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"Schöner Wohnen" im Labor
Kalt, steril und funktionell - so präsentiert sich das klassische Labor. Hier eine Aufnahme der Räume beim Pharmakonzerns Aeropharm in Rudolstadt. (picture alliance / Martin Schutt / dpa-Zentralbild / dpa) "This is the meditation room, which is as far as I know never used for meditation." Im Wissenschaftler-Traumhaus von Professor für Stammzellenforschung Mark Fishman darf auch ein Meditationsraum nicht fehlen: Ein schallgedämpfter, abgedunkelter Raum mit überdimensionalgroßen Plüschteddybären als Sitzgelegenheiten. Dass der kleine Raum – anders als geplant –weniger zum Meditieren als zum Lesen und Studieren genutzt wird, mag an der Zielgruppe liegen, für die Fishman den Gebäudekomplex in Cambridge entworfen hat: ambitionierte und hoch motivierte Forscher und Studenten der Biomedizin aus der ganzen Welt, die meisten von ihnen introvertiert und mit einem starken Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten. Und die haben sie hier. "Alle Verstecke werden von unseren Wissenschaftlern genutzt, jeder hat seine Lieblingsnische. Manche bevorzugen unsere kleinen Minibüchereien, andere wiederum die Cubicles – abgetrennte Kabinen – oder Bänke, die wir umgedreht haben, damit man sich nicht beobachtet fühlt. Wir haben Duzende solcher Verstecke." "Alle hatten ihre Vorurteile" Dank Fishman. Wäre es nach den Architekten des Forschungsinstitutes gegangen, wären die meisten Rückzugsorte dem offenen Raumkonzept zum Opfer gefallen. "Genau das hat mich inspiriert dieses Buch zu schreiben: Ich habe mit insgesamt elf Architekten gearbeitet, und sie alle hatten ihre Vorurteile, keiner von ihnen hat uns Wissenschaftler wirklich verstanden, wer wir sind und wie wir denken." Das Buch richtet sich mit seiner Botschaft - Wie kann ich den Arbeitsplatz von Wissenschaftlern besser gestalten sowohl an Architekten als auch an Labormitarbeiter. Denn seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich dieser in seiner Gestalt im Grunde kaum verändert. Ein Labor ist ein Labor ist ein Labor – von technischen Fortschritten abgesehen seit jeher: Steril, grell, zweckmäßig, unflexibel, groß und, wie Fishman sagt, die meiste Zeit unbenutzt. "Die alten Labore stehen leer, weil ein Großteil der Arbeit mittlerweile am Computer stattfindet oder im Gewebekultur-Raum oder am Massenspektrometer – aber eben nicht am Labortisch wie vor 150 Jahren." Flexibel muss es sein So flexibel wie die Gedankengänge der Forscher muss auch der Arbeitsplatz sein: modular, wie Legosteine. "Let's go to the lab floor." Gut 20 weißbekittelte Forscher sitzen konzentriert vor ihren Bildschirmen. Schreib- und Labortisch scheinen in Fishmans Labor miteinander zu verschmelzen. "Das alles hier kann man auseinanderbauen, umstellen, austauschen – vom Labortisch zum Schreibtisch. Morgens können wir das komplette Labor umgestalten; und das ist wichtig. Wir müssen in der Lage sein, Dinge schnell zu verändern, sonst geht es nicht voran." Und optisch ansprechend soll es obendrein sein, denn auch Wissenschaftler haben hinter der Schutzbrille ein Auge für Ästhetik. Darum haben die Schranktüren statt des sonst vorherrschenden Grau-in-grau-Plastiklooks auswechselbare Furniere in verschiedenen Holzmaserungen, denn das Auge forscht mit. Zusammenarbeit mit Priestern Von einem One-size-fits-all-Labor hält Mark Fishman deshalb nicht viel. Ein Labor müsse auch die kulturellen Eigenheiten eines Landes berücksichtigen. Dazu gehören detaillierte Feng Shui-Analysen bis hin zur Segnung der Gebäude. "In unserem Labor in China haben wir mit Priestern zusammengearbeitet und religiöse Zeremonien abgehalten, damit sich dort auch jeder wohlfühlt." Ganz gleich ob in Cambridge oder China – in einem waren sich die Wissenschaftler in Fishermans Laboren einig: Auch seine Idee, in einem Campusgarten kostenlos Eiscreme zu verteilen, ist forschungsfördernd! Kulturelle Unterschiede hin oder her. Mark Fishman: "LAB: Building a Home for Scientist"Lars Müller, Zürich 2017. 364 Seiten, 45 Euro.
Von Sonja Beeker
Steril, grell, zweckmäßig: Das durchschnittliche Labor bietet nicht unbedingt eine ideale Umgebung, um kreativ zu sein. Ein US-Professor hat nun zusammen mit Architekten den perfekten Raum für Wissenschaftler entworfen, der die grauen Hirnzellen ankurbeln soll.
"2017-10-04T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:17.777000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bessere-architektur-fuer-die-wissenschaft-schoener-wohnen-100.html
731
Die Bundeswehr drückt der Schuh
Die Soldaten sollen neue Stiefel bekommen, aber das dauert länger als erwartet (dpa / Patrick Seeger ) Früher war alles einfacher. Da tat es in der Bundeswehr der sogenannte Ganzjahresschuh. Angesichts von Auslandseinsätzen von Litauen bis Mali ist einzusehen, dass diese Zeiten vorüber sind. Offiziell spricht man bei der Bundeswehr jetzt vom neuen Kampfschuhsystem, bestehend aus zwei Paar schweren Kampfschuhen und einem Paar Kampfschuh leicht. Noch vor wenigen Monaten vermeldete der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht "gute Nachrichten". "Die neuen Stiefel scheinen endlich den modernen funktionellen Anforderungen an verschiedene Temperatur- und Nutzungsbereiche gerecht zu werden", so schrieb Hans-Peter Bartels. Der Wermutstropfen fiel aber schon im folgenden Satz: "Leider trübt das Ausgabeverfahren die Freude etwas." Austausch bis 2022 Bis Ende 2020, so war mal geplant, sollte der Austausch beendet sein. Doch dieser Termin ist längst Makulatur. Bei dem Besuch einer Kaserne in Sonthofen wurde die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, diesbezüglich auf Probleme aufmerksam. Strack-Zimmermann zum Deutschlandfunk: "Der eigentliche Plan 2020 der Vollausstattung ist schon wieder geschoben, ich glaube, sie sind jetzt bei 2022. Sagen Sie heute mal jemandem, der zur Bundeswehr kommt: Aber die Superschuhe, die kriegst du erst in drei Jahren - der zeigt Ihnen nicht nur einen Vogel, sondern der geht und dreht sich um - und das auch zu Recht." Nur wenige Soldaten voll ausgestattet Wann wird die Ausgabe des neuen Kampfschuhsystems abgeschlossen sein - so lautete nach dem Kasernenbesuch ihre Frage an das Ministerium. Antwort: Die vollständige Umsetzung werde bis zum 2. Quartal 2022 abgeschlossen sein. Ein Sprecher des Ministeriums verwies auf Produktionsengpässe angesichts der hohen Anzahl benötigter Stiefel. Es gehe in der Summe um eine Million Paar Stiefel, so der Sprecher. Marie Agnes Strack-Zimmerman wählt deutliche Worte: Es gehe nicht um Mode, sondern um Sicherheit, sagt sie, man stelle sich vor, die Feuerwehr würde Brände in Pantoffeln löschen. "Wenn der Schuh Probleme macht, dann können Sie den Rest vergessen, und deswegen erwarte ich schon, dass jeder Soldat und jede Soldatin auch diese Schuhe dann bekommt." Der Vergleich mit den Pantoffeln erscheint dann doch überzogen. Alle Soldaten haben zwei Paar qualitativ hochwertige Kampfstiefel, so der Ministeriumssprecher. Nach offiziellen Zahlen sind bereits über 160.000 Soldaten mit einem Paar neuer schwerer Kampfschuhe ausgestattet. Der Kampfschuh leicht aber wurde bisher an gut 31.000 Soldaten ausgegeben und über einen vollständigen neuen Kampfschuhsatz verfügen nach Ministeriumsangaben "erst einige" Soldatinnen und Soldaten.
Von Klaus Remme
Angesichts der gewachsenen Anforderungen an die Bundeswehr braucht diese nicht nur neue Waffen, sondern die Soldaten auch neue Schuhe. Die sind zwar bestellt, aber bei der Lieferung hakt es. Der komplette Austausch verzögert sich vermutlich um zwei Jahre.
"2019-08-28T13:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:08:06.712000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausruestungsprobleme-die-bundeswehr-drueckt-der-schuh-100.html
732
Doppelt fliegt besser
Nilflughunde sind im Gegensatz zu vielen Fledermäusen Vegetarier. Da sie auf Früchte spezialisiert und überwiegend in Ägypten anzutreffen sind, werden sie im englischsprachigen Raum auch als Egyptian fruit bats bezeichnet. Da sie als einziger europäischer Vertreter der Flughunde auch in Israel vorkommen, sind sie dort ein beliebtes Forschungsobjekt, so auch von Nachum Ulanovsky. Der Neurowissenschaftler vom Weizman Institut in Rehovot wollte herausfinden, wie sich Nilflughunde mithilfe ihres Sonars orientieren."Wir haben sechs Flughunde zwei bis drei Monate lang trainiert. Die Tiere mussten in einem Raum, dessen Wände sämtliche Schallwellen absorbieren, einen zehn Zentimeter großen Landeplatz anfliegen, der im Gegensatz zu den Wänden Schallwellen reflektiert. Und das Ganze bei absoluter Dunkelheit."Um auszuschließen, dass sich die Tiere per Geruchssinn orientieren, wurde der Landeplatz nach jedem Versuch gereinigt. Zudem wurde er vor jedem neuen Start an einer anderen Position im Raum befestigt. Rings um den Landeplatz hatten die Forscher 20 Mikrofone aufgestellt. Damit sollten die typischen Doppelklicklaute der Flughunde aufgezeichnet werden. Zudem zeichneten Ulanovsky und seine Kollegen mithilfe zweier Infrarotkameras die Flugstrecken auf. Die Forscher gingen davon aus, dass die Flughunde ihr Ziel direkt ansteuern. Aber das Gegenteil war der Fall."Die Doppelklicks waren immer in den Raum gerichtet, abwechselnd rechts und links, also rechts-links, links-rechts, rechts-links, links-rechts. Beim Anflug auf ein Ziel war diese Akustik nicht genau darauf gerichtet, sondern immer rechts oder links des Ziels."Die Ergebnisse seien am Anfang etwas verwirrend gewesen, gibt Nachum Ulanovsky offen zu. Erst nach mathematischen Berechnungen erschloss sich ihnen diese bislang unbekannte Orientierungsstrategie. "Interessanterweise waren die Rechts-Links-Klicklaute nicht zufällig, sondern immer so, dass die maximale Neigung der Sonarlaute auf das Ziel gerichtet war. An dieser Stelle verändert sich die Energie der Schallwellen am stärksten und die Tiere können auch schnell auf sich verändernde Positionen des Ziels durch eine Art Herantasten reagieren. Erst beim Nachrechnen haben wir festgestellt, dass diese Methode in dieser Situation die optimale Strategie war."Dieses indirekte Suchen mithilfe der Doppelklicks, die weg von der Mittelachse und in maximalen Neigung zum Ziel hin dieses aufspüren, sei sehr effizient und energiesparend. Bei ihren Messungen hatten die Forscher auch bemerkt, dass einige Tiere nicht nur die Doppelklicks einsetzten, sondern auch einfache Klicklaute, die man sich laut Nachum Ulanovsky wie folgt vorstellen kann. Um zu testen, ob die Flughunde auch beide Klicksysteme einsetzen, änderte er den Versuchsaufbau. "Je nach Situation setzen die Fledermäuse die eine oder andere Strategie ein. Bei unseren Experimenten mit der einfachen Plattform benutzten sie immer nur Rechts-Links-Klicklaute. Als wir hinter den Landeplatz ein Platte stellten, die akustische Signale unterschiedlich stark reflektiert, wechselten die Tiere während des Fluges binnen einer Sekunde ihre Sonar- Strategie. Sie benutzten die einfachen Klicklaute, weil dies bei schwierigen Akustikverhältnissen plötzlich die bessere Strategie war, um das Ziel optimal zu finden."Ulanovsky geht davon aus, dass eine solche Form des Strategiewechsels bei aktiven sensorischen Systemen – also auch beim Sehen und Riechen – universell im Tierreich anzutreffen sei. Aktuell laufende Studien bei Hunden und Menschen deuten zumindest darauf hin. Doch noch sei es zu früh, um dies eindeutig belegen zu können.
Von Michael Stang
Fledermäuse und Flughunde orientieren sich mithilfe ihres Sonars. Wie es exakt funktioniert und warum es Varianten gibt, war jedoch unklar. Israelische Forscher haben das Rätsel jetzt bei ägyptischen Flughunden gelöst.
