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Von Bürgermeistern und Kaninchenzüchtern
Tageszeitungen an einem Kiosk in Köln (imago | future image) Lokale Nachrichten, Geschichten aus dem unmittelbaren Umfeld und gut recherchierte Informationen über die kommunale Politik – solche Inhalte sind zentraler Bestandteil vieler Zeitungen in Deutschland. Deren Berichterstattung ist elementar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Kontrolle demokratischer Institutionen. Untersuchungen zeigen immer wieder, welchen hohen Stellenwert die Neuigkeiten aus der direkten Umgebung bei Lesern haben. Doch in vielen Regionen hat Lokaljournalismus keinen guten Stand: Redaktionen werden zusammengelegt oder verschwinden ganz. Verlage reagieren so auf sinkende Einnahmen durch Auflagenrückgang und ein schwaches Anzeigengeschäft. Nun haben Medienwissenschaftler der Uni Trier die Qualität der Lokalberichterstattung deutscher Zeitungen und Onlineangebote untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis, "dass der Lokaljournalismus sich zwar gegenüber früheren Defiziten verbessert hat, etwa im Bereich der Themenvielfalt und Unabhängigkeit". Häufig werde aber noch immer eher unkritisch über lokales Geschehen berichtet. Die Leser könnten außerdem noch stärker eingebunden werden, so die Verfasser der Studie. Welche Bedeutung hat für Sie der Lokaljournalismus? Welche Qualität und welche Mängel sehen Sie? Fragen, die wir mit den Hörerinnen und Hörern diskutiert haben in @mediasres im Dialog.
Moderation: Brigitte Baetz
Forscher der Uni Trier haben die Qualität der lokalen Berichterstattung deutscher Zeitungen und Onlineangebote untersucht. Ihr Ergebnis: Die Berichterstattung hat sich verbessert, ist aber oft zu unkritisch. Über den aktuellen Lokaljournalismus in Deutschland haben wir diskutiert in @mediasres im Dialog.
"2018-09-28T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:08.592000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mediasres-im-dialog-von-buergermeistern-und-100.html
528
"Fahrverbote in Innenstädten sind das letzte Mittel"
Die SPD-Politikerin Kirsten Lühmann (imago / Müller-Stauffenberg) Ann-Kathrin Büüsker: 8,5 Millionen Autobesitzerinnen und Besitzer in Europa sind vom VW-Abgasskandal betroffen. Doch sie erhalten im Gegensatz zu den Kunden in den USA keine Entschädigung. Die EU-Verbraucherschutzkommissarin möchte das gerne ändern. Ihr fehlt allerdings die rechtliche Handhabe. Und so stehen die Kunden am Ende als die Gekniffenen da. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Dieser Frage geht ein Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag nach. Heute wird Bundeskanzlerin Merkel dort sprechen, voraussichtlich als letzte Zeugin. Die Frage, inwieweit fehlende Distanz zwischen Politik und Automobilindustrie in dieser ganzen Geschichte eine Rolle gespielt haben, die möchte ich nun vertiefen, und zwar mit Kirsten Lühmann, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Obfrau der SPD im Abgas-Untersuchungsausschuss. Guten Morgen, Frau Lühmann. Kirsten Lühmann: Guten Morgen, Frau Büüsker. Büüsker: Frau Lühmann, wenn Niedersachsens Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies mit großem Stolz in einer Pressemitteilung von gestern schreibt, "Das Herz der Automobilindustrie schlägt in Niedersachsen", wieviel kritische Herangehensweise kann man da noch von der Politik gegenüber Volkswagen erwarten? Lühmann: Politik hat immer zwei Aufgaben. Politik hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es den Menschen in Deutschland gut geht, und das schließt die Wirtschaft ein, weil das Arbeitsplätze bedeutet. Aber auf der anderen Seite hat Politik auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Gesetze eingehalten werden. Das machen wir aber nicht selber, sondern dafür haben wir Behörden, und diese Behörden sind absolut unabhängig. Das hat auch unser Untersuchungsausschuss gezeigt. Büüsker: Sie sprechen den Untersuchungsausschuss an. Jetzt ist es so: Da sitzen viele Verkehrspolitiker drin und viele von denen, auch Sie kommen aus Wahlkreisen, wo durchaus Arbeitsplätze in der Automobilindustrie eine Rolle spielen. Wie sichern Sie da, dass Sie nicht befangen sind? Lühmann: Das haben wir in der Politik aber überall. Ich bin in vielen Dingen, wenn Sie so wollen, befangen. Es ist unsere Aufgabe, dass wir alle Sichtweisen uns angucken, nicht nur übrigens bei dem Abgasskandal, sondern auch bei anderen Fragen wie Glyphosat, Gifte in der Landwirtschaft, oder Steuerbefreiungen oder dergleichen. Es ist eine Frage, die sich uns immer stellt, und die Wählenden müssen letztendlich entscheiden, die Personen, die da sitzen, machen die das wirklich in meinem Sinne, hören die sich alle Argumente an und urteilen sie dann möglichst objektiv, oder sitzen da Leute, die interessengeleitet sind. Büüsker: Sie haben eben gesagt, die Behörden agieren in dieser Sache. Die Behörden sind politisch unabhängig. Wie erklären Sie sich dann aus dem, was Sie bisher auch im Ausschuss gehört haben, dass die US-Umweltbehörde schon 2012 angefangen hat, in dieser Sache zu ermitteln, in Deutschland aber nichts passiert ist? Lühmann: Das ist so nicht richtig. In Deutschland ist auch etwas passiert, denn schon als diese Richtlinie in Kraft getreten ist, 2007, als man sie verabschiedet hat, wusste man schon, dass die Werte auf der Straße andere sind als auf der Rolle. Das haben uns die Zeugen und Gutachter übereinstimmend gesagt. Man war damals aber nicht in der Lage, ein anderes Prüfszenario aufzustellen, und hat gesagt, wir akzeptieren das, weil die Abweichungen noch nicht so groß waren. Das wurde ja auch in dem Beitrag erwähnt, dass die Abweichungen immer größer geworden sind. Instrumentarien für Prüfungen schaffen Büüsker: Frau Lühmann, wenn ich da kurz einhaken darf? Warum war man denn nicht in der Lage, andere Prüfverfahren einzuführen? Lühmann: Weil es die zu dem Zeitpunkt noch nicht gab. Das haben uns sogar die Sachverständigen der Grünen erzählt und haben gesagt, wir wussten 2007 nicht. 2007 gab es diese Prüfungen auf der Straße für LKW. Da hängt man hinten an den Auspuff eine große Prüfarmatur dran, die wiegt mehrere hundert Kilo. Wenn ich die an einen PKW dranbaue, dann verfälscht das natürlich das Ergebnis. Und man hat schon 2007, als man das verabschiedet hat, gesagt, wir müssen da was machen und wir sollten überlegen, dass wir diese Geräte, die wir im Moment nur für LKW haben, kleiner machen, dass wir sie auch für einen PKW nehmen können. Diese Entwicklung hat begonnen etwa 2010 und ist ja im letzten Jahr zum Abschluss gekommen. Büüsker: Und wieso hat das so lange gedauert? Lühmann: Das haben wir uns auch gefragt im Ausschuss. Aber die Fachleute, nicht die Politiker, die Fachleute haben uns gesagt, diese sieben Jahre wären schon sehr schnell gewesen, weil man ja nicht nur die Technik entwickeln muss, sondern man muss sich ja auch politisch mit allen 28 Mitgliedsstaaten der EU einigen auf die Prüfkriterien, denn auch bei einem Test auf der Straße muss es ja einheitliche Kriterien geben. Das Auto in Frankreich muss genauso geprüft werden wie in Deutschland oder Polen. Büüsker: Das heißt, die Konsequenz aus all dem muss eigentlich sein, dass wir für die Zukunft wirklich richtig strenge Prüfverfahren brauchen? Lühmann: Richtig. Und wir müssen auch Instrumentarien schaffen, dass die Prüforganisationen auch Durchgriff haben. Frau Nickels hat uns gestern deutlich gemacht, was ihre Behörde für Möglichkeiten hat. Sie hat 2012 den ersten Verdacht gemacht und sie hat uns erzählt, sie haben dann sogar einen neuen Prüfstand gebaut, weil sie festgestellt haben, dass sie mit ihrem alten Prüfstand nicht weiterkommen. Aber letztendlich konnte auch die amerikanische Behörde die Manipulation nicht feststellen. Sie haben einfach VW in die Ecke gedrängt, weil denen keine Ausrede mehr eingefallen ist. Büüsker: Aber wofür braucht man denn eigentlich Prüfstände? Man könnte doch auch mit normalen Autos auf der Straße messen? Lühmann: Ja. Wir müssen aber die Prüfarmaturen dazu haben und wir müssen vergleichen mit den Rollenprüftests. Wir haben jetzt auch in Europa eine Regelung, die sagt, die Autos werden zweimal geprüft, einmal auf der Rolle - das sind standardmäßige Bedingungen, die sind überall gleich in Europa – und dann auf der Straße. Und dieser Straßentest ist unterschiedlich, ob Sie nun in den Alpen fahren, ob Sie in den Niederlanden im Flachland fahren. Das kann man einfach nicht so exakt standardisieren wie die Rolle. Dann gibt es einen sogenannten Konformitätsfaktor. Das heißt, man sagt, wieviel maximal, egal wo ich bin in Europa, der Straßentest von der Rolle abweichen darf. 10.400 Todesfälle durch Stickoxide Büüsker: Jetzt schauen wir auf die Belastungen, die wir in der Luft sehen hier in Deutschland. Es gibt Zahlen der Europäischen Umweltagentur von 2012, die geht von rund 10.400 Todesfällen in Deutschland aus aufgrund von Stickoxiden. Verursacher vor allem Dieselfahrzeuge. Ist das nicht ein bisschen zynisch, wenn sich vor diesem Hintergrund die Autokonzerne hinstellen und sagen, nee, eigentlich halten wir ja alles ein, was wir sollen? Lühmann: Zynisch ist eine moralische Bewertung. Ich glaube, das muss jeder Hörer, jede Hörerin selber entscheiden. Rechtlich ist diese Aussage nicht zu beanstanden, weil wir tatsächlich die Regeln so gemacht haben. Damals, 2007 war man der Meinung, das ist ein Riesenfortschritt. Das war es auch, wenn man sich die alten Richtlinien anguckt und die alten Grenzwerte. Aber im Laufe der Zeit haben wir festgestellt, dass die Automobilindustrie die Autos nicht für den Fahrverkehr auf der Straße optimiert haben, sondern nur für den Test auf der Rolle. Und ich finde, das ist vielleicht aus Sicht der Industrie verständlich, aber aus Sicht des Gesetzgebers und der Verbraucher auf keinen Fall. Büüsker: Müsste man vor dem Hintergrund dessen, was wir heute alles wissen, dann nicht eigentlich sagen, alte Diesel, die wirklich schlimme Dinge ausstoßen, die muss man stilllegen? "Fahrverbote in Innenstädten sind das letzte Mittel" Lühmann: Wir haben sie nicht verboten. Das haben wir nie gemacht, europaweit nicht. Ein Verbot muss man dann auch europaweit durchsetzen. Das heißt, wir müssen uns mit allen einigen, dass wir diese alten Fahrzeuge abschaffen. Es wird gerade diskutiert, ob man sie nachrüsten kann. Die Industrie sagt, das ist möglich, aber nicht für alle Fahrzeuge und nicht in jedem Alter. Ich glaube, das ist jetzt die Frage, die wir uns stellen, denn Fahrverbote in Innenstädten sind für mich das letzte Mittel. Büüsker: Aber warum? Lühmann: Weil die Menschen zu ihren Wohnhäusern fahren wollen. Sie haben Autos gekauft in gutem Glauben, dass sie Autos kaufen, die den Normen entsprechen. Das tun sie ja auch. Und dann kann ich nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen sagen, schön, Du hast zwar ein Auto, das legal ist, aber da darfst Du nicht mehr hinfahren. Es muss andere Mittel geben, um die Luft in unseren Städten rein zu erhalten, und da gehören viele Maßnahmen dazu. Eine ist, dass man den Busverkehr auf Elektrobusse umstellt. Es gibt Untersuchungen, die stellen fest, dass ein sehr großer prozentualer Anteil von diesen Dieselverschmutzungen von Personenbussen verursacht wird, und wenn wir da herangehen, ist das ein erster Schritt. Das reicht nicht aus. Die Frage ist, ob wir umrüsten müssen, wie man das europäisch regeln kann. Das Ziel muss sein, dass die Luft besser wird, und ich gebe Ihnen Recht: Solange wir keine anderen Instrumentarien haben, müssen sich die Städte mit dieser Krücke Einfahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge behelfen. Aber unser Ziel muss es sein, dass wir das anders hinkriegen, die Luft reinzuhalten. Büüsker: … sagt Kirsten Lühmann, SPD-Obfrau im Abgas-Untersuchungsausschuss, vor dem heute die Bundeskanzlerin als Zeugin aussagen wird. Frau Lühmann, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk. Lühmann: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kirsten Lühmann im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
10.400 Tote allein in Deutschland durch Stickoxide, so die Zahlen der Europäischen Umweltagentur. Es müsse andere Mittel als Fahrverbote geben, um die Luft in Innenstädten rein zu erhalten, sagte die SPD-Verkehrspolitikerin Kirsten Lühmann im DLF. Ansetzen könnte man beispielsweise beim Busverkehr, von dem ein großer Anteil der Verschmutzung ausginge.
"2017-03-08T06:50:00+01:00"
"2020-01-28T10:18:05.713000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stickoxid-belastung-in-deutschland-fahrverbote-in-100.html
529
Die Sehnsucht nach Linderung
"Jeder hat es nötig, getröstet zu werden: durch eine Religion oder eine Philosophie oder ein Gedicht oder intimere Veranstaltungen. Aber Trost muss wirksam sein", sagte der Philosoph Ludwig Marcuse. (imago stock&people / Gary Waters) "He du, altes Rindvieh!" Der Wächter begriff nicht sogleich, dass er gemeint war. "He, mit dir rede ich!", rief der junge Mann wieder. Der Wächter, der sich gerade mit einer Fliege beschäftigte, zerdrückte diese mit dem Finger und sagte: "Was brüllst du hier so herum?" Der junge Mann klopfte sich mit seinen gelben Handschuhen den Staub von der Hose und sagte mit delikater Stimme: "Sagen Sie, Großväterchen, wie kommt man von hier in den Himmel?" "Das Tröstliche für mich ist, dass das Leben weiter geht, dass es den Tod, so wie wir ihn verstehen, nicht gibt und dass wir eigentlich immer geborgen sind, auch jetzt schon im Leben. Das ist meine felsenfeste Überzeugung." Bernard Jakoby ist Sterbeforscher. Er hat viele Bücher geschrieben, sehr viele. Alle über das Sterben, über das, was einem danach noch so alles passiert. "Dann kommt ja dieses Tunnelerlebnis oder ein Übergang, wenn man so will, manche sprechen ja auch von einer Wiese oder einer Brücke. Letztlich wird dann immer dieses Licht wahrgenommen und dieses Licht immer als größte Liebe, die möglich ist, beschrieben. Und dieses Licht ist Gott." Der Autor Bernard Jakoby (imago images / sportsword) Nach seinem Tod lebt der Mensch – beziehungswiese seine Seele – also weiter, begegnet an einer Art Grenz- oder Übergangsstation verstorbenen Verwandten oder Freunden, die einen mit einer herzlichen Umarmung abholen und einen auf den Weg bringen zum liebenden Gott, wie ihn sich Bernard Jakoby vorstellt: "Trost bedeutet doch einfach, dass man weiß, dass wir ewige geistige Wesen sind." "He, mit dir rede ich", rief der junge Mann wieder und blieb vor dem Wächter stehen. "Wie kommt man von hier in den Himmel?" Der Wächter musterte den jungen Mann, kratzte sich den Bart und sagte: "Hier wird nicht stehen geblieben, weitergehen!" "Entschuldigen Sie", sagte der junge Mann, "aber ich habe einen dringenden Termin. Das Zimmer für mich steht schon bereit." Der Text "Der junge Mann, der einen Wächter in Staunen versetzte" ist von Daniil Charms, einem trostbedürftigen russischen Schriftsteller, der unter den trostlosen Lebensbedingungen der Sowjetunion in den 1920er- und 30er-Jahre zu leiden hatte, bevor er im Gefängnis verhungerte. Der Wächter musterte den jungen Mann mit seinen gelben Handschuhen, kniff erst das eine Auge zu, dann das andere und kratzte sich weiter am Bart. "Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen" "Trostbedürfnis kommt ins Spiel, wo unsere Sehnsucht nach so etwas wie einem Nest der fraglosen Eindeutigkeit in die Irre führt. Beispielweise, wenn wir Fragen eines bestimmten Stils stellen wie: Warum ist die Welt? Warum ist sie, wie sie ist? Warum bin ich hier? Und warum bin ich hier als derjenige, den in antreffe? Ist ein Gott?" Benjamin Dober ist hier – er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg und Lehrer. Er hat ein Buch über den Trost geschrieben: Ethik des Trostes. Hans Blumenbergs Kritik des Unbegrifflichen. Dober: "Der Trost hat einen schlechten Leumund in der Geschichte der Philosophie. Er wurde oft diffamiert als das, was nur vertröstet und was uns eigentlich davon abhält, auf die Welt zu schauen, wie sie eben ist." Philosophen geht es meistens um "ungeschminkte Wahrheit". Es gehört nicht zu ihrem Kerngeschäft, Trostpflästerchen aufzukleben oder rosarote Brillen zu verteilen. "Wahrheit" muss ertragen werden, auch wenn der Mensch mit ein bisschen weniger Wahrheit vielleicht besser leben könnte. Nur wenige Philosophen denken über den Trost nach. Einer ist . Er lebte um das Jahr 1900. "Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen" - diese Definition kommentiert er: "Der Begriff des Trostes hat eine viel weitere, tiefere Bedeutung, als man ihm bewusst zuzuschreiben pflegt. (...) Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern den Reflex in der tiefsten Instanz der Seele." Der deutsche Soziologe und Philosoph Georg Simmel (picture-alliance / dpa / null) Trost kann das Leiden selbst nicht ändern, das Leiden an Krankheit, Liebeskummer, Einsamkeit, an Tod und Sterblichkeit. Aber Trost kann am Denken über das Leiden und am Empfinden des Leids etwas ändern. Trost bestätigt: Das Leiden findet seinen Grund im Menschsein. Dober: "Trost als eine solche Form der Linderung ist so etwas wie der Anteilnahme und der Empathie durchaus verwandt, und zwar weil wir uns in Situationen des Trostes gegenseitig erkennen, in so etwas wie der menschlichen Grundsituation." "Dem Menschen ist im Großen und Ganzen nicht zu helfen. Darum hat er die wundervolle Kategorie des Trostes ausgebildet – der ihm nicht nur aus den Worten kommt, wie Menschen sie zu diesen Zwecken sprechen, sondern den er aus hunderterlei Gegebenheiten der Welt zieht." Der Mensch braucht Trost, sucht sich Trost und kann auch Trost spenden – sich selbst und anderen. Trost lenkt ab vom Leiden, von den großen Sehnsüchten. Trost hat oft nur aufschiebende Wirkung, ist provisorisch und kann gelingen – manchmal auch mit aufmunternden Banalitäten. Trostbedürftig, trostsuchend bleibt er, weil er – meistens – mehr offene Sehnsüchte hat als erfüllte, oft mehr Fragen als zufriedenstellende Antworten. Dober: "Warum ist die Welt? Warum ist sie wie sie ist? Warum bin ich hier? Und warum bin ich hier als derjenige, den ich antreffe? Ist ein Gott? Wie soll ich mich verhalten?" "Wie kommt man von hier in den Himmel?" Dober: "Solche Fragen, die wir einerseits aus der metaphysischen Tradition geerbt haben, diese metaphysische Tradition ist aber andererseits dadurch ermöglicht, dass wir Menschen solche Fragen stellen können auf Grund unserer Bewusstseinsstruktur, und bei Fragen dieser Art scheitert dann unser Streben, eindeutige Antworten durchzusetzen." Doch sie scheitern – Gott sei Dank – nicht bei allen Menschen. Viele haben eine Antwort oder glauben so sehr an die Antwort, dass sie keine Fragen mehr haben, sondern nur noch Antworten: Bernard Jakoby: "Ich finde, dass man das, was Millionen von Menschen auf der ganzen Erde erlebt haben, Milliarden würde ich sogar sagen, sehr trostreich sein kann in der Bewältigung eines eigenen Verlustes." Bernard Jakoby meint die Sache mit dem Tunnel, durch den die körperlosen Seelen zum göttlichen Licht hinüberwandern, wie zum Beispiel im Blockbuster "Der sechste Sinn" mit Bruce Willis. "Es gibt inzwischen über 60 Millionen Menschen, die Nahtoderfahrungen gehabt haben, die noch leben. Das hat damit zu tun, dass in den letzten zehn Jahren, will ich einmal sagen, die Möglichkeiten der Reanimation dermaßen verfeinert hat, dass immer mehr Menschen zumindest teilweise erst einmal aus den Randzonen des Todes zurückgeholt werden können." Hirnforscher führen die Wahrnehmungen bei Nahtoderfahrungen auf Halluzinationen zurück (imago) Dass es post mortem weiter geht – und zwar schöner, besser, glücklicher als auf dieser Welt – das bietet dem Trost, der daran glaubt. Jakoby: "Ich glaube nicht, ich weiß, dass es so ist." Bernard Jakoby ist sich sogar ganz sicher: Kein Zweifel mehr, keine störenden Fragen. Neurologen liefern andere Erklärungen: Sie meinen, Nahtoderfahrungen und die erlebten Lichterscheinungen seien Halluzinationen. Jakoby: "Das ist ja langsam auch langweilig, was da immer behauptet wird." Halluzinationen, erzeugt im Gehirn, genauer im Grenzbereich von Schläfen- und Scheitellappen, und wohltuend begleitet von stressreduzierenden Glückshormonen. Auch ein Trost: glücklich sterben. Nach etwa einer halben Stunde passiert dann allerdings nichts mehr im Gehirn: Hirn tot! Exitus! Aus und vorbei! Finito!" Bernard Jakoby widerspricht trostreich: "Das hat mit dem Gehirn überhaupt nichts zu tun. Wie ich das verstehe, verlässt er seinen Körper und geht in ganz andere Welten. Das hat mit dem Gehirn nicht das Geringste zu tun. Das zeigt ja einfach auch, dass Bewusstsein völlig unabhängig vom Körper ist." Verstorbene loslassen Und deshalb können auch die Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu den Lebenden: Jakoby: "Man spürt einfach diese Nähe. Und dann werden ja meistens auch telepathisch Botschaften übermittelt: Mir geht es gut und so weiter." Wer das erlebt, ist mehrfach getröstet: Der verstorbenen Mutter geht es bestens in der göttlichen Liebe. Und man selbst hat – auch nicht schlecht – die gleiche Aussicht und trifft sie post mortem wieder. Hinzu kommen noch eventuell finanzielle Vorteile, wenn etwa die Verstorbene telepathisch mitteilt, wo sie das Testament versteckt oder – das war vor allem im 19. Jahrhundert, als der Spiritismus modern war – an welcher Stelle im Garten der Familienschatz vergraben liegt. Jakoby: "Ich habe jetzt gerade ein Buch gemacht über Kinder und Tod. Unsterbliche Kinderseelen heißt das. Ich habe mit verwaisten Eltern gearbeitet und da wird es natürlich als außerordentlich trostreich empfunden, wenn sie spüren, das Kind ist da, sie spüren die Gegenwart oder es gibt irgendwelche Träume oder Zeichen oder sonst was, ja." Psychologen, die sich mit Trauervorgängen auseinandersetzen, erklären, dass solche Gefühle ganz normale Ereignisse des Trauerprozesses sind – psychoanalytisch gesprochen: libidinöse Besetzung. Wir können liebe Verstorbene emotional nicht loslassen. Unsere Wünsche sind Ursache der Träume und Einbildungen. Bernard Jakoby hat tröstlichere Erklärungen: Jakoby: "Nein, das hat mit Wünschen nichts zu tun, das geht von der Verstorbenen aus. Das können wir nicht selbst so herstellen, es sei denn, Sie suchen ein Medium auf. Das ist etwas anderes." Allerdings können – nach dem Tod – auch weniger schöne Dinge passieren. Jakoby: "Ich denke, dass es Seelen gibt, die zwischen dieser und der anderen Welt irgendwo steckenbleiben für eine gewisse Zeit." Die dann herumspuken, weil sie nicht wissen, dass sie eigentlich tot sind. Solche Seelen können unangenehm werden, wie in "Poltergeist" Teil eins bis drei oder in anderen Gruselfilmen. Schauspieler Casey Affleck in dem US-amerikanischen Spielfilm "A Ghost Story" aus dem Jahr 2017 (picture alliance / ZUMA Press / Entertainment Pictures / ) Jakoby: "Das sind ja diese Poltergeistphänomene. Der sitzt da fest und versucht, die anderen zu erschrecken." Doch selbst die dümmsten Seelen kapieren es irgendwann, lassen alles Irdische los und gehen ins göttliche Licht. Keine Seele – da ist sich Bernard Jakoby ganz sicher – bleibt auf der Strecke oder landet befristet im Fegefeuer oder gar ewig in der Hölle. Auch das ist tröstlich: keine postmortale Seelenquälerei! Es gibt so etwas wie eine Rückschau der Seele auf die letzte Inkarnation: Was war okay, was nicht? Aber das war es dann auch: keine Strafe! Wenn nötig vielleicht noch eine Phase seelischer Weiterentwicklung. Dann: ewiges Leben im göttlichen Licht für Alle. Benjamin Dober: "Trösten kann Vieles und ich würde auch sagen, es ist ein Gebot der Vorsicht, dem, was andere tröstet, rücksichtsvoll zu begegnen." Benjamin Dober trösten – bei allem gebotenen Respekt gegenüber der trostbedürftigen Menschheit – diese Eindeutigkeiten eher nicht: Dober: "Wenn man über eine Ethik des Trostes nachdenkt, also die Frage, was guten von schlechtem Trost unterscheidet, dann steht eben die gute Trostpraxis doch im Verbund mit einer aufklärerischen Tradition." "Gott ist tot!" Eine Endstation der religions- und auch sonst kritischen, aufklärerischen Tradition ist das Denken des Philosophen Friedrich Nietzsche. "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!" Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) (picture alliance / Sebastian Willnow) Die aufklärerische Gottesmörderei macht frei, frei von allerlei Glaubens- und Gewissenszwängen, aber nicht unbedingt glücklich: "Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?" Lässt Nietzsche die Gottesmörder fragen, und sie bleiben sich selbst die Antwort schuldig. Und wenn nicht? Dann bleibt, sie, die unstillbare Sehnsucht nach Eindeutigkeiten, nach tröstenden Antworten, obwohl "aufgeklärte" Menschen diesen Antworten eigentlich misstrauen müssen. Aber wer will nicht hinein, hinein in den, nun ja, "Himmel"? Benjamin Dober: "Angesichts dieser dilemmatischen Situation müssen wir eben nach Trostformen suchen, nach gutem Trost, der irgendwie näher dran ist an unserer menschlichen Situation als die vermeintlich eindeutigen Antworten." "In Ordnung", sagte der Wächter, "zeig mir deine Eintrittskarte." "Eintrittskarte habe ich keine; man hat mir gesagt, ich käme auch so rein", sagte der junge Mann und sah dem Wächter ins Gesicht. "So siehst du aus!" sagte der Wächter. "Also, wie jetzt?" fragte der junge Mann. "Lassen Sie mich rein?" "Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen" und – einigen Philosophen zufolge – "ein Mängelwesen". Tiere sind durch ihre Instinkte und Gene weitgehend auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt, Menschen fehlen diese Festlegungen. Benjamin Dober: "Wir sind und wir empfinden uns als mangelhaft – bildlich gesprochen in der Analogie zu anderen Bedürfnislagen - und das bedeutet konkret, dass wir auch leiden können an unserem Mangel an Wahrheit oder an Sinn oder an Heil oder auch an Lebenszeit und dass wir aufgrund unserer Bewusstseinsstruktur auch prädisponiert sind, an solchen Dingen zu leiden." Der Mensch muss sich immer wieder neu orientieren und neu erfinden. So stellt er dann Fragen: "Warum ist die Welt? Warum ist sie wie sie ist? Warum bin ich hier? Und warum bin ich hier als derjenige, den ich antreffe? Ist ein Gott? Wie soll ich mich verhalten?", sagt Dober. "Wie komme ich in den Himmel?" Das gehört zum Kerngeschäft christlicher und islamischer Theologen. Bernard Jakoby: "Moderne Theologie geht so weit, dass sie an den Ganztot glauben und erst am Jüngsten Tag werden wir alle wieder auferweckt. Das ist natürlich eine völlig schräge Vorstellung, absurd!" Christlicherseits erfolgt diese Auferweckung "ganzheitlich": Die Seele braucht einen Körper. Der wird am Jüngsten Tag deshalb rekonstruiert, sogar ästhetisch optimiert. Innenaufnahme der Sixtinischen Kapelle mit Michelangelos berühmten Fresko "Das Jüngste Gericht" (Udo Bernhart / dpa) Jakoby: "So ein Quatsch. Ich frage mich, wie die darauf kommen." Der Gedanke einer unsterblichen, körperlosen Seele war in der Frühzeit des Judentums unbekannt und blieb bis zur Entstehungszeit des Neuen Testaments umstritten. "Das ewige Licht leuchte ihnen" Es leuchtete lange im Christentum. Doch in der modernen Theologie, kommt die ewige Seele unter Beschuss: Karl Rahner, einer der wichtigsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, erklärte in einem Interview 1972: "Mit dem Tod ist zunächst einmal alles aus. Das Leben ist vorbei, es kommt nicht wieder, es wird einem nicht ein zweites Mal geschenkt." Der evangelische Theologenkollege Karl Barth erwartete auch nicht "ein in irgendeine unendliche Zukunft hinein fortgesetztes und in dieser Zukunft irgendwie verändertes Leben". Der Schweizer Theologe Karl Barth (dpa picture alliance/ Karl Schnoerrer) Keine weitere Chance, keine individuelle unsterbliche Seele. Die Aufklärung ist schuld! "Exitus! Aus! Vorbei! Das war’s!" Gott sei Dank gibt es noch die Bibel. Dort verspricht Jesus: "Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden." Bergpredigt. Dort gibt es noch den Hinweis: "Euer Lohn im Himmel wird groß sein." Allerdings ist es wenig trostreich, wenn Theologen wie Rahner oder Barth ein buntes himmlisches Leben, wie wir es uns "von hier unten aus" vorstellen, in Frage stellen. "Nichts gegen das Trösten. Die schlechte Angewohnheit, im Trost etwas zu sehen, was den Fortschritt hemmt, gehört zum großen inhumanen Aberglauben der Zeit." Der Philosoph Ludwig Marcuse ist kein wahrheitsfanatischer Trostverächter. "Jeder hat es nötig, getröstet zu werden: durch eine Religion oder eine Philosophie oder ein Gedicht oder intimere Veranstaltungen. Aber Trost muss wirksam sein; oder er beleidigt und verschlimmert die Lage des Menschen, dem er offeriert wird." Benjamin Dober: "Die Not der Trostbedürftigkeit macht auch sehr erfinderisch, was die Mittel des Trostes angeht. Und dadurch, dass wir nicht nur trostbedürftig, sondern auch trostfähig sind, sind wir auch zugleich reiche Wesen, ebenfalls metaphorisch verstanden." Trostmöglichkeiten in Stichworten Erstens: Unsterbliche Seele Bernard Jakoby: "Ich glaube nicht, ich weiß, dass es so ist." Hatten wir bereits, hier aber mit Zusatztrost: "Wir sind hier, um seelisch und geistig zu wachsen und lieben zu lernen. Verschiedene Reinkarnationen, aber Reinkarnation ist kein Muss, meiner Ansicht nach. Ich kann mich auch entscheiden, mich in der geistigen Welt weiterzuentwickeln." Das heißt: ewiges Licht plus Fortschritt durch Selbstoptimierung – das passt prima zu unserer Leistungsgesellschaft. Zweitens: Nichts Endgültiges Erlöschen, Nirwana, kein Ich mehr, kein Bewusstsein mehr: Verlöschen. Das ist die buddhistische Variante. Ob das den Menschen tröstet – Benjamin Dober hat da seine Zweifel: "Einerseits lässt er sich nicht trösten von der Aussicht, irgendwann gar nicht mehr zu sein, andererseits kann darin auch der Funke einer Erleichterung liegen." Also: Trost durch ewige Ruhe, die kein Ich mehr genießen kann, weil es das nicht mehr gibt. Drittens: Seelenruhe Sich durch nichts und niemanden mehr aus der Ruhe bringen zu lassen, sich nicht von seinen Emotionen hinreißen zu lassen, Leid gelassen ertragen – die antiken Stoiker empfahlen dies als tröstlichen Zustand: Benjamin Dober: "Das Problem der Seelenruhe ist, dass sie selten anzuhalten geneigt ist." Weil es noch, so der Philosoph Hans Blumenberg, im Menschen neben dem seelenberuhigenden Tröster auch immer den "Wühler" gibt. Benjamin Dober: "Und der Tröster in uns, der sorgt immer wieder für Beruhigung, für Seelenruhe, aber früher oder später stellt sich aber wieder bei uns der Wühler ein, der wieder Unordnung in unser sorgsam konsolidiertes Welt- und Selbstverhältnis bringt und beginnt, dass vermeintlich Fraglose wieder zu befragen." "Bekanntester Unbekannter" - Philosoph Hans Blumenberg (Peter Zollna / Suhrkamp Verlag) Viertens: Humor, Lachen, Ironie Das heißt: Distanz, Distanz zum Leiden, zur vermeintlich einzig "wahren" Sicht auf die Welt. Benjamin Dober: "Humor kann als Ironie die Dinge in so etwas wie einer erträglichen Schwebe halten und uns dadurch auch vom Absolutismus der Eindeutigkeit verschonen und – so kann man das auch formulieren – Humor gewährt uns die menschliche Chance, uns auf den Arm zu nehmen, ohne uns fallen zu lassen." "Wohin wollen Sie", fragte der Wächter mit strengem Gesicht. Der junge Mann hielt die Hand mit dem gelben Handschuh vor den Mund und sagte sehr leise: "In den Himmel!" Der Wächter beugte sich vor und fragte schroff: "Was? Du willst mich auf den Arm nehmen?" Elftens: Trost durch Erinnerung Erinnertwerden als Trost im Wissen um die eigene Sterblichkeit. Benjamin Dober: "Der Gedanke, erinnert zu werden, tröstet erstens, weil es überhaupt nichts Geringes ist, von einem anderen Menschen in der Erinnerung bewahrt zu werden." Wobei klar ist: Wer sich erinnert, fügt etwas hinzu, lässt etwas weg, erzählt sich und anderen Geschichten. Zwölftens: Tröstliche Geschichten Dober: "Und zweitens tröstet der Gedanke, erinnert zu werden, weil es jederzeit gnädig unbestimmt sein darf, wie lange wir einander erinnern werden. Wir können es überhaupt nicht genau ausmachen und in dieser Unbestimmtheit liegt ein großer Trost." Dreizehntens: Unbestimmtheit, Ungewissheit Benjamin Dober: "Das sich selbst in der Schwebe lassen zu können und innezuhalten, Zaudern vor dem Versuch, den Menschen zu vereindeutigen, das kann etwas sehr Tröstliches sein." "Was? Du willst mich auf den Arm nehmen?" Der junge Mann lächelte, hob die Hand im gelben Handschuh, schwenkte sie über dem Kopf und war auf einmal verschwunden.
Von Rolf Cantzen
"Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen", sagte der Philosoph Georg Simmel. Trost kann das Leiden nicht ändern, Schmerzen und Trauer bleiben. Was sich verändert, sind Denken und Leidempfinden. Aber vielleicht ist das nur Vertröstung.
"2020-09-30T20:10:00+02:00"
"2020-09-29T16:38:48.829000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/seelentroester-die-sehnsucht-nach-linderung-100.html
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Pianisten-Wettstreit auf dem Frühlingshügel
Gab dem Wettbewerb seinen Namen: der Pianist Arthur Rubinstein (picture-alliance / dpa / Roland Witschel) Die Kandidaten stellen sich im Wettbewerb sowohl solistisch, wie auch als Kammermusikpartner und in Konzerten mit Orchester vor. Die Pianisten, die nicht jünger als 18 und nicht älter als 32 Jahre sein dürfen, sollten dafür eine herausragende Kondition und künstlerische Meisterschaft mitbringen. Wen die Jury unter Vorsitz von Arie Vardi allerdings zum Sieger kürt, dem stehen die großen Konzertsäle der Welt offen. In diesem Jahr wurde Szymon Nehring mit dem ersten Preis ausgezeichnet; weitere Preisträger sind Daniel Ciobanu und Sara Daneshpour.
Von Ruth Kinet
"Ich bin vor dem Konzert müde, nicht danach", sagte Arthur Rubinstein einmal, der große Klaviervirtuose des 20. Jahrhunderts. Wie wach sie das Musizieren am Klavier macht, das mussten die Teilnehmer des 15. Arthur Rubinstein-Klavierwettbewerbs in Tel Aviv zwei Wochen lang unter Beweis stellen.
"2017-05-31T22:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:20:09.959000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vorspiel-das-preistraegerkonzert-pianisten-wettstreit-auf-100.html
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Politik des Sparens
Sparen und Reformen erzwingen. Oder Schulden machen und Reformen versprechen: Welcher Weg aus der Krise führt, ist nicht nur unter Europas Politikern umstritten, sondern auch unter Ökonomen. Zwei Kenner der politischen Ökonomie legen in ihren jeweiligen Büchern jetzt dar, warum die Austeritätspolitik, also die strenge Haushaltsdisziplin, aus ihrer Sicht falsch ist: der in St. Gallen lehrende Deutsche Florian Schui und der gebürtige Schotte Mark Blyth, der an der Brown University in Providence Rhode Island Internationale Politische Ökonomie lehrt. Beide halten nichts von dem, was über den Maastrichter Vertrag und den Stabilitätspakt in die europäische Wirtschaftspolitik einfließt, ja, sie ihrem Eindruck nach bestimmt. Der Wirtschaftshistoriker Florian Schui schreibt, Austerität sei ... "... in ihrer heutigen Form schlicht ein großer Fehlschlag." Und Mark Blyth resümiert in einer Sprache, die hörbar über den akademischen Diskurs hinausgeht: "Austerität hat als Wirtschaftspolitik so viel zur Verbreitung von Frieden und Wohlstand oder zur Schuldenreduzierung beigetragen wie mongolische Reiterhorden zum olympischen Dressurreiten." So ironisch, so witzig geht es häufig zu im Buch, das zuweilen in Ich-Form geschrieben ist. Blyth kann präzise formulieren. Eine zentrale These: Was gut für einen Haushalt, eine Firma, vielleicht sogar für einen Staat sei, werde zum Desaster, wenn alle es machten. "What's good for anyone household or firm or even state is a disaster if we all try it at once." Auf den 350 Seiten des Buches geht es natürlich etwas differenzierter zu. Renditekurven und Kursverläufe unterstützen den wissenschaftlichen Anspruch. Blyth schaut in die Ideengeschichte, die Austerität als Heilmittel für wankende Staaten hervorgebracht hat, auf Adam Smith, auf Friedrich Hayek, auf den großen Gegner John Maynard Keynes. Der Autor bezieht das alles aber eng auf die politisch-ökonomische Wirklichkeit vor allem in Europa. Florian Schui argumentiert stärker aus der europäischen Kulturgeschichte heraus. Er befasst den Leser mit den aristotelischen Bemühungen um gesellschaftliche Stabilität, für die der Konsum gefährlich werden könne. Er verweist auf das konsumferne Leben in Einfachheit, das Jesus vorlebte, und der voraussagte, eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in den Himmel komme. Auch "grünes Denken", den Planeten mit den Bedürfnissen der auf ihm lebenden Menschen nicht zu überfordern, sei, so Schui, "Bestandteil einer langen Tradition der Konsumkritik". Deren das Denken formende Kraft habe er sich selbst und seinen Lesern einmal bewusst machen wollen: "Das war also wirkliche Neugier. Und das andere ist eigentlich, die Beteiligten an dieser Debatte einzuladen, mal einen Schritt zurückzumachen und zu schauen, auf welcher Grundlage argumentiere ich eigentlich? Warum bin ich eigentlich fürs Sparen? Ist das aus ökonomischen Gründen? Ist das eine tief verwurzelte Vorstellung, die aus meinem Überich an mich herangetragen wird, aus kindlichen Erlebnissen? Ich glaube nur, dass man sich im Klaren sein sollte jeweils, aus welcher Perspektive man in jedem Moment kommentiert." Natürlich wurde dieser kulturelle Boden zuweilen erschüttert. Dort etwa, wo Mönche Wasser predigten, aber Wein soffen. Oder er wurde bewusst infrage gestellt: Als neue Kontinente entdeckt wurden und der Import von Seide aus China und Gold aus Südamerika im 17. und 18. Jahrhundert dazu führte, dass Konsum nicht mehr unter moralischen Gesichtspunkten verpönt, sondern unter ökonomischen Aspekten gelebt, gesehen und bewertet wurde. Man erkannte, dass die Ausgaben des Einen die Einnahmen des Anderen seien. Konsum schaffe also Wachstum. Und wo nicht konsumiert, sondern gespart werde, formulierte später John Maynard Keynes, bleibe das Wachstum auf der Strecke. Wenn nicht mehr. Kein Wunder, dass beide Autoren, wo sie nun mal dasselbe Thema behandeln, auch die gleiche Literatur benutzen. Sie zitieren ein wichtiges Argument einer keynesianischen Kollegin, ein Argument, das Hitlers Autobahnbau und Aufrüstungspolitik aufnimmt und damit - abseits aller Moral - die ökonomische Wirkung einer solchen staatlichen Ausgabenpolitik beschreibt: "Hitler hatte bereits eine Lösung für die Arbeitslosigkeit gefunden, bevor Keynes erklären konnte, weshalb sie überhaupt existierte." Natürlich fällt es schwer, diese konkrete Anwendung staatlicher Ausgabenpolitik nicht moralisch zu betrachten: Die Autoren weisen auch darauf hin, dass diese Politik "für den zerstörerischsten Krieg der Weltgeschichte" eingesetzt wurde. Aber eben - rein ökonomisch gesehen - doch zum Abbau der Arbeitslosigkeit geführt habe. Sie funktioniert also, die Ausgabenpolitik, die den Konsum nicht verteufelt und nicht klein hält, postulieren Blyth und Schui. Beide sehen natürlich, dass das Geld auch irgendwo herkommen muss. Da plädieren sie für eine Umverteilung von oben nach unten. Dies gelte zumal in der europäischen Krise, wo die Staatsverschuldung ja nicht durch staatliche Ausgabenlust entstanden sei, sondern durch die Rettung von Banken. Was das bedeute, hat Blyth recherchiert: "Wenn Regierungen Banken retten, dann retten sie damit die Vermögenswerte und Einkommen der Top-30-Prozent der Einkommensverteilung." Zudem hätten die Sparauflagen etwa für Griechenland zwar nicht den Schuldenstand reduziert, wohl aber schwerwiegende Folgen gehabt, schreibt Blyth: "Um nur ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen zu nennen: Seit Beginn der Krise wurden Kürzungen von 25 Prozent bei der Finanzierung von Krankenhäusern und der Primärversorgung vorgenommen, was wiederum in einer 32-fachen Erhöhung der HIV-Infektionen von 2009 bis 2013 resultierte." Blyth sagt daher deutlich, was aus der - seiner Darlegung nach - gescheiterten Sparpolitik zu folgern sei: Höhere Steuern für Spitzenverdiener, um die öffentliche Bankenrettung auszugleichen. Der Wirtschaftshistoriker Schui kommt aus seiner Profession zum ähnlichen Ergebnis, sieht die Ökonomie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sich als moralische Wissenschaft entwickeln. Die Wirtschaft solle dann vor allem vier wichtige Freiheiten sichern, die Rede- und Glaubensfreiheit, dazu die darüber hinausgehenden Werte der Freiheit von Not und Angst. "Wenn man die vier Freiheiten als Ziele der Gesellschaft akzeptiert, ist die wichtigste wirtschaftliche Konsequenz eine Einkommensumverteilung mit mehr Gleichheit." Die beiden argumentieren plausibel: Das Postulat der Sparsamkeit ist - zumal in Deutschland - vielen Menschen, auch dem Rezensenten, so eingeimpft worden, dass die Loslösung davon schwerfällt. Schui lässt Keynes immerhin auftreten mit der Meinung, der Boom verlange nach Austerität, nicht die Krise. Und Blyth lässt zwar keine Sympathie für Hayek'sche Schlussfolgerungen erkennen, wohl aber für die Analyse der österreichischen Theorie, wenn er zugesteht, eine große Menge billigen Zentralbankgeldes habe in den 2000er-Jahren zu Vermögensblasen geführt, die den Zentralbanken dann, so wörtlich, "um die Ohren flogen". Solches Labsal für die konservative Seele muss man allerdings mit der Lupe suchen. Klar: Blyth und Schui wollen davon nicht mehr anrichten. Sie wollen die Denkwurzeln der Leser bloßlegen. Auch wenn es schmerzt: Das machen sie gut, weil beide Autoren schön durch die Geistesgeschichte führen. Besprochene Bücher:Florian Schui: Austerität. Politik der Sparsamkeit. Die kurze Geschichte eines großen Fehlers (Übersetzung: Ingrid Proß-Gill),Karl Blessing Verlag, 256 Seiten, 19,99 EuroISBN: 978-3-896-67533-0Mark Blyth: Wie Europa sich kaputtspart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik (Übersetzung: Boris Vormann), Dietz Verlag, 352 Seiten, 26 EuroISBN: 978-3-801-20457-0
Von Michael Braun
Der Widerstand diverser europäischer Länder gegen jene Austeritätspolitik, die besonders Angela Merkel von hilfebedürftigen Mitgliedsstaaten einfordert, wächst. Und die Politik der Austerität wird durchaus auch von Experten kritisch gesehen.
"2014-12-15T02:17:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:13.174000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oekonomie-politik-des-sparens-100.html
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Die Mietpreisbremse auf dem Prüfstand
Blick auf die Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg (picture alliance / zb) Ab Juni darf die Miete höchstens zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen - in Gegenden, die die Länder als angespannt ausweisen. Doch welche sind das, was ist angespannt und was versteht man unter der ortsüblichen Vergleichsmiete? Wie belastbar sind die lokalen Mietspiegel für Mieter und auch für Vermieter? Und wer trägt in Zukunft wirklich die Kosten für den Makler? Wie das neue Gesetz der Bundesregierung in der Praxis funktioniert, beantworten Expertinnen und Experten heute in unserer Sendung. Unsere Gesprächsgäste waren: Ulrich Ropertz, Deutscher Mieterbund Roland Kampmeyer, Geschäftsführer Kampmeyer Immobilien GmbH Carsten Herlitz, GdW Bundesverband dt. Wohnungs- und Immobilienunternehmen
Am Mikrofon: Eva Bahner
Wohnen in bester Lage hat seinen Preis. Gerade in Ballungsgebieten wie Hamburg, Berlin und München sind die Mieten in den vergangenen Jahren exorbitant gestiegen. Die Mietpreisbremse und das neue Bestellerprinzip für Makler sollen die Lage auf dem Wohnungsmarkt entspannen.
"2015-06-11T10:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:35:47.307000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wohnen-die-mietpreisbremse-auf-dem-pruefstand-100.html
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Karlsruhe urteilt über Entschädigung der AKW-Betreiber
Kraftwerk Grohnde in Emmerthal (Niedersachsen). (dpa / picture alliance / Sebastian Gollnow) Auch die klagenden Energiekonzerne wollen den Atomausstieg nicht aufhalten. Das betonte am Rand er mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht im März auch E.ON-Chef Johannes Teyssen: "Ich bin heute hier im Interesse von tausenden von Kleinanlegern, die gespart haben in E.ON-Aktien, die ihre Rente in E.ON-Aktien angelegt haben, und die um einen fairen und gerechten Ausstieg aus der Kernenergie bitten. Also um Entschädigung des Vermögens, das man uns aus politischen Gründen entzogen hat." Sollte das Bundesverfassungsgericht eine solche Entschädigungspflicht im Grundsatz bejahen, müsste über die Höhe gesondert entschieden werden. Um die 19 Milliarden Euro sollen im Raum stehen. In Frage steht das Ausstiegsgesetz aus dem Jahr 2011. Das Hin und Her, das ihm vorausgegangen war, könnte rechtlich relevant sein. Den Atomausstieg von 2002, den die rot-grüne Bundesregierung im Konsens mit den Konzernen vereinbart hatte, hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung erst zurückgedreht, sie hatte den Konzernen erheblich größere Reststrommengen zugestanden. Um dann, wenige Monate später, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, diese Entscheidung zu revidieren. Ein Mailer – Krümmel – war bereits heruntergefahren, sieben weitere, die ältesten, mussten in einer ersten Reaktion folgen. Umweltminister Norbert Röttgen fand die bemerkenswerte Formulierung: "Wir befreien uns von allen Vorfestlegungen, selbst von der Gesetzeslage." AKW-Betreiber: "Irrationale Kehrtwende" Das Ausstiegsgesetz von 2011 kehrte nicht nur zum Stand der früheren Ausstiegsvereinbarung zurück - die abgeschalteten Mailer gingen nicht wieder ans Netz. Irrational nannten diese Kehrtwende im März in Karlsruhe die Vertreter der Konzerne. Politik dürfe nicht in reine Emotionalität verfallen, kritisierte vor dem Bundesverfassungsgericht Rupert Scholz, der rechtliche Vertreter von E.ON. Das Risiko der Kernkraft sei durch Fukushima in Deutschland nicht größer geworden. Dem widersprach die Bundesregierung auch gar nicht. Umweltministerin Barbara Hendricks sagte auf die Frage, was sich genau durch Fukushima in Deutschland verändert habe: "Es hat sich die Einstellung derjenigen Menschen verändert, die vorher der Auffassung waren, das Restrisiko sei beherrschbar." Also eine rein politische Entscheidung? Hendricks: "Es ist selbstverständlich klar, dass Gesetzesentscheidungen immer politische Entscheidungen vorausgehen." Noch in der Verhandlung machten auch die Verfassungsrichter deutlich: Es kommt nicht darauf an, welche Überlegungen hinter einem Gesetz standen, sondern auf den Inhalt. Und: Es gilt, was seit der Kalkar-Entscheidung von 1978 gilt: wie das Restrisiko der Kernkraft zu bewerten ist, entscheiden nicht Gutachter, sondern die Politik. Konzerne fühlen sich enteignet Nur: muss sie die Konzerne dafür entschädigen? Die Konzerne sehen sich enteignet. "Es geht ja einfach darum, dass wenn ihnen jemand ihr Auto, ihr Haus entzieht, einfach um eine faire Entschädigung, um nicht mehr und nicht weniger", formulierte salopp E.ON-Chef Teyssen. So einfach ist es aber wohl nicht. Unklar ist schon, was den Konzernen entzogen wurde - hat die kurze Zeit mit höheren Reststrommengen ihnen neue Rechtspositionen verschafft, auf die sie vertrauen durften? Kann es überhaupt Eigentum an Reststrommengen geben? Eine Enteignung stellt der Ausstieg für die Richter wohl nicht dar. Aber möglicherweise eine Neudefinition dessen, was die Konzerne mit ihrem Eigentum machen können? Eine solche so genannte Inhalts- und Schrankenbestimmung wäre in aller Regel nicht entschädigungspflichtig. Nach den Fragen, die die Richter in der Verhandlung stellten, ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie hier rechtliches Neuland betreten wollen.
Von Gudula Geuther
Nach der Fukushima-Katastrophe vollzog die Bundesregierung eine Wende beim Atomausstieg. Die Atomkraftwerksbetreiber fühlen sich enteignet und verlangen Entschädigung. Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
"2016-12-06T06:40:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:21.758000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomausstieg-karlsruhe-urteilt-ueber-entschaedigung-der-akw-100.html
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Pflanzen für eine trockene Welt
Um die europäische Landwirtschaft vor Dürreschäden zu schützen, versuchen Forschende Nutzpflanzen genetisch so zu verändern, dass sie Trockenstress besser ertragen. (IMAGO/Pixsell)
Pyritz, Lennart
In Europa kommt es immer häufiger zu Dürren. Darauf sind Nutzpflanzen nicht vorbereitet. Auf hohen Ertrag gezüchtet, ging die ursprünglich in ihrem Erbgut vorhandene Trockentoleranz verloren. Forschende arbeiten daran, sie genetisch an Trockenheit anzupassen.
"2022-07-17T16:30:00+02:00"
"2022-07-17T16:39:57.144000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wachsen-trotz-wassermangel-pflanzen-fuer-eine-trockene-welt-dlf-ec9b40b8-100.html
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„Jedes Spiel endet in einem Schweinehaufen“
Sebastian Vollmer, ehemaliger Football-Profi und zweimaliger Supberbowl-Gewinner (imago / Tischler) Er sei froh, dass er nicht entscheiden müsse, kommende Saison selbst zu spielen, sagte Ex-Football-Profi Sebastian Vollmer und begründete es auch damit, dass er drei Kinder hat. Im Baseball könne man eine Infektion vielleicht vermeiden, aber Football sei ein Kontaktsport und durch den physischen Kontakt über lange Zeit anders als die meisten anderen Profisportarten. "Jedes Spiel endet in einem Schweinehaufen von 13, 14, 15 Leuten übereinander". Man könne den Abstand nicht einhalten. Und: "Wenn ein Spieler krank spielt, kann man die Ansteckung glaube ich nicht vermeiden." Dass der Profisport in den USA trotz des Infektionsgeschehens in den USA wieder den Spielbetrieb aufnehmen will, begründete Vollmer damit, dass jede Liga ein "riesen Business" sei, in der jeder Eigentümer mindestens Millionen Dollar Umsätze mache. Zudem habe Entertainment auch etwas Gutes, die Leute von dem negativen Geschehen in der Welt abzulenken. Auch für die Spieler sei es wichtig – zum einen, weil beispielsweise die Baseballer zwei Drittel ihres Gehalts hätten abgeben müssen. Zum anderen, weil sie das Meiste aus der Karriere herausholen wollten. Sebastian Vollmer spielte von 2006 bis 2016 in der National Football League (NFL) für die New England Patriots (imago / ZUMA Press) Er glaube, dass alles versucht werde, um die Spieler zu schützen, auch damit Spiele stattfinden können. Allerdings stelle sich die Frage, ob, wenn der Quarterback krank werde, die Ticketpreise so beibehalten werden könnten. Und die Gefahr bestehe, auch wenn weniger Tickets verkauft würden, dass die Hemmschwelle unter den Fans sinke und der Abstand nicht mehr eingehalten werden könnte. "Den Stress habe ich mit nach Hause genommen"Gehirnerschütterungen, Entbehrungen und Nächte mit Esslöffeln voller Olivenöl: Sebastian Vollmer hat als Deutscher in der NFL gespielt und einiges dafür in Kauf genommen. Im Dlf spricht er über die Brutalität des Spiels, den Umgang mit Verletzungen und was er gemacht hat, um sein Kampfgewicht zu halten. Umgang der NFL mit RassismusDer Widerhall der landesweiten Black-Lives-Matter-Proteste in der NFL löst überraschende Entwicklungen aus. Der Liga-Chef zeigt Verständnis für Anliegen der schwarzen Profis. Ein weißer Quarterback widersprach erstmals öffentlich Donald Trump, der seit 2017 gegen protestierende Spieler hetzt. NFL-Talentsuche in Hennef35 potenzielle Spieler der nordamerikanischen Football-Profiliga NFL absolvierten am Wochenende in Hennef ein Trainingscamp, um sich möglicherweise für einen Kaderplatz zu empfehlen. Auch weil der Markt Deutschland immer wichtiger wird, richtete die NFL ihre Talentsichtung zum ersten Mal in Deutschland aus. Die Sportarten dächten vor allem an sich selbst beim Wiederbeginn der Ligen. Die NFL habe den Wiederbeginn der Sportarten in anderen Ländern wie in der deutschen Fußball-Bundesliga beobachten können. Die Verantwortlichen wollten Millionen von Fans nicht vergraulen und einen Mittelweg finden, der Gesundheit und Weiterspielen zugleich ermögliche.
Sebastian Vollmer im Gespräch mit Marina Schweizer
Der frühere deutsche NFL-Profi Sebastian Vollmer hält es für schwierig, sich im American Football komplett vor dem Coronavirus zu schützen. In diesem Kontaktsport werde Blut und Schweiß ausgetauscht. Wenn ein Spieler krank spiele, könne man die Ansteckung vermutlich nicht vermeiden, sagte Vollmer im Dlf.
"2020-07-12T19:20:00+02:00"
"2020-07-13T10:00:39.310000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nfl-jedes-spiel-endet-in-einem-schweinehaufen-100.html
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"Meistens stehe ich mir selbst im Weg"
Tennisprofi Andrea Petkovic im Interview mit dem DLF (deutschlandradio.de / Marina Schweizer) Ihre Karriere ist ein Auf und ab: Vor vier Jahren der Einzug in die Top Ten der Tenniswelt - kurz darauf: eine monatelange Verletzungsmisere. Nun hat sich die 27-Jährige in der Weltspitze zurückgemeldet. Sie selbst macht ihre mentale Stärke mitverantwortlich für dieses Comeback. Doch auf dem Platz stehen ihr die Emotionen manchmal im Weg, sagt sie. Welche Macht hat der Kopf über die Tennisspielerin Andrea Petkovic? Das haben wir sie in ihrem heimatlichen Tennisvereinsheim gefragt. In der Stadt, die vor wenigen Wochen frenetisch den Erstligaaufstieg der Fußballer von Darmstadt 98 gefeiert hat. Die Fragen stellt Marina Schweizer. Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 21. Dezember 2015 nachhören.
Andrea Petkovic im Gespräch mit Marina Schweizer
In einer Woche beginnt das dritte Tennis-Grand-Slam des Jahres: Das Turnier in Wimbledon. Mit dabei: Die Darmstädterin Andrea Petkovic. Die 27-Jährige hat sich in der Weltspitze zurückgemeldet. Sie selbst macht ihre mentale Stärke mitverantwortlich für dieses Comeback.
"2015-06-21T23:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:43:20.676000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportgespraech-meistens-stehe-ich-mir-selbst-im-weg-100.html
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Die Wut der Jugend von Kaschmir
Unruhen im indischen Teil Kaschmirs (picture alliance / dpa / Farooq Khan) "Indische Hunde, geht nach Hause", rufen die Teenager in der ersten Reihe. Sie laufen eine steile enge Straße hinunter. Die Stimmung ist aufgepeitscht. "Du Hund" ist in muslimischen Ländern ein übles Schimpfwort. Erst sind es nur ein paar Hundert Demonstranten, dann werden es immer mehr. Vielleicht zwei oder drei tausend. "Azadi!" Sie rufen nach Freiheit. Die wütende Menge versammelt sich nach dem Freitagsgebet am 29. Juli vor dem Büro der Vereinten Nationen in Srinagar. Srinagar liegt auf fast 1.800 Metern Höhe und ist in den heißen Sommermonaten die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, zu dem der indische Teil Kaschmirs gehört. Es ist der einzige indische Bundesstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Die Demonstranten sind überwiegend jung und männlich, viele sind noch Kinder. Einen Anführer scheint es nicht zu geben. Ein Student mit Drei-Tage-Bart und Messi-Trikot, der seinen Namen nicht nennen will, löst sich aus der Menge. "Die Kaschmiris haben immer ihr Recht auf Freiheit eingefordert. Die Inder sind hier und hissen ihre Flagge wo immer sie wollen, aber sie können ihre Flagge niemals in unseren Herzen hissen." Dann geht alles ganz schnell. Die rund 50 kaschmirischen 50 Polizisten, die mit Helm und Schutzschild direkt vor dem UN-Büro stehen, werden nervös. Sie schießen ohne Vorwarnung mit Tränengas und ohrenbetäubenden Blendgranaten in die Menge. Die Augen tränen, die Lunge brennt, die Ohren tun weh. Die Demonstranten rennen weg, viele stürzen. Ein paar Minuten später hagelt es aus engen Gassen in der Nachbarschaft Steine. Die kaschmirischen Polizisten bekommen Verstärkung von Indiens paramilitärischer Zentralpolizei und nehmen die Verfolgung auf. Nach etwas mehr als einer halben Stunde ist alles vorbei. Bis zum nächsten Mal. Symbol für die Wut der jungen Generation Die Familie von Burhan Wani hat ein großes Banner aufspannen lassen. (Deutschlandradio/Sandra Petersmann) Solche Jagdszenen gehören seit dem 8. Juli wieder zum Alltag im indischen Teil Kaschmirs. An diesem Tag erschossen Sicherheitskräfte Burhan Wani - einen 22-jährigen Kämpfer, auf den die indischen Behörden ein hohes Kopfgeld ausgesetzt hatten. Burhan Wani war Kommandeur in einer pro-pakistanischen Separatistengruppe, die in Indien, in den USA und in der EU auf der Terrorliste steht. Seine Beerdigung war eine Massenveranstaltung. Für viele Jugendliche sei der getötete Burhan Wani ein Held gewesen, erklärt der kaschmirische Journalist Shujaat Bukhari. "Burhan steht symbolisch für die Wut der jungen Generation. Es hätte auch andere Auslöser geben können, aber es war Burhan. Er hat sich seinen Platz in der Gesellschaft vor allem über seine vielen Auftritte in den sozialen Netzwerken wie Facebook erkämpft. Damit hat er viele junge Menschen angelockt. Wir sitzen hier in Kaschmir auf einem Vulkan. Es braucht nur einen Funken, um ihn zum Ausbruch zu bringen. Burhan war so ein Funke." "Rising Kashmir", die Zeitung, die Shujhaat Bukhari als Chefredakteur leitet, durfte in der Anfangsphase der blutigen Unruhen tagelang nicht erscheinen. Die Behörden verhängten neben einer strikten Ausgangssperre auch ein Informationsverbot. Sie sperrten das Internet und blockierten die Mobilfunknetze. Doch die Gewalt auf den Straßen ging weiter. Tag für Tag. Woche für Woche. Polizisten, Paramilitärs und Soldaten gegen jugendliche Demonstranten. Tote und Verletzte. "Es ist ein ganz wesentliches Merkmal dieser politischen Unruhe, dass sich die kaschmirische Bevölkerung offen hinter einem bewaffneten Kämpfer versammelt. Dafür gibt es kaum noch Unterstützung im Rest der Welt. Die Mehrheit lehnt Gewalt als politisches Mittel ab. Aber hier in Kaschmir gehen die Menschen wieder offen dazu über, Gewalt zu unterstützen. Junge gebildete Menschen schließen sich dem bewaffneten Kampf an, die Zahl der untergetauchten Kämpfer nimmt wieder zu. In meinen 26 Jahren als Journalist habe ich noch nie so viel Wut in der Bevölkerung erlebt." Ein weiteres blutiges Kapitel Die Gewalt, die nach Burhan Wanis Tod ausgebrochen ist, fügt der tragischen Geschichte Kaschmirs ein weiteres blutiges Kapitel hinzu. Die Himalaya-Region ist seit 1947 geteilt. Damals zerfiel das britische Kolonialreich. Auch das Fürstentum Kaschmir wurde mit Wucht in den blutigen Sog des Zerfalls geschleudert. Aus dem untergehenden Britisch-Indien entstanden das säkulare, mehrheitlich hinduistische Indien und die Islamische Republik Pakistan. Die beiden Staaten stehen sich bis heute feindlich gegenüber und beanspruchen Kaschmir ganz für sich. An der Waffenstillstandslinie, die Kaschmir in einen pakistanischen und einen indischen Teil zerschneidet, kommt es regelmäßig zu Schusswechseln. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 21. April 1948 empfiehlt, die kaschmirische Bevölkerung selber darüber entscheiden zu lassen, ob sie zu Indien oder zu Pakistan gehören will. Von Unabhängigkeit ist in der Resolution nicht die Rede. Die beiden Atommächte Indien und Pakistan haben drei ihrer bisher vier Kriege um Kaschmir geführt. Auch China hat sich einen kleinen Teil einverleibt. Kaschmir gehört heute zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt. Allein Indien hat rund 600.000 Soldaten und Paramilitärs in seinem Teil stationiert. Strategie von Zuckerbrot und Peitsche Die Separatisten boykottieren den indischen Staat und nehmen nicht an Wahlen teil. Einige kämpfen für die Unabhängigkeit, andere für den Anschluss an Pakistan. Ihre Anführer stammen aus traditionell mächtigen kaschmirischen Familien. Sie leben in Srinagar in prächtigen Villen – engmaschig kontrolliert vom indischen Staat. Indien verfolgt eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche: Mal gibt es finanzielle Zuwendungen für die Separatisten, mal sitzen sie im Gefängnis. Als die Intifada der Jugend nach Burhan Wanis Tod ausbrach, riefen die Separatisten die Bevölkerung zum Generalstreik auf und legten das öffentliche Leben lahm. Auf der Straße vor dem Hauptquartier der paramilitärischen Polizei-Einheiten in Srinagar sind keine Autos und keine Menschen unterwegs. Straßenhunde liegen mitten auf der Fahrbahn faul in der Sonne. Im Hauptquartier empfängt Kommandant Rajesh Yadav in einer makellos gebügelten Uniform. Yadav sitzt hinter einem mächtigen Schreibtisch und trommelt immer wieder mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. "Die Demonstranten träumen von etwas, was es niemals geben wird. Sie fordern Unzumutbares. Überall auf der Welt gibt es friedliche Formen des Protestes. Warum werden in Kaschmir immer Steine geworfen? Diese Steinewerfer greifen nur die Sicherheitskräfte an, nicht ihre gewählten Volksvertreter. Warum demonstrieren sie nicht vor ihren gewählten, politischen Repräsentanten?" Der Sprecher der paramilitärischen Zentralpolizei verteidigt den Einsatz von Schrotkugeln, die mit Pumpguns abgefeuert werden. Diese Waffen sind in keinem anderen indischen Bundesstaat im Einsatz. Yadav berichtet von toten und verletzten Kollegen, von brennenden Reifen und Molotow-Cocktails, vom angreifenden Mob, der Kinder als Schutzschilde missbrauche. "Unsere Jungs sind für die Regierung im Einsatz. Und wenn sie im Einsatz angegriffen werden, verteidigen sie sich. Wir halten uns im Höchstmaß zurück. Aber es gibt eine Grenze für alles. Wir setzen hier keine illegalen Waffen ein, sondern Mittel, die von der Regierung für diese Situationen gebilligt werden. Wir verwenden die am wenigsten schädlichen Waffen." Frauen auf der Beerdigung eines jungen Kashmiri. (dpa/picture alliance/Farooq Khan) Schweigende Zivilgesellschaft "Wo ist die Zivilgesellschaft? Wo sind die Gebildeten? Die Lehrer, Anwälte, Professoren? Warum gibt es dieses große Vakuum? Warum verstecken sie sich in ihren Häusern? Wo sind die Älteren? Wo sind die religiösen Führer? Warum stoppt niemand diese Jugendlichen? Warum lassen die Eltern ihre Jungs auf die Straße?" Das Haus im südlichen Kaschmirtal, in dem kleinen, malerischen Örtchen Tral, ist von einer Backsteinmauer umgeben. Über dem kunstvoll geschmiedeten Eisentor, das in die Mauer eingelassen ist, hat Familie Wani ein großes Banner aufspannen lassen. Darauf steht: "Burhan Wani - der Stolz der Nation". Gemeint ist die kaschmirische Nation. Burhan ist auf dem Banner links und rechts zu sehen: ein gutaussehender, junger Mann in Tarnuniform, die Kalaschnikow lässig in der Hand. Seine Mutter Mahimana lächelt, wenn sie über ihren toten Sohn spricht. Der Vater des ermordeten Kämpfers Burhan Wani. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann) Er sei ein lieber, lustiger Junge gewesen, immer modisch gekleidet. Wie eine gebrochene Frau wirkt Burhan Wanis Mutter nicht. Sie serviert kaschmirischen Salztee und hartes Gebäck. Auf die Frage, ob sie jemals versucht hat, ihren Sohn aufzuhalten, als er mit 15 Jahren in den bewaffneten Untergrund ging, reagiert sie erstaunt. "Warum hätte ich ihn denn aufhalten sollen? Ich habe ihn mit meiner Milch genährt. Wir haben ihm eine gute islamische Bildung gegeben und Burhan zu einem guten Moslem erzogen. Der Rest ist Gottes Wille. Mein Sohn hat sich für den Weg Gottes entschieden." Burhan ist der zweite Sohn, den Mahimana und ihr Mann verloren haben. Zuvor hatten Soldaten bereits Burhans älteren Bruder Khalid erschossen. Auch er war für den indischen Staat ein Terrorist, weil er seinen untergetauchten Bruder mit Nachschub versorgte. Die Eltern erzählen, dass Burhan abgetaucht sei, nachdem Soldaten ihn auf der Straße misshandelt hätten. Der Friedhof ist nur einen kurzen Fußmarsch vom Haus der Wanis entfernt. Vater Mohammed Muzaffar Wani steht stolz vor dem Grab seiner Söhne. "Ich fühle mich gut. Hier treffen sich die beiden Brüder, das macht mich glücklich. Ich danke Gott." Der Wunsch nach einem islamischen Kaschmir Die Familie stammt aus der Mittelklasse und ist durchaus wohlhabend. Vater Wani ist ein tief religiöser Mann, der sich ein islamisches Kaschmir wünscht. Das säkulare Indien ist für ihn das Land der Hindus. Doch er arbeitet für den Staat, den er ablehnt. Vater Wani unterrichtet Mathematik. Er ist Schuldirektor und leitet eine staatliche weiterführende Schule für etwa 300 Kinder. Seine toten Söhne Burhan und Khalid seien sehr gute Schüler und begeisterte Cricket-Spieler gewesen, berichtet er. Heute steht auf ihren Grabsteinen, dass sie als Märtyrer gestorben sind. Das südliche Kaschmirtal rund um den Heimatort der Wanis beklagt die meisten Todesopfer. Hier haben Kinder und Jugendliche Straßensperren errichtet und auch Zivilisten angegriffen. "Im Koran steht, dass derjenige, der im Namen Gottes stirbt, ein Märtyrer ist. Die Bevölkerung wehrt sich. Sie hat lange geschlafen. Doch seit Burhans Tod ist sie erwacht und erhebt sich." Artikel 370 der indischen Verfassung garantiert Kaschmir einen autonomen Sonderstatus. Doch seit der bewaffnete Aufstand gegen den indischen Staat 1989 begann, hat sich das Gebiet in eine Militärzone verwandelt. Damals vertrieben bewaffneten Separatisten mehrere hundert tausend kaschmirische Hindus aus ihrer Heimat. Armee und Polizei haben seitdem große Vollmachten.Die junge kaschmirische Journalistin Sumaiya Yousuf berichtet regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen. "Indien setzt seine Truppen hier in einem großen Ausmaß ein. Diese Truppen werden missbraucht. Die politische Elite in Indien versteht einfach nicht, was hier passiert. Indien verliert den Kampf um die Herzen und Köpfe." Sumaiya ist ein Kind der 90er-Jahre. Sie ist mit der massiven indischen Militärpräsenz aufgewachsen. Sie kritisiert die Lähmung der Politik. "Mein Herz blutet. Das Kaschmir-Problem ist seit Jahrzehnten ungelöst. Indiens Kalter Krieg mit Pakistan geht immer weiter und weiter. Die Grenze in Kaschmir wird sich nicht öffnen. Kaschmir ist ein Ziel und ein Opfer. Wir sind ein geteiltes Volk in einer geteilten Region." Pakistan unterstützt die Separatisten im indischen Teil Kaschmirs. Die Regierung in Islamabad hat Burhan Wani zum Märtyrer erklärt. Indien macht Pakistan für den islamistischen Terror in Kaschmir verantwortlich. Im pakistanischen Teil operieren mehrere extremistische Gruppen. Es gibt Trainingslager, die Kämpfer auf Anschläge vorbereiten. Früher sickerten die Kommandos regelmäßig aus dem pakistanischen in den indischen Teil ein. Heute greifen junge Kaschmiris im indischen Teil verstärkt direkt zur Waffe – ohne den Umweg über Pakistan zu gehen. 70 Jahre nach der Teilung Kaschmirs ist eine politische Lösung nicht in Sicht. Der Rest der Welt ist mit anderen Kriegsschauplätzen beschäftigt. Die Sonne steht hoch am Himmel. Der Muezzin einer Moschee am Ufer des berühmten Dal-Sees in Srinagar ruft zum Mittagsgebet. Der Dal-See mit seiner malerischen Bergkulisse ist eigentlich ein Anziehungspunkt für Touristen. Doch die kaschmirische Intifada hat die Touristen verschreckt. Die Hausboote sind verwaist. Es herrscht gähnende Leere. Auf einer kleinen Insel im See sitzen zwei junge Männer mit Büchern unter einem Baum im Schatten. Einer der beiden ringt aufgewühlt um Worte. Er hat Angst und will seinen Namen nicht sagen. Ihm schießen Tränen in die Augen. Er ist Student und will Computer-Ingenieur werden. Seine Uni ist geschlossen. Das akademische Jahr ist wegen der Unruhen verloren. "Wir fühlen uns eingesperrt. Wie im Käfig! Jeder will doch frei leben können. Indien benutzt unser Land, ohne uns Menschen zu wollen. Indien will seine Grenzen schützen und verhindern, dass Leute aus Pakistan einsickern oder dass China einmarschiert. Darum wollen sie Kaschmir. Ich möchte der indischen Regierung sagen: Gebt uns wenigstens die Chance, uns frei zu bewegen. Wann immer ich das Haus verlasse, muss ich an Bewaffneten vorbei. Wir fühlen uns bedroht." Der junge Kaschmiri sehnt sich nach einem ganz normalen Leben. Er will sein Leben genießen. Er wirft keine Steine und wird doch von der Gewalt zerrieben.
Von Sandra Petersmann
Seit dem 8. Juli gehören Tote und Verletzte zum traurigen Alltag im indischen Teil Kaschmirs. Damals erschossen Soldaten den Kämpfer Burhan Wani. In den Augen der indischen Regierung ein Terrorist, für viele Jugendliche ein Held und Märtyrer. Seitdem gehen seine Anhänger regelmäßig demonstrieren - doch immer seltener geht es dabei friedlich zu.
"2016-09-24T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:55:23.989000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unruhen-in-indien-die-wut-der-jugend-von-kaschmir-100.html
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AfD vor der Spaltung?
Ein Riß geht durch die AfD - das hat sich am Wochenende beim Parteitag in NRW gezeigt (imago / Ralph Peters) Die AfD hat ein stürmisches Wochenende hinter sich. In Thüringen und in NRW hat sich gezeigt, dass die Akteure am äußersten rechten Rand der AfD immer selbstbewusster auftreten. Die Partei-Spitze wollte den rechten "Flügel" lange Zeit nicht beachten, sagt Nadine Lindner. Jetzt werde es immer schwieriger, diese Fliehkräfte unter Kontrolle zu halten. Außerdem: Viele Städte auf der Welt werden auch in diesem Sommer wieder von Touristen-Massen überlaufen. Auch weil diese Orte durch das Internet, durch Instragram oder durch Fernseh-Serien berühmt geworden sind. Over-Tourism heisst dieses Phänomen - aus dem Ruder gelaufener Massen-Tourismus. Aber: Viele Touristen finden es gar nicht schlecht, wenn sie nicht allein sind, meint der Tourismus-Forscher Harald Pechlaner. Trotzdem rät er beliebten Städten, sich über ihr Tourismus-Konzept mehr Gedanken zu machen.
Von Tobias Armbrüster
Ist die AfD gerade dabei, sich selbst zu zerlegen? Der Konflikt zwischen dem Rechtsaußen-Flügel der Partei und den moderaten Mitgliedern wird immer offener ausgetragen. Und: das Phänomen Over-Tourism - der Massentourismus im digitalen Zeitalter. Auch in diesem Sommer wieder weltweit zu erleben.
