsradikalen Nachrichtenportals Breitbart ein grosses Glas Pseudo-Urin, machte Stimmung gegen die Demokraten und hetzte gegen Minderheiten und Feministinnen – auf Einladung der republikanischen Studierendengruppe von Dartmouth.
"Die Progressiven haben die Schwarzen immer wie Dreck behandelt. Mit dem Resultat, dass alle schwarzen Städte Höllenlöcher sind."
"Ermutigt durch einen Präsidenten, der ihnen viel durchgehen lässt"
Obwohl sein Twitter-Account im Juli geschlossen wurde, weil er auf ihm eine afroamerikanische Schauspielerin angegriffen hatte, reist der schwule Brite von einer US-Uni zur anderen, um Hass gegen den Liberalismus zu schüren. Aber er ist kein Einzelfall: Im Mai dieses Jahres forderten weiße Nationalisten auf dem Campus der Berkeley Universität in Kalifornien einen sogenannten "sicheren Platz" für die Alternative Rechte – und verhöhnten mit dieser Forderung die "sicheren Plätze", die "safe spaces", die einige Universitäten eingerichtet haben für Menschen, die aufgrund von Rasse oder ihrer sexuellen oder religiösen oder Geschlechtsidentität diskriminiert werden. Und das ist erst der Anfang, sagt Daryle Lamont Jenkins, ein Bürgerrechtsaktivist in Philadelphia.
"Wir werden mehr Rekrutierungsbemühungen der neuen faschistischen Rechtsradikalen auf den Unigeländen sehen. Und mehr Gruppen, die dadurch ermutigt werden, dass wir bald einen Präsidenten haben, der ihnen viel durchgehen lässt."
An der Spitze der rechtsradikalen Bewegung: Milo Yiannopolous Arbeitgeber Breitbart, dessen ehemaliger Leiter Steve Bannon demnächst als Trumps Chefstratege im Weißen Haus sitzt. Doch die Angst vor Gewalt, Belästigung und Einschüchterungsversuchen auf Amerikas Hochschulgeländen wächst jetzt schon, sagt Jessie Daniels, eine Soziologieprofessorin am Hunter College in New York.
"Bei uns gibt es das Title-IX-Gesetz, das Frauen und Menschen aller Geschlechter an den Unis vor sexueller Belästigung schützen soll. Es wird aber jetzt schon darüber geredet, dass die Trump-Regierung diese Schutzbestimmung aushebeln will. Das wäre sehr gefährlich für Studierende in ganz Amerika."
Angst, in die U-Bahn zu gehen
Die konkreten Folgen der Niederlage von Hillary Clinton sind mehr Rassismus, Sexismus und Ignoranz, schrieb Josh Drew, ein Ökologieprofessor an der Columbia Universität vorige Woche in einem Brief an seine Studierenden. Es sei schade, dass sie in einem Land leben würden, das die Werte der Studierenden mit Füßen tritt, meint Drew.
"Ich habe nach der Wahl viel mit Studierenden aus Randgruppen geredet. Sie haben jetzt Angst, in die U-Bahn zu steigen, weil es eine stillschweigende Billigung von Fanatismus und Gewalt gibt. Sie befürchten, dass Leute durch Trump dazu ermutigt werden, Hassverbrechen zu begehen."
Den für Februar geplanten Auftritt von Milo Yiannopolous an der Columbia Universität würde Drew dennoch nicht verbieten wollen. Die Universität würde das Recht der Studierenden auf freie Meinungsäußerung verletzen, wenn sie die Show nicht zulässt, meint er. Die Soziologieprofessorin Jessie Daniels ist da skeptischer.
"Es ist wichtig, dass Debatten an Unis stattfinden, aber müssen sie Gastgeber für jemanden sein, der andere Menschen dehumanisiert?" | Von Heike Wipperfürth | Mit dem Aufstieg von Donald Trump und erst recht nach seinem Wahlsieg treten auch an den zumeist als liberal geltenden US-Universitäten vermehrt rechte Gruppen auf. Einige ihrer Wortführer reisen durch das Land von Hochschule zu Hochschule und hetzten gegen Minderheiten. Demnächst auch in New York. | "2016-11-22T14:35:00+01:00" | "2020-01-29T19:05:21.989000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/rechtsradikale-an-amerikas-hochschulen-angst-vor-gewalt-und-100.html | 396 |
Wassermangel in Kapstadt | Menschen füllen Wasserkanister an einer Quelle. Die Abfüllmengen sind rationiert. (dpa-Bildfunk / Kristin Palitza )
Die Armenviertel der schwarzen Bevölkerung liegen hinter dem Tafelberg und sind durch mehrspurige Schnellstraßen voneinander getrennt. Die größten dieser Siedlungen heißen Gugulethu, Kayelithsa, Mitchell's Plain, Philippi und Nyanga. Hier draußen in den Townships – häufig auch informelle Siedlungen genannt – hier draußen leben fast zwei Millionen Einwohner, knapp die Hälfte der Bevölkerung von Kapstadt. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt zwischen 3.000 und 4.000 Rand – etwa 220 bis 270 Euro.
Obwohl in den vergangenen zehn Jahren in den Townships von Kapstadt sichtbar viele neue Häuser gebaut wurden und allmählich auch geordnete Strukturen entstehen – die Wellblech-Siedlungen bestimmen unverändert das Bild.
"Die nutzen hier das Wasser, als hätten wir kein Problem"
Lizo Ndzabela ist in den Townships aufgewachsen und mit den Verhältnissen vor Ort bestens vertraut. Außerdem weiß er genau, wo man anhalten und mit den Menschen reden kann oder wo man besser nur durchfährt. Wie zum Beispiel bei den Autowäschern in Philippi. Sie zapfen das kostenlose kommunale Wassernetz an und scheren sich – selbst zu den Armen zählend – um kein Verbot.
"Sie nutzen den öffentlichen Anschluss und da ist niemand, der das beklagt. Es ist kostenloses kommunales Wasser für die Informellen, aber die Leute profitieren davon; sie verdienen mit dem Autowaschen ihr Geld. Sonst gibt es keine Jobs. Aber die nutzen hier das Wasser als hätten wir kein Problem. Auf beiden Seiten der Straße hier gibt es fast schon einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Autowäschern. Hier kontrolliert niemand; hier müsste die Regierung einfach besser über das Wassersparen informieren. Das sind ja fast zehn Autowäscher hier – in einer einzelnen Straße!"
In den No-Go-Areas fehlt es an Informationen über die Wasserkrise. Viele der Bewohner haben weder Radio noch Fernsehgeräte noch einen Internetzugang und vor allem ganz andere Sorgen. Sie suchen Jobs und wollen überleben.
Das meiste Wasser verbrauchen Mittel- und Oberschicht
Aber nicht nur deshalb schreitet die Polizei selten gegen die Autowäscher ein.
"Wenn die Polizei kommt, werden die Leute sagen, hey, ihr verletzt unsere Rechte, und sie werden Ihnen vorwerfen: Ihr verhaltet euch wie die Polizei während der Apartheid, ihr seid genau wie die. Und wahrscheinlich wird es ihnen gelingen, die Bevölkerung gegen die Polizei aufzubringen und alle zusammen werden dann der Polizei damit drohen, sie zu steinigen."
Einen Rasenplatz gibt es an dieser Schule nach drei Jahren Dürre nicht mehr (picture alliance / dpa / Kristin Palitza)
Schwierige Verhältnisse. Aber allein den Bewohnern der Townships die Schuld daran zu geben, sei nicht richtig, sagt Priya Reddy, die Sprecherin der Stadtverwaltung:
"Erstens, unsere Statistiken zeigen, dass die informellen Townships gerade mal vier Prozent des Wassers verbrauchen. Die Mehrheit wird und wurde stets durch die Bewohner im Stadtzentrum verbraucht, durch die Mittel- und Oberschicht – mit ihren großen Gärten und Swimmingpools.
Zweitens: Die Einwohner in den Townships mussten sich früher dauernd für Wasser anstellen. Jetzt können sie endlich auf die kommunale Wasserversorgung zurückgreifen – klar gibt es dabei Missbrauch. Doch sie haben nicht die gleichen Bedürfnisse wie die gehobene Mittelklasse. Sie haben einfach keine Pools und keine vier Bäder und große Rasenflächen.
Halten wir also fest: Die knapp zwei Millionen Township-Bewohner machen die Hälfte der Bevölkerung von Kapstadt aus, verbrauchen aber nur vier Prozent des Wassers."
Der Trend geht zur autarken Wasserversorgung
Doch es tut sich etwas. Plötzlich wollen immer mehr "off the grid" sein – unabhängig von der öffentlichen Wasserzufuhr. Die eigenständige Wasserversorgung gilt vielen Unternehmen, Hotels und Privatleuten in Kapstadt als neues Nonplusultra. Einerseits wird in Entsalzungsanlagen investiert, andererseits boomt das Geschäft mit dem bislang unkontrollierten Erschließen von Grundwasser. Eine autarke Wasserversorgung. Jeder Liter ist wertvoll. | Von Klaus Betz | Nach drei Jahren Dürre sind Kapstadts Wasserreserven aufgebraucht und der Wasserverbrauch bis auf Weiteres rationiert. Nur hat sich das noch nicht überall herumgesprochen. Mancher arme Südafrikaner zapft gar das öffentliche Netz an, um sein Autowasch-Business zu betreiben. | "2018-06-02T13:30:00+02:00" | "2020-01-27T17:55:02.356000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/das-vertagte-problem-wassermangel-in-kapstadt-100.html | 397 |
Altmaier: Energiewende nicht unkoordiniert vorantreiben | Silvia Engels: Wenn es um die Energiewende geht, sind alle Bundesländer betroffen. Aber ein Land steht häufig im Mittelpunkt: Niedersachsen. Das gilt für die Atomendlagersuche ebenso wie für den Ausbau von Stromleitungen oder der Windkraft. Regierungschef McAllister von der CDU drängt auf rasche Fortschritte.Zugehört hat Peter Altmaier, neuer Bundesumweltminister. Guten Morgen!Peter Altmaier: Guten Morgen, Frau Engels.Engels: Herr Altmaier, Sie sind erst seit gestern im Amt. Aber wissen Sie schon, was Sie Herrn McAllister in seiner Ungeduld bieten können?Altmaier: Nun, ich kenne David McAllister seit vielen Jahren, wir sind auch befreundet, und in meiner bisherigen Tätigkeit habe ich überhaupt mit den allermeisten Ministerpräsidenten zusammenarbeiten müssen. Das ist ein Vorteil jetzt, denn er hat ja in vielem, was er sagt, recht. Wir müssen die Enden zusammenbringen. Die Energiewende darf nicht unkoordiniert vorangetrieben werden, sondern wir müssen sehen, dass der Netzausbau passt zum Ausbau der erneuerbaren Energien, dass Netze dort verlegt werden, wo sie auch gebraucht werden, dass die Finanzmittel dafür zur Verfügung stehen, wir müssen Reibungsverluste vermeiden. Das ist eine Herkules-Aufgabe, aber sie ist leistbar. Für mich ist das Entscheidende am Anfang, dass wir Gesprächsblockaden, dass wir Vorbehalte, dass wir Misstrauen überwinden. Deshalb werde ich in den nächsten Tagen mit allen Beteiligten, bei den Umweltverbänden, aber auch in der Wirtschaft, bei den Ministerpräsidenten, noch mal reden, heute ist es eine erste große Gelegenheit, und ich denke, dass dieser Energiegipfel heute schon ein Zeichen der Zuversicht und der Gemeinsamkeit sein wird.Engels: Dann greifen wir zwei Beispiele heraus. Sie haben viel mit den Ministerpräsidenten schon gesprochen. Sehen Sie denn Möglichkeiten, wie man das Problem bei Haftungsfragen rund um Offshore-Windparks und eben bei der Kostenübernahme bei den Anschlüssen dieser Offshore-Windparks an Land regeln könnte? Hilft da der Bund?Altmaier: Nun, wir haben schon vor einigen Wochen und Monaten erklärt, dass das Bundesumweltministerium und das Bundeswirtschaftsministerium für diese Frage bis Mitte Juni einen einigungsfähigen Vorschlag vorlegen wollen. Der Teufel steckt wie so oft im Detail, nämlich wie man diese Regelungen im Einzelnen ausgestaltet, wie die Kosten dafür aufgebracht werden. Sie wissen, die öffentlichen Kassen sind auch nicht wesentlich voller als andere Kassen, sie sind sogar sehr leer, wir wollen die Schuldenbremse einhalten. Das heißt, wir brauchen Lösungen, die vernünftig, vertretbar und von allen akzeptabel sind. Und mein Anliegen dabei ist, dass wir uns klar machen, dass die Lösung der Energiewende eben nicht nur die Addition ist von 16 oder 25 Einzelinteressen, sondern dass wir das Ganze im Auge behalten müssen. Zum Beispiel müssen wir sehen, dass der Strom, der in der Nordsee produziert wird, nur dann an den Mann und die Frau gebracht werden kann, wenn wir ihn bis nach Süddeutschland transportieren können. Das alles ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und dieser gesamtstaatlichen Aufgabe müssen wir uns stellen.Engels: Herr Altmaier, gehen wir mal auf die anderen hakenden Gebiete der Energiewende. Ihr Vorgänger Norbert Röttgen galt ja als Kenner der Materie und starker Verfechter in der Union der Abkehr von der Atomkraft. Trotzdem ist er in vielen Einzelfragen der Energiewende nicht so schnell vorangekommen, Beispiel Endlagersuche, Beispiel Änderung der Solarförderung, die an den Ländern gescheitert ist. Was können Sie hier besser als Norbert Röttgen?Altmaier: Zum einen muss man sehen, die Atomwende, das heißt der Ausstieg aus der Kernenergie, hat alle Beteiligten viel Kraft gekostet. Das hat dann auch die nachfolgenden Prozesse belastet. Und jetzt ist, glaube ich, die Zeit gekommen, dass wir uns alle klar machen, es gibt keinen Weg zurück, wir müssen nach vorne schauen.Der zweite Punkt ist, bei der Fotovoltaik sieht man, dass es zu großen Problemen führen kann, für die Netzstabilität, aber auch für die Stromkunden, wenn dieser Ausbau, der wichtig ist, unkontrolliert und in viel zu hohem Tempo vorangeht, sodass der Ausbau der Netze nicht Schritt hält. Deshalb wünsche ich mir, dass wir mit den Bundesländern bis zur Sommerpause zu einem Kompromiss kommen, der dann im Bundesrat auch eine Mehrheit findet. Das ist eine ganz, ganz große Herausforderung, weil es um sehr, sehr viel geht, auch um Arbeitsplätze in der Solarbranche, die allerdings – und auch das ist ein Punkt, den man ansprechen muss – durch Zuschussregelungen alleine nicht gerettet werden können.Das Zweite ist die Endlagersuche. Da hat Norbert Röttgen in den vergangenen Wochen wirklich gute Vorarbeit geleistet, auf dieser Vorarbeit will ich aufbauen und ich hoffe, dass das, was Anfang Mai nicht fertig geworden ist, dass wir das jetzt in den nächsten Wochen zügig zustande bringen. Wir brauchen auch hier einen parteiübergreifenden Konsens.Engels: Dann können Sie besser als Norbert Röttgen, dass Sie vielleicht Milliarden in die Hand nehmen, um die ostdeutschen Länder, die sich ja beklagen bei den ausfallenden Förderungen für ihre Solarbranche, zu kompensieren?Altmaier: Noch einmal: Wir haben die Situation, dass alles, was wir an Geld in die Hand nehmen, irgendwo auch aufgebracht werden muss. Und bei dem Erneuerbare-Energien-Gesetz ist es so, dass die Kosten dann umgelegt werden auf den Strompreis. Das wiederum ist eine Frage, die viele Verbraucherinnen und Verbraucher, auch solche, die sozial schwächer sind, besonders betrifft. Es betrifft aber auch die Wirtschaft in Deutschland und deshalb müssen wir uns über einen vernünftigen Mittelweg verständigen. Ich glaube, dass alle eingesehen haben, auch die ostdeutschen Bundesländer, dass es nicht in ihrem Interesse ist, wenn es zu einem völlig ungeordneten, ungeregelten Ausbau dieser Energieform kommt, weil sie eben sehr teuer ist, und deshalb werden wir mit den ostdeutschen Ländern darüber reden. Im Übrigen, ich habe als Geschäftsführer gelernt: Wenn man sich Gedanken macht über Kompromisse, dann sollte man sie vorher nicht auf dem offenen Markt erörtern, sondern mit den Beteiligten. Dann sind die Erfolgschancen größer.Engels: Herr Altmaier, Ihre Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und eben Kompromisse zu finden, wird schon vorab in der CSU und auch in der FDP gelobt. Das hält Ministerpräsident Seehofer aber nicht davon ab, schon bayerische Sonderwege anzukündigen, nämlich zur Not einen eigentlichen staatlichen Energieversorger in Bayern, wenn die Energiewende nicht vorangeht. Was sagen Sie?Altmaier: Nun, es ist ja ganz selbstverständlich, dass Bundesländer versuchen, ihre nationalen und ihre regionalen und ihre lokalen Interessen zu definieren. Das ist in Niedersachsen so, das ist in Bayern so, das ist in Thüringen oder in Sachsen-Anhalt so. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Wir müssen nur am Ende zu einer Lösung kommen, die Deutschland insgesamt voranbringt. Ich darf an eines erinnern: Das Gelingen der Energiewende ist nicht nur eine politische Herausforderung; es ist für die Zukunft dieses Wirtschaftsstandortes, für das Ansehen der Marke "Made in Germany" von ganz zentraler Bedeutung. Viele Menschen trauen uns das zu und es ist unsere Aufgabe, dass wir jetzt auch den Nachweis bringen, dass wir das können.Engels: Herr Altmaier, der Wechsel, der Sie ins Amt brachte, ist ja reichlich ungewöhnlich, weil ihm kein Rücktritt eines Bundesministers vorausging, sondern eine ausdrückliche Entlassung. Das sorgte auch für Unruhe in der NRW-CDU und auch in der Unions-Fraktion des Bundestages. Denken Sie aber, die Atmosphäre hat sich mittlerweile entspannt?Altmaier: Ein Ministerwechsel auch unter solchen Umständen ist immer mit Schwierigkeiten und Problemen verbunden. Norbert Röttgen hat ja auch in wichtigen Bereichen gute Arbeit geleistet. In anderen Bereichen ist es nicht vorangegangen, aufgrund von Umständen, die wir erörtert haben. Und deshalb: Ich setze darauf, dass wir schon sehr bald diese Debatte beenden können, dass wir nach vorne schauen, denn jedermann weiß, wir haben nicht unbegrenzt viel Zeit bei der Energiewende. Es gibt übrigens auch viele andere Umweltthemen, die durch die vielen Debatten über Euro- und Bankenkrise etwas in den Hintergrund geraten sind. Und in dem Maße, in dem es uns gelingt, darüber zu sprechen, werden wir nach vorne schauen. Im Übrigen: Ich bin mit Norbert Röttgen seit vielen, vielen Jahren eng befreundet und wir haben gemeinsam einiges im Bundestag angestoßen. Wir hatten gestern eine sehr würdige und angemessene Amtsübergabe im Bundesumweltministerium und ich glaube, dass auch das vielleicht ein kleiner Beitrag dazu ist, die Wunden zu heilen.Engels: Im Bundespräsidialamt wirkte es allerdings so bei der Amtsübergabe, als sei das Klima zwischen Kanzlerin und Ex-Minister ausgesprochen frostig. Haben Sie gefroren?Altmaier: Es waren gestern in Berlin über 27 Grad, es schien die Sonne, auch über dem Bundespräsidialamt. Ich glaube, dass es wenig Sinn macht, wenn man an einem solchen Tag irgendwelche Gefühle vielleicht versteckt, die man hat, oder nicht zeigt, sondern es ist so, dass wir mit diesem selbstverständlichen Wechsel in der Demokratie, wie es Joachim Gauck, der Bundespräsident, gesagt hat, versuchen müssen, würdig umzugehen, und da ist es vielleicht auch mal angemessen, wenn man sich nicht verstellt. Das ist vielleicht auch ein Beitrag dazu, dass die Dinge sich dann später entspannen zwischen allen Beteiligten.Engels: Peter Altmaier, neuer Umweltminister in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.Altmaier: Ich danke Ihnen.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr bei dradio.de:Norbert Röttgen wurde entlassen, Peter Altmaier als Umweltminister ernannt | Peter Altmaier im Gespräch mit Silvia Engels | Das Gelingen der Energiewende sei nicht nur eine politische Herausforderung; sondern auch für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland von zentraler Bedeutung, sagt Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU). Für die Endlagersuche will er einen schnellen parteiübergreifenden Konsens. | "2012-05-23T07:15:00+02:00" | "2020-02-02T14:10:48.089000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/altmaier-energiewende-nicht-unkoordiniert-vorantreiben-100.html | 398 |
"Größte Vorbehalte gegen Moscovici" | Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament (dpa / Michael Kappeler)
"Natürlich haben wir als CDU/CSU größte Vorbehalte gegen einen französischen Kandidaten, der in seinem früheren Leben für Finanzfragen zuständig war, dafür, die Schulden eines Landes in den Griff zu bekommen und der das nicht geschafft hat. Und jetzt soll er andere Staaten beaufsichtigen, ob sie Stabilitätspolitik machen." Deswegen müsse Moscovici erkennen lassen, dass er sich als europäischer Politiker verstehe und hinter der Linie der EU-Kommission stehe.