"2010-02-05T16:35:00+01:00"
"2020-02-03T18:02:23.181000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doppelt-fliegt-besser-100.html
733
"Wir sehen mehr oder weniger das Ende der WTO"
"Es geht nicht nur um Handelszölle, sondern um die Rule of Law", so Politik-Experte Josef Braml im Dlf (dpa / picture-alliance / J. Scott Applewhite) Sarah Zerback: Die einen sprechen von Handelsstreit, die anderen bereits von Handelskrieg. Klar ist nur, dass Donald Trump eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, indem er vor zwei Wochen angekündigt hat, Strafzölle auch auf Stahl und Aluminium zu verhängen. Scharfe Reaktionen aus der EU, aus der Welt folgten, um gegen diese America-First-Politik auch beim Welthandel vorzugehen. Und das wird Thema sein beim Treffen der G20-Staaten nächste Woche, beim EU-Gipfel und auch beim Antrittsbesuch des frisch gekürten deutschen Wirtschaftsministers in Washington. Peter Altmaier wird dort morgen erwartet für Gespräche mit hochrangigen Regierungsvertretern, das hat er gestern angekündigt. Josef Braml ist jetzt am Telefon, USA-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Morgen, Herr Braml! Josef Braml: Guten Morgen, Frau Zerback! "Es bleiben die Scharfmacher" Zerback: Der Bundeswirtschaftsminister also auf Mission, Strafzölle abwehren. Kann diese Mission gelingen? Braml: Mission Impossible würde ich dazu sagen. Ich glaube, die Würfel sind gefallen. Das haben wir spätestens dann gesehen, als Gary Cohn, der Direktor des Nationalen Wirtschaftsrates ja dann das Handtuch geschmissen hat. Er wurde entblößt von Trump, vor vollendete Tatsachen gestellt, als Trump eben die Strafzölle auf Stahl und Aluminium bekannt gab. Er meinte ja, dass wir das noch abwenden könnten. An Leuten wie Cohn haben wir uns festgehalten und haben wir auch unsere Wunschträume festgemacht. Zerback: Kann man tatsächlich sagen – das ist ja das zweite große Thema dieser Wochen –, dass Donald Trump gerade dafür sorgt, dass alle, die ihn noch von seiner protektionistischen Haltung abbringen können, gerade aus dem Weißen Haus entfernt werden? Braml: Die sind raus, und es bleiben die Scharfmacher wie Wilbur Ross, der Handelsminister, oder, noch heftiger, Peter Navarro, der Direktor des Nationalen Handelsrat. Die hegen ein Nullsummendenken, Merkantilismus, da müssen wir noch einmal tief in unsere Studienunterlagen greifen, wir dachten dieses Gedankengut bereits in den Büchern der Geschichte. Aber nein, das ist nicht nur in Russland jetzt wieder in voller Blüte, sondern auch im ehedem Land der Freien. Da wird jetzt Protektionismus gefahren und nach dem Motto vorgegangen, wenn ich gewinne, musst du verlieren. Also Nullsummendenken. "Es geht nicht nur um Handelszölle, sondern um die Rule of Law" Zerback: Also Sie sagen Mission Impossible für den Wirtschaftsminister in Washington. Was er machen könnte, wäre ja, auf Ausnahmen zu drängen, also einen Kompromiss zu erwirken, wie sie die USA ja bereits Kanada und Mexiko gewährt haben. Da hieß es in dieser Woche, dazu könnte Washington eventuell bereit sein, aber nur unter Bedingungen. Welche wären denn das, und wären die für Deutschland akzeptabel? Braml: Wir haben die Bedingungen gehört, es wurde bereits die Handelspolitik mit der Sicherheitspolitik verknüpft. Wir wurden bereits erpresst. Wenn wir weiterhin Verbündete bleiben wollen, dann müssen wir eben aufhören, so Trump wortwörtlich, "Amerika über den Tisch zu ziehen". Wahre Verbündete machen das nicht, und die zahlen dann auch ihre Sicherheitsleistungen, ihre zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, am besten dann in amerikanischen Waffen. Wir können dann nicht irgendwas investieren, wir werden dann wahrscheinlich wohl die F35 kaufen müssen und unsere Pläne, die wir mit Frankreich hegen, hier einen gemeinsamen Kampfjet zu entwickeln, wieder in die Schublade legen. Ich glaube, so tickt Trump. Er erpresst NATO-Verbündete, damit hebelt er auch die Beistandspflicht aus, und, was noch schlimmer ist, er umgeht auch die Regeln der WTO. Die Begründung, das Ganze mit Sicherheitspolitik zu rechtfertigen, hebelt dieses Regelwerk aus. Das heißt, es geht hier jetzt nicht nur um Handelszölle, sondern um mehrere internationale Institutionen, die das Recht hochhalten, die Rule of Law. Aber Trump nutzt hier das Recht des Stärkeren: Wer den größten Militärhammer hat, hat auch das Sagen. Und ich glaube, das werden wir auch erfahren. Ein Land, das militärisch wenig zu bieten hat, muss dann eben für seine Sicherheit zahlen, Tribut zollen. "Das Land ist mit 20 Billionen massiv in den roten Zahlen" Zerback: Aktuell sieht es ja danach aus, als sei das ungehört im Weißen Haus, und als könnte die US-Regierung sogar noch weiter verschärfen wollen. Da heißt es jetzt, Donald Trump wolle gezielt gegen Einfuhren aus China vorgehen, also noch mal zusätzlich. Kann er sich diese erneute Machtprobe mit Peking leisten? Braml: Trump meint, ja. Er denkt, dass Amerika vor allem mit China und auch mit Deutschland Defizite hat im Handel, also weniger importiert als es exportiert. Das heißt, da könnte man gewinnen gemäß diesem Nullsummendenken. Das ist aber falsches Denken, weil was Trump nicht bedenkt, ist, dass die Medaille eine andere Seite hat. Handelsdefizite sind das eine, aber was dem korrespondiert, sind eben dann Defizite im Haushaltsbereich, das heißt, die, die Handelsüberschüsse machen, geben dann ihr Geld wieder dem Land der Freien und finanzieren das Wirtschaften und Haushalten des amerikanischen Staates auf Pump. Das heißt, wenn Trump uns verbietet, mehr in das Land der Freien zu exportieren, dann hindert er uns auch daran, unsere Währungsreserven wieder den USA zu geben. Und die haben es dringend nötig. Trump hat ja gerade eine Steuerreform verabschiedet, braucht noch mehr Geld. Das Land ist mit 20 Billionen massiv in den roten Zahlen. Das ist sehr bedenklich. Und ich glaube, China hat durchaus einen Hebel. Wenn China nicht weiter amerikanische Staatsanleihen kauft oder abstößt, dann gibt es enormen Druck auf die Zinsen in Amerika und damit auch auf das ohnehin schon dahindümpelnde Wirtschaftswachstum in den USA. "Gewaltenkontrolle umgehen" Zerback: Und das, was Sie gerade beschreiben, das ist ja auch im eigenen Land, also in den USA, umstritten, unter anderem aus der US-Handelskammer kommt da jetzt scharfe Kritik. Nun ist es ja so, dass Donald Trump tatsächlich diese Strafzölle noch durch den Kongress bringen muss. Könnte da nicht dann doch die vielzitierte Gewaltenkontrolle der USA greifen und ihn in diesem Vorhaben stoppen? Sehen Sie da eine Chance? Braml: Ich denke, nicht. Er hat es eben bewusst auch mit Sicherheitspolitik begründet, um damit eben auch diese Gewaltenkontrolle zu umgehen. Ich muss jetzt sagen, es gibt ein Gesetz des Kongresses, 62, wo eben dem Präsidenten die Befugnis gegeben wurde, wenn es um nationale Sicherheit geht hier, dann handeln zu können. Normalerweise hat der Kongress ein sehr mächtiges Wort mitzureden, aber nicht, wenn es um die nationale Sicherheit geht. Und ich glaube, da wird er den Kongress aushebeln. Man kann jetzt sicher sagen, der Kongress könnte jetzt mit einen weiteren Gesetzesakt dem Präsidenten diese Befugnis wieder wegnehmen. Aber auch hier hat der Präsident dann ein mächtiges Wort mitzusprechen. Er kann sein Veto einlegen, und dieses Veto müsste dann von zwei Dritteln in beiden Kammern, also vom Senat und Abgeordnetenhaus wieder abgewehrt werden, so, wie es bei den Russlandsanktionen der Fall war. Das ist äußerst selten der Fall, und vor allem in diesem Politikfeld sehe ich das nicht kommen, weil viele zumal in einem Wahljahr dem Präsidenten hier nicht in die Hand greifen wollen, wenn er sich um die nationale Sicherheit kümmert. "Trump hat damit auch die WTO ausgehebelt" Zerback: Wenn es so kommt, wie Sie sagen, wenn gar nichts hilft, muss dann die EU die USA bei der Welthandelsorganisation verklagen, wie es ja jetzt unter anderem Bundesbankpräsident Jens Weidmann als Ultima Ratio gefordert hat? Braml: Ja, das wäre nicht ganz so schlimm, wie jetzt unsererseits mit Gegenzöllen zu reagieren. Das würde sich hochschaukeln, das würde eine Spirale verursachen, da wären wir die Verlierer, zumal als Nation, die sehr viel exportieren will. Die WTO wird auch nicht helfen, weil eben dieser Präzedenzfall, die Berufung auf nationale Sicherheit die WTO überfordern wird. Da werden auch andere Nationen dann das Gleiche tun. Das heißt, wir sehen mehr oder weniger das Ende der WTO. Trump hat damit auch die WTO ausgehebelt. Er geht jetzt nicht nur auf die WTO los, um den größeren Kontext zu sehen. Die NATO ist unter Druck, und ich wage auch vorherzusagen, dass die Vereinten Nationen am Ende auch nicht mehr so schön dastehen, wie sie jetzt dastehen. Zerback: Herr Braml, ich muss Sie leider unterbrechen, hier folgen die Nachrichten. Josef Braml war das. Besten Dank für das Gespräch! Braml: Herzlichen Dank Ihnen, Frau Zerback! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Josef Braml im Gespräch mit Sarah Zerback
Es sei ein Nullsummendenken, dass US-Präsident Donald Trump und seine "Scharfmacher" im Weißen Haus hegten, sagte Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Dlf. Trump hebele zudem demokratische Institutionen aus, indem er Protektionismus an Nationale Sicherheit knüpfe.
"2018-03-17T06:51:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:49.368000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-protektionismus-wir-sehen-mehr-oder-weniger-das-ende-der-100.html
734
"AfD ist kein Ostphänomen"
Die strukturelle Situation sei in den ostdeutschen Ländern nicht wesentlich anders als im Bund, sagte der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland im Hinblick auf eine mögliche Etablierung der AfD auf Bundesebene. (dpa / picture-alliance / Jens Büttner) Dirk-Oliver Heckmann: Damit blicken wir nach Thüringen. Die SPD dort, die hat es ja geschafft, ihr bisher schlechtestes Ergebnis noch einmal zu unterbieten. 12,4 Prozent, das muss man als Desaster bezeichnen. Wie das Leben so spielt, kommt den Sozialdemokraten dennoch eine Schlüsselrolle zu bei der Bildung einer neuen Regierung. Dabei wird die SPD aber auf ihren Landesvorsitzenden Christoph Matschie verzichten müssen. Er zog gestern politische Konsequenzen, und das könnte heißen: Die Zeichen stehen auf Rot-Rot-Grün. Professor Torsten Oppelland ist Politikwissenschaftler an der Universität in Jena. Mein Kollege Jürgen Liminski hatte vor dieser Sendung die Gelegenheit, mit ihm über den Ausgang der Landtagswahlen zu sprechen. Jürgen Liminski: Herr Oppelland, entscheidend ist Erfurt. Dort könnte es zu einem Machtwechsel kommen. Noch sind die Machtverhältnisse unklar, aber sie könnten ja in Berlin einer Klärung zugeführt werden. Ist überhaupt vorstellbar, dass die Mutterpartei sich völlig aus den Beratungen der SPD in Erfurt heraushält? "Bundes-SPD nimmt Einfluss auf Beratungen in Erfurt" Torsten Oppelland: Nein, offensichtlich tut sie das nicht. Sehr früh am Wahlabend hat Sigmar Gabriel Einfluss genommen, indem er das Wort "Neuanfang" in den Mund nahm und die Genossen in Thüringen quasi aufgefordert hat zu diesem Neuanfang, und offenbar hat er auch mit dem Erfurter Oberbürgermeister Bausewein gesprochen, und insofern ist die Bundesebene da schon dabei, Einfluss zu nehmen. Liminski: Ist denn ein Bündnis in den Farben Afghanistans, also Schwarz-Rot-Grün, noch realistisch, oder gäbe es in diesem Bündnis zu viele Taliban, um im Bild zu bleiben? Oppelland: Taliban sicher nicht, aber ich glaube, dass es gar nicht erst zustande kommen wird, denn es wäre natürlich aus Sicht der Union, wenn es möglich wäre, ein Bündnis mit der SPD einzugehen, sinnvoll, diese sehr knappe Mehrheit etwas zu verbreitern mithilfe der Grünen. Aber genau das wollen die Grünen nicht, genau dafür wollen sie sich nicht hergeben. Sprich: Sie wollen nur dann eine Koalition eingehen, wenn sie für die Mehrheitsbildung gebraucht würden, und in der aktuellen Konstellation ist das nur bei Rot-Rot-Grün der Fall. Ganz abgesehen davon, dass ihnen allein schon die Diskussionen um Schwarz-Grün wahrscheinlich im Wahlkampf doch geschadet haben. Liminski: Nehmen wir mal an, die SPD entscheidet sich für Ramelow, was Sie ja auch annehmen. Würde das die Linke inhaltlich verändern und die Gewichte innerhalb der Linken verlagern in Richtung mehr Pragmatismus und weniger Ideologie? Oppelland: In Ostdeutschland ja. Ob das auf Westdeutschland ausstrahlt, oder in welchem Umfang es ausstrahlt, das ist zweifelhaft. In Ostdeutschland sind ja die Politiker der Linken auf allen Ebenen im Grunde schon präsent. In manchen Bundesländern regieren sie mit, wenn auch bisher nur als Juniorpartner. In den Kommunen, in den Landkreisen sind sie vorhanden, stellen Landräte, Bürgermeister, alles Mögliche. Dort ist der Pragmatismus schon sehr ausgeprägt. Aber in Westdeutschland sieht es ganz anders aus und ich weiß nicht, ob ein ostdeutscher Ministerpräsident der Linken da im Westen so einen großen Eindruck machen würde. "Thüringen könnte ein interessantes Experimentierfeld sein" Liminski: Es fällt auf, dass die Juniorpartner in beiden Ländern herbe Verluste eingefahren haben. Vielleicht ist das einer der Gründe, weswegen man in Berlin darüber nachdenkt, eben nicht mehr nur Juniorpartner zu bleiben in der Großen Koalition. Oppelland: Ja, natürlich. Die SPD laboriert bis heute noch an dem Schock der Wahl von 2009, wo sie so abgestürzt ist, und Ähnliches erleben wir jetzt in Thüringen. Natürlich will sie wieder in eine Position, wo sie die führende Verantwortung übernehmen kann, und das geht nach der derzeitigen Lage nicht mit einer Koalition mit der CDU. Allerdings stehen natürlich auf der Bundesebene solchen Experimenten noch große Hindernisse gegenüber. Insofern könnte Thüringen natürlich ein interessantes Experimentierfeld sein. Liminski: Erfurt als Ort einer Entscheidung, von der eine Signalwirkung auf Berlin ausgeht? Sie haben eben ein Stichwort genannt: das Experiment Rot-Rot-Grün. Ein anderes Stichwort wäre allerdings auch Stabilisierung von Schwarz-Rot. Oppelland: Ja. Vordergründig ist das natürlich das primäre Interesse. Aber wenn Sigmar Gabriel Bausewein ins Gespräch bringt, dann scheint er andere Pläne zu verfolgen, denn Bausewein ist in den bisherigen Auseinandersetzungen der SPD Thüringens immer einer derjenigen gewesen, die sich eher für einen Linkskurs eingesetzt haben. "CDU gibt Raum für konservative Parteibewegung wie die AfD" Liminski: Es gibt einen neuen Faktor in beiden Ländern, das Abschneiden der AfD, und dieses Abschneiden zeigt eine gewisse Dynamik. Hat das nur lokale, regionale Gründe? Oppelland: Nein. Die strukturelle Situation ist ja im Bund und hier in Thüringen nicht so wesentlich anders. Die CDU ist fürs Regieren auf die SPD angewiesen, also auf eine im Bund Große Koalition, in Thüringen ist sie schon wesentlich kleiner, und um die SPD für diese Koalition zu gewinnen, muss sie ihr Zugeständnisse machen, und das bedeutet, dass sie ihre Wahlversprechen nicht in vollem Umfang umsetzen kann und dass sie sozusagen am rechten Flügel ihrer eigenen Partei Raum gibt für eine konservative Parteibewegung, die zudem natürlich noch Protestwähler auf sich zieht, wie es die AfD ist. Liminski: Nun sind Brandenburg in Thüringen bei aller Wertschätzung Sekundärländer. Steht die AfD als Protestpartei da nicht doch noch vor der großen Bewährungsprobe ihrer Etablierung, nämlich in großen Flächenländern des Westens? Oppelland: Einerseits ja, obwohl Sekundärländer schon etwas hart ist, aber sie hat natürlich bei der Europawahl auch über fünf Prozent bundesweit gehabt. Also das ist kein Ostphänomen, auch wenn es zweifellos in Ostdeutschland etwas mehr Rückhalt findet. Aber es ist ein bundespolitisch relevantes Phänomen, die AfD. Heckmann: Soweit Professor Torsten Oppelland, Politikwissenschaftler an der Universität Jena. Die Fragen stellte mein Kollege Jürgen Liminski. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
null
Auch wenn die AfD in Ostdeutschland zweifellos mehr Rückhalt fände als im Westen, sei die Partei ein bundespolitisch relevantes Phänomen, sagte der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland im Deutschlandfunk. Er verwies auch auf das gute Abschneiden der AfD bei der Europawahl.
"2014-09-16T05:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:03:57.905000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-den-landtagswahlen-afd-ist-kein-ostphaenomen-100.html
735
Glaskugeln als Feuerlöscher
Henning Hagen hält einen großen Glasbecher in der Hand. Darin ist etwas zum Feuer-Löschen. Kein Wasser, kein Pulver, auch kein Sand – sondern Pyro-Bubbles. "Was Sie hier hören, sind unsere Pyro-Bubbles. Sehen ein bisschen aus wie Styroporkugeln oder auch wie Katzenstreu. Das ist ein Hohlglas-Granulat."Die Körner bestehen zu etwa einem Zehntel aus Silizium-Dioxid, also Glas. Der Rest ist eingeschlossene Luft. Das Granulat kann Brände löschen, mit denen die Feuerwehr ihre Probleme hätte – etwa wenn Benzin, Leichtmetalle oder elektrische Anlagen in Flammen aufgehen. Das Wirkprinzip sei simpel, sagt der Brandschutz-Experte Henning Hagen: Das weiße Glas-Granulat erstickt das Feuer."Die erstickende Wirkung kommt dadurch zustande, dass die Kugeln einen unterschiedlichen Durchmesser haben und sich dadurch eine dichte Kugelpackung ergibt. Das heißt, es ist nicht mehr möglich, dass Brennstoff und Sauerstoff zusammen kommen. Und damit wird das Feuer einfach erstickt.Wenn ich das Granulat auf sehr heiße Stoffe gebe wie zum Beispiel Metalle, dann schmilzt es. Und dabei bildet sich eine Luft-undurchlässige Glasschicht, die noch mal diesen Stickeffekt verstärkt."Diese Glas-Schicht bildet eine Art Kokon, der den Brandherd versiegelt. So lässt sich sogar ein 2000 Grad Celsius heißer Brand mit Thermit unter Kontrolle bringen, sagt der Entwickler der Pyro-Bubbles Michael Pasewald:"Thermit ist ein Gemisch von Aluminium und Eisenoxid und wird unter anderem zum Schweißen von Schienen-Strängen bei der Bundesbahn angewandt. Und das Kuriose ist, dass Thermit auch ohne Sauerstoff brennt, weil ein großer Teil Eisenoxid darin ist und bei der Verbrennung Sauerstoff freigesetzt wird und es deswegen so gut wie gar nicht zu löschen geht. Wir können es mit unseren Pyro-Bubbles auch nicht löschen, aber wir können es einhausen."Dadurch brennt das Thermit ab, ohne dass das Feuer weiter um sich greift. Wenn Brände mit dem Granulat gelöscht oder zumindest eingedämmt werden, dann entstehen auch keine Schäden, wie sie beim Löschen mit Wasser, Pulver oder Schaum üblich sind. Die nicht geschmolzenen Körner lassen sich hinterher mit einem Staubsauger einsammeln und sogar wiederverwenden. Als Haupteinsatzgebiet sehen die Entwickler aber nicht das Feuer-Löschen – sondern das Feuer-Vermeiden. So nutzen bereits verschiedene Firmen das Granulat, um Kabel sicher zu verlegen. Michael Pasewald nimmt aus seinem Büro-Regal einen Kasten mit Glas-Granulat und drei Kabeln. "Das ist hier so eine Kabelpritsche als Exponat. Hier haben wir Kabel Kurzschluss-sicher verlegt. Die ist praktisch von oben, unten und seitlich von circa zweieinhalb bis drei Zentimetern Bubbles abgedeckt. Hier ist der Schutz von innen nach außen und von außen nach innen gegeben. Das heißt: Wenn von außen eine Flamme gegenschlägt, wird eine große Zeit lang dieses Kabel nicht defekt gehen. Und wenn innen ein Kurzschluss im Kabel ist, kann es keine anderen Kabel mitnehmen."Hilfreich seien die Brandschutz-Körner auch bei Trafo-Stationen, erklärt Henning Hagen. Vor allem dort, wo schon ein einzelner Transformator so groß ist wie ein Ein-Familien-Haus."Der wird mit Mineralöl gekühlt. Und wenn es da intern zu einem Schaden kommt, zu einem Kurzschluss, dann kann sich ein Lichtbogen ausbilden. Das heißt: Es fließen große Ströme. Dabei wird viel Energie freigesetzt. Und dabei kann es dazu kommen, dass der Transformator platzt und brennendes Öl ausläuft."Normalerweise würde sich das Öl unter dem Transformator in einer Auffang-Wanne sammeln und dort einen Großbrand verursachen. Bei einem Kunden wurde solch eine Wanne mit Pyro-Bubbles gefüllt. Im Falle des Falles würde das brennende Öl durch die Granulat-Schicht sickern und der Brand dadurch gelöscht.Seit März 2010 ist das Granulat auf dem Markt. Das Fazit nach fast drei Jahren:"Da, wo die Pyro-Bubbles präventiv eingesetzt werden, wo also zum Beispiel Kabelkanäle, Kabelschächte verfüllt sind, da ist bis jetzt noch nichts passiert. Das ist ja auch Sinn und Zweck der Sache. Und an anderen Stellen, wo sie als Löschmittel vorgehalten werden, war es noch nicht nötig, sie einzusetzen." Weiterführender Link:Feuerfestes Plastik-Kabel
Von Franziska Badenschier
Ende 2004 brannte in Weimar die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek. 50.000 Bücher gingen in Flammen auf. Weitere 62.000 wurden beschädigt - auch vom Löschwasser. Um so etwas zu verhindern, hat ein Brandenburger Unternehmen jetzt ein neuartiges Löschmittel entwickelt: "Pyro-Bubbles".