"2019-07-08T17:00:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:58.595000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-afd-vor-der-spaltung-100.html
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Die Ampelkoalition und das "Recht auf Reparatur"
Menschen in einem Repaircafé in Berlin (picture alliance / dpa / Franziska Gabbert) Ralf Büchner darf getrost als Tüftler bezeichnet werden. Der 56-jährige Berliner ist gelernter Nachrichtentechniker, hat zuletzt sogar als Lokführer gearbeitet. Doch inzwischen ist er berufsunfähig, aber längst nicht ohne Beschäftigung. Denn ehrenamtlich versucht er all das zu reparieren, was die Leute ihm bringen: „Ja, circa 30 Jahre alt. Da ist der Stecker beziehungsweise der Schalter, da ist ein bisschen Plastik abgebrochen. Jetzt habe ich versucht, das zu reparieren. Das geht aber leider nicht mehr. Und jetzt wird ein neuer Schalter eingebaut.“ Büchner arbeitet in Reparatur-Cafés, und im Moment macht ihm eine alte Tischlampe zu schaffen. Elke Röskamp hat sie vorbeigebracht, die beiden sitzen sich gegenüber und fachsimpeln. Wie alt könnte die Lampe sein? „Ich habe sie mal gefunden. Also, ich würde sagen, die stammt so ungefähr – vor dem zweiten Weltkrieg. 30er-Jahre oder so was, das könnte sein. Ich habe das Stück schon sehr lange und ich würde es auch gern behalten. Ich konnte sie nirgendwo reparieren lassen, die haben gesagt, das machen sie nicht mehr. Ich kann es nicht selber, und da bin ich hierhergekommen. Das ist eine gute Idee gewesen, so etwas aufzumachen.“ Viele Repaircafé-Initiativen in Deutschland Reparatur-Cafés gibt es schon einige Jahre in Deutschland. Die Idee ist einfach: Defekte Alltags- oder Gebrauchsgegenstände können vorbeigebracht und in lockerer Atmosphäre, bei Kaffee und Kuchen, repariert werden. Reparatur-Cafés sind oft nur temporär geöffnet. Getragen von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Ein kostenloses Angebot, wobei Spenden für Werkzeug oder Ersatzteile gern gesehen sind. Deutschlandweit dürfte es inzwischen hunderte solcher Initiativen geben. Tüftler Ralf Büchner engagiert sich auch schon einige Jahre, die Nachfrage wächst.        „Das kann die arme und alleinerziehende Mutter sein – wo dann Spielzeug mitgebracht wird oder ein Haushaltsgerät, was nicht mehr funktioniert. Oder auch Sammler und Liebhaber. Oder auch: Jemand hat bei „Ebay“ etwas ersteigert, es funktioniert nicht, und dann können wir nachgucken, was damit ist.“ Wobei dieses Berliner Reparatur-Café schon etwas Besonderes ist. Allein der Standort: Mitten in einem stets gut besuchten Einkaufszentrum in Charlottenburg gelegen – zwischen Fastfood-Restaurant und Modeboutiquen. Es ist ein sogenanntes Pop-up-Reparatur-Café, es findet hier nur an wenigen Tagen statt, veranstaltet von der Technischen Universität Berlin. Weshalb nicht nur fachkundiges Personal vor Ort ist, sondern auch Wissenschaftler und Experten zu Vorträgen einladen. Und das Motto „Erhalten statt Wegwerfen“ scheint den Nerv der Zeit zu treffen: Eine Besucherin beispielsweise - sie hat ein Steckdosenlicht dabei, sie möchte ein Zeichen gegen die ‚Wegwerfmentalität‘ setzen: „Na unbedingt. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Es wäre für mich ein leichtes, mir jetzt für 10 Euro eine neue LED-Lampe zu kaufen. Mir tut es einfach weh, es so wegzuwerfen. Also: Dieser ökologische Gedanke, das ist meine höchste Priorität.“ Ampelkoalition will "Recht auf Reparatur" Was im Berliner Reparatur-Café schon im Kleinen umgesetzt wird, nimmt nun auch in der großen Politik deutlich an Fahrt auf. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ist erstmals ein ‚Recht auf Reparatur‘ als politisches Ziel niedergeschrieben. Eine langjährige Forderung vieler Umwelt- und Verbraucherverbände. Und in Thüringen machte im vergangenen Jahr ein Pilotprojekt der dortigen Verbraucherzentrale bundesweit Schlagzeilen: Mit öffentlichen Geldern wurde ein Reparaturbonus gezahlt. Ein Riesenerfolg, sagt Projektleiter Stefan Eisentraut. „100 Euro pro Person und Jahr. Der Fördertopf wurde dann zweimal aufgestockt. Weil es eine so große Nachfrage gab. Am Ende waren 500.000 Euro im Topf drin, und der Topf war dann am 11. Oktober, Stichtag, leer. Und letztlich haben wir etwas über 7.000 Anträge bekommen. Das lag weit über unseren Erwartungen.“ Die Idee stammt ursprünglich aus Österreich. Thüringen war das erste Bundesland, das den Reparaturbonus umgesetzt hat. Und inzwischen steht fest, auch in diesem Jahr wird das Programm fortgeführt, wahrscheinlich ab Frühsommer. Eine Idee, die nun auch in anderen Bundesländern diskutiert wird, etwa in Bayern, Berlin, oder Bremen. Wer ein Elektrogerät reparieren lassen wollte, konnte in Thüringen einen Antrag stellen und bekam über einen Gutschein die Hälfte der Reparaturkosten bis maximal 100 Euro erstattet. Interessant ist die bisherige Bilanz: Die Menschen beantragten den Reparaturbonus für eine breite Palette an Haushaltsgeräten - Waschmaschinen, Geschirrspüler oder Kaffeevollautomaten waren darunter, selbst alte Radios oder Kassettenrekorder aus DDR-Zeiten. Doch eindeutig vorn lagen moderne Kommunikationsgeräte: „Das Gros der Geräte waren tatsächlich Mobiltelefone – ein Viertel aller reparierten Geräte. Und da war der Großteil Baujahr 2019 oder 2020. Zum Teil auch 2021. Also ganz neue Geräte, die beispielsweise einen Displayschaden hatten und deswegen repariert werden mussten.“ Stefan Eisentraut, dem Projektleiter in der thüringischen Verbraucherzentrale, geht es darum, die Lebensdauer von Elektronikgeräten zu verlängern. Nur weil eine Komponente kaputt sei, müsse doch nicht gleich das ganze Handy oder Smartphone ersetzt werden. Weshalb er das im Koalitionsvertrag formulierte ‚Recht auf Reparatur‘ natürlich begrüßt. „Ich verbinde damit schon die Hoffnung, dass Geräte leichter reparierbar werden. Im Moment hat man ja teilweise den Trend, dass es absichtlich erschwert wird, beispielsweise bei einem Mobiltelefon oder Tablet den Akku auszutauschen. Die Bauteile werden teilweise fest verleimt – das heißt, es gibt immer weniger Werkstätten, die das tatsächlich machen können. Und wenn ich als Kunde oder als Verbraucher einfach das Recht oder den Anspruch habe, dass mein Gerät reparierbar ist, dann wird es viel leichter.“ Smartphones gehen oft kaputt, sind aber oft nicht ohne Weiteres zu reparieren (picture alliance / dpa Themendienst / Florian Schuh) Generalüberholte gebrauchte Geräte werden beliebter Das Umdenken hat begonnen - auch auf Verbraucherseite: Laut einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom steigt das Interesse an gebrauchten und professionell aufbereiteten Geräten wie Smartphones, Tablets oder Laptops – in der Fachsprache ‚refurbished‘ genannt. Demnach kann sich die Hälfte der Bundesbürger vorstellen, ein solch generalüberholtes und zudem auch – im Vergleich zum Neukauf -  günstigeres Modell zu erwerben. Jeder Achte habe es bereits getan. Und unter Jüngeren sind die Umfragezahlen sogar höher. Es gebe ein wachsendes Bewusstsein für die Klimarelevanz digitaler Technologien, teilt der Dachverband mit. Langlebige Produkte sind klimafreundlich. So hat das Freiburger Öko-Institut ausgerechnet, dass durch die längere Nutzung von Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen, Fernseher, Notebooks und Smartphones hierzulande pro Jahr fast vier Millionen Tonnen klimaschädlicher Treibhausgase eingespart werden könnten. So viel wie beispielsweise knapp zwei Millionen PKW im Jahr durchschnittlich ausstoßen. Neukauf bindet Rohstoffe Es geht um Einsparungen bei Energie und Ressourcen, ergänzt Thomas Ebert vom Umweltbundesamt. Sein wissenschaftliches Fachgebiet ist das Ökodesign von Produkten. „Wenn man Geräte neu kauft, dann ist das immer auch mit einem Rohstoffeinsatz verbunden. Das heißt, es müssen neue Rohstoffe gewonnen werden, was mit negativen Umweltwirkungen zusammenhängt. Zudem gehen auch immer Rohstoffe in der Abfallphase verloren, konkret: Man kann nicht alle Rohstoffe aus den Produkten herausgewinnen. Weiterhin gibt es stets einen Energieeinsatz, der mit der Produktion von Geräten verbunden ist. Und diese Energie geht natürlich - so gesagt - verloren, beziehungsweise muss eben neu aufgebracht werden.“ Viele Geräte werden fast nur noch bei ehrenamtlichen Angeboten wie diesem repariert (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen) Zurück im Reparatur-Café in Berlin. Inzwischen sind Dutzende gekommen, um etwas reparieren zu lassen. Tüftler Ralf Büchner macht die alte Lampe zu schaffen. Das Liebhaberstück - einmal auseinandergenommen – erweist sich als brüchig. Geduld ist angesagt. „Also, diese Lampe ist zum Albtraum geworden. Weil die Kabel innen, die sind wie Porzellan. Einmal gebogen, bricht die Isolierung total weg. Das heißt, ich restauriere die Lampe jetzt einmal komplett.“ Da in diesem Reparatur-Café der Technischen Universität Berlin auch Hintergrundwissen vermittelt werden soll, ist diesmal Rebecca Heinz von Germanwatch gekommen. Ein gemeinnütziger Verein, der sich in der Umwelt- und Entwicklungspolitik engagiert. Rebecca Heinz ist Koordinatorin für Branchendialoge und Expertin für Kreislaufwirtschaft. Sie wird gefragt, ob es stimme, dass die Lebensdauer von Produkten abnehme, dass Hersteller vielleicht sogar ein gezieltes Interesse daran hätten. In der Fachsprache heißt die Alterung von Produkten oder Gütern Obsoleszenz.      „Es gab vor einigen Jahren dazu auch eine Untersuchung des Deutschen Bundestages. Die hat so ungefähr gesagt: Die mutwillige Obsoleszenz kann man den Herstellern nicht wirklich nachweisen. Es wird damit argumentiert, dass ja auch die Innovationszyklen kürzer werden. Das heißt, dass Menschen die Produkte gar nicht mehr so lange benutzen würden und es deswegen fast schon eine Notwendigkeit sei, günstigere Teile einzubauen. Wo man Obsoleszenz sehr deutlich sieht, das ist der Bereich Software. Dass also Hersteller nach einer gewissen Nutzungszeit ihre Sicherheits-Updates einstellen – und dadurch das eigentlich noch funktionstüchtige Gerät nicht mehr genutzt werden kann vom Verbraucher.“ Kreislaufwirtschaft, bevor ein Produkt zu Müll wird Auch Germanwatch kämpft wie viele andere Umwelt- und Verbraucherverbände für eine bessere Reparierbarkeit von Produkten. Um das zu erreichen, müssten Hersteller beispielsweise verpflichtet werden, für einen entsprechenden Zeitraum kostengünstige Ersatzteile zur Verfügung zu stellen. Bisher seien Reparaturen auch meist zu teuer und somit wenig rentabel, sagt Rebecca Heinz. Ansätze dazu gebe es schon seit langem - beispielsweise auf europäischer Ebene. So hat die Ökodesign-Richtlinie das Ziel, Umweltwirkungen von energieverbrauchsrelevanten Produkten zu mindern. Ein in den vergangenen Jahren stets immer wieder veränderter, angepasster Rechtsrahmen, der Mindestanforderungen an das jeweilige Produktdesign festlegt. Für Rebecca Heinz der richtige Ansatz - auch für die künftige Politik der neuen Ampelkoalition:   „Ein großer Erfolg ist auf jeden Fall, dass der Koalitionsvertrag widerspiegelt, dass dieses Kreislaufwirtschaftsverständnis, was man auf EU-Ebene schon beobachtet, auch jetzt in Deutschland Einzug hält. Also, dass Kreislaufwirtschaft nicht mehr nur als Abfallwirtschaftssystem verstanden wird, sondern wirklich auf Produktebene ansetzt. Das heißt, dass Produkte reparierfähig und dadurch langlebig gestaltet werden – und man nicht, wie Deutschland das bisher gemacht hat, nur beim Recycling ansetzt.“ Dem Recycling von Elektrogeräten hierzulande scheinen ohnehin Grenzen gesetzt: So geht das Umweltbundesamt davon aus, dass das Verhältnis von wieder eingesammelten im Vergleich zu den in Verkehr gebrachten Produkten - das ist die sogenannte Sammelquote - bei lediglich rund 44 Prozent liegt. Also weniger als die Hälfte - ein seit Jahren recht stabiler Wert. Und so könnte auch stimmen, dass in deutschen Haushalten über 200 Millionen alte und nicht mehr gebrauchte Handys und Smartphones herumliegen. Mehr zum Thema Wirtschaft sieht Recht auf Reparatur kritisch Reparatur-Index - Frankreich macht es vor Reparaturcafé mit Dlf-Nova-Netzbastler Moritz Historikerin: Nachhaltigkeit war früher selbstverständlich EU-Kommission plant Gesetzesvorschlag Die neue Bundesregierung ist seit Anfang Dezember im Amt - die oft als Schonfrist bezeichneten ersten 100 Tage sind vorbei. Das im Koalitionsvertrag formulierte ‚Recht auf Reparatur‘ hat Schlagzeilen gemacht und für Erwartungen gesorgt. Im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz ist die Hoffnung groß, in diesem Jahr konkrete Schritte präsentieren zu können. Die Grünen-Politikerin Christiane Rohleder ist Staatssekretärin im neu zugeschnitten Ministerium. Sie skizziert zuerst die Zuständigkeiten bei der Verwirklichung einer besseren Reparierbarkeit von Produkten.     „Wie sind die Produkte gestaltet? Das ist in der Öko-Design-Richtlinie auf europäischer Ebene geregelt. Da haben wir schon Regelungen, beispielsweise für große Geräte wie Waschmaschinen, Fernseher usw. Da gibt es das schon, dass Ersatzteile teilweise bis zu zehn Jahre vorgehalten werden müssen, dass auch Reparaturanleitungen mitgeliefert werden müssen. Im Bürgerlichen Gesetzbuch sind andere Dinge geregelt, da geht es um Gewährleistungsfristen usw. Dafür ist weiterhin auch das Justizministerium federführend.“ Nach derzeitigem Stand plant die EU-Kommission im Juli die Vorlage eines Gesetzesvorschlags für das ‚Recht auf Reparatur‘. Die Bundesregierung will die in der EU-Ökodesign-Richtlinie geltenden Vorgaben für größere Elektronikprodukte wie Waschmaschinen und Kühlschränke auch auf kleinere Geräte wie Smartphones oder Laptops ausweiten. Und sie möchte dabei zuerst die Initiative aus Brüssel abwarten. Das allein hat schon für Kritik gesorgt, so mahnte der Verbraucherzentrale-Bundesverband mehr Tempo an. "Sehr viele Sachen, die widersprüchlich geregelt sind" In der Diskussion ist so einiges – auch weil einzelne EU-Staaten schon vorgeprescht sind. So wurde bereits vor ein paar Jahren beispielsweise in Schweden die Mehrwertsteuer für kleinere Reparaturen halbiert. Ein Modell auch für Deutschland? Staatssekretärin Christiane Rohleder. „Das ist etwas, was man auf jeden Fall erst einmal prüfen muss. Weil das ganze System relativ komplex ist. Und es gibt da sehr viele Sachen, die da widersprüchlich geregelt sind. Das EU-Recht lässt in dem Bereich auch nur einen relativ geringen Spielraum zu. Es gibt nur bestimmte Produkte, bei denen das überhaupt zulässig wäre." Eine andere Idee kommt aus Frankreich. Hier wurde im Januar 2021 ein Reparatur-Index eingeführt. Händler müssen Kunden künftig darüber informieren, wie einfach oder schwer sich Elektronikprodukte reparieren lassen. Anhand von Kriterien wie Zerlegbarkeit oder auch Verfügbarkeit von Ersatzteilen wird eine Gesamtbenotung zwischen 1 und 10 vergeben. Auf europäischer Ebene gibt es einen solchen Reparatur-Index hingegen noch nicht, doch bekam die französische Initiative Lob von vielen Seiten. Auch aus dem Bundesumweltministerium:     „Natürlich hat es immer eine größere Reichweite, wenn man Dinge auf EU-Ebene regelt. Deshalb würden wir es auch gerne auf EU-Ebene regeln. Wir wollen es aber auf jeden Fall machen. Wenn es auf EU-Ebene jetzt nicht relativ zügig kommt, wollen wir gerne – genauso wie Frankreich es schon getan hat – vorausgehen und auch auf nationaler Ebene so einen Reparatur-Index auf dem Produkt schaffen. Das kann durchaus über Elektrogeräte hinausgehen. Es macht vor allem da Sinn, wo man von Geräten erwartet, dass sie lange haltbar sind.“ Das grün-geführte Bundesumweltministerium schließt somit bei Einzelmaßnahmen wie dem Reparatur-Index künftig nationale Regelungen nicht aus. Mit Geschick und Werkzeug lassen sich viele Haushaltsgeräte reparieren (picture alliance / dpa / Franziska Gabbert) Industrie äußert Bedenken Und auch wenn vieles noch nicht entschieden ist formiert sich bereits Widerstand. So warnte Anfang Februar der Deutsche Industrie- und Handelskammertag vor "nationalen Alleingängen". Das würde den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt ad absurdum führen. Ebenso wird auf Herstellerseite befürchtet, dass eine Bevorratung von Ersatzteilen große Lagerflächen erfordere. Ein Logistik- und Kostenargument.  Nach außen hin zeigt sich die Industrie offen beim geplanten ‚Recht auf Reparatur‘. Doch liegt der Teufel – wie so oft - im Detail. So argumentieren Hersteller von Kommunikationselektronik beispielsweise auch mit Sicherheitsbedenken. Nicht autorisierte Reparaturen könnten etwa die Anfälligkeit gegenüber Hackern erhöhen oder ebenso den Verlust sensibler Kundendaten befördern. Die Reaktionen machen deutlich, dass eine verbesserte Reparierbarkeit schon deutliche Folgen für die Wirtschaft und den Absatz bestimmter Produkte hätte, sagt Thomas Ebert, der Experte für Ökodesign beim Umweltbundesamt. „Man muss wohl auch an der Stelle sehen, dass, wenn Geräte eben länger genutzt werden können, dann auch weniger Geräte verkauft werden. Das Fraunhofer-Institut hat das anhand einer Smartphone-Studie verdeutlicht. Wenn also ambitionierte Anforderungen und auch Verbraucherinformationen umgesetzt würden, die die Langlebigkeit von Smartphones verbessern, dass dann tatsächlich ungefähr ein Viertel weniger Geräte verkauft würden. Und das ökonomische Interesse der Hersteller ist natürlich erstmal einmal der Verkauf von Geräten.“ Somit dürften Konflikte um das politisch propagierte Ziel eines ‚Rechts auf Reparatur“ in den kommenden Monaten auf nationaler und auch europäischer Ebene vorprogrammiert sein. Umweltministerium möchte "eine Fördermöglichkeit schaffen" Übrigens wird es künftig auch bessere Fördermöglichkeiten für Reparatur-Cafés geben. In Thüringen, wo der Reparaturbonus in diesem Jahr fortgeführt werden wird, soll die staatliche Finanzspritze erstmals auch dann gezahlt werden, wenn Ersatzteile in einem Reparatur-Café eingebaut werden.  Bislang galt das nur für Fachhändler und deren Werkstätten. Eine Anhängerin des Reparaturbonus ist auch Christiane Rohleder, die Staatssekretärin im Bundesumweltministerium. „Was Thüringen da gemacht hat, ist auf jeden Fall großartig. Und ich freue mich, wenn das weitergeht, und ich freue mich auch, wenn es das in anderen Bundesländern gibt. Und auch wir würden recht gerne eine Form von Förderung einführen, das müssen wir aber natürlich noch in den Haushaltsverhandlungen besprechen. Aber: Wenn es möglich ist, dafür auch Geld zu kriegen, dann möchten wir gerne eine Fördermöglichkeit schaffen.“ Was im Berliner Reparatur-Café sicherlich gern gehört wird. Denn solche Initiativen sind bislang vor allem auf Spenden angewiesen. Dass sie den Menschen mit ihren defekten Haushaltsgeräten helfen können, hat sich auch im Fall von Elke Röskamp gezeigt. Die alte Lampe, die sie mitgebracht hat, wird wohl wieder funktionieren, da ist Hobby-Reparateur Ralf Büchner ziemlich optimistisch.    „Also es wird - zumindest wird die Lampe leuchten. Erst mal aber ohne Schalter, das werde ich überbrücken. Und dann kommt die Dame später zum Repair-Cafe, sie besorgt einen Schalter und den baue ich dann ein. Dann ist alles wieder vollständig.""Und Sie haben noch ein bisschen Zeit mitgebracht?""Ja, auf jeden Fall! Wer würde mir das sonst machen? Keiner!"
Von Dieter Nürnberger
Kaputte Waschmaschinen, Geschirrspüler oder Kaffeevollautomaten werden oft gleich ersetzt statt repariert. Dabei wäre eine Reparatur die umweltschonendere Alternative. Die EU, die Bundesregierung und manche Bundesländer arbeiten an Ideen, wie sich ein nachhaltigerer Umgang mit Geräten fördern ließe.
"2022-02-21T18:40:00+01:00"
"2022-02-21T18:40:00.007000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reparieren-statt-verschrotten-muellvermeidung-plaene-ampelkoalition-100.html
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Aigner will klare Trennung von technischen und Futterfetten
Friedbert Meurer: In Niedersachsen können viele Bauern seit dem Wochenende etwas aufatmen. Die meisten gesperrten Betriebe dürfen ihre Produkte wieder in den Verkauf bringen. Von ihrem Fleisch oder ihren Eiern ginge kein Risiko mehr für die Verbraucher aus, heißt es im Agrarministerium in Hannover. Viele Verbraucher aber fragen sich, wann kommt der nächste Skandal, wer weiß, was da alles ins Futter gekippt wird. – Vincent Klink ist Starkoch aus Stuttgart und er hat gestern Morgen bei uns im Deutschlandfunk gemeint:O-Ton Vincent Klink: Die Lebensmittelbranche ist wirtschaftlich die größte. Die ist viel größer wie die Autobranche und so weiter. Es fließt dort viel Geld, und wo viel Geld und wo viele Gewinne sind, da sind natürlich auch verbrecherische Leute und Lobbyisten am Werk, und es ist insofern ärgerlich, dass wir immer noch nicht erkannt haben, wie schlimm das eigentlich ist. Wir lästern über das korrupte Italien, aber jedenfalls im Landwirtschaftsbereich, der ist bei uns ähnlich schurkisch unterminiert wie in Italien. Da brauchen wir uns gar nichts mehr einbilden. Im Grunde hat einfach die Nahrungsmittelindustrie, oder man könnte auch manchmal sogar von Nahrungsmittelchemie reden, die haben einfach die bessere Lobby.Meurer: Vincent Klink, ein bekannter Fernsehkoch. – Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner lädt heute Vormittag die Spitzen der Wirtschaft zu einem Sondertreffen ein in ihr Ministerium: die Futtermittelindustrie, den Bauernverband, den Handel, die Erzeuger und die Verbraucherschützer. Guten Morgen, Frau Aigner.Ilse Aigner: Schönen guten Morgen.Meurer: Wie viele Schurken gibt es in der deutschen Landwirtschaft?Aigner: Ich warne hier auch vor Pauschalverurteilungen. Hier haben wir es konkret, wenn sich der Verdacht bestätigt, mit einem Zulieferer in der Futtermittelindustrie zu tun, und der hat selbst mit der Landwirtschaft nichts zu tun, sondern ist eben ein Lieferant, der, wenn sich alles bestätigt, verantwortungslos und vollkommen skrupellos gehandelt hat.Meurer: Das sieht die Öffentlichkeit anders, dass das nichts mit der Landwirtschaft zu tun hätte. Er arbeitet doch für die Landwirtschaft und liefert Futter.Aigner: Nein, er arbeitet im Prinzip für sich selbst, für den Betrieb, und liefert Fette an landwirtschaftliche Betriebe, beziehungsweise nicht nur an landwirtschaftliche Betriebe, man muss genauer sagen an Futtermittelhersteller, und deswegen ist er nicht selbst in der Landwirtschaft tätig. Aber wie gesagt, es ist hier, wenn sich der Verdacht bestätigt, eindeutig kriminelles Handeln.Meurer: Wird gerade in dieser Branche mit besonders unsauberen Mitteln gearbeitet?Aigner: Wie gesagt, so was kann man einfach generell nicht behaupten hier, und wie gesagt, es ist ein eindeutig kriminelles Verfahren, was überhaupt nicht durchgehen darf, und ich hoffe auch, dass die Justiz mit voller Härte hier zuschlägt.Meurer: Wir haben jetzt die Information seit gestern, dass die meisten Höfe nicht mehr gesperrt sind in Niedersachsen. Zwei Drittel etwa dürfen ihre Produkte wieder verkaufen. Heißt das, die akute Gefahr ist überwiegend gebannt?Aigner: Das heißt, dass das zuständige Land – im Wesentlichen ist das ja eben Niedersachsen – jetzt die Prüfungen bei diesen Höfen abgeschlossen hat. Wir sind ursprünglich von etwa 4700 ausgegangen und sind jetzt bei ungefähr 1635, wenn ich jetzt richtig die Zahl im Kopf habe, und die dazwischen liegenden Betriebe sind geprüft worden beziehungsweise ob Futtermittel in die Betriebe gegangen sind A, und B, ob diese Futtermittel belastet waren, und wenn sie dieses nicht waren, sind diese Höfe freigegeben worden. Das ist also ein Zwischenstand und das heißt natürlich genauso, dass die weiteren Betriebe jetzt noch überprüft werden müssen.Meurer: Also man kann daraus noch gar nichts schließen über den Umfang des Skandals?Aigner: Nein. Das ist jetzt einfach ein Zwischenstand und bei uns ist ganz klar: Verbraucherschutz geht vor, und deshalb sind diese Betriebe von Niedersachsen auch gesperrt worden, um gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass eben der Verbraucherschutz hier im Vordergrund steht.Meurer: Sie haben für heute Vormittag die Spitzen der Wirtschaft zu einem Sondertreffen eingeladen in Ihr Ministerium, Frau Aigner: die Futtermittelindustrie, den Bauernverband, den Handel, die Erzeuger, Milch, Fleisch und so weiter und auch Verbraucherschützer. Was erwarten Sie vor allen Dingen von der Futtermittelindustrie, was künftig anders werden muss?Aigner: Zum einen erwarte ich mal einen Sachstandsbericht, auch eine Analyse der momentanen Situation, wie es auch mit den Eigenkontrollsystemen überhaupt so weit kommen konnte, und auch konkrete Vorschläge, die ich dann kritisch auch prüfen kann, ob die ausreichend sind.Meurer: Das Eigenkontrollsystem, wie umfangreich war das bisher bei den Futtermittelherstellern?Aigner: Letztendlich wurde hier auch kontrolliert. Einmal hat der Betrieb selbst nach den jetzigen Erkenntnissen kontrolliert, hat gemessen und hat verschleiert, dass er einen Wert wohl hatte, der über dem Grenzwert ist. Das ist ein strafrechtliches Vergehen, weil er das nicht den zuständigen Behörden gemeldet hat. Die zweite Kette, wo es dann aufgefallen ist, ist eben ein Futtermittelhersteller, der durch das Testen seiner Futtermittel festgestellt hat, dass es ein Problem gibt, und dieses auch unverzüglich gemeldet hat und daraufhin eigentlich der ganze Prozess in Gang gekommen ist.Meurer: Für die Kontrolle sind die Länder zuständig, nicht der Bund. Liegt es nahe, dass die Länder mehr Kontrolleure einstellen müssen, weil das im Moment einfach zu wenig ist?Aigner: Insbesondere Niedersachsen hat gleich zugesagt, auch jetzt, dass sie konkret die Fetthersteller komplett noch mal kontrollieren werden, und sie machen das auch in eigener Verantwortung und tun das auch risikobasiert, und dafür müssen sie auch geradestehen.Meurer: Das heißt, Sie appellieren schon, überprüft euren Personalbestand und legt noch etwas nach?Aigner: Niedersachsen hat zugesagt, auf alle Fälle jetzt diese ganzen Futterfett-Hersteller einer intensiven Kontrolle zu unterziehen. Insofern machen die das von sich aus jetzt auch.Meurer: Bei uns hat am Samstag Thilo Bode von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch im Interview gesagt, das mit den Kontrollen wird man im Leben nicht so ausführlich hinbekommen, dass es reicht, sondern die Hersteller müssen selbst jede Charge überprüfen. Ist das die bessere Methode, auch wenn sie mehr Geld kosten würde?Aigner: Ich gehe davon aus, dass insbesondere auch die Futtermittelhersteller selbst ein Interesse haben, bei den Zulieferern die Eigenkontrollen zu verstärken und sich das auch zertifizieren zu lassen, weil die jetzt diejenigen sind, die wohl am stärksten letztendlich auch in den Fokus geraten. Die Landwirte werden bei den Futtermittelherstellern ihren Regressanspruch machen für die wirtschaftlichen Ausfälle und ob bei dem ursprünglichen Hersteller dann noch Geld zu holen ist, wird sich herausstellen. Insofern haben die selbst ein Interesse daran, sich in Zukunft das auch zertifizieren zu lassen.Meurer: Interpretiere ich Sie richtig, Frau Aigner, Sie belassen es in Sachen Futtermittelhersteller bei Appellen?Aigner: Nein, das sind nicht Appelle, sondern wir werden die Situation analysieren und dann genau auch gemeinsam mit den Ländern in einem Plan überlegen, wie können wir das noch besser abgrenzen. Es ist übrigens auch eine Idee, die ich schon am Anfang geäußert habe, dass man gerade die Herstellung von technischen Fetten und Fetten für die Futtermittelindustrie trennt, also nicht auf einem Betriebsgelände durch das Umlegen eines Ventils oder eines Hahns sozusagen hier die Vermischung stattfindet, und das werden wir auch gemeinsam haben bis hin zur Frage, wie geht es mit der Haftpflicht weiter und so weiter und so fort. Wir werden viele Fragen zu diskutieren haben. Das betrifft einmal die betroffene Wirtschaft bis hin zu den Verbraucherverbänden, aber das betrifft auch die Länder, mit denen ich mich nächste Woche treffen werde.Meurer: Ist das bisher leichtsinnig gewesen, dass man Betrieben erlaubt hat, beides zu produzieren und dann kommt es aus einem Hahn, mal für die Industrie, mal für die Tiere?Aigner: Auch die Zulassungsfrage wird zu klären sein, aber so weit mein jetziger Kenntnisstand ist, ist auch, dass ein Teil in Bösel nicht mal zugelassen war dieses Betriebes. Sprich: Der war überhaupt nicht registriert. Und das ist schon eine weitere Qualität und auch das werden wir überprüfen müssen.Meurer: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, das wollen Sie ja nicht mehr haben, dass ein Betrieb beides macht, Industrieproduktion und Futtermittel?Aigner: Genau. Da bin ich mir übrigens auch mit Kommissar Dalli einig, dass wir diese Frage auch europäisch klären, weil selbst wenn wir das in Deutschland, was ich für richtig finde, klären, müssen wir das auch europäisch klären, weil wir kriegen ja auch Futtermittel letztendlich aus den europäischen benachbarten Staaten.Meurer: Wir reden, Frau Aigner, jetzt über Kriminalität, wir reden über Kontrollen, über getrennte Produktionswege. Müssten wir auch darüber reden, dass man eigentlich nicht erwarten kann, wenn zehn Eier 1,30 Euro im Supermarkt kosten, das Kilo Schweinefleisch 2,50 Euro, dass dann niemand sich wundern darf, wenn man von solchen Skandalen hört?Aigner: Generell will ich sagen, es ist immer die Frage, wie man persönlich auch Lebensmittel wertschätzt und ob man allein nach dem Preis entscheidet. Diese Einschätzung teile ich. Ich sage auch, es gibt viele Menschen, die müssen genau jeden Cent umdrehen. Aber ich glaube auch, viele könnten etwas mehr Wertschätzung, mehr Geld letztendlich für Lebensmittel ausgeben und setzen vielleicht andere Prioritäten, die zugunsten der Lebensmittel vielleicht auch umgepolt werden könnten.Meurer: Ilse Aigner, die Bundeslandwirtschafts- und Verbraucherschutzministerin, bei uns im Deutschlandfunk. Frau Aigner, besten Dank und auf Wiederhören.Aigner: Ich wünsche einen schönen guten Tag und auf Wiederhören!
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Krisengipfel bei Ilse Aigner (CSU): Von Futtermittelherstellern bis zum Handel wird heute beraten, warum Dioxin in unserem Essen gelandet ist - und wie das künftig zu vermeiden ist. Ilse Aigner setzt auf Eigenkontrollen und getrennte Herstellungswege.
"2011-01-10T07:15:00+01:00"
"2020-02-04T02:18:52.493000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aigner-will-klare-trennung-von-technischen-und-futterfetten-100.html
541
"Der Fußball müsste sich mehr öffnen"
Journalist Ronny Blaschke hinterfragt in seinem neuen Buch "Gesellschaftsspielchen" die moralische und gesellschaftliche Verantwortung des Fußballs. (Ronny Blaschke) "Gesellschaftsspielchen - Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei": Unter diesem Titel hinterfragt der Journalist Ronny Blaschke in seinem neuen Buch die moralische und gesellschaftliche Verantwortung des deutschen Fußballs. "Den Prozess des Gewinnstrebens hinterfragen" Zwar fließe bereits jetzt hier und da Geld aus dem Gewinn großer Vereine in soziale Projekte, aber das reiche nicht: "Es geht darum, den gesamten Prozess des Gewinnstrebens zu hinterfragen", sagte Ronny Blaschke in der Sendung "Sport am Sonntag". Dann würde vielleicht auch ein Verein wie der FC Bayern München "auf die Idee kommen, dass durch ein Trainingsspiel in Saudi-Arabien oder einen Sponsorenvertrag mit einem Flughafen in Doha andere Projekte wie zum Beispiel gegen Antisemitismus untergraben werden können." Das gesamte Gespräch können Sie nach der Sendung mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu Eigen.
Ronny Blaschke im Gespräch mit Andrea Schültke
Skandale, überdimensionierte Events, Kommerzialisierung: Der Fußball steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise. Um sie zu überwinden, sollte sich der Sport "mehr um sein Umfeld und seine Gesellschaft kümmern", sagte der Journalist Ronny Blaschke im DLF über sein neues Buch "Gesellschaftsspielchen".
"2016-10-23T19:47:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:54.541000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ronny-blaschke-ueber-sein-neues-buch-der-fussball-muesste-100.html
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Änderung beim Videobeweis
Schiedsrichter im "Videoassist-Center" (picture-alliance / dpa / Rolf Vennenbernd) In einem von den Schiedsrichter-Funktionären Lutz Michael Fröhlich und Hellmut Krug unterzeichneten DFB-Schreiben vom 25. Oktober an alle Bundesligisten ist von einer "Kurs-Korrektur" die Rede. Der Deutsche Fußball Bund hatte bei Einführung der Video-Assistenten kommuniziert, dass der Video-Beweis nur zum Einsatz komme, wenn der Schiedsrichter eine klare Fehlentscheidung getroffen oder eine entscheidende Szene übersehen habe – und das nur wenn es um eine Torerzielung, einen Strafstoß, eine Rote Karte oder die Verwechslung eines Spielers gehe. Was ist neu? Nun darf der Assistent auch bei strittigen Entscheidungen Kontakt mit dem Schiedsrichter aufnehmen. Wenn sich die Wahrnehmung beider dabei "gravierend" unterscheide, könne der Unparteiische sich die Situation noch einmal am Video-Monitor anschauen. "Die Entscheidung, ob ihm ein klarer Fehler unterlaufen ist, liege dann bei ihm selbst", schreibt der DFB und verweist auf die Definition, die die internationalen Regelhüter des International Football Association Boards vorgeben. Demnach liegt ein klarer Fehler des Schiedsrichters vor, "wenn er seine Entscheidung nach Betrachtung des Bildmaterials unverzüglich ändern würde." Information spät kommuniziert Bemerkenswert ist, dass der DFB die Änderungen schon am 5. Spieltag vorgenommen hat und die Bundesligavereine erst einen Monat nach der Änderung informierte. Dies erklärt die Häufigkeit von Videobeweisentscheidungen in den letzten Wochen und die Verwunderung von Offiziellen und Spielern über die Entscheidungen, die konträr zu den Angaben des Verbandes zu Saisonbeginn getroffen wurden. Außerdem wundern sich Beobachter der Bundesliga, dass die Änderungen nicht öffentlich kommuniziert wurden. Dies spielt Kritikern des Videobeweises und der Schiedsrichterführung in die Karten, die seit Wochen den intransparenten Umgang des Verbandes mit der Durchführung des Videobeweises und mit den Schiedsrichtern bemängeln.
Von Klaas Reese
Der Deutsche Fußball-Bund hat ohne öffentliche Ankündigung seine Anweisungen an die Schiedsrichter beim Thema Videobeweis verändert. Wie der "kicker" berichtet, darf sich der Videoassistent nun auch in Situationen beim Schiedsrichter melden, in denen kein klarer Fehler vorliegt.
"2017-11-02T22:56:00+01:00"
"2020-01-28T10:59:22.656000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kurs-korrektur-aenderung-beim-videobeweis-100.html
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Hö Hi Ho
<object width="462" height="280" data="../themes/dradio/flash/player.swf" type="application/x-shockwave-flash"><param name="src" value="../themes/dradio/flash/player.swf"></param><param name="flashvars" value="file=http://cdn.dradio.de/video/dlf/corso/cdm_hoe_hi_ho.flv&stretching=uniform"></param></object>Thomas Pigor ist ein deutscher Kabarettist, Liedermacher, Buchautor und Komponist. Seit Ende der 1970er-Jahre ist er als Musikkabarettist mit verschiedenen Bühnenprogrammen unterwegs. Seine Texte beziehen sich vorzugsweise auf aktuelle Ereignisse und er gilt als einer der Erneuerer des deutschen Chansons.Hö Hi HoHeute mach ich mir einen SpaßMit den Agenten des NSA´s Mit dem US-Geheimdienst aus MarylandDer unsere Kommunikationsdaten durchscanntGegen die Mittel die die dort haben Warn die Stasi Waisenknaben Drum gebe ich jetzt diesen SpackenMal eine richtige Nuss zu knackenErst muss ich sie interessieren Ihren Spürsinn aktivieren Drum sag ich damit man mich nicht übergehtMal ins Telefon ganz laut: "Prophet!"Ich sag: "Bombe" und "TNT"Worte wie "Gras" und "Stoff" und "Schnee" Dann schließen sie aus Algorithmen: "Dem Kerl muss sich mal einer widmen" Und fragn sie sich: "Was ist denn das?"Dann Freunde beginnt der SpassDann sag ich:Bu willsde dann dei Hö hi ho Hö hi ho morn frühBu willsde dann dei Hö hi hoUnd hosde vielleicht noch ä Ä ü?Und die Geheimdienstexperten sagn sich: "Oh GottSchon wieder ein ganz neuer TerrorkomplottDie Sprache die der da sprichtAuf unserm Schirm ham wir die nicht!" Bei den Experten für vordren und hintren OrientGibts es keinen der das Wort Hö Hi Ho kennt,, Die Experten für Madegassen Bei Hö hi ho müssen sie passen  Und der Deutschland Experte zum E-Mails durchforsten Heisst Torsten und ist von der KüsteUnd sagt: "Hö hi ho nein, deutsch ist das nichHö hi ho nicht dass ich wüsste. Ein Daabdudel der Torsten! Bu willsde dann dei Hö hi hoHö hi ho morn frühBu willsde dann dei Hö hi ho Und hosde vielleicht noch ä Ä ü? Der NSA liest zwar in der ganzen EUUnsere Mails und hört unsern Unterredungen zu Doch Europa wehrt sich mit IntelligenzUnd dem Reichtum des KontinentsUnd alle reden nur noch in ihrem DorfdialektIm abhörsicheren Dorfdialekt Hö Hi HoWeil das der US-Geheimdienst nicht checktHö Hi Ho HäWode dei Hö hi ho willst Ich wess ned wo ich mei Hö hi ho willImmr du ein Geduu mit dein HöSowie dei Geduu mit dein DadooMit mein Dadoo? Ja dei Geduu mit dein DadooWhat the heck are they talking about? Musik und Text: Thomas Pigor
null
Pigor goes NSA: Im Chanson des Monats Juli singt er ganz im Dienste seiner Geheimlichkeit. Denn merke: Wer bei geheimen Geheimdiensten auffallen will, muss die Kunst des Keywordings beherrschen – aber hören Sie selbst!.
"2013-07-08T15:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:25:30.176000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoe-hi-ho-100.html
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"Wir wollen doch nicht zurück in die 50er-Jahre"
Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. (picture alliance / dpa / Jens Wolf) Donald Trumps Erfolg zeige deutlich, dass demokratische Errungenschaften immer wieder verteidigt werden müssten. "Wir wollen doch nicht ernsthaft zurück in die 50er-Jahre", sagte Grünen-Chef Cem Özdemir im Deutschlandfunk. Es gebe in vielen Ländern die Angst vor Kontrollverlust. Das habe sich etwa auch beim Brexit gezeigt. "Und es kann noch weitere Unfälle geben", sagte Özdemir. Sollte Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Front National in Frankreich, die Präsidentenwahl gewinnen, "dann wäre es zu Ende mit der Europäischen Union". Deshalb gehe es ganz entscheidend um die Frage, "wie schaffen wir es, die Leute, die wir zu verlieren drohen in der Demokratie, wieder einzubinden". Dabei gehe es etwa um Alleinerziehende, von denen 40 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen sind, Langzeitarbeitslosde und Erwerbsgeminderte, die das Gefühl hätten, abgehängt zu sein, sagte Özdemir. Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Die Grünen beginnen heute ihren Parteitag in Münster in Nordrhein-Westfalen. Und wenn sich die Delegierten da treffen, dann wirft natürlich vor allem die Bundestagswahl in gut einem Jahr ihre Schatten voraus. Die Partei muss sich auf vielen Feldern positionieren, streit könnte es dabei vor allem bei der grünen Steuerpolitik geben. Und mitgehört hat Cem Özdemir, der Parteivorsitzende der Grünen. Schönen guten Morgen, Herr Özdemir! Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Armbrüster! Armbrüster: Herr Özdemir, über die Steuern und andere Streitfelder können wir gleich noch sprechen. Zunächst mal, Sie haben Ihren Parteitag ja sehr geschickt gelegt, drei Tage nach der US-Wahl. Was können die Grünen denn von Donald Trump lernen? Özdemir: Nicht unbedingt, wie man Politik macht, da haben wir so ziemlich das Gegenmodell dazu. Wir stehen für eine offene Gesellschaft, wir stehen nicht für eine Gesellschaft mit Ressentiments. Aber gewählt ist gewählt, die Sonne ist auch heute wieder aufgegangen und von daher ist klar, wir werden damit leben müssen. Wir merken, dass es in vielen Ländern Angst vor Kontrollverlust gibt, und die Unfälle werden mehr. Brexit, jetzt die Trump-Wahl und auch in Europa gibt es ja noch einige Möglichkeiten, wo noch was schiefgehen kann, denken Sie an die französische Präsidentschaftswahl, Marine Le Pen an der Macht und es wäre zu Ende mit der Europäischen Union. Insofern ist klar, wir müssen uns darum kümmern, wie schaffen wir es, dass wir die Leute, die wir zu verlieren drohen in der Demokratie, dass wir die wieder einbinden. "Die Grünen sollen die Lobby all derer sein, die keine Lobby haben" Armbrüster: Wie schaffen Sie das denn, haben Sie die auf dem Schirm als Grüne? Özdemir: Also, gegen die Spitze der AfD, da, glaube ich, können wir wenig Angebote machen. Denn noch mal, das ist das Gegenangebot zu dem, wofür wir stehen. Aber ich glaube, bei einem Teil der Anhänger gibt es auch Leute, die müssen da nicht zwingend sein, denken Sie an Alleinerziehende vielleicht, von denen 40 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen sind, denken Sie an Erwerbsgeminderte, denken Sie an Langzeitarbeitslose. Es gibt viele Menschen in der Gesellschaft, die das Gefühl haben, abgehängt zu sein, dass sich keiner um sie kümmert, und es passt ja auch zu der Debatte auf diesem Parteitag, in Sachen Gerechtigkeit. Wir wollen Gerechtigkeit nicht nur für die definieren, die am besten organisiert sind wie bei der Großen Koalition, wie mit dem Rentenkompromiss, wer 45 Jahre eingezahlt hat, bekommt dann nachher die Rente mit 63, das sind vor allem Männer, aber diejenigen, die leer ausgehen, Frauen oder wie gesagt Erwerbsgeminderte, die ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet haben, die haben bei dieser Koalition keine Lobby. Und die Grünen sollen die Lobby all derer sein, die keine Lobby haben. Armbrüster: Das sind ja nun aber nicht unbedingt Ihre Kernwähler. Viele Kommentatoren sagen jetzt sogar, die ganze liberale Politik zum Beispiel von Präsident Obama, die habe Trump überhaupt erst möglich gemacht, dieses Eintreten für Schwule und Lesben, für ethnische Minderheiten, die Sozialpolitik und immer dieses ganze Moralisch-Oberlehrerhafte. Das wird da immer genannt, das sind ja eigentlich alles Attribute, die gerne auch Ihrer Partei, den Grünen angehängt werden. Özdemir: Das teile ich nicht, sondern was ich teile, ist natürlich, dass man dafür sorgen muss, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt da ist, dass alle mitgenommen werden. Aber im Kern geht es doch darum, dass Bill Clinton mal gesagt hat, "it's the economy, stupid". Da ist zwar immer noch was dran, aber es ist jetzt was dazugekommen, it's the hate, stupid. Das heißt, der Hass auf Minderheiten, der Hass auf alle anderen, der Hass auf Zuwanderer, auf ein verändertes Frauenbild, dass Schwule und Lesben sich nicht mehr verstecken wollen. Wir wollen doch nicht ernsthaft zurück in die 50er-Jahre! Und dafür muss man werben, dafür muss man aktiv sich einsetzen. Und wir merken, das ist jedenfalls kein Selbstläufer. Zu glauben, wenn man einmal was erreicht hat, dann ist das so, ist ein großer Irrtum. Man muss demokratische Errungenschaften jedes Mal, in jeder Generation neu wieder begründen, neu erkämpfen. "Wir haben unsere Lehre gelernt" Armbrüster: Dann lassen Sie uns, Herr Özdemir, über eins der großen Streitthemen sprechen bei diesem Parteitag: Werden Sie Steuererhöhungen und Steuern noch einmal zu einem grünen Wahlkampfschlager machen? Özdemir: Nein, ganz sicher nicht und da gibt es ja auch Einigkeit bei der Partei. Also, bei allen Antragstellern, wenn Sie jetzt auf die Vermögenssteuer ansprechen, gibt es ja Einigkeit, dass wir das nicht wollen. Wir wollen ... Die Vermögensabgabe gibt es nicht mehr, wir wollen bei der Einkommensteuer nicht mehr ran. Also, wir haben ja unsere Lehre gelernt und auch beim Ehegattensplitting hoffe ich, dass der Parteitag beschließt, dass wir für neue Ehen dieses ändern, aber nicht für Ehen, die bereits geschlossen sind. "Weniger Streit um Instrumente, mehr Verständigung über die Ziele" Armbrüster: Na ja, gut, aber es gibt ja zumindest ... Ich will da bei der Vermögensteuer noch mal bleiben, da gibt es ja einige Stimmen, die die doch haben wollen, und auch ein gewichtiger Anteil Ihrer Delegierten. Özdemir: Das ist richtig, wir sind uns ja auch einig darin, dass die besonders Vermögenden auch einen Anteil zahlen sollen an der Finanzierung des Gemeinwesens, das ist ja auch richtig, auch da gibt es Einigkeit. Über die Instrumente sind wir nicht ganz einig. Manche sagen, das ist besser getan bei einer Vermögensteuer, andere sagen, es ist besser bei einer Erbschaftsteuer, manche sagen, wir sollten uns gar nicht festlegen auf Instrumente, das wäre meine Position, sondern schauen, was wir am besten umsetzen können, schließlich werden wir ja vermutlich nicht ganz alleine regieren. Also weniger Streit um Instrumente, mehr Verständigung über die Ziele wäre meine Position. Aber in jedem Fall hat das nichts zu tun mit dem, was wir 2013 beschlossen hatten, wir werden keinen Steuerwahlkampf machen, sondern uns konzentrieren auf die eigentlichen Gerechtigkeitsbotschaften. Also, dass Konzerne wie Apple, Amazon sich entziehen ihrer Pflicht, steuerehrlich zu sein, dass hier viele, viele Skandale ... Denken Sie an Panama Papers, denken Sie an Cum-Ex. Um die Dinge wollen wir uns kümmern, zugleich aber auch dafür sorgen, dass die 40 Prozent unserer Gesellschaft, die gar kein Vermögen haben, die abgehängt sind, dass die nicht weiter außerhalb des Blickfeldes sind. Das hat auch mit dem Thema von vorhin zu tun. Armbrüster: Und wenn es damit zu tun hat, warum dann nicht eine Steuer für Vermögende einführen? Özdemir: Ja eben, das wollen wir ja. Das Problem ist, dass das Verfassungsgerichtsurteil gesagt hat, dass man unterschiedliche Vermögen nicht unterschiedlich besteuern darf. Und da sind wir mitten im Problem. Ich will nicht, dass wir mit einer Vermögensteuer neben denen, die wir treffen müssen, möglicherweise auch diejenigen treffen, die wir als Partner im Mittelstand brauchen für die ökologische Modernisierung. Wir haben ja Großes vor, das wird ein disruptiver Wandel unserer Wirtschaft. Denken Sie an die Elektromobilität, denken Sie an den Wandel bei der Landwirtschaft, in der Energiepolitik. Das alles wird ja nicht ganz zum Nulltarif zu machen sein für viele Unternehmen des Mittelstandes. Die haben ihr Kapital im Unternehmen und da müssen wir einen Weg finden, dass es Investitionen nicht behindert. Aber auch das haben glaube ich alle auf dem Schirm. Armbrüster: Und jetzt haben Sie noch darüber hinaus für diesen Parteitag, für den Sonntag auch noch Daimler-Chef Dieter Zetsche als Redner eingeladen. Eine größere Demütigung ist für die Linken in Ihrer Partei wahrscheinlich nicht vorstellbar, oder? Özdemir: Nein, das sehe ich nicht so, sondern das ist doch ein Kompliment für uns, dass Herr Zetsche der Meinung ist, er muss zu den Grünen kommen, wenn er über die Zukunft der deutschen Automobilindustrie diskutieren möchte, und das, obwohl wir da ziemlich toughe Ansagen machen, ja diejenigen sind, die am klarsten sind bei dem Thema. "Wir sind die Partei, die sich zum Automobilproduktionsstandort Deutschland bekennt" Armbrüster: Aber sind die Grünen jetzt eine Autopartei? Özdemir: Es wäre jetzt genauso absurd, das zu sagen. Also, jetzt müssen Sie sich auch mal entscheiden, was wir sein sollen. Das sind wir natürlich nicht, sondern wir sind die Partei, die sich zum Automobilproduktionsstandort Deutschland bekennen und sich Sorgen darüber machen, was künftig passiert. Ich will nicht, dass Stuttgart-Zuffenhausen das Detroit von Deutschland wird, oder Wolfsburg oder Ingolstadt, sondern ich will, dass dort künftig Autos gebaut werden, aber das müssen angesichts der Probleme unseres Planeten künftig Null-Emissionsautos sein. Herr Dobrindt beschäftigt sich mit der Maut, wir beschäftigen uns mit der Zukunft der Automobilindustrie, das ist der Unterschied. "Wir wollen einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin, die die Gesellschaft verbindet" Armbrüster: Und jetzt müssen wir auch noch über die Bundespräsidentenfrage sprechen. Da gibt es von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg jetzt Äußerungen, dass er zumindest hart darüber nachdenken würde, wenn er gefragt werden würde. Hätte er denn Ihre Unterstützung? Özdemir: Selbstverständlich hätte er unsere Unterstützung, da wären wir sehr stolz drauf, das ist ja auch eine große Auszeichnung, dass Winfried Kretschmann genannt wird als möglicher Bundespräsident. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir nicht die Mehrheit der Delegierten stellen in der Bundesversammlung, sondern nach CDU/CSU und nach SPD die Drittstärksten sind. Das heißt, es kommt jetzt auch auf die anderen Fraktionen an, was sie wollen. Die Koalition hat sich bislang nicht zu einer Position durchringen können, wir sind schnell aktionsfähig, schnell handlungsfähig. Wir wollen einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin, die die Gesellschaft verbindet, vereint, zusammenbringt, und jetzt schauen wir mal, was die Koalition in ihrer Weisheit beschließt. Armbrüster: Können wir denn heute Morgen melden, Sie schlagen Winfried Kretschmann vor? Özdemir: Sie können melden, wenn jemand vorgeschlagen wird, den wir für zustimmungsfähig halten, dann werden wir da nicht nach parteitaktischen Motiven entscheiden, sondern so, wie wir glauben, dass es gut fürs Land ist. Armbrüster: Cem Özdemir war das, der Bundesvorsitzende der Grünen, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Özdemir! Özdemir: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Cem Özdemir im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der Erfolg von Donald Trump in den USA könne kein Vorbild sein, wie man Politik mache, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir im Deutschlandfunk. Trump habe gezeigt, dass es nicht mehr nur um wirtschaftliche Fragen gehe. Hinzugekommen sei der Hass, "der Hass auf Minderheiten, der Hass auf Zuwanderer, auf ein verändertes Frauenbild".
"2016-11-11T07:14:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:39.167000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gruenen-parteitag-wir-wollen-doch-nicht-zurueck-in-die-50er-100.html
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Bahn frei für das neue DFB-Leistungszentrum
Frankfurt am Main soll das neue Zuhause des geplanten DFB-Leistungszentrum werden. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst) Seit fast 25 Jahren trainiert Wilfried Kujath Rennpferde an der Galopprennbahn in Frankfurt-Niederrad. Wenn Frankfurts Stadtverordnete am kommenden Donnerstag für die Übertragung des Geländes an den Deutschen Fußball-Bund stimmen, bleibt dem 61-Jährigen noch eine letzte Saison, dann heißt es Abschied nehmen. "Selbst wenn die Rennbahn bleibt, ist es für mich vorbei. Und da kein Ausgleich geschaffen wird, gibt's auch keine Alternative. Die Stadt hätte schon mal sagen können: Hier, bitte, Herr Kujath, da haben Sie ein anderes Quartier. Oder: Wie wollen wir das regeln?" Die Stadt sagte gar nichts. Das Telefon blieb stumm, kein einziger Kommunalpolitiker ließ sich im blau gestrichenen Stallgebäude des gebürtigen Rheinländers blicken. Geht es um das große DFB-Projekt, nimmt man im Römer auf Einzelschicksale keine Rücksicht - so gravierend die Folgen auch sein mögen. "Wenn man umzieht, aus welchen Gründen auch immer, ist das eine Sache. Wenn man aber umziehen muss, ist es ja fast wie ´ne Vertreibung. Wir wohnen seit ewigen Zeiten hier. In dem Alter denkt man vielleicht, och, man könnte aufhören - geht aber nicht, weil das doch nicht so gewinnbringend ist. Und wenn man dann umziehen muss, geht ein Teil von der Altersversorgung weg. Man ist ja nicht mehr so 20, dass man sagt: Ich fang noch mal an und investier' da." Wunschprojekt der Stadtregierung Wie entschlossen die schwarz-grüne Stadtregierung ihr Wunschprojekt vorantreibt, war jüngst im Bauausschuss zu verfolgen. Dort ging es hoch her. Etliche Bürger konfrontierten die Politiker mit ihren Bedenken. Antworten auf die drängenden Fragen gab es kaum. Die Ausschussmitglieder der Opposition kennen noch nicht mal die 19 alternativen Standorte für die DFB-Akademie, die der Magistrat geprüft haben will. Nennen konnte oder wollte Bürgermeister und Planungsdezernent Olaf Cunitz von den Grünen auch auf mehrfaches Nachhaken keinen einzigen. Und dass voraussichtlich ein Abweichungsverfahren durchgeführt werden muss, weil der größte Teil des geplanten DFB-Areals im Flächennutzungsplan als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen ist, wurde im Ausschuss gar nicht erst thematisiert. Pferdetrainer Kujath hat eine einfache Erklärung für solche Besonderheiten: "Dass der DFB hier angesiedelt werden soll - ich hab' Verständnis dafür, ist ein schönes Gelände - ist aber reines Prestigedenken von den Politikern. Die lassen sich ´ne Statue dann da hinstellen und sagen: Ich hab's geholt!" Fakt ist: Das schwarz-grüne Römer-Bündnis geht für das DFB-Projekt beträchtliche Risiken ein. Nachdem der Deutschlandfunk über die Einschätzung des städtischen Revisionsamts berichtet hatte, das Areal werde dem DFB unter Wert angeboten, wurde flugs erläutert, die Prüfbehörde beziehe sich nur auf einen Nachlass auf den Quadratmeterpreis von 50 Euro. Der werde gewährt, weil der Verband auf eigene Kosten Gebäude abreißen lasse. Was ungesagt blieb: Der Bodenrichtwert für einen kleineren Teil des künftigen DFB-Geländes beträgt nicht 50 sondern 500 Euro. Die Frankfurter Stadtkämmerei weist darauf in einem Schreiben vom 22. August ausdrücklich hin. Nutzt der DFB seine Option auf weitere fünf Hektar, was als sicher gilt, würde die mit 500 Euro pro Quadratmeter ausgewiesene Fläche auf geschätzte drei Hektar anwachsen. Das entspräche einem Wert von 15 Millionen Euro – mehr als das Doppelte des dem DFB angebotenen Erbbauzinses für die 15 Hektar der ersten Ausbaustufe. Laut Magistratsvorlage sieht der Vertrag aber vor, dem DFB die Zusatzfläche - abgesehen von kleineren Anpassungen - zu den fürs übrige Areal vereinbarten 46 Euro pro Quadratmeter zu überlassen. "Mit erheblichen Risiken verbunden" Die Parlamentsmehrheit wird auch das nicht beanstanden. Dass die Stadt ein schlechtes Geschäft macht, ist dem schwarz-grünen Bündnis längst klar. Das städtische Revisionsamt warnt in einem weiteren Schreiben, die Aufstockung der Geschäftsanteile der Stadt am Rennbahn-Pächter Hippodrom von 50 auf 100 Prozent sei "mit erheblichen Risiken verbunden". Der DFB hat sich für den Fall, dass der Bau seiner Akademie nicht fristgerecht beginnen kann, abgesichert. Dann müsste die Stadt dem Verband laut Vertragsentwurf bis zu 900 000 Euro überweisen. Wilfried Kujath kann sich vorstellen, dass es so kommt: Es ist ja schon versprochen worden oder vertraglich vereinbart, dass Ende ´15 das Gelände übergeben werden muss, sonst ist eine Vertragsstrafe fällig. Die muss der Bürger wahrscheinlich zahlen, weil: Es braucht nur einer klagen, dann ist es nicht zu halten - vom Termin her. Das Frankfurter Regierungsbündnis wird sich von solchen Feinheiten nicht aufhalten lassen. Als Vertreter eines Sports, der an den Rand gedrängt wird, malt Wilfried Kujath schon mal ein düsteres Bild von der Zukunft: "Es gibt eigentlich gar keine Großstadt, die keine Rennbahn hat. Wenn man das wegfallen lässt, dann kann man sagen zu den Kindern: Wenn ihr mal Rennpferde sehen wollt, dann fliegt ihr halt nach Dubai."
Von Wolfgang Hettfleisch
Die Stadt Frankfurt will die letzten formalen Hürden auf dem Weg zum DFB-Jahrhundertprojekt aus dem Weg räumen. Kommende Woche soll der Vertrag zur Übertragung des Rennbahn-Grundstücks, auf dem der Verband sein neues Leistungszentrum errichten will, unterzeichnet werden.
"2014-10-12T19:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:08:02.475000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-bahn-frei-fuer-das-neue-dfb-leistungszentrum-100.html
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"Es ist mit weiteren Angriffen zu rechnen"
Der Reichstag am Abend (dpa/Paul Zinken) Sandra Schulz: Was genau passiert in diesen Tagen und Stunden, das verrät die Bundestagsverwaltung nicht – aus Sicherheitsgründen. Das wirkt einerseits unfreiwillig komisch, andererseits ist es nachzuvollziehen, denn der Hackerangriff auf das Computersystem des Bundestags im Mai, der hat für erhebliche Verunsicherung gesorgt. Am Donnerstag ist das Computersystem des Bundestags runtergefahren worden, jetzt arbeiten die Experten daran und sehr wahrscheinlich am Montag soll dann alles wieder einsatzbereit sein, und so viel zeichnet sich ab – die Abgeordneten werden dann ein neues Passwort brauchen. Aber sind die Sicherheitslücken dann auch geschlossen? Darüber habe ich vor der Sendung mit Alexander Sander gesprochen, dem Geschäftsführer der Digitalen Gesellschaft, das ist ein eingetragener Verein, der – so hat es Alexander Sander mir erklärt – sich als Greenpeace für das Internet versteht. Als Erstes habe ich ihn gefragt, ob denn, wenn Anfang der Woche alles wieder hochgefahren wird, ob dann alles sicher sein wird? Alexander Sander: Nein, klar ist das auf gar keinen Fall. Also es wird wahrscheinlich sogar so sein, und mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass weiterhin Angriffe auf das System des Bundestags stattfinden, dass davon sicherlich auch in Zukunft möglicherweise der ein oder andere Angriff auch wieder erfolgreich sein wird. Das liegt in der Natur des Netzes, dass grundsätzlich solche relativ weit verzweigten Netze angreifbar sind und dass dann da auch immer wieder Fehler von den Benutzerinnen und Benutzern gemacht werden. Nichtsdestotrotz ist natürlich diese Maßnahme, die da jetzt ergriffen wird, sicherlich notwendig. Es müssen aber darüber hinaus noch weitere Maßnahmen ergriffen werden, um tatsächlich nachhaltig für ein sichereres System zu sorgen, als das, wie wir es bisher kannten. "Hacker hatten weitreichenden Zugriff" Schulz: Ja, dieser Hackerangriff, der Anlass war, der liegt jetzt ja schon drei Monate zurück. Heißt das, dass die Daten im Grunde so lange weiter ungeschützt waren? Sander: Ja, also es ist davon auszugehen, dass die Hacker einen sehr großen Zugriff auf die Daten hatten, also sehr weitreichende Zugriffsmöglichkeiten hatten. Welche Daten sie dann tatsächlich abgegriffen haben, ist nicht bekannt, aber sie sollen wohl Passwörter von Administratoren gehabt haben, und damit dürften sie eigentlich einen sehr umfassenden Datenschatz da abgegriffen haben und das auch über einen sehr langen Zeitraum.Also die abgegriffenen Daten sind sicherlich sehr, sehr sensibel und es werden nicht nur einige Daten, sondern sehr, sehr viele gewesen sein. Schulz: Und Sie haben gerade gesagt, Sie rechnen auch weiterhin mit Angriffen. Welche Art von Angriffen könnten oder würden das sein? Sander: Zum einen wissen wir ja seit den Snowden-Enthüllungen, dass Geheimdienste ein sehr großes Interesse daran hatten, an solche Informationen zu kommen. Der Angriff jetzt, der auf den Bundestag stattgefunden hat, zeigt auch, dass hier Geheimdienste dahinter stecken könnten, bewiesen ist das natürlich nicht.Also es ist davon auszugehen, dass derartige Behörden weiter versuchen werden, an diese Informationen zu kommen, nicht nur, indem sie das Bundestagsnetz angreifen, aber auch, das wird weiterhin eine Möglichkeit sein, und darüber hinaus werden natürlich auch andere, vielleicht sogar kriminelle Organisationen dann versuchen, hier Angriffe zu fahren, möglicherweise an Daten zu kommen, um vielleicht dann bestimmte Personen oder auch Gruppen vielleicht sogar zu erpressen. Es ist damit zu rechnen, dass weitere Angriffe auf das Netz des Bundestages stattfinden werden. "Man muss Sicherheitslücken aktiv suchen" Schulz: Ist ja ein recht düsteres Szenario, das Sie zeichnen. Da sind Sie sicherlich auch nicht der Einzige, der diese Einschätzung hat. Woran liegt es denn, dass auch in Zukunft, so wie ich Sie verstehe, die Sicherheit nicht höher sein wird? Sander: Zum einen, weil man bestimmte Voraussetzungen überhaupt gar nicht schafft, dass hier für mehr Sicherheit gesorgt werden kann. Das fängt schon damit an, wie überhaupt mit dem Finden von Sicherheitslücken umgegangen wird – das ist immer noch in so einer Schmuddelecke, es ist immer noch etwas Negatives, es wird kaum darüber berichtet, und es wird auch versucht, dass Berichte über Sicherheitslücken nicht publik werden.Hier sollte man eigentlich einen kompletten Paradigmenwechsel einleiten, also man muss über Sicherheitslücken berichten, man muss berichten, wie diese Angriffe stattgefunden haben, damit dann die Leute auch daraus lernen können.Oft ist es so zum Beispiel, dass verseuchte Dateien per E-Mail-Anhang mitgeschickt werden, also hier müssen die Leute sensibilisiert werden, dass sie bestimmte Dateien schon erkennen und diese dann nicht öffnen, um eben solche Sicherheitsrisiken zu minimieren. Auf der anderen Seite ist auch der Umgang mit diesen Netzen, wie die Benutzerinnen und Benutzer sich in diesen Netzwerken bewegen, ganz entscheidend.Oft ist es so, dass zum Beispiel auch verseuchte USB-Sticks benutzt werden oder Ähnliches, und wenn man hier Aufklärung schafft und die Leute für dieses Thema sensibilisiert, dann hat man schon einen Großteil der Sicherheitsrisiken minimiert. Auf der anderen Seite, wie gesagt, ist es wichtig, dass wir hier auch transparent arbeiten und dass auch versucht wird, Sicherheitslücken aktiv zu finden und diese aktiv so schnell wie möglich zu schließen. Auch das wird durch das erst kürzlich verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz verhindert, und auch hier müssen wir in Zukunft andere Regulierungen finden. "Es gibt keine Pflicht, Sicherheitslücken öffentlich zu machen" Schulz: Warum wird es dadurch verhindert? Das ist ja nun gerade das Ziel, die Sicherheit zu erhöhen? Sander: Ja, das ist das Ziel, aber das Problem ist, dass hier immer noch auf Intransparenz gesetzt wird. Es gibt keine Pflicht, diese Sicherheitslücken öffentlich zu melden. Die Betroffenen werden eigentlich kaum informiert, stattdessen müssten wir dafür sorgen, dass solche Sicherheitslücken transparent gemacht werden, denn diese Angriffe haben ja meistens ein gleiches Schema, das bedeutet, immer wieder dieselben Systeme werden angegriffen. Also nehmen wir jetzt mal relativ simpel einen Windows-Rechner, der eine Sicherheitslücke hat, das ist im Grunde auf fast jedem System dann dieselbe Sicherheitslücke, die da ist und die ausgenutzt werden kann, und erst wenn diese tatsächlich transparent gemacht wird und gesagt wird, wie dieser Angriff läuft, können sich dann auch andere Verbraucherinnen und Verbraucher gegen solche Angriffe schützen. Bisher ist aber diese Praxis, dass versucht wird, solche Angriffe geheim zu halten, dass versucht wird, nicht zu sagen, wie viele Leute eigentlich betroffen sind von so einem Angriff, und dann heißt es immer, ja, wir müssen vielleicht mal ein Passwort ändern oder Ähnliches, aber dann ist es meistens schon zu spät. Zum Beispiel Kreditkartendaten sind schon im Umlauf und werden dann missbraucht, um dann zum Beispiel Einkäufe zu tätigen auf die Kreditkarten von den Betroffenen. Schulz: Aber wäre das nicht gerade noch gefährlich, zu sagen, dies und jenes ist unsere Sicherheitslücke, da würden doch möglicherweise dann noch ganz andere Hacker, die vielleicht den Weg noch gar nicht gefunden hatten, jetzt noch hellhörig und kriegen sozusagen noch eine Anleitung? Sander: Man muss ja nicht sagen, wie man diese Sicherheitslücke ausnutzt, sondern erst einmal ausschließlich, dass diese besteht, und dann muss man natürlich auch gleichzeitig dafür sorgen, dass diese auch schnellstmöglich geschlossen wird.Für beide Vorgänge könnte man sich zum Beispiel vorstellen, dass so eine Art Kopfgeldprämie ausgelobt wird, also wir sagen erst mal, es gibt ein Kopfgeld dafür, dass überhaupt Sicherheitslücken gefunden werden und dann wird noch mal ein Kopfgeld ausgeschrieben für das Schließen dieser Sicherheitslücke. So kann man auch die Leute animieren, sozusagen, an diesen Sicherheitsvorkehrungen mitzuwirken, daran mitzuwirken, Sicherheitslücken zu finden und diese aber auch gleichzeitig zu schließen und das möglichst schnell.Das könnte zum Beispiel ein alternatives System zu dem sein, wie wir es bisher aus dem jetzt auch verabschiedeten IT-Sicherheitsgesetz der Bundesregierung kennen. Schulz: Würde aber auch voraussetzen, dass die Hacker käuflich sind. Ist das so? Sander: Ich denke schon, dass es da einen Markt geben wird und dass es da auch in dem Sinne käufliche Hacker gibt. Also ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dann Firmen entstehen werden, die genau darauf spezialisiert sind. Auch jetzt kennt man schon solche "Firmen" in Anführungsstrichen, die sind aber meistens im kriminellen Bereich tätig, das bedeutet, die finden Sicherheitslücken und verkaufen diese dann zum Beispiel an Kriminelle weiter, die dann diese Sicherheitslücken ausnutzen, und wenn wir hier sozusagen in diesen Markt eintreten würden und diesen Markt legalisieren würden, hätte man zum einen die Möglichkeit, dass man diesen Markt auch viel besser kontrollieren kann, und auf der anderen Seite tatsächlich dafür sorgen würde, dass ein Mehr an Sicherheit entsteht und nicht diese Sicherheitslücken geheim bleiben und ausgenutzt werden können von kriminellen oder auch Geheimdiensten. Eigene Kommunikation verschlüsseln Schulz: Ich verstehe Sie so, dass das, was jetzt gemacht wird, Ihnen überhaupt noch nicht reicht, dass alles Ihnen immer noch viel zu unsicher ist. Was würden Sie denn konkret empfehlen? Sander: Zunächst einmal ist es wichtig, dass man zum Beispiel seine eigene Kommunikation verschlüsselt, dass man vielleicht auch seine eigenen Dateien auf der Festplatte verschlüsselt, dass man sozusagen die Mittel, die wir als Verbraucherinnen und Verbraucher im Rahmen der digitalen Selbstverteidigung haben, auch nutzt. Das bedeutet, dass man dafür sorgt, dass seine Kommunikation zu Ende verschlüsselt ist, das bedeutet, dass nur ich und mein Kommunikationspartner diese Nachrichten lesen können und alle anderen Personen, die jetzt zum Beispiel diese E-Mail abschöpfen durch so einen Hack, dann eigentlich nur einen Datensalat vor sich haben, mit dem sich nichts anfangen können. Also hier müssen wir einfach schauen, dass wir unsere eigene Kommunikation verschlüsseln und selbst dafür sorgen, dass wir sichere Passwörter haben, dass wir nicht ein Passwort für sämtliche Dienste benutzen, sondern dass dieses Passwort immer ein bisschen abgewandelt ist, dass da Groß- und Kleinbuchstaben, Zahlen, Sonderzeichen da drinnen sind und dass es nicht nur 12345 Passwort heißt, als dass wir darauf achten, auch mit unseren eigenen Systemen möglichst sicher umzugehen und auch immer wieder vergegenwärtigen, dass zum Beispiel das Schreiben einer E-Mail, wenn sie unverschlüsselt ist, vergleichbar ist vielleicht mit dem Schreiben einer Postkarte, dass ein Facebook-Post von vielen Menschen gesehen und gelesen werden kann und dass es sich hierbei eben nicht um private Kommunikation handelt und dass wir uns sowas immer wieder vergegenwärtigen und einfach versuchen, auch unsere eigenen Bewegungen im digitalen Raum so sicher wie möglich zu machen. Schulz: Der Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft in Berlin, Alexander Sander, heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Sander im Gespräch mit Sandra Schulz
Auch nach dem Daten-Shutdown im Bundestag und einer Überarbeitung der Sicherheitssysteme rechnet der Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft mit weiteren Hacker-Angriffen. Das Problem sei, dass mit Sicherheitslücken nicht transparent umgegangen werde, sagte Alexander Sander im DLF. Es reiche nicht aus, nur sein Passwort zu ändern.
"2015-08-22T06:50:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:12.506000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/daten-shutdown-im-bundestag-es-ist-mit-weiteren-angriffen-100.html
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Hoffnungsträger von gestern
In der Zeit des billigen Geldes wurden sie zu Lieblingen internationaler Investoren. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. In China lahmt das Wachstum, Indien steckt im Reformstau, Brasilien kämpft mit sozialen Problemen, Russland leidet unter sinkenden Rohstoffpreisen. Dazu kommt eine massive Flucht internationaler Investoren, die ihr Kapital mit der Aussicht auf höhere Zinsen wieder in den Dollarraum schaffen. Die Folge: ein massiver Absturz der Währungen, der nicht nur an den Börsen in den Schwellenländern für Turbulenzen sorgt. Voraussichtliche Reihenfolge der Länderanalysen (Änderungen vorbehalten)KW 35:26.8.: China (Steffen Wurzel) 27.8. Südafrika (Jan-Philippe Schlüter) 28.8.: Türkei (Christian Buttkereit) 29.8. Brasilien (Peer Vorderwülbecke) 30.8. Indien (Jürgen Webermann)KW 36: 2.9.:Indonesien (Nicola Glass)3.9.: Mexiko (Martin Polansky)4.9.: G20-Gastgeber Russland (Thomas Franke)
Serie vom 26. August bis 4. September 2013
Mit zum Teil zweistelligen Wachstumsraten standen Schwellenländer in der letzten Dekade für 50 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums. Doch inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Ein massiver Absturz der Währungen sorgt nicht nur an den Börsen in den Schwellenländern für Turbulenzen.
"2013-08-26T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:32:13.346000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoffnungstraeger-von-gestern-100.html
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Nato-Vertragsgebiet als rote Linie
Roderich Kiesewetter (CDU), Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler) Dirk-Oliver Heckmann: An einer Teilung der Ukraine habe er kein Interesse. Die Aussage von Russlands Präsident Putin war eigentlich eindeutig. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass Putin Zusagen nicht einhält. Die territoriale Integrität der Ukraine hatte er vor wenigen Wochen ja auch noch zugesagt. Jetzt wird in Moskau bereits über weitere Schritte nachgedacht. Der Ultranationalist Wladimir Schirinowski hat bereits ganz offiziell eine Teilung der Ukraine ins Spiel gebracht. Gestern kamen die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen in Den Haag zusammen, um über die Lage zu beraten. Darüber möchte ich reden mit Roderich Kiesewetter von der CDU, er ist Obmann im Auswärtigen Ausschuss und Präsident des Reservistenverbandes. Schönen guten Morgen, Herr Kiesewetter. Roderich Kiesewetter: Guten Morgen, Herr Heckmann. Heckmann: Obama, Merkel und Co. suspendieren also die Mitgliedschaft Russlands in der G8-Gruppe. Der russische Außenminister Lawrow, der hat aber schon zu erkennen gegeben, wie schlimm das für Moskau ist: gar nicht nämlich. Kiesewetter: Nun gut. Ich meine, das was Russland in den letzten Wochen gezeigt hat, nämlich das Abkommen von 1994, das die Unabhängigkeit der Ukraine gewährleistet hat, zu brechen, das kann ja nicht ohne Sanktionen bleiben, und der Ausschluss aus G8 war ja eine Ankündigung, die ja schon seit einigen Wochen absehbar war. Insofern ist das sicherlich für Russland nichts Überraschendes gewesen und die Frage ist jetzt, wie wir Russland wieder an den Verhandlungstisch bekommen, und dazu brauchen wir die Klaviatur der Organisationen wie die OSZE, sicherlich auch den NATO-Russland-Rat unbedingt, das hat ja auch Frau von der Leyen angedeutet, und die Europäische Union, glaube ich, sollte hier in Führerschaft gehen und diese Organisationen koordinieren. G8-Ausschluss: "Ein Warnsignal an die Weltöffentlichkeit geben" Heckmann: Was ist das eigentlich, Herr Kiesewetter, für eine merkwürdige Doppelstrategie, auf der einen Seite zu sagen, wir suspendieren die Mitgliedschaft Russlands in der G8-Gruppe und gleichzeitig zu sagen, wir brauchen den Dialog? Kiesewetter: Das ist ja keine Doppelstrategie, die merkwürdig ist, sondern merkwürdig ist das Verhalten Russlands. Russland hat unter Bruch des Völkerrechts die Souveränität der Ukraine gefährdet. Die Krim ist bereits Russland angeschlossen worden durch ein merkwürdiges Verfahren, nämlich Besetzung mit Milizen, die dann am Tag der Abstimmung plötzlich russische Fahnen trugen. Und zweitens sind Zehntausende, man spricht zwischen Zehn und Zwanzigtausend, Russen in die Krim gereist, um an der Abstimmung teilzunehmen. Wenn Russland wirklich an einem souveränen Entscheiden der Ukraine gelegen gewesen wäre, oder auch der Krim-Bevölkerung, dann hätte man diese Abstimmung unter Aufsicht der OSZE durchführen können, und das hat Russland nicht geleistet. Und da müssen wir schon ein Warnsignal auch an die Weltöffentlichkeit geben, weil es auch Verhalten Russlands in Transnistrien gibt. Das ist ja ein Teil Moldawiens. Sie haben es angedeutet, dass gestern Schirinowski als stellvertretender Präsident der Duma Andeutungen gemacht hat in Richtung einer Aufteilung der Krim, hat Angebote gemacht an Ukraine, Ungarn, an Rumänien und auch an Polen. Das ist das eigentlich Seltsame. Und ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass die westliche Staatengemeinschaft weiterhin den Dialog mit Russland sucht, den ja Russland sehr einseitig unterbrochen hat. Heckmann: Sie haben es gerade eben schon angesprochen, dass die Entwicklung ja möglicherweise weitergehen könnte. Das Weiße Haus jedenfalls, das registriert besorgt einen russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine. Der NATO-Oberkommandierende, der hat am Wochenende von sehr beträchtlichen russischen Truppen gesprochen, und der rumänische Präsident, Băsescu, der hat gefordert, die NATO-Truppen müssten neu positioniert werden. Ist es also nicht Zeit für konkretere Schritte, Vorsorge zu treffen? Kiesewetter: Ich denke, dass ein weiteres Signalisieren von Unterstützungsbereitschaft aus der NATO eher der Eskalation dienen würde. Die NATO ist aus meiner Sicht erst der dritte Schritt. Zunächst ist die OSZE gefordert. Hier haben wir ja ganz konkret gefordert, dass wir Beobachter innerhalb der Ukraine wollen. Russland ist darauf nur sehr mittelbar eingegangen. Sie haben etwa 100 OSZE-Beobachter in einem Land, das doppelt so groß ist wie Deutschland, angeboten nur in den großen Städten. Das ist natürlich kein gutes Signal. Wenn die OSZE zum Einsatz kommt, dann müssten das sicherlich nicht nur 100, sondern vielleicht zwei oder 3000 Beobachter sein. Die Europäische Union hat mit Sanktionen geantwortet und die NATO hat aus meiner Sicht eher die Aufgabe, nach innen zu wirken, nämlich die baltischen Staaten, Polen, auch Rumänien und Ungarn zu beruhigen. Die NATO muss zur Kohäsion, zum Zusammenhalt der westlichen Staaten beitragen, aber eben nicht zur Eskalation. Also eine Neupositionierung auf keinen Fall, sondern so wie Frau von der Leyen angedeutet hat, klare Signale, klare Bekenntnisse. "Russland hat das Völkerrecht gebrochen" Heckmann: Frau von der Leyen, die Verteidigungsministerin, Ihre Parteifreundin also, die hat ja eine Diskussion um eine Verstärkung der Truppen an der Ostgrenze losgetreten. Sie hatte dem "Spiegel" gesagt, es ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die NATO Präsenz zeigt, und hat sich damit Kritik eingehandelt vonseiten der SPD, auch vonseiten der Opposition. Jürgen Trittin von den Grünen sagt, Frau von der Leyen habe fahrlässig drauf losgeredet. Können wir uns eine Verteidigungsministerin leisten, Herr Kiesewetter, die fahrlässig drauf losredet? Kiesewetter: Frau von der Leyen hat genau die richtigen Punkte angesprochen. Es geht doch darum, den baltischen Staaten, die in höchster Sorge sind, in höchster Sicherheitsvorsorge um ihre Außengrenzen fürchten, deutlich zu machen, dass sie eindeutig zum NATO-Vertragsgebiet gehören. Diese Staaten haben sehr große russische Minderheiten, in Estland und Litauen fast die Hälfte der Bevölkerung. Hier geht es doch auch darum, dass man innenpolitisch in diesen Ländern das Signal ausgibt, ihr gehört zum westlichen Bündnis und geht pfleglich mit eurer russischen Bevölkerung um. Nichts anderes hat Frau von der Leyen gesagt. Der zweite Punkt ist, dass natürlich die Bedrohungswahrnehmung in Polen, in den baltischen Staaten, in Rumänien und Ungarn eine andere ist, als wie wir sie in Deutschland haben, und hier kann die NATO sehr stark auch zum Zusammenhalt beitragen, und ich glaube, dass das ganz entscheidend ist. Frau von der Leyen hat auf einen Punkt ganz klar aufmerksam gemacht: Russland hat das Völkerrecht gebrochen und es besteht eine ganz große Unruhe, wie Sie eben selber auch gesagt haben, ganz große Besorgnis in den Anrainerstaaten zu Russland. Wer garantiert uns denn, dass sich nicht Transnistrien durch russischen Druck von Moldawien absetzt? Wer garantiert uns denn nicht, dass Nordkasachstan zu Russland geht, wo auch eine große russische Mehrheit ist? Hier kommt es darauf an, dass wir klare und beruhigende Signale in das NATO-Vertragsgebiet geben. "Die Klaviatur der Organisationen spielen" Heckmann: Pardon, wenn ich da einhake, Herr Kiesewetter. Das könnten aber auch Signale sein, die zur Eskalation beitragen. Das Verteidigungsministerium hat ja gestern einige Mühe gehabt, aufzuklären, dass es der Ministerin nicht um zusätzliche Truppen geht, sondern um den Hinweis, dass verstärkt AWACS-Aufklärungsflugzeuge eingesetzt werden über Polen und Rumänien, dass die Trainingsintensität für Überwachungsaufgaben erhöht wurden. Aber man muss sagen, mit Übungen hat es auf der russischen Seite ja auch angefangen. Kiesewetter: Nun, zunächst einmal besteht überhaupt keine Absicht, die NATO einzusetzen, weil es ja keinen Verteidigungsfall gibt. Aber es muss schon ein Zeichen geben, dass es rote Linien gibt, und die roten Linien sind das NATO-Vertragsgebiet. Wir müssen ja auch deutlich sagen, dass Putin in seiner Doktrin sagt, überall dort, wo russische Staatsbürger sind, sind auch russische Interessensphären und russische Einflussgebiete. Das hat er ja mit der Krim, mit der Annexion der Krim sehr deutlich gemacht. Die Eskalation ging ja von Russland aus, darauf müssen wir uns immer wieder berufen. Und wir wollen ja den dreifachen Dialog, NATO-Russland-Rat, NATO-Ukraine-Rat übrigens. Das sind alles Einrichtungen, die auf Bestreben der Bundesrepublik Deutschland eingeführt wurden in den letzten zehn Jahren. Zweitens: Die OSZE muss als internationale Organisation im Auftrag der Vereinten Nationen in die Ukraine mit einer sehr großen Beobachterzahl. Und drittens: Die Europäische Union sollte natürlich auch klare Angebote langfristig an Russland machen können, dass man wieder an den Verhandlungstisch zurückkommt und möglicherweise das, was Putin in Absetzung von der Europäischen Union in seinem Bereich haben will, einen Eurasischen Wirtschaftsraum, dass wir doch mal sehr klar darüber nachdenken, wie man mit Russland vielleicht mal einen gemeinsamen Wirtschaftsraum entwickeln kann. Das sind ja die alten Medwedew-Vorschläge, die alle nicht mehr wirksam sind, seitdem Putin wieder Staatspräsident ist. Also, es ist aus meiner Sicht ganz wichtig - und das macht ja unsere Bundeskanzlerin, das macht auch die Bundesverteidigungsministerin, unser Außenminister -, dass wir die Klaviatur der Organisationen spielen, und zwar so, dass sie aufeinander abgestimmt sind. Heckmann: Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter war das, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Herr Kiesewetter, danke Ihnen sehr für das Gespräch. Kiesewetter: Ja, schönen guten Morgen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Roderich Kiesewetter im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Roderich Kiesewetter hat klare Grenzen für Russlands Präsident Putin gefordert. "Es gibt rote Linien und diese roten Linien sind das Natovertragsgebiet", sagte der CDU-Verteidigungspolitiker im Deutschlandfunk.
"2014-03-25T06:50:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:36.148000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krise-nato-vertragsgebiet-als-rote-linie-100.html
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Wirtschaft befürchtet erneut Millionenschäden
Von den Bahnstreiks sind im Güterverkehr verschiedenen Branchen besonders betroffen, z.B. Stahl und Kohle, Fahrzeuge, Maschinen, Baumaterialien, Agrarprodukte wie Weizen und auch die Chemieindustrie. (picture-alliance/dpa) Ein bis zwei Tage Bahnstreik können die meisten Unternehmen noch recht gut verkraften, sagt Alexander Schumann, Chefvolkswirt des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, ab dem dritten Tag wird es eng, das zeige die Erfahrung der Vergangenheit: "Wenn ein Streik mehrere Tage dauert, dann wird es natürlich immer schwieriger, da auch zu kompensieren, und dann kann rasch auch ein höherer dreistelliger Millionenbetrag zusammenkommen, genau zu sagen ist schwierig, weil man eben nicht weiß, was kann ausgeglichen werden dann auch im weiteren Zeitverlauf nach dem Streik. Aber für den Streik selber gibt es dann eben schnell auch Schäden, die in dieser Größenordnung hoher dreistelliger Millionenbetrag liegen kann." 50 Millionen Euro Schaden für den Güterverkehr Die Deutsche Bahn hatte ihre Schäden durch die sechs Streiks der Lokführergewerkschaft GDL im vergangenen Jahr auf 166 Millionen Euro beziffert, etwa 50 Millionen Euro davon seien auf DB Schenker Rail entfallen, also auf den Güterverkehr, sagte ein Bahnsprecher. Im Güterverkehr sind verschiedene Branchen besonders betroffen, darunter Stahl und Kohle, Fahrzeuge, Maschinen, Baumaterialien, Agrarprodukte wie Weizen und auch die Chemieindustrie. Die Bahn habe eine große Bedeutung für den Transport von Chemikalien, erklärt Gerd Deimel, Sprecher der Initiative Verkehrsinfrastruktur im Branchenverband VCI: "Wir sind besonders in dieser Branche auf reibungslose Abläufe im Schienengüterverkehr angewiesen, weil wir nicht nur die Fertigwaren, sondern auch die Rohstoffe, die unsere Fertigungsstätten versorgen, über die Bahn transportieren." Etwa ein Siebtel der Chemikalien werden mit der Bahn transportiert, für gewisse Gefahrstoffe ist der Schienentransport sogar vorgeschrieben. Wie groß die Schäden durch einen Streik werden, das hänge neben der Dauer auch von der Vorbereitungszeit ab, sagt Gunnar Gburek, Logistikexperte des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik, es komme also darauf an, wie viel Zeit man also habe, um andere Transportwege zu suchen, aber auch die Kunden zu informieren. Zudem störe ein Streik auch den Produktionsablauf: Verlässlichkeit der Bahn leidet "Niemand hat ja Lager oder unnötige Waren irgendwo für mehrere Tage rumliegen, wenn es nicht nötig ist. Im Stahlbereich ist es sicherlich so, da dürfen Hochöfen nicht ausgehen. Aber ansonsten ist die Wirtschaft immer darauf ausgerichtet, so wenig wie möglich auf Lager zu legen, deswegen stört so ein Streik auf jeden Fall." Und die Wirtschaft macht sich auch Sorgen um die langfristigen Auswirkungen, sagt Gerd Deimel vom Verband der Chemischen Industrie: "Gerade die Schiene, die vor dem Hintergrund, dass wir Verkehrsverlagerungen vornehmen wollen auf andere Transportträger, wenn die jetzt auch bestreikt wird, dann sind natürlich solche Auswirkungen auch im Hinblick auf den Willen, die Verkehrsverlagerung vorzunehmen, natürlich auch unter einem ganz bestimmten Fokus zu sehen. Wie verlässlich ist die Planbarkeit dann noch?" Neukunden zu gewinnen werde dann der Bahn immer schwerer fallen, glaubt die Wirtschaft. Denn sie sei eben auf Verlässlichkeit angewiesen.
Von Brigitte Scholtes
Vor allem der Güterverkehr soll von dem angekündigten Streik der Lokführer betroffen sein. Allein im letzten Jahr hatten die sechs Streiks bei der Deutschen Bahn zu Schäden in Höhe von 166 Millionen Euro geführt - doch auch die langfristigen Auswirkungen bereiten der deutschen Wirtschaft Sorgen.
"2015-04-20T13:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:32:43.890000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bahnstreik-wirtschaft-befuerchtet-erneut-millionenschaeden-100.html
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Wahlkommission spricht von erheblicher Datenmenge
Der Präsidentschaftskandidat der Bewegung En Marche, Emmanuel Macron, bei einer Rede am 1. Mai während seines Wahlkampfs. (AFP - Geoffroy van der Hasselt) Das Team des französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron ist nach eigenen Angaben Ziel eines weitreichenden Hackerangriffs geworden, bei dem E-Mails und Abrechnungen an die Öffentlichkeit gelangten. Es handle sich um einen beispiellosen Vorgang und gezielten Versuch, die französische Präsidentenwahl zu destabilisieren, so Macrons Wahlkampfteam. Es seien echte Dokumente gestohlen und zusammen mit fingierten online gestellt worden, um Falschinformationen über den Bewerber zu streuen. Eine Datenmenge von rund neun Gigabyte wurde von einem Nutzer mit dem Namen EMLEAKS auf der Internetplattform "Pastebin" veröffentlicht. Das französische Innenministerium äußerte sich zunächst nicht zu dem Vorgang. Behörde: "Freie Wahl steht auf dem Spiel" Die Nationale Kommission zur Kontrolle des Wahlkampfs (CNCCEP) warnte auf ihrer Internetseite, die freie Wahl und die Wahrhaftigkeit der Abstimmung stünden auf dem Spiel und erinnerte die Medien an ihre Verantwortung im Wahlkampf. Die Daten seien auf betrügerische Weise verschafft worden. Unechte Nachrichten seien wahrscheinlich damit vermischt worden. Französische Wahlgesetze schreiben für Samstag und den Großteil des Sonntags eine Nachrichtensperre für Wahlkampf und Medienberichterstattung vor, die die Wahl beeinflussen könnte. Frankreichs scheidender Präsident Hollande kündigte eine Reaktion an. Es werde juristische Verfahren geben, wenn tatsächlichen Daten gestohlen oder gefälscht worden seien. Es ist nicht der erste Hackerangriff auf Macron. Informationen einer IT-Sicherheitsfirma zufolge haben Mitglieder der Gruppe "Pawn Storm" vor einigen Wochen versucht, Zugriff zu Macrons Server zu bekommen. Macrons Mitarbeiter sollten über gefälschte Mails dazu verleitet werden, Schadsoftware auf ihre Computer zu laden sowie Logins und Passwörter zu verraten. Die Gruppe, die auch als "Fancy Bear", "Apt 28" und "Strontium" bekannt ist, wird von Experten mit dem russischen Militärgeheimdienst GRU in Verbindung gebracht. Russland wurde in der Vergangenheit häufiger vorgeworfen, sich in Wahlkämpfe in anderen Ländern einzumischen - unter anderem in den USA. Russischer Einfluss befürchtet Die französische Regierung hatte wiederholt vor einer russischen Einmischung in den Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich gewarnt. Sie verdächtigte Moskau, die Wahl zugunsten der Rechtspopulistin Marine Le Pen beeinflussen zu wollen, die als russlandfreundlich gilt. Der Vizepräsident des Front National, Florian Philippot, nahm den Hack erfreut zur Kenntnis. Er schrieb auf Twitter: "Werden die Macronleaks uns etwas verraten, was der Investigativjournalismus absichtlich verschwiegen hat? Fürchterlich, dieser demokratische Schiffbruch." Macron gilt als Favorit Der Linksliberale Macron geht am Sonntag als Favorit in die Stichwahl gegen Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National. Am gestrigen letzten Wahlkampftag lag Macron (62 Prozent) in mehreren Umfragen 24 Prozentpunkte vor Le Pen (38 Prozent). Frankreich steht bei der Wahl vor einer Richtungsentscheidung: Macron ist Proeuropäer, will staatliche Regulierung für Unternehmen beschneiden, aber Arbeitnehmerrechte schützen. Le Pen ist gegen die EU, will Frankreich aus der Euro-Zone herausführen und Einwanderung begrenzen. Die Wahl findet unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen statt: In Frankreich herrscht nach einer Reihe von Anschlägen der Ausnahmezustand. (vic/jasi/fwa)
null
Nach dem Hackerangriff auf das Wahlkampfteam des französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron ist "eine erhebliche Menge Daten" in sozialen Netzwerken veröffentlicht worden. Die Wahlkommission rief Medien und Bürger dazu auf, die Inhalte nicht zu weiterzuverbreiten, um die Wahl nicht zu beeinträchtigen.