Auch bei anderen Kommissaren gebe es viele Fragen der Parlamentarier, was die politische Vergangenheit und die Pläne angehe. Reul betonte, in diesem Jahr sei die Befragung schwieriger, weil die Kandidaten sehr breite Zuständigkeiten hätten und sich deshalb oft mehreren Ausschüssen stellen müssten. Das EU-Parlament muss den von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ernannten Kandidaten zustimmen, damit diese wie geplant am 1. November ihr Amt antreten können.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Kaum waren die Europawahlen gelaufen und die Ergebnisse verkündet, da begann das Ringen um die Besetzung des mächtigen Amtes des EU-Kommissionspräsidenten. Das Selbstbewusstsein der Europaabgeordneten in Brüssel hat es gestärkt, dass das Parlament zum ersten Mal seinen eigenen Kandidaten zum Präsidenten gewählt hat und nicht wie zuvor einseitig die Staats- und Regierungschefs den Posten besetzten. Ab heute müssen die Abgeordneten noch weitere wichtige Entscheidungen treffen. Es beginnen die sogenannten Hearings, also die Anhörungen der designierten EU-Kommissare. Drei Stunden müssen die sich zunächst den Fachausschüssen stellen. Schon im Vorfeld sind einige von ihnen umstritten.Am Telefon ist jetzt Herbert Reul, Europaabgeordneter der christdemokratischen EVP-Fraktion und Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Guten Morgen!
Herbert Reul: Guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Herr Reul, welche Fragen müssen heute gestellt werden?
Reul: Na ja, da werden Fragen zu den jeweiligen Einzelthemen gestellt, zu den Inhalten. Da werden möglicherweise auch Fragen zur politischen Vergangenheit eines Kandidaten gestellt. Es werden Fragen gestellt zu den Perspektiven, den politischen Perspektiven. Also das wird sehr unterschiedlich sein und es wird auch diesmal nicht ganz einfach, weil die Kommissare breite Zuständigkeiten haben, neue Zuständigkeiten haben, so dass immer viele Ausschüsse beteiligt sind.
Große Vorbehalte gegen den französischen Kandidaten
Kaess: Der Chef der EVP-Fraktion, Manfred Weber, der hat ja schon gesagt, es gebe für keinen einen Freibrief. Das Parlament werde von seinem Recht der Anhörung seriös Gebrauch machen. Ist das schon klar, dass nicht alle Kandidaten akzeptiert werden?
Reul: Nein. Es gibt unterschiedliche Kritiken. Natürlich haben wir als CDU/CSU größte Vorbehalte gegen einen französischen Kandidaten, der in seinem früheren Leben für Finanzfragen zuständig war, dafür, die Schulden eines Landes in den Griff zu bekommen, und der das nicht geschafft hat im Beispiel Frankreich, und jetzt soll er andere Staaten beaufsichtigen, ob sie Stabilitätspolitik machen.
Kaess: Heißt ganz klar, Pierre Moscovici sollte nicht EU-Kommissar werden?
Reul: Nein. Das heißt, dass wir viele Fragen haben an der Stelle, viele kritischen Fragen haben.
Kaess: Welche denn?
Reul: Ja, was er politisch will. Mich interessiert zum einen natürlich, oder uns interessiert zum einen, wie die vergangene eigene Politik war. Es interessiert aber viel mehr die Frage, versteht er sich als Anwalt der französischen Politik und versucht, Stabilitätspolitik infrage zu stellen, oder versteht er sich als europäischer Politiker, der die Aufgabe hat, die Regeln, die wir hier alle gemeinsam uns gesetzt haben, zum Beispiel sparsame Haushaltsführung, durchzusetzen.
Kaess: Was müsste er ganz konkret sagen, um Sie zu überzeugen?
Reul: Nun ja, das kann ich jetzt nicht im Wort festlegen. Aber er muss erkennen lassen, dass er in dieser Frage die beschlossene politische Linie der Europäischen Union, also aller Staaten und des Parlaments und der Kommission einer sparsamen Haushaltsführung nicht in Frage stellt. Das muss man schon merken können.
"Es wird sehr unterschiedliche Einschätzungen geben"
Kaess: Es gibt ja mehrere Kandidaten, die genau in dieser Hinsicht umstritten sind. Ist das vielleicht eine Taktik von Jean-Claude Juncker, zu sagen, um beim Beispiel Frankreichs zu bleiben, Frankreich lässt sich vielleicht mehr sagen von einem eigenen Landsmann?
Reul: Ja, das habe ich auch gehört, das sei eine ganz besondere Theorie bei diesem Modell. Man würde auch den Briten nehmen, damit der für Finanzmarkt zuständig ist, obwohl wir genau wissen, dass das die problematischste Stelle im Verhältnis ist. Oder wir nehmen einen rumänischen Kandidaten, der dann für Regionalpolitik, also den großen Ausgabenbrocken, zuständig ist, obwohl er relativ viel selber davon mit seinem Land profitiert. Ich halte die Logik noch nicht für bestechend. Ich glaube, das ist auch nicht der wirkliche Grund, sondern man wird gucken müssen, ob jeder Kommissaranwärter, Frau und Mann, die Aufgabe, die da gestellt ist, auch wahrnehmen kann. Es ist nicht ganz einfach in einer kurzen Befragung. Die Leute haben ja auch alle eine Vorgeschichte. Und dann wird es sehr unterschiedliche Einschätzungen geben und auch politische.
Das ist auch relativ neu. So stark hat es das, glaube ich, nie gegeben. Es sind ein paar, schauen Sie sich den ungarischen Kandidaten an. Der ist einfach deshalb im Gerede, weil er ein Ungar ist, nicht weil er an der Stelle vielleicht falsch ist. Die Ungarn haben eigentlich ein ganz minimales Dossier bekommen. Die sind eigentlich schon bestraft durch das Dossier.
Kaess: Da möchte ich gerne noch ein bisschen mehr in die Tiefe gehen und noch mal den Chef der EVP-Fraktion, Manfred Weber, zitieren, der gesagt hat, die Kommissare müssten in der Lage sein, europäische Werte und Interessen zu vertreten, und der Ungar Tibor Navracsics, den Sie gerade ansprechen, der auch von der EVP-Fraktion ist, muss man dazu sagen, der ist eigentlich bekannt dafür, Bürgerrechte zu beschneiden und die Pressefreiheit in Ungarn. Das soll kompatibel sein mit europäischen Werten?
Reul: Nein. Wenn das der Fall wäre, dann gibt es ein Problem. Aber da gibt es unterschiedliche Bewertungen zu. Das ist ja das Problem bei Ungarn. Bei Ungarn fällt es vielen, finde ich, extrem schwer nachzuvollziehen, wer was warum wieso in der Politik so gemacht hat. Da sind Zweifel unterwegs, genauso wie bei der slowenischen Kandidatin Zweifel unterwegs sind, ob sie im Verfahren sich richtig nach unseren demokratischen Gepflogenheiten Kandidatin geworden ist. Alle erzählen und berichten, die hat sich selber vorgeschlagen. Das klingt so nach dem Motto, sie hat nur einer vorgeschlagen. Wenn man sich die Lage genau anguckt, haben die drei Kandidaten vorgeschlagen damals, als sie noch an der Regierung war, nämlich aus jeder Partei, die in der Regierung war, einen, weil sie sich nicht einigen konnten, und dann hat Jean-Claude Juncker sie ausgewählt von dem Dreiervorschlag. Hat sie sich jetzt selber vorgeschlagen, oder hat Juncker die ausgesucht?
Es ist manchmal ganz schwer zu beurteilen, weil man ja die Vorgeschichte auch immer nur über Berichterstattung bekommt. Insofern war die Zeit jetzt, wo viele von diesen Damen und Herren sich schon bei Kolleginnen und Kollegen vorgestellt haben, und auch die Anhörung selber natürlich eine wichtige Chance, das in der Realität abzuprüfen.
"Weg von diesem Klein-Klein der Einzelzuständigkeiten"
Kaess: Und ist das eventuell etwas leichter nachzuvollziehen bei dem Spanier Miguel Arias Canete, auch von der EVP-Fraktion, von dem gesagt wird, er ist ein Erdöl-Lobbyist und er hat sich abfällig über Frauen geäußert? Da gibt es ja auch Tatsachen und Zitate dazu. Wie soll der denn überhaupt noch überzeugen?
Reul: Ich glaube, dass das mit dem Zitat relativ einfach zu lösen ist, wenn er klug ist und wenn er da eine klare Aussage zu macht und sich distanziert. Gut, das hängt von ihm selber ab. Weiß ich nicht, ich bin kein Prophet. Und die Frage des beruflichen Hintergrundes, das ist eine Frage. Ist das getrennt, hat er sich von diesen Aktien getrennt, oder hat er sie noch? Das ist die eine Frage. Die andere Frage ist: Ist das ein Maßstab für die politische Bewertung? Ich glaube im Übrigen, dass bei Canete weniger das die Frage sein wird, sondern die wahre Frage ist, dass ein Teil des Parlamentes, ein politischer Teil des Parlamentes nicht einverstanden damit ist, dass Energie- und Klimapolitik zusammengefasst werden, weil denen das inhaltlich nicht passt. Die wollten einen eigenen Klimakommissar. Aber da kann der Mann jetzt nicht für, sondern ich finde es übrigens auch eine kluge Lösung, das zusammenzufassen, weil wir wollten ja mit dieser Kommission - das hat Juncker ja angefangen - eigentlich weg von diesem Klein-Klein der Einzelzuständigkeiten und mehr Zusammenhänge herstellen. Klima- und Energiepolitik hängt halt zusammen. Es ist wahrscheinlich klug, dass das einer in einer Hand hat, ist allerdings auch eine Riesenanforderung.
Kaess: Das ist aber auch genau der Plan, den Juncker verfolgt. Aber wo werden denn die Bürger das weniger an Bürokratie merken?
Reul: Gute Frage. Das kann ich nicht beantworten. Da bin ich im Moment auch noch im Zustand des Hoffens. Zumindest ist die Ausgangslage einer Kommission, die nicht mehr 27, sagen wir, Einzeldossier-Kommissare hat, sondern die eine neue Struktur hat, die stärker auf Koordinierung und auf Querschnitt legt ... Die Chance ist dafür da, dass es das Weniger gibt. Allerdings würde ich mir das dann auch im Detail wünschen. Ich hoffe, dass dann auch ein Kommissar, der zuständig ist wie der Niederländer für Entbürokratisierung, nicht nachher nur sagt, wir haben drei Regeln zu viel, sondern bevor man die eine oder andere Regulierung inkraft setzt sagt, lasst es.
Kaess: Herr Reul, wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit, aber ich möchte zum Schluss noch auf die deutsche Personalie Günther Oettinger schauen, der bisher zuständig für Energie war und jetzt nur noch zuständig für Digitales. Ist das ein Affront gegen die Bundeskanzlerin und wird Deutschland hier runterplatziert in der Kommission?
Reul: Wer so etwas überall erzählt, ist Unsinn.
Kaess: Warum?
Reul: Erstens: Es kann keiner das alte Dossier behalten. Das ist Brüsseler Tradition und war die Voraussetzung. Also Energie ging nicht. Zweitens: Vizekommissar hat er nicht gewollt und, finde ich, auch aus gutem Grund. Er war der Auffassung, er möchte lieber ein einzelnes Dossier haben. Dann ging es um die Frage, ein wirtschaftsnahes Dossier zu bekommen. Wenn digitale Zukunft die zentrale Frage im Wirtschaftskonzept von Juncker ist und möglicherweise auch in der Frage, ob Europa und wie Europa sich in die nächste Stufe von Industrie und Handel und Wandel weiterentwickelt, dann hat er ein zentrales Argument.
Kaess: ..., sagt Herbert Reul, Europaabgeordneter der christdemokratischen EVP-Fraktion und Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Danke für das Interview heute Morgen.
Reul: Danke auch - guten Morgen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Herbert Reul im Gespräch mit Christiane Kaess | Die künftigen EU-Kommissare müssen sich ab heute dem EU-Parlament stellen. Es gebe unterschiedliche Kritik an den Kandidaten, sagte der Chef der CDU/CSU-Gruppe, Herbert Reul, im DLF. Besonders kritisch sieht er den Franzosen Moscovici, der nun Währungskommissar werden soll. | "2014-09-29T06:50:00+02:00" | "2020-01-31T14:05:54.125000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/anhoerung-der-neuen-eu-kommission-groesste-vorbehalte-gegen-100.html | 399 |
Klimawandel lässt die Erde taumeln | Der Klimawandel ist neuen Untersuchungen zufolge für die Bewegungsrichtung der Erdachse zuständig (NASA/JPL-Caltech)
Satelliten wie "Grace", die die Anziehungskraft der Erde vermessen, brachten es an den Tag: Unser Planet ist eine Kartoffel. Daran jedenfalls erinnert das Bild der Schwerefeld-Anomalien, denn die Massen in der Erde sind ungleichmäßig verteilt. Diese inneren Unwuchten zerren an der Rotationsachse, ebenso Prozesse an der Oberfläche wie Masseverlagerungen in den Ozeanen oder der Atmosphäre. Die Erde taumelt deshalb, und die präzisen Messungen dieser sogenannten Polschwankungen reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Forscher der NASA haben nun diese lange Messreihe mit Daten der beiden "Grace"-Satelliten kombiniert:
"Wenn wir uns die 115 Jahre weit zurückreichenden Aufzeichnungen anschauen, sehen wir, dass sich der geographische Nordpol während des gesamten 20. Jahrhunderts pro Jahr um ein paar Zentimeter in Richtung der kanadischen Hudson-Bay bewegt hat." Das erklärt Surendra Adhikari vom NASA Jet Propulsion Laboratory. Und der geographische Südpol, er läuft genau in die entgegengesetzte Richtung. Der Grund für diese Wanderungen sind Masseverlagerungen an der Erdoberfläche: Mit dem Ende der jüngsten Eiszeit waren die kontinentalen Eisschilde abgetaut und ins Meer geflossen, und von der Last befreit heben sich seitdem die Landmassen.
"Ungefähr seit der Jahrtausendwende hat sich diese generelle Drift des geographischen Nordpols jedoch verlagert. Sie hat nach Osten gedreht, läuft mit etwa zehn Zentimetern pro Jahr in Richtung Großbritannien. Wir beobachten also eine sehr große Verlagerung der Drift."
Die Pole reagieren auf Masseverlagerungen
Hinter dieser Verlagerung steckt der menschengemachte Klimawandel, glaubt Surendra Adhikari - also das bereits von anderen Wissenschaftlern als Ursache vermutete Abschmelzen der Gletscher und Inlandeismassen in Grönland und der Westantarktis. So hat sich in Grönland seit der Jahrtausendwende das Abschmelzen des Eispanzers beschleunigt. Solche Masseverlagerungen überprägen seitdem die postglazialen Ausgleichsbewegungen.
"Außerdem konnten wir erstmals einen plausiblen physikalischen Mechanismus vorschlagen, warum die Polschwankungen auf einer Zeitskala von acht bis zwölf Jahren oszillieren. Wenn man ihre Bewegung nachvollzieht, verläuft sie nicht gradlinig in die Hauptrichtung, sondern sie schlägt dabei aus wie ein Pendel, mal in die eine und mal in die andere Richtung. Unsere Erklärung: Diese Veränderungen haben anscheinend etwas mit der globalen Verteilung der Wassermassen an Land zu tun."
Diese Oszillation scheint unter anderem das Klimaphänomen 'El Niño' widerzuspiegeln, das Dürren in einem Teil der Welt auslöst und Überschwemmungen in einem anderen:
"Werden Massen verlagert, reagieren die geographischen Pole - egal, ob diese Verlagerungen im Inneren der Erde ablaufen oder an der Oberfläche. Wenn das Grönlandeis schmilzt, nehmen wir Masse von Grönland weg und verteilen sie im Meer. Wenn der Mensch wegen Dürren immer mehr Grundwasser pumpt, verlagert er Massen. Und immer reagieren die Pole."
Für endgültige Antworten noch zu früh
Die genaue Analyse der Polbewegung biete damit ein neues Instrument, um die Entwicklung des Klimawandels im vergangenen Jahrhundert zu verfolgen - etwa, wie sich die Gletscherschmelze verändert habe. Und Jürgen Müller von der Universität Hannover beurteilt die Arbeit seiner Kollegen gegenüber dem Deutschlandfunk mit diesen Worten:
"Ich finde sie sehr interessant, auch deswegen, weil sie verschiedene Beobachtungstechniken und Modellierungen zusammenbringt. Die Arbeit ist bedeutend, weil sie jetzt klare Aussagen macht, wie hoch der Beitrag der Hydrologie an der Polbewegung ist und wie hoch der des Eises."
Der neuen Analyse zufolge ist das Eis für die große Bewegungsrichtung zuständig und die Hydrologie für die kleinen Schwankungen hin und her. Allerdings, so betont Jürgen Müller, sei der Zeitraum von 15 Jahren, für die mit den "Grace"-Daten präzise Schwerefeldmessung zur Verfügung stünden, noch zu kurz für endgültige Antworten. | Von Dagmar Röhrlich | Die Erde dreht sich um ihre eigene Achse wie ein gigantischer Kreisel. Allerdings sind weder die magnetischen, noch die geographischen Pol konstant: Die Erde taumelt. Seit 1899 wird das gemessen, seit einigen Jahren auch durch Satelliten. Und es sieht so aus, als ob die Erde gerade die Richtung ihrer Taumelbewegung verändert hat. Ursache könnte der Klimawandel sein. | "2016-04-11T16:35:00+02:00" | "2020-01-29T18:23:23.816000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/polschwankungen-klimawandel-laesst-die-erde-taumeln-100.html | 400 |
Die vielen Leben des Jack Warner | Der ehemalige FIFA-Vize-Präsident Jack Warner (picture-alliance / dpa / Alva Viarruel)
Am vergangenen Mittwoch (16.09.2015) verzichtete der neue Generalstaatsanwalt in Trinidad darauf, dem zuständigen Gericht in der Hauptstadt Port of Spain fristgerecht die Papiere zuzustellen, mit denen das von den USA beantragte Auslieferungsverfahren gegen den ehemaligen Fußball-Funktionär Jack Warner angeschoben würde.
Trotz massiver Korruptionsvorwürfe auf freiem Fuß
Die Folgen? Theoretisch ist es möglich, dass nun der ehemalige FIFA-Vizepräsident am Montag seinen Reisepass zurückbekommt und die 2,5 Millionen Dollar hinterlegte Kaution, dank der er sich auf freiem Fuß befindet. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Inselstaat trotz hinreichend dokumentierter Korruptionsvorwürfe eine Farce inszeniert, um Warner zu schützen, der wie kaum ein anderer ungeschoren das von der FIFA alimentierte System aus Machtpoker und Selbstbereicherung ausnutzen durfte.
Sicher: Es gibt eine Erklärung: Bei den Parlamentswahlen neulich war die Oppositionspartei an die Macht gekommen. Und da der alte Generalstaatsanwalt einfach die Akten liegen ließ, muss nun sein Nachfolger ran. Aber der sagte: Er habe bisher einfach zu wenig Zeit gehabt, um die Sachlage gründlich zu begutachten. Er kann das Gericht um eine Fristverlängerung bitten. Aber ob er das tun wird, sagte er nicht. Und ob die gewährt würde, vermag niemand abzuschätzen. Auch nicht Camini Marajh, die leitende investigative Reporterin der Zeitung "Trinidad Express", sicher eine der besten Kennerinnen der Verhältnisse.
"Man kann das Verhalten von Politikern nur schwer vorhersagen. Sie berücksichtigen manchmal andere Dinge als die offensichtlichen, die den Laien beschäftigen."
Nur eines lässt sich schon jetzt sagen: Wer die Mitschuld an der Misere hat. Die FIFA, deren Spitzen Warner nicht nur mit Fernsehrechten beschenkten und dafür sorgten, dass die Kasse der südafrikanischen WM-Ausrichter geplündert werden konnte - sie schickte Millionen aus eigenen Mitteln nach Trinidad, damit Warner sich dort ein Konferenzzentrum mit Hotel und Sportanlagen bauen konnte.