"2012-12-19T16:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:38:19.528000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/glaskugeln-als-feuerloescher-100.html
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"Im Segeln sind wir komplett equal"
Olympia-Seglerin und Vorkämpferin für Frauen im Hochsegeln: Susann Beucke (picture alliance / PublicAd / Stefan Hoye) Susann Beucke, Silbermedaillengewinnerin bei Olympia in Tokio im 49er FX, feierte ein glänzendes Offshore-Debüt beim Ocean Race: Bei der zweiten Etappe der Weltumseglung von den Kapverden nach Kapstadt feierte Beucke auf der Schweizer Holcim-Yacht den Sieg. Beucke: "Hochseesegeln wie Rallye Dakar" Das Hochseesegeln sei im Vergleich zum Olympia-Segeln eine völlig neue Herausforderung, sagte Beucke im Interview mit dem Deutschlandfunk, es sei ein bisschen wie bei der Formel 1 und Rallye Dakar: "Das Olympische Segeln ist wie die Formel 1, es geht darum, schnell und hart zu fahren. Das Offshore-Segeln lässt sich gut mit der Rallye Dakar vergleichen, es geht auch um Höchstleistungen, aber eben über eine längere Distanz. Es ist viel abenteuerlicher." Die besondere Herausforderung beim Hochsee-Segeln sei es, seine Leistung unter extrem strapaziösen Bedingungen abzurufen: "Man muss mit sehr wenig von dem auskommen, was dem Menschen eigentlich gut tut. Das Essen ist schlecht, der Schlaf ist noch schlechter, ungefähr drei bis vier Stunden am Tag. Und wir haben natürlich auch keine richtigen Betten, sondern Rohrkojen." Man brauche schon ein gewisses Maß an Mut und Verrücktheit, so Beucke. Olympia-Seglerin Beucke: Vorbildfunktion für Frauen, nicht nur im Sport Der Start beim Ocean Race ist für die Kielerin zugleich die nächste Etappe auf einer eigenen Mission: Sie hat eine eigene Kampagne mit dem Namen "This race is female" gestartet. Eine Kampagne, die Frauen die Kraft soll, "Dinge zu tun, die sich vorher nicht getraut haben", so Beucke: "Es geht darum, Frauen einerseits zu motivieren, im Segelsport über ihre eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Aber auch in anderen persönlichen Zielen, die beruflich sind oder privater Natur. Denn ich glaube, wir Frauen haben immer noch mit viel mehr Hindernissen zu kämpfen, um unsere Ziele zu erreichen." Ihr Ziel ist es, 2028 bei der Vendée Globe zu starten, der Solo-Weltumseglung, bei der auch Boris Herrmann viele Menschen fürs Segeln begeistern konnte. Beucke sieht sich ihre eigene Geschichte dabei als Vorbild. Mit ihrem Start beim Hochseesegeln, einem "Sport, der männerdominiert ist und in dem es wenig Frauen gibt" habe sie gezeigt, was möglich sei: "Im Segeln sind wir komplett equal. Es gibt keine Frauenwertung. Es wird auch kein großer Hehl daraus gemacht, dass man eine Frau ist. Deswegen ist das Segeln ein unheimlich cooler Sport, um Gender-Equality voranzubringen und Frauen zu ermutigen."
Susann Beucke im Gespräch mit Matthias Friebe
Susann Beucke hat beim berühmten Ocean Race ihr Debüt beim Hochseesegeln gefeiert. Die Olympia-Seglerin will dabei auch eine Vorbildrolle einnehmen: Segeln sei ein idealer Sport, um Frauen zu ermutigen und Gender-Equality voranzubringen, sagte sie im Deutschlandfunk.
"2023-03-04T19:50:00+01:00"
"2023-03-04T21:08:16.095000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beucke-ocean-race-100.html
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Klimaschutz in Cannes unbeliebtes Thema
Schließlich läuft das 2012 aus und der nächste UN-Klimagipfel steht unmittelbar vor der Tür, Ende des Monats in Durban. Korrespondentin Jule Reimer berichtet am zweiten Tag der Beratungen aus Cannes und verrät, ob es auf dem Gipfel tatsächlich noch um Klimaschutzmaßnahmen und Instrumente zur Finanzierung der Folgen des Klimawandels gehen wird.Den vollständigen Beitrag können Sie mindestens bis zum 4. April 2012 in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
Von Jule Reimer
Das Treffen der 20 führenden Industriestaaten der Welt stand bisher ganz im tiefen Schatten der europäischen Schuldenkrise und im Zeichen der griechischen Wirren. Dabei sollte bei diesem Treffen in Cannes auch über die Klima- und Energiepolitik, über die Bedingungen eines Kyoto-Nachfolgeabkommens verhandelt werden.
"2011-11-04T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:23:20.260000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaschutz-in-cannes-unbeliebtes-thema-100.html
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"Sozialpolitik hat AfD in die Hände gespielt"
"SPD und Grüne müssen sich entscheiden, ob sie mit uns einen Politikwechsel einleiten", sagte Linken-Chefin Katja Kipping im Dlf (picture alliance/ dpa / Mohssen Assanimoghaddam) Matthias von Lieben: Frau Kipping, herzlich willkommen hier im Hauptstadtstudio. Katja Kipping: Ja, einen schönen guten Tag. von Lieben: Frau Kipping, die Europawahlen stehen vor der Tür, der Brexit ebenfalls, in den EU-Mitgliedstaaten, in verschiedenen, sind Rechtspopulisten, Nationalisten auf dem Vormarsch, auch in Deutschland. Es ist zu erwarten, dass sie auch bei der Europawahl ziemlich gut abschneiden werden. Auch vor diesem Hintergrund hat Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, diese Woche eine europäische Renaissance gefordert. Darin fordert er unter anderem konkret europaweite soziale Grundsicherung, europaweite Mindestlöhne, striktere Klimaschutzziele, aber auch einen Vertrag über mehr gemeinsame Verteidigung und Sicherheit und strengere Grenzkontrollen. Die Bundesregierung hat diesen Vorstoß begrüßt. Tun Sie das auch? Kipping: Was ich begrüße ist, wenn es gelingt, europaweit Mindestsicherung einzuführen, damit alle Menschen europaweit vor Armut geschützt sind. Das konkrete Agieren von Macron ist aber sehr janusköpfig, weil einerseits hat er in seinem Aufruf ja auch gute Forderungen drin, aber zugleich macht er halt in Frankreich eine Politik, die heißt Reiche bei der Steuer eher entlasten, dafür die gesellschaftliche Mitte belasten. Zugleich macht er sich stark für Aufrüstung und das ist natürlich der falsche Weg. von Lieben: In welchen Punkten stimmen Sie denn überein mit ihm, vielleicht mal so gefragt? Kipping: Also die Linke kämpft seit Langem dafür, auch im Europaparlament, dass es europaweite soziale Mindeststandards gibt, dass man sich darauf verständigt, die Mindestlöhne europaweit zu erhöhen, dass wir Mindestsicherung einführen, die sich jeweils an der nationalen Armutsgrenze orientiert. Also, ich freue mich sehr, dass wir Initiativen, wie sie jetzt auch von Macron gemacht werden, halt gute Anregungen aufgreifen, für die die Linke seit Jahren kämpft. "Rüstungsstopp gegenüber Saudi-Arabien war überfällig" von Lieben: Jetzt haben Sie eben die Aufrüstungspolitik in Frankreich selbst angesprochen. Kipping: Ja auch europaweit ist das ein Problem. Was ich verheerend finde, ist, dass gerade aktuell die Zusammenarbeit in der Europäischen Union ja faktisch nur noch in zwei Bereichen läuft, in der Abschottung nach außen und in der gemeinsamen Aufrüstung. Ich finde, beides hat verheerende Folgen und deswegen braucht es auf jeden Fall da einen Kurswechsel in beiden Punkten. von Lieben: Und das ist ein gutes Stichwort, Rüstungsexporte, Rüstungsindustrie, da hat die Bundesregierung auch in dieser Woche jetzt den Lieferungsstopp von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien erneut verlängert bis Ende März. Ursprung war eigentlich der Mord an Jamal Khashoggi damals, an dem saudischen Journalisten. Ist das nicht in Ihrem Sinne? Kipping: Ja da haben wir auch lange drum gekämpft. Ich meine, ich fand ja, dieser Rüstungsstopp gegenüber Saudi-Arabien war längst überfällig. Man muss wissen, dass Saudi-Arabien sich in einem Krieg gegen Jemen beteiligt, wo wirklich Millionen Menschen, darunter Kinder, Frauen, Ältere vom Hungertod bedroht sind. Und Saudi-Arabien spielt da eine ganz schlimme Rolle. Also schon das sozusagen wäre ein Anlass gewesen, um zu sagen, an so einen Schurkenstaat werden keine Waffen mehr hingeschickt. Dann der Fall Khashoggi, dass der dann endlich sozusagen so viel Ärger verursacht hat, dass die Regierung sich dazu durchgerungen hat, was längst überfällig war, das ist in Ordnung, jetzt muss man aber auch dabei bleiben. Wir als Linke gehen ja weiter und wollen einen generellen Stopp von Rüstungsexporten, und deswegen sage ich: Das Beste ist, man macht kein Geschäft mit Rüstung, weil am Ende ist das immer ein Geschäft mit dem Tod. von Lieben: Jetzt hat sich aber Deutschland schon seit Langem für den Weg der Rüstungsindustrie entschieden. Da gibt es auch weiter Zoff in der Großen Koalition. Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Chefin, sagt jetzt, naja, was sollen wir denn den Arbeitnehmern sagen, den Beschäftigten in der Rüstungsindustrie, wenn die alle ihren Job verlieren, wenn Rüstungsexporte komplett gestoppt werden würden? Kipping: Aber all das Wissen, die Fähigkeiten, die es in Fabriken gibt, wo Rüstung hergestellt wird, könnte doch auch genutzt werden für zivile Produktionen. Also wir haben uns immer stark gemacht für Konversionsprogramme, also Umwandlungsprogramme, wo man auch schaut, Mensch, welche Produkte könnten mit euren Fähigkeiten hergestellt werden, die am Ende womöglich sogar Menschenleben retten und eher darauf zu setzen. von Lieben: Rüstungsexporte stoppen sofort, das war auch eine Forderung in Ihrem Europawahlprogramm, das jetzt kürzlich in Bonn verabschiedet wurde. Da konnten sich viele darauf einigen. Ansonsten wurde es am Ende eher ein Kompromiss. Einerseits wollte man die EU-Skeptiker zufriedenstellen, andererseits die EU-Befürworter, die Pro-Europäer, zu denen Sie auch gehören. Aber ist nicht die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, können Sie damit, mit einem Sowohl-als-auch-Programm die Wähler überzeugen und vielleicht ein besseres Ergebnis einholen als bei der letzten Europawahl, 7,4 Prozent? Kipping: Also ich lese unser Europawahlprogramm anders als Sie und am Ende gab es eine überwältigende Zustimmung, nur ganz wenige Gegenstimmen und Stimmenthaltungen. Zum einen muss man sagen, es gab keinerlei Änderungsanträge, die die EU aus der Perspektive des nationalen Tellerrandes heraus kritisiert haben oder die wollten, dass es zurück in den nationalen Tellerrand gibt. Diese Position ist bei uns so verschwindend gering, dass es nicht mal einen Änderungsantrag dazu gab, sondern die Frage war nur, mit was für einer Schärfe kritisieren wir das, was aktuell falsch läuft. Und dann gab es eine Debatte, finde ich, die uns sehr schmückt, nämlich sprechen wir uns für eine Republik Europa aus. Das ist ja eine Idee, die kommt von Robert Menasse und Ulrike Guérot, die wirklich auch sehr inspirierend ist und die aber auch Vor- und Nachteile hat, weil eine Europäische Republik würde natürlich erfordern, dass alle Grundlagenverträge komplett neu verhandelt werden müssen und würde auch die Frage aufwerfen: Naja kleinere Staaten, haben die denn dann überhaupt noch ein Mitspracherecht oder werden die nicht am Ende einfach dann von den Ländern, die viele EinwohnerInnen haben, komplett überdominiert? Und diese Fragen haben wir diskutiert und am Ende haben bei uns immer 45 Prozent gesagt, wir wollen eine Republik Europa. Das heißt, es gibt bei uns einen großen Fan-Club dafür. Aber was jetzt drin steht, ist nicht einfach ein Kompromiss, sondern ist eine klare Aussage. Wir kämpfen für eine Europäische Union, die sozial, die demokratisch und die friedlich ist. Und ich würde sagen, zu kritisieren, was gerade schief läuft, ist die viel größere Liebeserklärung an Europa, anstatt so zu tun, als ob alles super wäre, weil der jetzige Zustand spielt den rechten Hetzern in Europa in die Hände und das darf man nicht zulassen. "Kritik und Protest gegen die Regierung Maduro ist angebracht" von Lieben: Aber es ist ja trotzdem nicht von der Hand zu weisen, dass es eben zwei verschiedene Lager gibt, einmal, Sie haben es selber erwähnt, die Republik-Europa-Befürworter, was ja eine ziemlich extreme Position ist, und andererseits eben zum Beispiel bei der Strömung der Antikapitalistischen Linken Leute, Delegierte von dem Parteitag, die sagen, nein, wir halten die EU eigentlich für unreformierbar, manche sagen, wir wollen sie sogar abschaffen. Sind das nicht zwei unvereinbare Extreme? Kipping: Es gibt ja ganz viele Punkte, wo sich beide einig waren. Nämlich dass so, wie es jetzt läuft, es nicht weitergehen kann, weil momentan ja nur noch die Zusammenarbeit innerhalb der EU funktioniert, wenn man sich abschottet gegen Geflüchtete währenddessen sich beide Seiten total einig darin sind zu sagen, wir wollen Seenotrettung unterstützen. Und deswegen war auch einer der bewegendsten Momente auf dem Parteitag, als Pia Klemp, eine Frau gesprochen hat, die als Kapitänin auf See war und Geflüchtete vor dem Ertrinken gerettet hat. Übrigens droht ihr und ihrer Crew jetzt für diesen Akt der Menschlichkeit in Italien eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren. Das ist eben auch die Realität in der Europäischen Union, und das in aller Schärfe zu kritisieren, glaube ich, dazu ist man eher verpflichtet, gerade wenn man eine glühende Europäerin ist. von Lieben: Frau Kipping, lassen Sie uns noch kurz über ein anderes Thema sprechen, was derzeit international vor allem für viel Aufregung sorgt: Venezuela. Da gab es auch einen Konflikt auf dem Europaparteitag Ihrer Partei in Bonn. Da ist eine Gruppe von, ich glaube, knapp 20 Personen auf die Bühne geströmt, unter anderem dabei die stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende Heike Hänsel, die Solidarität gefordert haben, mit dem venezolanischen Regime von Nicolás Maduro, keine Kritik geäußert haben, obwohl es genug Kritikpunkte gibt. Laut Amnesty International zum Beispiel, das ist ein Zitat, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung von Maduro Oppositionelle. Zuletzt hatte sie den deutschen Botschafter auch ausgewiesen. War diese Solidaritätsaktion eigentlich mit Ihnen abgesprochen? Kipping: Nein, das war sie nicht. Wir als Parteivorstand, und da sind wir uns auch mit der Fraktionsspitze total einig, haben eine andere Beschlusslage. Wir sagen ganz klar, die Regierung Maduro ist keine sozialistische und keine linke Regierung, und Kritik und Protest gegen sie sind mehr als legitim und angebracht. Zugleich müssen wir aber auch sagen, dass die einseitige Anerkennungspolitik der deutschen Bundesregierung höchst fragwürdig ist. Es gibt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, was gesagt hat, also das Agieren der deutschen Bundesregierung, die gesagt hat, wir erkennen jetzt einfach Guaidó einseitig an als den Präsidenten, so kann man es auch nicht machen. Unsere Position als Partei ist eigentlich eine sehr gut ausgeglichene, weil wir die Maduro-Regierung kritisieren, zugleich aber sagen, das Spielen oder Setzen auf militärische Intervention vonseiten der USA ist verheerend, eine einseitige Anerkennung von Guaidó ist falsch, weil sie nur noch Öl ins Feuer gießt. Wir setzen jetzt auf einen Dialog in Venezuela und rufen alle Seiten zum Gewaltverzicht auf. Das Ärgerliche ist, dass diese Aktion in der Tat unsere, finde ich, gute Beschlusslage da in ein anderes Licht gerückt hat. von Lieben: Distanzieren Sie sich also klar von Heike Hänsel, unter anderem dabei auch Alexander Neu, Diether Dehm? Kipping: Ich kann nur sagen, die sind ja da mit einem Plakat hochgegangen, wo Venezuela und Sozialismus in einem Atemzug genannt werden, und das ist erst mal total wider aller Sachlage, weil in Venezuela gibt es keinen Sozialismus, und das ist auch ein echter Schaden, den man an der Idee des Sozialismus anrichtet, wenn man so etwas in einem Atemzug nennt. "SPD versucht sich von Schröder zu emanzipieren" von Lieben: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Zu Gast ist Katja Kipping, die Parteivorsitzende der Partei Die Linke. Frau Kipping, über Ihre europapolitischen Vorstellungen haben wir gesprochen, über Außenpolitik generell. Lassen Sie uns jetzt einmal auf die Entwicklung im Inland schauen. Die SPD hat in diesem Jahr eine sozialpolitische Offensive gestartet, spricht von einer Abkehr von Hartz IV, will eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung einführen. Auch die Grünen fischen im linken Lager, sprechen sich für eine Garantiesicherung aus. Spüren Sie da gerade, dass der Platz im linken Lager ziemlich eng wird? Kipping: Nein, ich erlebe was anderes, und zwar dass wir endlich wieder stärker darüber reden, wo sozialpolitisch die Reise hingehen muss. Das ist ein großer Fortschritt und ich bin auch überzeugt, dass wir den Rechtsruck nur wirklich nachhaltig aufhalten können, wenn es gelingt, glaubhaft in Aussicht zu stellen, dass es zu einem grundlegenden Politik- und Regierungswechsel hierzulande kommt, und zwar zu fortschrittlichen Mehrheiten links der Union kommt, wo die Menschen, die jetzt Abstiegsängste haben, die frustriert sind, wirklich sagen: Mensch, es könnte ja passieren, dass sich für mein Leben wirklich was verbessert, ich vor Altersarmut geschützt bin, ich generell vor Armut geschützt bin, die Miete bezahlbar wird oder bleibt. Und das ist eine wichtige Entwicklung, wo ich glaube, wo am Ende alle fortschrittlichen Parteien davon, alle drei profitieren können. Das Papier der SPD enthält gute Punkte und sie versuchen, sich ernsthaft von Gerhard Schröder ein Stück weit zu emanzipieren. Aber gerade wenn es um den Bereich Hartz IV, nämlich das Sozialgesetzbuch 2 geht, da muss ich sagen, bieten sie