"2017-05-06T07:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:34.096000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hackerangriff-auf-macron-wahlkommission-spricht-von-100.html
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Steueroasen fördern Raubbau an der Umwelt
Die große Mehrheit der illegal operierenden Schiffe ist also in einem Steuerparadies registriert (picture alliance / dpa / WWF-Indonesia ) Steueroasen helfen Firmen und Finanzinvestoren dabei, Gewinne am heimischen Fiskus vorbeizuschleusen. Dieselben Steuerparadiese könnten aber auch eine maßgebliche Rolle beim Raubbau an der Natur spielen - zum Beispiel bei der Überfischung der Meere, durch illegale Fangaktivitäten, oder bei der Abholzung von Regenwald. Darauf weisen die Autoren einer neuen Studie hin. "Im Fall der Fischerei stellen wir fest: Nur vier Prozent aller weltweit registrierten Fisch-Trawler fahren unter der Flagge einer Steueroase. Aber bei den Schiffen, die durch illegale Fangaktivitäten auffallen, sind es 70 Prozent", stellt Alice Dauriach, Forschungsassistentin an der Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm, fest. Die große Mehrheit der illegal operierenden Schiffe ist also in einem Steuerparadies registriert. Wobei zwei mittelamerikanische Länder als wichtigste Flaggenstaaten herausragen: Belize und Panama. Steueroasen bieten willkommene gesetzliche Schlupflöcher Die Forscher warfen außerdem einen Blick auf Sojaanbau und Rinderzucht im Gebiet des Regenwaldes am Amazonas. Hier untersuchten sie ausländische Kapitalflüsse an neun führende brasilianische Agrarkonzerne. Die Daten decken die Jahre 2000 bis 2011 ab. Damals waren sie öffentlich zugänglich. In diesem Zeitraum flossen rund 27 Milliarden US-Dollar an die neun Agrarkonzerne, meist von Tochterfirmen im Ausland: "Wir stellen fest: Auch hier stammen knapp 70 Prozent der auswärtigen Gelder aus Steueroasen. Viele der Unternehmen haben sich zwar dazu bekannt, keinen Regenwald mehr abzuholzen. Aber Studien zeigen, dass es vor allem die beiden Agrarsektoren Soja-Anbau und Rinderzucht sind, die mit Waldrodungen in Verbindung stehen." Steueroasen bieten willkommene gesetzliche Schlupflöcher, wenn es darum geht, Umweltauflagen zu umgehen, vermuten die Forscher. Wer illegalen Fischfang betreibe und dabei erwischt werde, müsse kaum mit Sanktionen rechnen, wenn seine Schiffe in einer Steueroase mit laxer Rechtsprechung registriert seien. Auch falle es dann vermutlich leichter, die Herkunft der unerlaubten Fänge zu verschleiern. "Steuergerechtigkeit und globaler Umweltschutz sind eng miteinander verbunden" Unklar ist Alice Dauriach dagegen, welche Rolle das viele Geld aus Steueroasen bei der Abholzung von Amazonas-Regenwald genau spielen könnte. Auffällig sei aber auch hier der hohe Anteil in einem umweltsensiblen Industriesektor: "Dies ist nur ein erster Schritt bei einem Thema, das ganz neu ist. Steueroasen sind zwar schon länger im Fokus. Aber es wurde noch nicht untersucht, was sie für die Umwelt bedeuten. Es wäre schön, wenn Organisationen wie die Vereinten Nationen weitere und größere Studien über den Zusammenhang zwischen Steueroasen und Umweltzerstörung durchführen würden." Der neue Blick auf Steueroasen war möglicherweise auch der Grund, warum die Fachzeitschrift "Nature Ecology & Evolution" diese Studie jetzt abdruckt. Ihre Veröffentlichung wird auch von Gabriel Zucman begrüsst. Er ist Assistenzprofessor für Ökonomie an der Universität von Kalifornien in Berkeley und befasst sich schon länger mit Steuerparadiesen. "Dies ist eine wichtige Studie, die zeigt: Steuergerechtigkeit, Transparenz in der Finanzwelt und globaler Umweltschutz sind eng miteinander verbunden. So lange wir keinen Weg finden, um Steueroasen zu regulieren, werden wir es auch nicht schaffen, diese drei bestimmenden Probleme unserer Zeit zu lösen", kommentiert Zucman per E-Mail.
Von Volker Mrasek
Überfischung der Meere, illegale Fangaktivitäten oder Abholzung des Regenwaldes - laut einer aktuellen Studie könnten Steueroasen dabei helfen, Umweltsünden von Unternehmen zu kaschieren. Zum Beispiel müsse ein illegaler Fischfänger kaum mit Sanktionen rechnen, wenn er ertappt wird.
"2018-08-14T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:06:08.195000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-steueroasen-foerdern-raubbau-an-der-umwelt-100.html
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Streit über die Isaaks-Kathedrale
Die Issakskathedrale ist zum Streitobjekt geworden (dpa) Mehr als 100 Meter ragt die Isaaks-Kathedrale in die Höhe – im Zentrum von Sankt Petersburg. Die vergoldete Kuppel ist weit sichtbar, den Innenraum schmücken prächtige Gemälde und Mosaike. Errichtet wurde der klassizistische Bau im 19. Jahrhundert. Jetzt ist ein Streit entbrannt um das Wahrzeichen. Der Grund: Die Kathedrale ist offiziell keine Kirche, sondern ein staatliches Museum, das Jahr für Jahr von Millionen Touristen besucht wird. Der Petersburger Gouverneur will das nun ändern und die Kathedrale der orthodoxen Kirche überlassen. Doch viele Petersburger sind dagegen: "Das ist unsere Stadt", riefen sie bei mehreren Demonstrationen, zu denen Tausende Menschen kamen. Ein ungewöhnlich lauter Protest in heutiger Zeit. Verfassung sieht Trennung von Staat und Kirche vor Vielen geht das eigenmächtige Handeln des kirchenfreundlichen Gouverneurs gegen den Strich. Eigentlich sieht die russische Verfassung die Trennung von Staat und Kirche vor, trotzdem ist die Kirche zu einer wichtigen Machtstütze des Kremls geworden – gerade beim Verbreiten nationaler Losungen. Boris Wischnewskij ist ein Petersburger Lokalpolitiker von der Oppositionspartei Jabloko und meint: "Wir werden betrogen und absichtlich falsch informiert, als ob das Gesetz eine Übergabe der Kathedrale vorschreibt. Aber das Gesetz sieht das nicht vor." Manche befürchten, dass die Kirche den Zutritt für Touristen beschränken könnte oder die Instandhaltung der Kathedrale vernachlässigt. Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, versichert aber: "Das Denkmal wird mit neuem Leben erfüllt" "Wenn die Kirche das Recht bekommt, ihre Heiligtümer zu schützen, ist das nicht gefährlich. Das Denkmal wird mit neuem Leben erfüllt, es wird zu einem Mittel der Aufklärung des Volkes." Zu Sowjetzeiten waren in der Isaaks-Kathedrale – wie fast überall - Gottesdienste verboten. Seit den 1990er Jahren darf die orthodoxe Kirche einen Teil der Kathedrale wieder für religiöse Zeremonien nutzen, sie ist aber nur zu Gast in dem staatlichen Gebäude. Schon länger bemüht sich die Kirche darum, das Gotteshaus offiziell zu verwalten. Und zählt auf Unterstützer in konservativen und patriotischen Kreisen. Nach einem Medienbericht machen die Petersburger Behörden Druck: Bis Ostern müsse die Übergabe der Isaaks-Kathedrale an die orthodoxe Kirche abgeschlossen sein, heißt es. Doch Nikolai Burow, der Direktor des Museums in der Kathedrale, bremst: Beide Lager mobilisieren weiter ihre Anhänger "Ich habe den Auftrag bekommen, die Dauer eines Umzugs zu berechnen. Eine Frist bis Ostern ist offiziell nicht genannt worden – und sie wäre auch meiner Meinung nach nicht realistisch." Solange noch keine Fakten geschaffen sind, wollen Befürworter und Gegner weiter ihre Anhänger mobilisieren. Die meisten Petersburger wollen laut einer Umfrage, dass die Isaaks-Kathedrale im Staatsbesitz bleibt. Ob sie sich durchsetzen, ist aber fraglich.
Von Markus Sambale
Die Isaaks-Kathedrale in Sankt Petersburg ist eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Dass die Kirche offiziell keine Kirche ist, sondern ein staatliches Museum, stört dabei weder Touristen noch Einheimische. Doch das könnte sich in Zukunft ändern: Die Kathedrale soll in Kirchenbesitz übergehen, was für reichlich Diskussionen sorgt.
"2017-03-22T00:00:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:56.709000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sankt-petersburg-streit-ueber-die-isaaks-kathedrale-100.html
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Lawrow relativiert Aussagen zu Aleppo
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow auf der OSZE-Tagung in Hamburg. (AFP / John Macdougall) Ziel sei gewesen, "dass Zivilisten die Stadt verlassen konnten, die dies wollten", sagte Lawrow am Rande des OSZE-Ministerrats in Hamburg. Von einer Einstellung der Kampfhandlungen sei dagegen nie die Rede gewesen. Die Angriffe würden so lange weitergehen, "wie noch Banditen in Aleppo sind". Am Donnerstag hatte Lawrow davon gesprochen, dass derzeit in Aleppo eine "große Operation" laufe, um Zivilisten in Sicherheit zu bringen. Es habe sich in der Stadt bereits ein mehrere Kilometer langer Konvoi gebildet. Er habe zudem mit seinem amerikanischen Kollegen Kohn Kerry für Samstag ein Treffen von Militärexperten und Diplomaten aus Russland und den USA vereinbart. Dabei soll es ebenfalls um einen Abzug von Zivilisten sowie von Rebellen aus Ost-Aleppo gehen. Anwohner und Rebellenkämpfer berichteten dagegen, dass die Bombardements auf die von der Opposition gehaltenden Gegenden weitergingen. Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura erklärte, er sehe Chancen für eine Wiederaufnahme der Syrien-Gespräche. Keine Annährung im Ukraine-Konflikt Dominierendes Thema am ersten Tag des OSZE-Gipfels in Hamburg war allerdings der Ukraine-Konflikt. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier kritisierte, den Konfliktparteien fehle es an politischem Willen für Fortschritte im Friedensprozess. In diesen Krisenzeiten sei die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa für den Dialog zwischen Ost und West wichtiger denn je. Er warnte vor einer Rüstungsspirale. Durch Misstrauen und Angst drohe eine "gefährliche Dynamik der Aufrüstung", sagte Steinmeier bei dem Treffen von rund 50 Außenministern der OSZE. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) spricht in den Messehallen in Hamburg auf einer Pressekonferenz nach der ersten Sitzung des OSZE-Ministerrats. (dpa / picture alliance / Christian Charisius) "Niemand kann wollen, dass sich eine neue Rüstungsspirale in Gang setzt", sagte Steinmeier weiter. Deshalb müsse es einen Neustart für die Rüstungskontrolle geben, deren Instrumente veraltet und den veränderten militärischen Realitäten nicht mehr angemessen seien. Auch beim russischen Außenminister Lawrow warb Steinmeier für einen "erneuerten Dialog, um verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen". Doch im Ukraine-Konflikt prallten die gegensätzlichen Positionen direkt wieder aufeinander. Steinmeier mahnte, die Friedensvereinbarungen für den Osten der Ukraine umzusetzen. Während der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin erneut Russland dafür verantwortlich machte, dass die Abkommen von Minsk nicht eingehalten werden, wies Lawrow alle Vorwürfe zurück. Den Eindruck einer russischen Bedrohung nannte er einen Mythos. US-Außenminister John Kerry warf Moskau erneut vor, mit der Besetzung der Krim-Halbinsel gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Von der Ukraine forderte er zugleich mehr Einsatz gegen Korruption. Keine gemeinsame Abschlusserklärung Wegen der zahlreichen Kontroversen wird es voraussichtlich keine gemeinsame Abschlusserklärung des OSZE-Rats geben, sondern nur ein Abschluss-Kommuniqué von Gastgeber Deutschland. Steinmeier sagte als amtierender Vorsitzender: "Gerade in stürmischen Zeiten wie diesen brauchen wir die OSZE als Leuchtturm, der auch Orientierung geben kann. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Der große Wurf zur Überwindung des Trennenden wird uns so schnell nicht gelingen. Aber wir können uns gegen die Verzagtheit auflehnen und beharrlich an realistischen Lösungsansätzen arbeiten." Zugleich forderte er mehr Personal, mehr Geld und einen klaren rechtlichen Rahmen für künftige OSZE-Einsätze in Konfliktgebieten. Weitere Themen der Konferenz waren der im Frühjahr wieder aufgeflammte Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach sowie der Transnistrien-Konflikt in Moldawien. (tzi/hba/gwi)
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Zunächst hieß es, die syrische Armee habe ihre Militäroffensive in Aleppo gestoppt. Nach Berichten über anhaltende Bombardements in der Syrischen Metropole erklärte Russlands Außenminister Sergej Lawrow nun, es habe sich nur um eine "humanitäre Unterbrechung" der Angriffe gehandelt.
"2016-12-08T19:30:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:50.708000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/osze-tagung-in-hamburg-lawrow-relativiert-aussagen-zu-aleppo-100.html
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Segen für die Katz
Ljomi ist klein und flauschig, kann aber ganz schön Lärm machen. Beate Marschke bringt ihren Islandhund mit beruhigenden Worten aber schnell zum Schweigen. Ljomi nimmt in Dortmund teil an einem besonderen Gottesdienst: Dort beten Menschen und Tiere zusammen. Beate Marschke ist zum ersten Mal gekommen, und hat ihren Hund aus einem speziellen Grund mitgebracht. "Also, Ljomi ist am 29. August operiert worden, er hat einen bösartigen Tumor. Aber ist mittlerweile schon wieder gut dabei. Und ich hoffe, dass ich ihn hier heute segnen lassen kann." Dass Menschen sich zusammen mit Hund, Katze oder Meerschwein segnen lassen können, ist Teil des Kirchentags "Mensch-Tier-Schöpfung". Organisiert wird das ganze von Pfarrer Friedrich Laker von der evangelischen Pauluskirche. Er will vor allem eines vermitteln: "Die Erfahrung, dass so ein Tier ein Wesen ist, ein Lebewesen, mit eigenem Wert und eigener Würde. Und das wollen wir dann auch sinnlich umsetzen bei so einer Veranstaltung in der Kirche." Sinnlich umsetzen heißt, neben den Haustieren, welche die rund 100 Gläubigen in die Kirche mitbringen, lädt Laker selbst auch ein Pferd und zwei Ziegen zum Gottesdienst ein. An diesem Tag geben in der Kirche aber klar die Hunde den Ton an. "Ein herzliches Willkommen ihnen allen zum Gottesdienst mit Menschen und Tieren." Aggression ist unerwünscht Es ist laut in der Pauluskirche - immer wieder setzen die rund 20 Hunde zum gemeinsamen Bellkonzert an. Die Ziegen knabbern derweil kurz an Blumen, die vor dem Altar stehen. Stört das nicht das Sakrale, das Erhabene eines Gottesdienstes? Pfarrer Laker findet: Nein! "Da könnte ich dann provokanterweise auch sagen: Da stört Kindergeschrei dann auch, ja. Wenn Kinder durch die Kirche laufen oder laut sind, weil sie nicht verstehen was von den Erwachsenen gesagt wird." Es sei daher nur fair, zumindest gelegentlich auch Tiere in den Gottesdienst einzuladen. Allerdings sind die Halter aufgefordert, nur Tiere mitzubringen, die für den Besuch in der Kirche geeignet sind, also zum Beispiel nicht aggressiv auf andere Tiere reagieren. Das Thema "Tierschutz" spielt eine große Rolle in Lakers Gemeinde: Er versucht auf Kirchenfesten immer auch veganes Essen anzubieten und hat in Predigten die Massentierhaltung kritisiert. Laker sagt, der Mensch müsse Tiere nicht mehr als etwas begreifen das er ausbeuten darf, sondern als gleichberechtigtes Mitgeschöpf. Und man müsse sie auch als spirituelle Wesen betrachten, denn Tiere hätten eine ganz natürliche Achtung vor dem Leben. "Und da möchte ich auch von wegkommen, dass ich das unterschiedlich werte. Das Gebet des Menschen ist in keiner Weise bedeutsamer, wichtiger oder effektiver als das Zwiegespräch, das ein Tier ganz selbstverständlich mit seinem Schöpfer hat." Allerdings gibt es an der Idee, Hunde und Katzen in den Gottesdienst einzuladen, auch Kritik. In der katholischen Kirche hat das Segnen von Tieren durchaus eine gewisse Tradition, zum Beispiel bei Pferden. In der evangelischen Kirche wird darüber gestritten, ob auch nicht-menschlichen Geschöpfen Gottes Segen zusteht. Schließlich könnten diese das Gebet nicht verstehen. Dass die Tiere den religiösen Sinn der Veranstaltung verstehen, glaubt auch Leon Walli nicht. Der 35-Jährige ist mit seinen zwei kleinen Kindern und zwei Hunden zum Gottesdienst gekommen. Immer mit Tieren möchte er aber nicht in die Kirche. "Ich fand das sehr schön heute, muss ich sagen. Es ist locker, bringt Unruhe rein, was der Kirche aber auch mal gut tut, mehr Leben. Aber ob ich das immer wollen würde, da bin ich mir unsicher. Weil das schon recht chaotisch werden kann, vor allem wenn sich die Hunde nicht grün sind miteinander." Attraktive Pudeldame Islandhund Ljomi hat sich in den letzten Minuten aber zusammengerissen. Nun lässt sich seine Besitzerin mit ihm von Pfarrer Friedrich Laker segnen. Laker: "Ljomi und Beate, Gott segne und behüte euch. Auch in schwierigen Tagen eures Lebens. Ljomi, du mögest noch lange gesund, behütet und beschützt sein. Gott möge euch noch lange eine Zeit der Freundschaft und der Liebe zueinander schenken. So begleite euch der Gott des Friedens, Amen." Nach der Segnung diskutieren die Gläubigen noch ein wenig bei veganen Snacks im Kirchhof. Tofu und Anti-Pelz-Kampagnen sind zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Doch in der Kirche sei man mit der deutlichen Position zur Tierliebe noch Außenseiter. Beate Marschke ist mit dem Gottesdienst in Dortmund aber sehr zufrieden. "Ich bin ganz gerührt. Der ganze Ablauf war sehr angenehm, so einen Gottesdienst habe ich so noch nicht erlebt. Auch in dieser Harmonie!" Ljomi freundet sich derweil bellend mit einer Pudeldame an.
Von Samuel Acker
Zum evangelischen Kirchentag "Mensch-Tier-Schöpfung" in Dortmund wurden auch Hunde und Katzen, Ziegen und Pferde eingeladen. Theologisch ist der Tiersegen durchaus umstritten, doch davon war im Gottesdienst nichts zu spüren. Impressionen zwischen Beten und Bellen.
"2016-10-11T09:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:23.316000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tiergottesdienste-segen-fuer-die-katz-100.html
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Zwischen den Stühlen
Ben McLeod, Robby Staebler, Michael Parks (vlnr): All Them Witches sind mittlerweile ein Trio. (Joe Charlton) Musik: "All Them Witches" Viele Menschen denken gerne in Schubladen, auch was Musik betrifft. Das ist zum Teil verständlich, irgendwie will man das Gehörte ja einsortieren, in einen größeren Kontext stellen und dafür sind Szene- oder Genrezuordnungen hilfreich. Schubladen helfen bei All Them Witches aber nicht weiter: Die Band ist in Nashville zu Hause, macht aber keinen Country. Der Sound wird von schweren, verzerrten Gitarren dominiert und ihre Musik wird viel von Metalmagazinen besprochen – aber metaltypischen hohen Gesang oder kastagnettengleich klappernde Doublebassdrums sucht man in ihren Songs vergebens. Das Trio hat seine musikalischen Wurzeln eher im Blues, dem Psychedelic- und Hardrock der frühen 70er und dem Desert Rock der 90er-Jahre. Dazu reichert Bassist und Sänger Michael Parks Jr. seine kryptischen Texte in letzter Zeit vermehrt mit spirituellem Input an. Wie man es auch dreht und wendet, diese Band passt in keine Schublade. Musik: "Fishbelly 86 Onions" Drummer Robby Staebler, Sänger Michael Parks, Gitarrist Ben McLeod und der frühere Keyboarder Allan Van Cleave haben All Them Witches 2012 gegründet. Sie lebten damals zusammen in einem Haus und hatten neben ihren Jobs genug Zeit, gemeinsam Musik zu machen. Staebler war die treibende Kraft, er hatte vorher in Oregon gelebt. Auf der Suche nach Bandkollegen verschlug es ihn eher zufällig nach Nashville. "Ich kannte jemanden in Nashville, der meinte: zieh doch bei mir ein, ich habe Platz und suche außerdem noch einen Drummer. Ich habe also mein ganzes Equipment eingepackt und bin von Oregon nach Nashville gezogen. Nach drei Tagen hat mich der Typ rausgeschmissen, weil er ein völlig durchgeknallter Kokser war. Ich habe dann noch eine Weile in meinem Auto geschlafen, bis ich eine Wohnung gefunden hatte. Dann sind mir Ben und Parks über den Weg gelaufen und alles hat sich zum Guten gewendet." Debüt bei Elektrohasch Schallplatten Ihr erstes Album "Our Mother Electricity" erscheint auf dem Münchner Heavy-Psych-Label Elektrohasch Schallplatten. Und dort passen sie auch hin, die teils ausufernd jamlastigen und Southern Rock-beeinflussten Stücke des Debüts fügen sich gut zwischen Labelkollegen wie Lonely Kamel oder My Sleeping Karma. "Als wir mit den Aufnahmen fertig waren, hat unser Gitarrist Ben das Album an ein paar Label geschickt und sie waren die einzigen, die geantwortet haben. Wir haben einen Vertriebs-Deal mit ihnen gemacht und alle physischen Exemplare, die es gibt, kommen von ihnen. Das ist ein seltsames Album, wir kannten uns noch gar nicht richtig, als wir das gemacht haben. Am Anfang war es nur ich am Schlagzeug, später kam Ben dazu und wir haben zusammen Overdubs aufgenommen. Parks kam noch später dazu, als wir die Platte schon halb fertig hatten." Musik: "Bloodhounds" Das zweite Album "Lightning at the door" veröffentlichen All Them Witches 2013 in Eigenregie, ohne Ankündigung oder Promotion, eines Tages steht es einfach auf ihrer Bandcamp-Seite. Dank Mundpropaganda und sozialen Medien werden All Them Witches mit ihrem eigenartigen Mix aus psychedelischem Blues, harten Riffs und stilisiertem Soul bald zu einer Underground-Sensation. Begleitet von stoischem Bass, dunkel funkelndem Fender Rhodes-Piano und Mundharmonika-Einsprengseln taucht auf dem Album zum ersten Mal die Figur "Coyote Woman" auf, die Texter Parks immer mal wieder besucht. Musik: "The marriage of coyote woman" Mit "Lightning at the door" gelingt ihnen der Schritt vom gehypten lokalen Act zum nationalen Geheimtipp. Das dritte Album "Dying Surfer meets his maker" erscheint bei New West Records und ist für Drummer Robby Staebler immer noch eines ihrer besten. "Ich finde auf jedem unserer Alben gibt es gute Songs, aber "Dying Surfer" mag ich besonders. Das haben wir fast komplett aus dem Stand gemacht, nur für ein paar Songs hatte Parks vorher Demos aufgenommen. Ich weiß noch wie ich dachte: ob das wohl jemandem gefällt? Das ist irgendwie seltsam. Aber man geht mit jeder Platte durch den gleichen Prozess. Zuerst: Wow, das ist großartig! Dann: Oh, das ist großer Mist. Taugt das überhaupt was, wird es jemand mögen? Und dann: die Leute mögen es, toll!" Ben McLeod, Robby Staebler, Michael Parks (vlnr) (Robby Staebler) Die Songs haben sie in einer Hütte irgendwo in ländlichen Tennessee eingespielt und zwar: live. Also gemeinsam in einem Rutsch. Das Ergebnis ist ein staubtrocken groovender Blues/Psychedelic-Orkan mit verzerrten Riffs, berauscht wabernden Gitarren und auch einer epischen Americana-Ode mit Geigen. Musik: "Open passageways" Musik: "Don't bring me coffee" Vom Quartett zum Trio Der Song "Don't bring me coffee" vom Album "Sleeping through the war", dem letzten auf dem Keyboarder Allan Van Cleave mitspielt. Nach einigem Hin und Her entschieden All Them Witches, als Trio weiterzumachen. "Wir haben uns zuerst ein bisschen schwer getan damit. Nachdem Allan die Band verlassen hatte, waren wir uns eigentlich einig, dass wir zu dritt weitermachen wollen. Aber dann habe ich Panik bekommen, eine Tour mit Mastodon und Primus stand an und ich dachte: Shit, wie sollen wir ohne Keyboard unsere Songs spielen? Und danach kam schon die nächste Platte mit unserem Freund Jonathan Draper als Keyboarder. Aber dann haben wir einige Shows zu dritt gespielt und fanden es super. Und damit war klar: Wir nehmen das nächste Album als Trio auf." Das nächste Album ist das aktuelle: "Nothing as the ideal" entstand in den Londoner Abbey Road Studios, in denen sich die Musiker vom vintage Equipment haben inspirieren lassen. Und sicherlich hat die geschichtsträchtige Aura des legendären Ortes ihr Übriges getan. Immerhin sind dort nahezu alle Aufnahmen der Beatles und Pink Floyd entstanden und auch Cliff Richard, Duran Duran oder Oasis haben in den Abbey Road Studios Songs aufgenommen. Auf "Nothing as the ideal" vereinen All them Witches die entgegengesetzten Pole ihrer Musik - brachialen Rock und geheimnisvolles Storytelling - zu einem nuancierten und stimmigen Ganzen. Produziert hat Mikey Allred, der schon "Dying surfer meets his maker" einen düsteren Anstrich verpasst hat. Im Stück "41" treffen bedrohliche Fuzzgitarren auf Postrockwände. Musik: "41" Das fehlende Keyboard fällt kaum ins Gewicht, den freigewordenen Raum füllen die Musiker zum Beispiel mit dämonisch anmutenden Sprachsamples und Soundeffekten. "Letztes Jahr habe ich ein paar alte Kassettenrekorder für Kinder gekauft. Dazu gehörten kleine Pappkarten mit einem Stück Kassettenband drauf, die Kinder konnten sich damit selbst aufnehmen und die Aufnahmen auch anhören. Auf den Karten waren also viele verschiedene Kinderstimmen, die irgendwelche Worte gesagt haben. Parks und ich haben Stunden damit verbracht, die Stimmen zu verfremden und seltsame Loops daraus zu bauen." Und einige dieser Loops sind auf dem Album gelandet, unter anderem in dem Song "See you next fall", der aus einer Pilz-beflügelten Jamsession entstanden ist. Musik: "See you next fall" Die Musik auf "Nothing as the ideal" ist fokussiert und auf den Punkt, aber gleichzeitig ausschweifend und intuitiv – ein akustischer Trip auf dem sich All Them Witches von ihrer besten Seite zeigen. Der Albumtitel ist von buddhistischen Lehren inspiriert, glaubt Drummer Staebler. "Parks hat sich den Titel ausgedacht, er schreibt ja die meisten Texte. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es um Zen-Buddhismus geht, den Zustand der Leere ohne Gedanken – also nothing as the ideal. Vielleicht hat es in seinem Kopf auch irgendwas mit dem Entstehungsprozess der Platte zu tun. Aber das weiß ich nicht genau." Schlagzeuger, Maler, Videoregisseur Schlagzeuger Robby Staebler ist auch für das charakteristische Artwork zuständig, er malt, entwirft die T-Shirt-Designs und dreht auch die Videos. "Ich bin sehr stolz darauf, dass ich die Möglichkeit habe, mit meiner Kunst auch die visuellen Aspekte der Band zu gestalten. Dadurch haben wir einen wiedererkennbaren Look, der auch ein bisschen edgy ist. Außerdem kann ich meine eigenen Fähigkeiten erweitern und verbessern. Ich finde es gut, darüber Kontrolle zu haben, aber das hat nichts mit Ego zu tun, sondern das ist einfach eine kreative Seite in mir, für die ich auch einen Kanal brauche." Staebler ist der Typ Mensch, der nur schwer stillsitzen kann. Er muss immer irgendetwas machen, sei es nun Musik oder Kunst oder eine ehemalige Kirche zu einem Aufnahmestudio umbauen. Und da sie im Moment aus den bekannten Gründen nicht auf Tour gehen können, arbeitet er zusammen mit den anderen beiden vermutlich schon am nächsten All Them Witches-Album, denn: "There's always something to do." Musik: "Am I going up?"
Von Anke Behlert
All Them Witches haben ihre musikalischen Vorbilder im Blues, dem Psychedelic- und Hardrock der frühen 70er- und dem Desert Rock der 90er-Jahre. Eine Schublade gibt es für ihren Sound bislang nicht.
"2020-11-15T15:05:00+01:00"
"2020-11-15T11:50:52.340000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-band-all-them-witches-zwischen-den-stuehlen-100.html
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Keine Krone der Schöpfung
Philipp Blom denkt nach über Vorstellungen und wie sie wirken (picture alliance / picturedesk / APA / Helmut Fohringer) Aus Anlass des 100. Jahrestages der Salzburger Festspiele hat der Historiker und Philosoph Philipp Blom einen Essay geschrieben, der sich mit dem Thema "Das große Welttheater" beschäftigt. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Allegorie auf einer überholten theologischen Idee beruhe, nämlich, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Diese Erzählung hat für Blom heute keinen Bestand mehr, denn sie hat zur Ausbeutung der Natur geführt: "Unsere alte Erzählung ist die, dass wir dauerndes Wirtschaftswachstum brauchen und die Natur beherrschen können. Diese Geschichte wurde für uns lebensbedrohlich, wir müssen eine neue finden", sagt Blom im Deutschlandfunk. Beispielgebend steht hier für ihn die gegenwärtige Pandemie. An COVID-19 interessiert ihn, dass das Virus "kein lösbares Problem" sei, dass man gerade darum hier einen Ansatz finden könne, um sich mit dem Rest der Natur "intelligent zu arrangieren". Dabei kommt es für Philipp Blom darauf an, welche Art von Geschichten man sich künftig über diese Krise erzählt, denn in ihnen werden neue Handlungsmöglichkeiten geprobt. "Von Hygienedemonstrationen bis zu Globalisierungsgegnern werden derzeit unterschiedliche Versionen ausprobiert." Jede künftige moderne Erzählung vom Menschen müsse dessen Sonderstellung in der Natur hinterfragen, postuliert Philipp Blom mit Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die den Menschen als Teil der Natur und die Erde als intelligentes System verstehen. Philipp Blom: "Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs" Zsolnay Verlag, Wien. 126 Seiten, 18 Euro.
Philipp Blom im Gespäch mit Tanya Lieske
Die Welt als Bühne verwandelt sich ständig. Geschichten, die wir Menschen uns erzählen, formen Ideen über künftige Handlungen. Jetzt in Zeiten der Krise werde eine neue Erzählung gebraucht, die sich von der Vormachtstellung des Menschen in der Natur verabschiedet, sagt der Historiker Philipp Blom.
"2020-05-28T16:10:00+02:00"
"2020-05-29T22:10:06.745000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/philipp-blom-das-grosse-welttheater-keine-krone-der-100.html
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"Alle waren überrascht, dass dieser Anarch Willy Brandt kennenlernen wollte"
Michael Köhler: Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat ein Buch über die Geschichte der literarischen "Gruppe 47" geschrieben, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Werner Richter ins Leben gerufen wurde. Ihn habe ich gefragt: War Günter Grass innerhalb der Gruppe 47 schon von Anfang an ein Star? Helmut Böttiger: Ja. 1958 trat er als bärtiger junger Bildhauer aus Paris plötzlich im Gasthof Adler in Großholzleute auf und er sollte am Anfang eigentlich hinausgeworfen werden, weil er aussah wie ein Landstreicher. Er las aus der Blechtrommel, ein anarchisches sprachspielerisches Werk, das alle sofort in einen Begeisterungstaumel ohnegleichen versetzte, und dann waren alle überrascht, dass dieser Anarch, dieser wüste Sprachspieler plötzlich auch Willy Brandt kennenlernen wollte. Der Gruppeninitiator Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe 47, hat damit gar nicht gerechnet, dass er diesen Typen für die Sozialdemokratie begeistern könnte, und durch diese Bekanntschaft mit Willy Brandt, durch Vermittlung von Hans Werner Richter und die Gruppe 47, wurde Günter Grass eigentlich erst dieser politisch wahrgenommene Autor. Vorher galt er als ein anarchischer Künstler, der mit Politik eigentlich gar nichts zu tun hatte. Köhler: Das ist interessant, denn die Nähe von Geist und Politik, die war in den 60ern, frühen 70ern ja kennzeichnend für diese Autorengeneration. Vielleicht auch in gewisser Hinsicht einmalig für die Zeit? Entspannungspolitik '69, Grass und Lenz reisen mit Willy Brandt nach Polen, kommen selber aus den ehemaligen sogenannten Ostgebieten, sind also glaubwürdig als Unterstützer dieses Versöhnungskurses? Böttiger: Ja, das war eine, wahrscheinlich historisch einmalige Situation, dass in der Bundesrepublik die Literatur Dinge übernahm, die eigentlich Aufgabe der Politik gewesen wären. Das war in den 50er- und 60er-Jahren eindeutig der Fall, dass die Gruppe 47 in eine politische Bedeutung hineinwuchs, die sie eigentlich gar nicht haben wollte. Das war tatsächlich intendiert als ein literarischer Diskussionszirkel, aber diese jungen Literaten Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre, die gegen die Restauration der Adenauer-Zeit waren, die mit dem Nationalsozialismus tatsächlich nichts zu tun haben wollten, denen fiel automatisch die Rolle einer atmosphärischen Opposition zu. Und in den 60er-Jahren, da war das tatsächlich so, dass die Gruppe 47 eine innenpolitische Größe war, die sehr viel von dem übernahm, was eigentlich im Parlament hätte geschehen müssen, und es ist kein Zufall, dass Autoren vor allem wie Günter Grass, Heinrich Böll, auch Siegfried Lenz auch eine große Bedeutung hatten und dass sie sich alle an der Seite Willy Brandts für die Sozialdemokratie engagierten, die natürlich dann 1969 mit der Kanzlerschaft Willy Brandts ein paar Jahre brachte, wo Geist und Macht identisch zu sein schienen. "Die Gruppe 47 hat den heutigen Literaturbetrieb im Grunde erfunden" Köhler: Helmut Böttiger, Sie haben der Gruppe 47 ein ganzes dickes Buch gewidmet, und wenn ich es richtig verstanden habe, ist der leitende Gedanke auch, dass da das entsteht, was wir eigentlich so als den jüngeren Literaturmarkt der Bundesrepublik kennen: Also eine Allianz aus Kritikern und Literaten? Böttiger: Die Gruppe wuchs in eine literaturpolitische Bedeutung hinein, die sie gar nicht wollte. Durch die politische Bedeutung merkten die Autoren, dass sie natürlich auch auf dem literarischen Markt im Grunde die Meinungsführer waren. Wer in der Gruppe 47 von den Kritikern gelobt wurde, dessen Karriere als Schriftsteller war im Grunde gesichert. Wer dort abgelehnt wurde, der hatte im literarischen Markt der Bundesrepublik eigentlich keine Chance mehr. Und von daher ergab sich etwas, was der Gründer Hans Werner Richter und auch Günter Grass als sein Lieblingsschüler gar nicht intendiert hatten, dass diese Gruppensitzungen jedes Jahr im Herbst zu einem literarischen Spektakel wurden, zu einer Börse. Alle Verlagsvertreter, die Journalisten, die rissen sich darum, da eingelassen zu werden. Die durften am Anfang gar nicht hin, weil es interne Werkstattdiskussionen sein sollten. Aber die waren nicht mehr auszuschließen. Die Geister, die Hans Werner Richter und Günter Grass da gerufen hatten, die wurden sie nicht mehr los. Man brauchte ja auch den Literaturbetrieb, man brauchte diese Funktionäre. Und von daher: Wer da eingelassen wurde, wer da dabei war, der war enorm wichtig. Und für die Schriftsteller ging es dann darum, sich als Model auf diesem Laufsteg zu präsentieren. Das war am Anfang überhaupt nicht intendiert, aber dazu hat es sich hin entwickelt. Die Gruppe 47 hat vor allem den heutigen Literaturbetrieb im Grunde erfunden. Köhler: Die jungen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Joachim Kaiser, Fritz J. Raddatz - andere wären noch zu nennen - sind auch dabei, die später ja auch zu Kritikern von Günter Grass werden. Ist er in gewisser Hinsicht ein bisschen Opfer seines eigenen Medienerfolges geworden? Böttiger: Ich glaube, ab Mitte der 60er-Jahre, als er sich sehr dezidiert für Willy Brandt aussprach, hat ihm dieses politische Engagement auch geschadet, weil in den literarischen Texten wurden auch Leitartikel-Töne, moralische Töne, propagandistische Töne immer mehr gehört. Günter Grass hat sich auch immer zu Wort gemeldet und Kritiker warfen ihm das verstärkt vor. Marcel Reich-Ranicki wurde im Grunde sein Lieblingsfeind. Die beiden haben sich in der Gruppe 47 kennengelernt und über Jahrzehnte hinweg bekämpft. Aber sie haben einander auch gebraucht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Helmut Böttiger im Gespräch mit Michael Köhler
Mit der "Gruppe 47" gründete sich Ende der 1940er Jahre ein Kreis junger Literaten, die sich auch politisch engagierten. Dass Grass dazu gehören wollte, habe viele überrascht, sagte Helmut Böttiger, der die Geschichte der Gruppe aufgeschrieben hat, im DLF. Sein politisches Engagement habe Grass geholfen – später aber auch geschadet.
"2015-04-13T17:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:31:29.272000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grass-die-gruppe-47-und-die-spd-alle-waren-ueberrascht-dass-100.html
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Ethikrat-Mitglied Nagel warnt vor übereilter Entscheidung
Eckhard Nagel, Mitglied des Ethikrats. (Imago / biky) Wenn man einen Demenzkranken an einer Forschung teilnehmen lasse, der das nicht mehr abschätzen und sich nicht mehr artikulieren könne, so der Mediziner, dann begebe man sich in eine Grauzone. Die solle man aber nur betreten, "wenn man sich ganz konkrete Vorteile davon versprechen kann". Genau in diesem Punkt sieht Nagel aber derzeit "eine Schwierigkeit". Denn die Alzheimerforschung habe zuletzt zwar interessante Ergebnisse hervorgebracht. Diese beträfen aber "eher die Verhütung der Erkrankung als die Behandlung der Erkrankung". Und bei Studien zur Verhütung der Erkrankung könne man mit Patienten arbeiten, die noch in der Lage seien, ihre Einwilligung zu geben. Das Interview in voller Länge: Jürgen Zurheide: Gelegentlich geht es ja um das Kleingedruckte oder eigentlich nur um ein Wort. Das ist jetzt ein sehr allgemeiner Satz, aber wenn ich Ihnen erkläre, worum es geht, dann werden Sie es gleich verstehen. Ich nenne Ihnen zunächst die beiden Begriffe. Der erste ist "fremdnützige Forschungsteilnahme", der andere Begriff heißt dann "eigennützige Forschungsteilnahme". Jetzt werden Sie fragen, was behelligt der Moderator uns heute früh mit diesem Thema und mit diesen beiden Begriffen. Ich werde es Ihnen erklären. Die Kurzfassung heißt: Es geht darum, wie geht man bei Medizintests eigentlich vor, und wem nutzt es? Nutzt es mir selbst, oder nutzt es möglicherweise nur der Gruppe. Und genau diese wichtige Frage hat die Bundesregierung respektive das Bundeskabinett offensichtlich entschieden und gesagt, na ja, gelegentlich muss es dem Einzelnen, der an einem Versuch teilnimmt, nicht nutzen, sondern nur seiner Gruppe. Und da es um Demenzkranke geht, ahnen Sie, welche Brisanz hinter diesem Thema steckt. Genau darüber wollen wir reden mit Eckhard Nagel, Mediziner, Mitglied im Ethikrat und Universitätsprofessor. Ich begrüße ihn zunächst mal ganz herzlich am Telefon. Guten Morgen, Herr Nagel! Eckhard Nagel: Guten Morgen, Herr Zurheide! "Es geht um die Änderung des Arzneimittelrechts" Zurheide: Herr Nagel, was plant die Bundesregierung? Erklären Sie uns das etwas besser, als ich es kann. Nagel: Es geht um die Änderung des Arzneimittelrechts. Im Arzneimittelrecht wird vorgeschrieben, wie letztendlich Forschung auch mit Arzneimitteln stattzufinden hat. Und Sie haben es gerade schon in der Anmoderation deutlich gemacht. Bisher ist es so, dass eigentlich nur ein Patient oder auch ein Freiwilliger teilnehmen kann, der selbstbestimmt genau versteht, worum geht es bei dieser Forschung, der nachvollziehen kann, welche Risiken hat es auch für ihn. Und erst seine Zustimmung macht es möglich, dass Forschung stattfindet. Jetzt ist die Frage, ob jemand, der nicht versteht, weil er zum Beispiel demenzkrank, schon weit fortgeschritten, ist, ob er teilnehmen kann, und zwar auch unter der Maßgabe, dass es nicht mehr ihm selbst nützt, sondern nur noch seiner Gruppe, das heißt, allein Alzheimer-Kranken, die es in Zukunft geben wird. Und da ist eben eine Veränderung jetzt angedacht vonseiten des Bundeskabinetts, und das ist natürlich ein strittiger Punkt. Zurheide: Da wird ja immer gesagt, im internationalen Vergleich brauche man so etwas für die Forschung. Ich komme gleich mit Ihnen auf die Bewertung. Erstmal dieser Hinweis, ist der richtig oder sagen Sie, da setze ich schon an, das halte ich für problematisch? Nagel: Ich glaube, das muss man immer problematisch sehen, weil wir für viele Fragestellungen natürlich unklare Regelungen oder auch weniger starke Regelungen im Ausland haben. Hier kommt auch wieder das Thema Europa natürlich hinzu, weil Arzneimittelforschung sollte möglichst in Europa nicht unterschiedlich an verschiedenen Stellen, in verschiedenen Ländern vorgetragen werden, sodass das Europaparlament entsprechende Vorgaben gemacht hat und die Bundesregierung argumentiert jetzt auch, dass man sich anpasst an das, was im europäischen Recht und in den EU-Verordnungen umzusetzen ist. Das ist aber natürlich keineswegs zwingend. Man kann eine national andere Entscheidung treffen, als das die EU vorgibt. "Forschung soll letztendlich eine bessere Situation erzeugen" Zurheide: Wie bewerten Sie das Ganze jetzt auch vor dem Hintergrund Ihrer Tätigkeit im Ethikrat, zunächst mal aus ethischen Gründen? Ist das zulässig? Nagel: Die Frage ist natürlich, worum geht es? Es geht natürlich immer auch darum – und das muss man auch der Bundesregierung natürlich unterstellen –, für die Menschen eine bessere Situation zu erzeugen. Forschung soll letztendlich eine bessere Situation erzeugen, und dazu braucht es auch entsprechende Medikamentenversuche in Anführungsstrichen mit Menschen, also klinische Studien, um einen therapeutisch-wissenschaftlichen Fortschritt herauszubekommen. Und das ethische Problem liegt zwischen der Solidarität mit Menschen, die eine ähnliche Erkrankung haben und Forschung, die deshalb stattfindet, um eben diese Menschen langfristig zu schützen, und dem Schutz der Menschen, die an der Forschung teilnehmen, inwieweit sie eben in der Lage sind, in einen solchen Eingriff einzuwilligen. Da hat man immer gesagt, die Selbstbestimmung ist so bedeutsam, dass es ausreicht, wenn die Selbstbestimmung offen da liegt. Dann kann auch davon ausgegangen werden, dass dieser Schutz gewährleistet ist. Wenn ich aber nun nicht mehr in der Lage bin und trotzdem teilnehme, dann ist eben die Frage, ist meine Selbstbestimmung, meine Selbstverantwortung und meine Autonomie immer noch gewährleistet oder opfere ich sie zum Wohle der Menschheit. Das ist natürlich eine schwierige ethische Frage. Zurheide: Die Kirchen sagen klar Nein. Die Stellungnahme zum Kabinettsbeschluss liegt da. Wie sehen Sie das? Nagel: Ich denke, man muss tatsächlich noch mal die Problematik darstellen. Wenn wir über dieses Schutzargument sprechen. Es gibt auch einige Gruppen von Alzheimer-Erkrankten, die sagen, Selbstbestimmung ist nicht nur das, was ich rein rechtlich aktuell noch tun kann, sondern Selbstbestimmung bei einer Alzheimer-Erkrankung, die sich ja langsam fortsetzt, ist unter Umständen auch das, was ich vor zehn Jahren einmal gesagt habe. Und insofern kommt der Gesetzentwurf ja auch in die Richtung, dass er sagt, wenn ich in einer Patientenverfügung zum Beispiel einmal eingewilligt habe zum Zeitpunkt noch ganz klaren Denkens, dass ich gruppennützig forschen möchte, also forschen auch zum Nutzen der Patienten mit mir in einem Boot in Anführungsstrichen, und dann der gesetzliche Betreuer auf dieser Basis der Patientenverfügung zustimmt, dann ist das eine Einwilligung. Und hier gibt es tatsächlich eine Grauzone, denn – das ist die Problematik – was passiert denn? Der Patient, der das einmal verfügt hat, kann das natürlich nicht abschätzen. "Bei der Verhütung der Erkrankung kann man mit einwilligungsfähigen Patienten arbeiten" Zurheide: Und er kann es vor allen Dingen nicht mehr ändern und artikulieren. Das wissen wir beide, dass das genau leider häufig passiert. Nagel: So ist es. Er kann es nicht einschätzen und artikulieren. Und er nimmt jetzt teil, und, ganz anders, als er sich das vielleicht einmal vorgestellt hat, macht ihm eine solche Prüfung Angst oder er hat einen konkreten Schaden. Ist der Betreuer dann in der Lage, tatsächlich das zurückzuziehen, kann er einschätzen, wie es dem Patienten geht? Selbst eine Blutabnahme, auch andere, einfach Dinge, die bei einer solchen Studie eine Rolle spielen, können dann belastend sein. Und insofern begibt man sich in eine Grauzone, in die man sich nur begeben sollte, wenn man ganz konkrete Vorteile sich davon versprechen kann. Und da sehe ich eben im Moment so eine Schwierigkeit. Wir sind gerade in der Alzheimerforschung in der Situation, wo viele sehr interessante Forschungsergebnisse im Labor auf dem Tisch liegen. Jetzt muss man den Übergang schaffen im Hinblick auf die Frage der klinischen Studien. Und hier treibt, offensichtlich auch in der Sorge um die Alzheimererkrankung, die Bundesregierung die Vorstellung, wenn wir das nicht tun, dann kommen wir zu spät. Und ich glaube, da kann man durchaus etwas gelassener reagieren, denn es geht natürlich in dieser Forschung, so sehe ich das jedenfalls, unter medizinisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten mehr um die Verhütung der Erkrankung als um die Behandlung der Erkrankung. Bei der Verhütung der Erkrankung kann man mit einwilligungsfähigen Patienten arbeiten. Zurheide: Es gibt ja noch einen anderen Punkt. Es muss ja ethisch immer – es muss vorgelegt werden, und die Ethikkommission muss bei bestimmten Versuchen sagen, ja, wir machen das. Auch das soll, wenn ich den Gesetzentwurf da richtig lese oder den Kabinettsbeschluss, soll das nur noch eine Rolle spielen, aber keine maßgebliche möglicherweise mehr. Wie sehen Sie das denn, dass das auch noch eingeschränkt wird, also sozusagen von zwei Seiten da die Tür geöffnet wird. Nagel: Ja, das ist eine Sorge, die sich jetzt deutlich macht, dass man sagt, wenn ihr diesen Gesetzesentwurf so beschließt, dann ist das eigentlich ein Eingang in auch eine Erweiterung. Zum Beispiel bleibt verboten, dass man mit Menschen forscht, die niemals einwilligungsfähig waren, also zum Beispiel von Geburt an keine eigene Entscheidungsfähigkeit hatten. Aber die Sorge, die jetzt artikuliert wird, ist, dass das auch nur noch eine Frage des Momentes ist, und dass man dann bei nächster Gelegenheit auch diese Tür öffnen wird. Und das macht sich fest an dieser Frage, welchen Einfluss haben Ethikkommissionen in der Entscheidung. Ethikkommissionen sind sehr restriktiv. Wir haben sie erst in den letzten 25 Jahren eingeführt zum Schutze der Menschen. Wir wissen, dass es in der medizinischen Forschung in den zurückliegenden 100 Jahren immer katastrophale Entgleisungen gegeben hat, zum Wohle der Menschen, in Anführungsstrichen. Und insofern, glaube ich, ist hier die Schutzsituation relevanter als tatsächlich der Fortschrittsgedanke. Und man muss genau noch einmal abwägen: Ist es auch bei der Alzheimer-Forschung, auch bei der Demenzforschung nicht wichtiger, die Vorstadien zu behandeln, die Forschung in diesem Bereich zu stärken, dort auch mit einwilligungsfähigen Menschen zu arbeiten und doch den Schutz für die nicht Einwilligungsfähigen zu erhalten. "Man kann nicht vorhersagen, in welche Richtung ein Votum des Ethikrates geht" Zurheide: Der Ethikrat wird sich entsprechend äußern. Was sagen Sie voraus, und wofür werden Sie sich einsetzen im Ethikrat? Nagel: Ich glaube, dass man das noch nicht genau voraussagen kann, denn der Ethikrat hat 2012 eine entsprechende Stellungnahme schon einmal abgegeben dahingehend, dass die Selbstbestimmung gerade bei Demenzkranken weiter gefasst werden soll, also ähnlich, wie ich das gerade für einige Patientengruppen schon gesagt haben. Weil natürlich diese Linie Selbstbestimmung auch für Demenzkranke eine schwierige ist. Der Ethikrat hat damals ganz klar formuliert, wir müssen mehr für die Partizipationsmöglichkeit Demenzkranker machen, wir müssen sie mehr selbst entscheiden lassen und mehr darauf Rücksicht nehmen, wie sie auch in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium ihr eigenes Leben strukturieren können. Insofern, glaube ich, kann man nicht vorhersagen, in welche Richtung auch ein solches Votum geht. Zurheide: Eckhard Nagel war das, Mediziner und Mitglied des Ethikrates in der Bundesrepublik Deutschland. Herzlichen Dank für dieses Gespräch! Nagel: Gern! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eckhard Nagel im Gespräch mit Jürgen Zurheide
Medikamententests an Patienten mit fortgeschrittener Demenz sind laut Arzneimittelrecht bisher verboten - und nach Ansicht des Ethikrat-Mitglieds Eckhard Nagel sollte das vorerst auch so bleiben. Im DLF warnte er vor einer Grauzone. Für eine Gesetzesänderung, wie Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sie anstrebt, bestehe derzeit kein Grund.
"2016-06-04T07:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:33:09.802000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/medikamententests-an-demenzkranken-ethikrat-mitglied-nagel-100.html
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Wohl eher doch kein Wohlstands-Motor
Was sind fahrerlose Autos gegen die Dampfmaschine, was ist Facebook gegen die Erfindung des Kühlschranks? Selbst der 3D-Drucker, den viele bereits für das nächste große Ding halten, ist es nicht. (imago / Westend61) Es muss einen Grund geben, warum ausgerechnet viele IT-Pioniere aus dem Silicon Valley zu den Verfechtern eines bedingungslosen Grundeinkommens gehören. Ist es wirklich so, dass Menschen, die nicht unbedingt arbeiten müssen, um zu leben, kreativer sind als andere? Oder trauen die Start-up-Milliardäre ihren eigenen Geschäftsmodellen nicht – und ahnen schon, dass sie mit ihren virtuellen Welten niemals für jenen Wohlstand sorgen können, an den sich die Menschen seit Jahrzehnten gewöhnt haben? Dies wäre dann ein Beleg für Robert Gordons These: Jene Phase großer technologischer Errungenschaften, die bis in die 70er-Jahre hinein reichte und für breiten Wohlstand sorgte, ist zu Ende, und es wäre klug, sich auf langfristig kleinere Wachstumsraten einzustellen. Trotz Industrie 4.0, Big Data und der großen Digitalisierung der Gesellschaft. Auch wenn die Helden des Silicon Valley etwas anderes behaupten. Gordon nennt sie daher "Techno-Optimisten": "Sie ignorieren sowohl das langsame Produktivitätswachstum wie auch die Kraft der Gegenwinde. Stattdessen prognostizieren sie eine Zukunft mit spektakulär schnellerem Wachstum, das auf einem exponentiellen Anstieg der künstlichen Intelligenz basiert." Gordon aber erwartet keine guten Zeiten, auch die künstliche Intelligenz werde uns nicht retten. Der Ökonom von der Northwestern University in Chicago hat ein 760 Seiten schweres Buch vorgelegt, und wer mag, kann es durchaus auch als eine Art groß angelegte amerikanische Wirtschaftsgeschichte lesen. Gordon arbeitet chronologisch, und gerade die Beschreibungen aus einem alten, längst vergangenen Amerika lange vor Facebook und Google sind lesenswert. Es sind Geschichten aus einem Land der Pferdekarren, der holprigen Straßen, einem Land ohne fließend Wasser, aus einer Gesellschaft, in der vor allem Frauen den Tag damit verbringen, schmutziges Wasser gegen sauberes zu tauschen, zu waschen und zu kochen. Ein junges Land an der Schwelle, in dem zunächst weder Wachstum noch Wohlstand eine zentrale Rolle spielen. Noch nicht. "Bearbeitete Nahrungsmittel waren nicht verfügbar, frisches Fleisch war nicht sicher, also bestand das Essen vor allem aus gepökeltem Schweinefleisch und stärkehaltigen Nahrungsmitteln." Was, wenn irgendwie schon alles erfunden ist? Dann ging sie los, die lange Phase des großen Wohlstands. Lange bevor aus Industriegesellschaften Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaften wurden, war der Kapitalismus vor allem eines: eine gigantische Wachstumsschleuder. "Das Jahr 1870 markierte den Aufbruch des modernen Amerikas. Über sechs Jahrzehnte lang wurde jeder Teil des Lebens revolutioniert. Bis 1929 wurde das städtische Amerika elektrifiziert. Pferde verschwanden aus den Straßen der Städte, und 90 Prozent der Haushalte waren motorisiert. 1929 hatten die Haushalte Unterhaltungsangebote, die weit weg waren von dem, was man sich 1870 vorstellen konnte: Musik, Radio, Kino." Rund 100 Jahre später stockt der Wachstumsmotor – irgendwie ist jetzt alles erfunden, hat alles schon seine Wirkung entfaltet. In den 90er-Jahren und um die Jahrtausendwende kommt es noch einmal zu kräftigen Produktivitätsschüben; das Internet und die Mail werden zu Massenwerkzeugen. Aber es reicht nicht. Der Traum von der großen, reicher werdenden Dienstleistungsgesellschaft erfüllt sich nicht, es fehlen die großen Schübe. Was sind fahrerlose Autos gegen die Dampfmaschine, was ist Facebook gegen die Erfindung des Kühlschranks? Selbst der 3D-Drucker, den viele bereits für das nächste große Ding halten, ist es nicht. "Der 3D-Drucker ist eine andere Revolution, die von den Techno- Optimisten ins Feld geführt wird. Ihr größter Vorteil ist die Möglichkeit, den Designprozess neuer Produkte zu beschleunigen. ( ... ) So könnte sie zu einem Produktivitätswachstum führen, indem sie für mehr Effizienz sorgt und die Einstiegsbarrieren für neue Unternehmer senkt. Aber dies werden keine Effekte sein, die wir in der der gesamten Wirtschaft spüren werden." Die Digitalisierung verändert die Wirtschaft auf dramatische Weise, aber sie sorgt nicht für Wachstum und Wohlstand wie andere Industrien in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es beginnt schon damit, dass am Ende mehr Menschen durch Computer und Roboter an ihrem Arbeitsplatz ersetzt werden könnten als neue Jobs geschaffen werden. Gordons Thesen werden durch aktuelle Debatten nicht nur befeuert, sondern auch belegt. Für die Taxi-App Uber sollen nur 6.500 Menschen in fester Anstellung arbeiten, der Wert des Fahrdienstes aus Kalifornien aber wird auf 60 bis 70 Milliarden Euro geschätzt. Für den Autohersteller BMW arbeiten weltweit 122.000 Menschen – sein Börsenwert liegt aber "nur" bei 47 Milliarden Euro. Uber hat also nur wenig Personal – ist aber als Firma angeblich mehr wert als große Traditionskonzerne. Nicht nur die Geschäftsmodelle der neuen IT-Konzerne sind virtuell – auch ihre Bewertung ist es. Zum Wohlstand der Gesellschaften können sie daher nur begrenzt beitragen, weil sie – angesichts ihrer gesellschaftlichen Bedeutung - doch nur wenige Arbeitsplätze schaffen, die Menschen zu einem nennenswerten sozialen Aufstieg verhelfen. "Das Problem, das das Computerzeitalter geschaffen hat, ist nicht Massenarbeitslosigkeit, sondern das allmähliche Verschwinden guter, stabiler Jobs auf den mittleren Ebenen, die nicht nur Robotern und Algorithmen zum Opfer gefallen sind, sondern auch der Globalisierung. Dazu kommt, dass Jobs auf unteren Ebenen geschaffen werden, wo die Löhne niedrig sind. Die allmähliche Verlangsamung wirtschaftlichen Wachstums kombiniert einen enttäuschenden Produktivitätszuwachs im vergangenen Jahrzehnt mit einer ständigen Zunahme von Ungleichheit in den vergangenen drei Jahrzehnten." In einem letzten kurzen Kapitel wird aus dem Ökonomen Gordon dann der Politiker. Der Autor diskutiert die Politik an Schulen, Universitäten, den Mindestlohn, ein gerechteres Steuersystem. Und die Frage, wie sehr Gesellschaften heute auseinanderdriften. Dazu passen Studien aus diesen Wochen: Bei einem Großteil aller Haushalte stagnieren Realeinkommen oder sind rückläufig. Mini-Jobs, Ich-AGs, befristete Arbeitsverträge. Die Mittelschicht chattet mit Smartphones und präsentiert sich auf Facebook - aber sie bangt um das, was sie seit Jahrzehnten aufgebaut hat. Robert J. Gordon: "Rise and fall of american growth - The U.S. Standard of Living Since the Civil War"762 Seiten, Princeton University Press, 39.95 Dollar
Von Thomas Fromm
Die Digitalisierung stellt zwar die Gesellschaft auf den Kopf, aber sie sorgt nicht automatisch auch für mehr Wachstum und Wohlstand. Das ist die ernüchternde Hauptthese des US-Ökonomen Robert Gordon und seinem Buch "The Rise and Fall of American Growth". Gordons schlechte Nachricht: Das Beste haben wir längst hinter uns – und das waren die 100 Jahre zwischen 1870 und 1970.
"2016-08-15T19:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:20.604000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digitalisierung-wohl-eher-doch-kein-wohlstands-motor-100.html
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"Union der Mitte" gewinnt immer mehr Unterstützer
Anfang 2018 hat der bayerische Jungpolitiker Stephan Bloch die "Union der Mitte" gegründet, weil er den Verlust der absoluten Mehrheit seiner Partei bei den Landtagswahlen befürchtet (picture alliance / dpa / Sven Hoppe) "Ich heiße euch herzlich willkommen zur heutigen Rechtskunde- Unterrichtsstunde." Unterricht in einer Flüchtlings-Klasse der Berufsschule Erding. An der Tafel Vize-Schulleiter Günther Mittermaier. Vor ihm 14 junge Asylbewerber aus Afghanistan. Dazwischen nicht ein, sondern gleich zwei CSU-Minister. "Zum einen der Justizminister Winfried Bausback, zum anderen der Kultusminister Bernd Sibler." Kameras surren, Fotoapparate klicken. Die beiden bayerischen Staatsminister verkünden ihre Botschaft: Bayern sei bei der Integration von Flüchtlingen Vorbild und Vorreiter. Etwa durch Rechtskunde-Unterricht in allen Berufsschulen. "Wir waren mit die Ersten, die das angeboten haben. Und wir haben durchaus Anfragen aus den anderen Bundesländern gehabt, die unsere Materialien angefragt haben. Die sich letztlich am bayerischen Beispiel orientiert haben." Kein Bundesland gebe mehr Geld für Flüchtlings-Integration aus, sagt Justizminister Bausback. Er wünscht sich mehr Gelassenheit in der Asyl-Debatte. "Das politische Klima ist insgesamt sehr aufgeheizt momentan. Ich glaube, wir täten alle gut daran, wenn wir einen sachlichen, aber deutlichen Stil pflegen." In drei Monaten wählt Bayern einen neuen Landtag. Aber damit, so der Justizminister, habe sein Termin gar nichts zu tun. "Also wissen Sie, der Wahlkampf ist ja jetzt noch ein bisschen weg." Mahnende Worte an die CSU-Spitze Wenn das Markus Söder wüsste. Der bayerische Ministerpräsident ist derzeit im Maximal-Wahlkampf-Modus. Von früh bis spät, kreuz und quer durch den Freistaat. Kein Bierzelt ist vor Söder und seiner Botschaft sicher: "Die CSU steht geschlossen!" Wirklich? Morgen kommt Söder nach Hebertshausen bei Dachau. Zum 115. Geburtstag der hiesigen Burschenschaft. Dort trifft Söder auf einen interessanten CSUler: den Bürgermeister von Hebertshausen, Richard Reischl. Der hat gerade erst einen öffentlichen Brandbrief an die CSU-Spitze geschrieben. Darin mahnt Reischl Söder und CSU-Chef Seehofer: "Dass es in unserem Namen ein C gibt. Für 'christlich'. Und sozial. Deshalb finde ich es nicht richtig, dass man immer alle über einen Kamm schert. Sondern man müsste ein bissel mehr auf die Basis hören. A bissel mehr Anstand zeigen. Und vielleicht auch wieder Dinge bewegen, die uns hier in der Gemeinde, in ganz Bayern, zum Vorteil sind und uns helfen." Die Asyl-Politik zählt Bürgermeister Reischl eher nicht dazu. Nicht mehr. "Diese Themen, die da behandelt werden, auch in diesem Masterplan, die hätte ich 2015 benötigt und nicht 2018. Das kommt viel zu spät. Ich glaube, das Thema Asyl ist heute schon lang kein Thema mehr." Nicht alle in der CSU sehen das so. Beim Bezirksparteitag in Amberg in der Oberpfalz unterstützen neulich die meisten Befragten Seehofers Masterplan und die sogenannte "Asylwende". Keine Beruhigung bei der CSU in Sicht Ruhe tritt allerdings nicht ein in der CSU. Dafür sorgen Partei-Veteranen wie Erwin Huber, der frühere CSU-Vorsitzende und Intimfeind Horst Seehofers, der den Rücktritt des Bundesinnenministers fordert. Dafür sorgt aber auch ein junger CSU-Politiker: Stephan Bloch, Gründer der "Union der Mitte", einer Vereinigung von CDU- und CSU-Mitgliedern. Bloch, 29 Jahre alt, Mitglied im Vorstand des CSU-Ortsverbands München-Laim, gibt derzeit ein Interview nach dem anderen und treibt die CSU-Landesleitung zur Weißglut mit Sätzen wie diesem: "Wir haben uns ja wirklich einer starken Parolen-Politik bedient." Blochs "Union der Mitte" gibt es seit Anfang des Jahres. Auf Facebook hat sie 2.000 Unterstützer, darunter hochkarätige CDU-Politiker wie Armin Laschet, den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. [*] In der CSU dagegen hat Bloch bisher nur vergleichsweise unbekannte Unterstützer gefunden. Eine Massenbewegung ist noch nicht entstanden. Auch wenn viele an der CSU-Basis Blochs Befürchtung teilen, der Rechtsschwenk der Christsozialen gefährde die absolute Mehrheit. "Ich habe Angst, dass das bis zur Wahl überschwappt und insgesamt aus der Mitte mehr Stimmen kostet, als es am rechten Rand gewinnen kann." Vom Lautsprecher zum Leisetreter Die aktuellen Umfragen scheinen Bloch recht zu geben. Die CSU liegt derzeit bei nur noch 39 Prozent - ein Allzeit-Tief. Das seien "Berliner Zahlen", sagt Söder und distanziert sich von Bundesinnenminister und CSU-Chef Seehofer. Söder erfindet sich gerade neu – vom Lautsprecher zum Leisetreter. "Wir sollten alle auf die Wortwahl achten, die wir verwenden. Das gilt für mich, das gilt für uns. Genauso wie für alle anderen im politischen Diskurs. Ich habe entschieden, dass, wenn sich jemand durch ein Wort verletzt fühlt - sagen wir 'Asyltourismus' – dann verwende ich das Wort nicht mehr." Söders Wahlkampfteam hatte eigentlich geplant, die Wähler in Bayern mit einem Geschenk in die Sommerferien zu schicken: Vor ein paar Tagen fanden Millionen Eltern ein Schreiben des Ministerpräsidenten in der Post. Darin kündigt Söder das neue "Familiengeld" an. Eltern erhalten ab September bis zu 7.200 Euro pro Kind. Anders als beim bisherigen Betreuungsgeld ist es nun egal, ob das Kind zuhause ist oder in eine Kinderkrippe geht. Doch der Asylstreit der Union und Seehofers Ausrutscher in Berlin überlagern den Wahlkampf-Effekt des Familiengeldes. Und die Diskussion um Wortwahl und Stilfragen in der Asyldebatte ist noch längst nicht ausgestanden, findet Hebertshausens CSU-Bürgermeister Richard Reischl. Morgen Abend wird Reischl genau hinhören, wenn Markus Söder im Hebertshauser Bierzelt spricht. Die Plakate im Dorf kündigen den Ministerpräsidenten seit Wochen an: Es werde der größte Stammtisch, den Hebertshausen je erlebt habe. [*] Anmerkung der Redaktion: In der Ursprungversion dieses Manuskripts hatten wir CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer als Unterstützerin der "Union der Mitte" geführt. Das Büro von Frau Kramp-Karrenbauer teilt dazu mit: "Die Loyalität der Generalsekretärin gilt der CDU als Ganzes. Aufgabe des Konrad-Adenauer-Hauses ist es, unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Volkspartei CDU zusammenzubringen."
Von Michael Watzke
Die neu gegründete "Union der Mitte", eine Vereinigung von CDU- und CSU-Mitgliedern, will dem Rechtsschwenk in der CSU entgegenwirken. Dafür hat sie auch schon prominente Unterstützer gefunden, wie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Von einer Massenbewegung kann allerdings noch keine Rede sein.
"2018-07-18T07:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:02:13.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buendnis-gegen-rechtsschwenk-in-der-csu-union-der-mitte-100.html
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Merz spricht von Weckruf für Scholz
Der Chef der Unionsfraktion im Bundestag, Friedrich Merz (CDU) (IMAGO / Political-Moments) Merz sagte der Nachrichtenagentur AFP, hohe Energiepreise und die Uneinigkeit in der Wirtschaftspolitik verunsicherten zudem die Arbeitnehmer. Von der "Konzertierten Aktion" zur Bekämpfung der Inflation sei seit Monaten nichts mehr zu hören. Auch Bundesfinanzminister Lindner äußerte sich besorgt. Deutschland brauche jetzt eine wirtschaftspolitische Zeitenwende, nachdem es diese bereits in der Verteidigungspolitik gegeben habe, sagte der FDP-Vorsitzende in Berlin. Die Bundesregierung werde die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, mehr Fachkräfte gewinnen und Investitionsbedingungen verbessern. Rückgang um 0,3 Prozent Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt von Januar bis März um 0,3 Prozent zum Vorquartal und damit das zweite Vierteljahr in Folge, was einer Rezession entspricht. Das Bundesamtrevidierte damit seine ursprüngliche Schätzung von Ende April, die noch eine Stagnation ergeben hatte. Insbesondere sinkende Konsumausgaben bremsten die Wirtschaftsleistung. Diese gingen im ersten Quartal preisbereinigt um 1,2 Prozent zurück. Sowohl für Nahrungsmittel und Getränke als auch für Bekleidung und Schuhe sowie für Einrichtungsgegenstände gaben die privaten Haushalte weniger aus. Auch die staatlichen Konsumausgaben nahmen um 4,9 Prozent ab. Investitionen und Export stiegen wieder Die Investitionen stiegen hingegen im Vergleich zum 4. Quartal 2022. In der Baubranche wurde 3,0 Prozent mehr investiert, die Investitionen in Ausrüstungen, sprich Maschinen, Geräte und Fahrzeuge, um 3,2 Prozent. Der Export von Waren und Dienstleistungen stieg um 0,4 Prozent, der Import nahm um 0,9 Prozent ab. Im internationalen Vergleich hinkte die deutsche Wirtschaft zu Jahresbeginn hinterher. Sowohl in der EU als auch in der USA stieg das BIP im Schnitt leicht an. BIP als Wohlstandsindikator umstritten Ob sich die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts als aussagekräftiger Indikator für die Wohlstandsmessung eignet, ist schon länger umstritten. Ausführliche Hintergründe zur Kritik am BIP und mögliche Alternativen finden Sie hier. Diese Nachricht wurde am 25.05.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Merz, verlangt von Bundeskanzler Scholz eine entschiedene Reaktion auf die Rezession in Deutschland. So wie die Ampelkoalition arbeite, zweifelten viele Unternehmen an der Zukunft des Standorts Deutschland.
"2023-05-26T01:16:39+02:00"
"2023-05-25T14:02:38.044000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/merz-spricht-von-weckruf-fuer-scholz-100.html
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Präsident der Bundesärztekammer empfiehlt Booster-Impfung
Eine Knappheit bei Impfstoffen befürchtet Klaus Reinhardt nicht. Die Bundesregierung hat zunächst 14 Millionen der jetzt von der EMA zugelassenen Impfdosen bestellt. (picture alliance / dpa / Sebastian Willnow)
Meurer, Friedbert
Die EMA hat die Zulassung für Omikron-Impfstoffe gegeben. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, empfiehlt denen, die zu den vulnerablen Gruppen zählen, sich impfen zulassen. Zugleich forderte er eine Aufklärungskampagne zur Wirksamkeit.
"2022-09-02T07:15:00+02:00"
"2022-09-02T07:39:11.820000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ema-genehmigt-omikron-vakzine-interview-klaus-reinhardt-bundesaerztekammer-dlf-8eb00e24-100.html
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... und verteilte es unter den Städtern
"Guten Tag." "Hallo.""Ja, mal den heutigen Ernteanteil abholen. Was gibt's denn hier Schönes? Ah, Tomaten, ganz frisch."Frank Viohl kommt zum wöchentlichen Gemüseeinkauf. Wobei Einkauf das falsche Wort ist. Jeden Donnerstag holt der 51-Jährige sein frisches Grün aus einem kleinen Ladenlokal im Berliner Stadtteil Moabit. Dort haben sich 20 Leute zu einer Hofgemeinschaft mit einem Brandenburger Landwirt zusammengeschlossen. Der beliefert die Großstädter nun einmal wöchentlich. Dafür bekommt der Bauer jeden Monat einen pauschalen Beitrag von jedem der Abnehmer. Community supported agriculture – abgekürzt CSA – heißt die Idee, die aus den USA nach Deutschland gekommen ist. Ober eben: gemeinschaftliche Landwirtschaft. Frank Viohl hat das Konzept überzeugt. "Die Stadtmenschen geben dem Landwirt einen festen Betrag im Monat. Und dafür bekommen sie regionales, biologisches, saisonales, frisches Gemüse. Zu einem Preis, der auch im Vergleich zu den Bioläden oder Wochenmärkten wesentlich günstiger ist, weil weniger Aufwand damit verbunden ist" Den geringeren Aufwand hat vor allem der Bauer. Er vereinbart mit den Abnehmern für ein Jahr den monatlichen Preis. 50 Euro zahlen die Berliner. Gemeinsam wird entschieden, welche Sorten angebaut werden. Und auch das Risiko wird geteilt: Fällt der Ertrag etwa wegen Wetterkapriolen geringer aus, landet auch weniger auf den Tellern der Städter. In diesem regenreichen Sommer haben Kunden wie Frank Viohl aber ein anderes Problem:"Manchmal müssen wir uns auch was einfallen lassen, weil wir wissen: Alles ist im Wochenturnus zu verbrauchen. Denn am Donnerstag kommt die nächste Lieferung. Aber das gelingt in der Regel ganz gut."Salat, Zucchini, Radieschen oder Kohlrabi: Was lässt sich daraus alles kochen? Zu dieser Frage zwingt die sommerliche Gemüsemenge die Abnehmer geradezu. Im Winter werden dann vor allem Rezepte mit Kohl gefragt sein. Außerdem lernen die Städter wieder zu schätzen, wie viel Arbeit in ihrem Gemüse steckt. Mindestens vier Mal im Jahr sollen sie auf dem Hof helfen.An einem Samstag haben sich einige der Berliner auf den Weg zum Öko-Landgut an den Rand von Neuruppin in Brandenburg gemacht. Es ist eine bunt gemischte Truppe - von der 23-jährigen Studentin bis zum Buchhändler Mitte 60. Bewaffnet mit Hacken stehen sie auf einem 100 Meter langen Erdbeer-Acker und jäten Unkraut. Das darf in der Bio-Landwirtschaft nur mit der Hand ausgerissen werden, Chemie ist verboten. Der Hof versorgt vier Stadtgruppen mit insgesamt 50 Mitgliedern. Erst dieses Jahr ist er in die gemeinschaftliche Landwirtschaft eingestiegen. Sybille Harlos ist Geschäftsführerin des Landgutes "Lebensräume". "Die Zusammenarbeit ist eigentlich ganz gut mit den Stadtgruppen. Das funktioniert wunderbar. Ich glaube, den Städtern ist es auch ganz wichtig, dass sie mal sehen, wie das hier so ist und wo das herkommt." Vor allem der feste Monatsbeitrag, den die Abnehmer zahlen, hilft ihrem Betrieb."Es ist schon wichtig, dass man diese Planungssicherheit hat. Und wir sicher sein können: Wir bauen an und wir haben den Absatz." Nach fast vier Stunden Einsatz sind die acht Reihen Erdbeerpflanzen auf gut 50 Metern vom Unkraut befreit. Den Städtern aber steckt die anstrengende Arbeit auf dem Bio-Acker in den Knochen. "Ja, beim Bücken merke ich schon, der Rücken tut ein bisschen weh. ... Und bin froh, wenn wir uns jetzt so langsam für die Heimfahrt wieder rüsten."
Von Sven Kästner
Immer mehr Verbraucher wollen wieder wissen, woher ihr Obst und Gemüse stammt. Und so kommt es, dass die Städter gemeinsame Sache mit den Bauern machen und Hofgemeinschaften gründen. Die Idee: Für einen Monatsbeitrag bekommen sie einen Teil der Ernte.
"2012-08-02T11:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:31.052000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/und-verteilte-es-unter-den-staedtern-100.html
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"Ich glaube, es geht um wirtschaftliche Interessen"
Der Dortmunder Jadon Sancho bekundete Solidarität mit George Floyd (dpa-news / Lars Baron) "Ich glaube, die Sportler bekommen zunehmend Mut, sich auch politisch zu äußern. Und das sehe ich sehr positiv", sagt der Sportwissenschaftler Ben Bendrich, der aktuell ein Buch zum Thema Athletenrechte schreibt. "Gerade natürlich die schwarzen Sportler, denke ich, wollen sich auch äußern zu der Thematik. Und andere Sportler solidarisieren sich immer mehr, was ich als sehr positiv ansehe." Die Regel 50 des IOC, die politische Äußerungen von Sportlern bei den Spielen unterbindet, sieht Bendrich kritisch: "Ich glaube, es geht aktuell eher um rein wirtschaftliche Interessen. Also polarisierende Meinungen können der Marke Olympische Spiele und natürlich auch den exklusiven Sponsoren theoretisch schaden. Nicht alle Zuschauer werden mit dem Protest übereinstimmen. Und so kann natürlich auch Kritik aufkommen. Und davor haben IOC und Sponsoren wahrscheinlich auch ein wenig Angst." Atleten müssten auch mit Gegenreaktionen leben Bendrich sagt, dass Protest innerhalb der Werte des Olympismus erlaubt sein sollten. Für Bendrich ist die Grenze für Meinungsäußerungen von Sportlern da, wo Grundrechte und andere Menschen verletzt werden oder zu Hass aufgerufen wird. Auch Werbung für Parteien würde der Wissenschaftler nicht per se ausschließen. "Ich bin der Meinung, dass sich Athleten ihrer Verantwortung auch bewusst sind. Dass heißt, wenn sie ein Werteurteil in der Öffentlichkeit abgeben, dann wissen sie, dass das Konsequenzen haben kann. Nicht jede Meinungsäußerung wird gelobt, es kann auch zu Gegenreaktionen kommen." IOC-Athletenkommission zu nah am Präsidenten Im Moment werde allerdings das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung der Athleten durch die Regel 50 des IOC verletzt. Er sieht eine Demokratieverdrossenheit im IOC. Zudem zeige das Verhalten des IOC in der Vergangenheit, dass das IOC nicht gegen Politik an sich sei, sondern nur gegen eine bestimmte Art von Politik. Bei den angekündigten Reform der IOC-Athletenrechte in Sachen Meinungsfreiheit erwartet Bendrichs keinen Durchbruch: "Ich glaube, dass die IOC-Athletenkommission sehr nah am IOC und am IOC-Präsidenten dran ist. Teile der Athletenkommission sind ja auch nicht gewählt von den Athleten, sondern von den IOC-Präsidenten ausgewählt worden. Das heißt, da gibt es eine gewisse Nähe zwischen der IOC-Athletenkommission und dem Präsidenten." Die IOC-Athletenkommission ist für Bendrichs auch zu abgekoppelt von nationalen Athletenvertretungen. Er rechnet daher lediglich mit Kompromissen in Bezug auf das Thema Rassismus, sonst aber wenig Änderungen.
Ben Bendrich im Gespräch mit Maximilian Rieger
"Polarisierende Meinungen könnten der Marke Olympische Spiele schaden", sagt Sportwissenschaftler Ben Bendrichs im Dlf. Für ihn ist das Verbot politischer Äußerungen bei den Spielen eine Absicherung gegen Kritik, das IOC nennt er demokratieverdrossen.
"2020-06-21T19:31:00+02:00"
"2020-06-23T09:22:23.986000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/protestverbot-bei-olympia-ich-glaube-es-geht-um-100.html
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Braunkohle-Kraftwerk in NRW geht auf die Reservebank
Das RWE-Braunkohlekraftwerk Frimmersdorf in der Nähe von Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen; Aufnahme vom Oktober 2015 (picture alliance / dpa) Noch laufen sie unter Volllast, die beiden letzten aktiven Blöcke des Kraftwerks Frimmersdorf. Durch die Wärmeabstrahlung ist es rund um die beiden Generatoren in der großen Halle rund 40 Grad heiß, die Mitarbeiter tragen wegen des Lärms Gehörschutz, sie nennen die beiden Blöcke "Paula" und "Quelle". Für sie ist die Zeit nach dem Herunterfahren eine ungewohnte Herausforderung, betont Produktionsleiter Walter Scheffler: "Also wer glaubt, dass wir uns jetzt in den nächsten vier Jahren in der Sicherheitsbereitschaft hier so hinsetzten - nach dem Motto 'Wir setzen uns mal hin und warten, das jemand anruft' - also, der irrt sich!" Denn die Beschäftigten müssen alle Anlagen betriebsbereit halten, so dass sie im Notfall innerhalb von zehn Tagen wieder einsatzfähig sind. Walter Scheffler erläutert, was künftig zu tun ist: "Wir werden also die Mühlen drehen, wir werden den Nassentschlacker drehen, wir werden das Rost bewegen, damit diese Dinge alle nicht anrosten, sag ich mal, und natürlich auch die Antriebe testen, ob die noch laufen." Zuletzt Fernwärme für 1,2 Millionen Haushalte Kesselrohre werden mit Stickstoff gefüllt, damit sie nicht durch Sauerstoff korrodieren. Pumpen, Bänder und Antriebe müssen regelmäßig gestartet und bewegt werden, damit sie nicht einrosten. Diese Konservierung darf aber nicht so komplex sein, dass sie im Ernstfall nicht auch schnell wieder aufgehoben werden kann. Einst, in den 70er Jahren, war Frimmersdorf das größte Braunkohlekraftwerk der Welt. 16 Kraftwerksblöcke waren damals in Betrieb, wurden nach und nach vom Netz genommen. Zuletzt versorgte Frimmersdorf immer noch rund 1,2 Millionen Haushalte mit Fernwärme. Neben den beiden Blöcken dort sollen in den kommenden Jahren weitere Blöcke in benachbarten Kraftwerken im Rheinland sowie in Ostdeutschland vom Netz gehen, um insgesamt rund 12 Millionen Tonnen CO2 bis 2020 einzusparen. Für Christoph Weber, Professor für Energiewirtschaft an der Universität Duisburg-Essen, hilft das zwar, die deutschen Klimaziele zu erreichen - "Das Emissionsbudget europaweit für CO2-Emissionen wird nicht verändert. Und wenn deutsche Braunkohlekraftwerke weniger von diesem Budget in Anspruch nehmen, dann heißt das, dass diese Emissionszertifikate für andere Kraftwerks- oder Anlagenbetreiber in Europa zur Verfügung stehen." - für eine längerfristige Reduzierung der Treibhausgase müsste aus Webers Sicht der europäische Zertifikatehandel überarbeitet werden. Denn der Preis für eine Tonne CO2-Emissionsrechte dümpelt seit Jahren auf EU-Ebene bei 5 Euro herum – weil die EU-Kommission diese Verschmutzungsrechte teils kostenlos und in zu hoher Zahl ausgegeben hat. Unter diesen Bedingungen lassen sich auch alte Kraftwerke gut betreiben. 133 Euro Entschädigung pro Tonne CO2-Minderung Die Folge: Überkapazitäten am Strommarkt. Deshalb ist die von der Bundesregierung beschlossene Stilllegung großer Kohlekraftwerke für Energieexperte Weber ein logischer Schritt. Das zur Disposition stehende Kraftwerk in Frimmersdorf, die benachbarten Blöcke in Neurath und Niederaußem, aber auch in Jänschwalde in Brandenburg zählen für Umweltorganisationen außerdem seit langem zu den klimaschädlichsten in ganz Europa. Für die schrittweise Stilllegung erhalten die Betreiber deutscher Braunkohlekraftwerke insgesamt rund 1,6 Milliarden Euro. Das macht umgerechnet 133 Euro pro Tonne CO2-Minderung. Guido Steffen, Sprecher des Kraftwerksbetreibers RWE, sieht darin aber lediglich einen Ausgleich für den unternehmerischen Aufwand: "Das ist jetzt kein Good Will, um uns dazu zu bewegen, die Anlagen vom Netz zu nehmen, sondern es ist in der Tat eine Vergütung dafür, für die Leistungen, die nötig sind, um den gewünschten Betriebszustand über vier Jahre lang zu gewährleisten." Trotzdem eine vergleichsweise hohe Summe, sieht das Ökoinstitut doch die Möglichkeit, für ein Zehntel der Kosten mehr Emissionen einzusparen, wenn bei der Reihenfolge der Einspeisung ins Stromnetz die saubersten, und nicht - wie heute - die günstigeren Kohlekraftwerke bevorzugt würden. "Verfügbarkeit von Braunkohlekraftwerken hilft nichts" Und Christoph Weber von der Universität Duisburg-Essen sieht noch einen Nachteil dieser Sicherheitsbereitschaft jahrzehntealter Kraftwerke: "Häufig wissen die Netzbetreiber erst wenige Tage, manchmal sogar erst wenige Stunden vorher, dass es eng werden könnte. Und in einem solchen Fall hilft die Verfügbarkeit von Braunkohlekraftwerken in der Sicherheitsbereitschaft nichts." Weil diese im Vergleich zum Beispiel zu Gaskraftwerken schwerfällig und langsam hochfahren. Unabhängig davon wollen die Beschäftigten vor Ort in Frimmersdorf wie Walter Scheffler trotzdem alles für eine sichere Stromversorgung auch in Zukunft tun: "Das seh' ich nicht nur mit sportlichem Engagement, sondern da fühl' ich mich für verantwortlich, dass das vernünftig läuft. Und dass wir die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, dann auch einhalten." Zunächst aber werden die beiden 300-Megawatt-Blöcke morgen Abend heruntergefahren. Dann ist nach über 60 Jahren im einst größten Braunkohlekraftwerk der Welt zumindest vorerst der letzte Ofen aus.
Von Peter Hild
Frimmersdorf war mal das größte Braunkohlekraftwerk der Welt. Im Zuge der Energiewende wird die riesige Anlage in der Nähe der Stadt Grevenbroich nun vom Netz genommen und in Sicherheitsbereitschaft versetzt - für den Fall, dass Solar- und Windenergie knapp werden. Die Maßnahme ist teuer und umstritten.