Und die FIFA schaut untätig zu
Ein Untersuchungsbericht des Kontinentalverbandes CONCACAF ergab 2013, dass der ehemalige Präsident der Organisation dabei ein falsches Spiel gespielt hatte. Warner wies zum Schein den Gebäudekomplex als Vermögenswert in den Büchern der Organisation aus. Tatsächlich ließ er die Anlage auf seinem eigenen Grundstück bauen. Ein Fall von Betrug?
Offensichtlich nicht für die FIFA. Denn die hat bislang nichts unternommen, um - wenn schon nicht ihre 10 Millionen Dollar zurückzubekommen - so sich wenigstens die Immobilie zu sichern, die den pompösen Namen Joao Havelange Centre of Excellence trägt. Camini Marajh bestätigte die Untätigkeit der FIFA gegenüber dem Deutschlandfunk:
"Man sollte die FIFA zur Rechenschaft ziehen. Sie besitzen den Untersuchungsbericht der CONCACAF, der die Rolle von Jack Warner bei den Betrugsfällen belegt. Der aufzeigt, wie er Vermögenswerte gestohlen hat wie beim Centre of Excellence. Aber sie haben mit ihren eigenen Erkenntnissen nichts angefangen."
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine derartige Untätigkeit die Schweizer Staatsanwälte interessieren könnte, die schon wegen anderer Vorgänge ermitteln. Besonders wenn sie herausfinden werden, wer eigentlich untätig war und die Millionen abschrieb und warum. Nach Warners Rücktritt von seinen Funktionärsämtern 2011 führte FIFA-Präsident Sepp Blatter Regie, um ausgerechnet einen gewissen Jeffrey Webb zum CONCACAF-Präsidenten zu machen.
Schlüsselfigur Jeffery Webb
Was sprach damals überhaupt für Webb? Für den Mann, der im April mit anderen Funktionären in Zürich verhaftet und vor kurzem an die USA ausgeliefert wurde? Seit wenigen Tagen wissen wir etwas mehr. Zum Beispiel, dass Webb, ein Banker von den Cayman Islands, zuvor als Helfershelfer im Schattenreich von Warner arbeitete. Und zwar vermutlich nicht nur beim lukrativen Weiterverkauf von Fernsehrechten. Er wäre als Direktor einer Warner gehörenden Briefkastenfirma namens J&D International Limited auch Schleusenwärter gewesen, um eine üppige Schmiergeldzahlung aus Katar an Warner weiterzuleiten. Das klappte nur deshalb nicht, wie die Zeitung Cayman Compass neulich berichtete, weil die Empfängerbank auf den Cayman Islands den Betrag von 1,2 Millionen Dollar als dubios einstufte und in den Nahen Osten zurückschickte.
Das Geld - Absender Mohammed Bin-Hammam - kam übrigens trotzdem an. Verspätet und auf Umwegen. Was wusste Blatter über Webb? Was weiß Webb über Blatter? Sicher einiges. Und genau das könnte nun zum Faustpfand werden, falls er die Absicht hat, mit der US-amerikanischen Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten. Und das ist mehr als wahrscheinlich angesichts der Faktenlage. Webb hat sicher längst begriffen: Nur wer auspackt und andere in diesem mafiaartigen Netzwerk belastet, hat Aussichten auf Milde. | Von Jürgen Kalwa | Der ehemalige FIFA-Vizepräsident Jack Warner wird wohl vorerst nicht an die USA ausgeliefert. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Ex-Fußballfunktionär aus Trinidad ungeschoren davon kommt - trotz gut dokumentierter Korruptionsvorwürfe. | "2015-09-19T19:10:00+02:00" | "2020-01-30T13:00:32.312000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/fifa-skandal-die-vielen-leben-des-jack-warner-100.html | 401 |
Radiolexikon Gesundheit: Aderlass | Die mittelalterliche Heilkundlerin Hildegard von Bingen empfahl sie zur Entgiftung und gab detaillierte Anweisungen zu ihrer Durchführung. Den in seinen späten Jahren an einer Kehlkopfentzündung leidenden George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, könnte ihre übermäßige Anwendung dagegen ins Grab gebracht haben. Der Name der blutigen Therapie: Phlebotomie oder Aderlass."Wenn man in der Medizingeschichte zurückblickt, dann spielt der Aderlass in Europa, im Nahen Osten, in der Tradition der Medizin, die im Letzten sich auf Hippokrates und Galen zurückführen lässt, eine ganz zentrale Rolle."Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Köln. Die Technik des Aderlasses ist seit der Antike über all die Jahrhunderte gleich geblieben."Der hat eine Ader gestaut, am Arm oder am Bein, und hat sie angeritzt und hat dann eben in eine Schale das Blut reinfließen oder –tropfen lassen."Durchschnittlich einen halben Liter zapften die Ärzte ihren Patienten ab, schätzt der Medizinhistoriker. Dabei arbeiteten sie durchaus hygienisch; flammten ihr Messerchen – die Lanzette – ab, bevor sie eine Vene damit öffneten. Als Chirurgen im klassischen Sinn verstanden sich die frühen Mediziner nicht, heute würde man sie eher als Internisten bezeichnen: Der Aderlass war der einzige blutige Eingriff, den sie vornahmen. Der Glaube an die Wirksamkeit der Therapie beruhte auf der Vier-Säfte-Lehre."Das ist eine Idee, die schon die alten Griechen entwickelt hatten, und die Griechen haben das wahrscheinlich aus Indien übernommen. Der gesunde Mensch wird definiert als ein Mensch, bei dem die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle harmonisch, gleichmäßig verteilt sind. Und wenn nun einer dieser Körpersäfte sich vermehrt oder vermindert in Relation zu den anderen, wird das Individuum krank."Die Ärzte diagnostizierten auf der Grundlage dieser Vorstellung oft einen Überschuss an Blut."Blut wurde assoziiert mit Hitze, mit einer gewissen Feuchtigkeit, und dieser Überschuss an feuchter Hitze definierte bestimmte Krankheiten."Zum Beispiel die Pest. Die Krankheit wurde nach damaliger Vorstellung durch Miasmen übertragen: infektiösen, schwülen Dunst. Die Menschen atmeten diesen Dunst ein, und der setzte im Körper einen Fäulnisprozess in Gang. Also schlussfolgerten die Ärzte bei einem solchen Patienten:"Wir reduzieren in ihm den Anteil seiner Körpersäfte, der für Hitze und Feuchtigkeit verantwortlich ist: Wir reduzieren das Blut."Jahrhunderte lang wurden Menschen bei Epidemien, Aussatz und inneren Entzündungen zur Ader gelassen. Allerdings nur ein Bruchteil der Bevölkerung: In Europa hatten bis zum 18., 19. Jahrhundert lediglich drei bis fünf Prozent der Menschen in ihrer Lebenszeit Kontakt mit einem Arzt. Zur Standardbehandlung wurde der Aderlass auch mangels Alternativen."Man war bei vielen Therapien hilflos, und wenn man ganz hilflos war, dann schritt man auch zum Aderlass. Das ist natürlich kein Ruhmesblatt für die alten Ärzte. Aber die heute so genannte innere Medizin war letztlich vielen Phänomenen von Krankheiten doch ein Buch mit sieben Siegeln."Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es zunehmend Kritik am Aderlass. Gelehrte wie Rudolf Virchow, Emil Du Bois-Reymond und Louis Pasteur etablierten eine naturwissenschaftliche, evidenzbasierte Denkweise."Diese Leute haben auf alte Heilmethoden wie die Vier-Säfte-Theorie eigentlich nur herabgeschaut. Die haben darüber gelacht und sie verspottet und dazu zählte eben auch der Aderlass. Das passte einfach nicht mehr in die neue Pathologie eines Virchow, in die Zellularpathologie, die dann ja auch zunehmend nahtlos in die heutige Molekularbiologie führte."Und ein kritischer Blick auf den Aderlass und das dahinterstehende Theoriegebäude war durchaus angebracht."Wenn jemand sterbenskrank war und der Arzt kam und hat noch einen Aderlass gemacht hat, dann dürfte das den Prozess des Sterbens eher beschleunigt haben als verlangsamt haben."Allerdings stellte man vor einigen Jahrzehnten fest: Ein hoher Blutverlust, beispielsweise nach einem Unfall, führt beim Menschen dazu, dass die Zahl an weißen Blutkörperchen und Monocyten in seinem Körper stark zunimmt. Dadurch wird das Immunsystem des Organismus gestärkt."So ganz sinnlos wie das lange betrachtet und belächelt wurde, war der Aderlass nicht. Er konnte auch dosiert durchgeführt tatsächlich eine Roborierung des Körpers hervorrufen."Dazu kommt nach Ansicht des Medizinhistorikers ein psychologischer Effekt."Ein Vorteil natürlich war sicher auch das Urvertrauen, das Patienten und Ärzte in diese Technik hatten. Beide waren absolut davon überzeugt – es war ja auch die Tradition von Jahrtausenden –, dass das was bringen musste und zwar was Positives bringen musste."Dass der Aderlass in vielen Fällen hilfreich war, davon ist auch Dr. Thomas Rampp überzeugt, Leiter des Instituts für Naturheilkunde und Traditionelle Chinesische und Indische Medizin an den Kliniken Essen-Mitte."Sonst hätte er sich auch nicht über eine so lange Zeit als Heilmittel gehalten."Ohne Frage war die Therapie bei sehr erschöpften Patienten, bei Blutarmut oder Gerinnungsstörungen nutzlos oder sogar gefährlich. Bei Bluthochdruck, Ekzemen oder Gicht habe der Aderlass den Menschen dagegen vermutlich geholfen, so Rampp. In den 1980er Jahren wurden erstmals wieder klinische Daten erhoben. Die zeigten, dass Aderlass tatsächlich positiv bei hohem Blutdruck wirkt."Und zwar in einer Effektivität, die in etwa zwei blutdrucksenkenden Medikamenten entspricht, also eine sehr effektive Methode, und auch über einen längeren Zeitraum wirkt. Muss zwar dann wiederholt werden, aber das war so das erste Indiz, dass Aderlass in die innere Medizin wieder Einzug findet."Inzwischen gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass Aderlass auch bei Fettstoffwechselstörungen, erhöhtem Hämatokrit sowie erhöhten Harnsäure- und Blutzuckerwerten Abhilfe schafft. Die moderne wissenschaftliche Erklärung für die Wirksamkeit der Methode:"Es werden bestimmte Stoffe dem Körper entzogen und durch weniger gefährliche Stoffe ersetzt, die dann aus der Zelle oder aus dem Interzellularraum stammen. Und hierdurch kommt es quasi zu einem Verdünnungseffekt eventueller Stoffe, die dem Körper schaden, und das führt dann auch wiederum zu weniger Stress im Stoffwechsel und zu einer besseren peripheren Durchblutung."Im Mai 2012 haben Rampp und seine Institutskollegen eine Studie zu Aderlass im Fachmagazin BMC Medicine veröffentlicht."Da ging es um das Krankheitsbild des Metabolischen Syndroms. Das sind Patienten mit hohem Blutdruck, mit Fettstoffwechselstörungen, mit Übergewicht und Diabetes. Und da hat man gesehen, dass sich all diese Parameter durch zweimaligen Aderlass im Abstand von sechs Wochen deutlich gebessert haben."An Rampps Institut gehört Aderlass inzwischen zum festen Repertoire. Alle sechs Wochen werden dabei 300 bis 500 Milliliter Blut pro Patient abgenommen. Ob ein Aderlass durchgeführt wird und mit welchem Volumen, entscheiden die Ärzte nach gründlicher Untersuchung, anhand des Blutbildes und der Ferritinwerte: Je voller der Eisenspeicher des Körpers, desto mehr Blut wird abgelassen. Auf der Seite der Patienten sei das Verfahren voll akzeptiert:"Die empfinden das quasi als Naturheilverfahren. Es werden keine Fremdstoffe in den Körper hineingegeben, sondern lediglich ein Zuviel an körpereigenen Stoffen entfernt. Das verstehen die sehr gut."Auf der Seite der Ärzteschaft liegen die Verhältnisse anders."In der internistischen Community ist der Aderlass noch nicht ganz angekommen."Die wissenschaftliche Datenlage habe sich noch nicht herumgesprochen, vermutet Rampp."Vielleicht ist es auch aus der Historie, dass diese Verfahren ja noch mit dem Makel der Mittelalterlichkeit behaftet sind und die Kollegen sich deshalb scheuen, so was in einer modernen Praxis eben durchzuführen."Bislang ist Aderlass nicht Teil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung; Patienten müssen ihn aus eigener Tasche bezahlen. Oberarzt Rampp sagt der Therapie dennoch eine große Zukunft voraus."Es gibt Daten, dass ein Drittel der Bevölkerung auf ein metabolisches Syndrom zusteuert. Und da ist es natürlich wichtig, dass wir nebenwirkungsarme, kosteneffektive und natürlich auch therapeutisch effektive Verfahren einsetzen, und da gehört der Aderlass mit Sicherheit dazu. Und es wird in Zukunft kaum noch internistische Praxen geben, wo der Aderlass nicht auch zum Repertoire des Arztes gehören wird." | Von Lennart Pyritz | Der Aderlass war seit der Antike eine Universaltherapie bei den unterschiedlichsten Beschwerden. Ärzte und Patienten glaubten fest an seine Wirksamkeit. Mittlerweile erlebt das Verfahren in der modernen Medizin bei einigen Erkrankungen eine Renaissance. | "2013-09-24T10:10:00+02:00" | "2020-02-01T16:37:04.502000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-aderlass-100.html | 402 |
England - Summerhill School heute | Die Summerhill School in England beruft sich auf demokratische Grundsätze des Lernens. Sie wurde 1921 von A.S. Neill gegründet. (Deutschlandradio / Friedbert Meurer)
Es wirkt gemütlich in dem Blockhaus auf dem weitläufigen Gelände von Summerhill. Im Nebenzimmer liegen Matratzen auf dem Boden. Einige Jugendlichen hören Musik und bewerfen sich mit Kissen. Andere reden mit ihrem Lehrer. Es ist wie immer - wie seit den Tagen des Reformpädagogen A. S. Neill gilt als wichtigstes Prinzip in Summerhill : Niemand muss lernen, alles ist freiwillig.
Der Gründer der Summerhill-School: Alexander Sutherland Neill (imago)
Im Musikgebäude nebenan übt ein Schüler Schlagzeug, ein anderer experimentiert mit Klängen am Synthesizer. Henry Redhead ist ein Enkel von A. S. Neill, jenes Mannes, der die 68er-Bewegung mit seinem antiautoritären Konzept mitgeprägt hat. Seit drei Jahren ist Redhead in der Schulleitung.
Es lebe die Fantasie
"Wir wollen, dass die kleineren Kinder ihre Freiheit und Abenteuer finden. Sie können ihrer Fantasie folgen und machen, was immer sie möchten. Wenn sie wollen, können sie in die Klassenräume gehen. Aber die Kinder sind völlig frei darin, zu kommen und zu gehen, wie sie möchten."
Es ist schwer zu sagen, wie viele Kinder gerade keine Lust haben oder doch, am Unterricht teilzunehmen. Henry Redhead weiß es auch nicht und fügt belustigt hinzu, über so etwas führe man hier in Summerhill auch keine Statistik.
Hinter der Eingangstür zum Blockhaus liegt der Chemie- und andere naturwissenschaftliche Klassenräume. Hier herrscht reger Unterrichtsbetrieb mit Glaskolben und Reagenzgläsern.
"Wir haben hier Acid. Wir machen hier Farben. Wir versuchen, die ganzen Farben vom Regenbogen zu kriegen. Da muss man ziemlich aufpassen, es kann halt verbrennen. Das verändert dann die Farbe."
Wöchentlich trifft sich das Parlament der demokratischen Schule (Archivbild 2013) (imago / United Archives International Summerhil)
Individualität ja, Beliebigkeit nein
Jedes Kind bekommt ab neun Jahren seinen individuellen Stundenplan, der dann doch weitgehend eingehalten wird. Denn in Summerhill herrscht mitnichten grenzenlose Freiheit. Es gibt etwa 140 Schulregeln. Sie wurden alle demokratisch von den Schülerinnen und Schülern selbst in Meetings beschlossen.
Zoe Redhead sitzt in einem Sessel in ihrem Büro. Sie ist die Schulleiterin und Tochter des Schulgründers. A.S. Neill. Ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand hinter ihr zeigt sie, wie sie als Siebenjährige auf dem Schoß ihres Vaters sitzt. Dessen berühmtes Standardwerk trug den deutschen Titel "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill".
"Ich bin nicht gegen Autoritäten. Es kommt darauf an, wo sie herrühren. Nur weil jemand eine machtvolle Position hat, macht ihn das nicht zu einer schlechten Person."
Die Freiheit der anderen
Zoe Redhead wirkt bodenständig. Sie ist mit einem Farmer verheiratet und wohnt auf dem Bauernhof etwa eine Meile entfernt hier in Leiston, im Nordwesten Englands. Liebe- und verständnisvoll mit Kindern umgehen, das ja. Sie sollten sich gemäß ihrer Neigungen entwickeln können, aber auch respektieren, wo die Freiheit des anderen beginnt, sagt Redhead Eltern ließen sich heutzutage zu oft von ihren Kindern tyrannisieren.
".... Da kommt die Behauptung her, wir hätten jetzt Disziplin eingeführt. In Summerhill sagen wir zu den Schülern: Du kannst hier nicht einfach herumlaufen und dir alles erlauben. Das ist nicht okay!"
Der 14-jährige Phil bohrt jetzt in der Werkstatt an einem Holzstück. Phil wirkt höflich, überlegt, und weil er ein Faible für Mathe hat, steht auf seinem Stundenplan von Montag bis Freitag jeden Morgen erst einmal Mathe.
"In einer normalen Schule hat man 20 Stunden, nur für fünf interessierst du dich aber. Bei den anderen sitzt du nur sinnlos in der Klasse herum. Das ist einfach Zeitverschwendung."
"Es ist so befreiend. Ich kann mich so ausdrücken, wie ich das will. Es erlaubt dir, du selbst zu sein. Du wirst in keiner Weise kontrolliert."
Keine Kontrolle, freut sich die 14-jährige Amy. Fast wäre Summerhill deswegen von der britischen Schulaufsichtsbehörde geschlossen worden. Man konnte aber vor Gericht nachweisen, dass die Kinder am Ende doch ihren Abschluss schaffen und ihren Karriereweg gehen.
Zuspruch begrenzt
Aber Summerhill ist in England nicht zum Erfolgsmodell geworden. Henry Redhead, der Enkel des Schulgründers, wird zwar zu Kongressen eingeladen. Gerade englische Eltern aber sind fixiert auf Schul-Rankings, Tabellen, nur die Topschulen, auch unter den staatlichen, zählen. Es sind vor allem die Eltern, viele Deutsche darunter, die selbst als Schüler in Summerhill waren, die jetzt ihre Kinder in das private Internat schicken, das mit seinem antiautoritärem Konzept Furore machte. Aber auch immer mehr Eltern aus Asien schicken ihre Kinder, solche, die das rigide System zuhause ablehnen.
Zoe Redhead, Schulleiterin und Tochter von A.S. Neill und ihr Sohn Henry Redhead (Deutschlandradio / Friedbert Meurer)
"Lernen, lernen! Erfolgreich sein! Und dann entstand da diese kleine Schule hier in Suffolk, die sagt: Nein, lass dein Kind in Ruhe. Lasst sie so, wie sein möchten."
Zoe Redhead ist heute 70 und sagt, nur ihre eigenen Söhne könnten die Schule einmal fortführen – sonst niemand. Summerhill ist eine kleine, verschworene Community mit gut 70 Schülern. Amira, 14 Jahre alt aus Birmingham, erzählt, wie sie sich am Ende in ihrer alten Schule nur noch verweigert habe. Summerhill sei genau richtig für sie. Die weit übergehende Mehrheit der englischen Eltern will ihr darin aber nicht folgen.
"Meine Noten wurden schlechter. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Gehirn war vollgestopft mit Dingen, die mich nicht interessierten. Ich mochte keinen meiner Lehrer. Aber hier kann ich mich ihnen immer anvertrauen. Das macht diese demokratische Schule aus: Schüler und Lehrer bewegen sich auf demselben Level." | null | Freiheit statt Unterdrückung: Alexander Sutherland Neill steht für einen Erziehungsstil, der in der 68er Furore machte. Der Schotte begeisterte mit seinen Schriften und seiner "Summerhill School" die Studenten auf den Barrikaden. Dabei ging es Neill gar nicht um grenzenlose Freiheit, wie viele 68er meinten. | "2018-03-08T09:10:00+01:00" | "2020-01-27T17:41:31.185000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/68-europa-auf-den-barrikaden-4-5-england-summerhill-school-100.html | 403 |
Einhellige Kritik im baden-württembergischen Parlament | Der Grünen-Politiker Winfried Kretschmann im Mai im Stuttgarter Landtag. Er hatte schon vor der Debatte Stellung bezogen. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
In fraktionsübergreifender Solidarität haben heute die baden-württembergischen Fraktionschefs das Verhalten der AfD im Landtag scharf verurteilt. CDU, Grüne, SPD und FDP riefen die Abgeordneten der sogenannten Alternative für Deutschland dazu auf, den baden-württembergischen Landtag nicht länger für Machtspiele zu missbrauchen.