wenig, außer Lyrik, weil die zentralen Punkte von Hartz IV sind niedrige Regelsätze, die die Menschen in Armut halten. Das Damoklesschwert der Hartz IV-Sanktionen und die Bedarfsgemeinschaft, wo du quasi, wenn dein Partner nur ein bisschen über einer Grenze verdient, sofort zur Taschengeldempfängerin degradiert wirst und nicht Anspruch auf Leistung hast, diese drei Punkte werden überhaupt nicht angegriffen. von Lieben: Aber viele Positionen der SPD sind ja deckungsgleich tatsächlich mit dem Programm der Linken. Ein Stichwort ist da eben nur der Mindestlohn. Kipping: Ja, das ist ja gut. von Lieben: Aber wird es da jetzt ein Wettlauf um den höchsten Mindestlohn geben oder wie positioniert sich die Linke dazu? Kipping: Nein, das ist doch nicht so, die Frage des Wettlaufs ist nicht der Punkt. Ich finde, die viel spannendere Frage ist, wie kommen wir dahin, dass das, was auf dem Papier an richtigen Sachen steht, auch wirklich durchgesetzt wird. Und da glaube ich, müssen sowohl SPD und Grüne sich am Ende entscheiden. Wollen sie gemeinsam mit der Linken einen wirklichen Politik- und Regierungswechsel einleiten, der dazu führt, dass alle hierzulande vor Armut geschützt sind, dass der Klimaschutz mutig in Angriff genommen wird und dass die Mitte deutlich besser gestellt wird? Oder wollen sie weiter an der Seite der Union so ein bisschen kosmetische Korrektur machen, aber am Ende zu einer weiteren Verfestigung von Armut beitragen? Ich kann nur dafür werben, dass wir mutig genug sind, alle drei zusammen mit den vielen, die in der Gesellschaft schon in Bewegung sind, für fortschrittliche Mehrheiten links der Union zu kämpfen. von Lieben: Dafür werben Sie jetzt eigentlich schon relativ lange, auch seit Januar habe ich das Gefühl ziemlich aggressiv immer wieder, ziemlich offensiv trifft es vielleicht besser. Kipping: Ich würde nicht sagen aggressiv, aber ich spreche ja sehr intensiv eine Einladung aus. von Lieben: Genau, das macht genauso Ihr Co-Parteichef Bernd Riexinger, aber momentan sind die Konstellationen, die Verhältnisse, die Mehrheitsverhältnisse nicht so, als ob es für Rot-Rot-Grün Mehrheiten geben würde. Kipping: Aber Aufgabe von Politik ist es doch nicht, wie das Kaninchen auf die Schlange auf Umfragen zu schauen und zu sagen, oh, haben wir denn jetzt für alles, was wir wollen, schon eine Mehrheit. von Lieben: Aber Sie wollen ja Regierungsverantwortung übernehmen. Kipping: Ja, unsere Aufgabe ist es ja zu sagen, was könnte begeistern, und jetzt müssen wir auch der gesellschaftlichen Fantasie Futter geben und dafür werben. Und da gibt es, glaube ich, an allen drei Parteien auch Barrieren, auch in den Köpfen, die zu überwinden sind, und es braucht viel mehr Formate und Diskussionsrunden, wo wir darüber reden, nicht nur was jetzt falsch läuft, sondern wohin die Reise im Positiven gehen könnte. Zusammenspiel von Alltagssorgen und Zukunftsfragen von Lieben: Bisher verfängt das bei den Wählern nicht, zumindest auf Bundesebene, wenn man sich da die Umfragen anschaut. Ich muss Umfragen wieder hernehmen. Die Linke steht bei 8 bis 10 Prozent momentan, die AfD eigentlich relativ konstant bei 11 bis 14 Prozent, die Grünen teilweise bis zu 20 Prozent. Warum schafft es die Linke da momentan nicht mitzuziehen? Kipping: Also ich meine, sagen wir einmal so, es ist ja schon mal gut, dass wir uns stabil auf so einer Zahl halten. In vielen Ländern Europas wären die Leute total froh, wenn es links von der Sozialdemokratie so eine starke stabile Partei gibt, die auch bei den Mitgliedern wächst, weil das darf man auch nicht vergessen, wir entwickeln uns ja gerade. Also gerade jüngere Leute kommen besonders stark zur Linken, weil sie mit uns gemeinsam etwas gegen Rechts machen wollen, aber auch was für soziale Gerechtigkeit tun wollen. Und ja, ich finde auch, dass bei uns deutlich mehr drin wäre. Da haben wir jetzt ein paar Sachen in die Wege geleitet und das muss jetzt greifen. von Lieben: Aber mit welchen Ideen wollen Sie denn dann die Wähler abholen, also mit welcher Vision einer linken Politik? Kipping: Ich mache es mal konkret an ein paar Punkten. Also ich glaube, wir müssen beides leisten, nämlich zum einen ganz nah dran sein an den Alltagsproblemen und zu den Alltagsproblemen gehört, dass viele Menschen ein Problem haben, mit ihrem Einkommen über den Monat zu kommen, da muss man etwas tun. Ein Problem sind zum Beispiel explodierende Mieten. Deswegen engagieren wir uns seit Langem darum, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum gibt, und wir sind stark mit dabei, dass es eine bundesweite Mieterinnen- und Mieterbewegung gibt, das ist ein Punkt. Zum Zweiten stellen wir uns natürlich den großen Zukunftsaufgaben und das heißt, dass alle Menschen auf diesem Planeten auch eine Zukunft haben sollen, sowohl Krieg und Aufrüstung wie der Klimakollaps bedrohen diese Zukunft, und deswegen braucht es auch den Einstieg in eine wirkliche Friedenspolitik und den mutigen Klimaschutz. Und ich denke, dieses Zusammenspiel von Zukunftsfragen und aber auch nah dran sein an den Alltagssorgen und da immer wieder im Gespräch mit den Menschen zu sein, dass das was Wichtiges ist und dass das deutlich mehr Prozente verdient hätte. von Lieben: Ich habe die Umfragen eben angesprochen, dass momentan die Politik nicht so sehr verfängt. Kann das nicht auch daran liegen, dass die Linke derzeit vor allen Dingen auch innenpolitisch ziemlich zerstritten ist bei vielen Positionen? Kipping: Ja aber das sind jetzt ja die Debatten aus dem Jahr 2018, die sie führen. In der Tat, uns ist immer aufgedrückt worden eine Debatte über die Migrationspolitik, das hat uns wahrlich nicht geholfen. von Lieben: Da gibt es die Differenzen nicht? Kipping: Nein, uns ist so eine Debatte aufgedrückt worden und uns ist es gelungen Ende des Jahres, das auf eine konstruktive Ebene zu heben, wo wir erst mal festhalten, was wir an gemeinsamen Positionen haben und den einen Punkt, wo es einen Dissens gibt, festgehalten haben. Und ich glaube auch, dass uns das ganz klar geschadet hat. Aber noch mal, weil Sie immer wieder auf die Umfragen kommen, wir müssen uns ja auch vergegenwärtigen, wir haben seit über drei Jahren eine Situation, wo die großen gesellschaftlichen und medialen Debatten eigentlich immer um das Thema der Flüchtling, die Muslime als Gefahr, als Problem kreisen und es immer auf eine Art und Weise thematisiert wird, dass es erst mal den ganz Rechten in die Hände spielt. Und für diese Anordnung, für diese gesellschaftliche, ist es schon eine enorme Leistung, dass die Linke sich stabil gehalten hat und sogar in der Parteientwicklung vorangekommen ist. Aber in der Tat, das reicht uns nicht, wir wollen mehr und darum kämpfen wir. von Lieben: Aber da sprechen Sie ja einen ganz konkreten Punkt an, um den es oft bei der Linken innerparteilich eben geht. Da gibt es einmal das Lager um die Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, die derzeit erkrankt ist. Die wollen eine restriktivere Migrationspolitik. Dann gibt es andere, die stehen eher für offene Grenzen und grenzenlose Solidarität, und diese Positionen, die prallen ja einfach immer wieder aufeinander. Kipping: Also es gibt dieses einen Dissens in der Frage der Arbeitsmigration, den haben wir auch festgehalten. Aber wenn Sie sich mal anschauen, wie die Reaktionen auf dem Parteitag waren auf die Rede von Pia Klemp, da kann man nicht sagen, dass in dieser Frage unsere Partei zerrissen ist, sondern die Menschen waren geschlossen begeistert von diesem Einsatz hinter der Aussage, Seenotrettung ist kein Verbrechen, Menschenleben gehören gerettet. Und wir wissen, dass die EU ein Kontinent der Einwanderung ist und dass Menschenrechte unteilbar sind, versammelt sich die Partei nicht nur geschlossen, sondern voll Leidenschaft und Zustimmung. von Lieben: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Katja Kipping, der Parteivorsitzenden der Partei Die Linke. Frau Kipping, Sie haben es gerade noch mal angesprochen, dass es Konflikte gibt beim Thema Arbeitsmigration. Ich hatte zuvor schon angesprochen, ja, da gibt es die Lagerbildung um Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, auch mit ihrer Aufstehen-Bewegung, die explizit sagt, wir wollen Wähler von der AfD zurückholen. Wollen Sie das auch und wie wollen Sie das tun? Kipping: Ich denke, wir haben uns bereits Ende letzten Jahres darauf verständigt, diese Frage so zu stellen und mit Ja und Nein zu beantworten, dass man dann schon in die Falle getappt ist, sondern wir sagen, wir kämpfen natürlich um jede Wählerstimme, ganz gleich wen sie davor gewählt haben oder wen sie sich in Zukunft vorstellen können zu wählen. Das ist doch auch eine typische Journalisten-Frage, wollen Sie eher grüne Wähler oder eher AfD-Wähler holen, weil wenn ich mit Menschen rede, frage ich nicht, ach wen haben Sie denn davor gewählt, ist das Gespräch jetzt zu Ende oder nicht, sondern ich gehe immer auf die Menschen zu und frage dann, wo sie der Schuh drückt und was sich ihrer Meinung ändern muss und was wir da zusammen tun können. von Lieben: Das sage ich vor allem auch vor dem Hintergrund, dass Sie sich bei der Klausurtagung der Bundestagsfraktion jemanden von Emnid eingeladen haben, der eben die Wählerpotenziale für die Linke Ihnen mal schildern sollte. Und da war das Ergebnis unter anderem, dass viele potenzielle Linken-Wähler derzeit die Grünen wählen und ganz wenig nur, und zwar zu 1 Prozent, die AfD. Also das ist der Kontext, vor dem wir hier reden. Kipping: Ja das stimmt, es gibt dann wahltaktische Analysen, wo man schaut, wie sich die Wählerpotenziale überschneiden. Es ist in der Tat für dann die Wahlstrategen interessant, sozusagen für diejenigen, die mit Menschen direkt im Gespräch sind, ist das nicht das Entscheidende und es ist vielleicht auch für die Zuhörer nicht so interessant, wie die Taktiken da sind, sondern entscheidender ist doch, für welche konkreten Veränderungen treten Parteien ein. Und da kann ich nur sagen, wir treten verlässlich dafür ein, dass wirklich Schluss gemacht wird mit dem System der Angst, für das Hartz IV steht. Und wir treten dafür ein, dass alle Menschen ohne Sorge über den Monat kommen mit ihrem Einkommen. von Lieben: Im Juni soll auf einem großen Kongress der Bewegung Aufstehen von Mitinitiatorin Sahra Wagenknecht über ein Programm abgestimmt werden, über das zuvor online mit der Basis diskutiert wurde und die Initiatoren nennen das Ganze Regierungsprogramm, obwohl eben Aufstehen angekündigt hat, eigentlich nicht zu Wahlen antreten zu wollen. Klingt das nicht nach Spaltung? Kipping: Nein, ich finde, das klingt eher nach einem großen Selbstbewusstsein von Bewegung. Ich finde das immer gut, wenn Bewegungen mit sehr viel Selbstbewusstsein reingehen. Es ist ja was mich nur verwundert ist, warum es so viel Aufmerksamkeit für diese eine Bewegung gibt, weil wir haben gerade eine Situation, wo sich unglaublich viel regt. Also im letzten Jahr ist alleine in Berlin eine Viertel Millionen auf die Straße gegangen für die Unteilbarkeit von Menschenrechten. Wir haben gerade in ganz vielen Städten Menschen, die für bezahlbare Mieten und gegen Mietenexplosionen auf die Straße gehen. Die Beschäftigten in der Pflege wehren sich gegen den Pflegenotstand. Junge Menschen engagieren sich für den Klimaschutz und überall ist die Linke ein organischer Bestandteil davon und überall kommen sehr viele Menschen zusammen. Bei Aufstehen kam jetzt mal bundesweit, als wir den Aktionstag aufgerufen haben, 2.000 Menschen zusammen. Das ist jetzt im Schnitt bundesweit nicht ganz so viel, aber natürlich sollen auch kleinere Initiativen entsprechende Aufmerksamkeit haben. Ich würde nur gerne das ein bisschen einordnen, weil gerade ganz viele Menschen in Bewegung sind, mit denen wir eng zusammenarbeiten. "Wahlkampf in Sachsen wird zum Dreikampf" von Lieben: Frau Kipping, jetzt kommen wir langsam schon zum Schluss des Interviews. Blicken wir einmal nach Ostdeutschland. Da stehen in diesem Jahr noch drei wichtige Landtagswahlen an, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Auch da, die Umfragen bisher verheißen nicht viel Gutes. Da ist sogar die Gefahr, dass Sie in allen drei Ländern von der AfD überholt werden. Die Regierungsbeteiligung in Thüringen ist nicht gesichert, ebenso in Brandenburg. In Sachsen zieht die AfD ziemlich sicher an Ihnen vorbei. Sie sind selbst gebürtige Dresdnerin. Was macht Ihnen eigentlich zurzeit noch Hoffnung, dass die Linke da nicht unter die Räder gerät? Kipping: Zunächst muss man sagen, in der Tat droht die Gefahr, dass die AfD überall besonders stark wird und ich finde, das ist auch ein Anlass, alle Leute zu motivieren, Leute, geht zur Wahl und setzt ein klares Zeichen gegen Rechts. Jetzt zu den Ländern im Einzelnen, ich finde, dass wir dort, wo wir in der Regierung waren, auch echt den Unterschied gemacht haben, sei es zum Beispiel ein Gesetz zur Einführung der Parität zwischen Männern und Frauen, was wir in Brandenburg angeschoben haben, die Gebührenfreiheit von Kitas. In Thüringen macht sich die Linke gerade dafür stark, dass die zwölf Euro Mindestlohn ins Vergabegesetz kommen, also schon mal praktisch angewendet werden, wenn der Staat öffentliche Aufträge vergibt. Also kurzum, wir machen da echt den Unterschied und deswegen kämpfen wir natürlich darum, dass die fortgesetzt werden. Hinzu kommt, die Situation in Thüringen sehe ich deutlich optimistischer als Sie, weil Bodo Ramelow als Ministerpräsident wird nicht nur als Landesvater hervorragend angenommen, er hat enorme Zustimmungswerte, sondern er gilt auch zu Recht inzwischen nicht nur in Thüringen als die Stimme des Ostens. Und insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass er auch wieder von den Thüringern als Ministerpräsident gestärkt hervorgeht aus diesen Wahlen. Und in Sachsen haben wir eine schwierige Situation, da muss man ja sagen, dass die CDU dort seit der Wende die Regierungspartei ist und deswegen ist die Aufgabe, die die Linke dort hat, deutlich zu machen, dieser Wahlkampf wird ein Dreikampf. Es gibt zum einen die rechten Hetzer. Dann gibt es die CDU-Staatspartei, die verantwortlich ist zum Beispiel für Personalmangel in den Schulen, und dann gibt es sozusagen das Lager der solidarischen und sozialen Kräfte und die werden in Sachsen von den Linken angeführt, und deswegen muss die Linke natürlich möglichst gestärkt aus diesen Wahlen hervorgehen. von Lieben: Trotzdem mussten Sie bei der vergangenen Bundestagswahl da erhebliche Verluste einstecken im Osten. Warum ist die Linke im Osten nicht mehr die Kümmerer-Partei, warum saugt die AfD da so viel Protest? Kipping: Also wenn sich jemand um die alltäglichen Sorgen kümmert, dann sind wir das. Wenn ich früh morgens vor dem Jobcenter stehe, habe ich die AfD noch nie gesehen. Was ich auch weiß aus verschiedenen Gesprächen, dass es eine gewisse Frustration gibt, die gar nicht der Linken gilt, aber uns dann trifft, sodass die Leute sagen, naja ich bin jetzt von Hartz IV seit vielen Jahren betroffen und dieses blöde Gesetz ist immer noch nicht weg. Und dass es das weiterhin gibt, ist ja jetzt nicht Schuld der Linken, weil wir als Partei in Gänze und ich auch ganz persönlich haben immer dagegen gekämpft, aber eine Mehrheit im Bundestag hat halt immer dafür gestimmt, dass Hartz IV so bleibt wie es ist. Deswegen würde ich sagen, wenn es etwas gibt, was der AfD in die Hände gespielt hat, dann ist das auch eine Sozialpolitik gewesen, die weiterhin auf Existenzangst setzt. Es ist jetzt nicht so platt, dass man sagt, nehmt den Leuten alle Existenzängste, dann ist niemand mehr ein Rassist. So einfach ist es nicht, aber wir wissen, dass in einem Klima, wo Existenzängste befeuert werden von der Sozialpolitik, und das machen die Hartz IV-Sanktionen, da hat es halt rechte Propaganda deutlich leichter. von Lieben: Frau Kipping, Sie sind jetzt seit 2012 Vorsitzende der Partei Die Linke, also im Juni sind es fast sieben Jahre. Bisher konnten Sie noch nie wirklich gestalten auf Bundesebene, waren immer in der Opposition. Woher nehmen Sie die Hoffnung oder glauben Sie daran, dass die Linke mit Ihnen als Vorsitzende noch mal Regierungsverantwortung wird übernehmen? Kipping: Ich ziehe meinen Optimismus daraus, weil ich glaube, es ist die beste Möglichkeit und wahrscheinlich die Einzige, um den Rechtsruck aufzuhalten. Und ich kann keine Garantie ausstellen, dass das passiert, aber ich bin überzeugt davon, dass das notwendig ist und deswegen werbe ich dafür und hoffe am Ende auch, davon Mehrheiten überzeugen zu können. Und man muss sich ja einfach einmal anschauen, wir haben jetzt in Berlin eine SPD-Linke-Grüne-Regierung, die haben gerade Halbzeitbilanz gezogen, und diese Bilanz kann sich sehen lassen. Da gibt es Einsatz für die Rekommunalisierung von Wohnungen, da gibt es Verbesserungen für die Kitas, da gibt es sozusagen Bemühungen um Stärkung der umweltfreundlichen Verkehrsmittel und, und, und. von Lieben: Also glauben dran oder nicht? Kipping: Ich hoffe darauf, ja natürlich. von Lieben: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Kipping. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katja Kipping im Gespräch mit Matthias von Lieben
Eine Sozialpolitik, die weiterhin auf Existenzangst setze, stärke die AfD, kritisierte die Linken-Chefin Katja Kipping im Dlf. Das Damoklesschwert der Hartz-IV-Sanktionen werde von der SPD nicht angerührt. Gleichzeitig warb Kipping erneut intensiv für ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene.