"2017-09-29T11:50:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:35.615000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/energiewende-schreitet-voran-braunkohle-kraftwerk-in-nrw-100.html
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Rückkehr an den Bosporus
Viele Deutsch-Türken sind zurückgekommen: Blick auf das Bosporus-Ufer in Istanbul (imago ) Tanzend, fast schwebend verteilt eine wildgelockte Weihnachtsfrau goldene Päckchen in den Gassen von Istanbul - unterlegt mit einer jazzigen Version von "Jingle Bells". Dieser Musikclip flackert zum Auftakt des Rückkehrer-Abends im Istanbuler Kulturzentrum SUPA über die Wand. Die Zuschauer wippen mit den Füßen. Sengül Mor hingegen wird wehmütig. Sie zog vor fünf Jahren von Stuttgart nach Istanbul, in die einstige Heimat ihrer Eltern. Doch die deutsche Adventszeit fehlt ihr noch immer. "So richtig in Stimmung kommt man hier nicht. Ich vermisse die Weihnachtszeit und wäre gerne in Deutschland gewesen anstatt hier, aber es ist finanziell nicht immer möglich. Ich verdiene in Lira und das ist schwer." Mehr als 300.000 Menschen sind gekommen Eigentlich hat die 41-Jährige eine gute Position als Software-Entwicklerin im Istanbuler Sitz einer deutschen IT-Firma. Doch im letzten Jahr verlor die Türkische Lira gegenüber dem Euro ein Drittel an Wert, die Inflation im Land liegt derzeit bei über 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Seither kann sich Sengül Mor kaum noch Flugtickets nach Deutschland leisten. Einst hatte der türkische Wirtschaftsboom der 2000er Jahre viele Deutsch-Türken wie sie angelockt. In den Jahren 2005 bis 2014 zogen mindestens 335.000 Menschen aus Deutschland in die Türkei, der Großteil davon Hochqualifizierte. Doch die Hälfte von ihnen ist mittlerweile wieder nach Deutschland zurückgekehrt, schätzt das Zentrum für Türkei-Studien in Essen. Diese Beobachtung teilt auch Cigdem Akkaya, die im Jahr 2006 den Rückkehrer-Stammtisch gründete: "Damals gab es eine richtige Welle Richtung Türkei, vor allem Istanbul. Istanbul war eine Metropolstadt, wo aus allen Ländern verschiedene Menschen lebten und kamen. Aber im Laufe der Jahre hat sich viel verändert. Eine Menge der Menschen, die damals hierhergekommen sind, sind mit Enttäuschung wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Und einige, ein harter Kern, ist trotzdem geblieben." Klima der Angst Ein Hauptgrund um die Türkei wieder zu verlassen, ist für viele die politische Lage: der immer autoritärere Kurs der Erdogan-Regierung, die Verhaftungswellen der letzten zwei Jahre, die eingeschränkte Meinungsfreiheit. Mittlerweile herrscht ein solches Klima der Angst, dass das Thema Politik beim Rückkehrer-Stammtisch tunlichst vermieden wird. Gehen oder bleiben – das hingegen bleibt ein Dauerthema. Die Autorin und Schauspielerin Dilsad Burak Sarioglu kennt diese Gedankenspiele gut. Vor ein paar Jahren zog die Hälfte ihres Freundeskreises aus Neugierde oder auf Identitätssuche von Deutschland in die Türkei. Heute hingegen ist sie die einzige, die noch in Istanbul lebt: "Alle meine Freunde sind zurück. Sogar Freunde von mir, die Türkei-Türken sind, also keinen Bezug zu Deutschland haben, sind fast alle ins Ausland gegangen. Es hat sich hier sehr viel verändert. Dieser Aufschwung, von dem damals alle gesprochen haben, ist nicht mehr zu spüren. Die Euphorie ist weg. Die Menschen hier sind eher depressiv und nicht mehr solche Frohnaturen wie früher. Und das wirkt sich natürlich aus, das spürt man, wenn man hier herkommt." Manche bleiben in Istanbul, trotz aller Schwierigkeiten Während die Türkei einen massiven Brain-Drain erlebt, lockt Deutschland derzeit mit einer sehr guten Arbeitsmarktlage. Software-Entwicklerin Mor würde dort vermutlich schnell einen guten Job finden. Doch sie will in Istanbul bleiben, trotz aller Schwierigkeiten. Denn sie hat hier eine Heimat gefunden, die sie lange in Deutschland vermisste: "Ich glaube, ich passe besser in die Gesellschaft hier. Hier bin ich viel sozialer. In Deutschland wollte ich immer sozial werden, aber das hat nicht so gut geklappt. Ich habe mich meistens, wenn ich unter Gesellschaft war, nicht dazugehörig gefühlt. Hier ist das nicht so. Hier fühle ich mich wohler." Viele beim Rückkehrer-Stammtisch nicken. Es sind eher persönliche Gründe, die sie bewegen zu bleiben: Die Liebe, die Energie Istanbuls oder ein diffuses Gefühl von Angekommensein, das sie nie wieder missen wollen.
Von Kristina Karasu
Zehntausende Deutsch-Türken sind seit Mitte der 2000er Jahre in die Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt. In Istanbul treffen sie sich regelmäßig zum Rückkehrer-Stammtisch. Aber die politische Situation in der Türkei hinterlässt auch hier ihre Spuren.
"2018-12-21T09:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:26:50.115000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-tuerken-in-istanbul-rueckkehr-an-den-bosporus-100.html
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Grenze zu Russland unter Kontrolle
Die Ukraine hat ihre Grenze zu Russland unter Kontrolle, erklärte heute das Verteidigungsministerium. Damit ist die von Präsident Poroschenko genannte Bedingung für eine einseitige Waffenruhe erfüllt. Verteidigungsminister Michail Kowal beklagte im Parlament, dass Russland noch bis vor wenigen Tagen Panzer und Granatwerfer auf ukrainisches Territorium geschleust hat. Petro Proschenko will heute seinen Friedensplan vorstellen und kann jeden Moment die Waffenruhe ausrufen. Hohe Verluste forderten die bislang schwersten Kämpfe gestern. Heute konkretisieren sich die Zahlen, wenngleich sie weit auseinandergehen und nicht überprüft werden können. Demnach habe allein eine Kampfeinheit aus Dneprpetrowsk gestern zwölf ukrainische Soldaten verloren, 25 seien verwundet worden. Der Sprecher der Anti-Terror-Operation der ukrainischen Regierung nannte nur sieben getötete Soldaten, dafür 300 vernichtete Rebellen, gestern Abend war von 200 die Rede. In Lugansk hätten die Separatisten die ukrainischen Einheiten auf dem Flughafen angegriffen und seien mit gepanzerten Fahrzeugen in die Stadt vorgerückt. Die Hochburg der prorussischen Milizen, Slawiansk, soll umstellt sein. Im Norden von Donezk geht die ukrainische Armee mit Panzern gegen die prorussischen Milizen vor. Deren Anführer Igor Grinin, genannt Strelkow, sprach von der Übermacht, die für schwere Verluste unter seinen Leuten gesorgt hat. "Wir haben große Verluste, auch weil der Gegner mehr als 100 Panzer im Einsatz hat und mit Granatwerfern und Artillerie vorgeht. Die erste Attacke haben wir beantwortet und einen Panzer erobert, aber 15 bis 20 Panzern standzuhalten ist schwer." Der ukrainische Präsident telefonierte gestern laut Aussage seines Stabes erneut mit seinem russischen Kollegen Putin in Moskau, dem er den Friedenplan erläuterte, der laut ersten Informationen keine Verhandlungen mit den Aufständischen vorsieht. Putin hatte die einseitig von Poroschenko angekündigte Feuerpause kritisiert - weil sie nur zeitweilig gelten soll. Russland rechtfertigt den erneuten massiven Truppenaufmarsch. Das seien seit Langem beschlossene Maßnahmen für den stärkeren Schutz der Grenzen. Gestern wurde er noch mit den andauernden Kämpfen in der Krisenregion begründet. NATO-Generalsekretär Rasmussen hatte die erneute Konzentration als Rückschritt bezeichnet. Die drei Ex-Präsidenten Krawtschuk, Kutschma und Juschtschenko wandten sich an den neuen Kollegen mit der Aufforderung, mehr für die Sicherung der Grenze zu Russland zu tun, um den Nachschub an Waffen und Kämpfern von dort zu stoppen. Außerdem plädierten sie für die Schaffung eines militärischen Koordinationszentrums für die Ostukraine sowie mehr Anstrengungen gegen die Propaganda aus Russland. Der Pressesprecher des Nationalen Sicherheitsrates berichtet von einer angeblichen neuen russischen Provokation: Wolodymyr Tschepowi:"In Krasopartisansk im Lugansker Gebiet sind bewaffnete Leute in ukrainischen Uniformen aufgetaucht, die sich als Kämpfer der Nationalgarde vorgestellt haben und auf russisches Gebiet vorgedrungen sind. Sie haben gepanzerte Fahrzeuge und LKW. Wir erklären offiziell, dass die Nationalgarde in diesem Gebiet keine Einheiten hat."
Von Sabine Adler
Bei blutigen Gefechten zwischen Regierungstruppen und Milizen sind in der Ostukraine mehrere Hundert Menschen getötet worden. Präsident Poroschenko will einen Friedensplan vorstellen und könnte bald eine einseitige Waffenruhe ausrufen.
"2014-06-20T12:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:48:14.169000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ostukraine-grenze-zu-russland-unter-kontrolle-100.html
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"Eine Art Krieg gegen Insekten"
Bienen mögen eine Vielfalt an Wildblumen (imago / Roland Mühlanger) Wenn Saatgut mit der Schutzhülle eines Nervengifts überzogen, also gebeizt wird, ist das tödlich für alle Insekten, die den Keimling und später die Pflanze anbeißen, erklärt Klaus Wallner, Leiter des Rückstandslabors an der Uni Hohenheim. Die drei jetzt EU-weit verbotenen Neonikotinoide seien extrem bienengiftig, räumt Wallner ein. Doch wenn Landwirte die Anwendungsregeln befolgten, kämen Bienen gar nicht in Kontakt mit den Nervengiften. Diese seien extrem stabil, verteilten sich optimal in der Pflanze und schützten sie deshalb wirksam gegen Käfer und Läuse. Der Wissenschaftler stärkt dem Agrarminister von Rheinland-Pfalz den Rücken. Wie der FDP-Politiker Volker Wissing, so hält auch er die sogenannten Neonics für nötig, damit die Landwirte bei Zuckerrüben und Raps verlässliche Ernten einfahren können. Das Verbot bewirke, kritisiert Wallner, "dass wir den Raps in die Enge treiben. Und wir brauchen einfach den Raps. Das heißt, wenn wir Forderungen stellen an den Rapsanbau, die über das hinausgehen, was jetzt schon läuft, dann wird der Raps von unseren Feldern verschwinden, wir werden Soja haben oder von mir aus Hirse haben. Das heißt, wir verlieren eine ganz, ganz wichtige Bienenpflanze." Disput über die Gefährlichkeit Thomas Rabold, Nebenerwerbs-Imker mit über 100 Bienenvölkern, widerspricht. Für den Rapsanbau sei ein Neonikotinoid ja noch zugelassen, allerdings als Spritzmittel - nicht zur Saatgut-Beize: "Da gibt es das Thiacloprid. Ich wehre mich auch gegen die Denkweise: Man verwendet ein Mittel, um eine Pflanze von innen heraus, giftig zu machen. Wo man sagt: Alles, was hier dran krabbelt und beißt und saugt, ist per se ein Schädling – muss vernichtet werden. Das ist so eine Art Krieg gegen Insekten. Das berücksichtigt nicht, dass es auch nützliche Insekten gibt, nicht nur Käfer, auch Honigbienen, sondern auch viele Käfer und welche, die das Bodenleben befördern." Wind verteilte tödlichen Beizstaub In Verruf gerieten die Neonikotinoide als Saatgut-Beize vor mehr als zehn Jahren. Damals verteilte starker Wind tödlichen Beizstaub beim Ausbringen von behandeltem Mais-Saatgut auf riesigen Flächen am Oberrhein und löste ein großes Bienensterben aus. Solche Anwendungsfehler seien aber strafbewehrt und in der Praxis die ganz große Ausnahme, betonen die Verfechter. Die Bio-Obstbäuerin Karin Strack bezweifelt das. Die Mainzerin baut Beerenobst im Nebenerwerb an und vermarktet es selbst. Darauf, dass ihre konventionell wirtschaftenden Nachbarn Pestizide sachgemäß anwendeten, könne sie sich nicht verlassen. "Normalerweise darf man ab Windstärke drei nicht mehr spritzen. Da können Sie aber mal gucken, wie viele Leute noch spritzen. Und dann hat man demzufolge die Abdrift. Bei uns haben Sie lauter kleine Stücke, also keine großen Flächen, da wissen Sie ganz genau was passiert: Sie haben den Pflanzenschutzmittelbesatz auf dem Nachbaracker." Verlust von Lebensräumen Bienen leiden nicht nur unter Ackergiften. Hauptgrund für die Dezimierung auch der Wildbienen ist der Verlust von Lebensräumen, die in Äcker oder Siedlungsfläche umgewandelt werden. Doch die Landwirtschaft, besonders der Obstbau, könnte einiges tun, um die Vielfalt zu erhalten. "Wichtig für die Wildbiene ist einmal die Nahrung, die vorhanden sein muss, nicht nur die Obstblüte, die ist ja irgendwann vorbei, dann gibt es ja Spezialisten, die bestimmte Pollen brauchen", weiß die Biologin Doris Dannenmann von der TH Bingen. Bei ihrer Forschung auf Obstanlagen in Rheinland-Pfalz hat sie nicht nur die erwachsene Biene im Blick. Sondern auch das Ei, die Larve und die Nistkammer. "Und dann brauchen sie Strukturen, in die man diese Nester anlegen kann: Entweder offener Boden, es graben viele Bodengänge – dann Totholz, in das Gänge gegraben oder vorhanden Gänge genutzt werden, markhaltige Stängel, hohle Stängel, alte Stängel – gerade Altgrassäume. Was man gern aus Ordnungsliebe alles wegmacht, das ist für diese Insekten wichtig zum Überleben, damit die Tiere, wenn das Eigelege drin ist, dass die Tiere im nächsten Jahr schlüpfen können und eine neue Generation heranwachsen kann." Genau deshalb räumt Bio-Obstbäuerin Karin Strack ihre Brachflächen nicht auf. Oft genug erntet sie dafür allerdings das Kopfschütteln von Passanten.
Von Anke Petermann
Drei besonders gefährliche Insektengifte der Gruppe der Neonikotinoide sind EU-weit auf offenen Feldern verboten. Die Pestizide sind extrem bienengiftig. Doch Landwirte bemängeln: Durch das Verbot werde der Rapsanbau gefährdet - und damit eine wichtige Bienenpflanze.
"2019-04-15T11:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:47:23.907000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neonikotinoide-eine-art-krieg-gegen-insekten-100.html
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US-Vizepräsident Pence mit deutlichem Bekenntnis zur Nato
US-Vizepräsident Mike Pence bei der Münchner Sicherheitskonferenz. (AFP - Thomas Kienzle) Bei einem Zusammentreffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz betonte US-Vizepräsident Mike Pence "Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen fest zur Nato. Wir werden unerschütterlich unsere Verpflichtungen der transatlantischen Allianz gegenüber erfüllen." Dies sage er im Namen des US-Präsidenten. Parallel zur seiner Rede veröffentlichte er auf seinem Twitteraccount ein Statement: Genau wie die USA bis zum Ende des 20. Jahrhundert zu Europa gestanden hätten, sei Europa seit Beginn des 21. Jahrhunderts an der Seite der USA. Die USA seien dafür für immer dankbar. Pences Bekenntnis zur Nato sahen viele Beobachter als widersprüchlich zu früheren Aussagen des US-Präsidenten, der die Bedeutung des Verteidigungsbündnisses offen in Frage gestellt hatte. Zugleich appellierte Pence an die europäischen Bündnispartner, ihre Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen. Die Zeit sei gekommen, mehr zu tun. Für diese Forderung habe es unter den europäischen Teilnehmern im Saal nur vereinzelt Applaus gegeben, schreibt unter anderem der US-Journalist Josh Rogin. Merkel: Mehr als acht Prozent sind nicht möglich Auch US-Verteidungsminister James Mattis hatte sich bei einem Nato-Treffen in dieser Woche bereits zu dem Bündnis bekannt, den Mitgliedsstaaten zugleich aber ein Ultimatum gestellt. Sollten diese ihre Verteidigungsausgaben nicht bis Ende des Jahres erhöhen, würden die USA ihren Einsatz in dem Militärbündnis zurückfahren. Bundeskanzlerin Merkel sagte, Deutschland könne seine Verteidigungsausgaben nicht so massiv steigern, wie die US-Regierung dies fordere. Mehr als eine Steigerung um acht Prozent sei nicht möglich. Merkel bekannte sich aber grundsätzlich zum Ziel der Nato, spätestens im Jahr 2024 mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. "Deutschland kennt hier seine Verantwortung", sagte die Kanzlerin. Merkel warnte hinsichtlich existierender Tendenzen zur Abschottung, kein Staat könne die Herausforderungen der Welt alleine bewältigen. "Ich bin der festen Überzeugung, es lohnt sich, für die gemeinsamen multilateralen Strukturen zu kämpfen", so die Kanzlerin. Doch die internationalen Strukturen etwa der Europäischen Union seien nicht effizient genug. Man müsse sie stärker und krisenfester machen. Man werde Russland weiter zur Verantwortung ziehen, so Pence Zum Thema Russland betonte Pence, dass die USA Russland weiterhin zur Verantwortung ziehen würden, auch wenn man nach neuen Gemeinsamkeiten suche, von denen Präsident Trump überzeugt sei, dass sie gefunden werden könnten. Bundeskanzlerin Merkel sagte, es gebe zwar noch kein stabiles und dauerhaft gutes Verhältnis zu Russland. Sie werde aber nicht nachlassen, dafür zu werben, "dass wir zu Russland ein gutes Verhältnis hinbekommen." Lawrow: "Eliteclub" kann nicht die Welt regieren Der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisierte die Nato in seiner Rede auf der Konferenz scharf. Das Militärbündnis sei "nach wie vor eine Institution des Kalten Krieges, sowohl im Denken als auch im Herzen". Es könne nicht funktionieren, dass ein "Eliteclub von Staaten" die Welt regiere. Lawrow will "pragmatische" Beziehungen zu den USA (dpa/Tobias Hase) Lawrow warb für ein "pragmatisches" Verhältnis zwischen den USA und Russland. Es sei im gemeinsamen Interesse, die beiderseitigen Beziehungen zu stärken. "Wir sind dazu bereit, wenn die USA dazu bereit sind." Aus Washington hatte es zuletzt unterschiedliche Signale gegeben. US-Präsident Trump setzt einerseits auf eine Annäherung, andererseits kritisierte seine Regierung das Verhalten Moskaus in der Ukraine-Krise. (vic/gri/nin)
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Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat US-Vizepräsident Mike Pence erklärt, die Regierung Trump stünde fest zur Nato. Gleichzeitig forderte er die europäischen Verbündeten auf, sich stärker am Militärbündnis zu beteiligen. Der russische Außenminister Lawrow nannte die Nato eine "Institution des Kalten Krieges".
"2017-02-18T10:56:00+01:00"
"2020-01-28T10:15:44.226000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/muenchner-sicherheitskonferenz-us-vizepraesident-pence-mit-100.html
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"Fossile Energien nicht einfach durch erneuerbare ersetzen"
Der Naturschutzbund NABU hat jetzt seine Position zur Windkraft geklärt: Olaf Tschimpke erläutert sie im DLF. (dpa picture-alliance/ Daniel Reinhardt) Georg Ehring: Nicht nur Kenia setzt auf die Windkraft; Deutschland tut dies schon seit vielen Jahren und richtig gute Standorte an Land werden langsam knapp. Doch weil ein einzelnes Windrad deutlich weniger Strom erzeugt als ein Atom- oder Kohlekraftwerk, sind noch viele Standorte vonnöten, und die Zahl der Windräder wird sich in den nächsten Jahren sicher noch einmal verdoppeln. Von Wohngebieten sollen Windräder Abstand halten. Also hinaus in die Natur, in den Wald und auf hohe Berge. Dort ist es schließlich besonders windig. Viele Naturschützer sehen das mit gemischten Gefühlen. Der Naturschutzbund NABU hat jetzt seine Position zur Windkraft geklärt und seinen Präsidenten Olaf Tschimpke habe ich vor dieser Sendung gefragt, ob man beim weiteren Ausbau Naturschutzgebiete und Wälder außen vor lassen kann. "Eine anständige Regionalplanung" Olaf Tschimpke: Naturschutzgebiete muss man außen vor lassen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir Naturschutz gegen den Klimaschutz ausspielen. Wer das tut, macht einen riesen Fehler, denn auch Naturschutzgebiete und die Natur leistet natürlich einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz. Von daher geht es darum, sehr, sehr sorgfältig zu planen, und das vermissen wir manchmal. Ehring: Ein Drittel Deutschlands ist von Wäldern bedeckt und die sind ja ökologisch auch sensibel. Wie gehen wir denn damit um? Tschimpke: Die ganz sensiblen Wälder muss man natürlich davon ausnehmen, gerade auch, wo man alte Waldbestände hat, wo man ökologisch wertvolle Waldbestände hat. Es gibt aber auch einige Bereiche, wo das nicht so ist, wo wir noch Fichten-Monokulturen haben. Da kann man im Einzelfall natürlich anders entscheiden. Für mich ist entscheidend, dass man eine anständige Regionalplanung macht, so dass man auch Korridore freilassen kann, dass man Räume komplett freilassen kann, wenn Lebensräume sie zum Beispiel unzerschnitten sind, und dass man in anderen Räumen dann auch tatsächlich Windanlagen planen kann, so dass man auch im Sinne der Bevölkerung vermeidet, dass ganze Orte wirklich von Windparks umzingelt werden. "Beim Verkehr haben wir noch gar keine Ziele erreicht" Ehring: Aber der Ausbau der Windenergie, der soll Ihrer Meinung nach schon weitergehen? Tschimpke: Ja. Ich kenne jetzt noch kein Szenario, was ohne einen weiteren Ausbau der Windenergie zustande kommt. Entscheidend ist für mich aber eine Gesamtplanung. Da wollen wir uns als NABU mal ganz intensiv mit beschäftigen. Denn es geht ja nicht darum, fossile Energien allein durch erneuerbare zu ersetzen. Das ist ja kein Ziel. Sondern wir müssen ganz erheblich in die Reduktion des Stromverbrauchs kommen und wir müssen auch sehen, dass wir das mit dem Wärmemarkt koppeln. Es macht ja keinen Sinn, nur erneuerbaren Strom zu erzeugen, sondern auch der Wärmemarkt muss sich ja verändern, um Klimaschutzziele zu erreichen, und das steht im Mittelpunkt. Und natürlich das Thema Verkehr. Dort haben wir noch gar keine Ziele erreicht. Von daher ist das noch eine Riesenherausforderung. Ich will auch noch das Thema Repowering ansprechen. Wir haben noch sehr viele Altanlagen. Die sind schon 10, 15 Jahre im Betrieb und die müssen auch verändert werden und erneuert werden. Wir müssen sehen, dass wir möglichst flächensparend arbeiten. Auch hier sehe ich eine Riesenherausforderung. Das bedeutet, dass man das Erneuerbare-Energien-Gesetz nach der Bundestagswahl mit Sicherheit noch mal verändert und neu anpasst. Die Dichtezentren von Rotmilanen beachten Ehring: Windräder werden von Kritikern oft als Vogelschredder oder als Fledermauskiller bezeichnet. Da gibt es drastische Formulierungen und auch immer an einzelnen Standorten Ergebnisse, dass zum Beispiel der rote Milan gefährdet wird. Finden Sie das nicht so schlimm? Tschimpke: Natürlich ist das so. Es gibt ja dazu jede Menge Untersuchungen und das hängt wieder damit zusammen, dass man tatsächlich die Dichtezentren von Rotmilanen – das ist eine Verantwortungsart, wo Deutschland wirklich internationale Verantwortung hat – ausnehmen muss. Das kann man aber durch kluge Planung auch hinbekommen und dann muss man sich die Räume aussuchen, wo tatsächlich auch die Konflikte minimiert sind. Deswegen hat ja auch die Bundesregierung jetzt dieses Kompetenzzentrum erneuerbare Energien und Naturschutz eingerichtet, wo man tatsächlich auch Best-Practice-Beispiele, vorbildliche Beispiele auch zeigt. "Natürlich ist die Windenergie sehr, sehr umstritten" Ehring: Wie sieht es denn innerhalb des Naturschutzbundes aus? Ist die Windenergie da auch umstritten? Sie haben ja viele Mitglieder mit unterschiedlichen Interessen auch. Tschimpke: Natürlich ist die Windenergie sehr, sehr umstritten und natürlich leiden auch viele unserer Mitglieder darunter, dass tatsächlich jetzt auch immer mehr Gebiete unter Druck geraten und auch durch Windanlagen überbaut werden sollen. Das war ja genau der Grund, warum wir jetzt dieses neue Positionspapier herausgegeben haben, wo wir auch mal unsere Anforderungen an den Windenergie-Ausbau und an den Naturschutz formuliert haben. Und wir werden uns in diesem Jahr auch noch mal mit einer Studie damit beschäftigen, dass wir tatsächlich auf Flächenreduktion hinauskommen, dass wir nicht so viel Fläche verbrauchen. Wir sind erst am Anfang. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Olaf Tschimpke im Gespräch mit Georg Ehring
Natürlich sei Windenergie sehr umstritten, aber er kenne kein Szenario, was ohne den Ausbau der Windkraft zustande komme, sagte der Umweltschützer Olaf Tschimpke im DLF. Bei der Verwirklichung der Klimaschutzziele gehe aber auch um die Reduktion des Stromverbrauchs, die Koppelung mit dem Wärmemarkt und um das Thema Verkehr.
"2017-03-24T11:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:20:29.279000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaschutzziele-erreichen-fossile-energien-nicht-einfach-100.html
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"Ich möchte nicht in der Haut von Markus Söder stecken"
Horst Seehofer mit Markus Söder im Gespräch (imago / Sven Simon) Sarah Zerback: Wenn man nicht alles selber macht – das mag auch dem CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten das eine oder andere Mal durch den Kopf gegangen sein in den vergangenen Wochen, als er sich nicht so richtig festlegen wollte, wie er sich seine politische Zukunft vorstellt und wer ihm folgen könnte. Am Telefon begrüße ich jetzt Sigmund Gottlieb. Er war lange Jahre Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, ist im März in Rente gegangen, bleibt aber ein exzellenter Kenner der bayerischen Innenpolitik und auch des Innenlebens der CSU. Guten Morgen, Herr Gottlieb. Sigmund Gottlieb: Guten Morgen, Frau Zerback. Hallo! Zerback: Gestern Abend, da meinte Horst Seehofer, noch einmal schlafen, dann äußert er sich endlich. Das hat er zu Journalisten gesagt. Konnten Sie denn überhaupt schlafen vor Aufregung? Gottlieb: Ja, sehr gut und sehr ruhig. Ich habe mir die letzten Nachrichtensendungen noch kurz vor Mitternacht angeguckt, aber da ist natürlich auch viel inszenierte Aufregung vieler Journalisten dabei. Heute kommt jetzt in der Tat, was Sie beschrieben haben, die Stunde der Wahrheit, der ersten Wahrheit. Um 8:30 Uhr wird nämlich das Machtzentrum der CSU informiert werden, sozusagen die Landtagsabgeordneten, für die es ja um sehr viel geht, und da bin ich sehr gespannt, was Seehofer dann präsentieren wird. Denn es war ja gestern Abend auch nicht richtig klar, wie er formuliert hat und was er formuliert hat. "Seehofers politische Biographie ist durch nichts zu toppen" Zerback: Was er da von sich selbst gesagt hat ist, dass er sich nicht an seine Ämter klammert. Hat Sie diese Aussage von Horst Seehofer überrascht? Gottlieb: Die hat mich nicht überrascht. Man muss ja eines sagen: Er wird im nächsten Jahr 69 Jahre alt. Er hat eine politische Biographie hinter sich, die durch nichts mehr zu toppen ist. Natürlich fällt es jedem Spitzenpolitiker nicht leicht, loszulassen. Aber ich glaube, dass er sich mit dem Gedanken, einen Teil seiner politischen Verantwortung abzugeben, längst vertraut gemacht hat, und für ihn ist es jetzt entscheidend, was wird das sein. Wird es das Amt des Ministerpräsidenten sein? Wird es das Amt des CSU-Vorsitzenden sein? Ich glaube, er wird in der Tat, was ja gestern Abend auch schon durchgesickert ist, das Angebot machen, dass er nicht mehr als Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten bei der Landtagswahl im nächsten Jahr antreten wird. Das, glaube ich, wird heute so kommen. Sigmund Gottlieb (imago stock&people) Zerback: Den Rücktritt hatte er ja sogar schon mal vor zwei Jahren angekündigt und dann kam im April der Rücktritt vom Rücktritt, und durchaus konnte man in den vergangenen Wochen den Eindruck bekommen, der Mann will bleiben. Sie sagen jetzt aber, er klammert sich nicht an die Macht. Warum hat er das dann gemacht? Wollte er einfach Markus Söder verhindern? Ist es das? Gottlieb: Das muss man so sagen. Das ist eines seiner dominierenden Motive, wenn er es kann, zu verhindern, dass Markus Söder seine Nachfolge antritt, egal nun in welchem Amt. Das hat er in den letzten Jahren immer wieder versucht und das versucht er bis zum heutigen Tag. Ob ihm das gelingt, ist eher fraglich. Markus Söder hat eine sehr starke Machtposition über viele Jahre hinweg in der Partei aufgebaut. Er verfügt über ein ganz dichtes Netzwerk an Beziehungen und vor allem in der entscheidenden Landtagsfraktion, die heute Morgen ja tagt und die sich ein erstes Meinungsbild machen möchte auch durch eine geheime Abstimmung. Dort hat er ganz starke Bataillone. Aber wie gesagt, das ist das Hauptmotiv von Horst Seehofer, nach Möglichkeit Markus Söder als Nachfolger zu verhindern. "Kann mich nicht erinnern, dass die Lager so zerstritten waren" Zerback: Da kann man ja von außen betrachtet tatsächlich den Eindruck bekommen, dieser Konflikt, der ist ziemlich dramatisch zwischen den beiden. Wie gespalten ist denn Ihrer Meinung nach die CSU da wirklich? Gottlieb: Na ja, sie ist schon sehr gespalten. Ich erinnere mich an keine Zeit in der Geschichte dieser Partei, wo die Lager so gespalten und zerstritten waren. Für mich ist es das historische Tief der CSU. Und man muss ja auch in die Zukunft schauen. Schauen Sie, im nächsten Herbst sind Landtagswahlen und ich glaube nicht, dass es möglich ist, diesen Tiefpunkt, den man jetzt hat, noch wirklich erkennbar zu überwinden und zu neuen Höhen sich aufzuschwingen in der CSU, egal mit welchen Kandidaten, egal in welcher Kombination. Wir müssen eines sehen: Die Zeiten der absoluten Mehrheiten, die sind vorbei. Die CSU war ja die letzte Partei, die eine solche absolute Mehrheit auf sich vereinigen konnte, und die CSU hat drei Partner, die aus dem gleichen Fleisch ja mehr oder weniger sind in Bayern. Das ist einmal die FDP, das ist die AfD und das sind die Freien Wähler. Ohne einen Koalitionspartner oder möglicherweise sogar zwei im Herbst nächsten Jahres wird die CSU nicht mehr regieren können. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Zerback: Die aktuellen Umfragen geben Ihnen recht. 37 Prozent, das ist der aktuelle Stand. Gottlieb: Ja. Der AfD Stimmen abnehmen wird die Kernaufgabe sein Zerback: Sie haben die AfD gerade erwähnt. Ausgerechnet in Bayern konnte die Alternative für Deutschland ja im Westen am meisten Stimmen holen. Muss man vielleicht auch das in diesem großen Zusammenhang sehen, dass Horst Seehofer jetzt sagt, okay, Parteichef bleibe ich, aber Ministerpräsident in Bayern, das könnte eventuell Markus Söder werden, um sich dann auch darum zu kümmern, dass der AfD wieder ein paar Stimmen abgenommen werden? Gottlieb: Ja gut, das ist sozusagen die positive Interpretation. Das sehe ich genauso. Das wird die Kernaufgabe der CSU in diesem Wahlkampf sein. Denn die AfD war ja lange Zeit in Bayern gar nicht so stark. Da ist es ja der CSU lange gelungen, sie einigermaßen im Zaum zu halten. Das ist bei der Bundestagswahl völlig aus dem Ruder gelaufen. Die AfD ist in Bayern sehr stark geworden und das wird die Hauptaufgabe jetzt sein. Das andere ist natürlich: Ich möchte nicht in der Haut von Markus Söder stecken, wenn er denn tatsächlich jetzt Anfang des Jahres antreten würde als Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Ich meine, stellen Sie sich vor: Er wird dann im Herbst mit einem Ergebnis abschneiden, das kann man jetzt schon prognostizieren, das wird maximal um die 40 Prozent liegen, möglicherweise darunter. Er wird dann Koalitionspartner suchen müssen. Ein guter Start für einen Nachfolger von Horst Seehofer sieht völlig anders aus. Zerback: Apropos! Wenn es denn zu diesem Szenario kommt, Horst Seehofer gemeinsam in einer Doppelspitze mit Markus Söder, dem Erzfeind – man muss es so deutlich sagen, man kann es, glaube ich, so deutlich sagen -, wie sollen die beiden denn harmonisch und zweckgerichtet zusammenarbeiten? Gottlieb: Gar nicht! Zusammenarbeit Söder/Seehofer funktioniert nicht Zerback: Gar nicht? Gottlieb: Gar nicht! Das funktioniert nicht. Das ist von Anfang an eine Konstruktion, die nicht funktionieren kann. Da zweifelt keiner in der Partei daran. Insofern ist das jetzt auch, was man hier so als eine Einigung oder als den Versuch einer Harmonisierung dieses Streites darstellt, völlig daneben, auch zum Teil in der Beurteilung vieler Journalisten. Die Konflikte brechen erst auf. Wenn man sich das vorstellt in der Geschichte der CSU. Ich meine, Stoiber-Waigel hat nicht geklappt, und die haben beide die Ämter neu übernommen. Hier sind es ja Ämter, die sozusagen entweder im CSU-Vorsitz bleiben, oder im Ministerpräsidentenamt dann von Söder übernommen werden in der Strecke. Bei den beiden hat es nicht funktioniert. Bei Strauß und Goppel hat es nicht funktioniert. Bei Huber und Beckstein hat es nicht funktioniert. Das waren jetzt aber nicht spinnefeinde Leute. Die konnten einigermaßen wenigstens noch miteinander. Aber hier ist ja das Terrain schon am Anfang völlig vermint und insofern ist das, wie immer es jetzt nun ausgeht, eine Konstruktion. Wenn beide in Machtpositionen jetzt sind, Seehofer, sagen wir mal, als CSU-Vorsitzender auf Zeit und Söder als Ministerpräsident, das sind Machtpositionen, die nicht miteinander funktionieren können. Zerback: Und mit der sich die CSU dann auch keinen Gefallen tun würde? Gottlieb: Keinen Gefallen, wenngleich man sagen muss, die Alternativen, die sind natürlich extrem schwierig. Wir wissen ja, Joachim Herrmann, der Innenminister, wäre der Wunschkandidat von Horst Seehofer. Ob der heute Morgen antritt gegen Markus Söder, wird man sehen. Die einen sagen ja, er tut es; die anderen sagen mir nein, er tut es nicht, weil er eigentlich auch kein Mensch ist, der den Konflikt möchte. Ich würde jetzt dazu neigen zu sagen, ja, er wird es versuchen, und dann möglicherweise nach einer Vorfestlegung heute in der Fraktion, wo es dann zwei Ergebnisse gibt – ich prognostiziere Söder ein stärkeres, Herrmann ein schwächeres -, werden sie dann auf dem Parteitag am 15. Und 16. Dezember im Grunde die Entscheidung herbeiführen müssen. Da sehen dann bei den tausend Delegierten natürlich die Mehrheitsverhältnisse zwischen Söder und Herrmann wieder etwas anders aus. Also eine ganz, ganz spannende Phase im Augenblick, Shakespeare im Zwergenformat. Zerback: Danke für Ihre Einschätzungen. – Sigmund Gottlieb war das, langjähriger Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks. Schönen Tag Ihnen noch. Gottlieb: Danke schön! Auf Wiedersehen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sigmund Gottlieb im Gespräch mit Sarah Zerback
Sehr gespalten und vor einer schwierigen Zukunft - so sieht der ehemalige Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Sigmund Gottlieb, den Zustand der CSU. Vor allem sei die Lage für Markus Söder kompliziert als möglicher neuer Ministerpräsident: "Ein guter Start für einen Nachfolger von Horst Seehofer sieht völlig anders aus", sagte Gottlieb im Dlf.
"2017-12-04T08:10:00+01:00"
"2020-01-28T11:03:32.052000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/personalentscheidungen-bei-der-csu-ich-moechte-nicht-in-der-100.html
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Politiker fordern mehr Zivilcourage gegen Rechts
Rechtsradikale bei einem Aufmarsch der NPD (dpa / picture alliance / Ingo Wagner) Bundesaußenminister Steinmeier spricht von "geistiger Brandstiftung" und fordert die Bürger auf, sich solchem Verhalten "mit aller Vehemenz" entgegenzustellen. Im Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe nahm er dabei ausdrücklich Bezug auf Hassbotschaften im Internet. Entschlossen dagegen vorzugehen, sei eine wichtige Antwort auf die Gefahr von rechts. Für den Anstieg fremdenfeindlicher Gewalt in Deutschland macht der Außenminister auch die Parteien des rechten Spektrums verantwortlich. Dies mache deutlich, wie gefährlich es sei, "mit dem Flüchtlingsthema auf Stimmenfang zu gehen." Justizminister "Solche Demonstrationen muss man tolerieren" Justizminister Heiko Maas, SPD, findet es "hässlich", was bei Pegida-Kundgebungen zum Ausdruck kommt. Dennoch müsse man solche Demonstrationen tolerieren, meint er. Zur Begründung verweist Maas im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst auf das Demonstrationsrecht und betont, diese kollektive Ausformung der Meinungsfreiheit gehe sehr weit. Die Grenzen seien allerdings erreicht, sobald die der Strafbarkeit überschritten würden - etwa durch Äußerungen, Plakate oder Symbole. Wegen der Vergehen Einzelner gleich die gesamte Demonstration zu verbieten, gehe allerdings zu weit, so Mass und unterstreicht: " Der Hass der Menschen wäre immer noch da." "Ich bin aber dafür, dass man das bestehende Strafmaß vollständig ausnutzt." Auch der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Ressortchef Roger Lewentz, sieht rechte Strömungen auf diese Weise gestärkt. Er könne sich zwar nicht vorstellen, dass 15.000 oder 20.000 Menschen, die auf eine Pegida-Demonstration gehen, per se alle rechtsextrem sind", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Dennoch müssen diese Menschen alle wissen, wen sie dort durch Anwesenheit unterstützen und im Zweifelsfall auch potenziell stark machen, nämlich Rechtsextreme", betont der SPD-Politiker. Von einer Verschärfung der Strafen hält er dennoch nichts: "Ich bin aber dafür, dass man das bestehende Strafmaß vollständig ausnutzt." Darüber hinaus brauche man ein gesellschaftliches Klima, in dem man "nicht wegguckt", unterstreicht Lewentz. Oder, wie es sein Parteikollege Maas formuliert: "Gegenrede kann in der Kneipe, auf dem Fußballplatz oder am Arbeitsplatz stattfinden. Wir alle müssen öfter mal den Mund aufmachen und Haltung zeigen, als es in unserer Wohlstandsgesellschaft heute manchmal der Fall ist." Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, erkennt eine zunehmende Diskriminierung von Muslimen. Er sagte dem Onlineportal der "Taz": "Es ist salonfähiger geworden, sich offen rassistisch zu äußern." Mazyek forderte, analog zu den bereits geltenden Sanktionen bei antisemitischen Äußerungen, auch islamfeindliche Straftaten gesondert zu erfassen. Hierüber sei man bereits mit den Behörden im Gespräch. (kb/tk)
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Es sind deutliche Worte gegen Rechts: Außenminister Frank-Walter Steinmeier macht rechte Parteien für Übergriffe auf Asylbewerber mitverantwortlich und warnt vor "geistiger Brandstiftung". Roger Lewentz, Vorsitzende der Innenministerkonferenz, ruft Pegida-Demonstranten auf, sich bewusst zu machen, dass sie mit ihren Aktionen Rechtsextreme unterstützten. Auch Justizminister Heiko Maas fordert entschlossenes Vorgehen.
"2015-12-26T10:38:00+01:00"
"2020-01-30T13:16:00.520000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fremdenfeindlichkeit-politiker-fordern-mehr-zivilcourage-100.html
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"Trump hat überhaupt nichts gewonnen"
Sieht sich durch den Mueller-Bericht entlastet: US-Präsident Donald Trump (dpa/picture alliance/ZUMA Wire) Stephanie Rohde: Zwei Jahre hatte Sonderermittler Robert Mueller Zeit, die wohl zwei drängendsten Fragen der amerikanischen Politik zu klären, nämlich: Hat Donald Trumps Wahlkampfteam geheime Absprachen mit Russland getroffen, um die Wahl zu beeinflussen, und hat Präsident Trump die Justiz behindert. Ende März dann fasste der Justizminister William Barr, der Trump nahesteht, die Ergebnisse so zusammen: keine Justizbehinderung, keine geheimen Absprachen mit Russland. Nun wurde der Bericht veröffentlicht, und er zeichnet ein differenzierteres Bild. Sonderermittler Mueller spricht Trump explizit nicht von dem Vorwurf der Justizbehinderung frei. So wollte Trump die Untersuchung gegen ihn stoppen, das scheiterte allerdings an seinen Mitarbeitern. Außerdem zählt Mueller zahlreiche verdächtige Kontakte zwischen Trumps Team und von Vertretern Russlands auf, liefert aber keine Beweise für konspirative Straftaten. Trump behauptet, er habe gewonnen. Erste Demokraten hingegen fordern ein Amtsenthebungsverfahren. Darüber kann ich nun sprechen mit Stefan Prystawik, der lange Jahre Mitglied der Republikaner war, ehemaliger Pressesprecher von John McCain unter anderem. Guten Morgen! Stefan Prystawik: Guten Morgen! Rohde: Hat Trump die Mueller-Ermittlungen gewonnen, wie er sagt? Prystawik: Keineswegs. Das muss man an dieser Stelle feststellen, und das sagen ja auch alle Analysten unisono, die sich mit dem Mueller-Report juristisch beschäftigt haben. Er hat ganz deutlich im Grunde überhaupt nichts gewonnen, es ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen für ihn. "Hier ist aber inhaltlich ganz klar, dass das zu einem juristischen Patt im Moment führt" Rohde: Was heißt das, was meinen Sie damit? Prystawik: Das heißt, er gibt vor, wie immer, in großem Stile gewonnen zu haben, aber Tatsache ist, dass es darum ging, dass er also massiv da Obstruktionen geleistet hat. Er hat den Nachweis verhindert, dass viele Dinge überhaupt rausgekommen sind. Er hat zum Beispiel sich ja einem persönlichen Interview mit dem FBI entzogen und hat nur schriftlich Fragen beantwortet. Das hat sich im Nachhinein natürlich zu seinen Gunsten ausgewirkt, weil, wie wir ihn ja kennen, er sich um Kopf und Kragen geredet hätte. Hier ist aber inhaltlich ganz klar, dass das zu einem juristischen Patt im Moment führt. Man kann nichts gegen ihn unternehmen, jedenfalls nicht wegen Straftaten, aber die Frage ist ja die – und das sagen auch führende Verfassungsjuristen in den USA –, ist das genug, ist es genug, einen Präsidenten zu haben, der nur – in Anführungszeichen – keine Straftat begangen hat. Er ist letzten Endes ja der oberste Hüter der Verfassung und vor allen Dingen des Rechtsstaates. Der Mueller-Bericht ist bislang nur mit teilweise geschwärzten Textstellen veröffentlicht geworden. (dpa-bildfunk / AP / Jon Elswick) "Amtsenthebung oder nicht, man muss ein bisschen auf den Zeitstrahl gucken" Rohde: Also wenn ich Sie richtig verstehe, Sie sagen, es gibt da keine illegalen Aktivitäten, also die man juristisch angehen könnte, aber man könnte Trump politisch einen Strick daraus drehen. Sollte man das tun? Prystawik: Das ist die große Debatte, die im Moment insbesondere bei den Demokraten ausgebrochen ist. Die Frage ist natürlich eine strategische. Impeachment oder keins, Amtsenthebung oder nicht, man muss ein bisschen auf den Zeitstrahl gucken: Es sind 18 Monate bis zur nächsten Wahl. In der Zeit ist natürlich ein komplettes Amtsenthebungsverfahren schwierig durchzusetzen, zumal wenn keinerlei Unterstützung von den Republikanern kommen sollte – ich sage extra vorsichtig sollte –, das sei ja noch dahingestellt. Rohde: Sie haben ja noch Kontakte zu den Republikanern. Gibt es einige, die das auch unterstützen würden, ein Amtsenthebungsverfahren? Prystawik: Ja, es gibt welche. Es gibt also erste Stimmen in Washington, die also zumindest mal im privaten Gespräch sagen, dass sie da durchaus für wären, auch aus ganz grundsätzlichen Erwägungen. Wie ich eben schon sagte, es ist eine Frage, ob man davon ausgehen kann, dass es genügt, dass ein Präsident einfach nur nicht gegen das Recht verstößt formal. Er hat ja Treuhänderaufgaben. Er ist dem Staat gegenüber verpflichtet, und da sagen Juristen, aus dieser Situation heraus, also nicht nur politisch, sondern auch juristisch, müsste man diesen Treuhänder ablösen. Rohde: Und warum sind die Republikaner da so feige und sagen das nicht? Prystawik: Das ist die große Frage. Das werden natürlich sehr viele Partikularinteressen sein, wie bei Trump selber auch, dass man an seinem Sitz klebt, um es mal plakativ auszudrücken. Die andere Seite, die wir hier aber sehen, ist natürlich die, dass wenn man ihn im Amt beließe und sagt, wir wollen ihn politisch besiegen, und das ist uns womöglich auch gegeben in anderthalb Jahren, dass man einen ganz schlechten Präzedenzfall setzen würde. Wenn man also – in Anführungszeichen – hinnähme, dass ein solches Vorgehen oder ein solches Benehmen einfach auch eines US-Präsidenten Standard würde, dann ist die Frage, wie viel schlechter kann es noch werden in Zukunft. "Es gibt eine Chance, sowohl politisch als auch juristisch zu handeln." Rohde: Sie sagen schlechter Präzedenzfall. Man kann auch anders argumentieren, so wie das die Republikaner teilweise tun und sagen, die Demokraten laufen Gefahr, dass sie sich verkämpfen und dass das ein ewiger Streit wird und es keine andere Politik mehr gibt, dass man sich um nichts anderes mehr in diesem Land kümmern kann. Da stimmen Sie nicht zu? Prystawik: Da stimme ich eigentlich nicht zu. Die Gefahr, sagen wir mal, da müssen die Demokraten ein Auge drauf haben, gar keine Frage, aber letzten Endes ist es so, dass der Mueller-Report ja auch relativ – in Anführungszeichen – zügig rauskam. Also Mueller hat diese Ermittlung schnell beendet unter den gegebenen Voraussetzungen, um eben den Ball wieder ins Politische zu spielen, und das, denke ich, ist auch richtig. Wenn wir uns überlegen, wie lange sich diese Clinton-Impeachment-Sachen damals hingezogen haben bei gleichzeitiger Untersuchung und so weiter, und es ist nichts bei rausgekommen, ich denke, das läuft hier – da hat man aus der Geschichte gelernt –, das läuft hier strukturierter. Insofern ergäbe sich eine Chance, sowohl politisch als auch juristisch zu handeln. Rohde: Hat diese Untersuchung von Mueller eigentlich in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, dass die demokratischen Institutionen in den USA noch funktionieren und der Präsident tatsächlich unter Kontrolle ist? Prystawik: Ich denke ja, ich denke schon. Das würde sich auch deutlicher noch zeigen, wenn, wie ich eben schon sagte, hier jetzt auch die – ich meine, der Report ist fast 500 Seiten –, wenn der Inhalt auch genutzt würde, also juristisch vernünftig genutzt würde und nicht nur jetzt so Scheindebatten geführt, können wir den ganzen Bericht sehen, ist das juristisch möglich oder nicht. Also hier sollte man schnell vorankommen. Das sind Dinge, die im Hintergrund geklärt werden können, und da gibt es pro und contra, was also kurzfristig offengelegt werden kann. Die Rolle des Justizministers ist ja zudem eine umstrittene, der, wie viele Juristen sagen, sich ja eher aufführt wie ein Strafverteidiger, nicht wie ein Anwalt des Staates. Also insgesamt eine problematische Situation, die Handeln erfordert. US-Justizminister William Barr könnte durch den Mueller-Report unter Druck geraten, glaubt der Ex-Republikaner Stefan Prystawik (picture alliance / Patrick Semansky) Prystawik: Mueller-Report bringt US-Justizminister "unter großen Druck" Rohde: Glauben Sie, dass der Justizminister Barr zurücktreten sollte, nachdem er den Mueller-Report so positiv interpretiert für Trump? Prystawik: Ich denke, es bringt ihn zumindest unter großen Druck. Also er müsste wohl in den nächsten Wochen, besonders dann, wenn es Vorladungen gibt in dem Kongress, mal ganz klar sagen, wie er seine Rolle definiert beziehungsweise, wie er rechtfertigt, was er bis jetzt gemacht hat. Also das haben wir so in der Form aus dem Justiz-Department noch nicht gesehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Prystawik im Gespräch mit Stephanie Rohde
Der Ex-Republikaner Stefan Prystawik sieht US-Präsidenten Donald Trump nach der Veröffentlichung des Mueller-Reports nicht als Sieger. Trump habe die Ermittlungen keineswegs unbeschadet überstanden, sagte er im Dlf. Ein Amtsenthebungsverfahren bis zur nächsten Wahl werde dennoch schwierig.
"2019-04-20T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T22:48:14.865000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mueller-report-trump-hat-ueberhaupt-nichts-gewonnen-100.html
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Langen Schatten der Vergangenheit
Alexandra Narkiewitsch hat dezent Lippenstift aufgetragen und sich elegant angezogen. Sie will seriös wirken, wenn sie davon berichtet, wie ihr Leben begann. Die kleine Dame deutet auf einen grün gestrichenen Viehwaggon im Hof,"In so einem Eisenbahn-Waggon sind wir tagelang in ein Arbeitslager in Lettland transportiert worden, hat mir meine Mutter erzählt. Ich war noch ein Säugling. Meine Mutter hat mich in Nowgorod geboren, in der Nähe von Leningrad, als sie gerade für SS-Männer kochte, direkt am Ofen kam ich zur Welt. Die Männer haben gelacht, als sie eigenhändig die Nabelschnur trennte. Bevor sie uns zum Bahnhof trieben, haben sie unser Haus niedergebrannt. "Eigene Erinnerungen an diese Zeit hat Aleksandra Narkiewitsch nicht. Trotzdem beschäftigt sie sich jeden Tag mit der Vergangenheit: Sie pflegt andere, ältere Opfer der deutschen Besatzer, die schon bettlägerig sind und hört sich ihre Schicksale an. Die Frau wirft noch einen Blick auf den Viehwaggon, dann geht sie nach oben. In einem Zimmer des Hauses, das der weißrussischen Stiftung "Erinnerung und Versöhnung" gehört, haben sich weitere Rentner versammelt. Jeder von ihnen kann eine schreckliche Lebensgeschichte erzählen, so auch Nina Lytsch. Sie war als Kind in mehreren Konzentrationslagern, darunter in Auschwitz. Ihre Mutter hat sie zuletzt dort an der Bahnrampe gesehen, kurz nach der Ankunft."Banditen-Kinder stand über unserer Baracke, weil unsere Eltern doch angeblich den Partisanen geholfen hatten. Wir dienten dazu, Blut zu spenden für verwundete Soldaten. Bei manchen, die auch dort waren, sieht man bis heute viele rote Punkte in der Armbeuge, wo die Einstiche waren. Allerdings war das auch Glück: Wir haben besseres Essen bekommen als andere Gefangene, ab und zu sogar ein Stück Margarine. Ich weiß noch, dass wir immer um die Baracke rennen mussten, damit sich das Blut schneller nachbildet."Nina Lytsch fröstelt, als sie erzählt – nicht nur wegen der Erinnerungen. Es ist kalt im Raum, denn die Stiftung "Erinnerung und Versöhnung" muss sparen. Sie zahlte in den 1990er-Jahren die deutsche Entschädigung für Zwangsarbeiter aus, aber das Geld ist längst verbraucht. Auch die Opfer selbst leben arm. Nina Lytsch erzählt, dass sie von ihren umgerechnet 200 Euro Rente ein Drittel für Arzneimittel ausgeben muss, fast ebenso viel kostet der Unterhalt ihrer Wohnung.Deshalb traten Opferverbände aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen an die Deutsche Bahn heran. Sie feiert in diesem Jahr das 175. Jubiläum der Eisenbahn in Deutschland. Damit bekennt sie sich zur Geschichte auch der Reichsbahn, die während des Zweiten Weltkrieges Millionen Gefangene transportierte. Dafür wurde sie von der SS bezahlt. Doch lange reagierte die Deutsche Bahn gar nicht auf die Opferverbände, erst vor kurzem machte sie den Organisationen Angebote – die sich aber in der Höhe der Auszahlungssumme deutlich unterschieden. Vor allem in Russland, Weißrussland und der Ukraine stießen die Vorschläge auf Empörung. Nina Lytsch:"Wenn man die angebotene Summe für Weißrussland auf die Zahl der heute noch Lebenden umrechnet, kommen fünf Euro pro Person heraus. Das ist doch absurd. Blinde Rentner können sich keine Krankenschwester leisten, Lahme keinen Rollstuhl. Und da kommt die Deutsche Bahn mit fünf peinlichen Euro. Das ist nicht gerecht."Die ehemaligen Zwangsarbeiter-Kinder fühlen sich erniedrigt durch das Angebot. Sie baten in einem Brief an die Bahn, dass die Manager noch einmal nachdenken. Natürlich würden sie auch die fünf Euro nehmen, sagen sie, besser als gar nichts. Denn einen Rechtsanspruch haben die Opfer nicht. Darauf hätten die Bahn und die Bundesregierung immer wieder verwiesen, sagt Hans-Rüdiger Minow, dessen Verein "Zug der Erinnerung" die Forderung der Zwangsarbeiter in Deutschland unterstützt."Der Bundesfinanzminister hat geantwortet, dass alles getan worden ist seit 1949, seit Gründung der Bundesrepublik, dass nichts mehr zu tun bleibt und weitere Zahlungen keine Grundlage haben. Das ist eine Haltung, die man vielleicht als Schatzmeister eines Staates nachvollziehen kann, die aber die moralische Dimension überhaupt nicht treffen."Bahn und Regierung halten die fünf Euro für die weißrussischen Zwangsarbeiter also schon für ein Zugeständnis. Kein Wunder, dass Alexandra Narkiewitsch, Nina Lytsch und die vielen anderen heute mit gemischten Gefühlen auf die Feier in Nürnberg schauen.
Von Florian Kellermann
Die Deutsche Bahn feiert in diesem Jahr das 175. Jubiläum. Damit bekennt sie sich auch zur Geschichte der Reichsbahn, die während des Zweiten Weltkrieges Millionen Gefangene transportierte. Lange reagierte die Deutsche Bahn gar nicht auf die Opferverbände, die auch in Russland, Weißrussland und der Ukraine zu finden sind.
"2010-12-07T09:10:00+01:00"
"2020-02-03T17:37:59.356000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/langen-schatten-der-vergangenheit-100.html
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Durchbruch in greifbarer Nähe?
Das HI-Virus in einer Darstellung (imago stock&people) Dr. Anthony Fauci ist einer der bekanntesten Aids-Forscher weltweit. Schon in den 80er- Jahren war der New Yorker einer der ersten, der sich intensiv mit Aids befasste. Als Direktor des Nationalen Instituts für Allergie- und Infektionskrankheiten an der US-Gesundheitsbehörde "National Institute of Health" beriet Fauci vor 20 Jahren den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Im ARD-Interview erinnert sich Fauci, dass bereits seit 1986 nach einem Impfstoff geforscht wurde - ohne Erfolg. Weshalb ihn Bill Clinton in das Weiße Haus bestellte: "Der Präsident fragte mich damals: Was ist nötig, um die Impfstoff-Forschung voranzubringen? Ich sagte: Wir brauchen ein Impfstoff-Forschungszentrum, ein Gebäude, in dem Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen auf engem Raum zusammenarbeiten." Bill Clinton bewilligte die nötigen Mittel. Am 18. Mai 1997, heute vor genau 20 Jahren, fiel der Startschuss für das neue Forschungszentrum auf dem Gelände der US-Gesundheitsbehörde in Bethesda bei Washington. Der US-Präsident war damals voller Zuversicht: "Heute verpflichten wir uns dazu, einen Impfstoff gegen Aids innerhalb der nächsten zehn Jahre zu entwickeln. Wenn das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Biologie ist, dann sollte ein Aids-Impfstoff sein erster großer Triumph werden." Wirksamkeit liegt bisher bei rund 30 Prozent Dass die Suche nach einem Aids-Impfstoff wesentlich länger als zehn Jahre dauern sollte, war für Anthony Fauci schon damals klar. Denn das HI-Virus verhält sich völlig anders als die Viren bei Masern, Pocken oder Kinderlähmung. Während normalerweise die Impfung mit einer kleinen Menge an Viren ausreicht, um für viele Jahre die schützenden Anti-Körper zu entwickeln, ist das HI-Virus viel schwieriger zu bekämpfen: "Wenn das HI-Virus in den Körper gelangt, dann vermehrt es sich in den Genen, in der DNA der Zellkerne. Das macht es sehr schwer, das Virus wieder loszuwerden, wenn es erst einmal drinnen ist." Eine Impfung mit einer kleinen Menge von HI-Viren ist deshalb nicht möglich, betont Dr. Fauci im ARD-Interview. Stattdessen nehmen die Testpersonen nur einen Teil des Virus ein, der sich nicht vermehren und somit nicht im Körper ausbreiten kann. Nach einem großangelegten Test in Thailand gab es vor acht Jahren einen ersten Durchbruch. Doch der in Thailand entwickelte Impfstoff hatte nur eine Wirksamkeit von 30 Prozent. Ein verbesserter Impfstoff wird seit Ende des vergangenen Jahres in Südafrika getestet. Testpersonen sind 5.400 nicht-infizierte Männer und Frauen aus Risikogruppen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren. Mit Ergebnissen rechnet Anthony Fauci in drei Jahren: "Wenn wir einen Impfstoff bekommen, der besser ist als der nach unserem Thailand-Versuch, dann wird er trotzdem nicht zu 95 Prozent wirksam sein. Bestenfalls können wir auf eine Wirksamkeit von 50 bis 60 Prozent hoffen." Doch auch dies wäre ein wichtiger Fortschritt. Ein solcher Impfstoff - kombiniert mit präventivem Schutz wie Kondomen oder Beschneidung sowie vorbeugenden Medikamenten - wäre aus Sicht von Fauci ein guter Schutz. Ist der Impfstoff in fünf oder zehn Jahren weltweit einsatzbereit? Fauci will keine Jahreszahl nennen, sieht den Durchbruch jedoch in greifbarer Nähe. In Ländern, in denen Aids noch immer eine Pandemie ist, könnten dann alle Kinder vor der Pubertät gegen Aids geimpft werden. In den USA und Westeuropa hält Fauci dies zumindest bei Risikogruppen für sinnvoll.
Von Martin Ganslmeier
Vor 20 Jahren rief der damalige US-Präsident Bill Clinton Forscher in aller Welt auf, ihre Suche nach einem Impfstoff gegen das HI-Virus zu verstärken. Es verhält sich völlig anders als Viren bei Masern oder Pocken, was die Impfstoffentwicklung erschwert. Die Forschung macht dennoch Forschritte.
"2017-05-18T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:28:19.495000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/welt-aids-impfstoff-tag-durchbruch-in-greifbarer-naehe-100.html
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Zuhause bleiben oder mitfeiern?
Panorama von Brüssel mit Grote Markt (imago stock & people) Ein alljährlicher Höhepunkt des belgischen Nationalfeiertags ist das Feuerwerk vor dem Königsschloss mitten in Brüssel. Ein wahres Kunstwerk der Pyrotechnik, passend zur Musik. So wie hier 2015. Als Brüssel-Korrespondentin habe ich es mir in den vergangenen Jahren selten entgehen lassen. Dieses Jahr habe ich noch nicht entschieden, ob ich mich heute Abend in die Menge stellen will … Was die Terror-Anschläge im März vielleicht nicht geschafft hatten, bewirkt nun die mörderische Attacke von Nizza auf Menschen, die ein Feuerwerk genossen hatten, ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag. Das schreckt ab und deshalb weiß ich noch nicht, ob ich dem Aufruf des Polizeichefs von Brüssel-Ixxelles, Guido Van Wymersch folge, der die Menschen ausdrücklich eingeladen hat, trotz allem massenhaft zu den zahllosen Aktivitäten des Tages und des Abends zu kommen. "Wir müssen beweisen, dass wir normal weiterleben. Aber wenn Sie alle ihre Handtaschen und ihre Rucksäcke zuhause lassen, erleichtern Sie uns die Arbeit. Es wird viele Absperrungen geben und die Besucher werden zu den wenigen Eingängen mit Leibesvisitationen kanalisiert." Selten ist der Belgier belgischer als am Nationalfeiertag In Brüssel wird der 21. Juli begangen mit Gottesdienst, Militär-Parade, Schauflügen der Luftwaffe, zahllosen Konzerten, kulinarischen Meilen, Kunst und Kultur zwischen Königspalast und Justizpalast. Immer lassen sich Mitglieder der königlichen Familie überall sehen. Aber der 21. Juli ist traditionell mehr als nur ein großes Fest in Belgien. Selten ist der Belgier belgischer als am Nationalfeiertag. Außer, wenn die belgische Fußballmannschaft spielt, natürlich. Sonst meist sauber entlang der Sprachgrenzen geteilt, manchmal zerstritten, feiern Wallonen, Flamen, deutschsprachige Belgier diesen Tag in einem Meer von Schwarz, Gelb, Rot: Hüte in den Nationalfarben, Schals, Schirme, T-Shirts, Fähnchen. Man ist am 21. Juli stolz, Belgier zu sein, so wie Manuel. "Je suis fier être belge. Vive la Belgique." Das sagte der belgische Familienvater im vergangenen Jahr, Juli 2015 ins Mikrofon. Schon damals waren die Sicherheitsmaßnahmen, im Umfeld der zahllosen Aktivitäten für Groß und Klein in der Brüsseler Innenstadt, hoch. Alarmstufe zwei von vier; mit Scharfschützen auf manchen Dächern, zahllosen Soldaten und Polizisten im Einsatz. Und da hatte es noch nicht die tödlichen Terroranschläge auf das Nachtleben von Paris im November, die Terrorattacken von Brüssel im März und jetzt in Nizza gegeben. Aber die Brüsseler wollen feiern. Auch jetzt; vielleicht jetzt erst recht. Belgien will sich seinen Feiertag nicht verderben lassen Nur auf wenige Aktivitäten wird heute verzichtet, sagt Carine Verstraeten, eine der Organisatoren der Festivitäten in Brüssel. Der beliebte sogenannte "Death ride", ein Trip am Drahtseil vom Dach des Arbeitsgerichts hinunter auf den Platz vor dem Justizpalast, der musste abgesagt werden, weil er zu viele Polizisten gebunden hätte, die anderswo gebraucht werden. Die Zahl von 1.400 Soldaten in der Hauptstadt ist auf rund 1.800 noch einmal erhöht worden. Die aktuelle Alarmstufe drei von vier bleibt. Bis auf weiteres. Denn, so Justizminister Jambon, es bestünde zwar weiter eine hohe Anschlagsgefahr, aber es liegen keine Erkenntnisse über eine konkrete Bedrohung vor. "Die jüngsten Anschläge richteten sich alle gegen "weiche Ziele". Wir haben die Sicherheitsrisiken für den Feiertag genau analysiert. Die Brüsseler Polizei hat um Verstärkung gebeten und die haben wir ihr zugestanden." Der Anschlag von Nizza hat den Blick auf mögliche Gefahren noch einmal verändert. "Wir haben Übungen zu allen möglichen Szenarien gemacht. Ja, auch ein Anschlag mit einem Auto oder einem Lastwagen, die in eine Menschenmasse rasen, gehört dazu." Tagelang hatten sich alle belgischen Medien ausführlich mit dem Nationalfeiertag befasst – natürlich immer wieder mit Sicherheitsfragen. Aber, wie gesagt, Belgien will sich seinen Feiertag nicht verderben lassen, hatte auch noch mal der belgische Premier Michel betont. "Wir kämpfen für die Sicherheit, aber wir müssen ebenso für die Werte gerade stehen, die uns zusammenbringen und vereinen." Vielleicht sollte auch ich tatsächlich doch, wie all die Jahre zuvor, demonstrativ zum Feuerwerk heute Abend gehen.
Von Annette Riedel
Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen wird am Donnerstagabend in Brüssel das Feuerwerk zum belgischen Nationalfeiertag stattfinden. Trotz Terrorangst wollen viele Belgier feiern. Unsere Brüsseler Korrespondentin Annette Riedel überlegt noch, ob sie hingeht.
"2016-07-21T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:42:23.858000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nationalfeiertag-in-belgien-zuhause-bleiben-oder-mitfeiern-100.html
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'Partei steht hinter Joschka Fischer'
Kuhn: Guten Morgen. Heinlein: Herr Kuhn, was ist der Unterschied zwischen akzeptieren und unterstützen? Kuhn: Wir haben in unserem Antrag eine Formulierung gewählt, die versucht, sehr viele Leute für diesen Antrag mitzunehmen, denn die Delegierten werden ja auch bewegen, wie die Abgeordneten in der Gesamtsituation letzte Woche gehandelt haben. Ich glaube der Antrag entfaltet im Text sehr genau, warum wir "akzeptieren" schreiben. Es war ja eine Gesamtentscheidung zu treffen: durch die Verbindung der inhaltlichen Frage, wie steht man zu der Bereitstellung, deutsche Soldaten für einen Einsatz gegen die Terroristen auf der einen Seite. Mit der Vertrauensfrage für die Koalition war ja auch für diejenigen, die den Einsatz kritisch sehen - solche gibt es bei uns, solche gibt es bei der SPD -, keine einfache Situation entstanden. Heinlein: Aber das ist kein klares Votum für die Truppe, so wie es Fischer und Schröder fordert? Kuhn: Doch, das ist ein klares Votum, denn die Partei sagt in der Summe, es war richtig, wir akzeptieren, was die Fraktion entschieden hat und wie die Minister sich entschieden haben. In dem Antrag, wenn Sie ihn durchlesen, steht ja auch klar, dass wir für den Kampf gegen den Terrorismus sind, auch mit militärischen Mitteln, übrigens aus dem einfachen Grund, weil die Bedrohung, die weiter existiert, angegangen werden muss, weil jede Politik die eigene Bevölkerung vor solchen heimtückischen Anschlägen schützen muss. Deswegen sind wir für ein breites Konzept, für ein breites Vorgehen gegen die Terroristen, das auch eine militärische Komponente haben kann. Ich glaube eigentlich die Ereignisse in Afghanistan zeigen, dass es auch gelungen ist, ein doch sehr terroristisches Regime wie das Taliban-Regime jetzt entscheidend zurückzudrängen. Heinlein: Aber dennoch haben Sie sehr bewusst diese Formulierung gewählt und die Aussage "unterstützen" oder "befürworten" vermieden. Warum denn? Kuhn: Wir haben geschrieben "akzeptieren", weil es genau darum geht. Die Fraktion hat eine Entscheidung getroffen und es geht darum, ob die Partei hinter ihr steht. Ich finde, dass dies mit dem Verb "akzeptieren" deutlich zum Ausdruck kommt. Heinlein: Akzeptiert denn die grüne Partei die Außenpolitik ihres Außenministers oder unterstützt sie Joschka Fischer ohne Wenn und Aber? Kuhn: Sie machen da jetzt eine sehr feinsinnige Unterscheidung auf. Ich glaube, dass die Partei voll hinter Joschka Fischer steht, jedenfalls in der großen Mehrheit. Viele haben ja gesagt, sie sind zwar gegen den Einsatz, aber wollen, dass die Koalition weitergeht, weil sie sich sicherer fühlen in Deutschland, wenn jemand wie Joschka Fischer die Außenpolitik der Bundesregierung verantwortet, und so wird es auch in der Partei gesehen. Heinlein: Warum hat dann Fischer gesagt, er hat das Gefühl, er werde von der Basis hängen gelassen? Kuhn: Es gab ja in den letzten Wochen Kritik in der Basis an dem Einsatz. Das ist klar. Darüber kann man auch nicht hinwegreden. Die Aufgabe in Rostock wird es jetzt sein, die Partei zu einer größeren Geschlossenheit zu bringen, und ich glaube, dass dies mit dem Antrag des Bundesvorstandes gut gelingen kann. Heinlein: Wird denn die Formulierungskunst des Vorstandes ausreichen, um die Pazifisten in Ihrer Partei zu besänftigen und einzubinden in die Gesamtpartei? Kuhn: Wenn Sie unseren Antrag hernehmen und auch das, was die Bundestagsfraktion in der letzten Woche wie ich finde positiv integriert hat, dann sagen wir ja, wir wollen, dass die Kritik, die es bei uns an einem Militäreinsatz gibt, an einem möglichen wie in Afghanistan, sich in unserer Partei auch artikulieren kann, weil die in unserer Partei eine Rolle spielt. Wissen Sie die Vorstellung, dass eine Partei völlig einheitlich bei so entscheidenden Fragen eine Meinung hat und es nicht Mehrheits- und Minderheitsmeinungen gibt, die halte ich für falsch, denn überall in der Bevölkerung wird kontrovers diskutiert. Und wir wollen diejenigen, die das kritisch sehen, bei uns eben auch zu Wort kommen lassen. Auf dieser Ebene und auf diese Art und Weise können die Grünen zusammen gut agieren. Heinlein: Dann machen wir doch einmal eine Rechnung auf. Auf dem SPD-Parteitag gab es 90 Prozent Zustimmung für den Afghanistan-Kurs der Bundesregierung. Mit wie viel Prozent Zustimmung wären Sie denn morgen in Rostock zufrieden? Kuhn: Ich will da nicht in Zahlen spekulieren. Ich glaube, dass die Grünen zusammenstehen, zu einer mehrheitlichen Position kommen, zu einer Mehrheit, die dann auch trägt für die Weiterarbeit in der rot/grünen Regierung, denn die wollen alle Grünen. Ein ganz großer Teil jedenfalls sagt, wir wollen die Koalition nicht aufgeben. Ich glaube, dass wir diese beiden Fragen deswegen so zusammenbringen können, dass am Schluss die Botschaft klar steht: die Grünen stehen hinter dieser Regierung, weil sie außenpolitisch, aber auch innenpolitisch viel gestalten wollen und können, wenn es eine rot/grüne Regierung gibt. Heinlein: Eine Mehrheit, das sind 51 Prozent. Würde Ihnen das reichen? Kuhn: Jetzt wollen Sie mich doch auf die Zahlenspekulation locken. Ich finde schon, dass es gut wäre, wenn es eine deutliche Mehrheit gibt, deutlicher als die, welche Sie genannt haben. Sie werden aber von mir nicht hören, wo genau die Zahl liegt. Heinlein: Warum verknüpft denn die Parteiführung in ihrem Antrag die Frage des Bundeswehreinsatzes mit der Zukunft von rot/grün? Ist das eine Art Vertrauensfrage für Joschka Fischer? Kuhn: So würde ich es nicht nennen, aber die Frage ist faktisch miteinander verbunden. Wenn die Partei mehrheitlich sagen würde, die Politik der Bundestagsfraktion und der drei grünen Minister in dieser Frage war falsch, dann sehe ich keine Grundlage mehr für einen Fortbestand der Koalition. Das sehen auch andere so. Das ist übrigens in so einer zentralen Frage auch logisch. Deswegen haben wir das zusammen formuliert. Man kann, so schön das wäre, die beiden Fragen nicht einfach voneinander trennen. Heinlein: Und was geschieht, wenn in Rostock die Delegierten dennoch darauf beharren, diese beiden Fragen zu trennen? Kuhn: Man kann solche Fragen getrennt abstimmen, aber sie sind faktisch miteinander verbunden. Deswegen wissen auch alle in der Partei, dass ein Nein zu der Frage, wie die grüne Fraktion sich entschieden und abgestimmt hat, auch ein Nein zur Koalition ist. Das kann man glaube ich nicht anders deuten. Heinlein: Hat sich denn durch die bevorstehende Afghanistan-Konferenz am Montag in Bonn die Stimmung bei den Grünen gewandelt? Haben Sie da ein Gefühl? Kuhn: Natürlich haben die Ereignisse in Afghanistan und auch die Konferenz, die in Bonn beginnt, auch etwas verändert an der Diskussion. Es ist ja in Afghanistan klar geworden, dass dort ein terroristisches Regime, das Taliban-Regime, das brutalsten Terror gegen die eigene Bevölkerung ausgeübt hat, jetzt nicht mehr die Macht hat. Dass eine positive Gestaltung dessen, was nun in Afghanistan an neuer Regierung folgen kann, in Deutschland verhandelt oder vorverhandelt wird, ist auch eine Anerkennung dieser Bundesregierung, die ja mit Joschka Fischer den Vorsitz der Afghanistan-Support-Group hat, die sich sehr um die politische Gestaltung und um die Unterstützung der Flüchtlinge kümmern kann und in der Vergangenheit schon gekümmert hat. Im Kern würde ich sagen, dass alle wissen, es wäre auch völlig absurd, in so einer Situation den deutschen und grünen Außenminister Joschka Fischer zu schwächen. Heinlein: Ist denn der Außenminister isoliert in seiner Partei? Antje Vollmer hat in einem Interview die große Distanz zwischen Fischer und seiner Partei bemängelt. Teilen Sie die Ansicht der Bundestagsvizepräsidentin? Kuhn: Ich teile diese Ansicht überhaupt nicht. Dann sollten Sie mal vor Ort in Kreisverbänden sein, wenn entschieden wird, wo Joschka Fischer im Wahlkampf auftritt. Es gibt eine große Hochachtung vor ihm und seiner grünen Politik. So eine Einschätzung, wie sie dort geäußert worden ist, ist einfach faktisch falsch. Heinlein: Also es gibt keine Kluft zwischen oben und unten, zwischen den Kabinettsmitgliedern und der Basis? Kuhn: Es gibt in jeder Partei, die regiert, natürlich die Differenz zwischen denen, die dies in Berlin tun, und der Basis vor Ort. Aber ich glaube, dass diese Differenz bei uns nicht so breit ist, wie sie vielleicht in anderen Parteien ist, und zwar deswegen, weil wir auch viel vor Ort sind, miteinander diskutieren und sprechen. Heinlein: Zum morgen in Rostock beginnenden Parteitag der grüne Parteichef Fritz Kuhn heute Morgen hier im Deutschlandfunk. - Herr Kuhn, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören! Link: Interview als RealAudio
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"2001-11-23T00:00:00+01:00"
"2020-02-04T13:23:29.873000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/partei-steht-hinter-joschka-fischer-100.html
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Herero und Nama verklagen Deutschland
In den USA lebende Angehörige des Volksstamms der Herero. Sie verklagen Deutschland auf Reparationszahlungen. (picture alliance / Johannes Schmitt-Tegge/dpa) Es ist ein Teilerfolg, immerhin. Schon zweimal haben Vertreter der Herero und Nama in den USA Sammelklagen gegen Deutschland auf Entschädigung für den Völkermord und die Enteignung ihres Landes durch die deutsche Kolonialregierung eingereicht. Ohne Erfolg. Dieses Mal wurde die Klage vom zuständigen Richter nicht sofort abgewiesen, sondern eine zweite Anhörung für den 21. Juli anberaumt. Solange hat die Bundesregierung Zeit, sich zu dem Verfahren zu äußern. Die Kläger um den Paramount-Chief der Herero, Vekuii Rukoro und Nama-Chief David Frederick, verklagen Deutschland auf Reparationszahlungen - und auf Beteiligung an den Verhandlungen, die zwischen der deutschen und der namibischen Regierung seit über einem Jahr geführt werden. Chancen für eine Beteiligung der Opfergruppen an Verhandlungen ES ist höchste Zeit, dass Deutschland für die Ereignisse seine moralische, politische, aber auch juristische Verantwortung übernimmt, so Rukoru am Donnerstag in New York. Zumindest, was die Beteiligung der Opfergruppen an den Verhandlungen betrifft, stehen die Chancen nicht so schlecht. Denn die Kläger berufen sich auf eine UN-Konvention für die Rechte indigener Völker von 2007, die vorsieht, dass diese an Verhandlungen, die sie direkt betreffen, beteiligt werden sollen. Sowohl Deutschland als auch Namibia haben diese Konvention unterschrieben. "It can’t not be about us without us. Anything about us without us is against us. The Hereros and Namas should be part of the negotiating process!” Man darf nicht ohne uns über uns reden, kritisiert Ester Utjiua Muinjangue, Vorsitzende der Ovaherero Genocide Foundation. Die deutsche Regierung hatte eine direkte Beteiligung der Opfergruppen an den Verhandlungen bislang stets ausgeschlossen. Am Freitag wurde diese Position von einem Sprecher des Auswärtigen Amtes noch einmal bestätigt. "Wir verhandeln zwischen Regierungen, ohne dass wir dabei zivilgesellschaftliche Organisationen ausschließen würden", sagte Außenamts-Sprecher Martin Schäfer in Berlin. Ruprecht Polenz, der deutsche Verhandlungsführer bei den Verhandlungen, betonte dagegen, die Zusammensetzung der namibischen Delegation sei Sache der namibischen Regierung, und sie müsse letztlich einen möglichen Gerichtsbeschluss zur Beteiligung der Opfergruppen umsetzen. Deutschland sei bereit, über Entschädigungszahlungen zu reden, aber diese könnten nur aus politisch-moralischen Beweggründen erfolgen. "Also wir werden der namibischen Seite vorschlagen dass wir die Verhandlungen unabhängig von dem Gerichtstermin und Erörterung in NY weiterführen. Und ich denke, dass wir uns in absehbarer Zeit in Berlin zur nächsten Verhandlungsrunde treffen." Windhuk hat bislang eine Klage gegen Deutschland ausgeschlossen Unterdessen berichtete die in Windhuk erscheinende Zeitung "The Namibian" am Freitag, dass die namibische Regierung sich der Sammelklage der Herero- und Nama-Vertreter in Ney York auf Reparationszahlungen anschließen wolle. Ein Team von Anwälten aus England und Namibia arbeite zudem im Auftrag der Regierung daran, Deutschland vor dem europäischen Gerichtshof in Den Haag zu verklagen. Zitiert wird der Generalstaatsanwalt des Landes, Sacky Shangala und angeblich von der Zeitung eingesehene Dokumente, wonach die namibische Regierung von Deutschland 30 Milliarden US-Dollar Entschädigung verlange. Aus Kreisen der namibischen Regierung wurde der Bericht jedoch am Abend dementiert. Und auch Polenz hält eine solche 180-Grad-Kehrtwende seines Verhandlungspartners für wenig glaubwürdig. Die Regierung in Windhuk hat bislang eine Klage gegen Deutschland immer ausgeschlossen. Allerdings, warnte Polenz, bestehe die Gefahr, dass mit der Dauer der Verhandlungen die Erwartungen an deutsche Entschädigungszahlungen in der namibischen Öffentlichkeit immer größer würden. "Da wird dann eine fiktive Schadensberechnung gemacht, für das was 1904 bis 1908 passiert ist, dann werden die Folgen über 100 Jahre kumulierend hochgerechnet, und dann kommt man auf exorbitante Summen. Aber das ist ein Weg der sehr irreal ist, und den wir von der deutschen Seite aus unter keinen Umständen mitgehen." Deutschland plant, zur Kompensation des Leids und des erlittenen Unrechts Geld in eine Zukunftsstiftung einzuzahlen, aus der Projekte finanziert werden sollen, die den Herero und Nama-Volksgruppen zugutekommen sollen. Bei dem Massaker durch die deutschen Kolonialtruppen sind zwischen 65.000 und 100.000 Herero und Nama ums Leben gekommen, ein Großteil ihres Landes wurde enteignet.
Von Christiane Habermalz
Mehr als 100 Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia haben die Herero und Nama Klage gegen Deutschland eingereicht. Sie fordern finanzielle Entschädigung für die Massaker in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika.
"2017-03-18T07:45:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:31.046000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schadenersatz-fuer-voelkermord-herero-und-nama-verklagen-100.html
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G7-Staaten sehen Cyber-Angriffe als wachsende Bedrohung
Die G7-Finanzminister und Notenbankchefs nach ihrer Abschlusserklärung in Bari (AP / Andrew Medichini) Beim Treffen der sieben führenden westlichen Industrieländer, G7, in Bari (Italien) spielte auch die jüngste weltweite Cyber-Attacke eine Rolle. In der Abschlusserklärung der G7-Finanzminister und Notenbankchefs heißt es, Cyber-Vorfälle stellten eine wachsende Bedrohung für die Wirtschaft dar. Hier seien angemessene Reaktionen erforderlich. Internationale Organisationen und Regierungen müssten zusammen mit der Privatwirtschaft Gegenmaßnahmen ausloten. Nur wenig Einigkeit beim Handel Beim Thema Handelspolitik verständigte sich die G7-Gruppe auf einen Minimalkonsens. Man arbeite daran, den Beitrag des Handels für die Volkswirtschaften zu stärken, hieß es. Zuvor hatten die USA ein klares Bekenntnis zu freiem Handel und gegen Marktabschottung blockiert. Die Abschlusserklärung lehnt sich eng an die der G20-Finanzminister an, die diese vor zwei Monaten in Baden-Baden formulierten. G7-Gastgeber Italien hatte das Thema Handel ursprünglich ganz von der Tagesordnung streichen wollen. Nun soll der Konflikt auf Ebene der Staats- und Regierungschefs entschärft werden. Die Spitzen der G7 treffen sich in zwei Wochen auf Sizilien, die der G20 im Juli in Hamburg. (tep)
null
Die weltweite Cyber-Attacke hat auch die Finanzminister und Notenbankchefs der sieben führenden Industrieländer bei ihrem Treffen in Bari beschäftigt. Darüber hinaus waren sie sich aber nur in wenigen Punkten einig.
"2017-05-13T12:49:00+02:00"
"2020-01-28T10:27:40.580000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abschlusserklaerung-g7-staaten-sehen-cyber-angriffe-als-100.html
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Der problematische Versöhner
Die Kölner Musikhochschule würdigte Isang Yun (Frank Kämpfer) In der Hochschule für Musik und Tanz Köln ging es Mitte Oktober zunächst um Aufführungspraxis und Analyse. Als Yun-Experten waren der Komponist und Dirigent Heinz Holliger sowie der Musikwissenschaftler Walter-Wolfgang Sparrer eingeladen. Auch das Politische in Yuns Schaffen und Biografie, seine Intentionen und seine nachhaltige Wirkung kamen zur Sprache. Für die Teilnehmer des Kölner Yun-Workshops bedeutete das, Verständnis- und Verständigungsprobleme einzukalkulieren und zu überwinden. Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage lang anhören.
Von Georg Beck
Isang Yuns Musik gilt als visionär friedvolle Verbindung von Ost und West, zwischen Nord- und Südkorea. Yun, gebürtiger Koreaner, lebte lange Zeit im geteilten Berlin und wurde Deutscher. Anlässlich des 100. Geburtstags hat die Kölner Musikhochschule den Komponisten mit einer Workshop-Woche geehrt und zu erkunden versucht.
"2017-11-04T22:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:46:40.513000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/isang-yun-zum-100-geburtstag-der-problematische-versoehner-100.html
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Der neue alte David Bowie
Wie perfekt er diesen Coup gelandet hat! Die überraschende Single, die - für ein Comeback - so überraschend introvertiert klang; die überraschende Verkündigung eines baldigen Albums; das überraschende Stream-Angebot eine Woche vor Veröffentlichung: Vielleicht ist es die Überraschung an sich, für die die Welt offenbar so dankbar ist, dass David Bowies neues Album seit Tagen mit einer Ehrfurcht gefeiert wird, als käme seine Stimme statt aus Lautsprechern aus einem brennenden Dornbusch. Denn makellos ist "The Next Day" nun nicht. Es gibt mäßig geratene Songs darauf; es könnte kürzer sein; die Arrangements sind so dicht, dass man zwischendurch lüften möchte; und es ist keineswegs avantgardistisch oder wegweisend. Aber vielleicht ja auf die exakt richtige Weise retro.Bei der wunderbar zarten Vorabballade "Where Are We Now" (mit Erinnerungen an Bowies Zeit im Berlin der 70er-Jahre) klingt seine Stimme ja schon nach dem 66-Jährigen, der er nun mal ist. Wollen wir ihn alt und weise? Oder doch jung und wild, mit Glam und Schminke?Im Grunde stellt er sich die Altersfrage selbst und lässt die Antwort offen. Im Video zur zweiten Single "The Stars Are Out Tonight" sucht ein gefährlich jugendlicher Ziggy Stardust den alten Bowie und dessen von Tilda Swinton gespielte Gattin heim und verführt sie zu Lärm und Exzess. Das Cover verwendet in einem faszinierenden Kunstgriff die Hülle von "Heroes" anno 1977 und verdeckt die ikonische Pose des experimentellen Berlin-Bowie mit einem weißen Rechteck, in dem der neue Albumtitel steht. Und auch die Musik ist so eine "Übermalung": Neues vor dem Hintergrund des Alten.Es sind auch die Mittel von früher, wenngleich ohne die aufregenden Synthesizer, damals von Brian Eno. Rockschlagzeug, viele Gitarren, dazwischen schwelgt auch mal eine Geige, hupt sein altes Saxophon, aber ein Update ist es eben nicht: kein Neosoul, kein Dubstep; von den Stilmitteln der Jungen lässt Bowie die Finger und zitiert stattdessen etwa Hank Marvins Gitarre von 1960, die er in einen torkelnden Chor verwandelt. Sich selbst zitiert er insgesamt sowieso, und den Beat etwa im Outro von "You Feel So Lonely You Could Die", den kennt der geneigte Fan ganz buchstäblich von 1972.Auch wenn die Wagnisse von damals heute keine mehr sind - mit seiner Stimme probiert Bowie immer noch einiges. Er singt sehnsüchtig, aggressiv und eisig, tritt mal elegant auf, mal verstört und mal leicht irrsinnig - eben wie man ihn kennt und bewundert. Er entwirft trostlose Zukunftsszenarien, spielt einen pöbelnden Youngster mit Kricketschläger, oder ahnt in "The Stars Are Out Tonight", dass Brad Pitt oder Kate Moss hinter ihren getönten Limousinenscheiben in Wahrheit Außerirdische sind.Am Ende ist tatsächlich eine Menge geboten. David Bowie hat Kraft und Stil und größtenteils eben doch ganz hervorragende Songs, die ganz und gar nach Bowie klingen. Gäbe er morgen ein Konzert, man wünschte sich außer den Hits ernsthaft auch ein paar dieser neuen Nummern. Welcher andere Altstar bekommt das schon hin?
Von Bernd Lechler
Neu ist nichts - aber nichts klingt alt auf der neuen Platte von David Bowie. Er singt sehnsüchtig, aggressiv und eisig, tritt mal elegant auf, mal verstört und mal leicht irrsinnig. Entstanden sind dabei hervorragende Songs.
"2013-03-08T15:05:00+01:00"
"2020-02-01T16:10:18.089000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-neue-alte-david-bowie-100.html
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Ist es klug, dass der Staat schweigt?