"Dieser Landtag ist sicher nicht der Ort für die Hahnenkämpfe einiger AfD-Funktionäre und ich füge hinzu, er ist auch kein Sandkasten für Machtspiele, zum Beispiel von Frau Petry, wenn sie nach Stuttgart kommt und dann Hausverbot erteilt bekommt", sagte CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart in einer aktuellen Debatte, die unter dem Thema "Nach der Spaltung der AfD-Fraktion – für einen Parlamentarismus der Verantwortung" stand. Reinhart warf der sich vor genau einer Woche gespaltenen AfD einen bizarren Selbstfindungstripp auf Kosten der Steuerzahler vor. "Das Projekt AfD ist politisch, und ich füge hinzu, aus heutiger Sicht auch moralisch gescheitert. Denn es hat den Ungeist der Spaltung beschworen und darüber selbst gespalten.
Rechtliches Gutachten zur AfD-Spaltung steht noch aus
Andreas Schwarz, Fraktionschef der Grünen, warf der AfD ein Schmierentheater vor. "Wir haben erlebt, wie eine neu aufkommende, politische Gruppierung in den Landtag gewählt wurde, vermeintlich, eine neue Alternative für Baden-Württemberg zu sein. Nur wenige Wochen nach der Landtagswahl müssen wir feststellen: Rechtspopulisten sind politikunfähig."
Der Landtag lässt zurzeit per Gutachten klären, ob es zwei Fraktionen der AfD im Parlament geben kann. Der bisherige AfD-Fraktionschef Jörg Meuthen und 13 weitere Abgeordnete haben sich von der ursprünglichen Fraktion gespalten und wollen nun die Fraktion der "Alternative für Baden-Württemberg" bilden. Im Moment wird die Gruppe um Meuthen als ein fraktionsloser Zusammenschluss geführt. Bis die verfassungsrechtlichen Gutachten vorliegen, sitzen die Abgeordneten im Plenarsaal zurzeit in den Reihen hinter der Ur-AfD-Fraktion.
Anlass der Spaltung war ein Streit über den Umgang mit dem Abgeordneten Wolfgang Gedeon, dem Antisemitismus vorgeworfen wird. Seit gestern Abend läuft gegen Gedeon ein Ausschlussverfahren aus der AfD. Heute nutzte der Allgemeinmediziner ein zweiminütiges Rederecht vor dem Parlament, dass ihm als fraktionsloser Abgeordneter zugeteilt wurde, um seine Haltung als sekundären Antisemitismus zu verteidigen: "Dann ist Ralf Dahrendorf, kennen Sie den überhaupt noch, Herr Rülke? Ralf Dahrendorf ist dann auch ein Antisemit und Günter Grass ist ein Antisemit. Ich kann ihnen die Zitate bringen, in zwei Minuten allerdings nicht. Da machen sie aus dem Antisemitismus einen Universalvorwurf, der überhaupt keine inhaltliche Substanz mehr hat."
In Deutschland gibt es eine rote Linie
FDP Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke zeigte sich fassungslos in der Debatte: "Ich glaube, dieses Parlament und auch die Öffentlichkeit ist am heutigen Tag mit dem Auftritt von Herrn Gedeon wahrscheinlich Zeuge des Unterirdischsten geworden, was es in diesem Parlament in 70 Jahren gegeben hat."
Während der Debatte äußerte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann nicht zu der Spaltung der AfD, gestern allerdings sagte der grüne Regierungschef: "Die Zerlegung findet ja jetzt statt, weil sie einen Antisemiten in ihren Reihen hatten. Und das zeigt doch immerhin erfreulicherweise, dass offener Antisemitismus in einem deutschen Parlament nicht geht. Es ist immerhin eine erfreuliche Tatsache. Da ist doch eine rote Linie da, die ohne Weiteres niemand überschreiten kann in Deutschland. Das muss man erst einmal positiv werten." | Von Uschi Goetz | Die Spaltung der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg ist von den anderen im Parlament vertretenen Parteien einhellig kritisiert worden. Dabei ist noch unklar, ob es zwei Fraktionen einer Partei überhaupt im Landtag geben kann. Das soll jetzt ein rechtliches Gutachten klären. | "2016-07-13T12:10:00+02:00" | "2020-01-29T18:40:49.766000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/afd-spaltung-im-landtag-einhellige-kritik-im-baden-100.html | 404 |
Wer stirbt als Nächstes? | Ein Werbebild der Serie "Game of Thrones" (dpa / 2011 Home Box Office)
Eingefleischte "Game of Thrones"-Fans, die in diesen Tagen wieder einmal atemlos vor dem Bildschirm mitfiebern, sollten sich reiflich überlegen, ob sie die Internetseite https://got.show/ aufrufen. Denn dort warten möglicherweise schockierende Zahlen: 95 Prozent Todeswahrscheinlichkeit für die eigene Lieblingsfigur, aber gute Überlebenschancen für den Schurken? Und das auch noch wissenschaftlich abgesichert? Die Idee für die Website und Todes-Prognose stammt von Guy Yachdav; das Ganze war sozusagen ein Einführungskurs in modernes Data Mining und in Maschinenlernen.
"Wir haben unsere Daten aus dem Internet-Wiki "Ice and Fire", das ist eine sehr populäre Website, auf der sich viele Fans über die Buchserie informieren. Dort haben wir dann 24 Merkmale gesammelt, mit denen sich die rund zweitausend Romanfiguren jeweils charakterisieren lassen. Zum Beispiel das Alter, das Geschlecht, ob sie verheiratet sind oder nicht, ob der Partner noch lebt, welchem Adelshaus die Figur angehört, oder in welchem Buch der Serie sie auftritt."
Korrelation ohne Kausalität
Mit dem Datenmaterial trainierten Yachdav und seine Studenten dann einen Maschinenlernalgorithmus. Vereinfacht gesagt, setzt der alle Einzelmerkmale zueinander in Beziehung und ermittelt, ob es Kombinationen gibt, die für bereits tote oder für noch lebende Figuren charakteristisch sind. Und tatsächlich wurde der Algorithmus fündig. Das Ableben in "Ice and Fire" ist offenbar nicht zufällig oder willkürlich, sondern folgt einem nicht auf den ersten Blick ersichtlichen Muster. Aber kann das denn stimmen; liegt nicht der Fortgang einer fiktiven Handlung völlig frei im Belieben des Autors?
Professor Burkhardt Rost hat das Projekt seines Mitarbeiters Yachdav und seiner Studenten mit Begeisterung mitverfolgt - aber als Pionier des Maschinenlernens sind ihm die Fallstricke sehr bewusst:
"Das klassische Modell: Ich hab so eine Figur, die Zahl der Babys, die in Niedersachsen geboren worden sind in einem gewissen Zeitraum, und dann die Korrelation mit der Zahl der Störche. Und diese Korrelation ist erstaunlich gut."
Nur steckt eben keine Kausalität dahinter. Und so könnte man auch bei dem Games-of-Thrones-Modell entsprechend ins Grübeln kommen. Welche Kausalität sollte eigentlich hier im Spiel sein? Da hilft es, sich zunächst einmal klarzumachen, was der Maschinenlern-Algorithmus denn eigentlich als Ergebnis liefert:
"Was wir da vorhersagen, ist letztlich, was im Kopf des Autors vorgeht, wir lernen sozusagen den Autor kennen." Und selbst das ist auch nur eine Annahme, eine nachträgliche Interpretation, schränkt Professor Rost ein: "Wir haben eine schwarze Box, wir wissen nicht so genau, was da eigentlich drinsteckt.
Vorurteilslose Ergebnisse
Aber der Forscher bricht natürlich eine Lanze für "sein" Verfahren:
"Was ich in meiner Karriere als Wissenschaftler erlebt habe, dass üblicherweise diese simplen Regeln, von denen wir glauben, dass wir die verstehen, dass wir uns irren. Das heißt, was wir als Kausalität oft in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schreiben, ist in dem Sinne dann keine."
Maschinenlernen produziert hingegen vorurteilslose Ergebnisse, bietet die Chance, festgefahrene, aber letztlich falsche Lehrmeinungen zu ignorieren und dadurch zu entlarven. Das ist der positive Aspekt.
"Aber es ist extrem schwierig herauszufinden, wie genau und belastbar solche Black-Box-Ergebnisse eigentlich sind. Maschinenlernen sollte man nur anwenden auf Probleme, wo es anders eben nicht geht. Wo wir eine Intuition für die Lösung nicht haben. Sobald wir eine Intuition für die Lösung haben, ist die Intuition die Lösung."
Externe Einflüsse nicht einkalkuliert
Und auch Guy Yachdav hat noch eine Warnung oder aber gleichzeitig einen Hoffnungsschimmer für die Fans von "Game of Thrones" – seine Todes-Vorhersagen sind völlig "ohne Gewähr":
"Ganz klar könnte es jetzt externe Einflüsse auf die Serie geben, die gar nicht auf den von uns betrachteten Daten beruhen. Das ist gut möglich, und wahrscheinlich passiert es auch schon gerade. Die TV-Serie könnte sich vom Buchinhalt lösen und der Autor wäre gar nicht mehr im Entscheidungsprozess beteiligt. Eigentlich sprechen wir gar nicht darüber, was in der Zukunft passieren könnte, sondern nur über das, was wir aufgrund der bisherigen Daten für wahrscheinlich halten. Viel mehr ist es eigentlich nicht." | Von Michael Gessat | Die Fernsehserie "Game of Thrones" ist dafür bekannt, ihre Hauptcharaktere überraschend sterben zu lassen. Das ist für viele Fans ein Reiz der Sendung. Diesem Reiz könnte jetzt ein wissenschaftliches Projekt den Garaus machen: Studenten haben für alle Charaktere berechnet, wie wahrscheinlich es ist, ob sie sterben werden. | "2016-05-02T16:35:00+02:00" | "2020-01-29T18:27:20.871000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/wissenschaftliches-projekt-zur-serie-game-of-thrones-wer-100.html | 405 |
Londons Probleme, Brüssels Schuld? | Guntram Wolff: Direktor der Denkfabrik Bruegel. (picture alliance / Bruegel / dpa)
Frederik Rother: In Großbritannien wird gestritten über den Brexit, die Regierung von Theresa May ist fragil und macht der EU Vorwürfe. Ist Brüssel der Sündenbock für alles, was in Großbritannien schiefläuft?
Guntram Wolff: Ja, definitiv ist die Debatte in Großbritannien immer schon sehr durchwachsen gewesen gegenüber Europa, die Presse in Großbritannien ist ja sehr euroskeptisch – und das hat sich sicherlich jetzt noch mal bei vielen Blättern verschärft. Aus meiner Perspektive wird sehr einseitig über die Initiativen aus Brüssel berichtet. Die positiven Sachen werden weggelassen, die negativen Sachen werden extrem nach oben gepusht. Also insofern denke ich, ist es insgesamt eine sehr, in der Tat, euroskeptische Presse, die die Schuld meistens in der EU 27 sucht.
Rother: Helfen denn harsche Reaktionen von EU-Vertretern weiter wie jetzt beispielsweise beim informellen Gipfel letzte Woche von Emmanuel Macron oder Donald Tusk?
Wolff: Alle Chefs haben natürlich sehr negativ auf das Papier von Theresa May reagiert und haben sehr dezidiert geantwortet, dass es so nicht ginge und man nicht einfach Chequers unterschreiben könne, also den Vorschlag der Briten. Das ist in der Tat wesentlich heftiger ausgefallen die Reaktion, als das ursprünglich geplant war, weil eben die britische Premierministerin sehr forsch aufgetreten ist und insofern hat sich dann tatsächlich die Lage dann dramatisch verschärft. Und die Presse in Großbritannien hat das natürlich als gefundenes Fressen gesehen und gesagt, okay, die wollen ja überhaupt keinen Deal in Europa.
Die EU muss kompromissbereit sein
Rother: Was kann die EU denn machen, um diese Erzählung von, ich sag jetzt mal, Gangstern und Ganoven, die ja da auf den Titelseiten zu sehen waren in Großbritannien, um diese Erzählung zu stoppen?
Wolff: Na ja, also insgesamt, glaube ich, kann man von außen relativ wenig machen. Man muss, glaube ich, konsistent bei seiner Meinung bleiben und auch seine Linien klar erklären. Ich denke, dass macht die EU insgesamt, aber das eine ist natürlich auch klar, wir müssen natürlich schon versuchen, auf allen Seiten einen Deal zu finden, nur kann das eben nicht ein Kompromiss sein, der gerade mal exakt die Linie der britischen Regierung ist, sondern der Kompromiss wird so sein müssen, dass Großbritannien einen Riesenschritt noch auf Europa zugehen wird, und umgekehrt müssen wir aber auch an der einen oder anderen Stelle uns kompromissbereit zeigen.
Rother: An welchen Stellen müsste die EU sich denn kompromissbereiter zeigen Ihrer Meinung nach?
Wolff: Ja, sehen Sie, das Hauptthema bei Brexit ist ja inzwischen die Frage, wie geht man mit Irland um, wie geht man mit Nordirland um? Da gibt es zwei vollkommen unversöhnliche Positionen, die Briten sagen, sie können nicht zulassen, dass es Kontrollen im irischen Meer gibt. Und die Europäer sagen, wir können nicht zulassen, dass es eine Grenze in Irland selber gibt. Da wird letztendlich der Kompromiss zu finden sein. Chequers hat versucht, eine Linie vorzuschlagen, wie man da das vermeiden kann, Grenzen zu machen, ist aber auch auf wenig Gegenliebe gestoßen in Brüssel, weil es eben sehr schwer ist, die Elemente von Chequers alle umzusetzen.
Also insofern glaube ich, müssen wir am Ende einen Kompromiss finden bei den Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien, die dürfen vielleicht nur von britischen Grenzpolizisten durchgeführt werden, sie müssen vielleicht nicht wahnsinnig stark sein, aber ich denke, man kann nicht zulassen, dass es eine Grenze auf der Insel von Irland gibt. Also insofern der Kompromiss, meiner Meinung nach, muss sein, dass die Briten akzeptieren, Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien in irgendeiner Weise, zumindest in einer Übergangsphase, durchzuführen.
Kompromissvorschläge gibt es
Rother: Welche Fehler werden denn oder wurden darüber hinaus von der EU gemacht, etwa mit Blick auf die Brexit-Verhandlungen, die dieses Anti-EU-Klima, von dem wir anfangs gesprochen haben, vielleicht weiter befeuert haben.
Wolff: Na ja, ich glaube, die EU hat natürlich von Anfang an eine sehr harte Position gehabt und eingenommen. Ich denke, aus Sicht der EU war das auch erst mal vernünftig, weil es eben in Großbritannien so ein politisches Chaos war. Aber ich glaube schon, dass die EU doch inzwischen aktiv darüber nachdenken muss, was könnte eine Lösung sein und könnte man nicht doch eine enge Handelsbeziehung definieren, die uns die Zollkontrollen an die britische Außengrenze legt.
Könnte man das irgendwie mit bestimmten Kontrollen kombinieren, sodass das Vertrauen da ist, aber dass man letztendlich akzeptiert, dass die Zollaußenkontrollen an den britischen Grenzen stattfinden und nicht an den EU-Grenzen. Das wäre eine Kompromisslösung, aber klar, da muss man wirklich beinharte und klare Garantien kriegen. Und meine Hoffnung wäre, dass wir da es doch schaffen, zumindest den Weg hin zu einem Kompromiss in irgendeiner Weise zu definieren.
Traumvorstellung Norwegen-Modell
Rother: Wie sollte sich Brüssel denn auf das zweite Referendum verhalten, was ja zurzeit breit diskutiert wird und eine mögliche Lösung sein könnte. Welche Position sollte Brüssel bei dem Thema einnehmen?
Wolff: Ich denke, überhaupt keine Position, das ist eine rein innerstaatliche Diskussion in Großbritannien. Falls es natürlich zu einem Referendum kommen sollte, dann denke ich, ist sicherlich eine Mehrzahl der Europäer gerne der Meinung, falls das Ergebnis umgedreht werden würde, dass Großbritannien in der EU bleiben sollte, das kann man vielleicht dann irgendwann signalisieren, wenn entschieden wird, dass ein Referendum gemacht wird. Aber davor würde ich überhaupt nichts machen.
Rother: Zum Ende würde ich gerne noch mal nach Ihrer persönlichen Einschätzung fragen: Wie kann denn eine gute Beziehung zwischen London und Brüssel in Zukunft aussehen?
Wolff: Auf jeden Fall müssen wir eine sehr enge Handelsbeziehung haben und eine Sicherheitszusammenarbeit. Die Frage ist, wie eng kann die Handelsbeziehung sein, wie groß ist die Bereitschaft in Großbritannien letztendlich Regulierung aus Europa möglichst umfangreich zu übernehmen. Wenn da die Bereitschaft groß ist, wäre es schon eine Traumvorstellung, dass Großbritannien in einer Art Norwegen-Modell drin bliebe, das heißt vollkommen im Binnenmarkt und auch, zumindest in Teilen, in der Zollunion. Aber ich glaube nicht, dass das politisch tragfähig ist auf der britischen Seite, insofern wird es wahrscheinlich doch eher in Richtung eines Handelsdeals wie mit Kanada hinauslaufen plus einem Special Arrangement für Irland, aber das ist eben nicht leicht zu finden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Guntram Wolff im Gespräch mit Frederik Rother | Die EU hat die Londoner Brexit-Pläne abgelehnt, die Verhandlungen sind festgefahren. Viele britische Medien haben Brüssel danach zum Feindbild erklärt. Nun müsse sich auch die EU bewegen und auf Großbritannien zugehen, sagte Guntram Wolff im Dlf, Leiter des Brüsseler Thinktanks Bruegel. | "2018-09-25T09:10:00+02:00" | "2020-01-27T18:12:32.033000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/feindbild-eu-londons-probleme-bruessels-schuld-100.html | 407 |
TV-Duell ist "schlechte Unterhaltung gewesen" | US-Präsident Donalt Trump sei beim ersten TV-Duell sehr viel aggressiver und angriffslustiger gewesen als Joe Biden, sagte Peter Beyer (CDU), Koordinator der Bundesregierung für Transatlantische Zusammenarbeit, im Deutschlandfunk. (AFP / Getty Images / Sarah Silbiger)
Erstmals trafen im US-Präsidentschaftswahlkampf der amtierende Präsident Donald Trump und sein Herausforderer Joe Biden aufeinander: Es war das erste von insgesamt drei TV-Duellen. Fünf Wochen vor der Wahl kam es zu hitzigen Wortgefechten. Trump fiel seinem Herausforderer regelmäßig ins Wort und wurde von Moderator Wallace mehrfach zur Ordnung gerufen. Biden reagierte mit den Worten, Trump sei ein Clown und solle den Mund halten.
Beyer: Trump angriffslustiger als Biden
Trump sei sehr viel aggressiver und angriffslustiger gewesen, sagte Peter Beyer (CDU), Koordinator der Bundesregierung für Transatlantische Zusammenarbeit, im Deutschlandfunk. "Bei Biden hatte ich dann doch streckenweise den Eindruck, dass er sich zurückgehalten hat und schwer damit umgehen konnte, mit den doch ständigen Unterbrechungen und verbalen Attacken Donald Trumps.", sagte Beyer.
Vieles habe ihn nicht überrascht, aber es sei keine Debatte, sondern fast ein Duell gewesen. Beyer faste das Duell im Gespräch so zusammen: "Es ist schlechte Unterhaltung gewesen."
Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Beyer, Sie haben sich auch für uns die TV-Debatte live zu nachtschlafender Zeit angeschaut. Wer hat aus Ihrer Sicht die bessere Figur gemacht, Donald Trump oder Joe Biden?
Peter Beyer: Das kommt natürlich immer auf die Perspektive des Betrachters an. Meine persönliche ist, sehr viel aggressiver, angriffslustiger war, ich hätte fast gesagt, natürlich Donald Trump, der amtierende Präsident. Joe Biden, hatte ich streckenweise dann doch den Eindruck, dass er sich zu sehr zurückgehalten hat und schwer damit umgehen konnte, mit diesen doch ständigen Unterbrechungen, verbalen Attacken Donald Trumps. Und der Moderator hatte es insgesamt mit beiden Streithähnen auch wirklich schwer gehabt.
Heckmann: Diese Aggressivität, war die noch im Rahmen des Bekannten, oder ging das darüber hinaus aus Ihrer Sicht?
Beyer: Insgesamt genommen fand ich vieles nicht überraschend. Bloß es war eigentlich diese Fernsehdebatte keine Debatte, es war tatsächlich eher ein Duell, wo ich fast gesagt hätte, es ist schlechte Unterhaltung gewesen.