"2019-03-10T11:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:41:25.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/linken-vorsitzende-katja-kipping-sozialpolitik-hat-afd-in-100.html
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High Court stärkt Rechte des Parlaments
Dunkle Regenwolken über dem britischen Parlament in London-Westminster. (imago stock&people/Ben Stevens) Es dauerte nur wenige Minuten, da feuerten die führenden Politiker der rechtspopulistischen UKIP-Partei ihre Tweets und Statements ab. Suzanne Evans, Anwärterin auf den Parteivorsitz, forderte, alle Richter des High Court zu entlassen. Douglas Carswell, der einzige UKIP-Abgeordnete im Unterhaus, beschuldigte die drei Richter, sich als Politiker aufzuspielen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. "Eine elitäre Bande von Juristen will den Willen des Volkes unterwandern", so hieß es wutentbrannt aus der Leave-Kampagne. "Mein Gefühl sagt mir, dass ich zunehmend beunruhigt werde", gab Übergangsparteichef Nigel Farage sofort per Telefoninterview zu Protokoll. "Es wird nur noch einen halben Brexit geben. Abgeordnete aus allen Parteien sagen jetzt, ach ja, wir wollen im Binnenmarkt leben, wir wollen auch weiter dafür bezahlen. Die politische Klasse will 17,4 Millionen Wähler betrügen." Die Wähler hätten keine Ahnung, was für einen öffentlichen Zorn sie damit provozieren würden. UKIP hat wieder ein Ziel Bei aller echten oder gespielten Entrüstung - für UKIP bildet das Urteil von gestern auch eine Chance. Die Partei ist tief zerstritten, die Nachfolgerin von Nigel Farage warf nach 18 Tagen entnervt das Handtuch, es fliegen sogar die Fäuste - da könnten Versuche, den Brexit auszuhebeln, der Partei wieder Leben einhauchen. Die Investmentbankerin Gina Miller hatte vor dem High Court für die Mitbestimmung des Parlaments bei einem Brexit geklagt (picture alliance / dpa / Hanna McKay) Aber auch sie beruft sich auf das Volk: Gina Miller, eine Investmentbankerin, hatte die Klage vor dem High Court eingereicht. "Die Entscheidung heute geht uns alle an. Es geht um die Zukunft des Vereinigten Königreichs. Es spielt keine Rolle, ob wir für oder gegen den Brexit gestimmt haben. Es geht um das Verfahren, nicht um Politik." Das Verfahren lautet jetzt: Premierministerin Theresa May muss sich die Zustimmung des Parlaments einholen, bevor sie den Antrag auf Austritt aus der EU einreicht. Die politischen Auswirkungen können aber jetzt enorm sein. Lord Kerr sprach es als einer der Ersten aus, ein schottischer ehemaliger Verfassungsrichter, der einst den Artikel 50 im Vertrag von Lissabon konzipiert hat. "Der Prozess ist nicht unwiderruflich", meinte er schon vor dem Urteil. "Sie können ihre Meinung ändern, während das Verfahren läuft." Brexit Zeitplan könnte verzögert werden Dass das Parlament den Brexit tatsächlich stoppt, entweder jetzt oder später, gilt aber als sehr unwahrscheinlich. "Es geht nicht darum, den Brexit zu verhindern oder das Referendum zu unterlaufen", beeilte sich auch die konservative Abgeordnete Nicky Morgan zu versichern, eine führende Pro-EU-Politikerin. "Beim Volksentscheid ging es darum, dass Souveränität von der EU an Großbritannien rückübertragen wird. Daher hat das Parlament das Recht, über eine so fundamentale Sache zu entscheiden." Der Graben bei den Konservativen ist wieder voll aufgebrochen. Morgans Parteifreund Dominic Raab beschuldigt die EU-Befürworter, dass es ihnen nicht um rechtliche Details geht: "Es ist ein Schock, wie sie das Ergebnis des Referendums versenken wollen. Es sieht danach aus, dass einige wenige Politiker, Anwälte und Richter den Willen des britischen Volkes verhindern wollen." Noch steht nicht fest, wie genau das Parlament beteiligt werden soll. Es könnte eine einfache Abstimmung oder aber ein gesetzgebendes Verfahren geben. Um den Jahreswechsel wird der Supreme Court, die höchste richterliche Instanz, entscheiden. Sollte er dem High Court folgen, hätte Theresa May danach nur noch relativ wenig Zeit, bis Ende März wie angekündigt den Antrag auf den Brexit an die EU-Kommission zu richten. Für halb elf heute Vormittag hat sie sich jedenfalls schon einmal zum Telefonat mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verabredet.
Von Friedbert Meurer
Das Parlament darf beim Austritt aus der EU mitreden: Für die britische Premierministerin Theresa May ist das Brexit-Urteil des High Courts ein Rückschlag. Doch nicht nur ihr stehen harte politische Zeiten bevor.
"2016-11-04T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T19:02:33.303000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-urteil-high-court-staerkt-rechte-des-parlaments-100.html
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Senioren aktiver und zufriedener als in den Neunzigern
Viele Ältere gehen einer Arbeit nach - so wie hier am Empfang einer Behörde in Kiel. (dpa / picture alliance / Christian Charisius) Die Zahl der Menschen in Deutschland, die rund um das Renteneintrittsalter arbeiten, steigt der Studie zufolge. Von allen Personen im Alter zwischen 40 und 65 Jahren waren im Jahr 2014 insgesamt 74,1 Prozent erwerbstätig, während es im Jahr 1996 noch rund 60 Prozent waren. Auch nach Erreichen des Ruhestands gehen immer mehr einer bezahlten Tätigkeit nach. 1996 lag ihr Anteil bei 5,1 Prozent, 2014 waren es schon 11,6. Höher Gebildete arbeiten häufiger im Ruhestand Dem sogenannten Alterssurvey zufolge spielt dabei die Bildung eine wesentliche Rolle. Während im Jahr 2014 von den 40- bis 65-Jährigen mit niedrigem Bildungsniveau lediglich 50,6 Prozent erwerbstätig waren, lag der Anteil bei Personen mit mittlerem Bildungsniveau bei 70,8 Prozent und bei Menschen mit hohem Bildungsabschluss bei 81,5 Prozent. Nicht allen Erwerbstätigen gelingt ein nahtloser Übergang vom Arbeitsleben in die Altersrente: Viele erleben vor dem Eintritt in den Ruhestand eine Phase der Arbeitslosigkeit. "Es gibt erhebliche Ungleichheiten, die wir beseitigen müssen, zum Beispiel bei den Einkommen in Ost und West sowie zwischen Männer und Frauen", sagte Familienministerin Manuela Schwesig. "Wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen faire Chancen für ein gutes und aktives Leben im Alter bekommen". Senioren insgesamt aktiver, zufriedener und engagierter Gut zwei Drittel der Menschen in der zweiten Lebenshälfte fühlen sich dem Report zufolge körperlich kaum eingeschränkt, ihre Gesundheit hält länger an. Das zeigt sich auch in der steigenden Lebenserwartung. Frauen leben derzeit im Durchschnitt 83 Jahre, Männer 78 Jahre. Ein Grund dafür kann auch sein, dass die 40- bis 65-Jährigen häufiger Sport treiben als noch 1996 - besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung bei den über 60-Jährigen. Der Deutsche Alterssurvey gilt als wichtigste Langzeitstudie über das Älterwerden. Erhebungen fanden 1996, 2002, 2008 und 2014 statt. (tzi/am)
null
Jeder zehnte Bundesbürger arbeitet auch noch im Ruhestand. Das geht aus einer Untersuchung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums hervor. Demnach sind die meisten Senioren zufrieden mit ihrem Leben und fühlen sich fit. Aber nicht allen gelingt der nahtlose Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
"2016-06-07T13:46:00+02:00"
"2020-01-29T18:33:47.839000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alterssurvey-senioren-aktiver-und-zufriedener-als-in-den-100.html
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Kriegsspiele auf dem Balkan
Für viele Hooligans von Roter Stern Belgrad ist er eines ihrer Idole: der bosnisch-serbische General Ratko Mladić, 1995 verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, (imago images / Aleksandar Djorovic) Fans durchbrechen Zäune, werfen Steine, zerstören Sitzschalten. Spieler flüchten in die Kabine, die Partie endet vorzeitig. Am 13. Mai 1990 offenbart sich im Stadion Maksimir der Zerfall Jugoslawiens. Der Politiker Slobodan Milošević wähnt sich seinem Ziel ein Stück näher: der Vereinigung aller Serben in einem ethnisch homogenen Staat. Seit den 80er Jahren bringt der jugoslawische Geheimdienst in Belgrad Fußballfans auf Linie. Die zentrale Figur: Željko Ražnatović, genannt Arkan. Der Fan-Anführer von Roter Stern gründet im Oktober 1990 die "Serbische Freiwilligengarde". Eine paramilitärische Truppe, berichtet Krsto Lazarević, der über den Balkan einen Blog betreibt. "Wir haben 1991 eine Situation, in der Roter Stern Belgrad Europapokalsieger wird, die beste Mannschaft Europas. Und der Fan-Anführer von denen ist jemand, der wenige Monate danach zu einem Kriegsverbrecher wird. Also Arkan ist eine Person aus der Belgrader Unterwelt, der halt Geld damit gemacht hat, dass er die ganzen Merchandise-Artikel und die Rechte an den Fanartikeln hatte. Der hat dann eben Hunderte Leute aus dem Umkreis der Hooligans von Roter Stern Belgrad rekrutiert und die dann in den Krieg geführt." Hooligans als Söldner für Russland Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen: Viele Hooligans von Roter Stern Belgrad begehen während der Jugoslawienkriege etliche Verbrechen. Eines ihrer Idole ist der bosnisch-serbische General Ratko Mladić, 1995 verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, für den Tod von 8000 muslimischen Bosniern. Ratko Mladić wird 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch viele Ultras in Serbien rufen laut seinen Namen. Spieler aus der nordserbischen Stadt Novi Sad tragen sogar T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić. Ähnliche Motive gehören auch zum Fußball in den serbisch geprägten Gebieten Bosniens, erzählt der Investigativjournalist Semir Mujkic aus Sarajewo. "Wir haben über paramilitärische Trainings für junge Männer berichtet. Es gibt prorussische Organisationen, die in serbischen Gebieten auf der Suche nach Söldnern sind. Oft finden sie diese im Hooligan-Milieu. Das sind stramme Neonazis, zu allem bereit. Und diese Söldner kämpfen dann für russische Interessen, zum Beispiel im Osten der Ukraine oder in Syrien." Der Student Filip Vulovic von "Belgrade Pride" (Deutschlandradio / Ronny Blaschke) Parteien beauftragen Fans als Sicherheitskräfte Filip Vulović hat für diese Art von Fußball nichts übrig, trotzdem muss er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren von "Belgrade Pride", einer Veranstaltungsreihe für sexuelle Minderheiten. Vulović deutet in ihrem Infozentrum auf das Foto eines blutüberströmten Mannes. Es stammt von "Belgrade Pride" aus dem Jahr 2010. "Die Stadt sah aus wie ein Kriegsgebiet. Auf der einen Seite Tausende Polizisten, Wasserwerfer und Hubschrauber. Auf der anderen Seite rund 6000 Hooligans, die aus dem ganzen Land nach Belgrad gekommen waren. Die Hooligans wollten unsere Aktionen zum Abbruch bringen. Sie verletzten Polizisten, zerstörten Läden und setzten sogar einen Bus in Brand. Der Schaden ging in die Millionenhöhe. Es war wie Bürgerkrieg." Hooligans als Drogendealer, Zuhälter oder Türsteher Die serbische Regierung hat damals den Schutz der Homosexuellen vernachlässigt. Schnell machen Vermutungen die Runde, dass die Opposition die Hooligans unterstützt habe. Wie sonst hätten Tausende von ihnen aus entlegenen Landesteilen nach Belgrad gelangen können? Einer der damaligen Kritiker ist seit 2017 Staatspräsident: Immer wieder erinnert Aleksandar Vučić an seine Vergangenheit in der Fanszene von Roter Stern Belgrad, erzählt der Journalist Slobodan Georgiev von dem investigativen Netzwerk Birn. Der Journalist Slobodan Georgiev vom Investigativnetzwerk Birn. (Ronny Blaschke / Deutschlandradio ) "Das ist wie eine Armee, es gibt Anführer und Soldaten. Unter der Woche arbeiten viele Hooligans als Drogendealer, Zuhälter oder Türsteher. Das sind meist rechtsradikale Leute, die schnell Tausende Männer für die Straße mobilisieren können. Einige Parteien beauftragen Hooligans als Sicherheitskräfte. In der Amtszeit von PräsidentVučić sind einige sogar zu erfolgreichen Unternehmern aufgestiegen." "Wächter der nationalen Interessen" Es ist ein offenes Geheimnis in Belgrad, dass der serbische Geheimdienst Kontaktleute in den großen Fanszenen hat, auch um Proteste gegen die Regierung zu verhindern. Der Reporter Georgiev listet auf, wer bei Roter Stern Belgrad ein und uns ausgehe: Polizisten, Anwälte, Beamte. "Es ist gefährlich, sich als Journalist mit den Hooligans zu beschäftigen. Selbst wenn wir Strafraten von ihnen aufdecken, hat das selten juristische Konsequenzen. Die Behörden schauen weg. Und in großen Teilen der Bevölkerung gelten Hooligans als Wächter der nationalen Interessen. Sie verteidigen Serbien gegen Bosnien und gegen Kroatien, so ist das Narrativ auch in Gesängen in Stadien. Als der Kosovo sich 2008 von Serbien unabhängig erklärte, zogen die Hooligans wütend auf die Straße. Bis heute wollen sie die Unabhängigkeit nicht akzeptieren. Ich jedenfalls gehe nicht mehr ins Stadion. Ich fühle mich dort nicht sicher." Am 13. Mai 1990 wurde der Nationalismus im Stadion Maksimir so deutlich wie selten zuvor. Es hat sich vieles geändert seitdem, in Serbien nicht alles zum Besseren.