Rund 80 Prozent der Menschen sterben in Krankenhäusern und Heimen. (Picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert) "Hilfe im Sterben, Sterbebegleitung – ja, aus meiner Sicht ein klares Nein zur Hilfe zum Sterben, zum aktiven Töten oder auch zur organisierten Hilfe zur Selbsttötung," sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe - und Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschlands kontert: "Wenn man die Leute alleine lässt oder die Angelegenheit tabuisiert, dann greifen sie ja zu schrecklichen Verzweiflungstaten, dann kommen wir an die Leute nämlich gar nicht ran." Was kann und darf man tun am Ende eines Lebens, wenn der Tod nicht plötzlich kommt, sondern das Sterben zum Problem wird? Mit diesem ganzen großen Gebiet befasst sich die Sterbehilfe. Der Gesetzgeber will nun einen Teilbereich reformieren: die Hilfe zur Selbsttötung. Hermann Gröhe will an der juristischen Grundeinschätzung von Suizid aber nichts ändern: "Ich halte das Schweigen unserer Rechtsordnung zur Selbsttötung – Straffreiheit der Selbsttötung, damit auch der individuellen Beihilfehandlungen – für richtig. Ich unterscheide mich da von einem jetzt vorgeschlagenen Gesetzentwurf, der vorsieht, auch jedwede Beihilfehandlung unter Strafe zu stellen. Weil es Bereiche gibt, bei denen es klug ist, dass der Staat vor dem Lebensdrama einer Entscheidung, die das eigene Leben beenden möchte, schweigt." Was ist menschenfreundlich? Denn auch wenn über verschiedene Gesetzesentwürfe politisch debattiert wird – hier geht es vor allem um grundsätzliche ethische Fragen, auf die Politik und Staat nur begrenzt Antworten geben können. Wenn ein Mensch wirklich sterben will, dann wird ihn nichts davon abhalten, davon ist Gita Neumann überzeugt. Sie arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Referentin für Lebenshilfe und Humanes Sterben beim Humanistischen Verband. Sie hat schon Menschen bis zu deren Selbsttötung begleitet. Es sei menschenfreundlich, dabei zu helfen, dass dieser Tod so schmerzfrei und leicht wie möglich herbeigeführt werde. "Wenn mir jemand gegenüber sitzt und Sie sprechen offen und Sie lassen zu – also Sie sprechen erstmal über den Suizidgedanken und das Vorhaben, wie stellen Sie sich das denn vor und so weiter – und wenn Sie das erstmal abgehakt haben, dann werden Sie in aller Regel, ich würde sagen bei 95 Prozent, feststellen, dass dann so Impulse zum Leben hin kommen." Würdevoll sei es, über das Ende des Lebens selbst bestimmen zu können, meint Neumann. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe steht für eine andere Prämisse: Im Zentrum steht nicht das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, sondern der generelle Schutz für Leben in jeder Form. "Ich will diesen einen, sehr präzisen Punkt, nämlich des organisierten, geschäftsmäßigen Angebotes einer Selbsttötungsbeihilfe unter Strafe stellen, weil ich glaube, dies berührt die Wertschätzung für Leben, die Lebensschutzorientierung unserer Rechtsordnung insgesamt. Ich möchte nicht, dass Selbsttötungshilfe und vor allen Dingen natürlich auch kein ärztlich assistierter Suizid gleichsam zur Behandlungsvariante wird." Unschärfe Bis jetzt ist die gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe relativ unscharf. Was ist erlaubt und was nicht? Klar ist: Aktiv ist sie verboten, die so fatal symbolische Giftspritze durch den Arzt. Indirekte Sterbehilfe, also zum Beispiel eine Behandlung von Schmerzen, die in Kauf nimmt, dass die tödliche Folgen haben wird, oder auch passive Sterbehilfe durch Unterlassen notwendiger Behandlung sind erlaubt. Voraussetzung ist eine entsprechende Willensbekundung – immer mehr Menschen haben inzwischen so eine Patientenverfügung. Den Suizid oder die Selbsttötung kann natürlich niemand verbieten. Soweit ist die Regelung eindeutig. Aber was ist, wenn ein Patient zu krank oder eingeschränkt ist, um die Selbsttötung auch wirklich selbst auszuführen? Oder wenn er nach einem möglichst schonenden Weg sucht? Wenn es also um die sogenannte Beihilfe zum Suizid geht? Das ist nicht verboten, doch Ärzten, die eine solche Beihilfe leisten, drohen gut die Hälfte der Landesärztekammern mit Entzug der Zulassung. Gita Neumann: "In Krebsstationen oder anderen Stationen auch mit Schwerkranken werden die Fenster verriegelt, weil die Patienten sich sonst auch aus dem Fenster stürzen würden, und das ist das ganze Ausmaß der Dramatik, die wir haben, wenn wir das Begehren von Suizid tabuisieren." Die Gesetzentwürfe, die dem Bundestag zur Entscheidung vorliegen, arbeiten sich an einem konkreten, wenn auch namentlich nicht genannten Gegenüber ab: an Organisationen, die in verschiedenen rechtlichen Formen Hilfe bei der Selbsttötung anbieten. In Deutschland ist das vor allem der Verein "Sterbehilfe Deutschland", in der Schweiz die Organisation "Dignitas". Auch Gita Neumann sieht diese Vereine kritisch, dort bekämen Betroffene keine echte Beratung angeboten, sondern praktisch nur den Tod. "Ich bin nun wirklich kein Freund von Spezialorganisationen, die nichts anderes anbieten können. Das ist nämlich das Problem: Wenn ich nur das anzubieten habe, liegt es meiner Meinung nach etwas nahe, dass ich es dann auch anbiete." Die Angst vor der Einsamkeit nehmen Diese Organisationen arbeiten im rechtlichen Graubereich – auch wenn die Fallzahlen vergleichsweise gering sind, etwas über 40 im letzten Jahr, stehen sie symbolhaft für einen neuen Umgang mit dem Tod. Mit einem nämlich, der auch das Sterben als grundsätzlich regelbar und dem Menschen verfügbar sieht. Ein gesamtgesellschaftlicher Trend. Gesundheitsminister Hermann Gröhe: "Die Deutungshoheit kann heute jedenfalls nicht mehr wie in der Vergangenheit irgendeine kirchliche oder staatliche Instanz für sich beanspruchen. Ich bejahe ja uneingeschränkt die Pluralität unserer Gesellschaft. Das Freiheitsstreben des Menschen ist zutiefst mit meinem christlich geprägten Menschenbild in Einklang. Aber es gibt sozusagen Risiken und Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel dieser Pluralität, dass es eben nicht Leitplanken einer gemeinsam getragenen gesellschaftlichen Überzeugung gibt, die früher Menschen in diesen existentiellen Fragen Halt gegeben hat." Die moderne Medizin macht, neben all ihren Segnungen, das Sterben zum Problem. So etwas wie einen natürlichen Tod – schnell, ohne Interaktion mit Ärzten, Krankenhäusern und Medizintechnik – kann man als Wunschbild zeichnen. Der Realität entspricht das nicht: rund 80 Prozent der Menschen sterben in Krankenhäusern und Heimen, und in vielen Fällen verlängert die Medizin nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben. Gegner einer Lockerung der Suizidhilfe meinen: wenn Palliativmedizin und Hospizdienste ausgebaut werden, muss niemand mehr leiden. Der Wunsch nach einem früheren Ende würde sich erübrigen. Hermann Gröhe betreibt deshalb parallel zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung auch eine Gesetzesinitiative zum Ausbau der Palliativmedizin und Hospizen. "Weil das sicher neben den unerträglichen Schmerzen die andere große Angst ist: bin ich einsam in dieser Lebenssituation? Und so wie die Palliativmedizin es ermöglicht, Schmerzen zu lindern oder gar weitgehend erfolgreich zu bekämpfen, so ist eben aus der Hospizbewegung und hospizlicher Kultur auch zu lernen, dass wir Menschen auch die Angst vor Einsamkeit nehmen können, wenn wir uns vornehmen, sie gut und klug zu begleiten." "Schön wär's. Wir haben ja es mit vielen alten Menschen zu tun, also, der Alterssuizid ist ja der häufigste Suizidfall in Deutschland, und die leiden unter schweren chronischen Mehrfachkrankheiten, die sind überhaupt nicht Zielgruppe für Hospiz- und Palliativversorgung." Gita Neumann beschreibt die Lage drastisch: "Wer zu lange lebt, fliegt ja raus aus der Palliativversorgung. Oder kommt gar nicht rein." Selbst Palliativmediziner sagen: nicht jedes Leid lässt sich lindern – das schmerzfreie Sterben kann niemand garantieren. Was wird dann aus denen, die das Leid nicht mehr ertragen wollen oder können? Hermann Gröhe ist da ganz entschieden: Suizid von der Krankenkasse finanziert? "Es hieße aus meiner Sicht eine Überdehnung von einer bestimmten Vorstellung von Autonomie, wenn aus dem Schweigen der Rechtsordnung zum Wunsch eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, gleichsam ein Anspruch an den Sozialstaat würde, einem dafür die Mittel, das Sachwissen und die persönliche Assistenz anderer Menschen, am besten dann noch bezahlt über die Krankenkasse, qualitätsgesichert, zur Verfügung zu stellen. Diesen Anspruch gibt es eben nicht." Eine offene Frage ist die Sorge um den Missbrauch von liberaleren Regelungen: wenn die Selbsttötung bequemer, sicherer und leichter zugänglich ist – wächst dann nicht die Gefahr, dass Sterbende sich gedrängt sehen, diesen für andere belastenden Prozess vorzeitig zu beenden? Gita Neumann verweist auf ähnliche Befürchtungen, bevor der Einsatz von Patientenverfügungen gelockert wurde. "Es war damals das Argument, wir dürfen kein liberales Modell der Patientenverfügung zulassen, sonst passiert genau das: der Dammbruch, Leute werden genötigt dazu, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten – nichts dergleichen hat sich bewahrheitet." Auch unter bekennenden Christen gibt es unterschiedliche Antworten auf diese ethischen Probleme. Auch wenn evangelische und katholische Kirchenleitende sich klar gegen jedes Verbot organisierter Hilfe bei der Selbsttötung aussprechen – im Bundestag finden sich Christen auf allen Seiten der Debatte. Der evangelische Pfarrer Peter Hinze zum Beispiel steht für den Vorschlag, Ärzten in einem strikt reglementierten Verfahren Hilfe beim Suizid zu ermöglichen. Hinter der Debatte um die Hilfe bei der Selbsttötung stehen eben größere Fragen: die Sorge um das immer mehr schwindende Solidarprinzip zum Beispiel, und gleichzeitig trotzdem auch der Wunsch danach, das eigene Leben in wirklich allen Belangen zu gestalten – zumindest dann, wenn man sich stark fühlt. "Ich weiß es nicht, ob man das nun unbedingt, diese durchaus zu befürchtende Tendenz, dass alles immer egozentrischer wird und man sich kranken und behinderten Lebens zu entledigen versucht, an der Frage der Suizidhilfe aufgehängt werden muss." "Ich empfinde die Diskussion in den letzten Monaten als sehr wertvoll, weil so intensiv und so persönlich, wie darüber diskutiert wurde, das tut unserer Gesellschaft gut."
Von Kirsten Dietrich
Es ist eine ethische Debatte, wann ein Mensch sterben darf, wenn der Tod nicht plötzlich kommt. Auch unter bekennenden Christen ist diese Frage umstritten.
"2015-10-20T09:35:00+02:00"
"2020-01-30T13:05:02.466000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hilfe-zur-selbsttoetung-ist-es-klug-dass-der-staat-schweigt-100.html
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Südeuropäische Azubis für ostdeutsche Firmen
In Spanien war der stammende 21-jährige Informatiker Manuel Sanchez aus Madrid eineinhalb Jahre arbeitslos, sagt er. Selbst in London oder den USA habe er Jobs gesucht. Aussichtslos. Bis er ein Angebot aus Sachsen-Anhalt bekam. Jetzt macht er in Holleben bei Halle eine überbetriebliche Ausbildung zum Industrie-Isolierer, genau wie der 21-jährige Alejandro Garcia aus Alicante am Mittelmeer. Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in Spanien blieb dem Wartungsmechaniker Alejandro Garcia keine andere Wahl, als ins Ausland zu gehen, erzählt er. Kein einfacher Weg. Denn für die jungen Menschen ist es das erste Mal, das sie von zu Hause weg sind. Aber auch das Essen, das Klima oder die gänzlich anderen Arbeitszeiten sind für viele eine große Hürde, deshalb bricht fast die Hälfte ihre Ausbildung wieder ab, wie Unternehmer berichten. "Einerseits, das Heimweh war wieder da. Oder die Deutsch-Kenntnisse waren nicht so gut oder haben sich nicht so entwickelt, wie wir uns das ursprünglich vorgestellt hatten, sodass sie auch schulisch nicht richtig mitgekommen sind. Da waren die Defizite einfach zu groß, um einen erfolgreichen Abschluss zu machen. Das war nicht gegeben. Da haben die Auszubildenden auch selber von sich aus gesagt, okay wir müssen das beenden", erzählt Sven Seib. Er ist der Verwaltungsdirektor des Magdeburger Ratswaage-Hotels und beschäftigt derzeit sechs Azubis aus Spanien und Griechenland. Sie machen bei ihm eine Ausbildung zum Koch und Hotel- bzw. Restaurantfachmann. "Wenn man das auch wirklich erfolgreich umsetzen will, dass da auch ein Ergebnis bei rauskommt und nicht nur mal ein kleines Strohfeuer entsteht, dann muss nicht nur die Struktur in den Betrieben, sondern auch die Prüfungsanforderungen darauf abgestellt werden." Das bedeute, man müsse den Leuten mehr Zeit gebe, die Prüfungsaufgaben zu erfüllen. Das Problem hierbei seien aber nicht die fehlenden fachlichen Kenntnisse, sondern die Sprachbarrieren. "Wir haben selbst Mitarbeiter, die in den Prüfungsausschüssen als Prüfer arbeiten, die das auch so sehen. Sie sagen, die können das eigentlich, aber die können das nicht in der vorgegebenen Zeit von beispielsweise zweieinhalb Stunden umsetzen. Weil sie viel zu lange brauchen, um die gestellte Aufgabe erst zu verstehen." Gesprächsbedarf über Probleme Weshalb es nun in den kommenden Wochen ein Treffen geben soll - zwischen der IHK Magdeburg und den Unternehmern, die ausländische Azubis beschäftigen. Dann soll über die Schwierigkeiten und Lösungsansätze gesprochen werden. Erste Vorschläge liegen auch schon auf dem Tisch, so ist die Rede von deutlich verbesserten Deutsch-Kursen, aber auch von reinen Sprach-Berufschul-Klassen, um jungen Menschen wie Katarina Papanikolao aus Athen bestmögliche Startchancen zu geben. "Ich bin seit drei Jahren arbeitslos. So, dass ich eine Arbeit finden musste. Weil ich Geld haben will." Eigentlich ist die 31-jährige Griechin mit den schwarzen langen Haaren eine studierte Lehrerin. Doch jetzt lässt sie sich im Magdeburger Ratswaage Hotel – einem der größten Hotels der Stadt – zur Restaurantfachfrau ausbilden. Mit Erfolg, wie es scheint. Denn: Während viele ihrer Kollegen bereits aufgegeben haben, ist sie noch dabei. Und wird, wenn alles gut läuft, nächstes Jahr ihren Abschluss machen. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer wird man künftig noch mehr als bisher auf Bewerber aus dem Ausland angewiesen sein. Denn in fast jedem zweiten Betrieb gibt es unbesetzte Ausbildungsplätze. Von daher kann die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Mittelmeerländern - so makaber es auch klingt - eine Chance für Regionen wie Sachsen-Anhalt sein. Hier absolvieren derzeit etwa 170 ausländische Jugendliche aus dem Mittelmeerraum eine Ausbildung. Noch einmal der Magdeburger Hotelier Sven Seib. "Es ist sicherlich ein Markt, wo wir zukünftig unsere Fachkräfte rausziehen."
Von Christoph D. Richter
Mit südeuropäischen Auszubildenden versuchen ostdeutsche Firmen, gegen den Fachkräftemangel vorzugehen. Dafür suchen Industrie- und Handelskammern bzw. Handwerkskammern gezielt in Ländern wie Spanien, Portugal oder Griechenland - in denen eine hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht - junge Mitarbeiter. In Sachsen-Anhalt hat man damit im Herbst 2014 begonnen - allerdings nicht ohne Probleme.
"2016-01-11T14:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:08:11.720000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sachsen-anhalt-suedeuropaeische-azubis-fuer-ostdeutsche-100.html
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Verbindlichkeit ist Streitthema
Als hätte sie sich abgesprochen: Russlands Präsident Putin und US-Präsident Obama warnen auf der Klimakonferenz in Paris vor den Folgen der Erderwärmung. (picture alliance / dpa / Mikhail Klimentyev / Russian Presidential Press and Information Office/TASS) Es ist der Nachmittag der ganz großen Koalition: "14 der 15 wärmsten Jahre fallen in die Zeit seit dem Jahr 2000 und 2015 ist auf dem Weg, das wärmste von allen zu werden", resümiert US-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin sagt, was das für die Menschheit bedeutet – es klingt fast, als hätten die beiden sich abgesprochen: "Die Klimaveränderung gehört zu den größten Herausforderungen, denen sich die Menschheit stellen muss. Die Erderwärmung verursacht Wirbelstürme, Überschwemmungen, Dürren und andere ungewöhnliche Ereignisse, die immer größeren wirtschaftlichen Schaden anrichten.Knapp 150 Staats- und Regierungschefs hat Frankreichs Präsident Francois Hollande in Paris versammelt, um ein weltweites Abkommen gegen den Klimawandel zu schmieden. Und auch er redet den Delegierten ins Gewissen: "Die größte Gefahr ist nicht, dass wir uns zu viel vornehmen und es dann nicht schaffen. Die größte Gefahr ist, dass wir uns zu niedrige Ziele setzen und sie erreichen." Gute Chancen auf ein Abkommen trotz vieler Streitpunkte Zum ersten Mal überhaupt stehen die Chancen gut, dass ein solches Abkommen auch zustande kommt. Ein Vertragstext ist vorformuliert, er hat allerdings noch viele Klammerausdrücke, jede Klammer steht für einen Punkt, an dem sich die internationale Gemeinschaft noch nicht einig ist. Hinter den Kulissen reden die Regierenden der Welt darüber, wie diese Klammern zu beseitigen sind und was in dem endgültigen Vertragstext stehen soll, auf den sich die Umweltminister in der nächsten Woche einigen sollen. Es gibt noch eine ganze Reihe von Streitpunkten. Da ist zum Beispiel die Frage der Verbindlichkeit. Deutschland und die Europäische Union wollen möglichst viel davon, andere Staaten sehen darin eine Einschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Auch das langfristige Ziel ist noch nicht verabschiedet, Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt es so vor: "Wir müssen also auf diesem Gipfel ein Signal setzen, wie wir glaubwürdig das Ziel in den nächsten Jahren erreichen können, und das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass wir im Laufe des 21. Jahrhunderts eine weitgehende Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften brauchen." Initiativen versuchen, Geld für den Klimaschutz zu mobilisieren Das Abkommen von Paris solle vorsehen, dass die Staatengemeinschaft alle fünf Jahre die Fortschritte im Klimaschutz überprüft und Ziele erhöht, denn noch sei nicht gesichert, dass die Obergrenze von zwei Grad Temperaturanstieg auch eingehalten werde. Wissenschaftler kommen mit den derzeitigen Ambitionen der einzelnen Staaten auf etwa drei Grad – ganz ohne Klimaschutz würde sich die Erdatmosphäre in diesem Jahrhundert um vier bis fünf Grad erwärmen. Deutschland stehe zu seinen Klimazielen, so die Kanzlerin. "Deutschland hat sich klare Ziele gesetzt: Wir werden unsere CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren und wir wollen bis 2050 gegenüber 1990 um 80 bis 95 Prozent Reduktion erreichen." Initiativen am Rande des Gipfels zielen darauf ab, Geld für den Klimaschutz zu mobilisieren. Microsoft-Gründer Bill Gates kündigt eine Initiative für saubere Technologien an, Entwicklungsländer sollen ihre Energieversorgung gleich mit CO2-freier Technik aufbauen. Rückenwind für die Unterhändler, die sich auch damit beschäftigen müssen, wie jährlich 100 Milliarden Dollar für die Unterstützung von Entwicklungsländern im Klimaschutz zusammenzubringen sind.
Von Georg Ehring
151 Staats- und Regierungschefs sind in Paris versammelt, um ein weltweites Abkommen gegen den Klimawandel zu schmieden. Der Vertragstext ist bereits vorformuliert, doch es gibt noch viele Punkte, an denen sich die internationale Gemeinschaft nicht einig ist. Einer davon ist die Frage der Verbindlichkeit.
"2015-11-30T17:05:00+01:00"
"2020-01-30T13:11:47.578000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaabkommen-verbindlichkeit-ist-streitthema-100.html
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"Das Hochschulsystem leidet unter Reformmüdigkeit"
Er wünsche sich, dass Studierende die Möglichkeit hätten, neben ihren fachlichen Kernkompetenzen auch in anderen Fachbereichen Fähigkeiten zu erwerben, sagte Peter André Alt im Dlf (HRK) Jörg Biesler: Peter-André Alt war bis Juli Präsident der Freien Universität in Berlin und ist nun Präsident der Hochschulrektorenkonferenz als Nachfolger von Horst Hippler und damit der Sprecher der Deutschen Hochschulen. Guten Tag, Herr Alt. Peter-André Alt: Guten Tag, Herr Biesler! Biesler: Manche frischgekürten Amtsinhaber, die nehmen sich erst mal Zeit zur Einarbeitung, so 100 Tage manchmal. Sie starten gleich mit der Forderung zu einer umfassenden Reform der Hochschulen, genauer gesagt von Bachelor und Master. Was soll sich da ändern und warum? Alt: Insbesondere geht es mir darum, dass viele, die aus der Schule kommen, keine klare Vorstellung von ihrem späteren Studium haben, dass sie häufig, unabhängig davon übrigens, ob sie zwölf oder 13 Jahre zur Schule gegangen sind, Lücken haben im Grundwissen und dass es deswegen gut wäre, wenn sie am Anfang ihres Studiums für ein Jahr noch einmal die Möglichkeit hätten, durch verschiedene Fächer hindurchzugehen, vielleicht auch neue Fachkulturen kennenzulernen, also in einem Studium Generale gewissermaßen das Spektrum der hochschulischen Möglichkeiten zu erfahren, um nach diesem Jahr eine begründete Wahl des Fachstudiums zu treffen. Dieses erste Jahr soll nicht einfach nur ein Schnupperjahr sein, sondern es soll auch die Möglichkeit geben, Prüfungen abzulegen, bereits Leistungspunkte für das spätere Studium im Fach zu erwerben, aber es soll vor allen Dingen das Grundwissen, die Breite des Grundwissens, an dem es fehlt, verstärken. "Bei uns fehlten viele Dinge, die noch gar nicht bekannt waren" Biesler: Klingt wie der große Befreiungsschlag aus der Diskussion des Übergangs von Schule zu Hochschule, die wir ja seit einigen Jahren schon intensiv führen. Die Hochschulen klagen ja darüber, dass die Grundqualifikationen fehlen, lang angelegte Einführungsphasen an den Hochschulen sind mittlerweile standard. Da wird also einiges verlagert von der Schule an die Hochschule. Ist das denn eigentlich gut? Alt: Also ich glaube, es ist unabdingbar, und das mathematische Grundwissen, das ja in fast allen Fächern, wenn man mal von den Geisteswissenschaften absieht, unabdingbar ist, ist nicht so gefestigt zumindest, dass man sagen kann, das reicht aus, um erfolgreich zu starten in ein wirtschaftswissenschaftliches oder naturwissenschaftliches Studium, und deswegen wäre auch eine solche Orientierungsphase gut. Sie soll ja nicht nur ausrichten auf mögliche Fachkulturen, sondern sie soll auch die Möglichkeit bieten, beispielsweise bestimmte Kenntnisse gezielt zu intensivieren. All das wäre die Funktion, und ich glaube, man muss jetzt gar keine Schulschelte formulieren. Wir müssen ja auch sehen, dass beispielsweise die Naturwissenschaften sich dynamisch weiterentwickelt haben und dass das Wissen, das man da erwerben muss, einfach umfänglicher ist. Mit dem Physikwissen, mit dem ich in der Schule abgegangen bin, könnte man heute mit Sicherheit kein Physikstudium mehr aufnehmen. Bei uns fehlten viele Dinge, die noch gar nicht bekannt waren. Also keine Schelte gegenüber der Schule, aber einfach die Einsicht, Wissen ist akkumuliert, gewachsen und muss entsprechend in der Hochschule frühzeitig noch mal breiter angelegt werden. Kompetenzen über das fachliche Wissen hinaus erwerben Biesler: Ja, das eine, was ich bei Ihnen höre, ist die Festigung des Grundlagenwissens in entscheidenden Bereichen für das jeweilige Studium. Ich habe aber, glaube ich, auch verstanden, dass Sie auch noch mal einen breiteren Begriff von Bildung im Sinn haben, der ja doch vielleicht in den letzten Jahren ein bisschen zusammengeschmolzen ist. Alt: Das ist richtig. Gerade übrigens auch deswegen, weil die Differenzierung der Fächer gewachsen, das Volumen des Wissens größer geworden ist. Da geht manches verloren. Und ich wünsche mir eigentlich, dass wir am Ende eines dann achtsemestrigen Bachelorstudiums, nicht vielleicht für alle Fächer, aber einen großen Teil, junge Leute haben, die auch über ihr fachliches Wissen hinaus Kompetenzen haben. Ich wünsche mir Ingenieure, die auch mal in die kunstgeschichtliche Vorlesung gehen. Das war ein Modell technischer Universitäten in den 60er-Jahren, das man wieder aufleben lassen sollte, und ich wünsche mir auch, ganz ausdrücklich, Geisteswissenschaftler, die ein Grundverständnis von zentralen Fragen der Natur- und Lebenswissenschaften, und das wäre im Sinne eines solchen erweiterten Bildungsbegriffs umzusetzen durch dieses Modell. Biesler: Was sollte sich denn noch verändern, sozusagen in technischer Hinsicht, was das Studium angeht? Alt: Also ich denke, dass es wichtig ist, dass man dann danach die sechs Semester eines Bachelorstudiums mit fachwissenschaftlichem Schwerpunkt absolviert. Ich glaube … Biesler: Also das Studium Generale kommt dazu. Alt: Das kommt dazu, und dann hätten wir einen achtsemestrigen Bachelor, also ein Jahr zunächst mal Orientierungs- oder Grundlagenstudium und dann ein sechssemestriges fachwissenschaftliches Studium, so wie es jetzt der Bachelor von Anfang an vorsieht. Dann bleiben, weil wir ja im Rahmen des Bologna-Modells insgesamt eine Studienzeit von fünf Jahren haben, nicht mehr vier, sondern zwei Semester für den Master. Den Master, der dann nur noch ein und nicht zwei Jahre umfasst, würde ich vor allen Dingen als ein Studium sehen für diejenigen, die künftig auch an Forschungskarrieren, vielleicht in der Universität oder in der Industrie, interessiert sind, als Vorbereitung auf eine erste selbstständige wissenschaftliche Arbeit. Menschen im Denken und methodischen Kompetenzen schulen Biesler: Ich höre da auch ein Plädoyer für einen stärker wissenschaftsorientierten Master. In den vergangenen Jahren sind ja unglaublich viele Studiengänge eingeführt worden neu, die sehr, sehr spezialisiert und sehr berufsnah sind. Denken Sie da auch an eine neue Aufgabenverteilung von Universitäten und Fachhochschulen? Alt: Ich bin über diese sehr feine Ausdifferenzierung im Fachspektrum nie ganz glücklich gewesen. Ich würde mir mehr wünschen, dass wir wieder zurückkommen zu den Kernfächern und von dort aus dann auch die wissenschaftliche Qualifikation vorantreiben. Ich glaube, das ist jetzt nicht unbedingt ein Punkt der Differenzierung zwischen den Universitäten und den Fachhochschulen. Beide Hochschultypen haben diese sehr nuancierte Ausprägung sehr spezialisierter Studiengänge vorangetrieben in den letzten Jahren, in der Erwartung, man würde damit besser auf den Berufsmarkt vorbereiten. Ich halte das für einen Fehlschluss. Die Berufsmärkte verändern sich im digitalen Zeitalter rasant. So schnell können wir gar keine Studiengänge nachbauen. Das ist auch falsch. Studiengänge sollen uns – und das gilt für die Fachhochschulen genauso wie für die Universitäten – durch das Erlernen von Kernkompetenzen und durch die Vermittlung von den Methoden in die Lage versetzen, in Zukunft im Beruf auch den Herausforderungen zu begegnen, die vor uns liegen. Damit machen wir die Menschen berufsfähig, indem wie sie im Allgemeinen, in ihrem Denken, in ihrer methodischen Kompetenz schulen und nicht, indem wir sie spezifisch auf ganz besondere fachliche Herausforderungen vorbereiten. Die kommen dann im Beruf. Wenn sie gut methodisch vorbereitet sind, werden sie die auch bewältigen. "Die große Bachelor-und-Master-Reform war anstrengend" Biesler: Jetzt habe ich schon gesagt, das ist ein großer Aufschlag zu Beginn Ihrer Amtszeit, hier diese Vorschläge zu unterbreiten. Sie sprechen für die Hochschulrektoren insgesamt, aber ich vermute mal, Sie haben es noch nicht mit jedem abstimmen können. Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass Sie da auf eine große Resonanz stoßen? Alt: Ich weiß aus der Diskussion dieses Themas, die ich in meiner eigenen Universität, der Freien Universität schon vor einiger Zeit geführt habe, dass das ein Vorschlag ist, den viele unterstützen. Ich weiß aber auch, dass es aus einzelnen Fächern Kritik gibt. Deswegen muss man überlegen, ob man nicht erst einmal startet in einigen Fächern. Ich weiß, dass es viele Hochschulen gibt, die bereits mit einem Studium Generale experimentieren, gerade aus der Not heraus, dass viele Studierende nicht genau wissen, ob das der richtige Weg ist, den sie da nach dem Abitur eingeschlagen haben, und vor diesem Hintergrund, glaube ich, können wir eine Reform uns durchaus zumuten. Ich weiß, das Hochschulsystem leidet ein wenig unter Reformmüdigkeit. Die große Bachelor-und-Master-Reform war anstrengend, aber ich werde diesen Vorschlag unterbreiten und mit meinen Kolleginnen und Kollegen diskutieren, in der Hoffnung, dass es auch einige gibt, die sich in den Ländern dann auf diesen Weg machen werden. Biesler: Peter-André Alt, seit August Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Danke schön! Alt: Vielen Dank, Herr Biesler! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter André Alt im Gespräch mit Jörg Biesler
Peter André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, hält das deutsche Hochschulsystem für dringend reformbedürftig. Viele junge Menschen kämen mit völlig falschen Vorstellungen und fehlendem Grundwissen an die Universität, sagte er im Dlf. Eine einjährige Orientierungsphase könne dem entgegenwirken.
"2018-09-14T14:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:03.261000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bachelor-und-master-studium-das-hochschulsystem-leidet-100.html
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Viele Ausfälle und Millionenkosten
Auf dem Rollfeld des Flughafens in München blieben heute viele Maschinen am Boden. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel) Um 10.00 Uhr hatte der Ausstand begonnen: Die Gewerkschaft "Vereinigung Cockpit" hatte ihre Piloten aufgerufen, am Flughafen München zu streiken - bis 18.00 Uhr. Von Flugausfällen betroffene Passagiere konnten kostenlos umbuchen oder auf die Bahn umsteigen. Der Konzern veröffentlichte auf seiner Homepage Informationen über die Auswirkungen des Streiks und setzte einen Sonderflugplan in Kraft. Passagiere wurden demnach über andere Flughäfen umgeleitet. Die 15 geplanten Langstreckenflüge aus München konnten trotz der Arbeitsniederlegungen starten, weil sich freiwillige Crews gemeldet hatten. Millionenkosten durch Streik Insgesamt waren vom Streik laut Lufthansa 15.300 Fluggäste betroffen. Nach Angaben des Konzerns hat aber die Mehrheit auf alternative Verbindungen und auch andere Verkehrsmittel, wie etwa die Deutsche Bahn, ausweichen können. Außerdem waren in München hunderte Hotelzimmer angemietet, im Transitbereich des Flughafens wurden zudem Übernachtungsmöglichkeiten eingerichtet. Der Lufthansa entstehen durch den Streik der Piloten Millionenkosten. Analysten sorgen sich wegen der anhaltenden Streiks um die Gewinnziele des Konzerns. Es war der dritte Streik in den vergangenen zwei Wochen. Die Pilotengewerkschaft ist mit der Beteiligung bisher zufrieden. Sie sieht sich nach eigener Darstellung zu "diesen weiteren Maßnahmen" gezwungen, weil der Konzern kein kompromissfähiges Angebot vorgelegt habe. Die Lufthansa kündigte an, ihre Offerte an die Piloten zu konkretisieren, also weitere Details zum bisherigen Angebot zu nennen. Das soll in der kommenden Woche geschehen. Streit um Vorruhestandsregelungen Hintergrund des Arbeitskampfes ist ein Tarifkonflikt, der schon seit Längerem schwelt. Dabei geht es vor allem um die Vorruhestandsregelungen für die Piloten. Die Lufthansa hat den bisherigen Tarifvertrag Ende vorigen Jahres gekündigt. Einige Details: Für die Fluglinie arbeiten rund 5.400 Piloten. Sie gehen derzeit im Durchschnitt mit knapp 59 Jahren in den Vorruhestand, den das Unternehmen bezahlt. Die Piloten bekommen dann bis zum Beginn der gesetzlichen Rente bis zu 60 Prozent ihres letzten Bruttogehaltes. Die Lufthansa möchte nun das Durchschnittsalter schrittweise von 59 auf 61 Jahre erhöhen. Sie verweist dabei auch auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach dem Piloten grundsätzlich sogar bis zum Alter von 65 Jahren fliegen können - sofern sie fit bleiben. Neu eingestellte Piloten sollen die Kosten für die Frühverrentung fortan selbst tragen. Die Piloten befürchten einen "sozialen Kahlschlag" und möchten den Status quo erhalten. Die Gewerkschaft hält es für unsolidarisch, neue Kollegen deutlich schlechter zu stellen als langjährig Beschäftigte. Grundsätzlich ist die Gewerkschaft aber bereit, Kostensenkungen zu akzeptieren. (jsc/hba/pr)
null
Mehr als 15.000 betroffene Passagiere und über 140 abgesagte Kurz- und Mittelstreckenflüge. Das ist die Bilanz des achtstündigen Streiks der Lufthansapiloten. Schon seit dem Morgen waren Flüge ausgefallen. Die Lufthansa geht davon aus, dass morgen wieder alles nach Plan läuft.
"2014-09-10T08:33:00+02:00"
"2020-01-31T14:02:59.429000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pilotenstreik-viele-ausfaelle-und-millionenkosten-100.html
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Immer nur lächeln, immer vergnügt?
Verschiedene Bilder sind am 06.01.2014 in der Ausstellung "Entartete Musik" in der Tonhalle in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) auf einer Stellwand zu sehen. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd) Rundfunk und Film waren willige Vollstrecker dieser offiziösen Verweigerung. Jüdische Komponisten, wie Schönberg, Weill, Korngold, Hollaender, Nelson, May, Abraham durften ihre Werke nicht mehr aufführen. Auch sie wurden verfemt, verdrängt, verboten. Doch auch Nichtjuden traf die Ächtung der Nationalsozialisten: der "atonale" Hindemith erhielt Aufführverbot, der "Niggermusik" schreibende Ernst Krenek ebenso, verpönt waren die Lieder der "Eunuchen", der Comedian Harmonists, die Songs der "Vaterlandsverräterin" Marlene Dietrich. Zwischen zackigen Aufmärschen und Operettenseeligkeit vollzog sich der Niedergang der Musikkultur unter den Augen und dem Beifall einer breiten Öffentlichkeit. Im bewussten Kontrast zu einer Auswahl sogenannter entarteter Musik dokumentiert die Lange Nacht diesen Prozess in Originaltönen und -dokumenten. Produktion: Deutschlandradio 2000 Musik und Rassenfrage In den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Musik in Deutschland grundlegend. Komponisten wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Kurt Weill, Ernst Krenek oder Erich Wolfgang Korngold prägten das Musikleben und führten es zu neuen Höhepunkten. Nie zuvor war die Kunst der Sängerinnen und Sänger und der Instrumentalvirtuosen so vollkommen. Nie zuvor verlangte ein auf dem Vulkan tanzendes Publikum so exzessiv nach neuen Schlagern, Operetten, Revuen, Filmen. Es förderte damit die Musik eines Friedrich Hollaender, eines Rudolf Nelson, Hans May, Paul Abraham, Leo Fall und vieler anderer. Die "cross-over"-Tenöre Richard Tauber und Joseph Schmidt feierten Triumphe. Die Comedian Harmonists hatten kometenhafte Erfolge, Lotte Lenya und Marlene Dietrich begannen ihre Weltkarrieren. Nicht unerwartet, da seit Jahren von ihnen angekündigt, beendeten die deutschen Nationalsozialisten, nach ihrer Machtübernahme 1933 die Vielfalt in der deutschen Musik. Musik wurde zur Rassenfrage. Willig folgte die große Mehrheit der Deutschen ihren ideologischen Führern Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg und das auch bei dem Vorhaben, das sogenannte jüdische Element in der deutschen Musik auszumerzen. Doch nicht nur deutsche Staatsbürger jüdischer Herkunft standen unter dem Bann des nationalsozialistischen Rassenwahns - alles "Undeutsche" war zu vernichten. So traf es auch den Komponisten Paul Hindemith wegen seiner atonalen Werke, es darf den "Niggermusik" komponierenden Ernst Krenek, die als "Eunuchen" verschrieenen Comedian Harmonists und die "Vaterlandsverräterin" Marlene Dietrich. Buchtipp: Michael H. Kater Die mißbrauchte Muse Musiker im Dritten Reich Europa Verlag 1998 Eva Weissweiler Ausgemerzt! Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen Ditrrich Verlag 1999 Unliebsame Komponisten Der jüdische Komponist Gustav Mahler, mit dem der Aufbruch in ein neues Musikjahrhundert begann, starb am 19. Mai 1911 in Wien an einer Krankheit des Herzens. Der jüdische Komponist Alexander Zemlinsky emigrierte 1938 über Prag in die USA, wo er am 15. März 1942 in Larchmont (New York) starb. Der in einer jüdischen Familie geborene Felix Mendelssohn-Bartoldy wurde bereits als Kind getauft und christlich erzogen. Seine Kompositionen waren im 19. Jahrhundert wegweisend. Der arische aber "undeutsche" Komponist Paul Hindemith zog sich 1938 in die Schweiz zurück und emigrierte 1940 in die USA. Alban Berg - nach nationalsozialistischer Terminologie ein "Arier" - ein Schüler Arnold Schönbergs. Als atonaler Komponist war er den Nationalsozialisten verhasst. Seine Opern Wozzeck und Lulu gehören wegen ihrer kompositorischen Vollendung zu den herausragenden Zeugnissen des Musiktheaters im 20. Jahrhundert. Berg starb am 24. Dezember 1935 an einer Blutvergiftung in Wien. Die Dreigroschenoper wurde ein triumphaler Erfolg: 200 Aufführungen in einer Spielzeit allein in Berlin! Voll Hass verfolgten die Nationalsozialisten den Komponisten Kurt Weill - nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten ein "Jude". Er emigrierte, begleitet von seiner Frau Lotte Lenya über Paris und London 1935 nach New York. Mit seinen Musicals reihte er dort Erfolg an Erfolg. Er starb am 3. April 1950. Arnold Schönberg "erfand" die sogenannte atonale Zwölftönemusik und damit den vermeintlichen Untergang des "germanischen Dreiklangs". Die deutschen Nationalsozialisten verfolgten ihn, ihn und sein Werk. Er emigrierte 1933 in die USA und starb am 13. Juli 1951 in Los Angeles. Der nach nationalsozialistischer Rassenideologie arische Ernst Krenek wurde mit seiner Jazzoper "Jonny spielt auf", die ein Sensationserfolg war, zum vielgeschmähten Komponisten von "Niggermusik". Als "undeutsch" und "entartet" eingestuft, emigrierte der Österreicher Ernst Krenek1938 in die USA, wo er bis zu seinem Tode 1991 in Palm Springs in Kalifornien lebte. Berthold Goldschmidt komponierte und dirigierte in Hamburg, Berlin und Darmstadt, bis er als Jude verfemt 1935 nach England emigrierte. Nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland feierte der Deutschland vergessene Komponist 1994 ein triumphales Comeback mit seiner Oper "Der gewaltige Hahnrei". Goldschmidt starb dreiundneunzigjährig am 17. Oktober 1996 in London. Erich Wolfgang Korngold wuchs als musikalisches Wunderkind auf. Seine Oper "Die tote Stadt" war ein Sensationserfolg in den 20er Jahren. 1934 emigrierte er, in Deutschland als "Jude" ausgegrenzt in die USA, wo er als Filmkomponist große Erfolge feierte. Otto Klemperer, geboren am 15. Mai 1885 in Breslau, Dirigent und Komponist. Emigriert 1935 in die USA. Später wird er israelischer Staatsbürger. Richard Strauss war in der 1. Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der erfolgreichste deutsche Komponist. Er arrangierte sich zunächst mit den nationalsozialistischen Machthabern. Er wurde 1935 als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen und von den Nazis wegen seiner jüdischen Verwandtschaft erpresst. Ausgrenzung Die Verfemung und Ausgrenzung der - im Jargon der Nazis - "Musikjuden" und ihrer Werke erfolgt "legal" auf der Basis von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen. Bereits im April 1933 wird das Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen; Damit werden alle sogenannten Nichtarier vom Staatsdienst ausgeschlossen. Sofort entlassen werden alle jüdischen Professoren an den Musikhochschulen, die jüdischen Generalmusikdirektoren, Intendanten, Dirigenten, Dramaturgen und ihrer jüdischen Mitarbeiter an den Theatern und Opernhäuser. Die jüdischen Musiker in den Staats- und Landesorchestern verlieren umgehend ihre Stellen. Die Flut der einschränkenden, schikanösen, später auch tödlichen Gesetze und Verordnungen sind unter dem Begriff "Das Sonderrecht für Juden im NS-Staat" gesammelt und füllen mehrere dickleibige Bände. 1938 haben es die deutschen Rassisten geschafft: Juden sind aus dem Musikleben verdrängt, sie dürfen vor "arischem" Publikum nicht mehr auftreten, die Aufführung der Musik jüdischer Komponisten vor solchem Publikum ist verboten. Juden dürfen öffentliche Konzerte als Zuhörer nicht länger besuchen. "Entartete Musik" Eine abschreckende Schau soll die Ausstellung "Entartete Musik" auf den Reichmusiktagen im Mai 1938 in Düsseldorf sein. Staatsrat Dr. Hans Severus Ziegler, Intendant am Staatstheater in Weimar, überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde, Hitlerverehrer auch noch zwanzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, zeichnete für die Ausstellung verantwortlich. Er sagte in seiner Eröffnungsrede: "Was in der Ausstellung Entartete Musik zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbath und des frivolsten geistig-künstlerischen Kulturbolschewismuses dar und ein Abbild des Triumphes von Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung." Herbert Gerigk war Leiter des Amtes Musik, einer Unterabteilung des Amtes Rosenberg. Seine Mitarbeiter koordinierten und überwachten die Ausgrenzung der sogenannten "Musikjuden". Auf Betreiben Gerigks erscheint 1940 das "Lexikon der Juden in der Musik." Mit dieser Publikation sollte sichergestellt werden, dass die deutsche Musik rein, "judenrein" wird. Selbst jüdische Klavierlehrerinnen sind aufgeführt und dürfen nicht mehr unterrichten: arisch soll sie sein, die Musikerziehung der deutschen Jugend. Häufig führt der Eintrag in dieses Lexikon zur späteren Deportation der Aufgelisteten. Von 1933-1940 emigrieren 262.000 Deutsche aus jüdischen Familien aus Deutschland. Unter ihnen sind auch sogenannte "Musikjuden". Die Stellen der verleumdeten Komponisten, Interpreten und Lehrer im Musikbetrieb werden frei und schnell besetzt. Von Nachrückern, die nun vorrücken und ungehindert Karriere machen. Darunter manch einer, der wie Werner Egk, Carl Orff, Karl Böhm und Herbert von Karajan, auch nach dem Dritten Reich die Glanzlichter im Musikleben setzt... Buchtipp: Jens Malte Fischer Richard Wagners 'Das Judentum in der Musik' Insel Taschenbuch 2000 Alfred A. Fassbind Joseph Schmidt Ein Lied geht um die Welt - Spuren einer Legende Eine Biographie, Schweizer Verlagshaus 1992 Donald Spoto Marlene Dietrich Die große Biographie Heyne Filmbibliothek 2000 Eberhard Fechner Die Comedian Harmonists Sechs Lebensläufe Heyne Verlag 1999 Die Bedeutung des Rundfunks Der Rundfunk war nach den gleichgeschalteten Zeitungen das zweite Massenmedium, welches die Nationalsozialisten für ihre Zwecke nutzten. Goebbels betonte immer die große Wichtigkeit des Rundfunks bei der schnellen und direkten Beeinflussung der Bevölkerung. Die Verbreitung des preiswerten "Volksempfängers", mit dem nur das deutsche Radioprogramm empfangen werden konnte, wurde deshalb vom Staat nachhaltig gefördert. Der Rundfunk war - wie sein Reichsintendant Heinrich Glasmeier stolz anmerkte - die Institution, die am schnellsten "judenrein" war. Die Programme wurden einheitlich an der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichtet die Mitarbeiter darauf eingeschworen. Der Druck auf die sogenannten "Musikjuden" machte selbst vor dem Unterhaltungsbereich nicht halt. Auch hier waren Juden und ihre Werke auszumerzen, auch hier musste gegen die "Niggermusik" vorgegangen werden, ein spezielles Anliegen des Reichsleiters der NSDAP Alfred Rosenberg.Die Ausschaltung des vermeintlich Artfremden, Entarteten, Undeutschen gelang so auch in der Unterhaltungsmusik und im Film. Sicher wurden im Privaten die beliebten Melodien weiter gesummt, aus der Öffentlichkeit aber waren sie verbannt. Die Situation nach Kriegsende Wer nun glaubt mit dem Ende des Dritten Reiches sei der Ruin der deutschen Musikkultur beendet gewesen, der irrt. Viele Deutsche waren nicht bereit, die Emigranten - sofern sie zurückkehrten - freundlich und wohlgesonnen zu begrüßen. Auch die mehr als ein Jahrzehnt ausgegrenzte Musik fand nur schwer in den "Musikbetrieb" zurück. Natürlich wurden Offenbach und Mendelssohn sofort wieder gespielt, aber Gustav Mahler - dessen Werk heute gut die Hälfte der Konzertprogramme der großen Orchester ausmacht - bedurfte der "Wiedereinführung" durch berühmte amerikanische Dirigenten und Orchester. Ein vom Publikum enttäuschter Erich Wolfgang Korngold zog sich 1955 endgültig in die USA zurück. Der bis 1933 vielgespielte und gefeierte Karol Rathaus wurde nach 1945 im Rundfunk und in Konzertprogrammen kaum mehr beachtet. Gäbe es nicht einige Bemühungen wie die des Vereins musica re animata, gäbe es nicht die Einspielungen in der Reihe Entartete Musik des DeutschlandRadios und gelegentliche Musikfestivals, die sich im Rahmen moderner Musik auch der verfemten deutschen Komponistenaus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts annehmen, wäre das Vorhaben der Nationalsozialisten, das sogenannte Judentum in der Musik auszumerzen, tatsächlich weitgehend gelungen. CD-Empfehlungen: Entartete Musik Willkommen in Deutschland - ein GedenkkonzertDie Toten Hosen mit dem Sinfonieorchester der Robert Schumann Hochschule Kurt Weill Die Dreigroschenoper Capriccio the klemperer legacy Klemperer - Merry Waltz Weill - Kleine Dreigroschenmusik Hindemith - Nobilissima visione EMI Classics Mahler Das Lied von der Erde Dirigent: Otto Klemperer EMI Classics Alexander von Zemlinsky Sämtliche Orchesterlieder Dirigent: James Conlon EMI Classics the klemperer legacy A Midsummer Night´s Dream Felix Mendelssohn-Bartholdy EMI Classics a midsummer nights dream Erich Wolfgang Korngold Max Reinhardt cpo Kurt Weill Mahagonny-Suite Dirigent: Frank Pter Zimmermann EMI Classics Marlene Dietrich Mythos und Legende EMI Comedian Harmonists Original Musik aus dem Film EMI Comedian Harmonists Die großen Erfolge 2 EMI Joseph Schmidt Sämtliche EMI-Aufnahmen, Vol. 2 EMI Classics Eine nationalsozialistische "Karriere": Carl Orff Der Höhenflug den Carl Orff in der Zeit des Dritten Reiches als Komponist erlebte, übertraf die Erfolge seines Freundes Egk bei weitem. Über den Opportunisten Orff sagt Michael Kater: Orff engagierte sich im Kulturbetrieb des Dritten Reiches, und zwar so sehr, dass seine künstlerische und persönliche Integrität ins Zwielicht geraten musste. Das geschah durch seine Neuvertonung von Shakespeares Sommernachtstraum. Der Auftrag dazu wurde ihm vom Frankfurter NS-Kreisleiter Dr. Fritz Krebs erteilt, dem schon die Uraufführung der Carmina Burana sehr gefallen hatte. Orff wurden im Frühjahr 1938 fünftausend Mark angeboten; trotz Zeitdruck willigte er ein, und am 14. Oktober 1939 hatte das Werk unter Hermann Laternser auf der Frankfurter Opernbühne Premiere. Orff wusste genau, dass diese Auftragsarbeit das Ziel hatte, "den nicht arischen Mendelssohn aus dem Geschäftsleben ausscheiden zu lassen," wie sich sein Verleger ihm gegenüber einmal ebenso zynisch wie unmißverständlich äußerte. Der von Antisemitismus gewiß nicht freie Hans Pfitzner hatte ein solches Ansinnen rundweg abgelehnt, und auch Richard Strauss hatte verächtlich angemerkt: "Herr Rosenberg predigt nach wie vor Weltanschauung: Resultat eine neue Musik zum Sommernachtstraum." Bereits im Sommer 1941 begann Baldur von Schirach, Gauleiter in Wien Gespräche mit Orff wegen eines "Werkvertrags", der den Komponisten auf Jahre hinaus finanziell absichern, zugleich aber der Wiener Bühne Auftragsarbeiten von Orff garantieren sollte. Orff schloß für 1000 RM im Monat mit Wien ab und nahm als ersten Auftrag die Oper "Antigonae" entgegen, zu der bereits seit Anfang 1941 feste Pläne bestanden. Orff erhielt aus Wien bis zum Ende des Krieges 36.000 Mark und schien zum ersten Male in seinem Leben wirtschaftlich auf festen Füßen zu stehen. Doch dann kam die Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur und Orff stand, wie viele seiner Freunde und Kollegen, künstlerisch und beruflich vor dem Nichts. Die alliierten vier Besatzungsmächte hatten im Frühjahr 1945 kaum eine Vorstellung von der Funktion der kulturellen Elite im Dritten Reich, weder im positiven noch im negativen Sinne. Die amerikanische Militärregierung in Bayern versuchte, ehemalige Nationalsozialisten zu identifizieren und zugleich sollten progressive deutsche Kräfte die zwölf Jahre lang totalitär strukturierten Institutionen demokratisieren.Michael Kater schreibt in "Die mißbrauchte Muse": "Orff erkannte, dass er sich während des Regimes in sehr konkreten Punkten mehr als notwendig kompromittiert hatte, er zog offenbar die Möglichkeit in Betracht, sich vor der amerikanischen Militärregierung auf einen Schlag reinzuwaschen: Konnte er sich nicht als Opfer des Nazismus darstellen und damit den lästigen und möglicherweise nachteiligen Prozeduren der Entnazifizierung entgehen? Also behauptete Orff, er sei von den NS-Behörden wegen des "undeutschen" Charakters seiner Kompositionen und seiner Sympathie für die Juden verfolgt worden. Und obendrein erzählte er 1946 einem Offizier der amerikanischen Besatzungsbehörden, dass er Gründungsmitglied der Widerstandgruppe "Weiße Rose" unter der geistigen Führung des Münchner Professors Kurt Huber gewesen sei, deren Mitglieder 1943 fast alle verhaftet, des Hochverrats angeklagt und hingerichtet worden waren." Gestützt auf diese Aussage und ohne weiteres Aufhebens stuften die Amerikaner Orff als einen "Mitläufer" der harmloseren Art ein und erlaubten die Uraufführung seines soeben beendeten bayrischen Stücks "Die Bernauerin" im Juni 1947 in Stuttgart mit seiner Tochter Godela in der Titelrolle. "Orffs Geschichte war eine Erfindung. Er war niemals in die Verschwörung der "Weißen Rose" eingeweiht. Und Orffs Witwe Gertrud bestätigt: "Orff war nicht dabei, nicht verwickelt." Orff setzte seine Karriere in der Bundesrepublik Deutschland nahtlos fort. Eine Auseinandersetzung über sein Verhalten im Dritten Reich fand nicht statt. Die Verdrängung dauert bis heute an: Nur so ist es zu erklären, dass sich das Bundesland Bayern auf der Expo 2000 in Hannover während seiner "Länderwoche" mit Werken von Werner Egk und besonders auffällig mit Kompositionen von Carl Orff, darunter auch seiner Oper "Die Bernauerin", präsentierte. Wie deutsch ist die Musik? Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung in der Musikwissenschaft Von Eckhard John, in : Neue Zürcher Zeitung, 28.10.2000 Über Jahrzehnte war die nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Musikwissenschaft tabuisiert. Inzwischen gibt es einige Ansätze der Vergangenheitsbewältigung, wovon nicht zuletzt eine Reihe von Neuerscheinungen zu diesem Thema zeugt. Die Publikationen sind allerdings von sehr unterschiedlichem Ertrag.
Von Helmut Braun
Der Rassenwahn der Nationalsozialisten machte auch vor der Musik nicht halt. Rein sollte die deutsche Musik sein, rein von allem Undeutschen, Nichtarischen. Die jüdischen Musiker, die Dirigenten, die Sänger und Sängerinnen, die Intendanten, verloren ihre Anstellungen.
"2016-01-30T23:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:31.953000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-vom-niedergang-der-musikkultur-im-dritten-100.html
589
Internet Engineering Task Force reagiert gelassen auf Spionagevorfälle im Netz
Das gesamte Gespräch können Sie bis mindestens 3. Januar 2014 im Bereich Audio on Demand nachhören.
null
In Berlin fand nun die Internet Engineering Task Force statt, eine Konferenz, die sich mit der technischen Entwicklung des Netzes beschäftigt. Computerjournalist Peter Welchering erläutert im Gespräch, warum die IT-Fachleute auf die neuen Enthüllungen über das Überwachungsprogramm XKeyscore nicht besonders überrascht reagierten.
"2013-08-03T16:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:29:17.590000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/internet-engineering-task-force-reagiert-gelassen-auf-100.html
590
"Wir müssen kritischer sein"
Polizisten stehen außerhalb des Gebäudes in Kiew, in dem der russische Journalist Arkadij Babtschenko angeblich ermordet sein sollte. Erst später wurde bekanntgegeben, dass es sich um Inszenierung handelte. (picture alliance / Stringer/Sputnik/dpa) Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag aus unserer Sendung vom 30. Mai gibt den Stand von 15 Uhr 35 wieder. Erst eine Stunde später, gegen 16 Uhr 30, war Babtschenko auf einer Pressekonferenz zu sehen. Weitere Details im laufenden Programm des Deutschlandfunks, unter deutschlandfunk.de und am Donnerstag auch bei @mediasres. Der langjährige Russland-Korrespondent Boris Reitschuster erkannte zum Zeitpunkt der Interviewaufzeichnung in der Berichterstattung über die Ermordung des Kreml-kritischen Journalisten Arkadij Babtschenko eine "Überforderung des Journalismus". Auch deutsche Medien müssten umdenken, sagte Reitschuster im Dlf. Antje Allroggen: Waren Sie überrascht der Ermordung Arkadij Babtschenkos? Boris Reitschuster: Überrascht ist der falsche Ausdruck. Ich war entsetzt. In diesen Zeiten, wenn man schon erlebt hat, dass viele der eigenen Freunde und Bekannten umgebracht werden, viele, die sehr kritisch sind, da erwartet man leider das Schlimmste. Man ist gefasst darauf, aber wenn man es hört, wirft es einen dann doch völlig um. Ich war gerade noch im April das letzte Mal mit Arkadij zusammen auf einer Konferenz, da haben wir uns dann auch ausgetauscht. Allroggen: Hat er da irgendwelche Andeutungen gemacht, dass er sich auch in der Ukraine nicht mehr sicher gefühlt hat? Reitschuster: Er hat oft solche Andeutungen gemacht, und als ich ihn nach seiner Sicherheit fragte, da kämpfte er mit den Tränen. Man muss ihn kennen, um das zu wissen, weil er sich sehr abgekühlt immer gab. Und er sagte: Boris, was willst Du in Russland? Da sind schon Leute ins Gefängnis gekommen, nur weil sie Posts von mir aus den sozialen Netzwerken geteilt haben. Allroggen: Das heißt, er selber hat sicherlich damit gerechnet, dass ihm was passieren könnte. Die Anfeindungen gegen ihn in Russland gingen ja ziemlich weit. Es gibt sogar ein Onlinespiel, das dazu auffordert, Babtschenko als "Feind des Vaterlandes" zusammenzuschlagen. Und Sie haben nun anlässlich seines Todes in den sozialen Medien kritisiert, dass eigentlich kaum daran erinnert worden ist, dass er ein vehementer Kreml-Kritiker war. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung in der Berichterstattung? Reitschuster: Mir ist das sehr negativ aufgefallen, zum Beispiel bei "Spiegel Online" war das so, teilweise auch im Radio, wo es zum Teil absurde Schlagzeilen und Überschriften gab, die in meinen Augen eine völlige Thema-Verfehlung darstellten. "Von den angelsächsischen Medien lernen" Allroggen: Haben Sie Beispiele? Reitschuster: Zum Beispiel bei "NDR Info" war die Schlagzeile heute: In der Ukraine ist erneut ein regierungskritischer Journalist erschossen worden. Für den flüchtigen Zuhörer klingt das so, als ob in der Ukraine Ukraine-kritische Journalisten in Gefahr sind. Und das ist extrem irreführend, auch in "Spiegel Online" war gestern die Schlagzeile "Russischer Journalist in Kiew erschossen. Er zählte zu den bekanntesten Kriegsreportern Russland. Hintergründe sind noch unklar." Und auch im Text war so gut wie gar kein Hinweis darauf, was für ein vehementer Putin-Kritiker er war. Wie er massiv unter Druck war. Dass er einen Tag vor seiner Ermordung noch in den sozialen Netzwerken darauf aufmerksam gemacht hat, dass eine Vertrauensperson von Wladimir Putin im Internet zu seinem Mord aufgerufen hat. Ich sehe hier keine böse Absicht. Ich sehe hier eine Überforderung des Journalismus, weil wir mit Russland umgehen im 08/15-Modus, im Schönwetter-Modus. Mit einem autoritären System, das ständig Recht bricht, dürfen wir aber nicht so umgehen. Das Problem haben wir seit 15 Jahren. Das war schon beim Prozess gegen Putin-Kritiker Michail Chodorkowski so, dass in den westlichen Medien oft darüber berichtet wurde, als sei es ein normaler Steuer-Strafprozess. Wir müssen da umdenken, wir müssen kritischer sein. Und viele Medien machen das ja auch schon, auch hier in Deutschland könnten wir aber noch was von den angelsächsischen Medien lernen. Allroggen: Babtschenko ist ja nicht der erste Journalist, Sie haben es ja gerade auch erwähnt, der auch in der Ukraine ermordet worden ist. 2015 und 2016 hat es da ähnliche Fälle gegeben, beide Morde konnten nicht aufgeklärt werden. Und sein Fall erinnert auch an den Mord an der Russland-kritischen Journalistin Anna Politkowskaja. Auch sie schrieb ja Reportagen und Bücher über den Krieg in Tschetschenien. Müssen wir uns da auf eine Fortsetzung dieser Kette gefasst machen? Reitschuster: Leider ja. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Igor Eidman, russischer Soziologe, Oppositioneller im russischen Exil. Und Igor Eidman war entsetzt, weil, er sagte: Bislang kamen die Kreml-Kritiker ums Leben, die entweder früher im System waren und als Verräter galten oder die konkret irgendwelche Enthüllungen betrieben. Arkadij Babtschenko, sagte er, sei der erste Fall, wo jemand umgebracht wurde, nur weil er lautstark das System kritisierte, ohne dass er irgendwelchen empfindlichen Enthüllungen gemacht hätte, wie Anna Politkowskaja. Ich sehe hier tatsächlich eine Eskalation. Ich halte es für ganz, ganz wichtig, dass vom Westen eine entschiedene Reaktion kommt. Ich denke, das Fehlen von entschiedenen Reaktionen auf all die anderen Morde, ist für diejenigen, die das tun, eine Ermutigung. Und man muss ganz klar sehen, wir werden wohl nie erfahren, wer die Täter waren; vielleicht den Mörder selber, aber nicht der Auftraggeber. Aber: Ich sehe eine ganz klare politische Verantwortung beim System Putin, wenn man solchen Hass schürt auf Kritiker, wenn man sie de facto für vogelfrei erklärt. Der russische Journalist und Autor Arkadij Babtschenko im November 2015 in Stockholm, Schweden. (picture alliance / DPR / Marcus Ericsson) "Nicht alle sind glücklich, wenn kritisch berichtet wird" Allroggen: Boris Reitschuster, Sie waren ja selber 16 Jahre lang in Moskau als Büroleiter des "Focus". Jetzt nicht mehr. Ist das auch einer der Gründe? War die Arbeit für sie zu gefährlich, dass Sie es jetzt vorziehen, aus Deutschland heraus Kreml-kritisch zu schreiben? Reitschuster: Das war der entscheidende Grund. Dass es Drohungen gab. Dass der Rückhalt aus Deutschland auch zu schwach war. Und wenn man Wladimir Putin massiv kritisierte, wenn man sich nicht darauf beschränkt, dass er kein lupenreiner Demokrat ist, sondern wenn man diese Mafiaverbindungen anspricht, wenn man sagt, das ist ein mafiöses Regime, dann kommt man leider massiv unter Druck. Und man muss nur meinen Namen in den sozialen Netzwerken bzw. im Internet googlen und dann sieht man, wie viel Schmutz, wie viel Verleumdung es da gibt. Ich halte das für ein großes Problem, dass Putin-Kritiker derart mit Hass und mit Verleumdung überzogen werden. Allroggen: Wenn ich richtig informiert bin, arbeiten Sie jetzt nicht mehr für den "Focus". Darf ich fragen, hatte der "Focus" auch Probleme mit Ihrer Art der Berichterstattung aus Moskau heraus? Reitschuster: Ich möchte darauf diplomatisch antworten: "Focus" gehört zum Burda-Verlag. Burda ist der größte Verlag in Russland. Und nicht alle sind da glücklich, wenn kritisch berichtet wird. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Boris Reitschuster im Gespräch mit Antje Allroggen
Der angeblich in Kiew ermordete russische Journalist Arkadi Babtschenko lebt. Ein ukrainischer Sender übertrug am Nachmittag Bilder von einer Pressekonferenz des dortigen Geheimdienstes mit dem 41-Jährigen. Unser Interview mit dem langjährigen Russland-Korrespondenten Boris Reitschuster stammt vom Mittag, als die Öffentlichkeit noch von Babtschenkos Tod ausging.
"2018-05-30T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:54:33.519000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-ueber-russland-wir-muessen-kritischer-sein-100.html
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"Es sind die Werte, die Europa ausstrahlt"
Christiane Kaess: Werner Schulz ist für die Grünen im Europäischen Parlament und dort Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Guten Morgen! Werner Schulz: Schönen guten Morgen. Kaess: Herr Schulz, sind Sie auch so optimistisch, dass die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU bald unterzeichnen wird? Schulz: Ich hoffe das sehr, dass das bald passiert, weil das ist ja der Wunsch all der Leute, die sich auf dem Maidan versammelt haben - also nicht nur allein dieser Wunsch, das geht ja jetzt schon weiter. Man möchte das ganze korrupte System los werden. Aber entzündet hat sich ja der Protest daran, dass man das Assoziierungsabkommen nicht unterschrieben hat. Kaess: Würde das denn den Konflikt überhaupt lösen, den Konflikt in der Ukraine mit der Opposition? Schulz: Ich glaube, der Konflikt ist jetzt tiefer. Es ist nicht mehr nur das Assoziierungsabkommen. Wie gesagt, das war der Auslöser und es entscheidet über die Zukunft der Ukraine, und die vielen Menschen, die jetzt auf diesem Euro-Maidan sind und ein klares Bekenntnis zu Europa, zu dieser Integration abgeben, die möchten natürlich, dass ihre Zukunft in der Anbindung an Europa liegt. Aber sie wollen vor allen Dingen in einem Staat leben, der verlässliche Regeln hat, Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Werte, die Europa ausstrahlt, und es ist weniger jetzt das Geld oder die wirtschaftliche Hilfe. Klar, das ist für die Regierung wichtig, um aus der wirtschaftlichen Krise herauszukommen. Aber man wünscht sich auch ein anderes System. Man möchte diese Kleptokraten los werden. Kaess: Zumindest wünscht sich das ein Teil der Bevölkerung. Das, denke ich, muss man immer dazu sagen. Nun steht das Gesprächsangebot von Janukowitsch an die Opposition. Sollte sie annehmen ohne Bedingungen? Schulz: Es gibt ein paar Rahmenbedingungen zu klären, wenn man einen Runden Tisch einrichtet. Ich habe ja selbst Erfahrungen damit und war am Runden Tisch der friedlichen Revolution 1989, den wir in Berlin nach den Leipziger Demonstrationen ja eingerichtet haben. In der Ukraine gibt es einige Rahmenbedingungen, die man durchaus vorher klären muss. Zum einen müssen die Inhaftierten freigelassen werden, die sind zu Unrecht verhaftet worden. Es ist dieses Damoklesschwert zurückzunehmen, dass Demonstrationen im Zentrum von Kiew verboten sind. Es gibt ja einen Gerichtsbeschluss, dass man auf diesem Maidan nicht mehr demonstrieren darf. Das ist zurückzunehmen und ebenso diese Untersuchungen gegen Oppositionelle, dass sie einen Aufruhr anschüren würden. Das muss zurückgenommen werden. Alle anderen Forderungen, alle anderen Konfliktpunkte müssen dann am Runden Tisch besprochen und verhandelt und ausgehandelt werden. Kaess: Der Rücktritt der Regierung gehört nicht zu diesen Rahmenbedingungen? Schulz: Der Rücktritt der Regierung ist eine Forderung, die am Runden Tisch geklärt werden muss und gestellt werden muss. Möglicherweise wird man einen Kompromiss finden oder einen Ausweg, oder die Regierung ist mittlerweile so schwach geworden, dass sie einsieht, dass sie sich ohne große Strafverfolgung zurückziehen kann. Man muss ja vermeiden, dass es in der Ukraine nicht zu so einer Revanche Timoschenko kommt, dass Timoschenko freikommt und Janukowitsch ins Gefängnis kommt. Damit hört ja praktisch dann so ein Rachefeldzug nicht auf. Kaess: Sagt Werner Schulz, für die Grünen im Europäischen Parlament, Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Danke für diese Stellungnahme heute Morgen. Schulz: Bitte schön - auf Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Werner Schulz im Gespräch mit Christiane Kaess
Er sei optimistisch, dass die Ukraine das Assoziierungsabkommen noch unterzeichnen werde, sagt der Europaabgeordnete Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) im DLF. Das Abkommen sei jedoch nur Auslöser der Proteste gewesen, die ukrainischen Demonstranten forderten vor allem Rechtsstaatlichkeit.
"2013-12-12T07:25:00+01:00"
"2020-02-01T16:50:31.549000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-es-sind-die-werte-die-europa-ausstrahlt-100.html
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"Alltagsrassismus ist ein Problem"
Christoph Heinemann: Wirbel um Jörg-Uwe Hahn: In einem Interview mit der "Frankfurter Neuen Presse" war der hessische FDP-Landesvorsitzende gefragt worden, ob die Debatte um den Parteivorsitzenden Philipp Rösler beendet sei. Antwort Hahn:"Ja, wir werden sicherlich noch eine kleine Personaldebatte bekommen über die Frage der Besetzung des FDP-Präsidiums auf Bundesebene auf dem Sonderparteitag Anfang März, also ob Herr Niebel und Herr Kubicki etwa noch mal eine Rolle spielen. Bei Philipp Rösler würde ich allerdings gerne wissen, ob unsere Gesellschaft schon so weit ist, einen asiatisch aussehenden Vizekanzler auch noch länger zu akzeptieren."Heinemann: Jörg-Uwe Hahn ist übrigens Minister für Justiz und Integration in Hessen. Am Telefon ist jetzt Lasse Becker, der Vorsitzende der Jungliberalen. Guten Morgen!Lasse Becker: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann!Heinemann: Herr Becker, haben die Wählerinnen und Wähler in Deutschland ein Problem mit einem asiatisch aussehenden Vizekanzler?Becker: Ich glaube, nicht alle, aber schon einige. Wenn ich am Wahlkampfstand stehe und so was höre wie, wir würden euch ja wählen, wenn ihr den Chinesen abwählt, oder wir würden euch wählen, wenn da nicht der Chinese wäre, dann ist das ein Problem, was wir haben, und das gibt es auch an anderen Beispielen. Ich habe jetzt gesehen, das wurde mir auch noch mal mitgeteilt als Beispiel, dass in Leipzig das FDP-Wahlkreisbüro beschmiert wurde mit "Schmeißt den Fidschi raus", eindeutig bezogen auf Philipp Rösler. Das ist Rassismus. Und ehrlich gesagt finde ich es da auch rassistisch, wenn danach die Linke, genauso wie die Grünen, genauso wie die SPD schweigen dazu vor Ort und man jetzt so tut, als wäre irgendeine angestoßene Diskussion – mit zugegebenermaßen einer blöden Wortwahl – das eigentliche Problem. Das Problem ist der Alltagsrassismus in Deutschland, und den muss man auch mal ansprechen.Heinemann: Inwiefern ist die Wortwahl blöd?Becker: Ich glaube, es ist missverständlich. Jörg-Uwe Hahn, das sage ich als jemand, der ihn kennt, hat es gemeint – das sieht ja auch übrigens der Ausländerbeirat in Hessen so, die Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte hat Herrn Hahn dafür gedankt –, er hat es so gemeint, dass er sagen wollte: Wir müssen diese Diskussion in Deutschland führen. Die hessischen Ausländerbeiräte, Herr Di Bernedetto, der Ausländerbeirats-Vorsitzende, hat klar gesagt: Wir sind dankbar für die Diskussion. Nur genau, dass es so missverständlich ist, das ist in der Tat ärgerlich. Ich würde jetzt trotzdem lieber die sachliche Diskussion führen, ehrlich gesagt, weil ich glaube, dass wir dieses Alltagsrassismusproblem in Deutschland haben und dass mir, ehrlich gesagt, auch niemand erzählen kann, dass Cem Özdemir oder Tarek Al-Wazir von den Grünen, genauso wie Politiker mit Migrationshintergrund bei SPD oder CDU, noch nie einen blöden rassistischen Spruch bekommen haben. Im Gegensatz zu den Grünen sage ich bloß: Der Rassismus ist nicht besser, wenn er gegen die FDP ist – und das regt mich an der Debatte des gestrigen Tages furchtbar auf.Heinemann: Herr Becker, um noch mal die Wortwahl klarzustellen: Herr Hahn hätte also besser diejenigen geißeln sollen, die so etwas schreiben, die so etwas sagen, wie Sie es eben zitiert haben, anstatt die Akzeptanz des in Vietnam geborenen Philipp Rösler infrage zu stellen?Becker: Ja, ganz konkret, finde ich, kann man auch die Medien an der Stelle kritisch hinterfragen. Im vergangenen Jahr durften wir in einem "Spiegel"-Interview die Frage an Philipp Rösler lesen: "Wollten Sie nicht mal deutsch aussehen?" Da stelle ich mir die Frage: Ist das Rassismus? Ich finde ja, weil ich ganz ehrlich sage: Für mich sieht Philipp Rösler genauso deutsch aus wie Sie oder ich wahrscheinlich, und das ist schon ein Problem in der Gesellschaft, genau wie irgendwelche Morgenradio-Witze über den Fidschi oder eben im Zweifelsfall auch auf der anderen Seite ein Witz abends im Fernsehen, ob denn Philipp Rösler da die Stäbchen aus der Hand fallen, schon ein Problem mit Alltagsrassismus auch in den Medien zeigen, ich da sage: Ich finde das an den Stelle nicht gut, aber da sollte jeder sein eigenes Verhalten auch kritisch hinterfragen, und diese Diskussion müsste man dann halt auch führen.Heinemann: Witze, wie Sie sie im Deutschlandfunk nicht hören werden.Becker: Das stimmt.Heinemann: Noch mal zurück zum Alltagsrassismus: In Philipp Röslers Heimatland Niedersachsen hat das, was Sie als Alltagsrassismus beschreiben, ja rund zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht daran gehindert, überwiegend per Zweitstimme die FDP zu wählen.Becker: Das stimmt. Ich glaube auch, dass es ein relativ kleiner Anteil von Menschen ist, ich glaube nicht, dass das die Mehrheit ist, aber es ist in der Tat etwas, was in der Diskussion eine Rolle spielt und was man deshalb auch ansprechen sollte.Heinemann: Geht in der FDP die Debatte um Philipp Rösler jetzt von Neuem los?Becker: Nein. Das hat ja auch Jörg-Uwe Hahn klar gesagt. Das war in keiner Weise als irgendwie Personaldebatte gedacht. Wir haben ein Spitzenteam mit Rainer Brüderle als Spitzenmann für den Wahlkampf und mit Philipp Rösler als Parteivorsitzenden, und das ist, wenn Sie mich fragen, die beste Lösung, die wir dort haben könnten, davon bin ich heute noch genauso überzeugt wie an dem Tag, als ich im FDP-Bundesvorstand dafür meine Hand gehoben habe. Und jetzt sollten wir uns auf die Inhalte konzentrieren, weil ich auch ehrlich sage: Ich finde es schade, dass wir nicht darüber diskutieren, warum zum Beispiel Frau Roth von den Grünen mit dem iranischen Botschafter einmal abschlägt bei der Sicherheitskonferenz, laut lachend dabei – das sind für mich wesentlich inhaltlichere Fragen, über die ich auch mal gerne politisch reden würde, oder wie der europäische Haushalt jetzt wird, der am heutigen Tag diskutiert wird. Mich ärgert es, wenn wir nicht über Inhalte reden, sondern die ganze Zeit nur über irgendwelche politische Selbstbeschäftigung quer durch alle Parteien.Heinemann: Sie sagten gerade, keine Personaldebatte, ich darf Jörg-Uwe Hahn noch mal zitieren: "Wir werden sicherlich noch eine kleine Personaldebatte bekommen über die Frage der Besetzung des FDP-Präsidiums auf Bundesebene auf dem Sonderparteitag Anfang März, also", jetzt noch mal Zitat Hahn, "ob Herr Niebel und Herr Kubicki etwa noch mal eine Rolle spielen." Was ist das, wenn keine Personaldebatte?Becker: Na ja, wir werden bei dem Parteitag, das lässt sich nicht vermeiden, das sieht die Fraktion so vor, einen neuen Bundesvorstand wählen. Da muss sich Philipp Rösler, genauso übrigens wie Lasse Becker als Beisitzer im Bundesvorstand, der Wahl des Parteitags stellen. Ich finde, bei dem Parteitag dort müssen wir darüber diskutieren, das werde ich auch tun, nur da werde ich jetzt im Vorfeld nichts sagen, sondern werde es vor Ort beim Parteitag in Berlin sagen.Heinemann: Was wird aus Niebel und Kubicki?Becker: Wie gesagt, ich habe gerade gesagt, das klären wir beim Parteitag, da werden wir darüber sprechen. Ich habe da meine Vorstellungen, aber das muss nicht zwingend im Deutschlandfunk jetzt ausgeführt werden, sondern das können wir beim Parteitag in Berlin ansprechen.Heinemann: Herr Becker, Rainer Brüderle sieht sich dem Sexismusverdacht ausgesetzt, SPD, Grüne und Linke, das haben Sie selber geschildert, werfen Jörg-Uwe Hahn Rassismus vor. Muss man den Liberalen mal erklären, dass Freiheit auch Grenzen hat?Becker: Also da, muss ich sagen, finde ich die Debatte, wie Sie sie gerade aufziehen, etwas schwierig. Ich habe beim Thema Rassismus eben ja schon was gesagt, ich glaube, das wollen einige dort im linken Lager bewusst missverstehen. Ich sage auf der anderen Seite: Beim Thema Sexismus müssten Sie, was die konkrete Situation angeht, mit den Betroffenen vor Ort reden. Ich nehme bloß auch wahr, dass wir da ein gesellschaftliches Problem haben: Wenn zum Beispiel die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", ohne dass irgendjemand etwas dazu sagt, Mitglieder der Jungen Liberalen im Wahlkampf als Tittenblondinen bezeichnet, dann ist das offenster Sexismus, und wenn Sie mich fragen auch wesentlich härterer Sexismus als manche Frage der Dirndltauglichkeit, auch wenn das nicht mein Stil wäre, das gebe ich offen zu. Ich glaube, ehrlich gesagt, aber, dass die Diskussion um diese Frage Sexismus jetzt durch ist und werde deshalb auch sagen, dass wir in der Tat schauen müssen, dass wir das gesellschaftliche Problem bei beiden Feldern thematisieren, aber das hat nichts mit der FDP zu tun. Übrigens: Da habe ich auch die Rückmeldung bekommen quer durch alle Parteien, dass bei der Frage Umgang mit Frauen in der Politik alle Parteien in Deutschland, egal ob Grüne, SPD, Linke oder CDU, an manchen Stellen schwierigen Umgang haben. Und das ist, glaube ich, etwas, da sollten wir uns alle gemeinsam drum kümmern.Heinemann: Lasse Becker, der Vorsitzende der Jungliberalen. Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören!Becker: Gerne!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr auf dradio.de:Empörung über Rassismusdebatte der FDP - Wirbel um Aussage von Hessens FDP-Chef über Rösler
Lasse Becker im Gespräch mit Christoph Heinemann
Jörg-Uwe Hahn (FDP) muss sich nach seinen Äußerungen über das asiatische Aussehen von Parteichef Philipp Rösler gegen Rassismusvorwürfe wehren. Hahn habe sich missverständlich ausgedrückt, meint Parteikollege Lasse Becker und beklagt gleichzeitig den Alltagsrassismus in Deutschland.
"2013-02-08T08:20:00+01:00"
"2020-02-01T16:07:05.820000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alltagsrassismus-ist-ein-problem-100.html
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Keine Messe für die "Bestie"
Der Mafiaboss "Totò" Riina hat die letzten Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht (imago/stock&people) "Für uns hier war Totò Riina immer ein Gentleman! Er konnte niemandem etwas zu leide tun. Niemandem!" Und deshalb, meint dieser alte Mann aus der sizilianischen Kleinstadt Corleone, sei es unbegreiflich, dass die katholische Kirche Totò Riina bei seinem letzten Gang allein gelassen habe. "Auch er verdient doch Respekt, auch seitens der Kirche! Er war doch ein Mensch wie jeder andere auch. Sicher, er hat sich versündigt, aber eine richtige Bestattung hätte er doch verdient," meint dieser junge Mann. Auch er findet es unglaublich, dass die Kirche den, Zitat, "berühmtesten" Mitbürger Corleones ohne den Segen der Kirche bestatten ließ. "Man kann nicht Christ und Mafioso sein" Totò Riina war berühmt-berüchtigt - vielleicht sogar der berühmteste Mafiaboss Italiens. Der Boss der Bosse, wie ihn die Medien nannten. 17 Jahre auf der Flucht vor der Polizei und viele Jahre, bis zu seinem Tod, in Einzelhaft. Direkt nach seinem Tod erklärte die katholische Kirche, Riina sei als Mafiaboss a priori exkommuniziert, eine offizielle Bestattung mit einem Geistlichen sei deshalb unmöglich. Michele Pennisi ist Erzbischof von Monreale auf Sizilien. Er begründet die Entscheidung so: "Man kann nicht gleichzeitig Christ und Mafioso sein. Wer einen Verhaltenskodex hat, der total dem eines Christen widerspricht, kann keinen Segen der Kirche erwarten. Wir als Kirche werden für diese Position auch scharf kritisiert - mit der Begründung, alle Menschen seien Kinder Gottes. Was ja auch stimmt, aber dann muss man sich auch ein wenig wie ein Kind Gottes verhalten." Bei der Beisetzung Riinas auf dem Friedhof von Corleone Ende vergangener Woche waren nur seine Witwe und seine Kinder anwesend; und dazu ein Heer von Journalisten und Kameraleuten. Als der Sarg in das Grab gelassen wurde, unter einer eineinhalb Meter großen Skulptur eines Engels, war kein katholischer Priester anwesend. Dafür aber viele Bürger Corleones, die ihrem Boss die letzte Ehre erweisen wollten. "Sie sind exkommuniziert!" Papst Franziskus ist der erste Papst, der entschieden Mafiabosse und Mitglieder der Clans aus der Kirchengemeinschaft ausschließt. Anlässlich seines Besuchs in der süditalienischen Region Kalabrien, der Hochburg der sogenannten 'Ndrangheta-Mafia, sagte er im Jahr 2014: "Diejenigen, die in ihrem Leben dieser Straße des Bösen folgen, die Mafiosi, sind nicht Teil der Gemeinschaft Gottes. Sie sind exkommuniziert!" Klare Worte. Doch aus dem Vatikan kommen danach keine ebenso klaren und konkreten Anweisungen, wie der Klerus fortan mit den Angehörigen der organisierten Kriminalität umzugehen habe. Die meisten Bischöfe in jenen Regionen, in denen die Mafia präsent ist - in Apulien, Kalabrien, der Campagna und auf Sizilien - untersagen ab sofort die Präsenz von Klerikern bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen von Personen, die nachweislich der organisierten Kriminalität angehören - oder in diesem Ruf stehen. Doch nicht alle Geistlichen halten sich an entsprechende Vorgaben ihrer Diözesen. Nicht wenige süditalienische Geistliche erlauben immer noch religiöse Prozessionen, bei denen abzusehen ist, dass Madonnen- und Heiligenskulpturen vor den Wohnhäusern prominenter Bosse Halt machen, um diesen so Ehre zu erweisen. Wie etwa im vergangenen Sommer im sizilianischen Paternò. Dort wurde die Figur der Heiligen Barbara, getragen von acht Männern, minutenlang vor dem Wohnhaus des Clans Santapaola abgesetzt, um die einflussreiche kriminelle Familie zu ehren. Die Haltung des Papstes ist umstritten Es scheint Süditaliens Bischöfen nicht zu gelingen, den gesamten Klerus auf Linie zu bringen - und auch nicht die Laienbruderschaften, die Siziliens Prozessionen mit Madonnen und Stadtpatronen organisieren. Was fehlt sind eindeutige Anweisungen. Deshalb bleibe ihnen nichts anderes übrig, als von Fall zu Fall zu entscheiden, sagen viele süditalienische Geistliche. Wer so argumentiere, schimpft Cosimo Scordato, der stecke mit der Mafia unter einer Decke. Scordato kämpft in Palermo seit rund 30 Jahren gegen die Mafia im Stadtviertel Bagheria. Für ihn ist die von Papst Franziskus ausgesprochene Exkommunizierung der Mafia eine unmissverständliche Anweisung an alle Geistlichen: "Jeder, der mit der Mafia zu tun hat, darf keine Kirche betreten, hat keinen Anspruch auf die Sakramente, also keine Taufen, darf nicht Taufpate sein. Damit ist doch alles klar!" Eine klare Stimme - in einem Süditalien, wo andere Seelsorger andere Akzente setzen. Auch wenn sie es nicht offen sagen: Viele sehen auch im Mafioso einen Gläubigen, dem die Kirche in jeder Lebenslage zur Seite stehen müsse. Auch im Fall einer Bestattung. Solche Einstellungen sind gerade in Süditalien immer noch weitverbreitet. Deshalb begrüßt nur ein Teil des süditalienischen Klerus die klaren Worte von Papst Franziskus.
Von Thomas Migge
Italienische Medien nannten ihn die "Bestie" - den Mafia-Boss Salvatore "Totò" Riina. Er starb Mitte November im Alter von 87 Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis. Ein kirchliches Begräbnis verwehrte die katholische Kirche dem "Boss der Bosse" jedoch. Aus Sicht der Mafia ist Papst Franziskus schuld.
"2017-11-29T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:46.370000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katholische-kirche-und-mafia-keine-messe-fuer-die-bestie-100.html
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"Das ist unser Haus"
Die Publizistin Barbara Sichtermann. (picture alliance / dpa / Arno Burgi) Leerstehende Häuser besetzen, Volxküchen installieren und kreative Begegnungsstätten einrichten: Die Hausbesetzerszene der 80er und teilweise 90er Jahre hat die Republik mächtig aufgewirbelt. Im sogenannten Schwarzen Block in Frankfurt flogen Steine, das Theaterstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder sorgte für einen Skandal und in Hamburg wurde die Hafenstraße zur heißen Zone. Unser ehemaliger Außenminister Joschka Fischer war ebenso Teil der Hausbesetzerszene, wie auch unsere heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in Berlin eine leerstehende Wohnung "besetzte" und sich freute, als ihr ein Mietvertrag angeboten wurde. Den Soundtrack zur Häuserrevolte lieferte die Band "Ton, Steine, Scherben. Deren Bassist Kai Sichtermann hat nun mit seiner Schwester, der Publizisten Barbara Sichtermann ein Buch über jene Jahre geschrieben. Barbara Sichtermann, Kai Sichtermann: "Das ist unser Haus"Aufbau Verlag, Berlin 2017, 300 Seiten, 26,95 Euro.