Die Kunst des AngriffsDonald Trump gegen Joe Biden treffen im US-Wahlkampf zum ersten Fernsehduell aufeinander. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Debatten schon oft entscheidende Momente lieferten. Manchmal spielten nur Kleinigkeiten eine Rolle.
Heckmann: Was hat Sie überrascht?
Beyer: Ich sagte ja, mich hat relativ wenig überrascht, an Inhalten schon mal gar nicht. Mich hat vielleicht dann doch ein bisschen überrascht, dass es aus meiner subjektiven Perspektive doch jemanden gegeben hat, der klar dominiert hat, weil er sich so unpräsidentiell verhalten hat und fast vielleicht auch schon etwas unwürdig, wie man ihn auch schon kannte: Donald Trump, der Amtsinhaber. Ich dachte, er nimmt sich ein wenig zurück, aber von Minute eins an, als das erste Thema US Supreme Court losging, hat er draufgeschlagen und hat sich an die eigenen Regeln, zu denen ja seine Kampagne, zu denen er sich selbst ja konsentiert hat, eingestimmt hat, überhaupt nicht gehalten.
"Glaube nicht, dass Wechselwähler angesprochen wurden"
Heckmann: Könnte ihm das schaden bei den Wählerinnen und Wählern, bei den Zuhörern und Zuschauern?
Beyer: Das ist natürlich eine sehr schwierig zu beantwortende Frage. Ich hatte parallel, während ich heute Nacht dort die Debatte verfolgt hatte, mit Freunden sowohl in Kalifornien als auch in Washington per WhatsApp dann immer live diskutiert. Wir hatten teilweise unterschiedliche Einschätzungen gehabt, auch dazu, wer hat besser performt, wer hat besser geliefert. Ich glaube nicht, dass es Wechselwähler angesprochen hat, von beiden Seiten nicht, weder von Trump, noch von Joe Biden. Allenfalls denke ich, dass man die eigene Klientel angesprochen hat. Vielleicht hat dieses Chaotische, sich gegenseitig Behaken aber auch potenzielle Wähler eher verschreckt, überhaupt zur Wahl zu gehen. Das würde ich auch nicht ausschließen wollen.
"Beide müssen sehen, die eigene Klientel zu mobilisieren"
Heckmann: Und welche Folgen könnte das haben?
Beyer: Na ja. Sollte ich damit recht behalten, hieße das zunächst natürlich eine geringere Wahlbeteiligung. Wir müssen natürlich sehen, dass während wir hier schon sprechen schon eine gute Million Wähler ihre Stimme abgegeben haben – Stichwort Briefwahl. Das war ja auch ein Thema gewesen. Das ist jetzt natürlich viel zu früh zu bewerten und Spekulationen, welche Auswirkungen das hat. Beide müssen sehen, dass sie die eigene Klientel, wo sie ihre eigenen Wähler vermuten, mobilisieren. Das ist wichtig. Es gibt wohl relativ wenig Wechselwähler, die noch tatsächlich die Seiten wechseln wollen. Es gibt viele Unentschlossene. Wie gesagt: Hoffentlich lassen sich nicht zu viele davon abschrecken, von dem Schauspiel, was wir heute Nacht sehen mussten.
"In den ganzen Swing States wird es knapper"
Heckmann: Und es wird ein knappes Rennen, denn der Vorsprung, den Joe Biden hat in den Swing States, der ist knapp.
Beyer: Ja, er ist zum Teil geschwunden, wenn man in die einzelnen Staaten reinguckt. Vor kurzem hatte man in der Biden-Kampagne festgestellt, dass zum Beispiel Florida, ein ganz wichtiger Staat, weil er sehr viele Wahlleute in dieses Electoral College sendet, aber auch Arizona, dass man dort die Hispanics und die Latinos, die Exilkubaner schlicht vergessen hat. Bloomberg, der ehemalige potenzielle Kandidat, der sich beworben hat auf Seiten der Demokraten, pumpt sehr viele Millionen in Fernsehkampagnen, in TV-Spots jetzt rein, zur Unterstützung Bidens, um das noch zu kitten. Insgesamt in den entscheidenden Swing States, ich würde noch sagen Michigan, Wisconsin, Pennsylvania, Arizona, Florida hatte ich schon genannt, wird es tatsächlich knapper. Die ganzen Umfragen, die wir beobachten, landesweit sind eh wenig aussagekräftig. Wichtig sind diese fünf, sechs Battle Ground States, wo es wirklich umkämpft ist. Auf die kommt es an. Natürlich ist es ein Nachteil, insbesondere für Joe Biden jetzt hier, weil er keine Wahlkampfveranstaltungen macht, im Gegensatz zu Donald Trump, der ein bisschen was dort macht, noch großartige saalfüllende, Arenen füllende Veranstaltungen zu machen, um Leute noch zu mobilisieren. Das wird jetzt auf die TV-Debatten ankommen. Wir haben heute die erste gesehen, zwei weitere wird es geben zwischen diesen Kandidaten, und dann gibt es ja noch eine zwischen den Vizepräsidenten-Kandidaten.
Steueraffäre von Donald Trump "könnte Auswirkung haben"
Heckmann: Herr Beyer, die New York Times hat ja vor wenigen Tagen die Steuerakte von Donald Trump veröffentlicht, die besagt, dass Trump so gut wie keine Bundessteuern gezahlt habe, angeblich jedenfalls, und dass er nicht Milliardär sei, sondern auf Millionen Dollar Schulden sitze. Trump spricht von Fake News, auch jetzt in der TV-Debatte noch mal. Denken Sie, dass das Einfluss auf die Wahl haben könnte, oder werden seine Anhänger nicht einfach sagen, wenn Trump keine Steuern zahlt, dann spricht das für seine Raffinesse?
Beyer: Mit seiner Geschicktheit von ihm und seiner Steuerberater hat ja Donald Trump in der Tat vorhin auch in der Debatte fast schon geprahlt. Wenn man doch diese Steuergesetze hat, dann sei er doch ein guter Unternehmer gewesen, wenn er das alles ausschöpfen würde. Er hat in der Tat gesagt, das sind alles Fake News, er habe Millionen von Steuern gezahlt, das stimme alles nicht. Ich glaube eher, dass das eher ihm zum Nachteil gereichen wird. Wenn Sie schauen, wer ihn ins Weiße Haus gebracht hat 2016 bei den Präsidentschaftswahlen, dann hat er ja gerade die Menschen im Industriegürtel, die einfachen weißen Arbeiter ohne hohen Bildungsstand mobilisiert, die ihn bewundert haben. Wenn sie jetzt sehen, er hat vielleicht sogar den Staat bei den Steuern betrogen, oder hat da getrickst, dann könnte das negativ ankommen. Sie könnten sich betrogen fühlen. Ich würde schon sagen, das kann eine Auswirkung haben.
Supreme Court: Trump "will seine Nachhut auch viele Jahren nach seinem potenziellen Ausscheiden noch sehen"
Heckmann: Allererstes Thema der TV-Debatte war ja die Nachbesetzung für den Obersten Gerichtshof. Trump will die ja noch vor den Wahlen durchsetzen und damit würden sich die Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten der konservativen Richter ja verstärken. Muss man aber nicht, Herr Beyer, zugeben, die Demokraten würden es ganz genauso machen und haben es in der Vergangenheit so gemacht?
Beyer: Wir haben ja gesehen, kurz bevor Obama aus dem Amt schied, hatten wir eine ähnliche Situation mal gehabt. Es kommt natürlich immer darauf an, in welchem Sitz sitzt man gerade, ist man Amtsinhaber oder nicht. Die Diskussion geht ja im Moment dahin, dass man vielleicht sogar den Supreme Court bis auf 15 Richter erweitert. Das ist zumindest auf Seiten der Demokraten ein Vorschlag. Wir müssen jetzt mal sehen, wie sich das dort zusammenrüttelt. Ich gehe davon aus, nach der Nominierung, nach dem Vorschlag durch Donald Trump der als konservativ eingestuften Richterin Amy Coney Barrett, wie ist jetzt der Prozess dabei im Gange, werden Anhörungen stattfinden. Donald Trump will natürlich so schnell wie möglich das besetzen. Sollte er aus dem Amt scheiden und Joe Biden das Oval Office dann besetzen, möchte er einfach, dass er dann noch seine Nachhut viele Jahre nach seinem potenziellen Ausscheiden aus dem Amt dort auch sieht, dass er dort die Politik und das Leben in den USA auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt beeinflussen kann. Das ist natürlich jetzt etwas, was auch eine große Rolle spielt.
Donald Trump hofft, dass der Supreme Court seine Wiederwahl sichertDas Drängen der Republikaner auf eine schnelle Nachbesetzung des vakanten Richterpostens am Supreme Court könne zur Gefahr für die US-Demokratie werden, kommentierte Thilo Kößler im Dlf. Donald Trump spekuliere darauf, dass die konservative Mehrheit im höchsten Gericht ihm zur Wiederwahl verhilft.
Bei einem Wahlsieg von Biden "wird nicht auf einmal alles besser"
Heckmann: Gucken wir auf das transatlantische Verhältnis. Sie sind ja Koordinator der Bundesregierung, Herr Beyer. Sollte Biden die Wahl gewinnen, dann wären die Probleme zwischen den USA und Europa aber nicht beseitigt, oder? Worauf stellen Sie sich ein?
Beyer: In der Tat. Ich warne ja seit längerer Zeit davor, rosarote Brillen aufzuhaben und sich einer transatlantischen Nostalgie hinzugeben, zu sagen, früher war alles besser und wenn Joe Biden kommt, gibt es die ganzen transatlantischen Themen, die uns jetzt vor Herausforderungen stellen, nicht. An einigen Stellen mag das so sein. Das hat Joe Biden auch schon gesagt. Zum Beispiel Pariser Klimaschutzabkommen oder Weltgesundheitsorganisation und ein paar andere Dinge, da würde er wieder zurückgehen wollen und Dinge wieder zurechtrücken – Multilateralismus. Aber wenn wir sein Wirtschaftsprogramm beispielsweise anschauen, das was er auch in der Debatte wieder gesagt hat, "buy american", oder so was wie ein Wunsch nach einer transatlantischen Freihandelszone, die ich gut fände, weil es beiden Seiten etwas bringen würde, dann sagt Joe Biden ganz klar, wir schauen uns erst einmal an, ob es eine Wettbewerbsfähigkeit der USA gibt, und solange verhandeln wir mit keiner Nation dieser Erde über Freihandelsvereinbarungen. Das sind solche Themen wie Nord Stream zwei, das ist auch eher im US-Kongress angesiedelt, auf dem Hill, im Senat und im Repräsentantenhaus. Wir sehen eine ganze Palette, noch viel mehr als ich jetzt aufgezählt habe, von transatlantischen Themen. Die wird bleiben. Jeder soll sich keinen Illusionen hingeben, dass dann auf einmal alles besser wird. Aber sicherlich eins wird besser werden: das vor gegenseitigem Respekt getragene Miteinander über den Atlantik hinweg, eine deutlich bessere Kommunikation. Das, glaube ich, kann man schon gesichert sagen.
Heckmann: Das glauben Sie schon. – Wir haben nur noch eine Minute. Was ist, sollte Trump gewinnen? Gibt es dann noch eine kältere Eiszeit?
Beyer: Euphemistisch ausgedrückt würde ich sagen, die transatlantischen Beziehungen haben einige Veränderungen erfahren, denen wir uns jetzt stellen müssen. Das ist unsere Verantwortung. Ich habe natürlich ein transatlantisch schlagendes Herz und deswegen heißt das für uns doch hier in Deutschland und ich sage auch in Europa, wir müssen uns den transatlantischen Brückenpfeilern wieder verstärkt widmen. Ich glaube, es ist verstärkt unsere eigene Verantwortung, dieses transatlantische Werte- und Interessenbündnis zu festigen, so schwer das auch jetzt schon fällt und so schwer das unter einem Trump II auch werden würde.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Peter Beyer im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | Chaos, Unterbrechungen und Beleidigungen - beim ersten TV-Duell zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem Herausforderer Joe Biden gab es hitzige Wortgefechte. Das sei keine Debatte, sondern fast ein Duell gewesen, sagte Peter Beyer, der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, im Dlf. | "2020-09-30T06:50:00+02:00" | "2020-10-05T20:15:58.110000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/us-praesidentschaftswahlkampf-tv-duell-ist-schlechte-100.html | 408 |
Ein Hausverbot als Lachnummer | Oliver Welke moderiert seit 2009 die "heute-show" im ZDF (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
"Die 'heute-show' - Ich sage, herzlich willkommen zur einzigen Sendung der Welt mit Hausverbot im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren."
So weit Moderator Oliver Welke in der "heute-show" von Freitagabend.
Bei Satire versteht die Bundestagsverwaltung offenbar keinen Spaß. Dabei muss man Politiker doch gar nicht vor den Medien in Schutz nehmen. Wenn, dann höchstens vor sich selbst. Denn die meisten rennen sowieso vor jedes hingehaltene Mikrofon. Freiwillig. Oft genug auch schon vor das der "heute-show". Aber damit ist jetzt erst einmal Feierabend. Zumindest in den heiligen Hallen des Bundestages. Wirklich dumm daran ist nur, dass für Satiriker solche bierernsten Vorgänge ein gefundenes Fressen sind und sie erst recht nicht die freche Klappe halten.
Oliver Welke: "Das hat der Bundestag ja inzwischen klargestellt. Wir haben da überhaupt kein Hausverbot. Wir dürfen da nur nicht rein, Leute."
Eigentlich wollten sie nur einmal nachfragen, warum es so mies bestellt sei um die Debattenkultur im Bundestag. Das fragt sich ohnehin so mancher Bundesbürger. Dafür muss man übrigens nicht die "heute-show" einschalten, das bekommt man beim sogenannten Ereigniskanal 'Phoenix', der aus dem Parlament berichtet, ziemlich oft drastisch genug vor Augen geführt. Allerdings ohne bissige Bemerkungen. Und nun dieser Wirbel. Wer hat sich in den vergangen Tagen nicht alles über das Drehverbot echauffiert. Medienrechtler, der Deutsche Journalistenverband und: ja, sogar Politiker.
Auch Politiker zeigen Unverständnis für das Hausverbot
"Inzwischen hat sich sogar die Generalsekretärin der SPD zu Wort gemeldet", sagt Welke.
In einem Einspieler sagt Yasmin Fahimi: "Ich kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. Und ich finde nicht, dass man sich von der 'heute-show' bedroht fühlen muss."
Welkes Kommentar: "Also, die hat das Konzept der Sendung ja wohl gar nicht verstanden."
Ja, so sind sie, die Satiriker von der "heute-show", die nicht ohne Grund schon den Grimme- und den Deutschen Fernsehpreis gewonnen haben. Politiker mögen ein Problem mit der Sendung haben: sie wollen mit dem, was sie sagen, ernst genommen werden. Nur: den Gefallen tut ihnen die Sendung nicht. Und das kommt blendend an beim Publikum. Also schickte das Welke-Team auch diesmal einen Reporter zum Bundestag, der unbedingt rein wollte – und nach der ersten Absage sogar mit dem Äußersten drohte:
"Gut, da muss ich dann hier so lange stehenbleiben und halte die Luft an, bis wir rein dürfen."
Selbstverständlich ohne Erfolg. Bleibt eigentlich nur noch eine süffisante Frage. Wie kommt der Bundestag aus dieser medialen Lachnummer heraus? | Von Klaus Deuse | Mit der Entscheidung, die "heute-show" nicht in den Bundestag zu lassen, hat sich die Parlamentsverwaltung keinen Gefallen getan. Das Hausverbot sorgt für Gesprächsstoff und bietet Steilvorlagen für jede Menge Kalauer. | "2014-10-25T17:05:00+02:00" | "2020-01-31T14:10:19.303000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/heute-show-ein-hausverbot-als-lachnummer-100.html | 409 |
Spionage-Vorwurf: US-Journalist in Russland festgenommen | Dornblüth, Gesine | null | "2023-03-30T15:36:00+02:00" | "2023-03-30T16:52:34.780000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/spionage-vorwurf-us-journalist-in-russland-festgenommen-dlf-abef3ef8-100.html | 410 |
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Russland steigt aus Vertrag aus | Russland stoppt die Zusammenarbeit bei Rüstungsabkommen in Europa. (picture alliance / dpa / Vitaliy Belousov)
Nach Angaben des Außenministeriums in Moskau wird man an den Treffen der Beratungsgruppe über eine Anpassung des Regelwerks nicht mehr mitwirken. Der sogenannte KSE-Vertrag zwischen der NATO und den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts trat 1992 in Kraft und sollte das militärische Gleichgewicht nach dem Kalten Krieg sichern. Der Vertrag sieht eine Begrenzung der konventionellen Waffen in Europa vor, also etwa Panzer, Kampfflugzeuge oder Angriffshubschrauber. So sollen etwa groß angelegte Überraschungsangriffe verhindert werden. Allerdings beschloss Russland bereits 2007, die Umsetzung des Vertrags auszusetzen, da er nicht mehr den Sicherheitsinteressen des Landes entsprach.
Der endgültige Ausstieg aus dem Vertrag bedeute aber nicht, dass Russland sich aus Gesprächen über die Kontrolle konventioneller Waffen in Europa zurückziehe, hieß es.
Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind so schlecht wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Grund ist der Ukraine-Konflikt. Westliche Staaten werfen der Regierung in Moskau vor, prorussische Separatisten im Osten der Ukraine militärisch zu unterstützen. Russland weist dies zurück.
(pg/stfr) | null | Russland nimmt nicht mehr an den Beratungen zum KSE-Abkommen über die Begrenzung konventioneller Waffen in Europa teil. Das erklärte das Außenministerium. Der Ausstieg kommt zu einer Zeit, in der das Verhältnis zum Westen so schlecht ist wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. | "2015-03-10T19:03:00+01:00" | "2020-01-30T12:25:53.517000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/waffenbegrenzung-russland-steigt-aus-vertrag-aus-100.html | 411 |
Zweifel an Rumäniens Kompetenz | Politische Machtkämpfe: Der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis bezeichnete die Regierung des Landes als "schweren Unfall für die Demokratie" (imago / Thierry Roge)
Es riecht angenehm nach "Vin fiert", nach Glühwein – und nach "Porumb", nach gerösteten Maiskolben: Der Weihnachtsmarkt im westrumänischen Timisoara, auf dem großen Platz zwischen Oper und Kathedrale, ist noch bis weit in den Januar hinein geöffnet. Cornel, einer der Händler, verkauft Kissen, wärmende Handschuhe und Mützen – und ist so kurz vor dem Jahreswechsel ein klein wenig stolz auf sein Land.
"Die Übernahme der europäischen Ratspräsidentschaft bedeutet für Rumänien eine große Chance. Es ist für uns eine große Ehre."
Dann jedoch hält Cornel für einen Moment inne, bevor er fortfährt: "Ein großes Problem ist nur, dass wir eigentlich keine Leute haben, die diese Aufgabe wahrnehmen könnten. Ich persönlich bin enttäuscht, wie fast alle Rumänen. Na, sagen wir mal: 90 Prozent aller Rumäninnen und Rumänen sind enttäuscht über die ‚politische Klasse‘ in unserem Land. Sie arbeiten nur für ihre eigene Tasche, nicht zum Wohl des Volkes."
Enttäuschung und Wut über die politische Klasse
Ein paar Stände weiter nippt Bogdan, Anfang 60, an seinem Zuika, einem rumänischen Pflaumenschnaps – und wird noch ein wenig deutlicher:
"Rumänien ist ein Land, das im Moment einer kriminellen Bande in die Hände gefallen ist. Das ist die Wirklichkeit."
Enttäuschung, Frust, ja sogar Wut über die, wie es heißt, "politische Klasse" des Landes auf dem Weihnachtsmarkt von Timisoara so kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft – das hat zu tun mit einer Art ‚Kampf der Giganten‘, mit dem Dauerkonflikt gleich zweier Präsidenten.
Der eine ist Staatspräsident: Klaus Johannis, Jahrgang 1959, rumäniendeutsche Wurzeln – und er spricht von einem "schweren Unfall für die Demokratie Rumäniens, nämlich die Regierung Dragnea-Dancilla. Es gibt keine Perspektive für eine gute Regierungsführung - und für die Anwendung der Grundsätze der Europäischen Union. Das ist sehr schlimm."
Staatspräsident und Parteipräsident: Vereint in gegenseitiger Abneigung
Der andere ist Parteipräsident und Präsident des rumänischen Abgeordnetenhauses: Liviu Dragnea, Jahrgang 1962, Chef der "Partidul Social Demokrat PSD", wie sich die regierenden rumänischen Sozialdemokraten nennen:
"Was wir hier sehen, ist kein Staatspräsident, sondern ein Fake-Präsident, ein falscher Präsident, der einem Parallelstaat vorsteht."