Von Ronny Blaschke
Hassgesänge, Schlägereien, Verletzte: Der 13. Mai 1990 geht in die Geschichte ein - weit über den Fußball hinaus. In Zagreb treffen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad aufeinander. Bei jenem Spiel wird deutlich wie selten zuvor: der Vielvölkerstaat Jugoslawien ist am Ende.
"2020-05-10T19:30:00+02:00"
"2020-05-14T08:56:56.830000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nationalismus-im-serbischen-fussball-kriegsspiele-auf-dem-100.html
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Der Nährboden ist noch fruchtbar
IS-Kämpfer: Die Gruppe gilt militärisch als geschwächt. (imago) Die internationale Koalition konzentriere sich bei ihren Angriffen gegen den sogenannten Islamischen Staat besonders auf drei Gebiete, erklärte Pentagon-Sprecher Steve Warren dieser Tage in Bagdad – und zwar auf Mossul im Norden des Irak, auf die Provinz Anbar westlich von Bagdad sowie auf Raqqa im Osten Syriens. Besonders in Raqqa, der inoffiziellen IS-Hauptstadt, gehe es darum, die Extremisten durch Angriffe zu isolieren, durch Luftschläge auf Verbindungsstraßen, Brücken und Kreuzungen. Außerdem sei man dabei, jene Truppe aufzubauen, die schließlich Mosul befreien werde. Das klingt, als sei das Ende des IS nur noch eine Frage der Zeit. Das Pentagon schätzt, dass die Terrormiliz inzwischen rund 40 Prozent von jenem Territorium verlor, das sie in Syrien und im Irak vor nicht allzu langer Zeit noch kontrollierte. "Der IS befindet sich militärisch eindeutig auf dem Rückzug", glaubt auch Adel Abdel Ghafar vom Brookings Doha Center. Die irakische Armee habe Ramadi zurückerobert. In Syrien sei es die internationale Koalition, die den IS unter Druck setzt, zumindest im Moment. Diese Erfolge seien wichtig, weil sie die Kampfstärke der Dschihadisten auch indirekt schwächen: "Der IS hat an Wirtschaftskraft eingebüßt, zum Beispiel durch Angriffe auf Ölförderanlagen und Transportwege. Es gibt Berichte, nach denen er jüngst sogar die Gehälter seiner Kämpfer kürzen musste." Der IS wird immer unattraktiver Das wiederum erschwert die Rekrutierung neuer Kämpfer. Dem IS fällt es immer schwerer, sein Kalifat als Erfolgsmodell zu verkaufen. "Jetzt kommen die Rückkehrer und erzählen, was sie erlebt haben. Und es gibt die Geschichten von jenen, die getötet wurden. Das alles macht den IS immer unattraktiver." Trotzdem seien die Erfolge nicht wirklich nachhaltig. Der Nährboden, auf dem seine Ideologie reift, bleibt fruchtbar – die Kriege in der Region, das Machtvakuum in einigen Ländern, die brutalen repressiven Regime in anderen. Oder das Unrecht im Irak, wo Sunniten den IS unterstützen, weil sie von Schiiten unterdrückt werden. "Zuerst entstand Al-Kaida, dann der IS, vielleicht bildet sich demnächst eine andere Gruppierung. Extremismus wird es so lange geben, wie Bedingungen existieren, die seine Entstehung fördern." Je weiter der IS in die Enge getrieben wird, desto größer wird außerdem die Gefahr, dass er noch öfter zur letzten verbliebenen Waffe greift und Terroranschläge verübt, auch im Westen. Europol behauptet, dass die Terrormiliz dafür bereits ein Kommandozentrum eingerichtet hat. "Ihr schickt uns Kampfjets, die Muslime bombardieren", heißt es in einem aktuellen IS-Propagandavideo. "Wir schicken Kämpfer, die Euch abschlachten werden."
Von Jürgen Stryjak
Die Terrormiliz Islamischer Staat hat militärisch inzwischen deutlich an Boden verloren, vor allem im Irak. Nach Einschätzung von Experten wird die Gruppierung zunehmend unattraktiv. Die Erfolge könnten aber nur von Dauer sein, wenn es gelinge, dem Extremismus die Grundlagen zu entziehen.
"2016-02-02T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:41.121000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/is-nur-militaerisch-geschwaecht-der-naehrboden-ist-noch-100.html
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Wolf und Mahler
Freunde und Rivalen: Gustav Mahler und Hugo Wolf (linkes Bild: imago / Arkivi, rechtes Bild: imago / United Archives International) Auch in kompositorischer Hinsicht gingen beide unterschiedliche Wege: Wolf setzte sich intensiv und fast ausschließlich mit der Gattung Kunstlied auseinander. Mahler schrieb zwar auch einige Lieder, legte seinen Schwerpunkt jedoch eindeutig auf die sinfonische Musik. In ihrem Konzert am 18. September 2015 beim Bonner Beethovenfest brachten Bariton Roman Trekel und der Diigent Iván Fischer beide Komponisten zusammen. Hugo WolfOrchesterlieder nach Texten von Goethe und Mörike Gustav Mahler"Schattenhaft" und "Nachtmusik II" aus der Sinfonie Nr. 7 in e-Moll Roman Trekel, BaritonBudapest Festival OrchestraLeitung: Iván Fischer Aufnahme vom 18. September 2015 in der Beethovenhalle Bonn
Am Mikrofon: Klaus Gehrke
Sie sind nicht nur im gleichen Jahr geboren, sondern haben auch zusammen studiert: die Komponisten Hugo Wolf und Gustav Mahler. Doch während Wolf sich mehr schlecht als recht als Musikkritiker über Wasser hielt, avancierte Mahler zum gefeierten Dirigenten und Wiener Hofoperndirektor.
"2016-09-14T22:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:12.365000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beethovenfest-bonn-2015-wolf-und-mahler-100.html
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Erhaltungszucht schützt Arten, nicht Individuen
"Das Töten von Tieren zur Erhaltung der Population ist ja ein in unserer Gesellschaft akzeptiertes Vorgehen, zum Beispiel bei der Jagd. Und auch in Haltungsbedingungen wie in zoologischen Gärten ist es das letzte Mittel der Wahl", sagt Theo Pagel, Direktor des Kölner Zoos und Präsident des Verbandes deutscher Zoodirektoren. Dazu käme es aber nur in Einzelfällen. "Wir hängen ja auch an unseren Tieren hier im Zoo. Das heißt, das ist eine Entscheidung, die man sich nicht leicht macht." Gefällt wird sie mitunter, wenn ein Tier sich nicht fortpflanzen soll, weil es seinen Artgenossen im Zoo genetisch zu ähnlich ist. Das betreffende Tier zu sterilisieren oder kastrieren, löst das Problem nicht unbedingt. "Man muss sich dann sehr genau darüber im Klaren sein, dass so ein kastriertes Tier womöglich einen Platz besetzt, den ich nur begrenzt habe, wo ich möglicherweise ein Tier, das züchten soll und züchten muss, hinsetze." Nicht bei allen Arten können die Tiere außerdem beliebig zusammengesetzt werden. Böcke der Impala-Antilopen etwa bekämpfen sich im Zoo wie in der Natur bis auf den Tod. Überzählige Männchen im Einzelfall zu töten und an Raubtiere zu verfüttern sei unter diesen Umständen ein vernünftiges Vorgehen, betont Theo Pagel. Eine öffentliche Schlachtung wie in Kopenhagen lehnt er aber ab. Auch in anderen Zoos ist der Platz oft begrenzt. Für etwa 350 bedrohte Arten gibt es in Europa außerdem internationale Zuchtprogramme, nach denen nur bestimmte Zoos als Abnehmer für überzählige Tiere in Frage kommen. Tiergärten scheiden bisweilen auch darum als neue Heimat aus, weil sie nicht Mitglieder des "Europäischen Aquarien- und Zoo-Verbands", kurz EAZA, oder des weltweiten Verbands WAZA sind. "Das Wichtige ist ja, dass alle, die solche Tiere haben, bedrohte Arten, dann auch den gleichen Regeln folgen. Und deshalb tut man sich schwer, die außerhalb des Verbandes weiterzugeben." Neben Standards für eine artgerechte Haltung ist ein weiterer Grund dafür ... "... dass man Angst hat, dass dann irgendwann über vier, fünf Schritte sozusagen ein Tier wieder zurückkommt als sogenanntes blutsfremdes Tier. Alle freuen sich, und am Ende ist es doch eins, was aus der Linie schon kommt." Der Kölner Zoo bemüht sich dennoch, mit möglichst vielen Parks zusammenzuarbeiten, bei Reptilien und Amphibien mitunter sogar mit erfahrenen Privathaltern. Neben den alltäglich verfütterten Mäusen und Meerschweinchen, müssen im Kölner Zoo jährlich bis zu zehn unvermittelbare Tiere getötet werden. Darunter waren schon Antilopen und Bisons. Doch gleich ob Wildrind, Maus oder Gorilla: Für alle Tiere gelten prinzipiell dieselben Maßstäbe. "Was das Töten von Tieren zum Populations-Management anbelangt, waren wir erfreulicher Weise nie in der Notsituation, das bei solch charismatischen Tieren zu tun wie Menschenaffen, Primaten überhaupt. Rein theoretisch wäre das denkbar." Durch getrennte Unterbringung, Empfängnisverhütung per Pille und mit Hormonimplantaten versuchen Zoos von vornherein zu verhindern, dass genetisch unerwünschte oder überzählige Tiere gezeugt werden. Ganz ausschließen lässt es sich aber nicht. Pagel: "Wir haben ja aber selber so einen Fall gehabt, wo ein Tigerkater mit nicht mal anderthalb Jahren, also viel, viel, viel zu jung nach Literatur und Erfahrungen seine eigene Mutter erfolgreich gedeckt hat. Das heißt, ich hab jetzt drei Tigerjunge, die nicht erwünscht sind. Wir haben gesagt, wir werden diese Tiere nicht einschläfern." Deutscher Tierschutzbund kritisiert Zuchtpraktiken Die Tiger sollen artgerecht in einem anderen Tierpark untergebracht werden. Nicht zur Züchtung, aber als Botschafter ihrer Art. Der Deutsche Tierschutzbund lehnt Tierhaltung im Zoo nicht generell ab, kritisiert aber die Zuchtpraktiken. Dahinter stünden nicht Wissenschaft oder Artenschutz. Vielmehr würden die Zoo-Populationen falsch gemanagt und zu wenig Geld in den Ausbau von Gehegen gesteckt. Töten zwecks Bestandskontrolle verstoße gegen das Tierschutzgesetz und sei darüber hinaus ethisch unverantwortlich. Theo Pagel räumt ein Dilemma ein. "Wir sind auch Tierschützer, das gehört zu meinem täglichen Beruf. Ich muss alle Tiere hier im Zoo tierschutzgerecht halten, und das ist auch unser eigener Anspruch." Übergeordnet steht für ihn aber der Schutz der gesamten Spezies. "Und wenn ich da nur immer an das einzelne Tier denke, könnte es durchaus sein, dass man eben eine Art langfristig nicht erhalten kann." Wenn die Population ausstirbt, sind auch die Einzeltiere weg, sagt Lydia Kolter. Sie ist Kuratorin im Kölner Zoo und betreut von dort aus die Europäischen Zuchtprogramme für Przewalski-Pferde und mehrere Bärenarten. Das bedeute auf der anderen Seite nicht, dass Einzelschicksale keine Rolle spielten. Zur Not werde die koordinierte Zucht einer Art vorübergehend ganz gestoppt, wie etwa bei den asiatischen Malaien-Bären, sagt sie mit Blick auf die Tiergehege. "Ich hab hier zwei junge Weibchen sitzen, mit denen ich jetzt erstmal nicht züchte, solange ich nicht sagen kann – Bären werden sehr, sehr alt – da kann ich in den nächsten Jahren freie Plätze erwarten. Es ist nie so, auch wenn das manchmal so dargestellt wird, dass wir Tiere einfach nur leichtfertig züchten, um am Ende der Saison die Tiere wieder zu schlachten. So ist es nicht."
Von Lennart Pyritz
Im Februar wurde im Zoo von Kopenhagen das gesunde Giraffenkalb Marius getötet. Es starb, weil es den anderen Giraffen des europäischen Zuchtprogramms genetisch zu ähnlich war - Inzucht sollte vermieden werden. Immer wieder müssen Zoos zwischen dem Wohl einzelner Tiere und dem der Art abwägen.
"2014-03-10T16:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:07.352000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tiere-toeten-im-zoo-erhaltungszucht-schuetzt-arten-nicht-100.html
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Viele Wähler noch unentschlossen
Die möglichen Koalitionsmodelle werden von den Bundesbürgern noch unterschiedlich bewertet (picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm) Zeitlich liegen die neuen Wahltrends nicht schlecht. Geben sie doch die Wählerstimmung unmittelbar vor den Kanzlerduell zu Protokoll. Und dabei fällt auf, dass beiden Kandidaten, also Bundeskanzlerin Angele Merkel (CDU) und ihr Herausforderer Martin Schulz SPD im direkten Vergleich an Zuspruch verloren haben. Angela Merkel würden jetzt nur noch 49 Prozent der Bundesbürger direkt zur Kanzlerin wählen, das sind drei Prozentpunkte weniger als in der letzten Umfrage und insgesamt deutlich weniger als Mitte Juli, als noch 57 der Bundesbürger direkt für sie gestimmt hätten. Auch Martin Schulz verliert vier Prozent Punkte an Zuspruch und würde derzeit nur noch von 26 Prozent der Bundesbürger direkt ins Kanzleramt gewählt werden. Die Deutschen sehen Merkel als Gewinnerin des Duells Mit Blick auf das Fernsehduell am kommenden Sonntag erwarten knapp zwei Drittel der Befragten, dass die Kanzlerin als potentielle Siegerin des direkten Schlagabtauschs hervorgehen. Nur 17 Prozent rechnen damit dass Martin Schulz die bessere Figur abgibt. Im Live-Interview mit der Bild Zeitung gab Martin Schulz sich im Blick auf die hohe Zahl der unentschlossenen Wähler optimistisch: "Aber immer noch 46 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind nicht entschieden. Deshalb glaube ich, dass man die Wahl noch drehen kann." Und der SPD Kanzlerkandidat gab auch zur Protokoll, dass er keine Angst vor dem Duell hat, sondern sind auf die Konfrontation freut: "Ich bin da nicht nervös. Auf keinen Fall. Die Wählerinnen und Wähler legen da eine große Aufmerksamkeit drauf. Das wird zum ersten Mal und leider auch zum einzigen Mal so sein, dass die derzeitige Bundeskanzlerin und ich aufeinander treffen. Angele Merkel weicht dem ja auch, hat ja auch versucht, das Bedingungen zu diktieren oder diktieren zu lassen die eher für sie günstig sind . Aber ich bin da nicht nervös." Koalition-Konstellationen noch offen Irritieren dürfte den SPD Vorsitzenden jedoch schon, dass selbst 48 Prozent der SPD-Anhänger davon ausgehen, dass Angela Merkel aus dem Duell als Siegerin hervorgehen wird, während das für Martin Schulz nur 35 Prozent erwarten. Aus keinem Parteilager gibt es die Erwartung, dass Martin Schulz das Duell gewinnen wird. Insofern gibt es da noch viel Aufholpotential für den Kanzlerkandidaten der SPD. Mit großer Sicherheit werden im 19. Deutschen Bundestag sechs Parteien vertreten sein. Aber die möglichen Koalitionsmodelle werden von den Bundesbürgern noch recht unterschiedlich bewertet. Kein Koalitionsmodell findet wirklich großen Zuspruch. Am besten schneidet derzeit noch die Fortsetzung der Großen Koalition ab, dicht gefolgt von einem schwarz-gelben Bündnis. Den dritten Platz nimmt mit deutlichem Abstand ein schwarz-grünes Bündnis ein. Jedoch hat gegenüber der letzten Umfrage im April das Votum für ein schwarzgelbes Bündnis deutlich zugelegt, während die Große Koalition im gleichen Maße Einbußen hinnehmen musste. Unterschiedliche Umfrage-Ergebnisse Allein für eine bundespolitische Zweierkoalition reicht es im Moment nur bei einer Fortsetzung der Großen Koalition. Union und SPD sacken in den Umfragewarten weiter ab und kommen jetzt auf 37 respektive 23 Prozent. Die AfD liegt mit 11 Prozent auf dem dritten Platz. Linke, Grüne und die FDP verharren bei neun und acht Prozent, wobei bei den kleineren Parteien nur die FDP einen Prozentpunkt abgeben musste. Doch wie unterschiedlich die Umfragen in diesen Tagen ausfallen können zeigt der Blick auf das ZDF-Politbarometer. Nach diesen Umfrage wird die FDP drittstärkste Partei, und das könnte am Ende sogar für ein schwarz-gelbes Bündnis reichen. Diese Unterschiede in den Umfragen sind wohl ein Hinweis darauf, dass viele Wähler noch nicht endgültig entschieden haben, wem sie ihre Stimme geben werden.
Von Volker Finthammer
Was wäre, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre? Dann würde Angela Merkel erneut Bundeskanzlerin und sechs Parteien sicher in den Bundestag einziehen. So sagen es zumindest die verschiedenen Wahltrends voraus. Doch welche Koalition sie bevorzugen, ist noch nicht eindeutig - denn viele Wähler sind noch unentschlossen.