Barbara Sichtermann im Corso-Gespräch mit Susanne Luerweg
In Städten wie Berlin, Frankfurt und Zürich tobte in den 1970er Jahren der Häuserkampf. Kai Sichtermann, Gründungsmitglied der legendären Band Ton Steine Scherben, war mittendrin. Für sein Buch "Das ist unser Haus" haben er und seine Schwester, die Publizistin Barbara Sichtermann, mit den wichtigsten Protagonisten von damals gesprochen.
"2017-02-21T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:09.501000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eine-geschichte-des-haeuserkampfes-das-ist-unser-haus-100.html
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Mehr Transparenz gefordert
Gesponserte Hörsäle - nur ein Beispiel für den Einfluss der Wirtschaft in den Hochschulen. (picture alliance / dpa / Frank May) Nach Angaben des Internetportals Hochschulwatch.de fließen jedes Jahr mehr als 1,3 Milliarden Euro aus der gewerblichen Wirtschaft in die deutsche Hochschullandschaft, doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Diese Gelder fallen in die Kategorie der sogenannten Drittmittel. Die Macher der Seite, die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland, die Tageszeitung taz und die bundesweite Studierendenvertretung fzs, sind dabei auf die Hilfe von Hochschulmitarbeitern angewiesen. Diese können dem Portal Kooperationen melden, die dann von den Mitarbeitern überprüft werden. Mittlerweile finden sich dort mehr als 10.000 Verbindungen zwischen gewerblicher Wirtschaft und Hochschulen in Deutschland. Seit heute gibt es auf der Webseite zudem neue Funktionen. Die Einschätzungen über das komplette Ausmaß der Drittmittelfinanzierung gehen auseinander. Für das Jahr 2011 wurde etwa angenommen, dass es bundesweit mehr als sechs oder sogar über zehn Milliarden Euro waren, die an Universitäten und Fachhochschulen abseits der staatlichen Finanzierung flossen. Viele Hochschulen sind auf die Drittmittel angewiesen. Besonders Kritik an Stiftungsprofessuren Die Unternehmen profitieren im Gegenzug von Posten in den Hochschulräten, der Benennung von Hörsälen oder Stiftungsprofessuren. "Die Zahl der Stiftungsprofessuren hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt", sagte taz-Bildungsredakteurin Anna Lehmann bei der Bilanz. Diese seien ein beliebtes Mittel für Unternehmen, um Einfluss auf die Forschungsrichtung zu nehmen. Isabella Altert aus dem Vorstand Freier Zusammenschluss von Studentenschaften sieht besonders Professuren dieser Art kritisch: "So haben zum Beispiel Eon und RWE zusammen der Uni Köln eine Professur gestiftet, ein ganzes Institut sogar, das an den Risiken von Atomkraftmeilern forscht. Und dieses Institut hat überraschenderweise herausgefunden, dass Laufzeitverlängerung überhaupt kein Problem ist", sagte Altert im Deutschlandradio Kultur. Das Problem dabei ist die Transparenz. Vielfach müssen die Hochschulen in Deutschland solche Drittmittelfinanzierungen nicht offenlegen. Nur in fünf Bundesländern ist die Transparenz von Sponsoringverträgen nach Angaben von Hochschulwatch sichergestellt. Hochschulwatch fordert in diesem Bereich weitere Nachbesserungen. (pr/tj)
null
Wie unabhängig ist die Wissenschaft an deutschen Hochschulen? Gesponserte Hörsäle und Stiftungsprofessuren sind an vielen Universitäten und Fachhochschulen Alltag und kaum noch wegzudenken. Seit zwei Jahren sammelt das Portal Hochschulwatch fragwürdige Finanzierungen - jetzt ziehen die Macher Bilanz.
"2015-02-17T12:11:00+01:00"
"2020-01-30T12:22:19.153000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschulfinanzierung-mehr-transparenz-gefordert-100.html
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Wohin mit den Milliarden?
Wolfgang Schäuble skizziert den Weg zu einem ausgeglichen Haushalt ohne Neuverschuldung. (dpa / Wolfgang Kumm) Der Jobmotor läuft weiter auf hohen Touren - und das sorgt für volle öffentliche Kassen. Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen verbuchten im ersten Halbjahr unter dem Strich ein Plus von 16,1 Milliarden Euro, das entspricht 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und war nach Angaben des Statistischen Bundesamtes der höchste Überschuss seit der Wiedervereinigung. Zwar schrumpfte die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal. Norbert Barthle, der haushaltspolitische Sprecher von CDU und CSU im Bundestag, geht dennoch davon aus, dass die Bundesregierung auch am Jahresende einen Überschuss ausweisen kann: "Ich hoffe es sehr, dass die Entwicklung auch so weiter geht. Wir beobachten bisher, dass die Befürchtungen - ausgelöst durch die Ukraine-Krise und Russland - doch nicht so gravierend sind, wie manche befürchtet haben. Ich gehe wie die Bundesregierung davon aus, dass wir auch am Jahresende noch ein deutliches Plus haben werden." Überschuss wird schrumpfen Doch der Überschuss in den nächsten Monaten wird schrumpfen im zweiten Halbjahr - selbst wenn die Konjunktur weiter gut läuft. Dafür sorgen schon allein die zusätzlichen Ausgabenprogramme der Bundesregierung, die vor allem die Sozialversicherungen viel Geld kosten werden, sagte Kristina van Deuverden, die Haushaltsexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dem Deutschlandfunk: "Das ist eine ganz einfache Rechnung. Wir müssen nur an die Rentenversicherung denken: Die ganzen Mehrausgaben durch die Verbesserung des Rentenpakets läuft ab Mitte dieses Jahres. Alleine durch diese Geschichte werden die Ausgaben der Rentenversicherung im zweiten Halbjahr um 4,5 Prozent höher sein, das zehrt vom Überschuss dann schon einiges weg." Die Sozialkassen hatten im ersten Halbjahr ein Plus von sieben Milliarden Euro erwirtschaftet, der Bund verbuchte einen Überschuss von vier Milliarden Euro. Die anhaltend gute Lage am Arbeitsmarkt dürfte für steigende Sozialbeiträge und höhere Steuereinnahmen sorgen, sagen die Statistiker. Zudem konnte sich Finanzminister Wolfgang Schäuble über einen Bundesbankgewinn in Höhe von 4,6 Milliarden Euro freuen. Für den CDU-Haushaltspolitiker Norbert Barthle aber kein Grund, vom eingeschlagenen Sparkurs abzuweichen: "Für 2014 haben wir ja immer noch über sechs Milliarden neue Schulden vorgesehen. Also über zusätzliche Ausgabewünsche kann man erst dann reden, wenn wir den ausgeglichenen Haushalt erreicht haben. Das hat Priorität, daran halten wir fest." Opposition fordert mehr Geld für Bildung Die Opposition sieht das ganz anders. Die Regierung verlasse sich allein auf die gute Konjunktur und tue nichts für die Zukunft, kritisierte der haushaltspolitische Sprecher der Grünen, Sven Christian Kindler. Es müsse viel mehr Geld in Bildung, Straßen und Schienennetze und die Energiewende investiert werden, sagte Kindler diesem Sender. Allerdings müsste das gegenfinanziert werden, durch Einsparungen bei der Rüstung, Streichung von Subventionen und Korrekturen in der Steuerpolitik: "Es ist zum Beispiel völlig ungerecht, dass Kapitaleinkommen im Regelfall geringer besteuert werden als Arbeitseinkommen, das heißt die ungerechte Abgeltungsteuer muss abgeschafft werden, damit Kapitaleinkommen wieder progressiv wie Arbeitseinkommen besteuert werden. Damit kann man solide auch den Haushalt konsolidieren. Und so kann man solide auch wichtige Zukunftsinvestitionen im Erhalt von Verkehr, in Bildung und Betreuung und Klimaschutz gegenfinanzieren." Insgesamt verbuchte der Staat im ersten Halbjahr Einnahmen in Höhe von 637 Milliarden Euro, das waren 3,4 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die Ausgaben dagegen stiegen nur um 2,5 Prozent, auf 621 Milliarden.
Von Gerhard Schröder, Hauptstadtstudio
Der Bund hat den höchsten Überschuss seit Langem erzielt, aber was tun mit den vielen Milliarden Euro? Die Opposition fordert Investitionen und eine neue Steuerpolitik. Haushaltsexperten warnen vor spontanen Ausgaben. Und Bundeskanzlerin Merkel stellt klar: Erst mal abwarten, dann im Zweifelsfall investieren.
"2014-09-01T12:45:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:36.985000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/haushaltsueberschuss-wohin-mit-den-milliarden-100.html
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Die schlafende Schönheit Varosha
Urlaub am Stacheldrahtzaun: In Famagusta ist die Teilung Zyperns deutlich sichtbar. (picture-alliance / dpa / Brix) Die Stadt Famagusta schmiegt sich malerisch an die Küste des Mittelmeers im Osten Zyperns, dort, wo praktisch immer die Sonne scheint und wo die saubersten Strände Europas liegen. Wer den weichen Sand vom Strand Famagustas zwischen den Zehen spürt, kommt gleich ins Schwärmen. Sehr schön, sehr feinkörnig der Sand, lobt ein Besucher aus der Türkei: "Bei uns in der Türkei bezeichnet man besonders schöne Strände als 'Kleopatra'-Strände, weil man sagt: Kleopatra habe für diese Strände extra feinen Sand aus Nordafrika holen lassen. Und genau so ist der Strand in Famagusta: sehr fein und sehr schön." Doch das Strandparadies auf dem türkischen Teil der Insel Zypern hat einen Schönheitsfehler. Keine zwanzig Meter neben den Urlaubern in Badehose und Bikini stehen Soldaten in Tarn-Uniform auf Wachttürmen an einem meterhohen Stacheldraht-Zaun, dahinter wuchert Unkraut zwischen verfallenden Hochhaus-Ruinen. Denn die südliche Hälfte Famagustas, der Stadtteil Varosha, ist seit 1974 vom türkischen Militär abgeriegelt und - menschenleer. Schlangen tummeln sich in der Stadt Damals, im Sommer 1974, tobte hier der Krieg um die Insel Zypern. Türkische Truppen hatten den Norden Zyperns besetzt, denn zuvor hatten griechische Nationalisten versucht, die gesamte Insel Griechenland anzuschließen. Die türkischen Soldaten rückten damals bis Famagusta vor - und dort stehen sie noch heute. Fast alle griechischen Zyprer wurden damals aus dem türkisch besetzten Norden der Insel vertrieben - in ihre Häuser zogen türkische Zyprer oder neu angeworbene Siedler aus Anatolien. Nur der mondäne Stadtteil Varosha im Süden Famagustas blieb leer, bis heute. Alexis Galanos ist griechischer Zyprer aus Varosha. Mit Wehmut schaut er vom Grenzzaun im Süden aus auf seine Geburtsstadt mit der Hochhaus-Skyline: "Es sind nur noch Skelette. Die Stadt ist voller Schlangen; die Natur holt sich das Gebiet zurück. Wenn Du es aus der Ferne siehst, dann merkst du gar nicht, dass die Stadt leer ist. Sie sieht aus wie Miami, eine schöne Stadt mit hohen Häusern an der Küste, so richtig einladend." "Wir haben alles. Was fehlt, ist die Stadt." Alexis Galanos ist der Exil-Bürgermeister von Famagusta und Varosha. Auch 41 Jahre nach Flucht und Vertreibung aus ihrer Stadt halten die griechisch-zyprischen Bürger von Famagusta noch zusammen. Das Exil-Rathaus steht in der Stadt Limassol; der Fußballverein Anorthosis Famagusta hat sein Exil-Stadion in Larnaca gebaut, es gibt sogar eine Handelskammer Famagusta. "Wir haben fast alles", sagt Exil-Bürgermeister Alexis Galanos, alle Einrichtungen des sozialen Lebens in Famagusta sind vorhanden: "Was fehlt, ist die Stadt", klagt der Exil-Bürgermeister. Dabei war es so schön am Strand von Famagusta, im Stadtteil Varosha. Hier hatte auch die Sängerin und Schönheitskönigin Sophia Loren ihre Luxus-Villa am Strand. Auch die Villa von Sophia Loren ist längst von Sträucher und Unkraut überwuchert, das Gebäude mit der Strand-Veranda verfällt seit nunmehr 41 Jahren. Die Villa steht zwischen den 45 leeren Hotels mit ihren 10.000 Betten, in denen seit 41 Jahren niemand geschlafen hat. Im Autohaus im Zentrum Varoshas stehen noch ein paar Neuwagen Baujahr 74. In den zwei Dutzend Theater- und Kinosälen Varoshas sind die Vorhänge seit 41 Jahren geschlossen; am verlassenen Traumstrand krabbeln nur ein paar Schildkröten, dort, wo Europas Jetset bis zum Sommer 1974 wilde Partys feierte. Doch Alexis Galanos, der griechische-zyprische Exilbürgermeister, gibt die Hoffnung nicht auf: "Famagusta war ein schönes Mädchen, das plötzlich in den Schlaf fiel und immer noch schläft. Es wartet darauf, wachgeküsst zu werden."
Von Thomas Bormann
Varoscha war einmal das mondänste Viertel auf Zypern. Seit dem Krieg im Sommer 1974, der zur Teilung der Insel führte, steht der Stadtteil der Küstenstadt Famagusta leer. Seit 41 Jahren verfallen all die Luxus-Hotels, die Strandvillen und die Kirchen. Aber die ehemaligen Bewohner haben die Hoffnung nicht aufgegeben.
"2015-08-27T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:56:10.376000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zypern-die-schlafende-schoenheit-varosha-100.html
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DRK errichtet Gesundheitsstation für Flüchtlinge
Eine logistische Meisterleistung: Verladen der mobilen Gesundheitsstation in Berlin. (dpa/picture alliance/Bernd Settnik) Ein Gabelstapler hievt eine Holzkiste in einen LKW. An jeder Seite der Kiste ist das Logo des Deutschen Roten Kreuzes zu erkennen. Auf Aufklebern steht der Bestimmungsort der Ladung: Griechenland. Christian Hörl vom DRK überwacht die Verladung des 70 Tonnen Materials im Logistikzentrum. "In dieser Kiste sind Zelte drin. Wir haben ja hier eine Gesundheitsstation, die vor allem mobil und flexibel ist, d.h. nicht in einer ortsfesten Einrichtung untergebracht wird. Und gerade in dieser Kiste befindet sich das notwendige Zelt, oder eines der Zelte, um unsere Basisstation aufbauen zu können. In den anderen Kisten befindet sich medizinisches und technisches Material, um die Versorgung von bis zu 10.000 Menschen sicherstellen zu können." Die Gesundheitsstation soll in Nordgriechenland an der Grenze zu Mazedonien aufgebaut werden und ihre Arbeit morgen aufnehmen. Die EU und die Türkei hatten am Freitag zwar vereinbart, dass Flüchtlinge, die aus der Türkei kommen, dorthin zurück geschickt werden. Das hält die Menschen bislang aber von ihrer Flucht nicht ab. Am Wochenende erreichten hunderte Flüchtlinge Griechenland. Die Basisstation werde dort dringend benötigt, sagt Hörl und zeigt auf einer Karte auf den Norden des Landes. Medizinische Versorgung für bis zu 20.000 Menschen notwendig "Unsere Einsatzorte sind dieses Nea Kavala und Cherso, zwei Flüchtlingslager in der Grenzregion um Idomeni. Hier sind im Moment bis zu 20.000 Menschen untergebracht. Wir können im Moment nicht abschätzen, einmal, wie viele Menschen in den nächsten Tagen über die Inseln nachrücken und natürlich, wenn sich Menschen auf den Weg machen, wie hier die Bewegungen aussehen werden." Die Gesundheitsstation sei aber flexibel und könne bei Bedarf schnell an einen anderen Ort transportiert werden. Das DRK schickt nicht nur Material, auch Mediziner fahren mit. Der pensionierte Arzt Bernhard Römhild unterstützt das DRK ehrenamtlich und hat bereits Erfahrungen aus anderen Einsätzen mit einer mobilen Gesundheitsstation. "Man muss sich das so vorstellen wie eine allgemeinmedizinische Praxis, wo auch eine Art Screening-Funktion abläuft, wo man Husten, Schnupfen, Heiserkeit durchaus behandelt. Aber eine schwere Lungenentzündung oder eine Schwangerschaftskomplikation erkennen muss, um sie dann in entsprechende fachmedizinische Einrichtung zu bringen." Katastrophale hygienische Verhältnisse Der Arzt rechnet damit, dass viele Patienten an Hautkrankheiten leiden. "Die hygienischen Verhältnisse sind miserabel. Ich habe noch nie so viele Hautentzündungen gesehen und genau dasselbe auch mit den Füßen. Wenn man im Nassen steht und läuft und unterwegs ist, dann hat die Haut keine Chance, sich zu erholen, sondern die Füße sind durch. Und nicht nur der Fußpilz blüht, sondern auch die Entzündungen, die Furunkel und dergleichen sind dann in einem Zustand, den man sich so gar nicht vorstellen kann." Die Basisstation wird aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert. Zur Verladung und Verabschiedung ist deswegen auch die Menschenrechtsbeauftrage der Bundesregierung, Bärbel Kofler, gekommen. Wäre eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge nicht dringender, als sie zunächst wochenlang in Zelten ohne medizinische Versorgung warten zu lassen und dann von Deutschland aus eine Gesundheitsstation zu schicken? Darauf antwortet die Menschenrechtsbeauftragte: "Es ist natürlich die Aufgabe, sich diplomatisch für die Möglichkeiten der Flüchtlinge einzusetzen. Aber ich betone nochmal: die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist es, einen Beitrag zu leisten zur Diplomatie zur Beendigung der Krise in Syrien. Denn die Flüchtlinge wollen ja eigentlich in ihrer Heimat bleiben und nicht aus ihrer Heimat vertrieben werden. Die Entscheidung, die Grenzen zu schließen, ist eine Entscheidung, die die Staaten vor Ort getroffen haben." Und die Entscheidung, die Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, haben alle EU-Staaten gemeinsam getroffen. Ob und wann sie aber die Rückreise antreten werden, ist noch nicht abzusehen. Die Gesundheitsstation soll zunächst für vier Monate in Nordgriechenland die Menschen versorgen. Sollte sie länger gebraucht werden, werde das Auswärtige Amt sie weiter finanzieren.
Von Kemal Hür
An der Grenze zu Mazedonien warten immer noch Tausende Menschen auf ihre Weiterreise nach Europa. Die hygienischen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind katastrophal. Das Deutsche Rote Kreuz hilft jetzt mit einer mobilen Gesundheitsstation. Damit können bis zu 10.000 Menschen versorgt werden.
"2016-03-21T14:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:19:46.468000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-drk-errichtet-gesundheitsstation-fuer-100.html
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"Flüchtlinge befragen, was das Zielland ist"
Flüchtlinge stehen am 03.03.2016 im Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien bei der Registrierung. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Oberhäuser sagte im Deutschlandfunk, dass bei der Idee, die Asyl-Verfahren EU-weit einheitlich zu regeln, auch Rechtsschutz gegen belastende Maßnahmen möglich sein müsse. Das entspreche der Europäischen Menschenrechtscharta. Er sehe kein Problem darin, die Dublin-Verordnung zu ergänzen, das sei mit deutschem und europäischen Recht vereinbar. Die Vorschläge der EU-Kommission gingen in die richtige Richtung. Allerdings hätte diese Umorientierung schon vor 20 Jahren stattfinden müssen. Momentan hätten so die Vorschläge wenig Aussicht auf Realisierung. Man könne aber auch nicht zulassen, dass Griechenland und Italien alleine gelassen würden. Finanzieller Ausgleich für besonders betroffene Länder Oberhäuser hält es so für vernünftiger, einen anderen Ansatz zu wählen. So sollten die Flüchtlinge Wahlfreiheit bei der Auswahl ihres Ziellandes erhalten. Denn ein Flüchtling habe keine Probleme damit, etwa von Lettland nach Deutschland zu gelangen. Die dann besonders belasteten Länder müssten dann einen finanziellen Ausgleich erhalten. Er persönlich spüre nämlich - außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit - nicht sonderlich viel von der angeblichen Flüchtlingsbelastung in Deutschland. Wenn die Ehrenamtlichen zum Beispiel durch Hauptamtliche entlasten würden, wenn das ganze System staatlich beziehungsweise letztlich europäisch finanziert würde, wäre eine Aufnahme von eine Million Flüchtlingen in Deutschland kein Problem. Das komplette Interview zum Nachlesen: Dirk-Oliver Heckmann: Thomas Oberhäuser ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Ausländer- und Asylrecht des Deutschen Anwaltvereins und jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Oberhäuser. Thomas Oberhäuser: Guten Morgen auch. Heckmann: Herr Oberhäuser, es ist ja wenig wahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit zu einer richtigen Europäisierung des Asylrechts kommt. Der politische Widerstand in mehreren Ländern ist viel zu groß. Aber das mal bei Seite gelassen: Wäre Deutschland überhaupt befugt, das Thema an die europäische Ebene abzugeben, und wenn ja, welche Voraussetzungen müssten dafür erfüllt sein? Oberhäuser: Die Voraussetzungen sind seit dem Vertrag von Lissabon geschaffen. Die Europäische Union hat eine Kompetenz, in diesen Bereichen tätig zu werden, und die hat sie ja durch verschiedene Richtlinien auch schon wahrgenommen. Heckmann: Und das wäre im Prinzip kein Problem jetzt aus deutscher Sicht, aus rechtlicher Sicht, dass man sagt, von uns aus jedenfalls hier eine vollständige Europäisierung herbeizuführen? Oberhäuser: Nein, das ist überhaupt kein Problem rechtlich. Heckmann: Die Asylantragsteller, die müssen aber die Möglichkeit haben, wie das ja im Moment auch der Fall ist in Deutschland, gegen eine solche Entscheidung klagen zu können. Wäre das denn gewährleistet? Oberhäuser: Das ist in der Tat eine Frage, die man momentan nicht beantworten kann, wie das gemacht werden soll. Es muss klar sein, auch nach der europäischen Grundrechtecharta, dass es Rechtsschutz gegen Entscheidungen auch von europäischen Instanzen geben muss. Das ist zwingend, das steht in der Grundrechtecharta ausdrücklich drin, das entspricht auch den Verfassungsgeboten vieler Mitgliedsstaaten. Dass gegen belastende Maßnahmen effektiver Rechtsschutz gewährleistet sein muss, das entspricht europäischen Standards und das muss sicherlich auch verwirklicht werden. Heckmann: Pro Asyl sagt zu diesem Punkt, damit wäre der Europäische Gerichtshof, der dann die entsprechenden Instanzen in Deutschland ersetzen müsste, hoffnungslos überfordert. Oberhäuser: Ja, das geht natürlich nicht mit dem bestehenden System. Aber auch der Europäische Gerichtshof hat ja einen zweiten Gerichtshof, der nur für Fragen des Unionsrechts in Bezug auf die eigenen Angestellten, also die Beamten der Europäischen Union zuständig ist. Das heißt, es kann sehr wohl auch eine quasi Zweigstelle des Europäischen Gerichtshofes geben, der dann nur für Asylfragen zuständig wäre. Auch da ist die Frage, ob das eine Instanz sein kann, ob das mehrere Instanzen sein müssen. Aber das kann man im Einzelnen regeln. Es ist letztlich aber die Frage, was bringt so was, denn die einzelnen Mitgliedsstaaten sind natürlich ortsnäher. Wenn jemand bei ihnen ist, dann können die viel leichter jemanden anhören, als wenn der nach Luxemburg fahren müsste. Auf der anderen Seite: Wenn der Europäische Gerichtshof irgendwelche Dependancen in den einzelnen Mitgliedsstaaten hat, dann ist das so ein wahnsinnig aufwendiges System, dass es wahrscheinlich Jahrzehnte dauert, um das umzusetzen. Heckmann: Wäre es denn trotzdem aus Ihrer Sicht eine gute Idee? Oberhäuser: Natürlich ist es eine gute Idee, dass ein europäischer Rechtsraum auch europäischen Rechtsregeln unterliegt, und zwar einheitlichen Regeln. Deswegen ist es grundsätzlich richtig, dass die Europäische Union da zumindest mal Richtlinien erlässt. Man könnte überlegen, ob auch Verordnungen, unmittelbar geltendes Recht, in den Mitgliedsstaaten Anwendung finden muss. Das versucht die Europäische Union ja auch anzusprechen. Aber es ist auf jeden Fall richtig, dass Mindeststandards geschaffen werden müssen, die einheitlich überall gelten. Wie die dann auszulegen sind, das ist immer eine Frage, die im Einzelfall letztlich der Europäische Gerichtshof klären muss, wenn die einzelnen nationalen Gerichte Fragen dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Heckmann: Halten wir fest: Die Europäisierung selber des Asylrechts, die wird jetzt erst mal nicht kommen, das weiß ja auch die EU-Kommission, jedenfalls nicht EU-weit. - Kommen wir mal zu den verschiedenen Optionen, die die EU-Kommission dann tatsächlich vorgeschlagen hat, nämlich Option eins, das nationale Asylrecht bleibt bestehen, aber es soll feste Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen geben. Wäre das mit deutschem und mit europäischem Asylrecht vereinbar? Oberhäuser: Ja. Die Verordnung, die Dublin-Verordnung kann natürlich entsprechend ergänzt oder überarbeitet werden. Das, meine ich, ist nicht das Problem. Das entspricht ja auch der Lastenverteilung innerhalb Deutschlands. Wenn Asylbewerber kommen, dann würden die ja nach dem Königsteiner Schlüssel entsprechend auf die Bundesländer verteilt. Das kann man sicherlich auch europäisieren. Da gibt es entsprechende Gedanken ja schon, wie man das machen kann. Das ist mit europäischem Recht durchaus vereinbar und auch mit deutschem Recht. Heckmann: Aber die Frage ist ja, das Dublin-System funktioniert schon jetzt nicht. Weshalb sollten dann die Mitgliedsländer überhaupt zustimmen einer solchen Regelung? Man kann es im Prinzip schon als Totgeburt sehen, oder sehen Sie das anders? Oberhäuser: Man muss momentan jedenfalls sagen, dass es in der Tat wenig Aussicht auf Realisierung hat. Die Mitgliedsstaaten sind so unterschiedlich in ihrer Wahrnehmung, was Flüchtlinge betrifft. Da kann man nicht erwarten, dass in nächster Zeit ein Konsens darüber erzielt werden kann. Auf der anderen Seite kann man auch, muss man sagen, nicht zulassen, dass Griechenland und möglicherweise demnächst Italien wieder mit den ganzen Flüchtlingen allein gelassen werden. Das ist ja auch nicht die Lösung. Das entspricht ja überhaupt keinem europäischen Solidargedanken. Heckmann: Was wäre denn die Lösung aus Ihrer Sicht? Oberhäuser: Es ist in der Tat ein Schritt zu sagen, wir machen diese Aufnahme in diesen Zentren, wie jetzt geplant, und verteilen dann europaweit die Flüchtlinge. Oder vernünftiger wäre es, wir sehen uns eigentlich mal an, was die Flüchtlinge wollen, wo die denn eigentlich hin wollen. Denn diese Sekundärmigration, dass jemand in einem bestimmten Land sich irgendwie aufhalten muss, aber er sagt, da will ich gar nicht sein, ich will dahin, wo meine Familie wohnt, das ist in einem anderen Land, das kann man nur verhindern, indem man frühzeitig die Flüchtlinge befragt, was denn das Zielland eures Schutzgesuches ist, und dann müssen sie an diesem Vorschlag einmal festhalten und der Staat, der dann gegebenenfalls übermäßig belastet wird, der wird halt finanziell abgeglichen. Heckmann: Das heißt, Sie würden für eine Wahlfreiheit für Migranten, für Flüchtlinge plädieren, dass sie sich selber aussuchen können, in welches Land sie kommen? Oberhäuser: Das ist mit Sicherheit die vernünftigste Lösung für alle. Denn was wir jetzt momentan haben, das rührt im Wesentlichen daher, dass die Menschen sagen, ich gehe nicht freiwillig in ein Land, wo ich überhaupt niemanden kenne, wo es auch kein funktionierendes Asylsystem gibt, wo es auch zum Beispiel wenig Sozialleistungen gibt, die mir die Möglichkeit geben, überhaupt zu leben. Das heißt, der Mensch wird immer versuchen, dahin zu kommen, wo er wirklich hinkommen möchte. Und wer es geschafft hat, von Syrien oder von Afrika nach Europa zu kommen, der schafft es auch, von Lettland nach Deutschland zu kommen. Heckmann: Aber Sie wissen ja auch, Herr Oberhäuser, dass in den letzten Wochen und Monaten der übergroße Teil der Migranten gesagt hat, wir wollen nach Deutschland oder nach Schweden beispielsweise, vor allem aber nach Deutschland. Und das wäre auch politisch absolut nicht umsetzbar. Oberhäuser: Das ist die Frage, wie man das sieht. Ich muss gestehen, ich spüre, außer natürlich in meiner beruflichen Tätigkeit, nicht besonders viel von dieser Flüchtlingsbelastung. Wenn die Ehrenamtlichen entlastet werden würden durch Hauptamtliche, wenn das ganze System tatsächlich staatlich finanziert werden würde und dann letztlich vielleicht europäisch finanziert werden würde, dann wäre die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen in Deutschland nicht das große Problem. Heckmann: Wobei auch da natürlich wieder die europäische Solidarität gefordert wäre, und da hapert es ja in den letzten Wochen und Monaten, wie wir immer wieder gesehen haben. - Herr Oberhäuser, ich möchte noch mal kurz auf die Praxis zu sprechen kommen, die jetzt auf den griechischen Inseln beispielsweise durchgeführt wird. Da sollen die Asylanträge, die da gestellt werden, jetzt im Schnellverfahren abgehandelt werden. Sind da eigentlich die Grundrechte der betreffenden Personen überhaupt noch gewährleistet? Oberhäuser: Wie das momentan ausschaut, eher nicht. Man kann ja bloß mit Vorsicht sagen, wie die Situation wirklich ist. Man erfährt das ja aus verschiedenen Berichten, dass wohl die Menschen derzeit inhaftiert werden, dass sie gar nicht die Möglichkeit haben, aus ihren Lagern rauszukommen. Und dann natürlich auch die Frage sich stellt, wie kriegen die denn effektiven Rechtsschutz, wie können die zum Beispiel einen Anwalt beauftragen. Abgesehen davon, dass die griechischen Anwälte zurzeit streiken und deswegen überhaupt keine Möglichkeit besteht, ist aber auch der Umstand, dass jemand in einem Gefängnis quasi sitzt und keine Möglichkeit hat, irgendwie nach außen zu kommen, ein Problem des Zugangs zum Recht. Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, die Abschiebungen, die jetzt in den nächsten Tagen und Wochen zu erwarten sind, die finden auf einer rechtlich fragwürdigen Grundlage statt? Oberhäuser: Momentan extrem fragwürdig. Heckmann: Welche Rolle spielt in dem Zusammenhang, dass die Türkei - dorthin werden ja alle Flüchtlinge gebracht, deren Asylanträge abgelehnt werden - alle Personen abschiebt dann wiederum, die keine Syrer sind? Oberhäuser: Auch das ist die Frage des Refoulmentverbots, ob man jemand in ein Land schicken darf, von dem man weiß, der schiebt dann auch wieder ab. Aber wenn der Asylantrag in Europa gestellt wurde und abgelehnt wurde, dann heißt das ja auch, dass zumindest mal das Risiko geprüft werden muss, ob dann ein Refoulmentverstoß vorliegt, ob jemand tatsächlich in die Türkei zurückgeschoben werden kann. Und wenn die Gerichte sagen, das geht, weil die Türkei trotzdem sicher ist und auch prüft, ob man jemanden nach Pakistan verschieben kann, dann ist das nicht unbedingt mit Europarecht unvereinbar. Heckmann: Wenn Sie es in einem ganz knappen Satz zusammenfassen könnten, würden Sie sagen, Europa ist jetzt mittlerweile dabei, so langsam zumindest, was die Asylpolitik angeht, in die richtige Richtung zu gehen? Oberhäuser: Das kann man sicherlich nicht für jeden Mitgliedsstaat sagen. Das kann man vielleicht von der Kommission oder das kann man bestimmt von der Kommission mit den jetzigen Vorschlägen sagen, dass die in die richtige Richtung zumindest mal sich umorientieren, aber das hätten sie, ehrlich gesagt, vor 20 Jahren schon machen müssen. Heckmann: Thomas Oberhäuser war das vom Deutschen Anwaltverein. Danke für dieses Interview. Oberhäuser: Danke auch schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Oberhäuser im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Die EU habe seit den Lissaboner Verträgen eine Kompetenz, in Asyl-Fragen tätig zu werden, sagte Thomas Oberhäuser vom Deutschen Anwaltverein im Deutschlandfunk. So könne die Dublin-Verordnung ohne Probleme ergänzt werden. Vernünftiger sei es allerdings, zu fragen, wo die Flüchtlinge hinwollten. Eine Wahlfreiheit sei hier die sinnvollste Lösung für alle.
"2016-04-07T06:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:22:33.150000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-vorschlaege-zum-asyl-fluechtlinge-befragen-was-das-100.html
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"Solidarität ist keine Einbahnstraße"
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Othmar Karas. Für die Österreichische Volkspartei ist er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Guten Tag, Herr Karas! Othmar Karas: Guten Tag! Dobovisek: Ungarn schottet sich ab gegen Flüchtlinge mit einem millionenschweren Zaun und stellt dafür Europa jetzt eine Rechnung aus. Die EU solle doch, bitte schön, mindestens die Hälfte der Kosten dafür tragen. Das steht in Viktor Orbáns Brief an die EU. Herr Karas, überrascht Sie diese Forderung? Karas: Ich habe sie eigentlich im Zuge der Dramaturgie der ungarischen Politik befürchtend erwartet. Sie ist aus meiner Sicht unbegründet, diese Forderung. Für diese Forderung fehlt eine vertragliche Grundlage, fehlt eine Vereinbarung und fehlt eine Rechtsgrundlage. Ich sage auch gleich dazu, Ungarn hat bis jetzt 6,7 Millionen Notfallhilfe für die Flüchtlingsbewältigung bereits von der Europäischen Union erhalten. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite Solidarität fordert und sich auf der anderen Seite weigert, Flüchtlinge im Sinne der Beschlüsse der Europäischen Union aufzunehmen. "Kuhhandel ist nie ein Kompromiss" Dobovisek: Offensichtlich ist das ja so eine Art Kuhhandel, den Orbán da vorhat: Europa zahlt für den Zaun und Ungarn nimmt vielleicht dann im Gegenzug an der Flüchtlingsverteilung teil. Klänge das für Sie nach einem Kompromiss? Karas: Nein. Kuhhandel ist nie ein Kompromiss. Erpressung ist auch keine Grundlage für einen Kompromiss. Dobovisek: Und was ist das, was Viktor Orbán da gerade macht? Erpressung? Karas: Das, was die Europäische Union ist, ist eine Solidaritätsgemeinschaft. Wenn wir vor neuen Herausforderungen stehen - und das tun wir in der Flüchtlingsfrage, das tun wir im Zusammenhang mit der Digitalisierung, das haben wir im Zusammenhang mit der Finanzkrise getan -, dann muss sich die Gemeinschaft auf eine gemeinsame Vorgangsweise einigen. Hier ist die Kommission und sind Mitgliedsstaaten sehr, sehr bemüht. Das kann man nicht mit Briefen, mit Zurufen machen, sondern da muss man sich zusammensetzen und muss schauen, wie ist die Belastung beim einen, wie ist die Belastung beim anderen, was sind die Solidaritätsmaßnahmen und Möglichkeiten des einen, das sind die Solidaritätsmaßnahmen des anderen. Ich sage daher noch einmal: Ungarn hat bereits 6,7 Millionen Notfallhilfen bekommen. Diesem Brief fehlt jegliche Rechtsgrundlage und es gibt auch keine Vereinbarung, dass die Mitgliedsstaaten an die Kommission diese Briefe schreiben können. Die Kommission war ohnehin sehr fair. Sie hat gesagt, dass sie im Lichte der Gesamtproblematik diesen Brief prüfen wird. "Mit Einzelmaßnahmen lösen wir diese Probleme nicht" Dobovisek: Ist Ungarn, um das mal zuzuspitzen, aus Ihrer Sicht unsolidarisch und erpresserisch? Karas: Der Punkt ist, dass Ungarn hier an die Solidarität appelliert und auf der anderen Seite sich weigert, Beschlüsse, solidarische Maßnahmen nicht einzuhalten. Solidarität ist keine Einbahnstraße und das ist auch kein Basar, sondern man muss sich zusammensetzen und Dinge regeln. Für diese Vorgangsweise fehlt jegliche Grundlage. Geld von Seiten der EU ist bereits geflossen. Und ich sage auch dazu: Dieser Brief zeigt auch etwas anderes, nicht nur was Ungarn betrifft. Wenn man will, dass die Europäische Union den Außengrenzschutz zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit macht - wir wollen das alle -, dann muss man die demokratischen Voraussetzungen dafür schaffen und die budgetären und personellen Voraussetzungen dafür schaffen. Man kann nicht auf der einen Seite ständig sagen, dass die Europäische Union und das europäische Budget nicht um die notwendigen zusätzlichen Aufgaben erhöht wird - das trifft viele Mitgliedsstaaten -, aber auf der anderen Seite Briefe an die EU schreiben, dass sie Geld dafür herzugeben hat. Man muss diese Fragen im Zuge einer Vertragsreform, was den Außengrenzschutz betrifft, und im Lichte der finanziellen Vorausschau, die der Kommissar Oettinger beginnt zu verhandeln, einbauen. Das muss ein Gesamtpaket werden; mit Einzelmaßnahmen lösen wir diese Probleme nicht und mit Briefen, denen die Vertragsgrundlage fehlt, auch nicht. "Das Fatale in Ungarn ist der Widerspruch" Dobovisek: Das ist das Grundsätzliche, was Sie einfordern, auf demokratischer Grundlage. Das ist natürlich auch ein Stichwort, wenn wir nach Ungarn blicken, auch mit Blick auf die Mediengesetze dort, auf den Umgang mit Nichtregierungsorganisationen, mit ausländisch getragenen Universitäten zum Beispiel und jetzt in der Flüchtlingskrise. Ist Ungarn aus Ihrer Sicht noch ein verlässlicher, ein ernst zu nehmender Partner, um überhaupt auf demokratischer Grundlage Neues auszuhandeln? Karas: Ja, das ist Ungarn. Ungarn gehört zu jenen Ländern mit der höchsten Zustimmungsrate im Rat und im Europäischen Parlament zu den europäischen Gesetzen. Das Fatale in Ungarn ist der Widerspruch zwischen dem Handeln in Europa, der Summe an Geld, das Ungarn aus dem EU-Budget bekommt, und dem innenpolitischen Umgang mit der Gemeinschaft. Hier ist ein eklatanter Widerspruch vorhanden und überall dort, wo die Gefahr besteht, dass europäisches Recht verletzt wird, hat die Europäische Kommission und das Europäische Parlament manchmal auch im Beisein des Ministerpräsidenten Orbán im Europäischen Parlament den Finger in die Wunde gelegt und Verfahren eingeleitet. Dramatischer ist in dieser Woche, was in Polen passiert, wo Polen die Aufforderung, auf die Fragen der Kommission zu antworten, den Termin nicht eingehalten hat, verspätet einen Brief geschrieben hat und die Einhaltung von Recht und Werten und Beschlüssen der Europäischen Union als Einmischung in die inneren Angelegenheiten bezeichnet. Alles das ist keine Einmischung der Europäischen Union in nationale Angelegenheiten, sondern die Verpflichtung der europäischen Institutionen, für Einhaltung von Recht, Demokratie und Werten zu sorgen. "Immer ein Fehler, gegenseitig Schuld zuzuweisen" Dobovisek: Kommen wir noch einmal zurück zur Flüchtlingskrise und zur europäischen Solidarität, auf die ja auch Viktor Orbán setzt bei seinem Schreiben an die EU-Kommission. Eigentlich sollte es bis Mitte des Jahres ja einen Kompromiss in Sachen Flüchtlingsverteilung gegeben haben. Doch auf ihrem letzten großen Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der EU das Thema statt es zu lösen lieber erst mal gar nicht angesprochen. War das ein Fehler? Karas: Es ist immer ein Fehler, Probleme, die es gibt, Sorgen und Ängste, die Menschen haben, nicht anzusprechen. Und es ist immer ein Fehler, gegenseitig Schuld zuzuweisen und sich etwas auszurichten, ohne gemeinsame Vereinbarungen und Veränderungen zu beschließen. "Mangel an europäischer Solidarität" Dobovisek: Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Karas: Das Dilemma ist ein Dilemma einiger weniger Staats- und Regierungschefs. Es ist eine Frage des Mangels an politischem Willen und Mangel an europäischer Solidarität. Und es ist derzeit die Grundsatzfrage: Stärken wir die europäische Demokratie? Stärken wir die Europäische Union als Instrument zur Bewältigung der Herausforderungen, oder beginnen wir, in den Kisten der Vergangenheit zu kramen und die nationale Karte gegen die europäische Lösung zu spielen? Dobovisek: Othmar Karas, Europapolitiker von der Österreichischen Volkspartei, und weil Herr Karas gerade unterwegs ist, haben wir das Interview kurz vor der Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Othmar Karas im Gespräch mit Mario Dobovisek
Den Zaun, den Ungarn gegen Flüchtlinge gebaut hat, soll zur Hälfte die EU zahlen - das fordert Präsident Viktor Orbán. Die EU weist die Forderung zurück. Es könne nicht sein, dass man auf der einen Seite Solidarität fordere und sich auf der anderen Seite weigere, solidarische Maßnahmen einzuhalten, sagte der österreichische Europapolitiker Othmar Karas im Dlf.
"2017-09-01T12:12:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:49.638000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ungarn-und-die-eu-solidaritaet-ist-keine-einbahnstrasse-100.html
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"Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese"
Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd) Martin Schulz bewertet den Wahlausgang in Frankreich als gut. Mit einer höheren Wahlbeteiligung als in der ersten Runde der Regionalwahlen und einer "Mobilisierung des Willens" habe man die Demokratiefeinde stoppen können, sagte er im Deutschlandfunk. Die Entscheidung der Sozialisten von Präsident François Hollande, Kandidaten in einigen Regionen zurückzuziehen, um die konservativen Konkurrenten zu stärken, sei richtig gewesen, so der SPD-Politiker Schulz. Beide demokratische Großparteien hätten sich entschlossen gezeigt, die Republik nicht in die Hände des FN fallen zu lassen. Der Wille zur Verteidigung gemeinsamer Grundwerte sei wichtig. Trotz einer großen Unzufriedenheit vieler Franzosen mit der wirtschaftlichen Situation sei der FN nicht so stark, wie es scheine. Das werde etwa durch die Wahlbeteiligung deutlich. Sie lag in der Stichwahl gestern um fast zehn Prozentpunkte höher als bei der ersten Runde der Abstimmung, bei der der FN noch als stärkste Kraft abschnitt. Im Falle noch höherer Wahlbeteiligungen bliebe FN-Chefin Marine Le Pen eine aussichtslose Kandidatin, sagte Schulz: "Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese." Das Interview in voller Länge: Doris Simon: In Frankreich haben die konservativen Republikaner von Ex-Präsident Sarkozy die zweite Runde der Regionalwahlen für sich entschieden und sieben der 13 Großregionen gewonnen. Fünf gingen an die regierenden Sozialisten. Der Front National, der noch in der ersten Runde vorne lag, gewann keine einzige Region. Aber das heißt längst nicht, dass er an Stimmen verloren hat. Das liegt eher daran, dass viel mehr Menschen als bei der letzten Wahl zur Wahl gingen, und es lag vor allem auch an den Sozialisten. Die haben nämlich in mehreren Regionen ihre Kandidaten zurückgezogen. Dadurch wurde nicht nur der Front National verhindert, sondern zugleich die politische Konkurrenz ins Amt befördert, eben die konservativen Republikaner. - Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments (SPD). Guten Morgen! Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Simon. Simon: Herr Schulz, ist das aus Ihrer Sicht ein guter Wahlausgang? Schulz: Ja, in jedem Fall. Der Front National hat einen schweren Dämpfer hinnehmen müssen, hat viele Stimmen mobilisiert, wie schon im ersten Wahlgang, aber man sieht, dass bei einer höheren Wahlbeteiligung und bei der Mobilisierung des Willens der demokratischen Mehrheit im Lande diese Demokratiefeinde gestoppt werden können. "Man darf dieses wichtige Land nicht in die Hände dieser Leute fallen lassen" Simon: Aber eine große Zahl von Franzosen hat ja dieses Mal genauso wie beim ersten Mal Front National gewählt. Wäre es da nicht demokratischer gewesen, auf taktische Absprachen zu verzichten, also auch auf den Rückzug eigener Kandidaten der Sozialisten, vielleicht auch klüger, weil sich der Front National ja wie viele Parteien, wenn sie mal regieren, selber entzaubern könnte? Schulz: Wenn Sie eine Partei haben, die tatsächlich seriös regieren könnte oder regieren wollte, dann wäre das überlegenswert. Aber Ihre Frage muss man in zwei Teilen beantworten. Erstens einmal: In Frankreich hat sich gezeigt, dass es einen Willen gibt zur Verteidigung der republikanischen Werte: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Das sind ja nicht irgendwelche Worte, sondern dahinter steckt ein Konzept, das von Front National negiert wird, schlicht und ergreifend für falsch erklärt wird. Und dass sowohl die Mitte-Links- als auch die Mitte-Rechts-Bewegung, die gemäßigten Demokraten beider großen Lager sagen, wir lassen die Republik nicht in diese Hände fallen, das finde ich gut. Das ist ein großer Erfolg für Manuel Valls, den Ministerpräsidenten, der genau diesen Appell an die Wähler gerichtet hat. Zweitens: Das Programm des Front National ist, raus aus dem Euro und Wiedereinführung von Grenzen. Die französische Wirtschaft, die genau vom Euro und vom Export und Import stark abhängig ist, wäre binnen weniger Monate am Ende. Man darf dieses wichtige Land nicht wegen des Landes selbst, aber auch nicht wegen Europa in die Hände dieser Leute fallen lassen. Simon: Sie finden das ausdrücklich gut, dass Ihre Schwesterpartei in Frankreich Kandidaten zurückgezogen hat und am Ende dann die Republikaner gewinnen? Schulz: Im Gegensatz zur Partei von Nikolas Sarkozy, den sogenannten Republikanern, also der früheren UMP, die sich durch die konsequente Haltung der Sozialisten jetzt in sieben Regionen in der Mehrheit sehen, haben die umgekehrt ihre Kandidaten in einigen Regionen eben nicht zurückgezogen, was aber sicher zu schweren Auseinandersetzungen in der Partei führen wird. Denn die beiden großen Gewinner, Herr Estrosi im Süden und Herr Bertrand im Norden, zwei Schwergewichte in dieser Partei, haben sich gestern in ihren Reden ausdrücklich bei den Wählern der Linken für ihr Vertrauen bedankt. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Nicolas Sarkozy propagiert hatte. Ich glaube, dass die heute Morgen heftige Debatten haben werden. Aber wichtiger, viel wichtiger als das ist der Wille zur Verteidigung gemeinsamer republikanischer Werte. Der hat gezogen, der hat zehn Prozent mehr an die Wahlurnen gebracht. Es war eine Wahlbeteiligung von 59 Prozent. Ich glaube, dass bei einer normalen Wahlbeteiligung von zwischen 75 und 80 Prozent bei Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen das bleibt, was sie bisher auch war: eine aussichtslose Kandidatin. "Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese" Simon: Herr Schulz, bleiben wir noch mal kurz bei den Zahlen. Seit dreieinhalb Jahren regieren Francois Hollande und seine sozialistische Regierung Frankreich. Heute ist der Front National die stärkste Partei. Treibt die Politik der Sozialisten dem Front National auch die Wähler in die Arme? Schulz: Ich glaube, dass die französische Politik seit jeher ein größeres Protestpotenzial hat, als wir das in Deutschland kennen. Erinnern Sie sich an die Zeiten in den 70er-, 80er-Jahren. Sie, Frau Simon, kennen sich ja relativ gut aus. Da hatte die Kommunistische Partei um die 25 Prozent. Wenn Sie sich anschauen, in welchen Regionen damals die KPF stark war, sehen Sie, dass dort heute der Front National stark ist. Ich glaube, es gibt ein großes Maß an Enttäuschung aktuell, das dem Front National Wähler zutreibt. Das ist richtig. Simon: Aber es liegt nicht an den Sozialisten? Schulz: Es liegt ganz sicher daran, dass die Menschen unzufrieden sind mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wirtschaftswachstum gering. Frankreich hat eine tiefe soziale Spaltung, die die sozialistische Regierung in den drei Jahren, in denen sie jetzt im Amt ist, noch nicht hat überwinden können. Das ist richtig. Die Wachstumsschwäche ist auch kein spezifisch französisches Problem. Das haben wir in der Eurozone außerhalb Deutschlands in vielen anderen Ländern, die auch konservativ regiert werden. Das ist insgesamt das Resultat einer Politik innerhalb der Eurozone, die viel zu wenig auf Wachstum und Investition gesetzt hat und viel zu stark auf ausschließliche Haushaltssanierung. Darunter leidet Frankreich stark. Dennoch glaube ich, dass die Unzufriedenheit hoch ist. Nur ich will Ihnen eines noch mal zu bedenken geben, um über den Front National sich keine Illusionen zu machen, und das tue ich nicht. Frau Le Pen ist eine Fraktionsvorsitzende in meinem Parlament. Ich muss jede Woche mit ihr mich auseinandersetzen. Der größere Teil der Wählerinnen und Wähler in Frankreich sitzt in der Wahlenthaltung. Auch bei diesen Regionalwahlen ist eine Wahlbeteiligung von 59 Prozent, zehn Prozent höher als im ersten Wahlgang, aber es ist ja keine hohe Wahlbeteiligung. Deshalb noch mal: Frau Le Pen ist wahlpolitisch ein Scheinriese. Simon: Herr Schulz, wenn Frankreich den Rechtspopulismus wählt, auch wenn es jetzt erst mal andere Parteien wieder in die Regionen an die Macht befördert hat, wie sollten eigentlich Deutschland und andere EU-Länder reagieren? Zuschauen, weil es ja eine demokratische Entscheidung ist? Kann man mit einer Frau Le Pen zusammenleben? Schulz: Die Politik in Europa ist so, dass wir alle zusammenhängen. Die Zeiten, in denen Sie sagen konnten, was in einem Land geschieht, ist für ein anderes Land nicht maßgeblich und da darf sich ein anderes Land auch nicht drum kümmern, die sind vorbei. Wenn in Griechenland gewählt wird, dann schauen wir Deutsche nach Griechenland, so als würde bei uns gewählt, und wenn in Deutschland gewählt wird, tun das die Griechen umgekehrt. Erinnern Sie sich mal an den Sommer diesen Jahres, wie sehr die Wahlen in Griechenland unsere Innenpolitik bestimmt haben. Nein, natürlich geht uns das an, und im Übrigen: Ich wiederhole, Frau Le Pen ist Fraktionsvorsitzende im Europaparlament. Dort werden Gesetze verabschiedet, die sind für alle Bürgerinnen und Bürger Europas bindend. Deshalb kann man sich sehr wohl mal anschauen, was in Frankreich geschieht. "Vorsichtig sein mit Maßnahmen gegen Rechtspopulisten" Simon: Sie haben jetzt den Blick auf Europa geweitet. In der EU regieren, in Frankreich noch nicht, aber in der EU regieren immer mehr Populisten. Krasse Beispiele auf der rechten Seite sind zum Beispiel Ungarn und jetzt entwickelt sich da auch einiges in Polen. In Ungarn hat die EU ewig gewartet, bis sie Verfahren eingeleitet hat gegen Verstöße gegen EU-Recht. Wie lange wird sie in Polen noch zuschauen? Schulz: Ich will nichts beschönigen, aber, Frau Simon, wir haben nicht lange gewartet im Europaparlament, bis wir Debatten über Ungarn geführt haben. Simon: Aber bis dann was passierte durch die Kommission schon. Schulz: Sie müssen sich über Folgendes im Klaren sein. Sie müssen, wenn Sie ein Verfahren einleiten gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, nachweisen, dass der Mitgliedsstaat Europarecht vorsätzlich und systematisch gebrochen hat. Das ist nicht ganz einfach, das einem Land nachzuweisen. Und wenn Sie ein Verfahren einleiten, mit dem Sie dann anschließend scheitern, dann tun Sie denjenigen, die testen, wie weit sie gehen können, den Gefallen, weil Sie dann nämlich genau aus denjenigen Opfer machen, die eigentlich Täter sind. Simon: Aber es gibt ja noch Methoden davor. Man kann das ja deutlich ansprechen. Schulz: Richtig, und das ist die öffentliche Debatte, und das haben wir im Europaparlament ja auch in umfassender Form getan und Sie haben auch umfassend darüber berichtet. Und wir diskutieren jetzt über Polen, wir beide hier am Telefon, und das ist ja nicht der erste Fall, wo über ein Land diskutiert wird, und ich gebe immer eines zu bedenken. Bevor wir Maßnahmen ergreifen, ist die Erfahrung, die wir seit Haider in Österreich gemacht haben, die: Wenn die Rechtspopulisten das Argument in die Hand bekommen, äußere Kräfte, Fremde, andere Länder, fremde Institutionen würden versuchen, sich in die Innenpolitik ihres Landes korrigierend einzumischen, haben sie den größten Zulauf. Deshalb rate ich dringend dazu, dort immer sehr vorsichtig zu sein mit Maßnahmen. Etwas anderes ist die Debatte. Was sich da in Polen abspielt, hat Staatsstreich-Charakter und ist dramatisch. Ich nehme an, dass wir in dieser Woche im Europaparlament, spätestens in der Januar-Sitzung darüber umfassend diskutieren werden. Simon: Der Vorsitzende des Europaparlaments, Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD war das. Herr Schulz, vielen Dank! Schulz: Danke Ihnen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Schulz im Gespräch mit Doris Simon
Die zweite Runde der Regionalwahlen in Frankreich sei für den rechtsextremen Front National ein schwerer Dämpfer gewesen, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im DLF. Aus Sicht des SPD-Politikers hat die französische Gesellschaft in der Stichwahl gezeigt, dass sie ihre Grundwerte verteidigen will.
"2015-12-14T08:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:14:03.880000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regionalwahlen-in-frankreich-frau-le-pen-ist-wahlpolitisch-100.html
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"Sammelt alles, schnüffelt alles aus, nutzt alles aus"
"No Place to Hide" - so heißt das Buch von Glenn Greenwald im Original. Es gibt keinen Platz, sich zu verstecken: ein mehrdeutiger Titel. (Britta Pedersen, dpa picture-alliance) Dieses Buch ist das, was die Angelsachsen einen Page-Turner nennen: ein Buch, das man nicht aus der Hand legen mag, bis man es ausgelesen hat. Es besitzt alles, was einen spannenden Roman ausmacht: es gibt Helden und Schurken, es geht um Macht und Moral und um die Frage: was hat das alles mit mir zu tun? "Insbesondere für die jüngere Generation ist das Internet keine Domäne, die nur für bestimmte Zwecke benutzt wird. Es ist nicht nur unser Postamt und unser Telefon, sondern das Epizentrum der Welt – der Ort, wo sich praktisch das ganze Leben abspielt. Im Internet werden Freundschaften geschlossen, Lektüre und Filme ausgewählt, politische Aktionen organisiert, die privatesten Daten erstellt und gespeichert. Dort entwickeln wir unsere Persönlichkeit und unser Selbstgefühl und bringen es zum Ausdruck. Aus diesem Netzwerk ein System zur Massenüberwachung zu machen hat Folgen, die bislang mit den Überwachungsprogrammen keines Landes vergleichbar sind." Größter Überwachungsskandal der Welt Schreibt Glenn Greenwald, der Journalist, der gemeinsam mit der Dokumentarfilmerin Laura Poitras dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden geholfen hat, den größten Überwachungsskandal, den die Welt bislang gesehen hat, öffentlich zu machen. Die Geschichte, wie der erst 29-jährige Snowden über Monate zunächst unter Pseudonym vergeblich versucht, Kontakt zu Greenwald herzustellen, wie es dann über Laura Poitras dennoch gelingt, wie Greenwald und Poitras dann unter konspirativen Umständen nach Hongkong fliegen, die erste Begegnung mit Snowden in einem Luxushotel: das alles liest sich wie ein Spionagethriller. "Ohne bewusst darüber nachgedacht zu haben, war ich aus verschiedenen Gründen davon ausgegangen, dass Snowden älter sei, wahrscheinlich in den Fünfzigern oder Sechzigern. (...) Wer eine derart drastische Entscheidung trifft und sich selbst geradezu opfert, dachte ich mir, der musste Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte der Desillusionierung hinter sich haben. Dass dieser junge Bursche mein Informant sein sollte, der über all das geheime NSA-Material verfügte, war eines der verwirrendsten Erlebnisse meines Lebens. In Gedanken spielte ich rasend schnell die verschiedenen Möglichkeiten durch: Steckte da irgendein Schwindel dahinter? War ich umsonst um die halbe Welt geflogen?" Greenwald über Snowden: Hochintelligent, denkt strategisch Doch der junge Mann mit dem weißen T-Shirt und der modischen Nerd-Brille gibt in vollem Bewusstsein über die Tragweite seiner Entscheidung sein bisheriges Leben auf, um die Welt vor der Überwachungstätigkeit der NSA und anderer Geheimdienste wie z.B. des britischen GCHQ zu warnen. Snowden, sagt Greenwald, ist kein untergeordneter, kleiner IT-Experte, der zufällig an brisantes Material gelangt ist und aus persönlicher Frustration das Licht der Öffentlichkeit gesucht hat. Greenwald zufolge ist er hochintelligent, denkt strategisch und plant jeden seiner Schritte genau. Er sei zudem ein Mensch mit hohen moralischen Maßstäben, die es ihm erlaubten, bei all der Gefahr, in die er sich begibt, einigermaßen ruhig und selbstsicher zu bleiben. Grundsätzliche Erwägungen sind es auch, die den ehemaligen Anwalt Greenwald antreiben. Er warnt davor, dass unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ein System der Massenüberwachung etabliert wird, dessen Existenz allein schon ausreiche, um Andersdenkende mundtot tut zu machen. "Die US-Regierung hat Terrorismus in den vergangenen Jahren als Vorwand genutzt, die Folter wieder einzuführen, in den Irak einzumarschieren und ihn zu zerstören, Menschen ohne Anklage in Guantanamo festzuhalten und Menschen auf der ganzen Welt auszuschnüffeln. Man braucht kein Verschwörungstheoretiker zu sein, um das so zu sehen, sondern man muss nur Kenntnisse über die Geschichte haben." Die NSA-Dokumente, die Greenwald für sein Buch zusammengestellt hat, beweisen, wie umfangreich die Anstrengungen waren und noch sind, die Internet- und Telekommunikation, und zwar nicht nur in den USA, zu unterwandern - auch mit Hilfe der großen Firmen wie Facebook, Microsoft, Skype, Google und Apple. Es geht dabei nicht nur um das Privatleben möglicher "Zielpersonen", sondern in großem Umfang auch um internationale Wirtschaftsspionage. Nach Greenwalds Informationen fängt die NSA regelmäßig amerikanische Netzwerkgeräte ab und verwanzt sie, bevor sie zu internationalen Kunden transportiert werden. Allein die schiere Möglichkeit der Überwachung scheint die Verantwortlichen dazu zu bringen, jedes Maß und Ziel zu verlieren. "Es gibt da ein spezielles Dokument, das ich besonders aufschlussreich finde. Die NSA präsentierte es bei einer Geheimtagung der Five-Eyes, also der fünf verbündeten Geheimdienste der USA, Kanadas, Neuseelands, Großbritanniens und Australiens. Unter dem Titel "New Collection Posture" heißt es: Sammelt alles, schnüffelt alles aus, wisst alles, verwertet alles, nutzt alles aus." Gleichgültigkeit großer Teile der Öffentlichkeit Die Gesprächsunterlagen von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon vor einem Treffen mit Präsident Obama wurden anscheinend ebenso von der NSA ausgespäht wie auch 2010 die Abstimmungsabsichten von Mitgliedern des Weltsicherheitsrates in Sachen Iran-Sanktionen. Beim Lesen ist man überrascht, oft überhaupt nicht mehr überrascht zu sein: über die Programme etwa, die vorsorglich entwickelt wurden, um Handys im Flugzeug abzuhören - falls es einmal möglich und erlaubt ist, sie dort zu benutzen, oder das Eindringen der NSA in die diplomatische Infrastruktur ausländischer Botschaften. Doch nicht nur die Gleichgültigkeit großer Teile der Öffentlichkeit gegenüber staatlicher Überwachung macht es Enthüllern wie Glenn Greenwald schwer. Da ist das rigide Vorgehen der Regierung Obama gegen missliebige Journalisten, die zunehmend kriminalisiert werden, da sind Geheimdienste, die jenseits demokratischer Kontrolle zu stehen scheinen, da ist auch das regierungskonforme Verhalten der amerikanischen Mainstream-Medien, mit denen Greenwald streng ins Gericht geht. "Gemäß diesen Regeln, die es der Regierung ermöglichen, Enthüllungen selbst zu steuern und ihre Auswirkungen zu minimieren, oder gar zu neutralisieren, wendet sich die Redaktion zuerst an die Behörden und informiert sie darüber, was sie zu veröffentlichen gedenkt. Sicherheitsbeamte der Regierung erklären den Redakteuren dann lang und breit, wie die nationale Sicherheit durch diese Veröffentlichungen angeblich bedroht werden würde. Das bewog die Washington Post beispielsweise 2005, als sie über die Existenz von Geheimgefängnissen der CIA berichtete, die Namen der Länder, in denen es solche Gefängnisse gab, nicht preiszugeben; auf diese Weise trug sie sogar zum Fortbestehen dieser gesetzeswidrigen CIA-Folterstätten bei." Weltweiter Abbau des Rechts auf Privatsphäre No Place to Hide - so heißt das Buch im Original. Es gibt keinen Platz, sich zu verstecken: ein mehrdeutiger Titel. Denn nicht nur liegen unsere ganzen modernen Kommunikationswege für interessierte Geheimdienste offen, auch jeder Bürger, jeder Politiker, jeder Jurist müsste sich angesichts des NSA-Skandals fragen, ob er gegen den weltweiten Abbau des Rechts auf Privatsphäre und die Untergrabung von Informationssicherheit und - freiheit genug unternimmt. Dieses Buch zu kaufen und zu lesen, wäre vielleicht ein erster Schritt, denn es stärkt diejenigen, die die Aufklärung vorantreiben. Glenn Greenwald: Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen, Droemer Verlag, 368 Seiten, 19,99 Euro ISBN: 978-3-426-27635-8
Von Brigitte Baetz
Der Journalist Glenn Greenwald hat Edward Snowden geholfen, den NSA-Skandal scheibchenweise ans Licht zu bringen. Morgen wird es wohl neue Schlagzeilen geben - denn Greenwalds Buch erscheint. Es hat alles, was einen spannenden Roman ausmacht, meint unsere Rezensentin. Die schiere Möglichkeit der Überwachung scheine die Verantwortlichen dazu zu bringen, jedes Maß zu verlieren.
"2014-05-12T19:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:40:36.540000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/greenwalds-buch-die-globale-ueberwachung-sammelt-alles-100.html
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Stadt voller moderner Bauruinen
Ein Blick auf Rom mit dem Kolosseum (picture-alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch) Toll sieht sie aus: die zukünftige Stadt des Schwimmsports am östlichen Stadtrand von Rom. Es handelt sich um ein Projekt von Spaniens Stararchitekt Santiago Calatrava. Geplant sind drei Stadien für Wassersport im typisch futuristischen Stil des Architekten, mit bis zu 40 Meter hoch geschwungenen Stahlträgern, viel Glas und Stahlbeton. 2009 sollten die drei Bauwerke eingeweiht werden. Besucher der Baustelle können nur staunen. Nur eines der Gebäude erhebt sich im flachen Land der römischen Campagna, im Osten Roms. Es wird "Vela" genannt, das Segel. Ein hoch aufgerichtetes und tatsächlich segelförmiges Bauwerk ganz in weiß. Von außen betrachtet sieht es nahezu fertig aus. Aber der Eindruck trügt. Niemand kann im Innern schwimmen. Die Arbeiten wurden nie beendet. Die ersten Stahlträger setzen bereits Rost an. Giuseppe Novelli ist Rektor der römischen Universität Tor Vergata. Die mit Pauken und Trompeten angekündigte Stadt des Schwimmsports sollte Teil der Universität werden: "Heute hatten wir hier eine Sitzung, wieder eine Sitzung, um die blockierte Situation irgendwie in den Griff zu bekommen. Sogar Calatrava ist angereist.“ Das war vor einigen Tagen. Der Architekt wollte wissen, warum es nicht voran geht mit den Bauarbeiten. Eine klare Antwort bekam er nicht. Ratlos reiste er wieder ab. Kafkaeskes Organisationschaos Das Bauprojekt ist zum Opfer eines kafkaesken Organisationschaos geworden. Die Kosten sind von 120 Millionen auf 600 Millionen Euro angestiegen. Ein Ende der Kostensteigerung und der Bauarbeiten ist nicht abzusehen. Nicht ausgeschlossen wird, dass Calatravas Schwimmhallen teure Bauruinen bleiben. Steuergelder, die voll in den Sand gesetzt wurden. Das gleiche Schicksal droht der bis jetzt nur halbfertigen Kongresshalle in Form einer Wolke am südlichen Stadtrand Roms, im Viertel EUR. Auch hier ein fantastisch anmutender Entwurf des berühmten römischen Architekten Massimiliano Fuksas. Die Wolke aus Stahl und Glasfaser soll auf 3500 Quadratmetern zirka 2000 Menschen Platz bieten. Der eigentliche Kongresssaal hat von außen besehen tatsächlich die Form einer Wolke. Sie scheint in einem 39 Meter hohen Glas-Stahl-Kasten mit einer Grundfläche von etwa 15.000 Quadratmetern zu schweben. Dank eines ausgeklügelten Stahlträgersystems ist der Versammlungssaal am Boden und an den Seitenwänden befestigt. Es handelt sich um einen der eindrucksvollsten Entwürfe des römischen Architekten. Die Wolke sollte schon vor Jahren eingeweiht werden und längst schweben. Massimiliano Fuksas: "Ich bin nicht verbittert. Ich bin nur erstaunt. 1998 gewann ich den Wettbewerb für dieses Bauwerk. Nach 15 Jahren ist hier noch kein Ende abzusehen. Irgendwie wird das hier schon weiter gehen." Schlendrian, Korruption und chronischer Geldmangel Ein Entwurf, der, sollte er denn irgendwann einmal komplett realisiert werden, garantiert zum Besuchermagneten und Ziel von Architekturfreaks werden wird. Doch es fehlen mindestens 170 Millionen Euro zur Fertigstellung. Die Baustelle liegt seit mehr als zwei Jahren brach. Vor wenigen Tagen erklärte der neue sozialdemokratische Bürgermeister Ignazio Marino, dass die Wolke 2015 fertig sein wird: "Wir stehen vor einer faszinierenden Herausforderung bei diesem Bauwerk. Die Wolke fertiggestellt, um unsere Stadt zu modernisieren." Doch die von Marino regierte Stadt Rom steht vor dem finanziellen Aus. Überall wird gekürzt. Das Opernhaus steckt mit 40 Millionen Euro in der Kreide. Auch die städtischen Verkehrsbetriebe haben Schulden: beeindruckende 1, 7 Milliarden Euro. Im Rathaus auf dem Kapitolshügel überlegt man sich sogar das MACRO zu schließen, das städtische Museum für zeitgenössische Kunst. Schlendrian, Korruption und chronischer Geldmangel vereiteln alle Versuche, die italienische Hauptstadt mit zeitgenössischer Architektur zu verschönern. Laut Medienberichten sollen Fuksas und Calatrava inoffiziell erklärt haben, nie mehr etwas für Rom zu entwerfen. Ein gewiefter römischer Fremdenführer bietet bereits eine halbtätige Besichtigungstour zu den, so nennt er es, "modernen Ruinen Roms" an. Wie es heißt, sehr zum Missfallen der Stadtverwaltung.
Von Thomas Migge
Ein Palast des Schwimmsports, eine fantastische Kongresshalle: In Rom platzen Architektenträume. Weil der Stadt Geld fehlt werden viele kreative Bauvorhaben nicht fertig. Sie setzen Rost an und vermodern. Inzwischen gibt es schon Führungen zu den teuren Ruinen.
"2014-03-01T17:30:00+01:00"
"2020-01-31T13:28:40.688000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/architektur-in-rom-stadt-voller-moderner-bauruinen-100.html
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"Das bleibt schon noch spannend"
Dirk Müller: Es stehen Aussagen gegen Aussagen. Sebastian Edathy, der nach wie vor mit dem Vorwurf konfrontiert ist, Kinderpornos im größeren Stil aus dem Internet genutzt zu haben, er will auspacken heute - das hat er jedenfalls angekündigt - und will der Wahrheitsfindung dienen, wie er sagt. Der frühere SPD-Innenpolitiker behauptet, gewarnt worden zu seinen von seinen Parteifreunden, als die Staatsanwaltschaft in Hannover mit den Ermittlungen begonnen hat. Wer soll an dieser Affäre alles beteiligt sein? Der SPD-Innenpolitiker Michael Hartmann, SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann und auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier vielleicht und ernsthaft belastet auch Jörg Ziercke, ebenfalls SPD, Ex-Chef des Bundeskriminalamtes. Konsequenzen aus der Affäre hat bislang nur ein Politiker gezogen, nämlich Hans-Peter Friedrich (CSU), der als Agrarminister Anfang des Jahres zurückgetreten ist. Seit knapp zwei Stunden steht Sebastian Edathy im Mittelpunkt des Interesses in Berlin, vor allem bei den Journalisten, denn noch bevor der Untersuchungsausschuss beginnt, gegen 13 Uhr, also in gut 45 Minuten, stand Edathy für die Fragen der Presse zur Verfügung und steht es immer noch. Die Edathy-Affäre und die Folgen - unser Thema hier im Deutschlandfunk. Wir sind jetzt verbunden mit Katja Keul, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag, auch deren rechtspolitische Sprecherin. Guten Tag. Katja Keul: Schönen guten Tag, Herr Müller. Müller: An Sie auch die Frage, Frau Keul. Ist die SPD jetzt aus dem Schneider? Keul: Na ja, das wird man sehen müssen. Das ist ja jetzt erst mal die einseitige Schilderung des ehemaligen Kollegen Edathy, von der ich sagen muss, sie ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Es gibt eine Gegendarstellung von Herrn Hartmann und das wird man sehen müssen, ob Herrn Hartmann das gelingt, das zu widerlegen. Wenn sich bestätigt, was Edathy vorträgt, dann stehen natürlich durchaus einige Vorwürfe im Raum, auch strafrechtliche Ermittlungen wegen möglicherweise versuchter Strafvereitelung oder Geheimnisverrat. Das bleibt dann schon noch spannend, was die Gegenüberstellung im Untersuchungsausschuss zeigen wird. "Es ist in sich schlüssig" Müller: Sie haben, Frau Keul, die Pressekonferenz Edathys ja auch wie wir hier in der Redaktion vor dem Fernseher verfolgt, haben sich das genau angeschaut, zugehört. Sie sagen, einiges ist durchaus schlüssig. Hat er für Sie glaubwürdig gewirkt? Keul: Wenn es um die Darstellung dieser Kommunikationsstränge geht, wirkt das erst mal glaubwürdig. Es ist in sich schlüssig, es ist widerspruchsfrei, so kann es gewesen sein. Und ob das hält, wird man sehen müssen, wenn auch Hartmann dann dazu seine Aussage gemacht hat. Aber so erst mal kann ich das nachvollziehen. Müller: Wenn wir noch mal auf die politische Ebene schauen. Inwieweit war die SPD-Führungsmannschaft mit einbezogen? Was hat sie weitergegeben? Wer war daran beteiligt? Das wird die Schlüsselfrage unter anderem ja sein. Der Untersuchungsausschuss beginnt jetzt in gut einer halben Stunde in Berlin. Aber auch noch mal zum politischen Verständnis für diejenigen, die im politischen Betrieb und auch in diesem juristischen Betrieb nicht drin sind. Ist das denn legitim, dass ein Staatsanwalt ermittelt und ein Sigmar Gabriel, SPD-Parteichef, erfährt davon, weiß davon, ein Außenminister Frank-Walter Steinmeier erfährt davon, weiß davon und hat damit auch das Potenzial, mit diesen Informationen umzugehen? Keul: Na ja, dass die die Informationen haben, ist ja nicht das Problem. Wer hat sie ihnen gegeben? Das ist ja nun auch schon der Punkt, zu dem auch ein Minister, nämlich Friedrich, zurückgetreten ist, weil er von dort aus als Geheimnisträger im Prinzip diese Information in den politischen Raum gegeben hat. Dann sind die da. Das alleine ist natürlich jetzt erst mal nicht das Problem. Aber wenn sich bewahrheiten sollte, was Edathy hier ja angedeutet - er spricht ja davon, der Hartmann sei instrumentalisiert worden, ihn zum Mandatsverzicht zu bringen -, das ist natürlich schon eine schwere Behauptung, mit der man sich da beschäftigen werden muss. Müller: Wäre aber durchaus möglich im politischen Betrieb. Keul: Na ja. Er hat das dargelegt, dass die SPD sagt, wir hatten hier schon mal so einen Fall Tauss, das ist ja auch nachvollziehbar, uns ist es lieber, der legt nieder, als dass das hier irgendwie eine Welle schlägt, das ist alles erst mal so in sich plausibel, wie gesagt unter der Voraussetzung, dass sich das dann im Untersuchungsausschuss bestätigt. Und diese Frage, die er aufwirft, steht ja tatsächlich im Raum: Warum hat jemand wie Ziercke, der ja nun bekanntermaßen kein Freund von Edathy ist, da so ein Interesse dran, dem die Information zukommen zu lassen? Das ist schon noch mal mit einem ganz großen Fragezeichen versehen. "Das darf ein BKA-Chef auf keinen Fall" Müller: Wir reden jetzt über Jörg Ziercke. Das ist eben im Beitrag ja auch von Frank Capellan noch einmal deutlich geworden. Vielleicht ist das die entscheidende Schlüsselfigur: Jörg Ziercke, auch SPD-Parteimitglied und Chef des Bundeskriminalamts. Wie zwielichtig ist diese Rolle? Ziercke hat ja immer gesagt, ich habe damit nichts zu tun, ich habe nichts weitergegeben. Keul: Na ja. Ziercke hat ja unstreitig das an seinen Staatssekretär gemeldet, der es an seinen Minister gemeldet hat, der es dann in die SPD gegeben hat. Das ist ja das, was wir bisher wussten. Was jetzt neu ist, zumindest auf dem Tisch liegt - ob es stimmt, muss man ja noch sehen -, das ist die Tatsache, dass dann auch weiterhin laufend Ziercke über Hartmann an Edathy aus dem laufenden Verfahren berichtet hat. Das ist neu und das ist natürlich auch eine sehr schwerwiegende Behauptung. Müller: Und das darf ein BKA-Chef auf keinen Fall? Keul: Das darf ein BKA-Chef auf keinen Fall. Müller: Und diejenigen, die die Informationen bekommen, sind aber dahingehend aus dieser Verantwortung heraus und dürfen alles weitergeben? Ist das so? Sie sagen, Sigmar Gabriel, der kann das ruhig wissen, und wenn er es weitergibt, ist ja sein privates Problem. Keul: Zumindest sind diejenigen, also die SPD-Spitze, selber ja keine Geheimnisträger. Denen ist eine Information zugekommen, die sollen sie vertraulich behalten. Wie vertraulich die das gemacht haben, sieht man ja. Es waren ja dann relativ viele bis hin zu den Büroleitern, die da Bescheid wussten. Aber die sind ja nicht in der Form Geheimnisträger. Das müsste man politisch bewerten, aber jedenfalls ist das jetzt kein strafrechtlicher Vorwurf, der da im Raum steht. "Ich will weder jemanden reinreiten, noch freizeichnen" Müller: Das heißt, die Führungspersonen Thomas Oppermann, Sigmar Gabriel wie auch Frank-Walter Steinmeier, der ja auch immer wieder und erneut aufgetaucht ist in diesem Zusammenhang, die haben politisch jedenfalls sich keiner Verantwortung in dieser Form zu stellen? Keul: Wie gesagt, ich will weder jetzt hier jemanden reinreiten, noch freizeichnen, weil das muss man noch mal sehen. Edathy hat ja in den Raum gestellt - und das ist eine schwerwiegende Behauptung -, dass Oppermann, der ja auch unstreitig mehrfach mit Hartmann deswegen im Gespräch stand, am Ende gewollt hat, dass Hartmann auf Edathy einwirkt. Das wäre, wenn sich das so bestätigt, nicht unproblematisch, weil er dann natürlich Informationen auch gezielt eingesetzt hätte. Müller: Aber auf der anderen Seite vielleicht auch nachvollziehbar, wenn die SPD-Spitze sagt, rede mal mit dem, denn es ist schon besser, wenn er aus der Schusslinie gerät beziehungsweise die ganze Partei da nicht mit reinzieht. Keul: Soweit in Ordnung. Soweit nicht noch ein Strang Oppermann-Ziercke irgendwie besteht, wenn nur Oppermann mit Hartmann spricht und nur Ziercke die Informationen an Hartmann gibt, dann hat im Prinzip am Ende alleine der Hartmann den Vorwurf an der Backe. Das ist richtig. Müller: Frau Keul, reden wir noch mal über den Untersuchungsausschuss. Da fragen sich viele, die viele Untersuchungsausschüsse schon beobachtet und verfolgt haben, na ja, was soll das Ganze bringen. Oft ist es ja so, dass das ein bisschen ergebnislos endet beziehungsweise die verschiedenen Parteien zu ihren verschiedenen Schlussfolgerungen kommen. Aber wir haben heute Morgen beispielsweise mit der Vorsitzenden des Ausschusses hier im Deutschlandfunk gesprochen, mit Eva Högl, auch SPD. Das heißt, die Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zur Edathy-Affäre, der in der SPD war, ist in der SPD und untersucht die Ungereimtheiten in der SPD. Kann das politisch glaubwürdig sein? "Es gibt keinen Anlass, am Vorsitz von Eva Högl zu zweifeln" Keul: Da gibt es bisher jedenfalls, soweit ich weiß, keinen Anlass, irgendwie an dem Vorsitz von Eva Högl jetzt zu zweifeln. Sie sitzt diesem Ausschuss vor, sie leitet die Verhandlungen und die Zeugenbefragungen, aber natürlich stellen ja auch alle anderen Mitglieder aus diesem Ausschuss entsprechende Fragen. Das ist jetzt, glaube ich, nicht der geeignete Posten, um da Erkenntnisse zu verhindern oder Ähnliches. Müller: Sie soll ja Erkenntnisse fördern! Keul: Sie soll Erkenntnisse fördern, der Ausschuss insgesamt soll diese Erkenntnisse fördern, und ich habe keine Anhaltspunkte dafür, dass sie das in irgendeiner Weise blockieren würde. Müller: Sie sind ja auch Parlamentarische Geschäftsführerin, machen sich mit den parlamentarischen Gepflogenheiten vertraut, sind damit vertraut. Ist das nach außen hin in irgendeiner Form plausibel zu argumentieren beziehungsweise zu rechtfertigen, dass die Partei, um die es geht, sich selbst zuvorderst an der Spitze untersucht? Keul: Es gibt bei uns eine bestimmte Reihenfolge, in der Ausschusssitze vergeben werden, und bei diesem Untersuchungsausschuss war das der Reihenfolge nach so, dass das ein SPD-Vorsitz wäre. Es wäre schon sehr ungewöhnlich gewesen. Die SPD hätte sagen müssen, wir fühlen uns hier so befangen, dass wir uns nicht in der Lage sehen, diesem Ausschuss vorzusitzen. Das wäre nun wiederum auch sehr ungewöhnlich gewesen. "Es wird auf jeden Fall sicherlich heute spannend" Müller: Es wäre nicht klar zu sagen, das muss die Opposition machen, weil es geht um die Regierung. Wie soll da der Kontrollmechanismus funktionieren? Keul: Gut, das ist ja generell so. Bei Untersuchungsausschüssen hat nicht immer die Opposition den. Es ist für uns ein wichtiges Instrument, natürlich auch als Opposition, um die Regierung zu kontrollieren, aber der Vorsitz eines Untersuchungsausschusses fällt nicht immer automatisch der Opposition zu. Ich glaube, da muss man auch ein bisschen die Kirche im Dorf lassen. Der Ausschussvorsitz ist jetzt auch nicht die entscheidende Frage, ob ein Untersuchungsausschuss zu neuen Erkenntnissen kommt oder nicht. Müller: Jetzt an Sie noch zum Schluss die Frage: Wird dabei etwas herauskommen? Keul: Es wird auf jeden Fall sicherlich heute spannend. Man hat unterschiedliche Aussagen hier, die gegeneinandergestellt werden, und ich glaube schon, dass man am Ende des Tages schlauer ist als am Anfang des Tages. Müller: Und die SPD wird mit redlichen Karten spielen? Keul: Der SPD bleibt ja nichts anderes übrig. Der Kollege Hartmann, auf dessen Aussage kommt es an und dem kann man auch nicht den Mund verbieten. Der wird seine Aussage machen müssen und die wird man dann zu bewerten haben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katja Keul im Gespräch mit Dirk Müller
Die Aussagen von Sebastian Edathy hält die Grünen-Bundestagsabgeordnete Katja Keul für glaubwürdig. Es bleibe aber auch die "Gegendarstellung" des SPD-Politikers Hartmann vor dem Untersuchungsausschuss abzuwarten, sagte die rechtspolitische Sprecherin ihrer Partei im DLF.
"2014-12-18T12:20:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:36.513000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/edathy-affaere-das-bleibt-schon-noch-spannend-100.html
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Die Suche nach dem Kompromiss
Alexis Tsipras: "Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden, die humanitäre Krise in der EU zu bekämpfen" (imago/CTK Photo) Dijsselbloem und Tsipras vereinbarten, dass Gespräche zwischen griechischen Behörden und Experten von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) schon von diesem Freitag an beginnen sollen; der in Griechenland verhasste Begriff "Troika" wird tunlichst vermieden. Ziel sei es, das nächste Eurogruppentreffen am Montag vorzubereiten, sagte die Sprecherin Dijsselbloems am Rande des Gipfels. Das ist eine neue Entwicklung, denn Dijsselbloem hatte nach einer erfolglosen Krisensitzung der Eurogruppe am frühen Donnerstagmorgen gesagt, die Expertengespräche könnten nicht vor der Sitzung am Montag stattfinden. Merkel: Wir sind kompromissbereit Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Tsipras eindringlich auf, Kompromissbereitschaft zu zeigen. Deutschland sei dazu bereit, sagte Merkel, die direkt von den Ukraine-Krisengesprächen zum Gipfel gereist war. Allerdings beruhe die Glaubwürdigkeit Europas darauf, dass Regeln eingehalten würden und man verlässlich zueinander sei. Nun werde geschaut, welche Vorschläge die griechische Regierung mache, die dann von den Euro-Finanzministern am Montag erörtert werden sollten. Tsipras gab bei seiner Ankunft in Brüssel nur eine knappe Erklärung ab: "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir gemeinsam eine grundlegende Lösung finden, um die Wunden der Austerität zu heilen, die humanitäre Krise in der EU zu bekämpfen und Europa zurück zu Wachstum und sozialem Zusammenhalt zu bringen", sagte der Chef der linksgerichteten Syriza-Partei, der die bisherigen Sparauflagen der internationalen Geldgeber ablehnt. Juncker äußert sich besorgt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker äußerte sich "sehr besorgt", über die Lage, die eingetreten sei. Der britische Premierminister David Cameron mahnte sowohl Griechenland als auch die Euro-Länder, die Pattsituation so schnell wie möglich zu beenden, weil sonst die britische Wirtschaft leiden würde. Ein Treffen der Euro-Finanzminister war in der Nacht zum Donnerstag ergebnislos auseinander gegangen, nachdem der griechische Finanzressortchef Yanis Varoufakis seine Zustimmung für eine gemeinsame Erklärung wieder zurückgezogen hatte. (bor/swe)
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Im Streit um die griechischen Schulden gibt es vorsichtige Bewegung: Nachdem Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel Kompromissbereitschaft signalisiert hatte, ebneten Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem und der griechische Premier Alexis Tsipras den Weg für das nächste Spitzentreffen.
"2015-02-12T20:51:00+01:00"
"2020-01-30T12:21:40.050000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-und-griechenland-die-suche-nach-dem-kompromiss-100.html
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Der Nächste, bitte!
US-Präsident Donald Trump am 25.1.2017 in Washington bei einem Besuch der Heimatschutzbehörde Homeland Security mit deren Chef John Kelly. (Consolidated / dpa) Am Donnertag entschuldigte sich Anthony Scaramucci noch für seine "farbenfrohe Sprache", die er im Gespräch mit einem Journalisten des "New Yorker" benutzt hatte - aber da war es offensichtlich schon zu spät. Mit seinen deftigen Worten über Donald Trumps Berater Steve Bannon ("Ich versuche nicht meinen eigenen Schwanz zu lutschen. Ich versuche nicht meine eigene Marke auf der verdammten Stärke des Präsidenten aufzubauen") und den damaligen Stabschef Reince Priebus ("verdammter paranoider Schizophrener") hatte sich Scaramucci in Aus geschoßen und ist jetzt - etwas mehr als eine Woche nach seiner Ernennung zum Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses - seinen Job schon wieder los. Entlassung auf Betreiben des neuen Stabschefs John Kelly In einer Presserklärung der US-Regierung hieß es, Scaramucci habe seinen Job freiwillig zur Verfügung gestellt, um es dem neuen Stabschef John Kelly zu ermöglichen, reinen Tisch zu machen und sein eigenes Team zusammenzustellen. Laut Mitarbeitern des Weißen Hauses soll es aber vor allem ebenjener Kelly gewesen sein, der auf Scaramuccis Entlassung gedrängt habe. Intern soll der neue Stabschef ihn als negative Ablenkung bezeichnet haben. Donald Trump selbst äußerte sich bislang noch nicht zur Entlassung von Scaramucci. Nach dem Bekanntwerden der Personalentscheidung am Montagabend twitterte er: "A great day at the White House!"