Will heißen: Der Staatspräsident und der Parteipräsident sind sich in größtmöglicher Abneigung zugetan. Hinzu kommt, dass der Parteipräsident wiederum nicht Ministerpräsident werden kann, weil er 2015 wegen Wahlfälschung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde – und im Spätsommer dieses Jahres zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Amtsmissbrauches. Dieses Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig.
Und so wirkt denn PSD-Parteipräsident Dragnea, immer noch in Freiheit, eher aus dem Hintergrund als mächtiger Strippenzieher der rumänischen Regierungspolitik. Denn seine PSD bildet mit der "Allianz der Liberalen und Demokraten" eine Koalitionsregierung. Und die unternimmt derzeit alles, um dem PSD-Parteipräsidenten Dragnea den drohenden Knast zu ersparen.
"Die Regierenden möchten eine Eilverordnung zur Amnestie bringen, natürlich um den Parteivorsitzenden beziehungsweise anderen Politikern aus ihren Reihen eine reine Weste zu verschaffen. Das ist unerhört. Also das heißt. Der Parteichef entscheidet. Die Premierministerin macht eine Eilverordnung. Und der Parteivorsitzende wird reingewaschen." Erregt sich der rumänische Parlamentsabgeordnete Ovideo Gant über den jüngsten Regierungsplan.
Anti-Korruptionsstaatsanwältin auf Druck der Regierungspartei entlassen
Gant vertritt das Demokratische Forum der Deutschen im rumänischen Parlament – und zeigt sich besorgt über Schritte zum Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien.
"Die Tatsache, dass der Justizminister die Staatsanwälte ernennt, entlässt, kontrolliert, Druck machen kann. Jetzt werden der Generalstaatsanwalt attackiert und die Präsidentin des obersten Gerichts unter Druck gestellt."
Hinzu kommt die Entlassung der obersten Anti-Korruptionsstaatsanwältin auf Druck der Regierungspartei. All dies hat auch die so genannte "Venedig-Kommission" der EU mit allerlei Bedenken auf den Plan gerufen – Bedenken, die bei der Regierung in Bukarest aber auf taube Ohren stießen.
Vor diesem Hintergrund werde es spannend, ob Rumänien die EU-Ratspräsidentschaft mit allen damit verbunden Aufgaben stemmen wird: "Ich kann nur hoffen, dass Rumänien es schafft und dass sich die Regierung nicht blamiert."
Regierungschefin Viorica Dancila versucht Blamage abzuwenden
Die gibt sich alle Mühe, eine Blamage abzuwenden – was nicht einfach ist, weil der für die Vorbereitung der EU-Ratspräsidentschaft vorgesehene Europaminister im November hingeworfen hat und der Amtsnachfolger nun im Schweinsgalopp die anstehenden Aufgaben stemmen muss. Allerdings: Regierungschefin Viorica Dancila hat die wichtigsten Themen zur Chefsache erklärt.
Vom Brexit über die EU-Agrarpolitik bis hin zu gemeinsamen Positionen zur Migration zählt die Regierungschefin die Themen auf, die während der EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens anstehen, und zu deren Lösung man einiges beitragen wolle. Neben ihr sitzt – ein seltenes Bild - der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis – eben jener Staatspräsident, der in den vergangenen Monaten die Regierung so häufig kritisiert hat. Nur: Wenn es um Europa geht, müsse man das Kriegsbeil begraben – zumindest vorübergehend.
"Da klaffen ja, und das ist ja bekannt, riesige Meinungsunterschiede zwischen uns. Aber: Wenn es um die derzeit wichtigste nationale Frage geht, nämlich um die Frage der EU-Präsidentschaft, können wir es uns nicht erlauben, nicht miteinander zusammenzuarbeiten."
Ratsvorsitz als Chance?
Ovideo Gant, Parlamentsabgeordneter der rumäniendeutschen Minderheit, sieht in der bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft auch eine Chance – nämlich die, dass vor allem der umstrittene Umbau des Justizsystems, in seinen Augen eine Teil-Demontage des Rechtsstaates, verstärkt in den europäischen Fokus rückt – und auch in den Fokus jener Fraktionsgemeinschaften im EU-Parlament, der auch die regierenden Sozialdemokraten Rumäniens angehören.
"Ich frage mich wirklich: Wie will Spitzenkandidat Timmermanns, Vizepräsident der EU-Kommission, zuständig für Justiz- und Rechtsstaatlichkeit, aber auch Bundesjustizministerin Barley als Spitzenkandidaten in Deutschland mit solchen ‚Genossen‘, sag ich jetzt mal, Arm in Arm in den Europawahlkampf gehen? Müsste man sich hier nicht deutlich positionieren, dass solche Sachen in unserem gemeinsamen Europa nicht akzeptabel sind." | Von Thomas Wagner | Korruption, politische Machtkämpfe und eine umstrittene Justizreform: Mit Rumänien übernimmt am 1. Januar 2019 ein Land die EU-Ratspräsidentschaft, das innenpolitisch auf wackeligen Beinen steht. Viele Beobachter fragen sich deshalb, ob Rumänien den EU-Ratsvorsitz überhaupt schultern kann. | "2018-12-27T05:05:00+01:00" | "2020-01-27T18:27:13.944000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/uebernahme-der-eu-ratspraesidentschaft-zweifel-an-100.html | 412 |
"Vergleich bedeutet nicht Gleichsetzung" | "Erst umfassend informieren": der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (dpa / Hauke-Christian Dittrich)
"In den Augen seiner Kritiker*innen bestand Mbembes Verfehlung unter anderem darin, politische und ideengeschichtliche Ähnlichkeiten seit der Sklaverei und Kontinuitäten zwischen Kolonialregimen und der NS-Ideologie herauszuarbeiten", heißt es in dem Offenen Brief. Achille Mbembe habe "auf eine Gemeinsamkeit der NS-Politik mit der südafrikanischen Apartheid aufmerksam" gemacht, dabei aber die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten nicht mit der Apartheid gleichgesetzt, wie behauptet worden sei.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nähmen deshalb die "schwerwiegenden Vorwürfe" gegen ihren Kollegen "mit Befremden zur Kenntnis." Unterzeichnet haben das Schreiben unter anderem Historikerinnen, Antisemitismusforscher, Soziologinnen, Afrikanologen, Ethnologinnen und Kulturwissenschaftler aus Israel, den USA, Deutschland, Großbritannien und Australien - darunter Aleida Assmann, Wolfgang Benz, Eva Illouz, Susan Neiman und Moshe Zimmermann.
Israels Recht auf Leben in Frieden
"Rassismus hat sowohl in Südafrika als auch im Nationalsozialismus geherrscht" sagte im Deutschlandfunk Micha Brumlik, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Weil Achille Mbembe das Vorwort zu einem amerikanischen Buch mit dem Titel "Apartheid Israel - The Politics of an Analogy" verfasst habe, würden ihm nun - wegen angeblicher Gleichsetzung von Israel mit dem NS-Staat - die Verharmlosung des Holcaust und eine antisemitische Haltung vorgeworfen. "Im selben Text steht aber auch der Satz: 'Israel hat das Recht, in Frieden zu leben'", so Brumlik. Ein Vergleich bedeute keine Gleichsetzung.
Achille Mbembe, 1957 in Kamerun geboren und zurzeit in Johannesburg lehrend, gilt als einer der wichtigsten Theoretiker des Postkolonialismus. Im August hätte er als Redner das inzwischen wegen der Coronakrise abgesagte Kunstfestival "Ruhrtriennale 2020" eröffnen sollen. Gegen diese Einladung hatte unter anderem der Antisemitimus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, protestiert. Er warf Mbembe gegenüber verschiedenen Medien eine Relativierung des Holocaust vor. Außerdem habe Mbembe in seinen wissenschaftlichen Schriften den Staat Israel mit dem Apartheidsystem in Südafrika gleichgesetzt, was "einem bekannten antisemitischen Muster" entspreche. Andere Kritiker warfen dem Wissenschaftler vor, zum Beispiel durch das Unterzeichnen einer Petition die von Kritikern als antisemitisch angesehene BDS-Bewegung zu unterstützen, die zu "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" gegen den Staat aufruft. In einem Beitrag für die Wochenzeitung "Die Zeit" bestritt Mbembe diese Vorwürfe ebenso. In einem E-Mail-Wechsel mit Deutschlandfunk Kultur bekräftigte er auch noch einmal, dass er das Existenzrecht Israels nie infrage gestellt, keine Verbindung zum BDS habe und keiner Interessengruppe oder Organisation angehöre.
Dem Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Mbembes Einladung zur "Ruhrtriennale" kritisiert hatte, warf Brumlik im Deutschlandfunk einen mangelnden Informationsstand vor: "Herr Klein hat überreagiert und sich nicht, was seines Amtes gewesen wäre, sachkundig gemacht." Schon früher hätten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seine Absetzung gefordert. Auch der Zentralrat der Juden sei "nicht gut beraten" gewesen, als er sich der Kritik anschloss.
Distanzierung von der BDS-Bewegung
Seine Berührungspunkte zur Israel-Boykott-Bewegung BDS in der Vergangenheit bewerte Achille Mbembe selbst inzwischen kritisch, heißt es in dem Offenen Brief der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: "Seine damit verbundene Forderung, dass die Menschenrechte für alle gelten müssen, jedoch nicht. Wer diese Haltung als antisemitisch kritisiert, weil sie sich gegen die Politik des Staates Israel richtet, unterstützt mit derlei Argumentation die weitere Schwächung des Völkerrechts und der Menschenrechte.
Debatte - Darum geht es beim Streit um Achille Mbembe Der kamerunische Historiker Achille Mbembe steht im Zentrum einer aufgeregten Debatte. Sie dreht sich um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Antisemitismus und der Relativierung des Holocaust. Außerdem soll Mbmebe das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen. Wer erhebt diese Vorwürfe, aus welchen Gründen? Ein Überblick.
"Ich finde BDS auch falsch", kommentierte Micha Brumlik. "Weil auch israelische Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, die sich gegen die Regierung stellen, boykottiert werden sollen." Zu lernen sei aus den aktuellen Debatten vor allem eines: "Bevor über Personen der Stab gebrochen wird, hat man sich umfassend zu informieren." | Micha Brumlik im Gespräch mit Tanya Lieske | Der Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe sei kein Antisemit, sagt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik im Dlf. Mit anderen internationalen WissenschaftlerInnen hat er in einem Offenen Brief Solidarität mit dem kamerunischen Kollegen ausgedrückt.
| "2020-05-04T17:35:00+02:00" | "2020-05-06T09:01:15.836000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/solidaritaetsbrief-fuer-achille-mbembe-vergleich-bedeutet-100.html | 413 |
Stuxnet Junior | Das gesamte Interview können Sie im Bereich Audio on Demand nachhören. Zum Themenportal "Risiko Internet" | Wissenschaftsjournalist Jan Rähm im Gespräch mit Manfred Kloiber | Vor gut einem Jahr wurde der Computerschädling Stuxnet entdeckt – ein Virus, das gezielt Industriesteueranlagen im Iran befallen hatte. Jetzt haben es Computerspezialisten mit einem neuen Schadprogramm zu tun, das Erinnerungen an Stuxnet weckt: Duqu. | "2011-10-22T16:30:00+02:00" | "2020-02-04T02:15:57.151000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/stuxnet-junior-100.html | 414 |
Definitiv unvollendet! | Schuberts Sinfonien wurden in der Vergangenheit von vielen großen Dirigenten in "eine dicke romantische Orchestersoße getaucht", klagt Heinz Holliger, "dabei ist Schubert eine unglaublich transparente Klangwelt." Und diese legt der Komponist und Dirigent mit dem Kammerorchester Basel offen. (Frank Schinski / Ostkreuz)
Schuberts letztes Orchesterwerk ist die Fragment gebliebene D-Dur Sinfonie. Der Komponist Roland Moser hat die Sinfonie rekonstruiert, er will jedoch keine Schubert-Illusionen erzeugen, sondern das Werk so darstellen wie es ist: definitiv unvollendet.
Die Gesamtaufnahme der Orchesterwerke von Schubert ist in Co-Produktion mit dem Deutschlandfunk entstanden und ist beim Label sony classical erschienen.
Franz SchubertOuvertüre D-Dur, D 12Sinfonie-Fragment D-Dur, D 936a, bearbeitet von Roland Moser Grand Duo C-Dur , D 812, bearbeitet von Gabriel BürginKammerorchester BaselHeinz Holliger, Leitung
Aufnahmen vom August 2020 und März 2022 aus dem Musik- und Kulturzentrum Don Bosco in Basel | Am Mikrofon: Johannes Jansen | Heinz Holliger und das Kammerorchester Basel haben mit ihrer Gesamtaufnahme der Sinfonien von Franz Schubert faszinierend neue Zugänge zu dessen Orchesterschaffen freigelegt. Den Abschluss des Zyklus' bilden ein Fragment und die Ouvertüre, die Schubert mit 14 Jahren geschrieben hat. | "2023-01-16T21:05:00+01:00" | "2023-01-16T15:02:59.840000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/heinz-holliger-dirigiert-schubert-100.html | 415 |
Die FDP und die Frauen | Im Zentrum des FDP-Parteitags: Linda Teuteberg, mit 92,8 Prozent zur neuen Generalsekretärin der Partei gewählt (dpa-Bildfunk / Britta Pedersen)
So wurde ein FDP-Parteitag noch nie eröffnet. Mit ein paar Brocken Chinesisch wollte der Parteivorsitzende Christian Lindner einen Akzent setzen: Die Politik müsse deutsche Unternehmen stärken, angesichts der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China. Hinter dem Redepult vier chinesische Schriftzeichen: 经济政策 - "Wirtschaftspolitik".
"Diese Sprache ist ein Brocken und deshalb empfehle ich, dass wir alles dafür tun, damit es sich für die Chinesen weiterhin lohnt, auch Deutsch und Englisch zu lernen", so Lindner.
Dafür brauche es das Zukunftskonzept der Liberalen: Bessere Bildung, Unternehmergeist fördern, Steuern senken.
FDP will bessere Frauenförderung
Den Ton dieses Parteitages setzten dann aber andere. Nämlich die, die unter den 662 Delegierten nur spärlich vertreten waren: Frauen. An zwei Tagen diskutierte die Partei ausgiebig über Gleichberechtigung und einen liberalen Feminismus.
"Es wurde endlich mal darüber gesprochen und das ist richtig so, wenn eine Partei nur noch 20 Prozent Frauen hat", stellte FDP-Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann in der Debatte fest. Und eine weitere Delegierte fügte hinzu: "Ich habe in meinem ganzen Leben bei keinem Parteitag bisher so viele Frauen auf dem Podium gesehen. Klasse! Das sollte in Zukunft vielleicht auch so sein."
Beschlossen wurde ein politisches Programm zur Frauenförderung. Darin fordert die FDP unter anderem flexiblere Öffnungszeiten von Kitas. Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern sollen offenlegen, wie groß die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen sind. Eine starre Frauenquote für Führungspositionen lehnt die FDP weiterhin ab. Dafür gab es breite Zustimmung.
Intensive Debatte um innerparteiliche Vielfalt
Wie Frauen innerhalb der eigenen Partei besser gefördert werden können, darüber entbrannte dann aber eine intensive Debatte.
"In den 80ern waren wir die Partei der großen Frauen, in den 80ern waren wir die Partei von Hildegard Hamm-Brücher. Heute sind wir eine Männerpartei. Daran müssen wir etwas ändern", empörte sich die bayerische FDP-Politikerin Katharina Walter.
Der Parteivorstand hatte vor dem Parteitag beschlossen, dass für alle Parteigremien und Wahllisten Zielvereinbarungen für den Frauenanteil geben solle. Nicht alle sind damit einverstanden.
"Zielvereinbarungen für den Frauenanteil sind einfach nur ein schönerer Ausdruck für Frauenquoten", kritisierte Alena Trauschel von den Jungen Liberalen Baden-Württemberg. "Dabei gab es eine überwältigende Mehrheit gegen jede Form der Frauenquoten. Wer Frauen in der FDP haben will, der sollte diese auch erstmal ernst nehmen."
Doch der Widerspruch blieb in der Minderheit. Der Parteitag stellte sich hinter die Zielvereinbarungen. Nun sollen die einzelnen Parteiverbände festlegen, wie viele Frauen sie mindestens auf wichtigen Posten und Wahllisten haben wollen.
Eine ostdeutsche Frau ist Generalsekretärin
Ein Zeichen für mehr Frauen in der Parteiführung war auch die Wahl von Linda Teuteberg zur neuen Generalsekretärin. Die Juristin aus Brandenburg bekam 92,8 Prozent der Stimmen. Sie sprach sich gegen feste Quoten aus – weder für Frauen, noch für Ostdeutsche:
"Ostdeutschland braucht keine Sonderbehandlung und keine milden Gaben. Wir brauchen das Gleiche wie die ganze Republik: Eine neue Politik. Nur schneller, drängender und entschiedener. Osten und Westen stehen vor gleichen Herausforderungen. Wir haben manchmal unterschiedliche Erfahrungen und Prägungen. Die gilt es ernst zu nehmen und zu verstehen."
Hoffnung auf Einzug in ostdeutsche Landtage
Eine Ostdeutsche als Generalsekretärin soll auch Unterstützung sein für die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In allen drei Ländern kämpft die Partei darum, überhaupt wieder ins Parlament zu kommen.
Auch der Spitzenkandidat der FDP in Thüringen, Thomas Kemmerich, hofft auf Rückenwind: "Nicht nur, weil sie Brandenburgerin ist, sondern weil sie auch sehr heikle Themen – Migration, was sie im Bundestag bearbeitet – medial in die Öffentlichkeit bringen kann und auf vermintem Terrain sich sehr sicher bewegt und tolle Aussagen treffen kann, die uns Liberalen sehr gut zu Gesicht stehen."
Klimaschutz: Technologieförderung statt Verbote
Weniger kontrovers, aber dennoch bemerkenswert für die FDP: Die Debatte über Klimaschutz. Hier will sich die FDP profilieren – und absetzen, vor allem von den Grünen. Verbotspartei will hier niemand sein. Statt einer Steuer auf CO2 will die FDP den Zertifikathandel ausweiten. Und vertraut ansonsten auf Fortschritte in der Technologie. Klimapolitiker Lukas Köhler:
"Wir müssen natürlich wirtschaftliches Wachstum, Möglichkeiten und Chancen weiter erreichbar halten. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass das nicht mehr über CO2-Ausstoß funktioniert. Und das ist genau der Unterschied, den wir zu Leuten, die auf Verbote und auf Verzicht setzen, machen wollen."
Europakandidatin Beer geschwächt
Um die anstehenden Europawahlen ging es erst zum Ende des Parteitags. Spitzenkandidatin Nicola Beer griff das Thema China wieder auf:
"Vertrauen wir weiter dem Markt? Oder setzen wir beeindruckt von China auf den Staat? Wollen wir wirklich eine Industriepolitik à la Altmaier, in der selbst die Autoindustrie das Elektroauto nur baut, wenn es Hilfen vom Staat gibt? Das kann doch nicht unsere Antwort sein."
Nach der Rede höflicher Applaus, aber keine Begeisterung. Beer geht geschwächt in den Wahlkampf. Die scheidende Generalsekretärin sicherte sich zwar einen Posten als stellvertretende Parteivorsitzende. Allerdings mit einem schwachen Ergebnis von nur 59 Prozent. | Von Alexander Moritz | In drei ostdeutschen Bundesländern muss die FDP bald darum kämpfen, in den Landtag einzuziehen. Gelingen soll das unter anderem mit Frauenförderung ohne Quote, außerdem mit Klimaschutz ohne Verbote und einer ostdeutschen Migrationspolitikerin als Generalsekretärin. | "2019-04-29T05:11:00+02:00" | "2020-01-26T22:49:20.290000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/bundesparteitag-die-fdp-und-die-frauen-100.html | 416 |
Bildungsschecks in Bayern bisher wenig nachgefragt | Für Bildungsschecks gibt es EU-Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds (Imago)
Moritz Müller, 31, ist der erste Empfänger eines Bayerischen Bildungsschecks. Der Ebersberger arbeitet für ein oberbayerisches Innenarchitektur-Büro:
"Also ich bin hier als Admin beschäftigt, als Quereinsteiger. Ich bin eigentlich gelernter Mediengestalter. Baue hier Webseiten und kümmere mich um alle möglichen Marketing-Sachen. Und um damit fertig zu werden und gut für die Zukunft aufgestellt zu sein, habe ich mich persönlich um Schulungen gekümmert."
Bei der Suche im Internet stieß Müller auf den "bayerischen Bildungsscheck". Den kann jeder Arbeitnehmer in Bayern beantragen, der eine Fortbildungs-Maßnahme zum Thema Digitalisierung plant. So wie Müller:
"Google Analytics wär‘ sehr interessant, da gibt’s demnächst eine Schulung. Auch E-Commerce wäre interessant, weil wir demnächst einen Online-Shop aufziehen. Da würde das passen."