"2017-09-01T12:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:49.862000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-kanzler-duell-viele-waehler-noch-unentschlossen-100.html
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Die Krisen im Kino erzählen
Auch die Ausweglosigkeit der Jugend im Land beleuchten griechische Filmemacher zurzeit in ihren Filmen. (AFP / LOUISA GOULIAMAKI) Ektoras und Fani sind ein Paar. Im Film "Love, Love, Love" des griechischen Regisseurs Kostas Zappas verstricken sich die beiden Teenager immer tiefer in ein Geflecht von Demütigungen und sexueller Gewalt. Schließlich wird Fani im Hinterzimmer eines heruntergekommenen Athener Clubs von Ektoras und seinen Freunden vergewaltigt. Als ihre Peiniger schließlich von ihr ablassen, entdeckt sie, dass ihre Mutter dort als Stripperin arbeitet. "Eine Art Ikonografie der Ausweglosigkeit dieser Generation" Die Protagonisten des Athener Regisseurs sind brutal, ihre Bewegungen und Sprache exzessiv: eine Provokation für das Publikum. Dass sich der Zuschauer am Ende des Films trotzdem in ihnen wiederfindet, erklärt Produzent Griogori Athanasiou mit der besonderen Ästhetik des Regisseurs: "Das hängt mit der Technik von Zappas zusammen. Er bringt die Charaktere bis zu einem Punkt, an dem es nicht weitergeht. Er sagt, dass das Kino etwas Einfaches nimmt und in etwas Episches transformiert. Das ist eigentlich eine Art Ikonografie der Ausweglosigkeit dieser Generation. Der junge Schauspieler ist erst 18 Jahre alt. Gerade für die Generation der 16 bis 19-Jährigen gibt es keine Zukunft." Die Auswirkungen von Globalisierung und Perspektivlosigkeit im Film Mit seinem Film beweist Kostas Zappas einmal mehr, dass er heute zu den radikalsten Regisseuren des neuen, griechischen Kinos gehört. Seine Ästhetik der Selbstzerstörung erinnert stark an die Bildsprache der Dogma-Schule von Lars von Trier, mit dem Zappas bereits zusammengearbeitet hat. Doch sein Film ist nur einer von 56 griechischen Beiträgen, die derzeit auf dem diesjährigen Filmfestival in Thessaloniki zu sehen sind. Viele befassen sich mit der Krise im eigenen Land, reflektieren die Auswirkungen von Globalisierung, sozialer Verelendung und Perspektivlosigkeit, erklärt Sotiris Dounoukos. Sein Film "Joe Cinques Consolation" läuft in der Rubrik "Griechen der Diaspora". Dounoukos ist als Kind griechischer Eltern in Australien und noch mit den Filmen aus einer anderen Zeit aufgewachsen. "Einer meiner Professoren hat mir im Alter von etwa 19 Jahren die Filme von Theo Angelopoulos gezeigt. Sie haben mich sofort berührt, weil sie so anders waren als die Filme, mit denen ich aufgewachsen bin. Es gibt eine Leidenschaft, eine gewisse Härte, diese Art, Gefühle zum Kern ihrer Arbeiten zu machen. Der griechische Film heute ist anders, heute sind Gefühl weniger wichtig als die Form und eine manchmal etwas übertriebene Darstellung." Der Welt die Vielseitigkeit des griechischen Kinos näherbringen Orestis Andreadakis, neuer künstlerischer Leiter des Festivals, hat es zu seiner Mission erklärt, der Welt die Vielseitigkeit des griechischen Kinos näherzubringen. Trotz der Krise würden griechische Filme in Locarno oder Toronto prämiert, erklärt Andreadakis. Und trotz aller Alltagsprobleme wachse in Griechenland das Interesse des Publikums an hochwertigen Filmen stetig. "In dieser sehr schwierigen Situation schaffen griechische Künstler interessante Dinge. Dabei beschäftigen sie sich mit all den Problemen, die auch andere Künstler in Europa bewegen. Sie setzen sich mit ihrer Realität auseinander: mit Liebe, Immigration, Trennung, Leben, Tod und Familie. Alles, worüber sich Künstler seit Anbeginn der Zeiten Gedanken machen, seit Aristoteles, Aischylos und so weiter. Auch das Publikum heute verlangt nach wahrer Kunst und nicht nach oberflächlicher Unterhaltung." Das Filmfestival in Thessaloniki zeigt, dass die derzeitigen Probleme des Landes seine Filmschaffenden mitnichten zu einer Randerscheinung des europäischen Kinos gemacht haben. Vielmehr offerieren die dem europäischen Publikum griechische Sichtweisen auf eine Gegenwart, in der Landesgrenzen kaum noch eine Rolle spielen.
Von Florian Schmitz
Das griechische Kino erlebt zurzeit eine regelrechte Renaissance. Im Film werden die Auswirkungen von Wirtschafts-, Staats- und Flüchtlingskrise erlebbar gemacht. Deshalb steht beim 57. Internationalen Filmfestival in Thessaloniki auch nicht der Glamour, sondern die Kunst der griechischen Cineasten im Vordergrund.
"2016-11-07T17:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:08.320000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/internationales-filmfestival-thessaloniki-die-krisen-im-100.html
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Erfolg durch Engagement und Sanktionen
Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. (Imago / Stefan Zeitz) Thielko Grieß: Das Palais Coburg ist eines der vornehmeren Hotels in Wien, gelegen im Ersten Bezirk. Dort sitzen seit 17 Tagen die Verhandlungsführer des Iran und der sechs übrigen beteiligten Staaten beieinander. Sie alle verhandeln praktisch ununterbrochen über ein Abkommen, das die Zukunft des Atomprogramms des Irans regeln soll. Verhandlungen, die heute zu einem Fahrplan geführt haben, so heißt es in Wien. Die Außenminister treffen sich zurzeit zu einem womöglich letzten Gespräch. Danach ist eine Pressekonferenz angesetzt. Seit Stunden aber gibt es Meldungen aus Diplomatenkreisen, von allen Seiten auch Bestätigungen über dies und jenes.Wir wollen das, was bekannt ist, einordnen und einschätzen, und dazu begrüße ich jetzt Volker Perthes am Telefon, den Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Perthes, guten Tag. Volker Perthes: Schönen guten Tag. Grieß: Wir lesen in Agenturen, im Iran gebe es heute schon Genehmigungen für Straßenfeste in den großen Städten. Das Land bereitet sich also auf Feiern vor. Zurecht? Perthes: Ja, zurecht. Wir haben hier eine zwölfjährige Diplomatiephase gehabt. Wir haben für Iran mehr als zwölf Jahre Sanktionen gehabt. Wir haben verschiedene Präsidenten gehabt im Iran, die mehr oder weniger geschickt versucht haben, diesen Konflikt zu lösen. Und nun scheint es doch so zu sein, als könnte das Projekt von Präsident Rohani durchgesetzt werden, dass Iran sich endlich durch Lösung dieses Konflikts auch der Welt öffnet, und das ist eigentlich, was die Leute feiern. "Wenn Sanktionen fallen, gewinnt man Geld" Grieß: Sie feiern, dass die Sanktionen künftig fallen könnten und damit der Iran ja was, was gewinnen wird? Perthes: Nun ja. Erst mal, wenn Sanktionen fallen, gewinnt man Geld. Es ist viel Geld eingefroren, iranisches in den USA. Man gewinnt den Zugang zum internationalen Finanzmarkt. Das ist ganz wichtig, wenn man verkaufen will oder wenn man Produkte einkaufen will. Man wird Zugang gewinnen, nicht sofort, morgen oder übermorgen, aber mit der Zeit zu internationalen Firmen, die bereit sind, im Iran zu investieren oder Iran kritische Technologie zu verkaufen, etwa um die Offshore-Gasfelder zu explorieren im Persischen Golf. "Dieses Ergebnis ist ein Gewinn für die Nichtproliferation" Grieß: Was hat denn die Gegenseite, was haben die Vetomächte der Vereinten Nationen - Deutschland selbst hat auch mitverhandelt -, was haben diese Verhandlungspartner erreicht? Perthes: Es ist ganz interessant, dass Sie sagen, die Vetomächte plus Deutschland. Deutschland ist der einzige unter den verhandelnden Mächten, der selbst keine Atomwaffen hat und sich selbst klar dazu bekannt hat, dass wir auch keine Atomwaffen haben wollen. Ich würde sagen, dieses Ergebnis ist ein Gewinn für die Nichtproliferation, für den Atomwaffensperrvertrag, weil es zeigt, dass mit viel, viel Diplomatie man letztlich diesen Vertrag stärken kann und hier ein kritischer Staat, nämlich Iran deutlich macht, ja, er verzichtet langfristig auf die Entwicklung eines militärischen nationalen Atomprogramms. "Erfolgsrezept für diese Verhandlungen" Grieß: Ist es auch ein Erfolg der Sanktionspolitik, die ja sehr hart kritisiert worden ist? Perthes: Ich denke, das ist ein Erfolg dieser Politik, die immer zwei Elemente gehabt hat, nämlich Engagement und Sanktionen. Wir haben ja immer Stimmen gehabt, gerade auch in den USA, die gesagt haben, die Sanktionen alleine reichen eigentlich, irgendwann wird Iran zu Kreuze kriechen. Wir haben in Russland und China Stimmen gehabt, die gesagt haben, ach das reicht eigentlich - ich übertreibe jetzt vielleicht ein wenig -, wenn wir nett mit den Iranern reden. Aber letztlich die Einigung darauf, dass man Sanktionen gemeinsam im Sicherheitsrat beschließt - zusätzlich gab es Sanktionen der Europäischen Union und der USA -, dass auch Russland und China und andere sich halten an diese internationalen Sanktionen und gleichzeitig das Engagement nie aufgehört hat, das ist sicherlich das Erfolgsrezept für diese Verhandlungen gewesen. "Iran hat erhebliche Beschränkungen seines Atomprogramms akzeptieren müssen" Grieß: Nun handelt es sich nach diesen langen, langen Verhandlungen, bei denen eine Frist immer wieder verlängert worden ist, ja um einen Kompromiss. Sprechen wir darüber, Herr Perthes, was der Iran bei diesen Verhandlungen für sich nicht erreicht hat. Perthes: Der Iran hat erhebliche Beschränkungen seines Atomprogramms akzeptieren müssen. Er hat strenge Inspektionen, Transparenzmaßnahmen akzeptieren müssen, die in der Form für keinen anderen Staat gelten. Das sind, wenn Sie so wollen, Souveränitätseinschränkungen, die über den Text des vom Iran bereits ratifizierten Atomwaffensperrvertrages hinausgehen, die vielleicht sogar ein Modell sind für weitere kritische Staaten in der Zukunft. Diese Einschränkung von absoluter Souveränität, an die sich Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrages halten sollten, ist für einen so souveränitätsbewussten Staat wie Iran schon ein Problem, und das haben wir immer wieder gesehen, wenn der religiöse Führer gesagt hat, es soll bestimmte Inspektionen doch nicht geben. Der Iran musste auch akzeptieren, dass die Sanktionen nicht innerhalb eines Tages oder innerhalb einer Woche fallen, sondern dass das schrittweise geschehen wird. Zugeständnisse des Westen Grieß: Was sehen Sie auf der Gegenseite, was der Westen nicht erreicht hat, wo er hat Zugeständnisse machen müssen? Perthes: Der Westen hat Zugeständnisse machen müssen gegenüber seinen ursprünglichen Forderungen in der ersten Hälfte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, also zwischen 2003 und 2006. 2006 die Sicherheitsratsforderungen hießen, der Iran müsse sein Atomprogramm vollständig einstellen, es dürfe keine Anreicherung geben im Iran. Darauf hat man verzichten müssen. Iran wird in dieser Hinsicht behandelt wie jedes andere Mitglied des Atomwaffensperrvertrages, hat also das Recht auf ein friedliches Atomprogramm. Das ist hier sicherlich das wesentlichste Zugeständnis, was der Westen gemacht hat, wenn man das vergleicht mit den Ausgangspositionen der Verhandlungen, als auch die USA dazugestoßen sind im Jahre 2006. "Wie wird Iran sich jetzt verhalten in der Region?" Grieß: In den nächsten Wochen und in den nächsten Monaten wird es darum gehen, wie beide Seiten diesen Fahrplan, diese Roadmap, von der heute Mittag die Rede ist, umsetzen. Welche Stolpersteine sehen Sie im Iran selbst? Dort gibt es etliche Hardliner, etliche Konservative, gut vernetzt, mächtige Gruppen, die das Leben dem Präsidenten Rohani schwermachen können. Perthes: Ja. Da hat man das Gefühl, das sei ein Spiegelbild zu den USA, nicht wahr. Es gibt mächtige vernetzte konservative Gruppen, die es dem Präsidenten schwermachen wollen. Es gibt diese Kritik gerade aus dem Parlament. Ich denke aber, es gilt für Iran nicht anders als für die USA, dass das Parlament den Vertrag nicht zu Fall kommen lassen wird. Ich glaube, die entscheidende Frage, worauf auch die Nachbarstaaten Saudi-Arabien und andere schauen, ist: Wie wird Iran sich jetzt verhalten in der Region? Wird es die Chance nutzen zu sagen, wir haben hier einen Vertrauensvorsprung mit den internationalen Mächten, die mit uns verhandelt haben, und wir versuchen, uns auch in anderen regionalen Fragen konstruktiv zu verhalten? Oder wird es sozusagen ein Iran auf Steroiden werden, was von dem eigenen Erfolg so überzeugt ist, dass es den regionalen Nachbarn gegenüber auch die Muskeln zeigt? Grieß: Was glauben Sie, welche Tendenz sehen Sie? Heute Nachmittag, wenn wir Jubelfeiern aus dem Iran sehen werden, dann werden das Bilder sein, die steroid geprägt sind. Perthes: Na ja. Da ist die Frage, wer ist eigentlich auf Stereoiden. Und wenn deutlich wird, dass es die Zivilgesellschaft ist, die vor allem will, dass man aus der internationalen Isolierung herauskommt, dass man sich der Welt gegenüber öffnet, dass der außenpolitischen Öffnung auch eine innenpolitische Öffnung zu folgen hat, dann wird das Präsident Rohani und seine Leute unterstützen. Wenn es eher die Revolutionsgarden und die Hardliner sind, die das feiern und sagen, jetzt haben wir am Verhandlungstisch die USA besiegt, dann ist das ein Zeichen für eine nicht so gute Entwicklung. "Russland und China sind voll involviert gewesen in die Verhandlungen" Grieß: Sehen Sie Widerstände? Wir haben die Vereinigten Staaten angesprochen. Sehen Sie Widerstände bei den anderen Verhandlungspartnern? Gibt es Schwierigkeiten mit Russland, gibt es Schwierigkeiten mit anderen Partnern? Perthes: Nein. Russland und China sind voll involviert gewesen in die Verhandlungen und werden die nicht scheitern lassen. Da müssen auch die Parlamente nicht notwendig zustimmen. Und dass sich Russland und China im Sicherheitsrat gegen eine Aufhebung der Sanktionen stellen würden, das ist einfach nicht vorstellbar. Grieß: ... sagt Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk, zum Fahrplan, wie es weitergeht mit dem iranischen Atomabkommen. Herzlichen Dank, Herr Perthes, heute Mittag für Ihre Zeit. Perthes: Ja, sehr gerne. Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Volker Perthes im Gespräch mit Thielko Grieß
Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, hält es für gerechtfertigt, dass die Menschen im Iran das Atomabkommen feiern. Nach einer zwölfjährigen Diplomatie- und Sanktionsphase könne sich der Iran nun der Welt öffnen, sagte Perthes im DLF.
"2015-07-14T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:47:42.026000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomabkommen-mit-dem-iran-erfolg-durch-engagement-und-100.html
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Ein Aufschwung, der keiner ist
Die Arbeitslosenquote sank nicht, sondern verharrte bei 5,0 Prozent (deutschlandradio.de / Daniela Kurz) Im April sind in den USA mit 160.000 Jobs weniger Stellen entstanden als erwartet. Dies ist der niedrigste Wert in den vergangenen sieben Monaten. Experten hatten mit knapp über 200.000 neuen Jobs gerechnet. Die Notenbank Fed, die Vollbeschäftigung fördern soll, richtet ihr besonderes Augenmerk auf diese Zahlen. Die Währungshüter kommen Mitte Juni zu ihrer nächsten Zinssitzung zusammen. An den Märkten wird die Wahrscheinlichkeit für eine Zinserhöhung jedoch als gering eingeschätzt. Die Arbeitslosenquote sank nicht, sondern verharrte bei 5,0 Prozent. Das hat jedoch einen guten, sogar einen erwünschten Grund: Immer mehr Amerikaner haben die Arbeitssuche wieder aufgenommen, die Nettoerwerbsquote ist im vergangenen Jahr gestiegen. Über die Jahre hatten sich seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise viele Arbeitslose ganz aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen. Diese würden jetzt die Suche wieder aufnehmen, so Diane Swonk von der Consultingfirma DS Economics. "Das war immer die große Kritik an der Arbeitslosenquote: Sie sei geschönt, weil sich viele Menschen aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen hätten. Diese kommen jetzt aber zurück. Die Frage ist, ob sie noch schnell genug vor den Wahlen zurückkommen. Die Entwicklung geht aber in die richtige Richtung." Trump schiebt die Schwierigkeiten auf Freihandelsabkommen Die Stundenlöhne und die Länge der durchschnittlichen Arbeitswoche stiegen ebenfalls – ein gutes Zeichen. Jobs und der Arbeitsmarkt werden auch im Wahlkampf eine große Rolle spielen. Je unzufriedener die Amerikaner mit dem Arbeitsmarkt seien, desto anfälliger würden sie für die großen Versprechen des Rechtspopulisten Donald Trump sein, so eine weitverbreitete Annahme. Er werde der größte Arbeitsplatz-Präsident sein, den Gott je geschaffen habe, so Trump immer wieder. Wie dies genau geschehen soll - da bleibt der Immobilienmilliardär vage. Zwei Schuldige am langsamen Aufschwung am Arbeitsmarkt hat er jedoch ausgemacht: Trump schiebt die Schwierigkeiten im Wesentlichen auf Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko, Nafta, und den defizitären Handel mit China. Immer wieder droht Trump deshalb mit Strafzöllen gegen China . Ökonomen weisen immer wieder darauf hin, dass die USA netto vom Freihandel profitieren. Das Problem ist, dass die Kosten von Freihandel in Form von Arbeitsplatzverlusten stets konzentriert und sichtbar auftreten und deshalb politisch zur Kenntnis genommen werden. Der Nutzen ist breit über die Gesellschaft verteilt in Form von niedrigeren Preise und Arbeitsplätzen in der Exportindustrie. Ein Handelskrieg mit China wäre mit unabsehbaren Gefahren für die amerikanische, aber auch für die Weltwirtschaft verbunden. Und dies würde die Exportnation Deutschland eher früher als später treffen. Ein weiterer Grund, TTIP schnell voranzutreiben, das Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union.