Thilo Kößler im Gespräch mit Bettina Köster
Zehn Tage nach seiner Ernennung zum Kommunikationsdirektor ist Anthony Scaramucci seinen neuen Job schon wieder los. Satiriker sprechen von einer weiteren Episode der Seifenoper im Weißen Haus. Doch "das Lachen ist in Washington jedem vergangen", sagte USA-Korrespondent Thilo Kößler im DLF.
"2017-08-01T11:20:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:44.700000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-regierung-der-naechste-bitte-100.html
607
Luxemburg glaubt an Dublin
Jean Asselborn, der Außenminister Luxemburgs, steht hinter der Dublin-Verordnung. (AFP/Matthew Mirabelli) Jean Asselborn, der Außenminister Luxemburgs, ist überzeugt, sein Land kommt mit den sogenannten Dublin-Vereinbarungen zurecht. Diese regeln den Umgang mit Menschen, die in Europa um Asyl bitten. "Wenn ein Mensch zu uns kommt und um Asyl nachfragt und er ist schon in einem anderen Schengen-Land abgelehnt worden, dann stellt man das in fünf Minuten fest auf EURODAC, wenn das der Fall ist, kommt er in diese spezifische Prozedur, die wir auch Dublin-Prozedur nennen und in einem Monat im Durchschnitt ist das Problem in Luxemburg gelöst. Wir nehmen Kontakt auf mit dem Land, wo der Antragssteller herkam, und es wird geordnet zwischen den zwei Ländern dann die Rückführung organisiert." Im vergangen Jahr hat Luxemburg gemäß der geltenden Dublin III-Verordnung für 602 Personen Rückführungsanträge zum Beispiel nach Deutschland gestellt - weil die Menschen dort erstmals Asyl beantragt haben. Diese Anträge wurden zwar mehrheitlich von den deutschen Behörden anerkannt, letztendlich aber wurden lediglich 176 Personen überstellt. Zurück nach Deutschland wollten die wenigsten. Von der Illegalität ins Abschiebezentrum Das zuständige Amt in Luxemburg vermutet, dass die Menschen stattdessen in andere EU-Länder weitergereist sind oder in die Illegalität abgeglitten sind. Leute, die sich illegal im Land aufhalten, werden sobald sie aufgegriffen werden, direkt ins Centre de Rétention, ins Abschiebezentrum am Luxemburger Flughafen Findel, gebracht, sagt der Leiter, Vincent Sybertz. "Hier landen die, die aufgegriffen werden, bei einer üblichen Kontrolle draußen." Das Haus ist eingezäunt. Fenster und Türen sind allerdings ohne Gitter und im Innern zeugen lediglich die vielen verschlossenen Türen davon, dass sich die aktuell etwa 50 Bewohner hier drin nicht überall frei bewegen können. Ansonsten wurde für ein wenig Behaglichkeit gesorgt, um das Abschiebzentrum von einem Gefängnis zu unterscheiden. Wände in Pastell, Bilder im Flur Die Wände sind in Pastelltönen gestrichen, Bilder hängen in jedem Flur. Es gibt Fitnessräume, einen Fernsehraum und einen Internetraum, der täglich von den Insassen genutzt werden kann. Im Aufenthaltsraum liegen drei Handys. "Ein Telefon ist nur für den Anwalt und ist gratis. Und ein Telefon ist gedacht, um eingehende Telefonate zu empfangen, also da gibt es auch relativ frei eine Kommunikation nach draußen." 60 Adressen von Anwälten stehen auf einer Informationsbroschüre, die den Bewohnern ausgehändigt wird, jeder kann gegen seinen Abschiebebescheid klagen und das werde rege genutzt, sagt Sybertz. "Die allermeisten würde ich sagen ja. Bei den Dublin-Fällen eher weniger, weil die wissen, da besteht quasi null Hoffnung und da denke ich, da sind die Rechtsanwälte so korrekt und sagen, es bringt nichts." 2.800 Menschen haben in den vergangen sechs Jahren die Einrichtung durchlaufen. Viele Menschen können nicht zurückgeschickt werden Aber längst nicht alle konnten in ihre Heimatländer zurück geschickt werden, weil ihre Identität nicht geklärt werden konnte. Diese Menschen können nicht unbegrenzt festgesetzt werden, spätestens nach einem halben Jahr werden sie entlassen, verlassen das Land oder tauchen erneut unter. "Es kann passieren, dass einer vier Mal da ist und man findet nichts heraus." Das Abschiebezentrum steht am Ende einer Verfahrenskette. Vorgelagert ist eine Art Übergangseinrichtung, die sich zunächst darum kümmert, Flüchtlinge, die bereits einen Asylantrag in einem anderen EU-Land gestellt haben, solange zu betreuen bis die Rücknahmevoraussetzungen mit dem jeweiligen EU-Land geklärt sind. Es handelt sich um eine offene Einrichtung, dementsprechend hoch ist die Fluktuation. 65 Prozent derer, die wissen, dass ihr Weg ins Abschiebezentrum führt, verschwinden mit unbekanntem Ziel.
Von Tonia Koch
Die Dublin-Verordnung regelt bis heute den Umgang mit Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union. Auch Luxemburg steht hinter dem Regelwerk. Aber in der Umsetzung hat das Land mit vielen Problemen zu kämpfen.
"2018-07-17T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:02:05.044000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingspolitik-luxemburg-glaubt-an-dublin-100.html
608
Ein Jahr notleidende Kultur
Sehr leer: die deutschen Bühnen während der Pandemie. (IMAGO / Rene Traut) Vor einem Jahr stellten Theater, Opern- und Konzerthäuser in Deutschland den Spielbetrieb ein. Die Kultur befand sich im Schockzustand, wie viele andere waren Musikerinnen und Musiker plötzlich ihrer Tätigkeit beraubt. Dass die Starre über ein Jahr andauern würde, damit hatte aber niemand gerechnet. Oliver Wille, Geiger im Kuss Quartett, fasst es so zusammen: "Die ersten Gedanken waren damals schon ‚um Gottes Willen‘, was wird jetzt passieren, aber natürlich niemals mit der Aussicht, dass wir ein Jahr Spielverbot haben quasi, mit einer kurzen Sommerpause. Alle reden von Berufsverbot, das ist ja nicht ganz korrekt, wir können ja unseren Beruf ausüben. Nur das, was wir damit letztlich machen wollen, nämlich auf der Bühne miteinander zu kommunizieren und miteinander Musik erlebbar zu machen, das ist verboten. Das ist immer noch verboten oder wieder verboten. Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, dass das nach Ostern wieder in gute Bahnen kommen wird. Und dann hat es so ewig gedauert bis die ersten Perspektiven sichtbar wurden. Das war alles sehr unerwartet, und für mich persönlich in mehreren Berufsfeldern ein Sprung ins kalte Wasser. Es war auch meine erstmals wirklich enge Berührung mit politischen Prozessen." Die Cellistin Raphaela Gromes wollte helfen und wurde ehrenamtlich aktiv. Viele weniger bekannte Musikerinnen und Musiker aber standen vor dem Nichts, mussten sich einen neuen Job suchen oder engagierten sich in etlichen Initiativen. Die Cellistin Dorothee Palm, die Geigerin Rachel Harris, der Sänger Michael Nagy, die Pianistin Annika Treutler, das Signum Quartett und der Geiger Oliver Wille, zugleich Hochschul-Professor und Intendant der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, sprechen über Wege in und aus der Krise.
Von Raliza Nikolov
Kurz vor Ostern 2020 war plötzlich der Stecker gezogen. Um die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen, musste auch die gesamte Veranstaltungswirtschaft ihren Beitrag leisten. Was hat das für Kulturschaffende bedeutet? Wie haben sie auf die neue Situation reagiert?
"2021-03-16T22:05:00+01:00"
"2021-03-11T12:26:47.179000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-musikbetrieb-in-der-corona-krise-ein-jahr-notleidende-100.html
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Politologe: Parlamentswahl wird für Macrons Partei schwer
Die Parlamentswahlen in Frankreich finden im Juni 2022 statt (imago images/PanoramiC)
Götzke, Manfred
Ein klarer Wahlsieg bei der Parlamentswahl sei für Macrons Partei La Republique En Marche unwahrscheinlich, sagte Joachim Schild, Experte für französische Europapolitik, im Dlf. Für eine Regierungsbildung könne Macron dann auf die Republikaner zugehen, die ihm in Teilen nahe stünden.
"2022-04-25T09:18:00+02:00"
"2022-04-25T09:54:01.578000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-weiter-in-und-mit-frankreich-fragen-an-prof-joachim-schild-uni-trier-dlf-b7b13f1b-100.html
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Katastrophe für Menschheit und Wissenschaft
Screenshot aus einem Video, das von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am 26.02.2015 veröffentlicht wurde und zeigen soll, wie IS-Anhänger das Museum der Stadt Mossul verwüsten (picture alliance / dpa / Foto: Islamic State / Handout) Es sind die Orte der Wiege der Zivilisation: Hier entstand die Schrift, wurden die ersten Gesetze erlassen, komplexe Staatengebilde gegründet. Was lässt sich dem entgegensetzen? Wie können Wissenschaftler reagieren, damit dieses kulturelle Erbe der Menschheit nicht verloren geht? Und welche Strategien kann es geben, auch für nachfolgende Generationen dieses Erbe zu retten? Barbara Weber traf Wissenschaftler, die sich mit diesen Fragen in international zusammengesetzten Teams beschäftigen und versuchen, zu retten was zu retten ist. "Palmyra ist ein außergewöhnliches Weltkulturerbe. Jede Zerstörung von Palmyra ist nicht nur ein Kriegsverbrechen. Es ist ein enormer Verlust für die Menschheit. Die Zerstörung von Nimrud und Hatra und die Plünderung des Museums von Mossul dürfen sich nicht wiederholen. Wir brauchen die absolute Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft. Wir brauchen die Appelle der politischen und religiösen Führer, um die Zerstörung zu verhindern. Wir sprechen bei Palmyra von der Geburt der Zivilisation. Wir sprechen von etwas, was der ganzen Menschheit gehört." Irina Bokova, Generaldirektorin der UNESCO, in einer vergangene Woche ausgestrahlten Video-Botschaft. "Natürlich sind die Leute berührt und natürlich, wenn sie darüber reden, merkt man schon, dass ihnen etwas am Herzen blutet." Issam Ballouz, deutsch-syrischer Wissenschaftler, über seine Kollegen in Aleppo. "Wie alle, die in Syrien geforscht haben - wir haben in Berlin, in Deutschland eine wunderbare Syrienforschung, ein lange Tradition, das sind unglaubliche Schätze, die wir wissenschaftlich erarbeitet haben - sehen, wie das alles verloren geht, waren lange in einer Schockstarre, zwei Jahre lang hat keiner von uns gewusst, was er machen soll, weil es war für uns unfassbar, was passiert." Professor Stefan Weber, Direktor des Museums für Islamische Kunst in Berlin. "Und dann haben wir angefangen, mit dem Deutschen Archäologischen Institut und Auswärtigen Amt zu überlegen, was kann man machen, und haben gesagt, die Dinge, die wir hier schon mal erforscht haben, wenn wir die digitalisieren und nachher für den Tag X für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen, dann können wir einen kleinen Beitrag leisten." Es war die Geburtsstunde des "Syrian Heritage Archive"-Projektes am Museum für Islamische Kunst. Unter Leitung von Stefan Weber arbeitet ein deutsch-syrisches Wissenschaftler-Team am Aufbau einer Datenbank, um das syrische Weltkulturerbe zu erfassen. Die Wissenschaftler durchforsten den Kunstmarkt nach verdächtigen Objekten aus Raubgrabungen und dokumentieren Museumsbestände, Fotos und Skizzen, um sie einer systematischen wissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich zu machen. Ein Beispiel für die hohe Qualität syrischer Antiken ist das Aleppo-Zimmer von 1601, Anfang des 20. Jahrhunderts wegen seiner prachtvollen Ausstattung und Malerei vom Museum aufgekauft. "Man kommt hier rein, hat so drei kleine Nischen, das ist ein T-Grundriss, und überall an den Wänden sind diese wunderbaren Holzmalereien." Es war ursprünglich das Haus einer samaritanischen Familie. Die Samaritaner bilden eine Religionsgemeinschaft, die wie die Juden aus dem Volk Israel hervorgegangen ist. "Man hat also Paneelen, die nebeneinander aufgereiht sind, und entlang der Paneele dann verschiedene Themen, das können ein Pfau sein, aus dem dann ein Blumendekor emporrankt oder in Medaillons kleine thematische Schwerpunkte. Hier hinten zum Beispiel haben wir "Das letzte Abendmahl" und Szenen aus dem Leben Jesus. Auf der linken Seite sehen wir ein typisch orientalisches Picknick, wenn man so sagen kann, also ein Herrscher, der im Park sitzt und dort auch im Freien mit der Falkenjagd und mit Gewehren auf Panthern jagen geht. Und das sind so ganz normale Themen im frühen 17. Jahrhundert in dieser multireligiösen Gesellschaft von damals." Ob dieses Zimmer noch heute in der umkämpften Stadt Aleppo so existieren würde? Man darf es bezweifeln. "Ich bin froh, dass in Deutschland ein kleines Artefakt aus Syrien noch mal ein bisschen Heimatgefühle vermittelt", sagt der Architekt Issam Ballouz. "Leider ist es so, dass wir jetzt bangen müssen um den Bestand vieler solcher sehr, sehr wertvoller, sehr seltener mittlerweile architektonischer Objekte, ob es nun Häuser, Kirchen oder Moscheen sind." Diese Fülle an qualitativ hochwertigen antiken Gebäuden, Objekten und kunstvollen Arbeiten lässt sich nur durch die herausragende historische Bedeutung Syriens erklären. "Wenn man durch Syrien fährt, dann hat man verschiedene Kulturzonen. Man hat die Streifen am Mittelmeer mit den großen Städten der Antike. Aber dann, wenn man weiter reingeht ins Land, hat man dann eine Achse von mehreren Städten: Aleppo, Homs, Hama und Damaskus, alles alte Städte, tausende von Jahren alt. Also die Kernentwicklung der Städte fand auch in Syrien statt. Und wenn man dann weiter nach Osten geht, kommen die großen weiten Steppen und Wüsten, und dort findet man auch immer wieder zum Beispiel entlang der Flüsse oder auch der großen Handelsstraßen, Anlagen, Städte. Das Tolle an diesen Orten, dass sie alle von Weltruhm sind, einmalig." Zum Beispiel Aleppo: "Aleppo ist die Handelsstadt über Jahrhunderte, Jahrtausende gewesen. Hier traf sich die Seidenstraße mit der Weyrauch-Straße. Hier wurden die großen Waren umgeschlagen, daher eine enorm große Stadt, reich an Baukultur, die Häuser prachtvoll, aber natürlich auch die öffentlichen Gebäude." Aleppo ist auch ein Schwerpunkt des Projektes, über das mehrere Tafeln im Museum informieren. Auf einer sind zwei Fotos abgebildet: "Das eine ist ein Zustand vorher, das andere ein Zustand nachher in einer Satellitenaufnahme über Google Earth aufgenommen", sagt Issam Ballouz. "Und hier kann man sehr gut erkennen, einmal ist hier die Kolonnaden-Straße, hier ist sie auch zu sehen, die Kolonnaden-Straße. Man sieht grüne Felder dort, wo etwas auszugraben ist. Es war gedacht, in der Zukunft daran zu arbeiten. Und jetzt sieht man hier überall kleine Löcher, das heißt, dort wurden an tausenden Stellen punktuell Raubgrabungen betrieben, um entweder Mosaiken oder auch andere wertvolle Gegenstände herauszuholen. Das ist somit aus seinem Kontext gerissen und somit verloren für die Wissenschaft." Ein zweites prominentes Beispiel nennt Ballouz: "Das ist der Zustand, nachdem dieses Minarett, was Sie hier rechts sehen, in sich zusammengefallen ist. Hier sieht man noch die Reste der Steine, noch etwas Qualm, das wurde beschossen und ist dann in sich zusammengefallen." Stefan Weber: "Man muss sich vorstellen, das ist ja nicht nur ein normales Gebäude. Das ist die Omaijaden-Moschee von Aleppo, das ist ungefähr so, als hätte man einen Dom, einen der großen Dome Deutschlands zerstört." Die Omaijaden-Moschee stammt aus dem 8. Jahrhundert und ist im Verlauf der Jahrhunderte durch Anbauten gewachsen wie das inzwischen zerstörte Minarett aus dem 12. Jahrhundert. Um über die angerichteten Schäden informiert zu sein, arbeiten die Berliner Wissenschaftler mit mehreren Projekten zusammen, darunter auch Heritage for Peace. Ballouz: "Dieses Projekt ist seit zwei Jahren mit international anerkannten Fachleuten verschiedener Nationen dabei, eine strukturierte Schadenserfassung zu machen. Die bringen jede Woche eine Schadensliste aus verschiedenen Quellen natürlich. Es geht auch hauptsächlich darum, die Vielfalt dessen, was im Internet und in den sozialen Medien ist, zusammen zu fassen und auch verfügbar zu machen. Sie haben die guten Kontakte mit Aktivisten vor Ort in verschiedenen Regionen, versuchen dann auch dort vor Ort den Leuten zu helfen und auch gemeinsam mit ihnen Projekte zu machen." Einer der Schnittpunkte zwischen beiden Projekten ist das Interesse an Aleppo. So stellte das Berliner Wissenschaftlerteam um Stefan Weber fest, dass zwar einige Fotos bedeutender Gebäude und Objekte aus dem Ort vorhanden sind, allerdings der genaue Überblick fehlt, um eine wissenschaftliche Dokumentation zu erstellen. "Die Stadt ist im Moment teils in Regierungshand, teils in Oppositionshand, das heißt, es gibt Leute und Aktivisten auf jeder Seite, die bestimmte Objekte dokumentieren könnten. Und das wollen wir versuchen, um aus unserem Material heraus bestimmte Objekte uns auszusuchen, wo die Leute sagen, es ist nicht zu gefährlich für sie, eine methodische Dokumentation zu machen für diese Monumente und daraus dann einen Gebäudeordner zu machen, wo dann das gesamte Material drin ist, altes Material, neues Material, Schadenserfassung, Schadensbegutachtung und daraus dann etwas zu haben für die Zukunft." Bei den Aktivisten vor Ort handelt es sich beispielsweise um Archäologen oder Architekten, ehemalige Staatsangestellte, die zum Teil in den antiken Städten vorher gearbeitet haben. "Und das sind meistens Leute aus dem Fach, denen das Herz blutet, unabhängig davon, auf welcher Seite sie sich gerade befinden. Die agieren natürlich so, dass sie sagen, es gibt momentan einige Gebiete in Aleppo, die hart umkämpft sind, und wenn wir ihnen sagen, können wir dazu was machen, dann sagen die uns, wartet etwas, wir können da jetzt im Moment nicht, wir können Euch aber sagen, in das oder das Gebiet könnten wir hingehen ohne Gefahr." Natürlich ist das erste Ziel der Aktivisten vor Ort, Objekte zu schützen, indem zum Beispiel Wandfresken zugemauert werden. Doch der zweite wichtige Aspekt ist die Dokumentation von Objekten vor der Zerstörung und die Abbildung der Schäden.Ziel des Berliner Projektes ist die Erstellung einer möglichst breiten Dokumentation, die auch wissenschaftlichen Anforderungen standhält, um dann die eigenen Daten international zu vernetzen. Das gilt auch für ein anderes Projekt. Gleichfalls geht es um Kulturstätten, die vom IS bedroht werden und um einen Staat, der auch zu den sogenannten Failed States gehört: Irak. Es waren zwei amerikanische Studenten, die im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes das Projekt Mossul initiierten: "Das Projekt Mossul ist aus einer Initiative des europäischen Projektes Marie Curie ITN, Initial Training Network, DCH, Digital Cultural Heritage, entstanden", sagt Professor Dieter Fritsch, Institut für Photogrammetrie der Universität Stuttgart. "In diesem Projekt haben wir zwanzig junge Wissenschaftler beschäftigt, zum einen sind diese Wissenschaftler bei Universitäten und Forschungsinstitutionen eingesetzt, zum anderen aber auch in der Industrie." Allein acht europäische Universitäten und einige Firmen aus der privaten Wirtschaft haben sich zum Ziel gesetzt, antike Stätten digital zu dokumentieren.Auslöser für das Projekt Mossul war, "dass wir alle im Fernsehen und Internet erleben mussten, wie der Islamische Staat im Museum von Mossul Weltkulturdenkmäler zerstört hat, und zwar in einer ganz grausamen Art, die ja auch als Kriegsverbrechen bezeichnet worden sind, und wir hatten dann gedacht, warum nicht unsere Technologien einsetzen, um diese verloren gegangenen Weltkulturdenkmäler digital zu rekonstruieren und zu dokumentieren." Das lässt sich mithilfe der Photogrammetrie durchführen: "Wir haben in der Photogrammetrie verschiedene Technologien. Wir können auf der einen Seite 3-D-Rekonstruktionen durchführen nur aus Bildmaterial." Was allerdings voraussetzt, möglich viele Bilder aus unterschiedlichen Perspektiven zu haben. "Und diese Fotos werden jetzt alle zusammengerechnet, das heißt, für die einzelnen Fotos können wir die einzelnen Positionen und Blickrichtungen rekonstruieren, und aus diesen Parametern der äußeren Orientierung, wie wir das bezeichnen, können wir dann sehr, sehr dichte Punktwolken berechnen, und auf diese Weise können wir dieses Pixel auch noch einfärben und erhalten dadurch eine sehr schöne, dichte 3-D-Rekonstruktion eines Objekts rein durch eine kolorierte Punktwolke." Soweit die Theorie. Doch wie funktioniert das Verfahren in der Praxis? "So, ich habe extra dazu eine kleine Power Point Präsentation vorbereitet, damit Sie auch sehen können, welche Arten von Rekonstruktion wir derzeit schon durchgeführt haben." Zunächst entwickelten die Wissenschaftler eine eigene Suchmaschine, um das Internet nach Fotos zu durchforsten, die Mossul oder Kunstgegenstände aus Mossul zeigten. "Wir haben erst einmal die ganzen Bilder hochgeladen auf eine eigene Webseite projectmosul.org eingerichtet. Diese Webseite wurde dann im Internet bekannt gegeben, sodass all diejenigen, die irgendwie Lust hatten, an diesem Projekt mitzuwirken uns ihr Bildmaterial auch hochladen konnten." Die Seite ist noch aktiv. Es wird weiter gesucht. Auch analoge Urlaubsbilder sind willkommen, die dann gescannt und digital weiter verarbeitet werden können.Wie die 3-D-Animation im Ergebnis aussieht, demonstriert Dieter Fritsch an dem vom IS zerstörten Löwen von Mossul, eine alte Steinfigur, die vermutlich ein Portal rahmte. "So, jetzt zeige ich Ihnen hier schon einmal ein erstes Ergebnis: Also hier haben wir den Löwen von Mossul in einer kleinen Visualisierung, den kann ich Ihnen auch mal ganz groß machen. Das ist praktisch schon das 3-D-Modell, und jetzt versuchen wir einmal dieses 3-D-Modell übers Internet abzurufen. Jetzt muss ich nur sehen, dass ich mit der Maus da drauf komme. Ah, jetzt geht es. Jetzt kommen wir auf dieses Sketchfab. Sie sehen, jetzt wird geladen. So, jetzt sehen wir hier das Modell in 3-D. Wir können es auch ganz groß machen. Sie sehen jetzt, wir haben nur einen Teil, die eine Hälfte von diesem Löwen in 3-D rekonstruiert, weil wir ganz einfach nur von diesem Teil Fotos hatten." Das Modell kann in verschiedene Blickrichtungen gedreht werden. Darüber hinaus lässt sich die andere Hälfte des Löwen digital rekonstruieren, sodass die Figur komplett dargestellt werden kann. "Damit hätte ich jetzt den Löwen in seiner dreidimensionalen Ausprägung, und wenn wir uns jetzt daran erinnern, dass ja in Barcelona bei der Sagrada Familia der größte 3-D-Drucker der Welt steht, der ja die alten Zeichnungen von Gaudi umsetzt in 3-D-Gesteinsblöcke, damit die Sagrada Familia schneller fertig wird. Wenn ich jetzt diesem Drucker dieses Modell des Löwen von Mossul zuführen würde als CAD-Modell, könnte ich mir vorstellen, dass der Löwe von Mossul innerhalb von einem halben Tag wieder in diesem 3-D-Drucker gedruckt werden könnte." So ließe sich in Zukunft zumindest eine originalgetreue Rekonstruktion im Museum zeigen. Darüber hinaus bietet die Kopie Archäologen die Möglichkeit des Vergleichs mit anderen Objekten. Wenn auch nur als Rekonstruktion. Das Original ist verloren. Doch schon die Rekonstruktion zerstörter Objekte und Gebäude am Tag X nach dem Krieg hilft der einheimischen Bevölkerung vor Ort. Sie ist es, die mit den antiken, kunstvollen Objekten, ihre eigene Identität verbindet. Den Deutsch-Syrer Issam Ballouz beschäftigt noch ein anderer Aspekt. "Für mich ist es weniger tragisch, ein Objekt komplett wieder aufzubauen, wenn entsprechendes Material da ist, als wenn ich merke, dass eine Gesellschaft sich entzweit. Das tut mir viel mehr weh, dass ich sehe, dass die Leute sich nicht mehr miteinander abgeben wollen oder können, und der Versuch dann über diese Gemeinsamkeit, das Kulturerbe ist beiden immer noch etwas Gemeinsames. Beide fühlen sich stolz, dass sie so etwas haben oder auch traurig, dass sie es nicht mehr haben, dass man da vielleicht wieder eine Annäherung bekommt. Zwischen den Menschen etwas wieder aufzubauen ist schwieriger als ein Gebäude wieder aufzubauen."
Von Barbara Weber
Zerstörungen in den assyrischen Städten Hatra und Nimrud, im Antikenmuseum von Mossul und der Bibliothek der Stadt, die Bedrohung der Oasenstadt Palmyra - der Vandalismus des IS macht deutlich, dass Krieg nicht nur mit menschlichem Leid verbunden ist, sondern auch mit mutwilliger Zerstörung des kulturellen Erbes.
"2015-05-28T20:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:38:54.914000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zerstoerung-von-kulturguetern-katastrophe-fuer-menschheit-100.html
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Arabischer Antisemitismus im globalen Spannungsfeld
Proteste gegen die Aufführung der Oper "The Death of Klinghoffer" am Metropolitan Opera House, New York, am 22.09.2014 (picture alliance/ZUMA Press/Globe Photos/Sonia Moskowitz) Dass es in der arabischen Welt und unter Arabern im Exil einen weit verbreiteten Antisemitismus gibt, ist in den letzten Jahren häufig und teils kontrovers thematisiert worden. Stefan Weidners Radioessay geht der Frage nach, wie der arabische Antisemitismus entstanden ist, aus welchen islamischen, christlichen und säkularen Quellen er sich speist und in welche globalen Konfliktlinien er sich heute einschreibt. Der Beitrag zeigt auf, wie die aus diesem Diskurs gewonnenen Erkenntnisse nicht nur dazu beitragen können, Antisemitismus und Rassismus einzudämmen, sondern wie sie auch die politischen Rahmenbedingungen erhellen und neue Lösungsstrategien für den Nahost-Konflikt aufzeigen. Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt veröffentlichte er "Jenseits des Westens. Für einen neuen Kosmopolitismus" (2018) und "1001 Buch. Die Literaturen des Orients" (2019). Im Deutschlandfunk wurde 2019 Weidners Radioessay "Unsere Freiheit, von außen gesehen" gesendet. (Teil 5, Rap-Zerrbild der Gesellschaft? von Marcus Staiger am 14.7.2019) Der Mord an Leon Klinghoffer Im Oktober 1985 kaperten vier palästinensische Terroristen das italienische Kreuzfahrtschiff Achille Lauro. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, suchten sie amerikanische und jüdische Passagiere heraus, die sie der Reihe nach töten wollten. Am 8. Oktober wurde der 69 Jahre alte Leon Klinghoffer erschossen. Der Mord trägt unverkennbar antisemitische Züge. Die einzige Verbindung, die Klinghoffer zu Israel und den Palästinensern hatte, bestand darin, dass er ein Jude war. Der amerikanische Komponist John Adams, der Theatermacher Peter Sellars und die Librettistin Alice Goodman griffen die Ereignisse auf der Achille Lauro auf und machten daraus die Oper "Klinghoffers Tod", die 1991 in Brüssel uraufgeführt wurde. Adams und seine Mitstreiter begreifen den Stoff als einen unlösbaren Konflikt nach Art einer griechischen Tragödie. Chöre, die jeweils die palästinensische und die jüdische Position repräsentieren, nehmen in dem Stück einen breiten Raum ein. Der Mord an Klinghoffer erscheint als Folge einer tragischen Verstrickung. Dass das Opfer unschuldig ist, ändert im Stück nichts daran, dass beide Seiten in dieser Auseinandersetzung legitime Positionen vertreten. Die Frage nach dem Antisemitismus wird hingegen außen vor gelassen. Genau deswegen warfen verschiedene jüdische Organisationen den Opernmachern vor, antisemitisch zu sein und den Terrorismus zu verklären. Noch 2014 führte eine Inszenierung an der Metropolitan Opera New York zu massiven Protesten. Als Zugeständnis wurde die übliche Übertragung der Met-Aufführungen in Kinosäle in der ganzen Welt ausgesetzt. Die Oper blieb aber auf dem Spielplan. Statt die Oper für antisemitisch zu halten, könnte man ebenso gut die Meinung vertreten, das Stück setze Leon Klinghoffer und mit ihm allen unschuldigen Opfern des Nahostkonflikts ein Denkmal. Dass der Mord an einem an den Rollstuhl gefesselten alten Mann kein Ruhmesblatt des palästinensischen Widerstands darstellt und diesen allein durch die Thematisierung dieser verabscheuenswerten Tat diskreditiert, dürfte auf der Hand liegen. Reden über arabischen Antisemitismus: verharmlosen oder dramatisieren Während es unstreitig ist, dass es arabischen Antisemitismus gibt, ist das Reden darüber unweigerlich einem doppelten Verdacht ausgesetzt: Entweder zu verharmlosen oder zu dramatisieren. Die weltpolitische Kontextualisierung des arabischen Antisemitismus, wie sie in der Klinghoffer-Oper vorgenommen wird, kann als Verharmlosung und Verständnis gewertet und daher ihrerseits als antisemitisch aufgefasst werden. Betont man dagegen den arabischen Antisemitismus ohne den Kontext des Nahostkonflikts, könnte man sich umgekehrt dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die Kritik an der israelischen Politik und die Anliegen der Palästinenser pauschal als nicht legitim abzutun. Wer beim Reden über den arabischen Antisemitismus die Skylla des Antisemitismusvorwurfs umschiffen will, läuft Gefahr, an der Charybdis des Vorwurfs von Islamophobie, Rassismus oder Orientalismus zu scheitern. Die Annahme, arabischer Antisemitismus sei ein von den Umständen unabhängiges Phänomen und lasse sich ohne Kontext thematisieren, kommt einer Mystifikation und Hypostase antisemitischer Einstellungen gleich: Antisemitismus erscheint dann wie eine angeborene, genetische Disposition, die in manchen Völkern, etwa Deutschen und Arabern, besonders häufig auftritt. Eine solche Ansicht vertritt etwa Daniel Goldhagen in verschiedenen Büchern. Selbst wenn man diese Ansicht für überzeugend hält, hat sie den Nachteil, dass sie den Kampf gegen den Antisemitismus mit Argumenten und im Sinne der Aufklärung von vornherein als aussichtslos darstellt. Wenn es aber unmöglich ist, dem Antisemitismus argumentativ entgegen zu treten, bleibt als einzige Option, ihm die Machtfrage zu stellen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen, wie uns der Nahostkonflikt bis heute vorführt. Daher scheint es ein Gebot der Klugheit, auch und gerade im Fall des arabischen Antisemitismus für die andere Hypothese zu plädieren und ihn im größeren politischen Kontext zu betrachten - wie es die Klinghoffer-Oper getan hat. Wenn der Antisemitismus, und der arabische zumal, nicht außerhalb der Geschichte steht, sondern ebenso wie alles eine Geschichte hat, warum sollte diese Geschichte nicht auch eines Tages enden können und vielleicht sogar ohne Gewalt? Die Anfänge kann man klar benennen Wo liegen also die Anfänge und was sind die Kontexte des arabischen Antisemitismus? Drei können wir klar benennen: Die traditionellen Vorbehalte gegen die Juden in der islamischen Tradition; die mit der Staatsgründung Israels 1948 anhebende Geschichte des Nahostkonflikts; und der in den Holocaust mündende europäische Antisemitismus. Waren die Juden in Europa die einzigen Andersgläubigen, mit denen das Christentum auf eigenem Territorium konfrontiert war, so hatten die Juden in der islamischen Welt denselben Status wie die Christen: Sie waren eine anerkannte Glaubensgemeinschaft mit eingeschränkten, aber allgemein anerkannten, vom Propheten selbst gewährten Grundrechten. Insgesamt ist sich die historische Forschung - auch von jüdischer Seite - einig, dass Juden in der islamischen Welt sicherer lebten und besser integriert waren als im vormodernen Europa. Allerdings finden sich auch im Islam seit frühester Zeit Vorbehalte gegen die Juden. Da sie die Bekehrungsversuche des Propheten ablehnten, wurden sie von ihm phasenweise bekämpft. Diese Auseinandersetzungen schlugen sich auch in mehreren antijüdischen Koranversen nieder, auf die sich diejenigen Muslime, die gegen die Juden vorgehen wollten, berufen konnten. Die Möglichkeit der antisemitischen Interpretation islamischer Quellen war also seit jeher gegeben, ist jedoch erst unter europäischem Einfluss systematisch genutzt worden. Die Geschichte des heutigen arabisch-muslimischen Antisemitismus beginnt daher nicht mit dem Islam, sondern im 19. Jahrhundert im Kontext der europäischen Kolonialbestrebungen. Bernard Lewis schreibt über die Entwicklungen im 19. Jahrhundert: "Eine spezifische Kampagne in der unverkennbaren Sprache des europäischen christlichen Antisemitismus […] trat erstmals im 19. Jahrhundert unter den [arabischen] Christen in Erscheinung. Die ersten antisemitischen Pamphlete in arabischer Sprache erschienen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurden aus den französischen Originalen übersetzt - Teil der kontroversen Literatur zur Affäre Dreyfus." Auch die Deutschen spielten dabei eine höchst unrühmliche Rolle. Sie sahen Araber und Muslime als Verbündete gegen England und Frankreich und versuchten, Aufstände gegen die englisch-französische Vorherrschaft in der arabischen Welt anzuzetteln. Den Antisemitismus zu schüren, zählte vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenlehre selbstverständlich dazu. Vor diesem Hintergrund ist auch der vieldiskutierte Aufenthalt von Amin al-Husseini, des Muftis von Jerusalem und einer der Führer der Palästinenser, während des Kriegs in Berlin zu verstehen. Er ließ sich bereitwillig für die Nazi-Propaganda einspannen - gegen die englische Mandatsherrschaft in Palästina ebenso wie gegen die Juden. Die Allianz zwischen Nazis und arabischen Regimen setzte sich nach dem Krieg teilweise fort. 1956 wurde ein ehemaliger Mitarbeiter von Goebbels und ein Freund von Amin al-Husseini, der nach dem Krieg in Ägypten lebte, von der ägyptischen Regierung angeheuert und verbreitete über ägyptische Radiostationen antisemitische Propaganda. Offensichtlich stand er auch dem Ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser nah, der sich 1952 an die Macht geputscht hatte. Historikerthesen und literarische Stellungnahmen In einer Rede vom Oktober 2015 behauptete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Amin al-Husseini habe Hitler, der die Juden nur hätte vertreiben wollen, zur Vernichtung der Juden überredet. Der Historiker Wolfgang Schwanitz gab Netanjahu in einem Artikel für die "Jerusalem Post" vom 04.11.2015 Recht.Stimmt diese These, zählten die Araber zu den Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Dies wiederum kommentierte der israelische Historiker Amnon Raz-Krakotzkin mit den Worten: "Der israelische Versuch, die Palästinenser für den Holocaust verantwortlich zu machen, geht folglich mit dem deutschen Wunsch einher, die Verantwortung für das Verbrechen anderen zu übertragen." Die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust gehört zum Standard-Repertoire des arabischen Antisemitismus. Besonders deutlich zeigte sich dies im Fall des ehemals kommunistischen französischen Intellektuellen Roger Garaudy, der wegen seines 1995 publizierten Buchs "Die Gründungsmythen der israelischen Politik" als Holocaustleugner verurteilt wurde. Genau wegen dieser Haltung wurde er in der arabischen Welt hofiert. Besonders die schiitische Hisbollah im Libanon ist durch massive antisemitische Propaganda aufgefallen. Der hochproblematische Umstand, dass der arabisch-palästinensische Widerstand gegen Israel wenig Berührungsängste gegenüber dem Antisemitismus aufweist, hat eine Reihe von arabischen Intellektuellen auf den Plan gerufen. Sie beziehen den Holocaust in ihre Überlegungen zum arabisch-jüdischen Verhältnis gezielt mit ein. Zu ihnen zählt der 1972 in Beirut ermordete palästinensische Autor Ghassan Kanafani. Er thematisierte den Holocaust bereits 1969 in seinem Kurzroman "Rückkehr nach Haifa". Die polnische Jüdin Miriam, deren Vater und Bruder von den Deutschen ermordet wurden, adoptiert einen palästinensischen Säugling als Ziehsohn. Als seine leiblichen Eltern 18 Jahre später nach Haifa zurückkehren, entscheidet sich der Sohn, der seinen Militärdienst für Israel ableistet, für seine jüdische Identität. Edward Said schrieb über die arabische Begeisterung für den Holocaustleugner Roger Garaudy 1998 in "Le monde diplomatique": "Die Behauptung, der Holocaust sei nur eine Erfindung der Zionisten, ist in unerträglicher Weise immer noch im Umlauf. Wie sollen wir von der Welt erwarten, dass sie die Leiden der Araber zur Kenntnis nimmt, wenn wir […] nicht fähig sind, das Leid anderer anzuerkennen?" Und im vielbeachteten, 1998 publizierten Roman "Das Tor zur Sonne" des libanesischen Autors Elias Khoury stellt der Erzähler einen Veteranen des palästinensischen Widerstands zur Rede: "Was habt ihr seinerzeit, als das Ungeheuer Nationalsozialismus die Juden in Europa vernichtete, von der Welt gewusst? […] Sag, habt ihr in den Gesichtern derer, die zur Vernichtung abtransportiert wurden, keine Ähnlichkeiten mit euch selbst wahrgenommen?" Doch wirken diese Bemühungen arabischer Intellektueller nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein des Nahostkonflikts. Indem seit der Gründung des Staates Israel das Arabische als Gegensatz per se zum Jüdischen gedacht wird, scheint es durch seine schiere Existenz eine Ursache des Antisemitismus zu sein. Diese Sichtweise wird von den Akteuren, die an diesem Konflikt ein Interesse haben und die es auf beiden Seiten gibt, nach Kräften befördert. Vom Konflikt leben die palästinensischen und arabischen Widerstandsorganisationen ebenso wie die antiisraelische Rhetorik den autokratischen arabischen Regimen nutzt. Der arabisch-israelische und damit arabisch-jüdische Konflikt ist für beide Seiten zu einem identitätsstiftenden Faktor geworden. Mit Bezug auf die Nakba - arabisch für "Desaster" - wie die Palästinenser die Niederlage im ersten arabischen-israelischen Krieg von 1947 und die damit einhergehende Vertreibung nennen, weisen die Historiker Bashir Bashir und Amos Goldberg auf folgenden Umstand hin: "In ihrer Eigenschaft als vorherrschende nationale Narrative dienen sowohl der Holocaust als auch die Nakba dazu, einander ausschließende Identitäten innerhalb der beiden Gruppen zu festigen. In aller Regel erachtete jede der beiden Gruppen ihre eigene Katastrophe als einzigartiges Ereignis und strebt danach, die Katastrophe der anderen Gruppe abzuwerten oder sie sogar zu leugnen." Den Konflikt aufzugeben, würde auf beiden Seiten dem Zusammenbruch des eigenen Weltbildes gleichkommen. Das trifft nicht nur auf die eigentlichen Akteure des Konflikts zu, die Araber und die Juden, sondern auch auf ihre Verbündeten und auf die Sichtweise zahlreicher politisch interessierter Menschen im Westen und anderswo auf der Welt, für welche der arabisch-israelische Konflikt eine unveräußerliche politische Orientierungsgröße darstellt, welche vermeintlich dafür sorgt, dass Gut und Böse klar unterscheidbar sind. Zwei dominante Narrative Dies wird durch den Umstand verstärkt, dass der Nahostkonflikt als ein globaler Stellvertreterkonflikt aufgefasst werden kann. Dabei prallen zwei dominante Narrative aufeinander, die der Historiker Charles S. Maier in einem Aufsatz bereits im Jahr 2000 beschrieben hat. Das eine Narrativ geht von Holocaust und Gulag, also den Verbrechen der Nazis und der Kommunisten aus. Daraus wird die moralische Überlegenheit und der politische Führungsanspruch des liberalen Westens abgeleitet. Vor dem Hintergrund des Holocausts fühlt sich auch Israel diesem westlichen Narrativ zugehörig. Die westliche Solidarität mit Israel ist das Symbol dafür. Das andere, entgegengesetzte Narrativ zweifelt die moralische und politische Überlegenheit des Westens an und beruft sich dabei auf die Verbrechen, die der Westen zur Zeit des Kolonialismus begangen hat, sowie auf die wirtschaftliche Ungleichheit und anhaltende Ausbeutung des globalen Südens. Dafür ist die Situation der Palästinenser symbolisch, und die Anhänger dieses postkolonialen Narrativs, das den Westen kritisiert, sind mit den Palästinensern solidarisch. Damit stellt sich die Frage nach dem arabischen Antisemitismus komplexer dar, als es zunächst schien. Festzustellen, dass es ihn gibt, ihn zu verurteilen und sich ihm entgegenzustellen, dürfte kaum ausreichen. Und es reicht sicher nicht, um ihn zu überwinden. Mehr noch als der ältere europäische ist der arabische Antisemitismus "nur" - in Anführungszeichen - ein Symptom für tiefergehende Verwerfungen und Zusammenhänge. Sie reichen historisch und geographisch über den Nahost-Konflikt hinaus. Zu hinterfragen wäre zum Beispiel die weit verbreitete Ansicht, Jüdisches und Arabisches, Juden und Araber stünden in einer Art Erbfeindschaft zueinander, was wiederum die Araber regelrecht dazu prädestinieren würde, Antisemiten zu sein. Der jüdisch-marokkanische Dichter Sami Shalom Chetrit lebt in Israel und schreibt auf Hebräisch. In einem Text gibt er ein Gespräch zwischen sich und einer amerikanischen Freundin wieder. Sie fragt ihn, ob er Jude oder Araber sei, und reagiert ungläubig, als er sich als 'arabischen Juden' bezeichnet. Um dies zu erklären, weist er darauf hin, dass es ja auch amerikanische und europäische Juden gebe. Darauf kommt es zu folgendem Dialog: "- Du kannst arabische und europäische Juden nicht vergleichen; ein europäischer Jude ist etwas anderes.- Wie das?- Weil "Jude" nicht zu "Araber" passt, es passt einfach nicht, es klingt sogar falsch.- Hängt von deinem Gehör ab.- Sieh mal, ich hab nichts gegen Araber. Ich hab sogar Freunde, die Araber sind, aber wie kannst du "arabischer Jude" sagen, wenn alle Araber die Juden vernichten wollen?- Und wie kannst du "europäischer Jude" sagen, wo die Europäer doch längst die Juden vernichtet haben?" Die Fragen von arabischer und jüdischer Identität Der kurze Text spielt zum einen darauf an, dass die arabische und die jüdische Identität mehr als 1000 Jahre lang keinen Gegensatz darstellten, sondern sich in ein und demselben Menschen verkörpern konnte, und zwar in Gestalt der Juden in Andalusien und ebenso in Palästina, in Syrien, im Irak, im Jemen. Ferner macht der Text deutlich, dass die Auffassung, Jüdisches und Europäisches passe besser zusammen, von Geschichtsvergessenheit zeugt. Der Staat Israel verdankt seine Gründung Einwanderern aus Europa. Die Araber erschienen ihnen als die anderen und damit als Gegner. Diese negative Sicht auf die Araber färbte sogar auf die arabischen Juden ab, die mehrheitlich erst nach der Staatgründung von 1948 einwanderten. Der in Haifa lehrende Literaturwissenschaftler Reuven Snir beschreibt in einem autobiographischen Text, welchem Anpassungsdruck die arabischen Juden in Israel ausgesetzt waren. "Meine Eltern wurden in Bagdad geboren. Sie wanderten 1951 ohne große Begeisterung nach Israel ein. Zwei Jahre später wurde ich geboren. Als ein sabra - ein geborener israelischer Jude - im israelisch‑zionistischen Bildungssystem wurde mir beigebracht, dass sich Arabertum und Judentum gegenseitig ausschließen. Weil ich als Kind versuchte, der herrschenden ashkenasisch-zionistischen Norm zu entsprechen, wie die meisten, wenn nicht alle Kinder mit diesem Hintergrund, schämte ich mich für das Arabertum meiner Eltern. […] Ich verbot ihnen, in der Öffentlichkeit Arabisch zu sprechen und in ihrem eigenen Haus arabische Musik zu hören." Snir fährt fort: "Gleichzeitig waren die arabischen Juden, die nach der Gründung Israels dorthin immigrierten, dem hegemonialen hebräisch-zionistischen Establishment preisgegeben, das seine Interpretationsnormen allen kulturellen Gemeinschaften aufbürdete […] Die Verfechter der am Westen orientierten kulturellen Identität beklagten auch die 'Gefahr' der 'Orientalisierung' und 'Levantinisierung' der israelischen Gesellschaft." Was sich heute als arabisch-jüdischer Gegensatz darstellt, entpuppt sich so gesehen als Zweig der europäisch-christlichen Auseinandersetzungen mit den Arabern seit der Zeit der Kreuzzüge. Und es erklärt, warum der arabisch-muslimische Antisemitismus so häufig mit einem anti-westlichen Ressentiment einhergeht. Dies bestätigt wiederum die These von Charles S. Maier, die besagt, dass der arabisch-jüdische Gegensatz die zwei einander entgegengesetzten globalen Narrative spiegelt, die einerseits von Holocaust und Gulag, andererseits von der kolonialen Unterdrückung und der globalen Ungleichheit ausgehen. Maier blendet jedoch aus, dass diese Narrative an eine ältere Vorgeschichte anschließen. Es ist die Geschichte der christlich‑europäischen Auseinandersetzung mit dem Orient. Und zu diesem Orient wurden Araber und Juden gleichermaßen gezählt. Zu dieser Vorgeschichte der heutigen Konflikte zählt der europäisch‑christliche Antisemitismus ebenso wie die europäisch‑christliche Islamfeindschaft. Der Antisemitismus richtete sich gegen den vermeintlichen Feind im Inneren Europas, die Juden. Die Islamfeindschaft richtete sich gegen den Feind an den Grenzen, Araber und Türken. Juden und Araber galten gleichermaßen als Semiten Dieser zusammengehörige Komplex europäisch-christlicher Judenfeindschaft und Islamfeindschaft ist im Zuge des Kolonialismus, des Weltkriegs und vor allem im Zuge der Vernichtung, Vertreibung und Auswanderung der europäischen Juden nach Palästina in den Orient selbst exportiert worden. So erklärt sich, dass die in ihrer - vermeintlichen - Eigenschaft als Semiten und 'Fremdkörper' aus Europa verstoßenen Juden im Orient von den Arabern als Exponenten des Westens aufgefasst werden; und warum der arabische Antisemitismus im selben Atemzug als antiwestliches Ressentiment erscheint. Gemäß den im Europa im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Rassebegriffen galten Juden und Araber gleichermaßen als Semiten - korrekt zumindest insofern, als Arabisch und Hebräisch eng verwandte Sprachen sind und insofern der Linguistik bei der in der Zeit der Aufklärung vorgenommenen Einteilung der Welt in Sprachfamilien und später in Völker und Rassen eine entscheidende Rolle zukam. In exakt derselben Epoche, nämlich der europäischen Aufklärung, begannen die europäischen Juden sich zu emanzipieren und zu assimilieren. Das war möglich, weil der Religion nicht mehr die alles entscheidende Rolle zukam, die sie für die Weltvorstellung der europäischen Menschen vor der Aufklärung innehatte. Damit war auch dem religiös motivierten, christlichen Antisemitismus die Spitze genommen. In derselben Epoche jedoch, in welcher die religiöse Ausgrenzung der Juden abnahm, bildete sich unter dem Einfluss der neu entstandenen Sprachwissenschaft und Biologie die Möglichkeit einer anders gearteten Ausgrenzung heraus, die scheinbar auf rationalen, wissenschaftlichen Grundlagen stand: Es war die Ausgrenzung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anderen Rasse, der semitischen. Zwar war der säkularisierte Nationalstaat vordergründig religiös neutral; dafür aber betonte er die nationale Homogenität, die weitgehend mit der ethnischen und damit 'rassischen' Homogenität gleichgesetzt wurde. Diese Entwicklung kulminierte im 19. Jahrhundert und brachte den modernen Antisemitismus hervor, bei dessen Entstehung Philologen und Sprachwissenschaftler, die sich mit dem Orient beschäftigten, federführend waren - wie zum Beispiel Ernest Renan in Frankreich und Paul de Lagarde in Deutschland[20]. Selbstverständlich zählten auch die Araber für diese Sprachwissenschaftler und Rassekundler zu den Semiten. Renan schreibt: "Der semitische Geist hat sich in nur zwei wahrhaft reinen Formen manifestiert: Der hebräischen oder mosaischen und der arabischen oder islamischen. Dabei muss man freilich zugeben, dass die hebräische Form sich bald vermischt und auf erstaunliche Weise die Grenzen ihres eigentümlichen rassischen Geistes in einigen Punkten überwunden hat; und dass in Wahrheit Arabien der Maßstab für den semitischen Geist ist." Juden und Araber galten also gleichermaßen als Semiten. Der Antisemitismus hätte sich also auch gegen die Araber richten müssen. Für die praktische Politik spielte dies jedoch keine Rolle, da es in Europa keine Araber gab und diese daher kein unmittelbares Ziel antisemitischer Aktivitäten werden konnten. Somit richtete sich der Antisemitismus in erster Linie gegen die Juden. Dass die Araber - und der Islam! - gleichwohl bei der Abwertung von allem Semitischen, die im 19. Jahrhundert um sich griff, mitgemeint waren, erhellen die Schriften von Renan zu Genüge; und dieselbe Tendenz findet sich bei zahlreichen anderen Autoren. Die Rede vom arabischen Antisemitismus und ebenso der arabische Antisemitismus selbst haben diese rassenkundliche Vorgeschichte, die sich gegen alles Semitische gleichermaßen richtete, offensichtlich verdrängt. Zieht man sie in Betracht, ergibt sich der seltsame Befund, dass bis heute Juden wie Araber gleichermaßen die Notwendigkeit zu sehen scheinen, sich vom Semitischen abzugrenzen - was nicht verwundert, wenn man bedenkt, wie Semiten in der Literatur dargestellt wurden. Viele Araber nun grenzen sich von der Abwertung der Semiten paradoxerweise dadurch ab, dass sie den europäischen Antisemitismus übernommen haben. Viele Israelis tun etwas Ähnliches, indem sie sich, wie wir im Fall der arabischen Juden gesehen haben, gegen die Araber abgrenzen. Sie übernehmen also jenen Teils der europäischen Abwertung der Semiten, der sich, wie bei Renan, gegen die Araber und Muslime wandte und den Edward Said als "Orientalismus" bezeichnete und den er für einen "heimlichen Aspekt des westlichen Antisemitismus"hielt. Wenn diese These stimmt und demnach die rassistischen europäischen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert bis heute fort wirken, so scheint es, als sähen sich beide Gruppen, die ehemals als Semiten gebrandmarkt worden sind, gezwungen, den Schwarzen Peter des Semitisch-Seins an die anderen abzugeben. Edward Said schreibt: "Daher scheint der Araber heute den Juden zu verfolgen wie ein Schatten, und in diesem Schatten findet - da Araber und Juden orientalische Semiten sind - alles Platz, was der Westler traditionell an latentem Misstrauen gegenüber dem Orientalen empfindet." Die Masken des Rassismus Dieses europäisch-arabisch-jüdische Dreiecksverhältnis erklärt nicht nur den arabischen Antisemitismus, sondern auch die Übertragung antisemitischer Ausgrenzungsmechanismen auf Araber und Muslime, wie sie heute in Europa und teilweise in Israel Gang und Gäbe ist. Der Rassismusforscher David Theo Goldberg hat in diesem Zusammenhang von den "Masken des Rassismus" gesprochen. Eine der Masken des Rassismus ist Religion, zumal wenn diese, wie im Fall von Islam und Judentum, als semitisch gilt. Religion und Rasse sind austauschbare Variablen geworden. Der an der Columbia University in New York lehrende Historiker Joseph Massad beschreibt die Situation so: "Dass die Muslime in der ganzen Welt bei dieser europäischen Klassifikation unter das Stichwort des Semitischen eingeordnet sind, deren Minderwertigkeit gegenüber den Ariern immer wieder aufs neue festgeschrieben werden muss, hat dazu geführt, dass die Palästina-Frage zu einem Hauptschauplatz der Kämpfe geworden ist, wo ehemalige Semiten, die sich Europa angeschlossen haben, jene Semiten bekämpfen, die sich weigern, sich Europa anzuschließen und denen auch nicht erlaubt werden kann, sich Europa anzuschließen, selbst wenn sie es wollten." In einer paradoxen Umkehrung der Verhältnisse des 19. Jahrhunderts wird nicht zuletzt der Antisemitismus der Araber zum Kennzeichen ihrer politischen Zurückgebliebenheit, ihres 'semitischen Charakters'. Die Araber sind zum Antisemitismus verdammt - paradoxerweise gerade weil sie Semiten sind, aber keine sein wollen und sich deshalb so vehement von denen abgrenzen, die sie dafür halten und die ihrerseits sie dafür halten: Die Juden. Freilich, wenn die Araber zum Antisemitismus verdammt sind, dann sind auch die Europäer zum Rassismus, zum Orientalismus und zur Islamophobie verdammt. Und die Juden und Israelis, so steht zu fürchten, zur Arabophobie. Der sinnvollste Beitrag, den Europa angesichts dessen zur Bekämpfung des arabischen Antisemitismus ebenso wie des Antisemitismus überhaupt leisten kann, besteht darin, die im 18. und 19. Jahrhundert aufgebrachten rassistischen Klassifikationen und Abgrenzungsmechanismen mitsamt ihren Masken und Verkleidungen aufzuarbeiten, bloßzulegen und gründlich zu verabschieden - so viele liebgewonnene, Identitätsvorstellungen, Ordnungskonzepte und Freund‑Feind-Schemata auch damit verbunden sein mögen. Der Holocaust, der Antisemitismus und ihre Folgen im Nahen Osten lehren uns jedoch, dass wir gar keine andere Wahl haben, wenn wir die Lehren der Geschichte ernst nehmen.
Von Stefan Weidner
Ein spannungsreicher Diskurs über den arabischen Antisemitismus hat sich über viele Jahre entwickelt. Der wirft Grundsatzfragen über Kolonialismus, Rassismus und Islam auf. Stefan Weidner beschreibt auch Erkenntnisse zu Lösungsstrategien.
"2019-07-07T09:30:00+02:00"
"2020-01-26T22:55:19.362000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-antisemitismus-4-6-arabischer-antisemitismus-im-100.html
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Versprechen und Wirklichkeit
Detjen: Unklar bleibt auch am Morgen danach, was da eigentlich gewählt wurde (Kay Nietfeld/dpa) Um ermessen zu können, was bei dieser Europawahl aus deutscher Sicht geschehen ist, wird man immer die Wetteraufzeichnungen des heutigen Tages neben das Ergebnis der SPD legen müssen. Strahlender Sonnenschein und sommerliche Temperaturwerte stehen dann neben einem so noch nie gemessenen Stimmenzuwachs. Gutes Wetter und Europawahl – wenn das zusammenkam, hatten sozialdemokratische Stammwähler in der Vergangenheit immer andere Ziele als die Wahllokale. Das war an diesem Sonntag anders. Die CDU dagegen, die im Wahlkampf allein auf die Popularität Angela Merkels gesetzt hat, konnte ihr letztes Ergebnis gerade einmal halten. Die CSU, oszillierend zwischen dem Kurs der Kanzlerin und der Europakritik ihres stellvertretenden Vorsitzenden Gauweiler, zog beide Schwesterparteien in die Verlustzone. Das Geschäft mit der Kritik am Eurorettungskurs der faktischen Allparteienkoalition, der im Bundestag allein die Linken nicht angehörten, hat sich bei dieser Wahl nicht so rentiert, wie es manche befürchtet, andere erhofft hatten. Die Alternative für Deutschland gibt der Euroskepsis im neuen Europaparlament künftig eine vernehmbare, deutsche Stimme. Zum Triumph über das europapolitische Establishment aber wurde die Wahl für Bernd Lucke und seine Gefolgsleute nicht. Die Deutschen haben sich bei dieser Wahl mit breiter Mehrheit zu Europa und einer weiteren Vertiefung der Union bekannt. Sie haben gute Gründe dafür. Unklar bleibt auch am Morgen danach, was da eigentlich gewählt wurde. Sicher – ein Parlament. Aber gerade den deutschen Wählern wurde zugleich versprochen, dass diese Wahl eine neue demokratische Dimension Europas eröffnet. Erstmals in der Geschichte der EU sollte die Parlamentswahl zugleich ein Bürgerentscheid über die Spitze der europäischen Exekutive sein. Die SPD hat sich dieses Versprechen erfolgreich zu Eigen gemacht. Dazu gehörte es am Ende der sozialdemokratischen Wahlkampagne auch, die nationale Karte zu ziehen und Martin Schulz offensiv als "deutschen Patrioten" für das Spitzenamt in Brüssel anzupreisen. Man hoffte offenbar darauf, dass diese Töne in der Schlussphase des Wahlkampfes nicht zu den sozialistischen Parteifreunden in Südeuropa durchdringen würden, die Schulz zugleich als europäischen Anti-Merkel bewarben. So erfolgreich das Konzept der europäischen Spitzenkandidatur für die deutschen Sozialdemokraten war, so viel Streitstoff dürfte es auf europäischer Ebene noch liefern. In Frankreich könnte der neue SPD-Star schon heute der Sündenbock sein, dem man die Verantwortung für das desaströse Abschneiden von Francois Hollandes Parti Socialiste aufbürdet. So einfach, wie das Konzept der europäischen Spitzenkandidaten es suggeriert, lässt sich die demokratische Mechanik nationaler Wahlentscheidungen nicht auf die europäische Ebene übertragen. Die notwendige Koalitionsbildung im Vielparteienparlament der EU ist kompliziert. Auch wenn der christdemokratische Parteienverbund EVP die stärkste Fraktion bilden wird, bedeutet das noch lange keine Mehrheit für deren Spitzenkandidaten Jean Claude Juncker. Liberale und moderate Eurokritiker könnten am Ende zum Zünglein an der Waage werden. Im Augenblick liegt der Ball im Spiel um die Benennung des künftigen Kommissionspräsidenten wie eh und je bei den Staats- und Regierungschefs, die sich morgen Abend erstmals zu einer informellen Beratung in Brüssel treffen. Der Poker, der dann beginnt, kann sich – wie immer – lange hinziehen.
Von Stephan Detjen, Deutschlandfunk Hauptstadtstudio
Unklar bleibt auch am Morgen nach der Europawahl, was da eigentlich gewählt wurde. Sicher – ein Parlament. Doch so einfach, wie das Konzept der EU-Spitzenkandidaten es suggeriert, lässt sich die demokratische Mechanik nationaler Wahlentscheidungen nicht auf die europäische Ebene übertragen. Die notwendige Koalitionsbildung im Vielparteienparlament der EU wird kompliziert, erläutert Stephan Detjen vom Deutschlandfunk.
"2014-05-26T07:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:43:39.776000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europawahl-versprechen-und-wirklichkeit-102.html
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Ein Stück Urwald im Herzen Österreichs
Naturpark Blockheide Eibenstein, Österreich (imago / Rainer Mirau) 1782 wurde das Gebiet an die österreichische Bankiersfamilie Rothschild verkauft, die es jedoch im Wesentlichen unberührt ließ. 1942 eigneten sich die Nationalsozialisten den Wald an, den sie als "urdeutsch" deklarierten und offiziell unter Naturschutz stellten. 1947 wurde er schließlich restituiert. Heute ist der "Rothwald" streng geschützt. Er ist Kerngebiet des auf 3.500 Hektar erweiterten Wildnisgebietes Dürrenstein. Der Zugang für Besucher ist strikt geregelt. Ein Eldorado für Biologen und andere Forscher. Doch die Faszination Wildnis wird nicht von allen geteilt. Die Menschen in der Region fürchten vor allem wirtschaftliche Einbußen. Überzeugungsarbeit ist notwendig, damit Einheimische den Wildwuchs auch als Chance begreifen. (DLF 2015)
Von Antonia Kreppel
Zu abgelegen, Besitzverhältnisse unklar - so kam es, dass ein 460 Hektar großes Waldgebiet in den niederösterreichischen Kalkalpen über Jahrhunderte nie forstwirtschaftlich genutzt wurde. Der vermutlich größte Urwald Mitteleuropas ist nicht nur in biologischer, sondern auch in historischer Hinsicht interessant.
"2016-08-13T11:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:45:42.245000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kakanische-wildnis-ein-stueck-urwald-im-herzen-oesterreichs-102.html
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"Donald Trump hat einen festen Plan"
Jürgen Trittin von Bündnis 90/Die Grünen (picture alliance / dpa / Britta Pedersen) Dirk Müller: Das ist schwierig mit den Superlativen. Viele Beobachter benutzen sie jetzt nach dem Gipfel von Singapur. Ein historisches Weltereignis, das ist fast das größte, was man heute Morgen lesen kann. Donald Trump und Kim Jong-un an einem Tisch, lächelnd, Hände schüttelnd. Nordkorea will auf seine Atomwaffen verzichten. Der Machthaber, der Diktator, der Staatschef, der Staatspräsident, der Führer, wie auch immer bezeichnet. Und Donald Trump dann mittendrin. Er hat es möglich gemacht. Er hat keinen Friedensnobelpreis auf seinem Schreibtisch stehen, anders als Barack Obama. Aber er hat jetzt offenbar die Chance, Frieden zu machen, Donald Trump. Nun dieser Erfolg, nachdem der so umstrittene amerikanische Präsident die Handelspolitik und den G7-Gipfel nahezu geschreddert hat. Jetzt sind ihm die Lorbeeren fast schon sicher. – Am Telefon ist nun der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin. Guten Morgen. Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Müller. Müller: Herr Trittin, gibt es zum Glück Donald Trump? Trittin: Es gibt Donald Trump. Donald Trump hat einen festen Plan. Der lautet, er möchte bei den midterm elections im Herbst nicht die Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses komplett verlieren. Und diesem Plan unterwirft er seine Politik. Dazu trug bei, dass er sichtbar für die Wähler im Rust Belt G7 aufgekündigt hat. Das war das, was er angekündigt hat. Und dazu gehört auch, dass er versucht, es darzustellen, er habe etwas erreicht, was kein Präsident vor ihm erreicht hat, nämlich tatsächlich einen Schritt zu machen hin zu einer Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel. Diesem Gesetz der Innenpolitik folgt letztendlich auch Kim Jong Un, weil ich meine, ohne Zweifel ist er der ganz große Gewinner dieses Treffens, anerkannter Staatschef mit dem Mächtigsten der Welt, und vorher war er nichts anderes als ein sanktionierter Paria. Müller: Jetzt sagen Sie das so gelassen und rational und ganz cool. Aber wenn Donald Trump jetzt Frieden schafft mit Nordkorea nach über 60 Jahren kein Frieden, zumindest kein Friedensvertrag, dann ist der Plan von ihm gar nicht so schlecht. Trittin: Wenn es dazu kommt, würde sich, glaube ich, der ganze Rest der Welt darüber freuen, nachdem ja vorher viele Befürchtung war, dass man hier in eine nicht kalkulierbare Eskalation reinrutschen würde. Aber man muss natürlich auch sagen: Das was gestern stattgefunden hat, war der Beginn, nicht das Ende eines Prozesses. Um zu einer tatsächlichen Denuklearisierung, einem Abzug von Atomwaffen von der koreanischen Halbinsel zu kommen, muss es Sicherheitsgarantien geben, und wie schwierig das ist, kann man schon an dem einen Umstand sehen: Die USA haben ja bisher außer der verbalen Zusicherung, nichts zu unternehmen, einen Schritt folgen lassen, nämlich den Verzicht auf Manöver - etwas, was China schon im letzten Jahr angeregt hatte. "Wir stehen da am Anfang" Müller: Aber das ist ja schon mal was. Trittin: Das ist ein wichtiger Schritt. Ich rede das überhaupt nicht klein. Ich wollte nur auf die Schwierigkeit am Ende hinweisen. Am Ende wird tatsächlich etwas stehen müssen, was ein ehemaliger Außenminister der USA, der eine gewisse Erfahrung im Verhandeln mit Autokratien hat, nämlich Henry Kissinger gesagt hat. Wenn man das materialisieren will, dann reden wir tatsächlich um eine tatsächliche Verringerung der Militärpräsenz in dieser Region. Das hat Südkorea durchaus erschreckt, auch der Verzicht auf die Manöver. Ich glaube auch nicht, dass das in Japan auf große Begeisterung stößt. Dass die Chinesen damit leben können, das glaube ich schon. Müller: Wir lesen heute Morgen im Internet sowie auch in den Zeitungen viele kritische Kommentare. Sie haben das auch so gesagt, Jürgen Trittin, wenn ich das noch mal wiederholen darf. Es ist der Beginn eines Prozesses. Jeder Prozess braucht ja einen Beginn, wenn wir das richtig verstanden haben. Ist das ein bisschen wieder die Relativierung dieser großen Bilder, vielleicht der großartigen Bilder, die wir gestern gesehen haben, dass sich dort zwei Männer die Hand reichen, verbunden mit einer potenziellen Friedensperspektive? Darum geht es ja letztendlich in der Substanz. Trittin: Noch mal: Ich bin der letzte, der in Abrede stellt, dass wir hier einen Prozess begonnen haben, der zu Hoffnungen berechtigt. Aber ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass wir da am Anfang sind. Manche haben ja bemüht dieses Bild Nixon mit Mao Zedong. Nur damals ging es um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das ist eine vergleichsweise leichte Übung, wie nach 70 Jahren Konflikt auf der koreanischen Halbinsel tatsächlich dazu zu kommen, etwas zu schaffen, was tatsächliche Sicherheitsgarantien aus Sicht der Nordkoreaner sind. Die haben natürlich auch ihre Erfahrungen und schauen sich um in der Welt und da stellt man dann fest, dass in einem anderen Bereich, wo eine Sicherheitsgarantie von den USA abgegeben worden ist, diese mal eben aus den gleichen innenpolitischen Motiven kassiert wurde, wie jetzt der Ausgleich gesucht wurde, nämlich gegenüber dem Iran. Deswegen ist die Frage dieser Sicherheitsgarantien, die zur Denuklearisierung führen sollen, auch mit einer Demilitarisierung der Region einhergehen, die entscheidende. Daran wird sich zeigen, ob am Ende die Hoffnung, die wir alle haben, berechtigt ist. Müller: Reden wir noch einmal über Donald Trump, jetzt aus der Perspektive von gestern. Wir haben in den vergangenen 14, 15 Monaten ja ganz häufig mit einer negativen Konnotation und einem negativen Kontext über Donald Trump geredet. Nach dem G7-Gipfel vor ein paar Tagen war das ja auch noch mal der Fall. Jetzt plötzlich diese Wende. Einige reden oder sprechen von Zeitenwende – kommt immer auf die Perspektive an. Sie haben die amerikanische Politik auch besonders detailliert verfolgt in den zurückliegenden Monaten, sind häufig dort zu Gast gewesen, haben mit vielen verschiedenen Gesprächspartnern auch gesprochen. Warum hat Donald Trump ausgerechnet das jetzt geschafft, näher an Pjöngjang heranzurücken und Kim Jong-un im Grunde zur Kooperation zu gewinnen? "Er will den Beweis erbringen, dass er der bessere Dealmaker ist" Trittin: Wenn man es oberflächlich betrachtet, müssten Justin Trudeau und Frau Merkel jetzt fürchterlich beleidigt sein, weil er ohne Zweifel diese traditionellen Verbündeten der USA im Grunde genommen schlechter behandelt hat als einen Diktator aus Nordkorea. Müller: War das produktiv? Trittin: Das hat aber zum Ergebnis erst mal gehabt, dass wir hier in einem politischen Prozess sind. Ich gehöre nicht zu denen, die Donald Trump für irrational und unberechenbar halten. Diese Wahrnehmung halte ich für sehr kurzsichtig. Donald Trump hat die Wahl gewonnen, weil es ihm gelungen ist, in den USA wichtige Teile der demokratischen Wählerschaft entweder zu sich rüberzuziehen oder zu neutralisieren, und das ist die Basis seiner politischen Macht. Und wenn er wiedergewählt werden will, und das will er, wird er dieses aufrecht erhalten müssen. Dieser Grundüberlegung gehorchen seine Schritte, mit denen er in der Tat für tatsächlich schwere Verwerfungen in der internationalen Politik sorgt. Das gilt für die Aufkündigung des Iran-Abkommens, das gilt für die von ihm angezettelten Handelskriege, das gilt für die Politik, die er zum Beispiel gegenüber dem Klima gemacht hat, alles gezielt auf die innenpolitische Auseinandersetzung. Und jetzt will er den Beweis erbringen, dass er der bessere Dealmaker ist als Barack Obama, und genau dieses innenpolitische Motiv hat dazu geführt, dass die Welt sich heute über diese Reaktion freuen kann, nämlich dass Hoffnung besteht, dass ein Konflikt, der lange die Welt beschäftigt hat, gelöst wird. Müller: Ist das so? Wird er ein besserer dealmaker werden? Und ist es jetzt schon mehr, als Barack Obama in acht Jahren geschafft hat? Trittin: Das wird man sehen, wie sich genau dieser Prozess, der gestern auf den Weg gebracht worden ist, entwickelt. Das wird davon abhängen, ob es beispielsweise materielle Sicherheitsgarantien für Nordkorea gibt, ob es möglich ist, unter diesen Bedingungen eine weitere ökonomische Annäherung zwischen Nord- und Südkorea hinzubekommen. All dieses sind Dinge, die jetzt verhandelt werden und die nicht mit einer großen Inszenierung in Singapur gelöst sind. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jürgen Trittin im Gespräch mit Dirk Müller
Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin führt die außenpolitischen Bestrebungen von US-Präsident Donald Trump auf innenpolitische Motive zurück. Trump sei nicht irrational, sondern habe den festen Plan, bei den Midterm-Wahlen die Mehrheiten in beiden Kammern nicht zu verlieren, sagte Trittin im Dlf.
"2018-06-13T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:48.413000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/juergen-trittin-donald-trump-hat-einen-festen-plan-100.html
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"Frauen fallen oft aus dem Radar der Männer"
Ursula Mense: Die Quote wirkt, hat Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig gesagt. Über diese an sich positive Bilanz habe ich mit Dr. Elke Holst gesprochen. Sie ist Forschungsdirektorin unter anderem mit dem Schwerpunkt Gender-Fragen in der Arbeitswelt beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Und ich habe sie zunächst gefragt, ob sie das auch so sieht und von einem Kulturwandel sprechen würde wie die Ministerin. Elke Holst: In der Tat ist in den Aufsichtsräten Bewegung und es sind mehr Frauen in Aufsichtsräte gekommen. Man kann schon sagen, durch die Quote ist das wesentlich stärker in Gang gekommen als ohne Quote. Ob damit schon ein Kulturwandel in den Unternehmen verbunden ist, das weiß ich nicht. Was man sagen kann ist, dass das Thema immer mehr in den Unternehmen ankommt. Mense: Man könnte aber im Umkehrschluss jetzt auch sagen, es funktioniert da, wo es eine Quote gibt. Und da, wo es keine gibt, funktioniert es nicht? Holst: Das scheint so zu sein. Wir haben Berechnungen gemacht bei den Top 200 Unternehmen, also den nach dem Umsatz stärksten Unternehmen, und festgestellt, dass Unternehmen, die der Quote unterliegen, dort einen stärkeren Anstieg des Anteils von Frauen in Aufsichtsräten haben als in den Unternehmen, in denen keine verbindliche Quote besteht. Mense: Das betrifft ja auch die Vorstandsebene. Auch Manuela Schwesig hat das heute angemahnt. Da bewegt sich noch sehr wenig. Frauen sind dort nach wie vor stark unterrepräsentiert. Plädieren Sie dann für eine Quote auch für Vorstände? Holst: Wir müssen jetzt uns den Ursachen noch mal stärker widmen. Es ist in der Tat so, und auch das finden wir in unseren Studien, dass sich in Vorständen nicht allzu viel bewegt. Ein Argument der Arbeitgeberseite ist, weil ja Verträge bestehen, die zum Teil über fünf Jahre laufen und Personen nicht einfach ausgetauscht werden können. Das war mit ein Grund, warum sich da relativ wenig bewegt. Ein anderer Grund wird immer genannt, es seien nicht genug Frauen da. Das wurde mittlerweile gezeigt, dass, wer nach Frauen Ausschau hält, auch Frauen findet. Eine ganz wichtige Sache ist, dass immer mehr Frauen auf allen Hierarchie-Ebenen Berücksichtigung finden, und wenn mehr Frauen auf Führungspositionen auf allen Hierarchie-Ebenen sind, dann können die natürlich auch stärker in diese Positionen vordringen, weil sie nämlich stärker auf dem Radar der Männer sind. Im Moment ist das noch nicht so der Fall. Wenn Top-Positionen vergeben werden, dann kennt man seine Kollegen, das sind nun mal vor allen Dingen Männer, und dann wird auch in dem Kreis gefragt und gesucht. Das Problem ist, Frauen fallen oft aus dem Radar der Männer, und das muss sich ändern. Mense: Das heißt, eine Quote jetzt auszuweiten oder nachzubessern, auf andere Wirtschaftsbereiche und Unternehmen ausweiten, das, würden Sie jetzt sagen, ist erst mal nicht das, was an erster Stelle zu tun ist? Holst: Na ja, man muss sehen, wie sich das weiterentwickelt. Man kann ja auch nicht völlig die Argumente der Arbeitgeber jetzt beiseitelassen, dass da Verträge nicht bestehen. Aber man sieht doch schon deutlich, sagen wir mal, dass da mehr Wille schon hilfreich wäre, weil die Unternehmen müssen ja ihre Ziele festlegen. Wenn sie das nicht tun, wenn da wirklich nur staatlicher Druck hilft, was ich nicht hoffe, dann wird es sicherlich eine Gesetzesverschärfung geben. Aber ich hoffe immer noch darauf, dass die Unternehmen erkennen, wie wertvoll Frauen auf allen Ebenen im Hause sind, und dass sie auch selber da aktiv werden. Mense: Vielleicht schauen wir mal kurz auf den deutschen Mittelstand. Da ist das Problem ja besonders groß. Der Anteil von Chefinnen hatte dort auch mal zugelegt, auf knapp unter 20 Prozent. Jetzt stagnieren die Zahlen. 2015 – das sind wohl die letzten Zahlen, die es gibt -, da waren es 660.000 mittelständische Firmen, die von Frauen geleitet wurden, die meisten davon aber ohne gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Wird da nicht auch ein riesiges Potenzial nicht ausgeschöpft? Holst: Ja natürlich! Das ist so. Normalerweise ist das gar nicht mal so schlecht in den mittleren Bereichen, weil Frauen ja auch Unternehmen erben zum Beispiel, von ihren Eltern oder Vätern vor allen Dingen, oder weil sie sich auch selber engagieren und dann ein Unternehmen aufbringen. Aber Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt an: Frauen brauchen da auch Unterstützung, wie auch Männer Unterstützung brauchen, aber es geht vor allen Dingen darum, dass man Frauen akzeptiert in diesen Positionen und mit ihnen genauso Geschäfte macht zum Beispiel wie mit Männern. Denn es ist noch immer in unserer Gesellschaft so vorhanden, dass Stereotype vorherrschen, wo oftmals gesagt wird, sagen wir einfach mal jetzt bei einem kleinen Betrieb, eine Frau macht einen Handy-Laden auf und ein Mann macht einen Handy-Laden auf. Dann wird oft immer noch so gedacht, dass ein Mann kompetenter ist in dieser Sache, und eine Frau muss das immer erst beweisen. – Das nur mal bildlich gesprochen, steht aber für andere Bereiche ebenfalls. Mense: Und wie stark ist immer noch Dreh- und Angelpunkt die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Es gibt da neueste Zahlen, dass Frauen immer noch über 40 Prozent mehr unbezahlte Tätigkeit in der Familie leisten als Männer. Das scheint ja, auch ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sein. Vor allen Dingen auch der Wille der Männer scheint ja auch zu fehlen. Holst: Ja, das stimmt total. Ohne mehr Partnerschaftlichkeit in der Ehe, besonders auch wenn Kinder da sind, wird sich auch nicht viel beruflich ändern können, denn Kinder müssen versorgt werden, oder andere Personen, die pflegebedürftig sind, brauchen die Hilfe. Gerade in Führungspositionen zum Beispiel gibt es ja oft Männer, die dann auf eine Frau zuhause zurückgreifen können, die ihnen diese ganzen familiären Verpflichtungen vom Halse hält und sie nicht damit belastet. Bei Frauen ist das oft schwerer. Sie haben nicht einen Mann zuhause, der das tut. Diese ungleiche Verteilung von Hausarbeit und Familienarbeit ist noch immer aus diesem tradierten Aufgabenteilungen-Modell, das in vielen Familien noch gelebt wird. Zum Beispiel der Gender Pay Wert ist ja 21 Prozent. Und weil die Männer mehr verdienen, wird dann gesagt, wenn ein Kind geboren wird, ich gehe arbeiten, sonst reicht das Geld nicht aus für uns in der Familie. Es sind noch immer Rahmenbedingungen, die immer wieder Frauen und Männer in die tradierten Rollen zurückbringen, und das muss sich natürlich auch ändern. Ich sage nur noch ein Schlagwort: Ehegattensplitting. Auch das trägt dazu bei, dass die tradierten Rollen im Haushalt gestärkt werden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Elke Holst im Gespräch mit Ursula Mense
Durch die Frauenquote komme zwar Bewegung in den Unternehmen bei der Besetzung der Aufsichtsräte, sagte die Gender-Forscherin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Elke Holst, im DLF. Anders sehe es aber in den Vorstandsetagen aus. Dies habe oft auch mit Rahmenbedingungen zu tun, die Frauen und Männer in die tradierten Rollen zurückbringen.
"2017-03-08T17:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:18:13.388000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauen-in-der-arbeitswelt-frauen-fallen-oft-aus-dem-radar-100.html
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Fluchttier in der Menschenmenge
Pferde der Landesreiterstaffel NRW mit Visieren (imago / Deutzmann) Halb zehn morgens im Stall der Landesreiterstaffel in Willich am Niederrhein. Nach und nach holen Polizisten ihre Pferde aus den Boxen. Die Tiere sind groß und muskulös, blicken sich neugierig um. Polizist André Tholen macht Wallach Duplo fertig für den heutigen Ausritt. Seit zwölf Jahren sind die beiden als Team gemeinsam im Einsatz: "Das ging los mit Gorleben, drei Jahre hintereinander, das waren harte Einsätze für die Pferde, Galoppieren über Gleisanlagen… dann immer wieder Fußball… Demonstrationen, rechts und links, wo wir auch immer in erster Linie, in vorderster Front geritten sind, das war auch nicht immer einfach." Extremsituationen für Reiter und Pferd. Um die Tiere auf den Einsatz vorzubereiten, werden sie speziell ausgebildet. In der Reithalle neben dem Stall läuft gerade ein solches Training. Sechs Frauen reiten mit ihren Pferden verschiedene Formationen. Außerdem bringt die Leiterin der Reiterstaffel, Melanie Lipp, immer wieder neue Gegenstände in die Halle – etwa einen großen Kanister: "Da sind Steine drin" Pferde sind Fluchttiere Neben Melanie Lipp hat eine Polizistin eine Kette Blechdosen in der Hand. Nun laufen die beiden Frauen nebeneinander auf die Pferde zu: "So wird jetzt nachgespielt dass eine Menschenmenge, ne laute, auf die Pferde zu geht", sagt Melanie Lipp. Zwei Pferde machen einen Satz zur Seite – sie sind jung und noch nicht so lange im Training. Pferde sind Fluchttiere, doch für den Einsatz bei der Polizei müssen sie lernen, solche Situationen auszuhalten. "Auch wenn die Pferde jetzt mal zur Seite springen, die müssen jederzeit unter Kontrolle sein und wieder an ihren Platz zurückgehen. Und da die alten Pferde das Ganze hier halten, gehen die auch wieder zurück. Das machen wir jetzt gleich nochmal und dann sieht das Ganze schon anders aus, dann haben die sich schon dran gewöhnt", so Lipp. Immer werden die Pferde auch im Freien trainiert. Zum Beispiel, wenn es um Pyrotechnik geht, der die Tiere bei Fußballspielen begegnen: "Die Rauchtöpfe erzeugen unheimlich Qualm, da reiten wir mit den Pferden durch, damit die auch davor keine Angst haben. Die Bengalos geben so ein spritzendes, heißes Feuer ab. Und dann haben wir noch Pyrotechnik, die Knallgeräusche erzeugt, um die Pferde auch daran zu gewöhnen", so Melanie Lipp. Pferde sind unheimlich leistungsfähig Pferde lassen sich an vieles gewöhnen, sagt die Leiterin der Reiterstaffel. Sie hat auch die Diskussion um den Einsatz von Pferden im Karneval verfolgt. Konkret äußern möchte sich die Polizistin dazu nicht: "Zum Thema Karneval kann ich nur sagen, im Allgemeinen, dass Pferde unheimlich leistungsfähig sind und denen mehr zuzumuten ist, als sich mancher vorstellt. Ich kann nur von uns ausgehen, sie haben ja gesehen, sie sind an fast alle Situationen, die es gibt, gewöhnt." Die Leiterin der Reiterstaffel der NRW-Polizei Melanie Lipp sagt, "dass Pferde unheimlich leistungsfähig sind und denen mehr zuzumuten ist, als sich mancher vorstellt". (augenklick/firo Sportphoto) Für die Polizei hat der Einsatz von Pferden viele Vorteile, erklärt die Leiterin der Reiterstaffel, Melanie Lipp: Mit ihnen seien die Polizisten wendig und schnell unterwegs, hätten aufgrund der erhöhten Position einen guten Überblick über die Einsatzlage. Und: Pferde wirkten deeskalierend: "Man muss wirklich noch sagen, dass bei Menschen der natürliche Respekt vor dem großen Tier Pferd besteht. Wir unterstützen ja die Kollegen der Einsatzhundertschaft, die zu Fuß sind, und wenn da so ein Pferd kommt, das noch größer und einfach mächtiger ist, hat das noch ne ganz andere Wirkung." Neugierig, aber gelassen Das ideale Polizeipferd ist neugierig, aber gelassen. 16 Tiere gehören derzeit zur Landesreiterstaffel in Willich, sie alle haben ihren Stammreiter. Auch für die Polizisten ist der Job anspruchsvoll. Oft sitzen sie viele Stunden auf dem Pferd, bekleidet mit einer 15 Kilo schweren Schutzausrüstung. Polizeioberkommissarin Gritt Heidmann: "Es muss einem bewusst sein, dass wir wirklich bei jeder Temperatur, bei jeder Witterung auf dem Pferd sind, auch draußen. Das ist schon körperlich sehr anstrengend, aber man muss auch die ganze Zeit immer voll dabei sein. Ein Pferd ist immer noch ein Fluchttier, man muss immer bedenken, wie es in welcher Situation reagiert und da darf man eben nicht unachtsam sein." Das tägliche Training soll Polizisten und Pferde bestmöglich vorbereiten. Das Wichtigste aber, meint Polizist und Reiter André Tholen, sind gegenseitiges Vertrauen und eine Verbindung zwischen Mensch und Tier: "Es ist eine Erfahrungssache über viele Jahre mit Grundrichtlinien und viel Fingerspitzengefühl und viel ins Pferd reinhören. Und das verbindet auch, dann weiß ich auch, wie er im Einsatz ist." Polizist André Tholen sagt, er könne sich im Einsatz auf sein Pferd Duplo verlassen – und er hoffe, dass das andersrum genauso gilt.
Von Sabine Büttner
Demonstrationen, Großveranstaltungen, Fußballspiele und mittendrin - Polizeipferde. Kritiker halten ihren Einsatz für Tierquälerei. Doch die Tiere werden speziell für solche Situationen trainiert – etwa von der Landesreiterstaffel NRW in Willich am Niederrhein.