Geld oder Urlaub für Weiterbildung
Vor ein paar Wochen lag der Bildungsscheck in Müllers Briefkasten. Der System-Administrator hat nun zwei Monate Zeit, ihn einzulösen. Die Höhe des Zuschusses: 500 Euro.
"500 Euro sind schon mal ein guter Anfang. Aber die meisten Schulungen kosten so zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Es wird wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass der Arbeitgeber noch was dazugibt."
Das ist auch das Ziel von Kerstin Schreyer, der bayerischen Sozialministerin. Ihr Haus verschickt die Bildungsschecks. Schreyer hofft, damit nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber zu aktivieren:
"Die Betriebe sind gefordert. Und da schadet es nicht, wenn die Politik auch mit unterstützt. Es gibt ja auch aus dem Bund eine Prämie. Und wir schaffen es, diese Lücke, die der Bund hinterlässt, zu schließen, indem wir die Bildungsschecks ausreichen."
Damit geht Bayern einen anderen Weg als viele Bundesländer, die Bildungsurlaub gewähren. Deren Konzept: arbeitsfrei, um sich nicht oder nicht nur während der Freizeit schulen zu müssen. Bayerns Sozialministerin Schreyer behauptet dagegen, Geld für Weiterbildung bringe mehr als Urlaub für Weiterbildung:
"Der Bildungsurlaub hat nicht dazu geführt, dass sich Menschen weiterbilden. Eine Steigerung hat es in den anderen Bundesländern nicht gegeben."
Mehr Initiatoren zur Verbreitung von Bildungsschecks
In Bayern allerdings bisher auch nicht. Zumindest kann oder will Schreyers Ministerium nicht sagen, wie viele Bildungsschecks der Freistaat bereits ausgegeben hat. Klar ist: Der größte Teil der zur Verfügung stehenden 6.000 Schecks steht noch bereit. Deshalb hat Bayern nun die Zahl der Initiatoren erhöht. Also der Berater, die interessierten Arbeitnehmern einen Bildungsscheck vermitteln. Der Initiator sei sehr wichtig, sagt Moritz Müller, denn er habe ihn und seinen Arbeitgeber auf viele weitere Ideen gebracht.
"Also ohne den wüssten wir zum Beispiel nicht, dass wir unseren ausländischen Mitarbeitern auch Sprachkurse ermöglichen können und dafür Zuschüsse kriegen. Das ist schon sehr gut, mit dem erstmal Kontakt aufzunehmen."
In Deutschland ist die Zahl derer, die sich weiterbilden, immer noch viel zu gering. Das liegt auch daran, dass Informationen fehlen. Zum Beispiel über Zuschüsse. Der bayerische Bildungsscheck soll hier als eine Art Initialzündung dienen:
"Unsere Maßnahme ist gezielt für diejenigen, die im Beruf sind und im Beruf bleiben wollen. Die die neuen Herausforderungen der Digitalisierung annehmen und sich weiterqualifizieren wollen. Im Zuge der Digitalisierung verändern sich die Berufe. Und deshalb ist uns wichtig, den Einzelnen mitzunehmen und zu unterstützen."
Natürlich setzt das bayerische Sozialministerium auch deshalb auf die Bildungsschecks, weil es dafür EU-Fördermittel aus dem Topf des Europäischen Sozialfonds (ESF) gibt. Diese Gelder wollte sich Sozialministerin Schreyer auf keinen Fall entgehen lassen. Egal, woher das Geld kommt: Moritz Müller, der Mediengestalter aus Ebersberg, ist als IT-Quereinsteiger offen für jede Qualifizierungs-Maßnahme:
"Ich bin in der IT unterwegs, für mich ist Zertifikate-Sammeln Plicht!" | Von Michael Watzke | Seit August gibt der Freistaat Bayern Bildungsschecks aus. Damit sollen Weiterbildungen zum Thema Digitalisierung gefördert werden. Die Höhe des Zuschusses beträgt 500 Euro. Doch ein großer Teil der 6.000 zur Verfügung stehenden Schecks wurde bisher noch nicht eingesetzt. | "2019-09-16T14:35:00+02:00" | "2020-01-26T23:10:48.243000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/digitale-weiterbildung-bildungsschecks-in-bayern-bisher-100.html | 417 |
Internationales Aushängeschild des NS-Regimes | "Es ist uns gelungen, eine Einführung der Lohnzahlungen für die Feiertage zu erreichen, und vermehrten Schutz gegen Krankheit und Unfallgefahren."
Natürlich war es Propaganda, als Franz Seldte 1935 vor Bergleuten in Bottrop das NS-Regime als eine Regierung pries, die sich um das Wohl der einfachen Arbeiter kümmerte. Doch schlicht gelogen hatte der Reichsarbeitsminister nicht. Zwar hatte Hitler kurz nach seinem Machtantritt Anfang 1933 die Gewerkschaften zerschlagen und damit die Arbeiterschaft ihrer Interessensvertretung beraubt. Anschließend aber hatte seine Regierung die Zahl der Arbeitslosen binnen zwei Jahren von etwa sechs Millionen auf zwei Millionen gesenkt, betont Alexander Nützenadel, Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der HU Berlin.
"Arbeitsmarktpolitik spielte eine sehr große Rolle gleich zu Beginn der Machtergreifung, weil natürlich das große Problem der Arbeitslosigkeit aus der Weltwirtschaftskrise für die Frühphase der nationalsozialistischen Politik sehr wichtig war und die Frage der Neuorganisation von Rentenversicherung, von Sozialversicherung, von Arbeitsmarktsteuerung ein unheimlich wichtiges Feld war für die Etablierung dieses Regimes."
Aufschwung auf Pump
Hatten die sozialen Sicherungssysteme gegen Ende der Weimarer Republik kurz vor dem Kollaps gestanden, füllten sich ihre Kassen wieder, als mehr und mehr Menschen in Lohn und Brot kamen. Auch wenn der Aufschwung ausschließlich auf Pump finanziert war, festigten die guten Arbeitsmarktdaten ganz entscheidend das Ansehen des NS-Regimes. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, ergänzt der deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel, der an der Universität Maastricht Europäische Geschichte lehrt.
"Festhalten wollen wir, dass selbst in westlichen Demokratien wie in Großbritannien oder den USA die Berichterstattung über die Entwicklung in Deutschland keineswegs durchgängig negativ war. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise stießen die NS-Ansätze, Sozialpolitik als Mittel gesellschaftlicher Mobilisierung einzusetzen, immer wieder auf überaus positive Resonanz."
"Es gab ja sehr stark die Vorstellung, wir müssen den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, der die 20er- und 30er-Jahre sehr stark geprägt hat, überwinden und ein neues Sozialmodell schaffen."
Alle Industrieländer suchten damals nach neuen Formen des sozialen Ausgleichs. Die USA setzen in ihrem "New Deal" auf die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates und eine Stärkung der Gewerkschaften. Aber nach einem kurzen Aufschwung stieg die Arbeitslosigkeit seit 1937 wieder an. Die Sowjetunion behauptete, ein demokratisches System von Arbeiterräten erfunden zu haben. Tatsächlich schufteten die Werktätigen in einer Kommandowirtschaft. Oberflächlich betrachtet erschien der deutsche Ansatz dagegen geradezu idyllisch. Die Gewinne der Unternehmen sprudelten, ab 1936 gab es Vollbeschäftigung und niemand streikte. Denn die Tarifparteien kämpften nicht mehr wie früher erbittert um Löhne und Arbeitszeiten. Die wurden stattdessen von sogenannten "Treuhändern der Arbeit" festlegt, die die Deutsche Arbeitsfront eingesetzt hatte, ohne Vorstände oder Belegschaften nach ihrem Einverständnis zu fragen. Mit solchen Zwangsmaßnahmen wurden alle Unternehmen zu Betriebsgemeinschaften formiert. Soziale Konflikte konnten gar nicht erst aufkommen, weil die Beschäftigten keine Gelegenheit mehr bekamen, frei für ihre Interessen einzutreten, erklärt Alexander Nutzenadel.
"Die Planungen für die Wirtschaftsordnung, die dann die Ressourcen für den Zweiten Weltkrieg bereit stellen sollte, hingen natürlich sehr stark davon ab, ob man Zugriff hat auf den Arbeitsmarkt, auf die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital, auf den Frieden innerhalb der Betriebe und deswegen waren die verschiedenen Institutionen, nicht nur das Reichsarbeitsministerium, sondern auch die Deutsche Arbeitsfront und andere Institution sehr daran interessiert, hier Zugriff drauf zu haben."
O-Ton Franz Seldte: "Von den Arbeitskameraden muss nun allerdings in einer Zeit, wo wir alle Kräfte des deutschen Volkes anspannen müssen, um innen und außen vorwärtszukommen, erhöhter Einsatz und gesteigerte Leistung gefordert werden."
Verhaltene Zustimmung
Um die Rüstungsproduktion hochzufahren, weitete das Reichsarbeitsministerium die täglichen Arbeitszeiten in Deutschland Schritt für Schritt aus, bis sie 1943 schließlich 14 Stunden erreichten. Proteste gab es keine, nicht zuletzt, weil die Versorgungslage auch im Krieg stabil blieb. Die dafür benötigten Nahrungsmittel und Rohstoffe raubte die Wehrmacht in den von ihr besetzten Staaten. Aber selbst in einigen dieser Länder verschafften sich die Nationalsozialisten zeitweilig eine verhaltene Zustimmung in Teilen der Bevölkerung durch sozialpolitische Maßnahmen. Zum Beispiel in Belgien.
"Man muss sagen, dass die Militärverwaltung ursprünglich keine Reform der belgischen Sozialversicherung geplant hat, aber einfach sehr schnell die Möglichkeit erkannt hat, durch die Einrichtung einer gesetzlichen Arbeitslosen- und Krankenversicherung einen Propagandaeffekt zu erzielen und so die Legitimität der Besatzungsherrschaft zu stärken."
Als die Wehrmacht 1940 Belgien überfallen hatte, erzählt die Historikerin Sabine Rudischhauser von der Freien Universität Brüssel, fühlten sich die Menschen an den Ersten Weltkrieg erinnert, als deutsche Truppen das Land jahrelang verwüstet und Städte wie Lüttich weitgehend zerstört hatten. Diesmal aber war der Krieg in Belgien nach zehn Tagen vorbei. Und dann führte die Besatzung auch noch Sozialversicherungen ein, für die belgische Gewerkschaften zuvor lange vergeblich gekämpft hatten. Sabine Rudischhauser nennt diese Politik eine Charmeoffensive der Nationalsozialisten. Angesichts derer hielten viele Belgier Kollaboration zunächst für aussichtsreicher als Widerstand.
"Das Ende ist erreicht im März '42 mit der Einführung der Zwangsarbeit und den beginnenden Deportationen belgischer Arbeiter, Zwangsarbeiter nach Deutschland. Das ist vor allem vor dem Hintergrund der Deportation belgischer Zwangsarbeiter im Ersten Weltkrieg so dramatisch und so traumatisch, dass es diese Charmeoffensive beendet. Danach geht nichts mehr."
Je mehr Deutschland militärisch in die Defensive geriet, desto brutaler beuteten die Nazis alle verfügbaren Arbeitskräfte aus, im Reich wie in den besetzten Ländern. Millionen Arbeiter in ganz Europa verloren im Krieg ihr Leben oder zumindest ihre Wohnungen und ihre Arbeitsplätze in den Fabriken, die zerbombt wurden. Nachhaltige Verbesserungen hat die nationalsozialistische Sozialpolitik nirgendwo gebracht. Aber sie hat erstaunlich lange dazu beigetragen, das Regime zu stabilisieren. | Von Andreas Beckmann | Während der NS-Zeit versuchte das Reichsarbeitsministerium, sich über die internationale Darstellung seiner sozialpolitischen Maßnahmen zu profilieren. Nachhaltige Verbesserungen brachte die nationalsozialistische Sozialpolitik zwar nirgendwo. Aber sie hat erstaunlich lange dazu beigetragen, das Regime zu stabilisieren. | "2016-03-24T20:10:00+01:00" | "2020-01-29T18:20:34.074000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/sozialpolitische-massnahmen-internationales-aushaengeschild-100.html | 418 |
Der Roboter als Sensibelchen | Roboter sollen künftig kollaborativ mit Menschen in der Fabrik zusammenarbeiten. (Karl-Josef Hildenbrand / dpa )
"Schauen Sie mal in eine digitale Fabrik. Ein Fahrzeug wird produziert. Sie sehen viele Roboter, die die Fertigungsschritte unterstützt haben, wenig Menschen, die noch eingreifen müssen." So beschreibt Clemens Dannheim, Chef der Münchner Softwareschmiede Objective GmbH, die Situation in der digitalen Fabrik. Menschen und Roboter arbeiten dort zusammen. Und diese Zusammenarbeit stellt Softwareentwickler, Hardwarebauer und Fabrikplaner vor ganz neue Herausforderungen. Was ändert sich da gerade beim Robotereinsatz, Peter Welchering? "Aus dem Roboter wird der sogenannte Cobot. Der Name leitet sich her aus der Verbindung von Collaboration, also Zusammenarbeit, und Robot. Mensch und Roboter sind in demselben Arbeitsraum. Und das ist ja längst nicht nur in der digitalen Fabrik, wie von Clemens Dannheim beschrieben, der Fall. Roboter als fahrerlose Transportsysteme rollen ja gerade aus der Fabrik raus in den öffentlichen Verkehrsraum. Roboter in der Pflege nehmen auch da den Menschen die schweren Lasten ab, beim Umbetten von Patienten, beim Baden. Und da darf es natürlich nicht passieren, dass ein Roboter einem Menschen Schaden zufügt. Cobots so ausgestattet werden, müssen in Umgebungen arbeiten, dass das Zusammenwirken mit Menschen sicher gestaltet werden kann. Da gibt es schon ganz gute Konzepte. Aber für einige Robotereinsätze, für einige Szenarien muss da auch noch kräftig in die Weiterentwicklung investiert werden." Über die notwendigen Weiterentwicklungen sprechen wir gleich noch. Zunächst geht es um den aktuellen Stand der Technik beim sicheren Cobot-Einsatz. Und der sieht so aus: "Der Idealfall ist natürlich immer, dass er gar nicht kollidiert. Aber man kann das nicht immer hundertprozentig verhindern. Und dann müssen wir halt schauen, dass da so wenig wie möglich passiert."
Nachrüstung mit einer intelligenten Haut
Beschreibt Michael Weinmann, Experte für Maschinensicherheit beim Automatisierungsunternehmen Pilz GmbH, das Ziel der Sicherheitsanalysen beim Robotereinsatz. Das Problem dabei: Roboter sind eigentlich ziemlich dumm. Die bislang eingesetzten Standardroboter erst recht. Sie müssen nachgerüstet werden – mit Sicherheitssoftware, vor allen Dingen aber mit sehr viel Sensorik. Die steckt dann in der künstlichen Haut, die dem Roboter sozusagen übergestreift wird. Michael Weinmann erläutert das so: "Der Roboter selbst erkennt es ja nicht. Der Roboter selbst hat ja die Sensorik dann außen drauf. Die Haut erkennt es dann. Über eine Sicherheitssteuerung bekommt dann der Roboter ein Stoppsignal. Die Haut erkennt quasi, dass sich eine Person nähert oder dass sich der Roboter einer Person nähert, und stoppt dann den Roboter rechtzeitig. Es ist allerdings ein Standardroboter, ganz normal. Wenn man den ohne die Haut laufen lassen würde, wäre es ein ganz normaler Roboter." Der so nachgerüstete Roboter muss es also rechtzeitig fühlen, dass es zu einer Kollision kommen kann und dann reagieren. Und das wird über die sogenannten Roboter-Parameter programmiert. "Roboter-Parameter können sein die Kollisionserkennung im Roboter selbst, die Geschwindigkeitsüberwachung vom Roboter, dann haben wir noch eine Raumüberwachung im Roboter, der einfach erkennt, bestimmte Räume darf er nicht anfahren. Das kann man im Roboter- Programm einstellen. Es gibt viele Möglichkeiten, bis hin zu einem sicheren Stopp letztendlich, der Roboter still setzt." Vom Erkennen der Gefahr und einer möglichen Kollision bis zum Stopp darf natürlich nicht allzu viel Zeit vergehen. Ein Serviceroboter, der nur leichte Lasten hebt, kann da natürlich schneller zum Stillstand gebracht werden als ein fahrerloses Transportsystem mit tonnenschweren Stahlträgern als Ladung. Aber auch da ist Schnelligkeit Trumpf. "Das sind Reaktionen im Millisekunden-Bereich, wo dann erkannt wird, dass eine Person rein läuft bis die Applikation steht. Hängt immer davon ab, was haben wir denn oben auf diesem fahrerlosen Transportsystem. Das kann im unteren Sekundarbereich sein, dass dieses fahrerlose Transportsysteme von der Detektion der Person bis zum Stillstand." Sicherheitskonzepte für Cobots sind eine recht individuelle Angelegenheit. Jeder Einsatzort, ob im Pflegeheim, in der Fabrik, auf der Straße oder in Bürogebäuden muss jeweils für sich modelliert und simuliert werden. "Im Idealfall haben wir ja schon eine Risikobeurteilung beziehungsweise wir haben diese Koalitionspunkte schon mit dem Kunden oder mit dem Hersteller ermittelt. Dann gehen wir an die Anlage ran und versuchen, so realitätsnah wie möglich die Kollision zu simulieren. Es geht natürlich nicht immer hundertprozentig, aber wir schauen, das muss so nah wie möglich an der realen Kollision drankommen."
Kollision ist nicht immer vermeidbar
Und so eine Kollision ist in der Realität nicht immer vermeidbar. Dann aber muss die Sicherheitssteuerung des Roboters so programmiert sein, dass es höchstens zu einem harmlosen Knuff – unterhalb der Schmerzgrenze kommen kann. Deshalb wird genau überprüft, welche Kräfte bei allen möglichen Zwischenfällen mit dem Roboter auf den Menschen einwirken können. Das machen Michael Weinmann und seine Kollegen mit einem Kollisionsmessset. "Das Kollisionsmessset besteht aus dem Kollisionsmessgerät, also dem Kraft-Messgerät. Wir haben dann noch Druckmess-Folien mit dabei, die wir dann bei der Kollisionsmessung mit auflegen auf dieses Kraft-Messgerät. Und somit messen wir dann die Kollision, die Kräfte und Drücke, die bei der Kollision entstehen." Und mit diesen Messergebnissen wird dann die Einsatzumgebung für den Roboter genau eingerichtet. Da wird also nicht nur der Roboter programmiert, damit aus ihm ein einfühlsamer Cobot wird. Was passiert da noch, Peter Welchering?
"Das geht in der Tat über die Programmierung, mit der die Roboter-Parameter optimiert werden, weit hinaus. Zu Beispiel werden – ganz klassisch – bestimmte Teile des Roboters mit Schaumstoff ausgestattet. Das vermindert natürlich erheblich den Druck der ausgeübt wird, wenn da eine Kollision zwischen Mensch und Roboter passiert. Die anderen Maßnahmen sind eben dann noch Sensorik-Haut, Lichtschranken, Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung und dreidimensionale Mustererkennung. Mit der kann der Roboter, der Cobot, dann die Bereiche erkennen, die er nicht betreten oder befahren darf, weil da gerade ein Warnsignal angebracht ist, weil der einen Menschen erkennt oder weil dieser Bereich prinzipiell gesperrt ist. Prinzipielle Sperrungen lassen sich natürlich über sehr viele Methoden absichern, von der Lichtschranke über Gebäudenavigation."
Zurzeit passiert da ja sehr viel bei der Mustererkennung. Da sollen die Roboter ja aus Gefahrensituationen lernen können und sie anschließend eben vermeiden. Gibt es denn da schon den Fabrikeinsatz? "Es gibt Pilotprojekte in diesem Bereich. Aber da ist wirklich noch viel Entwicklungsarbeit erforderlich. Und das ist über eine Nachrüstung der bisher eingesetzten Standardroboter auch in vielen Fällen nicht zu erreichen. Da braucht es schon eine neue Roboter-Generation." Aber an dieser neuen Roboter-Generation wird ja gearbeitet. Mit welchen Verfahren denn? "Da handelt es sich in erster Linie um Mustererkennung und um Methoden maschinellen Lernens. Und das ist natürlich ganz anders strukturiert als die bisherigen Trainingsmethoden für Roboter, bei denen ein Mensch mehr oder weniger feste Abläufe mit dem Roboter eingeübt hat. Und dann kam in der zweiten Phase das Trainieren des Roboters in Gefahrensituation und anderen Situationen, die man so als Nicht-Standard-Situation bezeichnet, hinzu. Auch da hatte der Roboter vorgegeben Abläufe, die alle auf Kollisionsvermeidung ausgerichtet waren." Wird diese Kollisionsvermeidung denn jetzt weniger wichtig?
"Kollisionsvermeidung bleibt wichtig, aber die Entwickler sehen: Es gibt Situationen, da klappt das nicht so ganz. Und dann soll der Roboter eben möglichst wenig Schaden anrichten. Und möglichst wenig Schaden heißt, er greift vielleicht mit seinem Plastikarm zu einem Becher. Wenn jetzt ein Mensch auch nach diesem Becher greift, steht die Kollisionsvermeidung von Roboterhand und Menschenhand natürlich an erster Stelle. Aber für den Fall, dass so eine Kollision nicht vermeiden werden kann, hat der Roboter Alternativen gelernt. Und diese Alternativen sind darauf ausgerichtet, dass die beiden Hände sich dann nicht gegenseitig weg boxen, also ziemlicher Druck entsteht, sondern aneinander vorbei geführt werden. Und da wird sowohl mit neuronalen Netzen, als auch mit Deep-Learning Verfahren experimentiert." | Von Peter Welchering | Wenn Roboter und Menschen zum Beispiel in Fabriken parallel nebeneinander arbeiten sollen, dann muss dafür Sorge getragen werden, dass kein Mensch zu Schaden kommt - die Konzepte gehen dabei über die Kollisionsvermeidung weit hinaus. | "2019-03-16T16:30:00+01:00" | "2020-01-26T22:42:39.702000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/mensch-roboter-interaktion-der-roboter-als-sensibelchen-100.html | 419 |
Bauschutt soll endlich recycelt werden | Neue Altlasten sind der Albtraum der Kommunen und deswegen verwenden sie bisher fast keine recycelten Baustoffe, verbrauchen lieber natürlich Ressourcen. (Julian Stratenschulte/dpa)
Bauschutt und Erdreich landen heute knapp zur Hälfte in alten Hausmülldeponien und Tagebauen. Doch die sind jetzt alle voll. Und spezielle Bauschuttdeponien sind teuer, ebenfalls fast voll. Eine Mantelverordnung für mineralische Baustoffe soll jetzt bringen, was eigentlich alle wollen: "Ziel ist es, den Einsatz von Recyclingbaustoffen zu ermöglichen und die Einsatzbereiche deutlich zu erweitern."
Helge Wendenburg ist Abteilungsleiter im Bundesministerium für Bauen und Umwelt. Mit einer Mantelverordnung will sein Bauministerium endlich bundeseinheitlich regeln, wie recycelter Bauschutt verwendet werden werden darf. 13 Jahre arbeiten Beamte wie Wendenburg an der Verordnung. Denn es könne viel schiefgehen, wenn aus geschredderten Straßen und Gebäuden neue Straßen und Schulen werden sollen: "Wir müssen doch, wenn wir Recyclingbaustoffe einsetzen wollen, und das wollen wir, das so gestalten, dass wir sicher sein können, dass am Ende aus der Verwendung dieser Stoffe keine Gewässerverunreinigung folgen und dass wir keine neuen Altlasten produzieren. Das ist unser Maßstab."
Akzeptanz von Recycling-Baustoffen erhöhen
Neue Altlasten sind der Albtraum der Kommunen und deswegen verwenden sie bisher fast keine recycelten Baustoffe, verbrauchen lieber natürlich Ressourcen. Um die Akzeptanz von Recycling-Baustoffen zu erhöhen, will die Mantelverordnung ungefährliche Recycling-Baustoffe zu "Produkten" erklären: "Das heißt, jede Kommune ist sich sicher, mit diesen Stoffen werde ich nicht in das Risiko laufen."
Darüber hinaus hat Helge Wendenburg für ein penibles Grenzwertverfahren gesorgt: Für alle Recyclingbaustoffe muss wissenschaftlich ermittelt werden, wie viele Schadstoffe ausgewaschen werden durch Regen oder Grundwasser. Werden geltende Grenzwerte im Grundwasser überschritten, darf das Material nicht in Grundwassernähe verwendet werden. Die Grenzwerte der geplanten Verordnung seien zu streng, klagt die Industrie. Michael Knipper, Chef des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie, sagt: Strenge Grenzwerte machten Recycling-Produkte noch teurer, ihre Verwendung noch unattraktiver. "Wenn wir wirklich die Akzeptanz von recyceltem Material erhöhen wollen, müssen wir auch sagen, da ist ein praktikabler und und praxisnaher Wert. Wir können nie den neusten Stand der Wissenschaft und Technik berücksichtigen."
Verwendungsverbot für eine Vielzahl von Baustoffen befürchtet
Der Umwelt-Ministerialdirektor Helge Wendenburg ringt um Fassung: "Da ist jetzt drei Mal gefallen, wir würden wissenschaftlich abgeleitete Werte nehmen. Ja, mein Gott, was ist denn die Alternative?! Unwissenschaftlich Abgeleitete? Das heißt geschossene, gegriffene Werte, die ich mir mal so angucke? Nein."
Die Bauindustrie befürchtet, sagt Lobbyist Knipper, dass sie wegen der vorgesehenen Grenzwerte einige Recycling-Produkte nicht mehr wird verkaufen können: "Das bedeutet de facto ein Verwendungsverbot für eine Vielzahl von Baustoffen."
Rechtssicherheit gefordert
Abteilungsleiter Wendenburg hält dagegen, man könne gern über Grenzwerte reden, aber nur mit wissenschaftlichen Argumenten: "Dafür gibt es 1.000 Seiten an wissenschaftlichen Begründungen. Und wenn daraus sich ergibt, dass wir Werte verändern müssen, dann kann man das machen. Aber zu sagen, der Wert ist aber nicht praktikabel, wenn ich den Wert einhalten soll, dann kann ich den Stoff nicht mehr verwerten - sorry, dann ist das so!"
Der Entsorgungsunternehmer Andreas Heilmann von der GP Papenburg Entsorgung Ost, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung fordert daher eine Art Blankoscheck: "Wir machen die Branche tot, wenn sich eine Einstellung durchsetzt: Sei mal lieber vorsichtig. Wir wissen nicht, was der Gesetzgeber in 20 Jahren zu diesem Produkt, zu diesem Recyclat sagt. Wir brauchen Rechtssicherheit! Dann muss es eben heißen: Ja, wir haben neue Erkenntnisse gewonnen, vor 20 Jahren war das aber der Stand der Technik, war vollkommen in Ordnung und deswegen bleibt das Zeug jetzt bitte auch da drin, wo es ist." | Von Philip Banse | Was passiert eigentlich mit dem ganzen Bauschutt, wenn Häuser abgerissen oder Straßen erneuert werden? Dieser Bauschutt ist immerhin der größte Abfallquelle Deutschlands. 192 Millionen Tonnen fallen jedes Jahr an: Wertvolle Rohstoffe, aus denen sich wieder Straßen, Häuser und Schulen bauen lassen. An der passenden Verordnung basteln Politiker seit 13 Jahren. | "2015-12-08T11:35:00+01:00" | "2020-01-30T13:13:08.416000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/aus-abfall-wird-rohstoff-bauschutt-soll-endlich-recycelt-100.html | 420 |
"Nicht das letzte Kapitel in der unendlichen Geschichte Griechenlands" | Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
"Wer jetzt glaubt, das ist jetzt das letzte Kapitel in der unendlichen Geschichte Griechenlands, wird sich bald eines besseren belehrt sehen", so Bosbach im Deutschlandfunk. Diesen Weg, so der CDU-Politiker, werde er nicht mitgehen.
Bosbach betonte, er kenne kein Land, das in den letzten Jahrzehnten so viel Unterstützung erhalten habe wie Griechenland. Das gelte sowohl für direkte Zahlungen, etwa aus dem Landwirtschaftsfonds der EU, wie auch für Kredite in Milliardenhöhe. Damit lasse sich das Problem einer schwachen Volkswirtschaft aber nicht lösen. Das zeige sich auch daran, dass die Situation in den vergangenen fünf Jahren nicht besser, sondern schlechter geworden sei.
Bosbach erinnerte daran, dass auch die Regierungen in anderen Krisenstaaten unpopuläre Entscheidungen hätten treffen müssen. Falls Griechenland aus der Eurozone austrete, müsse die EU dem Land bei der Umstellung auf eine neue Währung helfen, allerdings nur für einen begrenzten Zeitraum. Dann müsse Griechenland das gleiche tun wie alle anderen auch: Nämlich zu lernen, auf der Grundlage der eigenen volkswirtschaftlichen Kraft zu leben.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Das ist nicht das Ende des Griechenland-Dramas. Aber dieses Ende ist möglicherweise nun in Sicht - na ja, zumindest ein vorläufiges Ende. Die griechische Vorschlagliste für Steuererhöhungen und Einsparungen ist in Brüssel gestern auf, na ja, sagen wir mal, Wohlwollen getroffen. Aber noch ist die Kuh nicht vom Eis.
Bei uns am Telefon Wolfgang Bosbach von der CDU. Guten Morgen, Herr Bosbach.
Wolfgang Bosbach: Guten Morgen, Herr Kapern.
"Die unendliche Geschichte Griechenland"
Kapern: Noch sind keine neuen Kredite für Griechenland freigegeben. Ist das für Sie eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Bosbach: Ja gut, meine Haltung ist bekannt. Ich muss sie auch nicht permanent wiederholen. Aber im Moment sieht es danach aus, dass es so sein wird am Ende, wie es seit fünf Jahren immer ist: Es wird bis zur letzten Sekunde verhandelt, es kommt dann zu einer Einigung, Griechenland unterschreibt das, was das Land unterschreiben muss, um an neues frisches Geld der Eurozone zu kommen. Dann müssen einige Parlamente, so auch der Deutsche Bundestag noch zustimmen der Auszahlung der letzten Tranche des zweiten Hilfspaketes von 7,2 Milliarden Euro, und dann wird man feststellen, dass Griechenland leider neues Geld brauchen wird, denn in den Monaten Juli und im August und in den Folgemonaten kommen sehr hohe Zins- und Tilgungsleistungen auf Griechenland zu. Das heißt, wer jetzt glaubt, das ist das letzte Kapitel der unendlichen Geschichte Griechenlands, der wird sich bald eines Besseren belehren lassen müssen.
Kapern: Deuten darauf die Äußerungen der Bundeskanzlerin mit Blick auf einen möglichen Schuldenschnitt schon hin?
Bosbach: Wir haben bis jetzt immer gesagt, einen Schuldenschnitt wird es nicht geben. Wir erzählen ja auch, na was heißt wir; ich habe das noch nie erzählt, aber die meisten erzählen ja auch, es sind nur Kredite. Bis jetzt haben wir ja noch nichts bezahlt und Griechenland wird diese Kredite auch zurückzahlen oder zurückzahlen können. Ich glaube nicht daran. Ich bin nicht mehr bereit, das zu erzählen, weil Griechenland mittlerweile einen Schuldenstand hat, der trotz Schuldenschnitt von über 100 Milliarden Euro zu Gunsten Griechenlands genauso hoch ist wie beim Ausbruch der Eurokrise. Griechenland wird mangels wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit die Schulden niemals tilgen können. Das heißt, wir haben bis jetzt immer einen Schuldenschnitt, einen zweiten Schuldenschnitt ausgeschlossen. Der erste war zu Lasten privater Gläubiger und es gibt auch noch einen verdeckten Schuldenschnitt zu Lasten öffentlicher Gläubiger. Käme es wiederum zu einem Schuldenschnitt, dann wäre das genau das Gegenteil von dem, was wir den Wählerinnen und Wählern immer versichert haben, denn dieser Schuldenschnitt ginge dann zu Lasten der Steuerzahler in den anderen Eurostaaten.
"Auch andere Regierungen mussten höchst unpopuläre Entscheidungen treffen"
Kapern: Nun haben wir vor ein paar Minuten den früheren griechischen Außenminister Dimitrios Droutsas am Telefon gehabt, der noch mal darauf hingewiesen hat, obwohl er kein Parteifreund von Alexis Tsipras ist, mit welch großen neuen Belastungen Tsipras auf seine Griechen zugeht. Das summiert, wenn ich mich jetzt an die Zahlen richtig erinnere, sich auf die Summe von acht Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Eine Liste, die er dort vorgelegt hat mit Steuererhöhungen und Erhöhungen der Krankenkassenbeiträge und so weiter. Ist das in Ihren Augen überhaupt nichts wert, wenn ein Ministerpräsident seinem eigenen Volk solche schweren Lasten aufbürdet?
Bosbach: Das ist das gleiche wert, wie es in den anderen Staaten auch war, die erhebliche Anstrengungen unternehmen mussten, um den Staatshaushalt zu konsolidieren. Das gilt nicht nur für die baltischen Staaten, das gilt auch für andere Staaten in der EU und in der Eurozone. Auch da mussten die Regierungen höchst unpopuläre Entscheidungen treffen, um Einnahmen und Ausgaben wieder ins Lot zu bringen.
Herr Tsipras, Herr Varoufakis und die anderen Helden in Griechenland haben sich doch selbst in eine ausgesprochen schwierige Lage manövriert, denn sie haben die Wahl gewonnen mit Wahlversprechen, von denen sie wissen mussten, dass Griechenland nie und nimmer aus eigener Kraft in der Lage sein würde, diese Wahlversprechen auch seriös zu finanzieren.
Kapern: Das soll ja anderen Parteien mit beispielsweise dem Versprechen der Einführung einer Ausländermaut auch schon so gegangen sein.
Bosbach: Wir sprechen jetzt über Griechenland. Meine Begeisterung über die Maut, können wir auch gerne drüber telefonieren, hält sich in Grenzen. Sie wissen, warum wir als CDU zugestimmt haben, weil das eine Bedingung für den Koalitionsvertrag der CSU war. - Jetzt weiter mit Griechenland. Jetzt ist die Regierung ins Amt gewählt worden und dann hat man versucht, die Steuerzahler aus anderen Ländern zur Kasse zu bitten für diese Wahlversprechen, und dieser Versuch ist nicht oder nicht in dem erhofften Maße gelungen und jetzt muss Tsipras sich ehrlich machen, muss vor das Parlament treten und muss sagen, wir müssen Maßnahmen ergreifen, die im Gegensatz zu dem stehen, was wir den Menschen bei den Wahlen versprochen haben, und das ist mit den von Ihnen erwähnten Belastungen verbunden.
Kapern: Und genau dazu scheint er doch bereit zu sein.
"Kein Land hat so viel Hilfe bekommen wie Griechenland"
Bosbach: Ja!
Kapern: Warum unterstützen Sie ihn dann nicht?
Bosbach: Ich versuche es noch einmal. Es gibt kein Land, in der Eurozone sowieso - ich kenne auch kein Land weltweit -, das so viele internationale Hilfe bekommen hat wie Griechenland. Das gilt für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Griechenland war jahrelang an der Spitze, gemeinsam mit Spanien, der Empfängerländer. Elmar Brok hat gestern gesagt, Griechenland hat über 100 Milliarden Euro in dieser Zeit bekommen. Jetzt ist Polen das größte Empfängerland, aber Griechenland ist immer noch an zweiter Stelle. Es geht nicht um Kredite; das sind echte Zahlungen an Griechenland, Kohäsionsfonds, Landwirtschaft und so weiter.
Griechenland hat mittlerweile etwa 240 Milliarden Euro Kredite von öffentlichen Gläubigern bekommen. Der Schuldenstand dürfte bei gut 320 Milliarden Euro insgesamt liegen. Griechenland hat einen Schuldenschnitt von 103 Milliarden Euro zu Lasten privater Gläubiger erhalten. In einer solchen Lage immer weitere Milliarden-Hilfen von der Eurozone zu erwarten oder zu verlangen, je nach Betrachtungsweise, bedeutet, dass ohne Ende gezahlt werden wird, genauer gesagt gezahlt werden muss, denn wir sind in folgender Situation: Griechenland sagt, wenn ihr wollt, wenn ihr gläubiger wollt, dass wir Zinsen und Tilgung leisten, dann müsst ihr uns schon das Geld dafür geben, damit wir diese Kredite zurückzahlen können, und damit setzen wir ein Finanzierungskarussell in Gang, von dem ich persönlich nicht glaube, dass sich das jemals zu Ende drehen wird. Wir werden immer weiter zahlen müssen. Wer das für richtig hält, der mag mit Ja stimmen. Ich werde diesen Weg jedenfalls nicht mitgehen.
Und dass unpopuläre Entscheidungen getroffen werden müssen, ist keine Spezialität des Parlaments in Griechenland. Denken Sie mal an die Regierung Schröder-Fischer. Die haben eine ganze Reihe von unpopulären Maßnahmen treffen müssen, weil wir beim Regierungswechsel Schröder-Merkel über fünf Millionen Arbeitslose hatten. Auch nicht alle Entscheidungen, die damals getroffen worden sind in Deutschland, haben den ungeteilten Beifall des Publikums bekommen.
Kapern: Herr Bosbach, eine Frage habe ich noch. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Was ist falsch an diesem Satz?
Bosbach: Der Euro ist eine Währungseinheit. Der Euro ist nicht Europa. Es gibt viele Länder in Europa, die sind noch nicht einmal Mitglieder der Europäischen Union. Es gibt Mitgliedsländer der EU, die haben eine eigene Währung, stellen Sie sich das mal vor, wie Dänemark oder England. Selbstverständlich gehören die zu Europa. Europa ist für mich nicht in erster Linie eine Währungseinheit, sondern ist Frieden, ist Freiheit, ist Binnenmarkt.
Kapern: Solidarität auch?
Bosbach: Ja selbstverständlich! Deswegen habe ich ja gerade erwähnt: Kein Land hat so viel Solidarität erfahren wie Griechenland. Welches Land in der EU, Herr Kapern, kennen Sie, was in den letzten Jahrzehnten mehr finanzielle Hilfe bekommen hat als Griechenland?
"Problem einer ineffizienten Staatsverwaltung"
Kapern: Keines!
Bosbach: Sehen Sie. Und da kann man doch nicht ernsthaft sagen, die griechischen Probleme sind auf mangelnde Solidarität Europas zurückzuführen. Die Probleme Griechenlands liegen in einer leistungsschwachen Volkswirtschaft, die nicht genügend exportstark ist, nicht genügend wettbewerbsfähig ist, und deswegen sollte man auch nicht glauben, dass die ständige Zahlung von Milliarden zu Gunsten Griechenlands an diesen Problemen des Landes etwas ändert. Mit weiteren Milliarden-Zahlungen lösen Sie nicht das Problem einer ineffizienten Staatsverwaltung, und das gilt nicht nur für die Steuerverwaltung oder für fehlende Grundbücher.
Kapern: Und wenn Griechenland erst mal aus der Eurogruppe ausgetreten ist, dann braucht Brüssel keinen einzigen Euro mehr nach Athen zu überweisen.
Bosbach: Wenn Griechenland aus der Eurozone austreten sollte, wird man dem Land helfen müssen, weil nicht im Interesse der Regierung, sondern im Interesse von elf Millionen Griechinnen und Griechen. Dann wird man ihm helfen müssen bei der Überwindung der Umstellungsschwierigkeiten auf eine neue Währung, aber für einen begrenzten Zeitraum. Und dann muss Griechenland mit einer eigenen Währung exakt das machen, was alle anderen Länder mit einer eigenen Währung auch machen müssen, nämlich leben auf der Basis der eigenen volkswirtschaftlichen Kraft und der Steuern, die in dieser Volkswirtschaft erwirtschaftet werden, und man muss vor allen Dingen das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen, denn man wird nur dann wieder kreditfähig, wenn die Gläubiger auch die sichere Gewissheit haben, dass sie die Kredite, die sie ausreichen, eines Tages wieder zurückbekommen. Es fehlt Griechenland an dieser Marktfähigkeit. Wir nehmen jetzt Griechenland seit fünf Jahren vom Markt, wir finanzieren dieses Land mit erheblichen Mitteln der Eurozone und des IWF. Aber die Situation ist nicht besser geworden, sie ist vielmehr schlechter geworden, und das ist jedenfalls ein Sachverhalt, der unstreitig ist.
Kapern: Geben Sie mir die Chance, mich für dieses Gespräch zu bedanken und Ihnen einen schönen Tag zu wünschen, denn die Nachrichten rauschen heran. In wenigen Sekunden meldet sich der Kollege mit den aktuellsten Meldungen. Ich sage jedenfalls danke für das Gespräch und Ihnen einen guten Tag.
Bosbach: Das wünsche ich Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Wolfgang Bosbach im Gespräch mit Peter Kapern | Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach hat sich erneut gegen weitere Milliardenkredite für Griechenland ausgesprochen. Er sagte im Deutschlandfunk, damit setze man nur ein Zahlungskarussell in Gang, in dem man immer neue Hilfen leisten müsse. | "2015-06-23T07:15:00+02:00" | "2020-01-30T12:43:34.198000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-hilfen-nicht-das-letzte-kapitel-in-der-100.html | 421 |