"2019-03-04T00:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:40:26.997000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/training-von-polizeipferden-fluchttier-in-der-menschenmenge-100.html
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Biobauern produzieren regional
Rind aus Kunststoff mit den Deutschlandfarben angemalt und der Aufschrift: "Die faire Milch" (Imago / CHROMORANGE) 140 Milchkühe stehen bei Biolandwirt Johannes Tams im Stall beziehungsweise meistens auf der Weide – rund 850.000 Kilogramm Milch produzieren die pro Jahr. Die sollen künftig in Mühlenrade in der Bauernmeierei verarbeitet werden. Johannes Tams ist aber nicht nur Rohstofflieferant für die Meierei – sondern auch Anteilseigner des Betriebs, der pro Jahr etwa elf Millionen Liter Rohmilch verarbeiten soll. Das ist nur ein Bruchteil der Kapazitäten großer Konzerne – aber es geht bei uns eben nicht vorrangig um die Menge, betont Johannes Tams: "Es geht darum, dass wir nicht anonym produzieren und dass ich meine Mitbewerber oder Mitproduzenten kenne – das hat was mit gegenseitigem Vertrauen zu tun. Eine Vertrauensgrundlage, die wir transportieren können an den Verbraucher." Weil sich die Lieferanten alle kennen, können sie auch voll hinter den Produkten der Meierei stehen – Bioqualität eben ohne Wenn und Aber. Die natürlich auch ihren Preis hat – ca. 1, 30 Euro pro Liter! Beim Discounter um die Ecke gibt es den Liter konventionelle Milch schon für rund 50 Cent. Aber: "Wir produzieren ein Produkt in einer Umwelt, die wir erhalten – ressourcenschonend, und wir machen nichts kaputt. Diese Leistung muss der Verbraucher auch mit bezahlen – denn er lebt in der gleichen Umwelt." Genau darin steckt das Risiko der Meierei-Neugründung – ist der Verbraucher wirklich bereit, deutlich mehr für ein regionales Bioprodukt zu bezahlen? Schleswig-Holsteins grüner Landwirtschaftsminister Robert Habeck scheint davon jedenfalls überzeugt zu sein – immerhin hat die Landesregierung das Projekt mit etwa 1,8 Millionen Euro gefördert, und zwar... "Weil es geradezu idealtypisch umsetzt, wovon viele Leute immer reden und ich auch immer rede: Es sind regionale Strukturen aufgebaut worden, Bauern haben selbst ihre Zukunft in die eigene Hand genommen. Es gibt eine Bauerngemeinschaft, die die Meierei trägt – es gibt keine externen Großinvestoren – und es ist Bio-Milch, und dadurch wird auch ein Absatz für die Produktionsweise gesichert, die uns besonders am Herzen liegt, weil sie eben natur-, umwelt- und tierschonend ist." Darum hat der Minister auch mit vollem Einsatz – und bewaffnet mit einem scharfen Messer – bei der Eröffnung der Meierei das symbolische Band durchschnitten. "Was für ein Messer. Einmal festhalten, bitte – festhalten!! Eröffnet – Glückwunsch!" Anschließend ließ Minister Habeck sich dann noch vom Meierei-Geschäftsführer Janosch Raymann bei einem Rundgang durch einen speziellen Besucherbereich den rund 11 Millionen Euro teuren Neubau zeigen – und fragte dabei neugierig nach einigen Details. "Die Befüllung der Milch findet hier drin statt? Das sind die Kartons, dann gehen sie hier rein und oben fallen die Deckel durch – ist das richtig?Genau – die hier werden hier drin aufgefaltet im vorderen Bereich, dann wird der Deckel eingesetzt und im hinteren Bereich werden die befüllt.Wie viele Liter Milch werden das dann pro Tag werden?Also – momentan ist es so, dass wir rund 40.000 Liter am Tag verarbeiten, momentan aber noch nicht an jedem Tag." Die gerade frisch gegründete Meierei ist also noch längst nicht an ihrer Leistungsgrenze – weitere Biobauern als Kommanditisten sind willkommen, betont Geschäftsführer Raymann. Es gibt allerdings ein wichtiges Kriterium: "Also – es ist bei uns so, dass alle Betriebe aus einem Radius von maximal 150 Kilometer kommen sollen – und das soll auch so bleiben. Und das ist auch das Gebiet, in dem wir uns – oder auf das wir uns mit unseren Absatzanstrengungen konzentrieren wollen. Das heißt: Wir wollen uns wirklich regional ausrichten und auch aufstellen." Die Produkte der Bauernmeierei, von der Frischmilch über die länger haltbare Vollmilch bis hin zur eigenen Sauerrahm-Butter, sind deshalb auch nur im Naturkost-Fachhandel und im Lebensmitteleinzelhandel zu finden – es gibt sie nicht bei den Discountern, die mit ihren Niedrigstpreisen gerade mal wieder den konventionellen Milchbauern das Leben so richtig schwer machen. Die bekommen derzeit für ihre Milch rund 27 Cent pro Liter - Biobauern dagegen etwa 47 Cent, rechnet Landwirtschaftsminister Robert Habeck vor. "Die Preise sind stabil geblieben, es gibt jede Menge staatliche Unterstützung für Biobauer zu sein, der sollte jetzt die Chance ergreifen. Jetzt ist der Moment, die Bedingungen sind wunderbar, und jede Meierei – auch außerhalb von Schleswig-Holstein – die Bio-Milch produziert, sagt mir: Ich brauche Bauern!!!"
Von Dietrich Mohaupt
Nach dem Ende der Milchquote gibt es viel zu viel Milch auf dem Markt und die Preise purzeln in den Keller. Weniger als 30 Cent pro Kilo zahlen die großen Molkereien momentan noch. Das deckt oft nicht einmal die Produktionskosten. Eine Gruppe von Bauern aus Schleswig-Holstein möchte das nicht glauben - und entwickelt eine erfolgreiche Alternative.
"2015-09-01T11:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:57:09.278000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bauernmeierei-biobauern-produzieren-regional-100.html
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Abstimmung über Verfassungsreform
Matteo Renzi, Italiens Ministerpräsident (picture alliance / dpa / Sergey Guneev) Für Matteo Renzi läuft es in diesen Tagen und Wochen richtig rund. Gestern meldete die nationale Sozialversicherung ein Plus von 319.000 unbefristeten Arbeitsverträgen in diesem Jahr. Italiens Ministerpräsident kann das seiner Arbeitsmarktreform zuschreiben, die er gegen den Widerstand der Gewerkschaften und eigener Parteikollegen durchs Parlament gebracht hatte. Vor der Sommerpause verabschiedete das Parlament die Wahlrechtsreform, und heute steht das Meisterstück an: die Verfassungsreform mit der faktischen Abschaffung der zweiten Parlamentskammer, des Senats. "Wir haben in unserem Parlament 630 Abgeordnete und 315 Senatoren", erklärt Renzi seine Reform. "In Amerika sind es 425 plus 100, und die sind sicher nicht weniger demokratisch wie wir." Auch der italienische Senat soll nur noch 100 Senatoren zählen. Fünf davon benennt der Staatspräsident, 95 Senatoren werden von den Regionen und Städten entsandt. Der Senat soll eine Art Kopie des deutschen Bundesrats werden und verliert dafür nicht nur Sitze, sondern vor allem Kompetenzen. Künftig wählt nur noch die erste Kammer - das Abgeordnetenhaus - den Ministerpräsidenten. Der Senat wird noch bei Verfassungsänderungen eingeschaltet oder wenn Zuständigkeiten der Regionen betroffen sind. Damit verschlankt Renzi den teuren Politikbetrieb und beschleunigt die Gesetzgebung. Kritiker wie Miguel Gotor sprechen dagegen von einem Demokratiedefizit. Gotor hatte bis zuletzt gefordert, dass die neuen Senatoren direkt gewählt werden. "Es wäre wichtig, die Beteiligung der Bürger zu erhöhen", sagt Gotor. "Ansonsten setzen die Parlamente ihre Glaubwürdigkeit immer mehr aufs Spiel und das könnte große Probleme mit sich bringen." Große Widerstände im eigenen Lager von Renzi Gotor ist übrigens Abgeordneter der Demokratischen Partei, also der Regierungspartei. Die größten Widerstände hatte Renzi wieder einmal im eigenen Lager zu überwinden. "Es ist doch lächerlich zu sagen: Wenn es keine direkte Wahl der Senatoren gibt, dann ist die Demokratie gefährdet", so Renzi. "Als müsste man nur häufiger wählen, um demokratischer zu sein. Das ist die goldene Kamera und nicht der Senat." Mit mehreren kleinen Zugeständnissen überzeugte Renzi die Kritiker in den eigenen Reihen. Sie werden heute bei der finalen Abstimmung wohl mit Ja stimmen. Die Lega Nord hielt bis zuletzt dagegen. Mit allen Mitteln: Sage und schreibe 80 Millionen Änderungsanträge wollte die rechtsextreme Partei einreichen. Der Senatspräsident verhinderte die Totalblockade und die Lega Nord verließ unter dem Protest ihres Fraktionsvorsitzenden Gian Marco Centinaio das Parlament. "Wir, verehrter Herr Präsident, wollen nicht mehr mit jemanden sprechen, der die Stütze dieses Ministerpräsidenten ist", empörte sich Centinaio. "Ihr tötet die Demokratie und wir werden nicht eure Komplizen sein. Auf Wiedersehen." Auch ein alter Bekannter hat sich in der Debatte um den neuen Senat zu Wort gemeldet: Silvio Berlusconi. Der spielt im politischen Alltag Italiens kaum mehr eine Rolle. Seine Partei Forza Italia liegt in Umfragen bei etwas über zehn Prozent. Und Berlusconi muss irritiert feststellen, dass Renzi all die Reformen umsetzt, die er immer angekündigt hat: "Diese Person hat mehr als einmal einen Machtwillen bewiesen, der uns sehr nachdenklich stimmen und stark beunruhigen sollte." Eines muss Berlusconi aber nicht fürchten: dass Renzi die Reformen im Alleingang durchzieht. Das letzte Wort haben die Bürger. Sie sollen abschließend in einem Referendum über die Verfassungsreform entscheiden.
Von Tilmann Kleinjung
Als Matteo Renzi vor anderthalb Jahren als Ministerpräsident Italiens antrat, wollte er das Land umkrempeln und Reformen durchsetzen. Das wurde nichts, doch nun soll die "Mutter aller Reformen" kommen. Der italienische Senat stimmt heute über jene Verfassungsreform ab, mit der er sich quasi selbst abschafft: Kompetenzen sollen beschnitten werden und etliche Sitze wegfallen.
"2015-10-13T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:04:01.636000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italien-abstimmung-ueber-verfassungsreform-100.html
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Der kleine katarische Sender Al-Dschasira
"Natürlich machen sie irgendwo auch mit der Darstellung des diffusen internationalen Phänomens Terrorismus Einschaltquote und Reichweite, aber das macht CNN genauso wie die BBC, das machen auch deutsche Fernsehsender. … Aber nur Al-Dschasira deshalb ein Terror-TV-Label zu verpassen, weil es der erste Sender war, der so genannte Terrorvideos ausgestrahlt hat, finde ich, dann würde man dem Sender Unrecht tun."Verteidigt der Dortmunder Medienwissenschaftler Oliver Hahn den Fernsehsender "Al-Dschasira" gegenüber der Behauptung, Terroristen und ihre Aktivitäten zu unterstützen. Doch wer ist dieser Sender, der jeden Tag vierzig bis fünfzig Millionen Zuschauer hat und in der arabischen Welt mittlerweile zur Informationsquelle Nr. 1 geworden ist? 125 Millionen Euro reichten, um im April 1996 die Reste eines gescheiterten Kooperationsabkommens zwischen der britischen BBC und einem saudi-arabischen Sender zu übernehmen. Genau diese Summe zahlte Hamad bin Khalifa al-Thani, seines Zeichens Emir von Katar, einem kleinen Scheichtum am persischen Golf. Der Name des neuen Satellitensenders: Al-Dschasira, auf Deutsch: Die Insel, in Anspielung auf die Halbinsel, auf der Qatar liegt. Al-Dschasira durchbrach damit die Dominanz der staatlichen Fernsehsender, welche die Programme in den arabischen Ländern bis dahin beherrscht hatten:"Diese Staatsfernsehen waren und sind es heute noch einhundertprozentige Regierungsveranstaltungen oder Veranstaltungen der Machthaber, und von diesen Staatsfernsehsendern hat der arabische Zuschauer eigentlich nicht mehr zu erwarten als Protokollnachrichten. Protokollnachrichten heißt, welcher Emir hat welchem Scheich wann wo die Hand geschüttelt. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, durch eine gewisse kritische Berichterstattung, durch eine Öffnung der Berichterstattung auch in Richtung westliche Nachrichtenstandards hat Al-Dschasira schon eine gewisse Nachrichtenrevolution ausgelöst in der arabischen Welt."Die Sendezentrale in der katarischen Hauptstadt Doha sendet rund um die Uhr: Nachrichten zur vollen Stunde, die sich mit Dokumentarfilmen, Reportagen und Talkshows abwechseln. Das hochprofessionell arbeitende Journalistenteam setzt sich dabei vor allem mit den in der arabischen Welt vorherrschenden Tabuthemen auseinander: Politik, Menschenrechte, die Stellung der Frau, Religion und Sexualität. Das Besondere dabei: Die Zuschauer können sich durch Anrufe oder per SMS in Sendungen einschalten – ein Novum in der arabischen Welt:"Dass heißt, hier haben wir zum ersten Mal auch eine zivilgesellschaftliche oder politische, in Anführungsstrichen politische Beteiligungsmöglichkeit in politischen Kontexten, wo Wahlen zwar inzwischen stattfinden, aber wo politische Meinungsäußerung immer noch relativ jung ist und in den Kinderschuhen steckt."Die Berichterstattung des kleinen katarischen Senders ist daher vor allem den vielen despotisch herrschenden Politikern in der arabischen Welt ein Dorn im Auge, die durch die kritischen Beiträge ihre Machtposition gefährdet sehen. Aus diesem Grund wurden auch schon in einigen arabischen Hauptstädten die Büros des Senders geschlossen, zuletzt 2003 in Bagdad. Doch auch von westlichen Politikern, besonders aus den USA und Großbritannien, wird Al-Dschasira wegen seiner Berichterstattung kritisiert: Die Bilder von verstümmelten Leichen, die oft gezeigt werden, seien zu hart und würden die Menschen in der arabischen Welt nur aufhetzen, so die Stimmen Aktham Suliman, Deutschland-Korrespondent von Al-Dschasira, wehrt sich gegen diese Vorwürfe: "Ich sage nur eins: Wenn wir bestimme Bilder nicht zeigen, dann gelten wir als Lügner in der Region. Der Palästinenser sieht die Leichen an seiner Haustür, ... und wenn ich das nicht zeige, dann bin ich ein Lügner, und dann werden alle umschalten und sagen, wo gibt es die Bilder, die meine Realität beschreiben."Aber Al-Dschasira spielt auch für viele arabische Zuschauer eine große Rolle als Brücke zum Westen. Denn der Sender verfügt über ein weit verzweigtes Netz an Korrespondenten – einmalig in der arabischen Welt:"Das ist auch einer der Gründe, warum man, vor allem am Anfang, uns zugeschaut hat. Zum ersten Mal kommt jemand aus Moskau und erzählt aus arabischer Sicht die Entwicklung in Russland, zum ersten Mal kommt jemand aus Paris und erzählt das, was in Frankreich passiert aus arabischer Sicht und so weiter. Das war ein Bonus für uns, inzwischen gibt es andere arabische Sender, die ähnliches machen, etwa Al-Arabiya, unsere Konkurrenz."Doch eine erhoffte Demokratisierung des Nahen Ostens durch den Sender hat sich in den letzten Jahren als Trugschluss erwiesen. Noch einmal der Medienwissenschaftler Oliver Hahn:"Kurz und gut, zehn Jahre Al-Dschasira, und politische Wirkung in Richtung Demokratie sieht sehr bescheiden aus, keine großartigen Demokratisierungstendenzen, keine großartigen Veränderungen in Richtung Demokratisierungsprozessen bisher."
Von Abdul-Ahmad Rashid
Al-Dschasira ist heute unbestritten der populärste Fernsehsender im arabischen Raum und weltweit bekannt. Regelmäßig wird er in den westlichen Medien zitiert, wenn es um Nachrichten über den Nahost-Konflikt oder den Terrorismus geht. Am 1. November 1996, vor fast genau zehn Jahren, ging Al-Dschasira das erste Mal auf Sendung.
"2006-10-28T17:05:00+02:00"
"2020-02-04T11:18:22.137000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-kleine-katarische-sender-al-dschasira-100.html
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Bericht des Ministeriums lässt Fragen offen
Soldaten in der Grundausbildung bei einem Marsch (dpa-Zentralbild/Stefan Sauer) Es ist wohl nur ein weiterer Schritt auf der Suche nach den Gründen, warum Mitte Juli vier Bundeswehr-Soldaten bei einem Übungsmarsch im niedersächsischen Munster kollabiert sind. Einer von ihnen starb zehn Tage später in einem Krankenhaus. Einer liegt noch auf der Intensivstation. Insgesamt elf Personen waren während dieses Ausbildungstages gesundheitlich betroffen. Das Verteidigungsministerium hat einen vorläufigen Abschlussbericht einer Untersuchungsgruppe vorgelegt: und trotz der 42 Seiten Bericht sind viele Fragen noch ungeklärt. Hitzeschlag bei Übungsmarsch Doch zunächst: Worum geht es? Im Fokus ist ein gut sechs Kilometer langer Marsch, der laut Bericht im Dienstplan nicht vorgesehen war, den aber mehr als 25 Soldaten an einem warmen Sommertag vom Ausbildungsort zur Kaserne zurücklegen mussten, Teile davon im Laufschritt, darunter auch mit Liegestütz-Übungen. Die Offiziersanwärter sollten angeblich fehlende Ausrüstungsgegenstände holen. Nach ersten Ergebnissen erlitten die insgesamt vier Soldaten, die kollabiert sind, einen Hitzeschlag. Ihre Körperkerntemperatur soll über 40 Grad gestiegen sein. Die Untersuchungsgruppe kommt nun zu dem Schluss, dass - wie es heißt - "mehrfach nicht sachgerechte Entscheidungen" getroffen wurden. "Ungünstige Verkettung von Umständen und Faktoren" Dazu zählt: Der eigentliche Vorgesetzte sei im Urlaub gewesen und den Soldaten, die zu Beginn ihrer Ausbildung standen, seien ungewöhnlich hohe Belastungen zugemutet worden. Auch seien die Soldaten nicht angemessen bekleidet gewesen: Der am Ausbildungstag getragene Anzug mit der Feldjacke über der Splitterschutzweste hätte zum Wetter und zum Leistungsstand der Soldaten nicht gepasst. "So verdichte sich das Gesamtbild, dass in jedem Einzelfall eine ungünstige Verkettung von Umständen und Faktoren vorgelegen hat", teilt die Bundeswehr mit. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bewertete das in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" dahingehend, dass sich keine klare einzelne Ursache abzeichne, die für sich gesehen den Todesfall oder gar das tragische Gesamtgeschehen des Tages erklären könnte. Jens Flosdorff, Sprecher der Verteidigungsministeriums verwies heute darauf, dass die Untersuchungen nicht abgeschlossen seien: "Es laufen auf den unterschiedlichsten Strängen weiterhin Ermittlungen. Es gibt Ermittlungen disziplinarischer Art in der Bundeswehr es gibt die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, aber es gibt auch gruppendienstliche Maßnahmen, die eingeleitet worden sind und das ist noch offen, welche weiteren Erkenntnisse und Bewertungen wir noch erhalten." Illegale Diätpillen im Spiel? Weil die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, und eine einzelne Ursache für das Unglück offenbar nicht gefunden wurde, ist die Debatte um mögliche Gründe für den Kollaps der Offiziersanwärter in vollem Gange. Laut einem Bericht der "Hannoverschen Allgemeinen" sollen die Soldaten, die zusammengebrochen sind, in einer Stube geschlafen haben. Dort hätten sie illegale Diätpillen mit dem Wirkstoff Dinitrophenol geschluckt, wird ein ermittelnder Polizist zitiert. Der Soldat, der im Krankenhaus seinem Kollaps erlegen war, soll leicht übergewichtig gewesen sein. Symptome wie Herzrasen und Überhitzung seien üblich für eine Vergiftung mit der Substanz. Versagte möglicherweise die Kontrolle der Spinde? Für den SPD-Wehrexperten Rainer Arnold stellen sich noch andere Fragen, darunter: "Warum ist die erste Riege der Verantwortlichen gerade in der Phase, wo die neuen Rekruten kommen, im Urlaub? Die zweite Frage ist: Warum gibt man den Soldaten mehr Vorschriften als Ermessenspielräume, um solche Märsche zu organisieren? Und die letzte Frage ist: Es gibt wohl Indikatoren, dass zumindest einzelne Soldaten verbal unter Druck gesetzt wurden, ihr müsst jetzt den Marsch durchstehen, sonst habt ihr keine Zukunft hier bei der Truppe, - da wollen wir dann schon genau wissen, was dort los war." Dazu Gelegenheit bietet ein Termin kommende Woche: Dann trifft sich der Verteidigungsausschuss des Bundestags.
Von Paul Vorreiter
Nach dem Tod eines Soldaten bei einem Übungsmarsch im Juli hat die Bundeswehr nun Fehler eingeräumt. So sollen der junge Mann und andere neue Rekruten zu hohen Belastungen ausgesetzt worden seien. Die Untersuchungen zu dem Fall seien aber noch nicht abgeschlossen.
"2017-09-01T13:18:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:50.266000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/todesfall-bei-bundeswehr-uebungsmarsch-bericht-des-100.html
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Interessenkonflikt bei der Aufklärung?
Christian Duve von der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer spricht in Frankfurt am Main während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Untersuchungsberichts zur DFB-Affäre um die Vergabe der Fußball-WM 2006 nach Deutschland. (dpa-Bildfunk / Arne Dedert) Die Kanzlei Freshfields war bereits vor der WM 2006 für das Organisationskomitee tätig – und hatte dabei Leute beraten, die in der Sommermärchen-Affäre später selbst in den Fokus gerieten. Akten zeigen, dass Freshfields insbesondere Dienstleistungen im Ticketing erbracht hatte – ein sensibler Bereich, in dem es öfter auch zu unsauberen Deals kommt. Auch bei der WM 2006 war das der Fall, Strafermittlungen in München zu millionenschweren Schwarzmarktdeals wurden erst 2015 eingestellt. Befangenheits-Vorwürfe zurückgewiesen Frehfields und der DFB äußern sich nicht zu Arbeitsumfang und Bezahlung für die damaligen Dienste der Kanzlei. Freshfields weist Befangenheits-Vorwürfe zurück, es habe "keine anderen Mandate" gegeben, die den Gegenstand ihrer Untersuchung betroffen hätten. Der DFB verweist auf die Zuständigkeit der Kanzlei in Fragen eines Interessenkonflikts. Jedoch sei der Führung um Präsident Reinhard Grindel bei der Beauftragung nicht bekannt gewesen, dass Freshfields auch schon "ein Mandat für das O.K. der WM 2006 hatte".
Von Thomas Kistner
Überzeugend war sie nie, die Aufarbeitung der Sommermärchen-Affäre, mit welcher der Deutsche Fußball-Bund im Herbst 2015 die Frankfurter Kanzlei Freshfields beauftragt hatte. Nun fragt sich, wie unabhängig diese Aufklärer tatsächlich waren. Es geht um einen möglichen Interessenskonflikt.
"2019-02-21T22:52:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:59.379000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dfb-sommermaerchen-affaere-interessenkonflikt-bei-der-100.html
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"Es muss natürlich noch viel mehr geschehen"
Wie umgehen mit Einwegbechern: Viele Sportevents müssen sich ändern, wenn sie das Klima schützen wollen. (Imago / Pressefoto Baumann) Man müsse sich seiner Verantwortung im Kampf gegen die Klimakrise stellen und etwas verändern, sagte Stefan Wagner, Mitbegründer von Sports for Future im Dlf. Ein Bundesligist könne sich dabei vor allem mit seinem eigenen CO2-Fußabdruck beschäftigen und überall dort wo es gehe, versuchen diesen zu minimieren, sagte Wagner, der bei der TSG Hoffenheim zuständig für die Unternehmensentwicklung ist. Reihe: Endspiel ums Klima (picture alliance / dpa / imageBROKER) Energieeffizienzmaßnahmen, Ökostrom, Solarzellen Dies könnten Energieeffizienzmaßnahmen sein, die Verwendung von Ökostrom oder die Installation von Solarzellen auf dem Stadion oder man könne Ausgleichkompensationszahlungen leisten, wenn die Reduzierung der CO2-Bilanz nicht möglich sei, schlug Wagner vor. In der Bundesliga und im Sport passiere zwar schon etwas, aber es müsse natürlich noch viel mehr geschehen, sagte er. Serie: Endspiel ums Klima (1) - Klimasünder FußballfanAutoabgase, Bratwurst und Bier: Knapp eine halbe Million Fußball-Fans sind jeden Spieltag in der Bundesliga unterwegs, um die Spiele ihrer Mannschaften zu verfolgen. Ihr CO2-Fußabdruck ist gigantisch. Ein Problem in der Bundesliga und im Fußball seien die sehr großen Fanbewegungen, die ein extrem hohes Maß an CO2 produzieren. "Aber der Fußball selber kann nicht für die Verkehrswende mitverantwortlich gemacht werden, sondern wir müssen dann Lösungsangebote finden, die vielleicht Anreize schaffen, um sich CO2-neutral zu Fußballspielen zu bewegen." Sport darf sich nicht ausnehmen Man müsse über Verzicht und Regeln reden, sagte er, auch wenn dies schwierig werde und schnell als Bevormundung kritisiert werde. Da dürfe sich auch der Sport nicht ausnehmen. Serie: Endspiel ums Klima (4) - Öko-Pioniere im OberhausWas machen die Vereine der Fußball-Bundesliga, um umweltverträglicher zu wirtschaften? Insgesamt eher wenig. Besonders engagiert zeigt sich dagegen ausgerechnet der Werksklub eines großen Autobauers.
Stefan Wagner im Gespräch mit Maximilian Rieger
Bundesligisten müssen versuchen ihren eigenen CO2-Fußabdruck zu reduzieren, sagte Stefan Wagner, Mitbegründer von Sports for Future im Dlf. Ein Problem seien die sehr großen Fanbewegungen bei Spielen, die ein extrem hohes Maß an CO2 produzieren.
"2019-11-30T19:50:00+01:00"
"2020-01-26T23:21:41.165000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sport-nachhaltigkeit-es-muss-natuerlich-noch-viel-mehr-100.html
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Glaube zieht an
Im jüdischen Glauben ist die Kippa ein Zeichen der Demut: Jüdische Männer tragen sie immer, wenn sie das Haus verlassen (imago stock&people / Beata Zawrzel) Wer sich zeigt, ist offen. Wer sich zeigt, ist frei Wer sich zeigt, hat Mut. "Es ist etwas Feierliches", sagt Kawthar El Qasem über den Moment, wenn sie das Kopftuch anzieht. "Wenn wir ein Fest haben und ich mich kleide – und das gehört zu meiner Kleidung – dann ist es etwas Festliches." Für Kawthar El Qasem ist es ein Gottesdienst, das Kopftuch zu tragen. Seit 30 Jahren tut sie das – über alle Veränderungen ihres Lebens hinweg, über alle Stadien der christlich-muslimischen Beziehungen, alle Wärmegrade von Willkommenskultur bis hitziger Fremdenfeindlichkeit. Am Anfang hatte sie Hoffnung: "Weil damals das Bild war: die Frauen mit Kopftuch, das sind die Putzfrauen, die haben keine Bildung, die sind "unterdrückt". Und dann haben wir gesagt: Wir werden studieren, wir werden anders sein und dann wird man sehen, dass das nicht so ist." Kawthar El Qasem war Mädchen als sie begann, morgens ihr Kopftuch zu binden, ihren Haaransatz zu verhüllen. Heute ist sie Mutter von drei Kindern, sie wohnte in Wuppertal, heute in Düsseldorf, war Schülerin und ist jetzt Wissenschaftlerin. Aber all diese Anstrengungen scheinen nicht zu zählen – auf den ersten Blick jedenfalls wird Kawthar el Qasem doch nur als ‚Frau mit dem Kopftuch‘ wahrgenommen. Aus der unterdrückten Frau wurde die militante Frau "Die ganze Diskussion hat sich verändert: von: die unterdrückte Frau mit dem Kopftuch ist die militante Frau, die bedrohliche Frau geworden, die politisch motivierte Frau, in der Debatte, nicht in Wirklichkeit." In den vergangenen Monaten haben sich die Reaktionen wieder verändert: einerseits erfährt die schmale Frau, die sich schnell bewegt und – als wir mit ihr sprechen - ein leuchtend violettes Kopftuch trägt, Mitgefühl. Ihr Trainer beim Sport zum Beispiel erkundigte sich nach den Anschlägen von Paris, ob ihr als erkennbarer Muslimin Hass entgegenschlüge. Andererseits haben sich den vergangene Monaten die Reaktionen wieder verändert. KawtharEl Qasem sagt: "Das tröstet dann ein bisschen darüber hin, dass die Gesamtatmosphäre so hemmungsloser geworden ist. Besonders nachdem die Pegida-Demonstrationen angefangen haben und die AfD so in Fahrt gekommen. Da merkt man schon: die Hemmschwellen sind gesunken. Leute trauen sich jetzt einfach mehr zu sagen." Wer sich zeigt, verrät, wo er her kommt. Niemand muss hinschauen. Wer sich zeigt, gibt Hinweise, wer er, wer sie ist. Jeder kann es sehen. Niemand muss hinschauen. "Ich bin auch in der Öffentlichkeit nicht mehr als jüdisch identifizierbar", sagt Daniel Alter, ehemaliger Rabbiner der liberalen Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er trägt immer eine Kippa. Aber er versteckt sie unter einem Hut oder einer Mütze, seit er im Jahr 2012 im Berliner Stadtteil Friedenau überfallen worden war. Jugendliche, allem Anschein nach mit arabischem Migrationshintergrund, verletzten Daniel Alter so schwer, dass er mit gebrochenem Jochbein behandelt werden musste. Die Kippa als Eselsohr für die Seele Seither verbirgt der 57Jährige seine Religion in der Öffentlichkeit. Das ist für ihn nicht allein eine Demütigung als Jude – zumal als deutscher Jude der Nachkriegs- und Nachholocaust-Generation –, sondern auch als Staatsbürger. "Das ist ein großes Problem. Das ist natürlich auch schmerzhaft für mich, weil es mich eines Teils meiner Freizügigkeit und meiner demokratischen Grundrechte beraubt", sagt Daniel Alter. "Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." Grundgesetz, Artikel vier. Zur ungestörten Religionsausübung eines jüdischen Mannes gehört es daher, wenn er das Haus verlässt, eine Kippa auf den Kopf zu setzen, ein Zeichen der Demut. Daniel Alter: "Für mich ist es ein Symbol des Respekts gegenüber Gott. Für mich ist es ein Zeichen, um bildlich zu sprechen, dass Gott über mir thront – es soll mir auch helfen ein bewusstes und möglichst konzentriertes Leben zu führen. Die Ideale, die durch unsere Köpfe geistern sind alle sehr hehr und sehr edel, aber if it gets down to knitty gritty real life, dann ist es oft viel weniger edel. Das ist ganz menschlich. So sind wir – und wir haben ganz hohe Aspirationen, aber so im Alltagsleben vergessen wir das manchmal – und da ist ein Eselsohr, das man sich sozusagen in die eigene Seele macht, gar nicht so schlecht." Eine fassbare, fühlbare Erinnerung an das, was er glaubt und für richtig hält. Wer sich zeigt, hat Mut. Wer sich zeigt, muss mit Urteilen anderer Menschen leben. Wer sich zeigt, provoziert. "Normalerweise schweigt man als Atheist, damit man religiöse Gefühle von jemandem nicht verletzt", sagt Ricarda Hinz. Sie engagiert sich in der Giordano-Bruno Stiftung als Atheistin und Humanistin. Auch für Menschen, die – wie sie - bewusst religions-frei leben gibt es ein Erkennungszeichen. "Ein rotes A kann man sich da bestellen und sich ans Revers heften. Ich hab‘ das bestellt, ich hab‘ mich drüber gefreut, aber jetzt liegt es bei mir zu Hause, weil es mir doch nicht so wichtig ist, das immer nach außen zu tragen." Angepöbelt im Habit "In jungen Jahren, oder als ich eingetreten bin, habe ich ja mit großem Stolz den Ordenshabit oder die Klerikerkleidung getragen", erzählt Pater Manuel Merten. Er ist seit mehr als 50 Jahren Mönch, jahrelang leitete er das Dominikanerkloster in der Düsseldorfer Altstadt. Heute zeigt er sich – außerhalb seiner Gottesdienste - nicht mehr gerne im Habit. Nicht nur, weil er und seine Mitbrüder immer wieder angepöbelt werden. Er wünscht sich auch, dass er nicht so sehr an seiner Kleidung als vielmehr an seinen Worten und Taten als Christ erkennbar ist. Mönch und Nonne im Habit des Ordens der Dominikaner (picture-alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch) "Ein Bekenntnis nach außen – jeden Morgen, das muss ich also wirklich sagen, das ist überhaupt nicht in meinem Kopf. Weder auf dem Fahrrad noch beim Skifahren trage ich ein Habit. Das ist einfach auch unpraktisch." In den christlichen Konfessionen tragen heute fast ausschließlich Geistliche im Gottesdienst religiös begründete Kleidung. Diese allerdings erzählt eine lange Geschichte: Mönche und Nonnen tragen mit ihrem Habit, evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer mit dem Talar und die Priester mit ihren Gewändern – alle weit, kleid-artig und bodenlang - Traditionen aus Rom und Byzanz durch die Jahrhunderte. Manche Christen tragen allenfalls noch ein Kreuz um den Hals. Den meisten Katholiken oder Protestanten genügt das auch. Was sie bewegt, was sie oder er glaubt, geht niemanden etwas an. Die individualistische Gesellschaft ist skeptisch gegenüber äußeren Zeichen für Glauben und Überzeugung. Wo Menschen ihre Zugehörigkeit zeigen, scheint der Weg nicht weit zu Zwang und Uniform. Nur samstags ist das anders: da bekennen sich Tausende mit Fanschals zu ihren Fußballclubs – oft ohne jeden Humor. Einmal in der Woche zeigen sie Stärke, feiern Siege, ertragen Niederlagen gemeinsam. Das religiöse Bekenntnis ist in der säkularen Welt komplizierter. Es wirkt in drei Richtungen. Zu Gott, in den bekennenden Menschen hinein und in die Gesellschaft. Anders gesagt: In den Himmel, in die Seele und auf die Straße. Innere Befriedigung und äußere Gefahr liegen daher nah beieinander. Kawthar el Qasem fühlt sich dennoch mit ihrer Kleidung, die sie als Muslimin sichtbar macht, geschützt: "Wenn ich vielleicht eine schwierige Zeit habe, dann habe ich mehr das Gefühl, dass es eine Schutzhülle ist, die mir Geborgenheit gibt, das ist sehr, sehr unterschiedlich. Was aber bleibt ist dieses Gefühl, dass ich damit Gott näher komme und dass ich damit Gottes Gebot erfülle." Zeichen innerer Stärke Wahrhaftigkeit gegenüber Gott ist Kawthar el Qasems innerer Kompass – auch für die Entscheidung, das Kopftuch zu tragen: "Weil aus islamischem Verständnis die Absicht zählt. Vor Gott zählt die Absicht." Die eigene Absicht. Deshalb würde Kawthar el Qasem ihre 13jährige Tochter nicht überreden, schon gar nicht zwingen, das Kopftuch auch zu tragen. Wer es einem Menschen zuliebe trägt, sagt sie, verstoße sogar gegen Gottes Gebot. Außerdem sei der Widerstand gegen dieses Zeichen des Islams nur auszuhalten, wenn man ganz davon überzeugt sei: "Dazu braucht man Kraft und muss eine gewisse Stärke auch haben – und diese Stärke hat man nur, wenn man von einer Sache absolut überzeugt ist. Selbst die, die absolut überzeugt sind, für die ist es auch sehr schwer – von daher erübrigt sich der Gedanke, Druck auszuüben." Wem Religion als Element der Identität fremd ist, findet es – im Gegenteil – schwach, sich mehr über die Religion öffentlich darzustellen als über das eigene Wesen. Ricarda Hinz von der Giordano-Bruno-Stiftung: "Für mich ist das auch ein Ausdruck von Schwäche, wenn jemand so etwas frönt, dann ist er individuell unsicher. Und das trifft eben meiner Meinung nach auch auf Religiöse zu. Je stärker sie das Bedürfnis haben an eine Konformität, an eine Norm anzulehnen, desto schwächer sind sie eigentlich in ihrer Individualität." Sie findet es gut, dass heute – im Gegensatz zu früheren Zeiten – die Gesellschaft wenige Forderungen an die Kleidung stellt. Außer bei Jugendlichen, die angesagte Marken brauchen, um in ihrer Gruppe zu bestehen, gibt es nur wenige Vorschriften. Selbst die Mode verlangt nicht mehr das Profil der Saison und Uniformen sind ohnehin auf wenige Berufe beschränkt. "Diesen geringen Konformitätsdruck der offenen Gesellschaft, den gilt es zu erhalten, dass jeder sich frei ausdrücken kann auch in seiner Kleidung und entsprechend eine große Vielfalt zum Tragen kommt. Und wenn es jetzt aber entsprechend große Kollektive gibt, die ihre Zusammengehörigkeit durch eine gemeinsame Kleidung und entsprechen hohe Konformitätserwartung zum Ausdruck bringen – dann kann man das auch noch tolerieren, aber es wird schon schwierig, das zu akzeptieren", meint Ricarda Hinz. Eine Frage der Toleranz Die Humanistin Ricarda Hinz plädiert aber genau dafür: Religiöse Kleidung – solange sie den Menschen nicht verdeckt wie die Burka – zu tolerieren. Was Kawthar es Qasem kürzlich erlebt hat, findet auch Ricarda Hinz unwürdig. Die muslimische Frau hat sich viel Stärke erarbeitet. Sie hat zunächst Architektur studiert, dann an der Düsseldorfer Kunstakademie einen Abschluss in Baukunst gemacht und inzwischen ihre Doktorarbeit an der Bauhaus-Universität Weimar eingereicht. Dennoch: Seit von Muslimen verübte Anschläge die Gesellschaft ängstigen, seit Pegida-Demonstrationen Kritik am Islam in weiten Kreisen der Gesellschaft akzeptabel gemacht haben, seither ist auch eine Frau wie Kawthar el Qasem unverhohlener Ablehnung ausgesetzt. Etwa als sie eine Tagesmutter für ihren vierjährigen Sohn suchte. Sie erzählt: "Sie hat angefangen Fragen zu stellen, woher ich kommen würde. Ja, ich bin deutsch. Aber das Kopftuch? Ob ich nicht Türkin sei? Nein, ich bin keine Türkin. Aber warum dann das Kopftuch? Dann habe ich erklärt, dass das mit der Religion zu tun hat und nicht mit der Nationalität." Vier Frauen mit Kopftuch auf einer Wiese im Görlitzer Park in Berlin. (picture-alliance / dpa / Silke Reents) Die Tagesmutter, die el Qasem empfohlen worden war, wartete keine weiteren Erklärungen ab. "Das wäre jetzt nur Zeitverschwendung. Wenn ich ihr schon gesagt hätte, dass ich ein Kopftuch trage, dann hätte sie mir vorher schon von vornherein gesagt, dass das nicht geht. Das könnte sie nicht vertreten gegenüber anderen Eltern, irgendwelche Professoren und Anwälte, die ihre Kinder bei ihr haben – sie wäre ganz ehrlich, sie würde mir sagen, das mit dem Kopftuch geht gar nicht und ich könnte jetzt gehen." Mit ihrem kleinen Sohn, der Zeuge des Auftritts wurde. Kawthar el Qasem zog ihm die Jacke an und ging. Eine solche Anfeindung hatte sie bis dahin nie erlebt. "Mich hat das eigentlich noch mehr motiviert, die Schönheit meiner Religion zu erfahren. Angefangen von Koran-Rezitationen über Gesänge, zusätzliche Gebete – auch diese religiöse, spirituelle Erfahrung noch mehr zu suchen, Diese Erfahrung von Schönem ist ja auch etwas, was die Menschen stärkt. Insofern hat mich das meinem Glauben sogar ein Stück näher gebracht." Wer sich zeigt, gibt Hinweise, wer sie ist. Niemand muss hinschauen. Wer sich zeigt, provoziert. Niemand muss verstehen. Es ist anstrengend, sich zu zeigen. "Auch eine Muslimin möchte nicht in einem Flugzeug sitzen, das explodiert" Was die Gesellschaft betrifft, so plädiert Kawthar El Qasem seit Jahren dafür, dass sichtbar bekennende Muslime in Deutschland in Polizei und Sicherheitsdiensten tätig sind. Dann hätte sie als Muslimin das Gefühl, dass sie nicht nur zu der Gruppe gehört, die als Bedrohung gilt, sondern auch zu der, die der Gefahr entgegentritt. Muslime in Europa sind schließlich genauso gefährdet, Opfer von Anschlägen zu werden wie Deutsche, Franzosen oder Niederländer. "Sicherheit ist etwas, was uns alle angeht – auch eine Muslim möchte nicht gerne in einem Flugzeug sitzen, das explodiert. Das ist doch logisch!", sagt sie. Aber gerade erst im März hat der Europäische Gerichtshof in einem der vielen Verfahren über das Recht, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen, entschieden. Verhandelt wurden zwei Fälle. In dem einen Fall wollte eine Rezeptionistin das Kopftuch während ihrer Arbeitszeit anbehalten. Ihr wurde gekündigt. In dem anderen Fall hatte sich die Mitarbeiterin eines Softwareunternehmens geweigert, in Kundengesprächen das Kopftuch abzulegen. Auch sie verlor ihre Stelle. Die Kündigung der Rezeptionistin war rechtens, sagt der Europäische Gerichtshof. Das Unternehmen dürfe religiöse Neutralität seiner Mitarbeiter zur Bedingung machen. Die Kündigung der IT-Beraterin wertete das Gericht als Diskriminierung, weil nur das islamische Symbol betroffen war. Kawthar el Qasem steht beruflich an der Schwelle zu neuen wissenschaftlichen Projekten. Die Ergebnisse ihrer Verhandlungen sind noch offen. Wer sich zeigt, macht Angst. Niemand muss hinschauen. Wer sich zeigt, hat selbst Angst. Niemand muss verstehen. Wer sich zeigt, zeigt seine Angst nicht. Der Berliner Rabbiner Daniel Alter, der heute aber nicht mehr in der liberalen jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße tätig ist, sondern in internationalen Projekten, gilt als der Erfinder des Wortes "No-go-zone" für jüdische Menschen in Deutschland. "Das Wort Jude ist ein Schimpfwort auf dem Schulhof" Berlin Neukölln gilt als ein solches Gebiet und die Reporterin der Wochenzeitung "Die Zeit", die im Februar mit einem orthodoxen jüdischen Rabbiner dort durch die Straßen ging, hörte Pöbeleien und ob der Mensch, der vor ihm ausspuckte, ihn damit meinte oder nur allgemein ungehörig war, ist ihr nicht klar geworden. Studium der Thora in einer religiösen Schule (EPA) Daniel Alter geht solchen Anfeindungen aus dem Weg. Er gibt sich nicht mehr als Jude zu erkennen. Aber er träumt immer noch davon, dass er das wieder könnte: "Eine gesamtgesellschaftliche Bewegung müsste entstehen. In der deutschen Gesellschaft muss das Bewusstsein entstehen, die Bekämpfung des Antisemitismus, das ist nicht nur ein Kampf für das Bestehen jüdischer Gemeinschaften, das ist ein Kampf für den Erhalt einer demokratischen Zivilgesellschaft." Der letzte Antisemitismusbericht, von Experten für den Bundestag zusammengestellt, ist schon fünf Jahre alt, der nächste wird noch im April, in diesem Monat, dem Bundestag übergeben und vorgestellt. Der Ergebnis des letzten Berichtes beunruhigt Daniel Alter bis heute: Jeder Dritte Mensch, der in Deutschland lebt, gilt als unterschwellig oder offen antisemitisch. Auch seinen Kindern empfiehlt er, mit ihrer Religion hinter dem Berg zu halten. Gerade seinen Kindern: "Wir haben an unseren Schulen, vor allem in Berlin, an fast jeder Schule, dass das Wort Jude täglich auf dem Schulhof als Schimpfwort benutzt wird." Die Situation an den Schulen habe sich, so Alter, seit dem letzten Antisemitismusbericht noch verschärft. Dabei hätten Abgeordnete des Bundestages aufgeschreckt darauf gedrungen, dass an Schulen der Umgang mit judenfeindlichen Äußerungen der Gegenwart durchgenommen wird. Das ist nicht geschehen, bestätigt eine der Autorinnen des alten wie des kommenden Antisemitimusberichts, Juliane Wetzel, vom Zentrum für Antisemitismusforschung. "Wir haben dafür plädiert, dass an Schulen nicht nur der historische sondern vor allem auch der aktuelle Antisemitismus zum Thema gemacht wird. Aber bisher können wir nicht erkennen, dass das in den Bundesländern, die ja für Schulen zuständig sind, auch getan wird. Es ist weitgehend der Initiative einzelner Lehrerinnen und Lehrer überlassen, über Antisemitismus zu reden", sagt sie. Daniel Alter wird sarkastisch, wenn er darüber spricht. "Ah, Antisemitismus gibt es bei uns nicht! Damit will keiner was zu tun haben. Das ist so negativ besetzt und so peinlich und so ein schlimmes Stigma, dass man eben versucht, das zu ignorieren. Vogel-Strauß-mäßig." Und Juden hätten unter dieser Scham der nicht-jüdischen Mehrheit zu leiden. Wer sich versteckt, ist vorsichtig. Wer sich versteckt, passt auf sich auf. Wer sich versteckt, ist alleine. Die laute Minderheit der arabischen Judenhasser Daniel Alter sagt: "Und dann kommt hinzu noch der wesentlich weiter verbreitete Judenhass in der migrantischen, speziell in der islamisch-arabischen Community." Aber – natürlich – es ist wie immer: Gefährliche Muslime sind die Minderheit – aber eben eine laute Minderheit, die sich zeigt und die Straße für sich in Anspruch nimmt. "In der islamischen Community gibt es Imame, mit denen kann ich im Rahmen des interreligiösen Dialogs ganz hervorragend zusammen arbeiten, auch was die Bekämpfung von jeder Form von Diskriminierungs- und Ungleichwertigkeits-Ideologie angeht." Auch Kawthar el Qasem hofft darauf, dass sich Muslime und Juden sich in Deutschland verständigen. Sie sind einander in Vielem näher sind als dem Christentum und könnten eine Solidarität praktizieren, die beide Seiten stärkt: "Ich glaube, der Weg ist, dass wir uns konzentrieren auf unser Leben hier. Und wenn wir uns begegnen eher nicht darüber sprechen, was mit Israel ist, sondern: was verbindet uns hier? Weil: das ist auch der Raum, den wir uns teilen, also der gesellschaftliche Raum." Ricarda Hinz sagt: "Da gebe ich mir ja auch Mühe, dass ich so aussehe und wieder zu erkennen bin als die Ricarda und nicht zu verwechseln bin und der Rabbi möchte vielleicht eher so aussehen wie andere Rabbiner, dass man seine Religion erkennt – so lange viele Gruppierungen nebeneinander existieren können und keine für sich beansprucht, alle anderen müssen jetzt auch so aussehen, so lange die Vielfalt gewährleistet ist, lässt sich das alles tolerieren." Wer sich zeigt, ist offen. Wer sich zeigt, ist frei. Wer sich zeigt, hat Mut.
Von Irene Dänzer-Vanotti
Sichtbarer Glaube provoziert - wie der Fall des jüdischen Jungen in Berlin zeigt, der an seiner Schule gemobbt wurde. Aber auch kopftuchtragende Musliminnen werden angefeindet. Was erleben Menschen, die Kippa, Kopftuch und Ordenstracht tragen?
"2017-04-05T20:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:21:51.434000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/religioese-kleidung-glaube-zieht-an-100.html
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Funken der Hoffnung im Bürgerkrieg
In Syrien ist Zerstörung allgegenwärtig. Der Künstler Tammam Azzam benutzt sie in seinen Werken. (dpa / picture-alliance / Bruno Gallardo) Irgendwo in Damaskus: Die Fassade eines Mehrfamilienhauses, von Einschüssen durchlöchert. Geborstene Außenwände, dahinter schemenhaft die Reste von Wohnungseinrichtungen. Auf dem Grau in Grau, wie hingegossen, ein unwirklich anmutender riesiger Farbfleck in leuchtendem Gelb. In quietschbunten Farben zwei Liebende, die einander leidenschaftlich küssen. Wer genauer hinsieht, erkennt das Motiv. Es ist "Der Kuss“ von Gustav Klimt. Ein romantisches Gemälde auf ganz unromantischem Hintergrund. Die Collage des syrischen Künstlers Tammam Azzam fand im Februar 2013 über den Internetdienst Twitter weltweit Verbreitung. Jetzt ist sie Teil einer Ausstellung, in London und im Libanon. "Ich möchte für Irritation sorgen. Die Betrachter sollen sich fragen: Wie wäre es, wenn diese Fassade tatsächlich so aussähe?" Azzams Werke ziehen viele Besucher an Tammam Azzam, 1980, geboren ist einer der erfolgreichsten jungen Künstler aus Syrien. Ich treffe ihn in der libanesischen Hauptstadt Beirut, mitten im schicken Geschäftszentrum, in der Kunstgalerie Al Ayyam. Die Galerie, die bis zum Krieg in Syrien auch eine Filiale in Damaskus hatte, stellt neue Arbeiten von Azzam aus. Titel: "I, the Syrian". Der Geräuschpegel ist heftig. Über einhundert Besucher sind gekommen. "Ich habe Syrien sieben Monate nach Beginn der Revolution verlassen und bin nach Dubai gegangen. Dort hatte ich zunächst kein Studio. Deshalb habe ich angefangen, mit digitalen Medien zu arbeiten. Es war nicht ganz einfach, es ist ein neuer Ort." Schätzungsweise neun Millionen Syrer sind auf der Flucht - innerhalb Syriens oder in den Nachbarländern. Allein im winzigen Libanon leben mittlerweile offiziell gut eine Million Flüchtlinge aus Syrien, und es werden täglich mehr. Die meisten hausen unter erbärmlichen Umständen und mit schrecklichen Bildern im Herzen. Sie mussten mit ansehen, wie Angehörige und Freunde starben; wie ihre Häuser, ihre Straßen, ja ganze Dörfer und Stadtteile komplett zerstört wurden. "Es gibt keinen Ort mehr, an den man zurückkehren kann. Nicht nur die Häuser sind zerstört. Auch den geographischen Ort gibt es nicht mehr. Er existiert nur noch in der Phantasie." Zerstörung und Leid sind unfassbar Auf vielen Fotocollagen von Tammam Azzam sind ausgebombte, zerschossene Häuser und Wohnungen zu sehen. Orte, die einmal ein Zuhause waren, warm, vertraut, familiär. Orte, die es nicht mehr gibt. Die Zerstörungen, die körperlichen Verletzungen und das menschliche Leid sind unfassbar. "Wie kann man sich mit Kunst beschäftigen, wenn in Syrien an einem Tag mehr als 200 Menschen getötet werden?" fragt Tammam Azzam. "Ehrlich gesagt, es gibt im Moment keine Visionen in bezug auf Syrien. Optimismus und Zuversicht sind reine Phantasie. Verzweiflung ist die einzige Wahrheit." Dennoch gelingt es Azzam mit seinem künstlerischen Einfallsreichtum, Funken der Hoffnung und der Liebe zu entzünden. Mit Photoshop baut er in die schwarzweißen Bilder syrischer Ruinen Ausschnitte aus Gemälden weltberühmter Künstler ein – knallbunt und provozierend fröhlich. Man sieht die berühmten orangeroten Figuren von Matisse in ovaler Formation in den Ruinen tanzen; Südseeschönheiten von Gauguin sitzen in einem Flüchtlingslager. Azzam nutzt Verfremdung und Satire. Eine Serie von Collagen zeigt ein ausgebombtes syrisches Mehrfamilienhaus, das von bunten Luftballons gehalten wird und am Himmel schwebt – gänzlich entrückt, mal über London, mal über New York. Die Welt soll nicht vergessen, was in Syrien passiert. Azzam will aufrütteln "Wir müssen als Künstler die Wirklichkeit herausfordern, auch wenn die Kunst dem nicht gewachsen zu sein scheint. Angesichts der aktuellen Geschehnisse und der Politik hat die Kunst eigentlich keine Chance. Dennoch sind wir als Künstler gefordert, uns zu positionieren." Bis zum Beginn des Krieges in Syrien malte Tammam Azzam hauptsächlich abstrakt. Mit seinen grafischen, plakativen aktuellen Arbeiten will der Künstler die Menschen aufrütteln. Die Botschaft ist unmissverständlich: Schaut nicht länger weg, sondern öffnet die Augen für das Leid der Menschen in Syrien.
Von Martina Sabra
Ein berühmtes romantisches Gemälde nachgestellt in einer feindseligen Umgebung. Mit seiner Darstellung von Gustav Klimts "Der Kuss" hat es der syrische Künstler Tammam Azzam bis in Londoner Galerien geschafft.
"2014-01-08T17:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:20:57.118000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrische-kunst-funken-der-hoffnung-im-buergerkrieg-100.html
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Neue Bürgerbewegung prägt den Wahlkampf ums Präsidentenamt
Beatriz Sanchez bewirbt sich als Kandidatin der neuen Bewegung Frente Amplio für die chilenische Präsidentschaftswahl im November (imago) "Die Vorschläge und die Ideen hier sind ein Ausdruck der chilenischen Linken. Einer Linken, die lange verloren war und kein Profil hatte. Dieses Treffen bringt sie erneut zum Vorschein diese Linke, die geschlafen hat. Jetzt gibt es wieder Träume. In diesem Land, das so lange keine Träume hatte, aber sich nach Träumen gesehnt hat. Und darin besteht die große Kraft des Frente Amplio." Raúl ist um die 60 Jahre alt, hat eine Halbglatze und trägt einen Fleece-Pullover. Er wohnt im Zentrum von Santiago de Chile. An diesem Abend nimmt er am Programm-Treffen des Frente Amplio teil. Dabei diskutieren über 100 Bürger über das politische Programm für die Präsidentschaftswahlen im November. Seit dem Ende der Militärdiktatur Pinochets im Jahr 1990 haben sich in dem lateinamerikanischen Land zwei politische Koalitionen an der Regierung abgewechselt. Das Mitte-Links-Bündnis Nueva Mayoría, das aktuell regiert und das rechts-konservative Bündnis Chile Vamos, das den Ex-Präsidenten Sebastian Piñera in diesem Jahr erneut als Kandidaten aufstellt. Das Frente Amplio will diesem Zwei-Koalitionen-System ein Ende setzen. Gruppendiskussionen im Stuhlkreis In der Gruppe "Gesundheit" diskutieren die Teilnehmer über ein gerechtes Gesundheitssystem. Es gibt mehrere Themen-Gruppen: Bildung, Arbeit, Verfassung, Gesundheit, Migration und Menschenrechte, Wissenschaft und Innovation, Kultur, Stadt und Territorium. Die Gruppen sitzen in Stuhl-Kreisen in der Aula einer Grundschule im Zentrum Santiagos. Santiago Centro ist ein "núcleo territorial" des Frente Amplio, ein regionaler Standpunkt. Die Ergebnisse dieser Diskussionen in verschiedenen Städten Chiles sind die Grundlage für das Koalitionsprogramm, mit dem das Frente Amplio in den Wahlkampf starten will. Bürgernähe ist besonders wichtig. Die chilenischen Studenten protestieren in den Straßen für kostenlose Bildung. Heute genauso wie im Jahr 2011, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt hatte. Doch wenig hat sich geändert, allerdings war die Studentenbewegung der Ausgangspunkt des Frente Amplio. Politik wie ein Spielfeld Auch Rodrigo Echecopar war in der Bewegung aktiv. Heute ist er Vorsitzender der Partei "Revolución Democrática" (Demokratische Revolution), eine der zwölf Parteien und Bewegungen, die zum Frente Amplio gehören. Rodrigo ist jetzt Ende 20 und wirkt noch etwas unsicher in seiner Rolle als Parteichef. Er vergleicht die Politik in Chile mit einem Spielfeld, auf dem bisher immer die gleichen Spieler gespielt haben. "Es sind immer die gleichen an der Macht, die sich untereinander kennen. Es ist eine Politik der Elite. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu verändern ist gering, weil das Spielfeld der Politik sehr klein ist. Es ist ein Spielfeld, das durch Wirtschaftsinteressen begrenzt ist. Durch die Elite, die den Status Quo nicht verändern will. Unter diesen Umständen lädt das Frente Amplio die Bürger ein, wieder an der Politik teilzunehmen." Erste Erfolge bei Kommunalwahlen Die Bewegungen und Parteien, die zum Frente Amplio gehören, schlossen sich im August 2016 zusammen, um bei den chilenischen Kommunalwahlen eine Alternative zu bieten. Und sie hatten Erfolg. Aus den Kommunalwahlen ging der Bürgermeister der wichtigen Hafenstadt Valparaíso, Jorge Sharp, hervor. Er gehört zum "Movimiento Autonomista" zur autonomistischen Bewegung. Constanza Schönhaut ist ihre Generalsekretärin Sie ist 28 Jahre alt und studiert Jura, trägt ein Nasenpiercing und roten Lippenstift. Sie erklärt, warum das "Movimiento Autonomista" eine Bewegung und keine Partei ist. "Wir haben uns dagegen entschieden, eine Partei zu gründen, weil wir als Bewegung mehr Freiheit haben, um Politik zu machen. Als autonomistische Bewegung wollen wir Räume schaffen, in denen wir außerhalb des institutionellen Rahmens handeln." "Alternative aus den sozialen Bewegungen entstanden" Constanza Schönhaut meint, dass man den Entstehungsprozess des Frente Amplio mit dem Entstehungsprozess von Podemos in Spanien vergleichen kann. "Es gibt Ähnlichkeiten in der Geschichte. Es ist eine neue Alternative aus den sozialen Bewegungen entstanden, die mit einer breiten Bürgerbeteiligung Veränderungen voranbringen will. Dabei geht es nicht mehr um links und rechts, sondern um Grundrechte, um Demokratie und um die Verteilung von Reichtum und Macht. Aber die Krise in Spanien entstand, weil Sozialleistungen und Grundrechte gekürzt wurden. In Chile gab es die noch nie." Was das Frente Amplio nicht hat Octavio Avendaño ist Politikwissenschaftler der Universidad de Chile. Er meint, dass die größte Herausforderung für das Frente Amplio die geringe Wahlbeteiligung ist. Denn besonders die jungen Menschen, die das Frente Amplio anspricht, stellten sich in Umfragen hinter das Bündnis, aber, so der Politologe, es sei unsicher, ob sie am Wahltag auch abstimmten: "Alles wird davon abhängen, die Wähler zu mobilisieren und diejenigen zu erreichen, die an den letzten Wahlen nicht teilgenommen haben. Denn die Parteien der Regierung haben etwas, was das Frente Amplio nicht hat. Sie haben die Möglichkeit, finanzielle Mittel zu mobilisieren. Weil sie in der Regierung sind. Und die rechten Parteien können auch Mittel mobilisieren, weil sie mit dem Unternehmer-Sektor verknüpft sind." Bis zur Wahl in Chile sind es noch einige Monate hin. Im Wahlkampf kann noch viel passieren. Klar ist, dass die traditionelle Politik weltweit und in Chile mit einer Vertrauenskrise zu kämpfen hat. Ungewiss bleibt, wie die Bürger darauf reagieren. Octavio Avendaño meint, dass fast alles möglich ist.
Von Sophia Boddenberg
Seit 2014 regiert ein linksliberales Bündnis das schmale Land in Südamerika. Und in der Zeit wurde die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer trotz guter Wirtschaftszahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen im November tritt ein neues politisches Bündnis an, das schon mit der spanischen Podemos-Bewegung verglichen wird.
"2017-06-17T13:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:55.433000+01:00"
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Der Weg in die Schuldenfalle
Ein Pfandleihhaus in Tschechien - viele Bürger dort sind hoch verschuldet (Deutschlandradio/ Kilian Kirchgeßner) Es ist Montagvormittag, auf dem Hauptplatz von Usti ist viel Betrieb. Aus den Bussen strömen die Menschen in die Einkaufszentren, die wenigen schattigen Bänke sind voll besetzt, eine Polizeistreife dreht ihre Runden. Usti, mit deutschem Namen Aussig, liegt auf halber Strecke zwischen Prag und Dresden: 90.000 Einwohner; Hauptstadt jenes tschechischen Bezirks mit den meisten Zwangsvollstreckungen – fast jeder fünfte Bewohner ist betroffen. Dass es keine reiche Stadt ist, sieht man auf den paar hundert Metern vom Bahnhof zum Behördenhaus: Drei Pfandleiher haben dort ihre Geschäfte, einige Läden stehen leer, andere werben für Restposten. "Vor allem Klienten mit niedriger Bildung" Im Behördenhaus hat Iveta Grabnerova ihr Büro. Würde sie die Lamellenvorhänge öffnen, könnte sie hinausschauen auf den Marktplatz. Die Finanz-Fachfrau ist Schuldenberaterin bei der Organisation "Financi tisen", übersetzt: "Finanzielle Not". Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelt alle paar Minuten. Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern und greift zum Hörer. Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Tschechen in der Schuldenfalle. Iveta Grabnerova macht sich einige Notizen, dann blickt sie auf: "Immer montags haben wir unsere Hotline geschaltet, da können die Leute kostenlos anrufen und sich für ein Treffen mit uns verabreden." Kostenlos helfen Grabnerova und ihr Kollege dabei, aus der Schuldenfalle zu kommen oder Privatinsolvenz zu beantragen. "Es kommen vor allem Klienten mit niedriger Bildung und oft niedrigem Einkommen. Viele haben einen Job, bei dem sie höchstens ein Stückchen mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von rund 12.000 Kronen verdienen, umgerechnet also knapp 500 Euro im Monat. Und dann sind es viele Rentner." Abgehängte Region im Norden Tschechiens Iveta Grabnerova hat früher bei einer Bank gearbeitet; nach der Elternzeit ist sie jetzt auf die andere Seite gewechselt. Auf den beiden Besucherstühlen an ihrem Schreibtisch nehmen Leute Platz, deren Geschichten wie ein Querschnitt durch die Probleme der abgehängten Region im Norden Tschechiens wirken. Häufig sind es Familien, und wenn einer die Arbeit verliert oder die Eltern sich trennen, dann bricht ein ohnehin wackliges Finanzierungsgerüst zusammen. "Oft sagen sie am Anfang des Gesprächs: Ich habe jede Menge Schulden und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Sowas in die Richtung, das gibt es in allen Varianten. Viele sind einfach naiv: Sie haben die Vorstellung, sie nehmen einen Kredit auf - und irgendwie wird dann schon alles klappen. Oft denken sie nicht an die Zukunft, sie sehen das ganz im Hier und Jetzt: Jetzt habe ich Geld, und jetzt gebe ich es aus." Jede Zwangsvollstreckung bringt weitere Kosten mit sich Im Flur an der offenen Tür geht jetzt Iveta Grabnerovas Kollege vorbei. "Kommst Du auch zu uns?", fragt sie. "Komm, sag auch was!" Als Jiri Hadas stellt er sich vor, er hat ein breites Lachen. "Wenn Sie historische Infos brauchen, fragen Sie mich ruhig – ich bin leider schon länger hier, fast schon zehn Jahre." Humor, das wird schnell klar, braucht man in diesem Job - und manchmal auch Galgenhumor. "Eine frühere Kollegin hatte mal einen Klienten mit 50 verschiedenen Posten, die in der Zwangsvollstreckung waren. Das waren kleinere Kredite und dann jede Menge Strafen fürs Schwarzfahren und solche Sachen. Das Problem ist: Die einzelnen Posten werden jeweils einzeln verfolgt. Wenn einer ein paar Jahre lang ohne Fahrschein gefahren ist, dann kann es passieren, dass er allein dadurch 30 Zwangsvollstreckungs-Verfahren am Hals hat, und jedes einzelne Verfahren bringt weitere Kosten mit sich." Schuldnerberater Jiri Hadas in seinem Büro im Behördenhaus von Usti (Deutschlandradio/Kilian Kirchgeßner) Neueste Falle: Mikro-Kredite im Internet Und es sei nicht nur die ältere Generation, die sich in den Fallstricken des für sie ungewohnten Kapitalismus verfangen habe, sagt Jiri Hadas dann – nein, bei den Jüngeren beobachte er genau die gleichen Schwierigkeiten: "Es geht immer im Kreis. Ich würde sogar sagen, es kommen neue und neue Probleme auf, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat. Das Neueste waren Mikro-Kredite im Internet, da sind viele aus der jungen Generation darauf reingefallen – es reichen ja ein paar Klicks aus. Sie kriegen zum Beispiel 5.000 Kronen, also 200 Euro, und müssen im nächsten Monat später das Doppelte zurückzahlen. Aber wenn sie diese Summe jetzt nicht haben, dann haben sie auch ein paar Wochen später nichts zum Zurückzahlen." Inzwischen sei das gesetzlich beschränkt, aber die nächste Masche kommt bestimmt, und dann kriegen sie es hier im Schuldner-Beratungszentrum schnell mit. Jiri Hadas geht wieder in sein eigenes Büro, die nächsten Anrufer warten schon in der Leitung. Die Abwärtsspirale durchbrechen Iveta Grabnerova wird demnächst viel unterwegs sein: Alle paar Wochen schlägt sie ihr Büro den größeren Städten rings um Usti auf – und dann hat sie manchmal 20 Beratungsgespräche an einem Tag, die örtlichen Sozial- und Arbeitsämter schicken ständig neue Kundschaft. Ab und zu, sagt Grabnerova, denke sie an ihre Arbeit der Bank zurück: "Ich wusste, was es hier für Klienten gibt, ich wusste, worum es bei der Schuldenberatung geht. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es echt so schlimm ist – dass es so viele Zwangsvollstreckungen sind und um so hohe Summen geht. Das hat mich überrascht." Ihr Anliegen jetzt: Sie möchte ihre Mandanten nicht nur durch die Privatinsolvenz bringen, sondern auch mithelfen, dass sie künftig ihr Geld besser einteilen können. Irgendwie, sagt sie, müsse sie sich doch durchbrechen lassen, diese Abwärtsspirale der Überschuldung, in die gerade in Tschechien so viele Menschen geraten.
Von Kilian Kirchgeßner
Im Norden Tschechiens steckt fast ein Fünftel der Bevölkerung in der Zwangsvollstreckung. In der Stadt Usti nicht weit von Dresden ist sichtbar, wie Armut und Verschuldung zusammenhängen. Wichtige Gründe für Überschuldung sind immer noch mangelnde Bildung - und Naivität.
"2020-04-24T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:33.945000+01:00"
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Die Mutter aller Schlachten
Die ersten Bilder aus dem besetzten Kuwait zeigten einen einsamen irakischen Panzer auf der Corniche von Kuwait-City – vor dem Wahrzeichen der kuwaitischen Hauptstadt, dem Wasserturm, dreht sich der Geschützturm im Morgengrauen, als peile er sein nächstes Ziel an: Die Bilder stammten aus der Videokamera eines Amateurfilmers, der sie aus einem der oberen Stockwerke des Kuwait International Hotels aufgenommen hatte. Dort berichtete der österreichische Hotelmanager Hermann Simon als erster Augenzeuge vom irakischen Überfall."Um 5.30 Uhr ging es los mit Schießen. Wir haben Leute aus dem Hotel jetzt evakuiert in ein anderes Hotel, was ein bisschen weg ist von der Schussrichtung, und auch das Personal, um sicher zu sein, falls die Leute die amerikanischen Botschaft einnehmen wollen, dass, wenn sie danebenschießen, dass, wenn das Hotel was abkriegt, nicht das Personal und die Gäste."Als die Welt vom irakischen Einmarsch in Kuwait erfährt, ist der Blitzkrieg Saddam Husseins gegen das Emirat im Grunde schon vorbei: Binnen weniger Stunden sind alle Schlüsselpositionen der Stadt in der Hand der irakischen Truppen, lediglich vor dem Palast von Emir Scheich Jaber al Ahmed al Sabah stoßen die Truppen auf bewaffneten Widerstand. Der Monarch und seine Familie sind zu diesem Zeitpunkt schon außer Landes – im Morgengrauen haben sie sich in einem Konvoi aus chromblitzenden Luxuslimousinen ins saudische Exil abgesetzt. Der kuwaitische Rundfunk kann nur noch einen Hilferuf absetzen."Das Volk von Kuwait, dessen Ehre verletzt und dessen Blut vergossen wird, bittet: Kommt zu seiner Hilfe, ihr Araber."Doch davon kann keine Rede sein. Am Golf herrscht das nackte Entsetzen. Saudi-Arabiens König Fahd schweigt - er befürchtet, dass es die irakischen Truppen, die in einer Stärke von 500.000 Mann, 4200 Panzern und 3000 Geschützen in Kuwait eingefallen sind, auch auf sein Königreich abgesehen haben. Er und die anderen Ölmonarchen am Golf wissen, dass sie der irakischen Kriegsmaschinerie militärisch nichts entgegenzusetzen haben.Konfusion herrscht auch in der übrigen arabischen Welt – bis zum Abend des 2. August können sich die Außenminister der Arabischen Liga in Kairo noch nicht einmal zu einer gemeinsamen Erklärung durchringen. Da hat der Weltsicherheitsrat bereits in einer ersten Resolution den irakischen Einmarsch in Kuwait verurteilt und die Truppen Saddam Husseins zum sofortigen Rückzug aufgefordert. Alarmiert ist auch der amerikanische Präsident: George Bush senior hatte nicht mit einem derart eklatanten Bruch des Völkerrechts gerechnet. Die Besetzung Kuwaits kommentierte er nicht nur als Rückkehr zum Raubrittertum. Er sah sie auch als Kampfansage an die Wirtschaftsinteressen der westlichen Industrienationen: Mit den kuwaitischen Ölfeldern verfügte der Irak über 20 Prozent der weltweiten Reserven – würde er sich auch noch Saudi-Arabien einverleiben, wären es sogar 50 Prozent. Damit wäre der Irak unumstrittene Führungsmacht der OPEC und künftig in der Lage, die weltweiten Ölpreise zu diktieren. Angeblich war George Bush bereits nach wenigen Stunden zum Äußersten entschlossen – doch erst am 8. August erklärte er:""Vier einfache Prinzipien leiten unsere Politik: 1.Wir fordern den sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Rückzug aller irakischen Streitkräfte aus Kuwait. 2. Kuwaits legitime Regierung muss zurückkehren und das Marionettenregime ersetzen. 3. Meine Regierung, wie die von Präsident Roosevelt bis Präsident Reagan, ist der Sicherheit und Stabilität des Persischen Golfes verpflichtet. Und 4.: Ich bin entschlossen, das Leben amerikanischer Bürger im Ausland zu schützen ..."Nur zwei Stunden später die Reaktion aus Bagdad: Der "irakische Revolutionsrat" - wie alle Institutionen an Euphrat und Tigris lediglich Vollzugsorgan Saddam Husseins - gibt die Annexion Kuwaits bekannt."Mitbürger, die Geschichte hat bewiesen, dass Kuwait ein Teil Iraks ist. Wir appellieren an die Prinzipien der Ehre, unserem heroischen Führer zu folgen Saddam Hussein soll unser Held in der gesamten arabischen Welt sein."Saddam Hussein hatte seine Drohungen wahr– und seinem Geltungsdrang Luft gemacht: Schon beim arabischen Gipfeltreffen im Mai 1990 in Bagdad hatte er den konsternierten Monarchen in der irakischen Nachbarschaft am Golf gedroht, er werde den Krieg in ihre Paläste tragen, sollten seine Forderungen nicht erfüllt werden: Schuldenerlass, höhere Ölpreise, größerer politischer Einfluss am Golf, mehr noch: die Führungsrolle in der arabischen Welt. Das alles als Lohn für einen verlustreichen Krieg gegen den Iran, der den Irak in den Jahren 1980 – 1988 ein Vermögen gekostet hatte. Und maßgeblich von den Golfanrainern finanziert worden war. Auf Schuldschein. Und nicht einfach so unter Freunden. Im Krieg gegen den Iran hatte sich Saddam Hussein jedoch nicht nur bei den Golfstaaten als Wahrer ihrer politischen Interessen und Bollwerk gegen die Mullahs angedient – auch die Vereinigten Staaten und die westlichen Industrienationen päppelten das krude Regime des Babyloniers zur fünftstärksten Militärmacht der Welt hoch: Saddam Hussein bestellte Rüstungsgüter – Ost und West lieferten bereitwillig. Saddam baute Schulen, Krankenhäuser, Flugplätze – die Kunden im Ausland profitierten. Und übersahen dabei geflissentlich die Schreckensherrschaft, die Saddam Hussein seit 1979 in seinem Land errichtet hatte. Marcel Pott war lange Jahre Radiokorrespondent der ARD in Amman:"Saddam war ein grausamer, brutaler Herrscher, der buchstäblich über Leichen ging und keinen Widerspruch duldete. Selbst deutsche Geschäftsleute, die wir in den Lobbies der großen Hotels getroffen haben, hatten Angst vor Saddam Es war immer die Rede von Karl-Heinz. Ich brauchte eine Zeit, um das zu verstehen – das war ein Synonym für Saddam: Man nannte ihn nur Karl Heinz."Schon wenige Tage nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait waren die Fronten klar: Auf der einen Seite stand das Regime Saddam Husseins – fest entschlossen, der politischen Landkarte der Golfregion den irakischen Stempel aufzudrücken, die ungleichen ökonomischen Besitzverhältnisse in dieser für die Weltwirtschaft so wichtigen Region gewaltsam zu verändern und die politische Führung in der arabischen Welt an sich zu reißen.Auf der anderen Seite die Weltgemeinschaft unter Führung der Vereinigten Staaten, die weder bereit waren, diesen eklatanten Bruch des Völkerrechts hinzunehmen, noch die Kontrolle über die Energieressourcen aus der Hand zu geben - geschweige denn die Gestaltung der künftigen Regional- oder gar Weltordnung.Dazwischen die arabische Welt, die in diesem Familienzwist Position beziehen musste: Entweder gegen den Bruderstaat Irak oder gegen die mächtigen Vereinigten Staaten. Volker Perthes, Nahostexperte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin."Ich glaube hier aber tatsächlich, muss man ehrlicherweise sagen, war die arabische Liga überfordert mit einem Konflikt dieser Größenordnung. Und um fair zu sein, es hat ja nicht lange gedauert, bis auch europäische Staaten überfordert waren in den 90er-Jahren mit Konflikten, die bei uns auf dem Balkan stattgefunden hatten."Zwölf arabische Staaten sprachen sich für die UNO-Resolutionen gegen den Irak aus und unterstützten nicht nur die Sanktionen gegen das Regime, sondern auch die Entsendung von Truppen in das Krisengebiet: Dazu gehörten – neben den Golfstaaten – vor allem Ägypten und Syrien. Sie sollten zum wichtigsten arabischen Partner im drohenden Krieg gegen den Irak werden – denn sie verliehen dem internationalen Einsatz unter Führung der USA eine arabische Legitimation. "George Bush, der Vater, hat das damals sehr schnell verbunden mit der Chance nach dem Ende des Kalten Krieges, er hat das auch sogenannt: Eine neue Weltordnung zu inaugurieren, mit Unterstützung von Kräften, mit denen man in der Vergangenheit nicht zusammengearbeitet hat. Syrien zum Beispiel. Es waren plötzlich, nachdem der Kalte Krieg zu Ende war, neue Koalitionen in der Welt möglich und George Bush hat das sehr aktiv und ich würde sagen, sehr umsichtig genutzt."So umsichtig, dass er auch bei der Formulierung der Kriegsziele später Rücksicht auf seine arabischen Alliierten nahm: Die Rede war nur von der Befreiung Kuwaits – vom Rückzug der irakischen Truppen und der Wiederherstellung des Status quo ante. Die Rede war nicht vom Sturz Saddam Husseins – dem hätten autoritäre arabische Staatspräsidenten wie Hafiz el Assad aus Syrien oder Hosni Mubarak aus Ägypten niemals zugestimmt. Sieben arabische Staaten und die PLO nahmen eine entschieden andere Haltung ein: unter ihnen Libyen und der Sudan, aber auch der Jemen und vor allem Jordanien. Sie machten sich für eine arabische Lösung des Problems stark – und wollten eine gesichtswahrende Lösung für Saddam Hussein finden. Vor allem aber wandten sie sich gegen einen westlichen Truppenaufmarsch am Golf, weil sie in ihren Ländern einen Sturm der Entrüstung befürchten mussten.PLO-Chef Jassir Arafat reiste nicht nur einmal nach Bagdad, um Saddam Hussein pathetisch die Solidarität der Palästinenser zu bekunden: Noch kurz vor Kriegsausbruch beteuerte er an der Universität von Bagdad die palästinensische Kampfbereitschaft."Viele Anlässe sind zusammengekommen. In der gleichen Zeit hat sich auch der Wille unserer arabischen Nation verstärkt gegen die Allianz der Amerikaner, gegen die Allianz des Zionismus, mit denen wir konfrontiert sind. Wir sagen ihnen willkommen, willkommen, willkommen und nochmals willkommen!"Ein verhängnisvoller Fehler des PLO-Führers, der seinem Volk damit schweren Schaden zufügte – während die Claqueure in der Universität von Bagdad Revolutionsparolen riefen, wurden die Heerscharen von palästinensischen Arbeitnehmern am Golf zu unerwünschten Personen – allerorten setzte der palästinensische Massenexodus ein. Marcel Pott:"Das führte natürlich dazu, dass die Araber am Golf ihn natürlich sofort als Paria einstuften – alle Bezahlungen, alle Geldströme, alle politische Unterstützung für Arafat und die PLO und seine Truppen wurden damit ad acta gelegt. Und Arafat war isoliert."Die Wochen und Monate vor Kriegsausbruch standen im Zeichen eines beispiellosen Truppenaufmarsches der Anti-Saddam-Koalition. Sie standen im Zeichen der hektischen Bemühungen der Vereinten Nationen, doch noch eine politische Lösung zu finden. Und im Zeichen einer eskalierenden Politik Saddam Husseins. Nicht nur die Nerven der Beteiligten lagen blank - auch die Öffentlichkeit reagierte zunehmend gereizt. Sei es, weil der starke Mann in Bagdad westliche Geiseln als Schutzschilde nahm und die Staatengemeinschaft zu erpressen versuchte. Sei es, weil er mit immer maßloseren Drohungen Angst und Schrecken verbreitete und einen Gaskrieg ankündigte. Gleichzeitig verstand es Saddam auf perfide Art und Weise, die arabischen Massen für sich einzunehmen. Er präsentierte sich als Führungsfigur, die für eine gerechte Verteilung des Ölreichtums kämpft, sich für die Sache der Palästinenser einsetzt und es als einziger arabischer Staatschef wagt, Israel und seinem engsten Verbündeten USA die Stirn zu bieten. "Er hat ein Stück weit eskaliert, indem er Kuwait annektiert und zur 19. Provinz erklärt hat. Und er hat dann Forderungen, die sehr populär waren, auf die Tagesordnung gebracht, die aber nicht sehr realistisch waren, zu sagen: Ich bin bereit, Kuwait aufzugeben, wenn sich die Israelis unmittelbar aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Das kam gut an in der arabischen, nicht zuletzt in der palästinensischen Öffentlichkeit."Und trieb die Menschen in Massen auf die Straßen: Ob in der arabischen Welt, in Kairo oder Amman, oder in europäischen Großstädten: Überall formierte sich der Protest gegen einen Krieg, der nach vielen Resolutionen der UNO und ungezählten erfolglosen Vermittlungsversuchen unausweichlich näher kam. Als auch das Treffen zwischen US-Außenminister James Baker und seinem irakischen Amtskollegen Tarik Asis in Genf am 9. Januar 1991 ergebnislos zu Ende ging und Saddam Hussein auch das Ultimatum der Vereinten Nationen für einen Rückzug bis zum 15. Januar verstreichen ließ, war klar: Der Angriff der Alliierten stand unmittelbar bevor. Am 17. Januar 1991 um 2.40 Uhr Ortszeit begann der Krieg gegen den Irak – aus der Operation Desert Shield, dem Aufmarsch der Truppen am Golf, war die Operation Desert Storm geworden: Der Wüstensturm zur Befreiung Kuwaits. Er begann als Luftkrieg und wurde zum medialen Live-Event: Die Reporter von CNN waren auf beiden Seiten präsent – und mussten sich später den Vorwurf anhören, sich zum Instrument der Kriegsherren hier wie dort gemacht zu haben.Nur einen Tag später, am 18. Januar, schrillten die Alarmsirenen in Israel. Saddam Hussein hatte eine weitere Drohung wahr gemacht und die ersten Scud-Raketen auf Israel abgefeuert. Ein Albtraum drohte Wirklichkeit zu werden – irakisches Giftgas, chemische oder biologische Waffen gegen die israelische Zivilbevölkerung – ein Horrorszenario: Peter Philipp war damals Korrespondent des Deutschlandfunks in Israel."Die Bevölkerung wurde ganz massiv dazu aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die man so in Israel oder in Europa nie erlebt hat. Man wurde aufgefordert, solche Schaumgummistreifen zu besorgen, um die Fenster und die Türen abzudichten im Ernstfall, damit dort mögliche chemische Waffen und Gas nicht reinkommen können und die Familie dort vielleicht eine Überlebenschance hat."Tatsächlich wurden die irakischen Scud-Angriffe auf Israel, die zwei Todesopfer forderten, auch zur politischen Belastungsprobe: Die USA mussten unter allen Umständen verhindern, dass Israel in den Krieg eingriff und sich zu Vergeltungsaktionen hinreißen ließ – das hätte die Allianz der Alliierten im höchsten Maße gefährdet: Kein arabischer Staatsmann hätte gewagt, an der Seite Israels weiter gegen den Irak zu kämpfen."Der Druck aus Amerika, Israel soll den Kopf einziehen, still sein und nichts tun, der Druck war sehr, sehr stark."Und er wirkte. Die rote Linie wäre für die israelische Regierung möglicherweise überschritten gewesen, wenn Saddam Hussein tatsächlich Giftgas oder chemische Waffen eingesetzt hätte. Das war auch die Sorge der Bodentruppen, die am 24. Februar die Offensive begannen: Doch weder stießen sie auf unüberwindliche Minenfelder noch auf heimtückische Panzerfallen, weder auf Flammenwände noch auf ein Sperrfeuer aus C-Waffen. So kam der Vormarsch der gigantischen Streitmacht viel schneller voran, als sich die Allianz unter amerikanischem Oberbefehl das erhofft hatte. Nach 100 Stunden der Bodenoffensive war der Krieg am Golf vorbei. Und George Bush erklärte am 28. Februar 1991:"Kuwait ist wieder in den Händen der Kuwaitis, die die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal haben. Wir teilen ihre Freude, eine Freude, die nur durch unser Mitgefühl für ihre Leiden gedämpft ist."Niemand weiß, wie viele Menschenleben dieser Krieg auf irakischer Seite gefordert hat – die meisten Toten waren Zivilisten, die noch nicht einmal in Bunkern vor dem mörderischen Bombenhagel sicher waren. Waren es 100.000, 200.000, 250.000? Auf Seiten der Alliierten wurde die Zahl der Toten offiziell mit 240 angegeben. Bleibt die politische Bilanz. Die Alliierten erreichten ihre Kriegsziele: Kuwait wurde befreit. Scheich Jaber al Ahmed al Sabah kehrte mit der königlichen Familie im März 1991 in das zerstörte Emirat zurück: der Himmel war verdunkelt und aus den Wolken tropfte Öl statt Wasser, weil die irakischen Truppen sämtliche Ölquellen in Brand gesteckt hatten. Der Irak wurde vernichtend geschlagen, aber Saddam Hussein blieb an der Macht – die Hoffnung, ein Volksaufstand würde sein Regime aus den Angeln heben, erfüllte sich nicht. Die Aufstände der Schiiten im Süden und der Kurden im Norden wurden blutig niederschlagen, ohne dass die Vereinigten Staaten ihnen zu Hilfe gekommen wären. Der Krieg von George Bush junior - im Jahr 2003 völkerrechtswidrig angezettelt, um Saddam Hussein zu stürzen - hat den Irak zerrissen und seiner regionalen Macht beraubt. Die Hoffnungen auf eine umfassende Demokratisierung der Golfmonarchien haben sich nicht erfüllt. Die Regime in Ägypten, Syrien, Jemen oder Tunesien sind noch immer an der Macht, die angemahnten Reformen sind auch dort ausgeblieben. Und selbst am krassen Wohlstandsgefälle hat sich nichts geändert – der Ölreichtum geht bis heute an den Massen vorbei. Bleibt die größte Hoffnung, die George Bush mit diesem Krieg gegen den Irak geweckt hatte: Die Hoffnung auf einen umfassenden und gerechten Frieden im Nahen Osten."Jetzt sollte allen Beteiligten klar sein, dass die Schaffung von Frieden im Nahen Osten Kompromisse erfordert. Frieden bringt zugleich wahre Vorteile für jeden. Wir müssen alles Mögliche tun, um die Kluft zwischen Israel und den arabischen Staaten – und zwischen Israelis und Palästinensern – zu schließen. Es ist die Zeit gekommen, den arabisch-israelischen Konflikt zu beenden."Immerhin gelang es George Bush und seinem Außenminister James Baker, noch im Oktober 1991 eine internationale Friedenskonferenz nach Madrid einzuberufen: Dort saßen erstmals alle Konfliktparteien gemeinsam an einem Tisch. Im sogenannten Oslo-Abkommen wurden wenig später, 1993, die Grundpfeiler eines Friedens zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Nachbarn gesetzt. Das Prinzip heißt: Land für Frieden. Zwei Staaten für zwei Völker. Doch es ist bis heute nicht verwirklicht. So ist der Nahe und Mittlere Osten geblieben, was er bereits vor 20 Jahren war: eine Krisenregion.
Von Thilo Kößler
Als die Welt vom irakischen Einmarsch in Kuwait erfährt, ist der Blitzkrieg Saddam Husseins gegen das Emirat im Grunde schon vorbei: Binnen weniger Stunden sind alle Schlüsselpositionen der Stadt in der Hand der irakischen Truppen.
"2010-08-02T18:40:00+02:00"
"2020-02-03T18:16:03.435000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-mutter-aller-schlachten-102.html
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