Von Marcus Pindur
Zwar fällt die aktuelle Arbeitslosenquote in den USA relativ niedrig aus, von einem Wirtschaftsboom kann aber keinesfalls die Rede sein. Es wurden auf der einen Seite mehr neue Stellen geschaffen, doch dieser Aufschwung kommt längst nicht überall an.
"2016-05-06T17:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:28:03.870000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niedrige-arbeitslosenquote-in-den-usa-ein-aufschwung-der-100.html
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"Europa blockiert sich selbst"
Der Schriftsteller Navid Kermani sagte im DLF, im Moment gehe es darum, alle Kraft daran zu setzen, damit die EU überlebe. (picture alliance / dpa) Die Gründerväter der Europäischen Union hätten Visionen gehabt und über Europa hinaus gedacht, sagte Kermani im Deutschlandfunk. Auch heute brauche es einen wirklichen Aufbruch. Derzeit funktioniere EU auf vielen Gebieten nicht. Als Beispiel nannte er die Flüchtlings-, die Außen- und Sicherheitspolitik. Es gebe zwar eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Karmani prangerte auch nationalstaatliche Egoismen an. Europa werde funktionsuntüchtig gemacht, indem sich Mitgliedsländer gegenseitig blockierten. Die EU-Staats- und Regierungschefs feiern heute in Rom die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Mit ihnen wurde vor 60 Jahren der Grundstein für die Europäische Union gelegt. Das Interview in voller Länge: Stephanie Rohde: Heute will Europa sich feiern. Es gibt nur einen Haken: Kaum jemand scheint in Feierlaune zu sein. Europa befindet sich in einer schweren Krise, auch wegen des Brexit und des weiterhin starken Rechtspopulismus in vielen Ländern. Trotzdem wollen die Staats- und Regierungschefs ein Signal für einen neuen Aufbruch senden aus Rom, also der Stadt, wo vor genau 60 Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet wurden. Und die Vision in der Gipfelerklärung, die klingt so: "In den kommenden zehn Jahren wollen wir eine Union, die sicher geschützt, prosperierend, wettbewerbsfähig und nachhaltig und sozial verantwortlich ist." Reicht das, und braucht Europa überhaupt eine Vision? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Schriftsteller Navid Kermani. Er ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und für Reportagereisen öfter an den Rändern Europas unterwegs. Guten Morgen! Navid Kermani: Guten Morgen! Rohde: Prosperierend wettbewerbsfähig und sicher geschützt. Ist das die Vision, die Sie für Europa haben? Kermani: Also erstens mal, bloße Worte helfen ja nicht. Die Frage ist ja, wie will man das machen. Und da sehe ich im Augenblick wenig Ansätze, denn Europa blockiert sich ja selbst dadurch, dass es institutionell so ausgestattet ist, dass diejenigen, die vorangehen, von denjenigen abgehalten werden, die nicht vorangehen wollen. Also es gibt hier eine Blockade, und solange die nicht aufgelöst ist, bleiben diese Worte nur Worte und werden nicht Wirklichkeit. "Wirklich auch die Weichen so stellt, dass Europa wieder funktionieren kann" Rohde: Und was glauben Sie, wie könnte man diese Blockade lösen? Kermani: Indem man einen wirklichen Aufbruch macht, dass die Länder, die wirklich wollen, ein Europa schaffen, eine Zusammenarbeit eingehen, die wirklich funktioniert. Denn wir sehen doch, dass Europa auf vielen Gebieten nicht funktioniert, weder in der Flüchtlingspolitik, noch in der Außenpolitik noch in der Sicherheitspolitik. In der Wirtschaftspolitik schon gar nicht, denn wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Auch keine Art von sagen wir Länderfinanzausgleich, was ja auch notwendig ist, um die großen sozialen Differenzen innerhalb Europas abzubauen. Also all das haben wir nicht. Und hier müsste man den Mut haben, dass man wirklich auch die Weichen so stellt, dass Europa wieder funktionieren kann, und dann glaube ich, dass diejenigen Länder, diejenigen Gesellschaften vor allem, es geht ja nicht um die Regierungen, die sehen, dass Europa funktionieren kann, das wieder so attraktiv finden, dass sie sich anschließen werden. "Europa muss sich stärker als bisher demokratisch legitimieren" Rohde: Sie haben mal angemerkt, wenn das Volk mitbestimmt hätte, dann wären die Römischen Verträge gar nicht unterzeichnet worden. Und dann haben Sie darauf hingewiesen, dass es Politikerinnen und Politiker braucht, die sich über den Zeitgeist hinwegsetzen, also die diesen Mut haben, von dem Sie da gerade gesprochen haben. Wer ist das heute, wer hat diesen Mut? Kermani: Ich möchte da nicht über einzelne Politiker sprechen. Ich möchte eher über eine Generation sprechen, der ich ja auch angehöre, die den Schrecken des Krieges nicht mehr erlebt hat, also diesen existenziellen Daseinsgrund Europas, diese Notwendigkeit Europas nicht mehr geografisch erfahren hat und entsprechend zu Europa ein instrumentelles Verhältnis hat. Man sieht den Nutzen, und solange der da ist, ist man auch für Europa, aber solange etwa – und das zeigt sich ja in England teilweise in den Midlands oder in Südeuropa bei Jugendarbeitslosigkeiten von bis zu 50 Prozent – solange man diesen Nutzen nicht mehr sieht, wendet man sich von Europa ab. Das ist keine Kritik an einzelnen Politikern. Aber weil Sie auf dieses Zitat hingewiesen haben von mir – natürlich braucht Europa wie jede Art von Institution eine demokratische Legitimation. Nur, was man von Politikern erwarten kann, ist, dass sie nicht nach Umfragen schielen, vielleicht sogar auch Wahlverluste in Kauf nehmen. Aber natürlich muss diese Legitimation eingeholte werden, so wie Europa seine Legitimation bei den Bürgern durch seinen Erfolg, durch seinen durchschlagenden Erfolg eingeholt hat, so wie der Kniefall von Willy Brandt, der war damals auch nicht von der Mehrheit gutgeheißen worden, aber man hat gesehen, was er bewirkt hat, welche versöhnende Kraft davon ausgegangen ist. Und er hat die Menschen dann überzeugt. Und genauso ist es mit Europa. Wenn wir warten, bis auch der Letzte davon überzeugt ist, dann wird Europa niemals überzeugen. Aber natürlich muss Europa sich stärker als bisher demokratisch legitimieren. Es darf nicht mehr Angst haben vor Volksabstimmungen. Diese Volksabstimmungen müssen gewonnen werden können. Rohde: Trotzdem gibt es ja das Problem, dass die Mehrheit der Bürger der Europa gegen eine weitere Integration ist, also politisch wie ökonomisch – Kermani: Wer sagt das denn? Ich glaube, die Mehrheit der Bürger, jedenfalls in vielen europäischen Staaten, wäre für ein funktionierendes Europa, das nicht über alles bestimmt, aber das, was es bestimmen soll, auch bestimmen kann. Ich glaube, ein solches Europa hätte durchaus Möglichkeiten, Mehrheiten zu gewinnen, also jedenfalls mal in den Gründerstaaten der Europäischen Union, also in den Staaten, die die Römischen Verträge unterschrieben haben. "Wenn man Europa nur reduziert auf den pragmatischen Nutzen, dann steht man nackt da" Rohde: Ich wollte trotzdem noch mal drauf eingehen: Reicht es nicht aus, dass man auf den wirtschaftlichen Erfolg setzt? Weil wir sehen ja gerade, dass Europa relativ überraschend jetzt eine wirtschaftliche Renaissance erfährt. Die Wirtschaft wächst, die Staatsdefizite gehen teilweise zurück, die Arbeitslosenquote sinkt. Wäre es da nicht pragmatischer, zu sagen, wir erzählen den Leuten vom wirtschaftlichen Erfolg dieser Union? Kermani: Nein. Das Geheimnis des europäischen Erfolgs war immer beides. Dass man konkret wirtschaftlich dachte, etwa mit Blick auf die Montanunion, also die Kohle- und Stahlindustrie zu verzahnen, aber zugleich immer auch das große Ziel vor Augen hatte. Wenn Sie die Gründerväter der Europäischen Union, wenn Sie deren Biografien, deren Schriften, deren Konferenzprotokolle studieren, werden Sie sehen, das waren Leute, die genau das hatten, was heute so verpönt ist, nämlich Visionen. Die haben an die – Jean Monnet hat an Afrika gedacht, er hat über Europa hinausgedacht, er hat an die Vision einer gerechteren Welt gedacht, aber konkret an die nächsten Tage auch gedacht. Und dieses beides gehört zusammen. Natürlich muss man pragmatisch auch drauf hinweisen, was es bedeutet praktisch, wenn Europa in Nationalstaaten zurückfällt, welche wirtschaftliche Risiken damit verbunden wären, wie man sich behaupten wollte in dieser Welt. Aber zugleich, um, ohne diesen humanen Kern, der Menschen immer noch begeistert, die Gleichheit der Menschen, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft Teilhabe haben am Gemeinwesen, also diesen Kern, den es ja schon im 19. Jahrhundert gab, dieser Kern ist immer noch etwas, was Menschen begeistern kann, und ich glaube, dass beides zusammengehört und wir nur in den letzten Jahren – also wenn man Europa nur reduziert auf den pragmatischen Nutzen, dann steht man nackt da, wenn die Rechnung nicht mehr stimmt. Uns geht es besser, das stimmt, den Deutschen, aufgrund Europas. Aber es gibt eben auch viele Gesellschaften, die diesen Nutzen in den letzten Jahren nicht mehr erfahren haben und sich entsprechend von Europa abwenden. Rohde: Sie haben vorhin Jean Monnet erwähnt, den Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen, und der hat am Anfang argumentiert: "Unsere Länder sind zu klein geworden für die gegenwärtige Welt." Und ich frage mich, ist es nicht jetzt gerade andersherum, als dass die Länder Europas gerade immer größer werden und die EU immer kleiner? Kermani: Er hat ja damals darauf hingewiesen, dass man allein diese Probleme nicht bewältigen kann, und das ist ja aktueller denn je. Die Länder blasen sich nur auf. Sie meinen, dass sie alleine einen Syrien-Konflikt bewältigen können oder einen Ukraine-Konflikt. Sie meinen, dass sie alleine die Flüchtlingskrise bewältigen können oder global sich gegen andere Mächte behaupten können. Faktisch ist es ja nicht so. Das heißt, Europa wird funktionsuntüchtig gemacht, indem sich Nationalstaaten gegenseitig blockieren, und dann beklagt man sich über Europa, dass es nicht funktioniert. Und wir müssen aus dieser Blockade, aus dieser selbst verursachten Blockade herauskommen, damit Europa auch wieder funktionieren kann. Es geht ja nicht darum, dass man die Staaten abschafft. Und schon gar nicht geht es darum, dass man die Kulturen abschafft. Europa lebt ja von seiner Verschiedenheit, aber es gibt eben Dinge, die wir nicht einzeln bewältigen können und wo wir zusammenarbeiten müssen. Und es gibt auch Werte, die wir gemeinsam haben. Es ist ja nicht so, dass diese großen Werte, über die wir reden, dass die nationaler Art sein müssen. Keiner dieser Werte, Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung und so weiter, und so fort ist national. Sie sind universal. Und dafür steht das europäische Projekt. Sie sind auch nicht national herzuholen. "Was mich wirklich aufbringt, ist, dass wir so eine Art von linkem Nationalismus haben" Rohde: Na ja, gut, aber es gibt ja Gruppierungen in vielen Ländern, die eben auf dieses Nationale abgehen und diese Blockade dann auch forcieren. Und da reden wir jetzt ja über den aufkeimenden Populismus. Es gibt jetzt Linksintellektuelle wie die Belgierin Chantal Mouffe beispielsweise, die findet Populismus, vereinfacht gesagt, prinzipiell positiv, weil es eine Wiederaneignung des Politischen sei. Und sie fordert, dass eben auch auf der linken Seite einen linken Populismus gibt als Antwort auf den rechten. Halten Sie das für sinnvoll? Kermani: Das Wort Populismus muss man also definieren, damit es auch passt, dann ist es wieder okay. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Menschen, die vorher nicht gewählt haben, auch wieder zu den Wahlurnen kommen. Ich finde es auch prinzipiell nicht vollkommen falsch, dass Sie sagen, wenn in Deutschland eine Partei gibt rechts der CDU – also da gibt es natürlich Wählermilieus, die auch sich demokratisch abbilden müssen. Die Frage ist doch nur, was meinen wir? Und was mich wirklich aufbringt, ist, dass wir so eine Art von linkem Nationalismus haben. Die Linke war ja eigentlich immer international, immer proeuropäisch. Und plötzlich sehen wir, dass nicht nur die Rechten nationalistisch werden, sondern wir auch auf der Linken die Rückkehr des Nationalismus beobachten, in Südeuropa vor allem. Denken Sie an die Linkenbewegung dort, in Spanien etwa, wo Podemos mit dem Slogan auch auftritt "Spanien zuerst". In Griechenland das Bündnis zwischen Syriza und den Rechtspopulisten, wenn man sie überhaupt noch so nennen mag. Das sind ja keine Zufälle, wie sich links und rechts plötzlich da vereinen oder gemeinsame Wege gehen. Und ich wünsche mir eigentlich, dass man von der linken Seite Europa zwar kritisiert, aber nicht, um es abzuschaffen, nicht, um zurückzukehren in einen Nationalismus, sondern für ein besseres, stärkeres Europa zu streiten, ein Europa, das solidarisch und vor allem auch demokratisch legitimiert ist. "Im Augenblick geht es darum, alle Kraft daranzusetzen, damit die EU überhaupt überlebt" Rohde: Ich würde mit Ihnen ganz kurz noch eine Zeitreise unternehmen wollen. Das haben Sie vor einiger Zeit auch mal gemacht in einem kurzen Aufsatz. Da sind Sie ins Jahr 2032 gegangen, also zum 75. Jubiläum der Römischen Verträge, und Sie haben von einer EU geschrieben, in der eine schwarze Außenministerin die EU lenkt. Wenn man das jetzt noch mal machen würde, unter dem Eindruck auch des Brexit, wie sieht Ihre Vision für 2032 aus? Gibt es Europa dann überhaupt noch in der Form? Kermani: Die Frage ist erst mal, ob wir überhaupt 2018 erreichen. Also im Augenblick – Rohde: Als EU meinen Sie? Kermani: Gut, als EU wird es sie geben, aber man muss sich ja nur ausmalen, dass in Frankreich es eine Wahlsiegerin Marine Le Pen gäbe oder gibt. Das ist nicht wahrscheinlich, aber es ist auch überhaupt nicht ausgeschlossen. Dann ist die EU in ihrer bestehenden Form zu Ende. Das muss man sich klar machen. Da wird kein Weg dran vorbei führen. Ob es dann noch etwas gibt, was EU heißt, auf ein paar Jahre, das mag sein. Aber sie wird faktisch aufhören zu existieren. Also im Augenblick geht es darum, alle Kraft daranzusetzen, damit die EU überhaupt überlebt, damit dann vielleicht eine neue Generation oder neue Politiker – da deutet sich ja auch schon einiges an etwa in Frankreich –, neue Politiker auch wieder die Kraft haben, die EU für die nächste Generation reif zu machen. Rohde: Das heißt, Sie wagen aber gar nicht, 2032 zu denken für Europa? Kermani: Also im Augenblick habe ich da so viele Sorgen und Befürchtungen, dass ich wirklich schon froh wäre, wenn wir diese Welle des Populismus und des Nationalismus überstehen würden. Aber natürlich werden wir sie nicht überstehen durch Ängstlichkeit, indem wir einfach nur zurückgehen und zurückweichen, sondern wir werden sie nur überstehen, indem wir auch selbst mit Mut – sage ich "wir", ich weiß ja gar nicht, ob alle Hörer meiner Meinung sind, aber jedenfalls diejenigen, die für Europa sind, mit Mut und auch mit Entschlossenheit für ein stärkeres Europa kämpfen und aufzeigen, wie wertvoll dieses Projekt ist, das wir von unseren Eltern geerbt haben. Rohde: Sagt der Schriftsteller Navid Kermani. Vielen Dank für das Gespräch! Kermani: Bitte schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Navid Kermani im Gespräch mit Stephanie Rohde
Navid Kermani, Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat einen Neuanfang für Europa gefordert. Im Moment blockiere sich Europa selbst, sagte er im DLF. Er habe starke Zweifel, ob die EU das Jahr 2018 überstehe. Sollte Marine Le Pen die Wahlen in Frankreich gewinnen, sei die EU "in ihrer bestehenden Form zu Ende".
"2017-03-25T08:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:20:36.386000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/navid-kermani-europa-blockiert-sich-selbst-100.html
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Warum bekam Beckenbauer Geld von der FIFA?
Franz Beckenbauer soll Geld von der FIFA erhalten haben. (AFP) Ende 2004 bekam Südafrika den Zuschlag für das Turnier, hatte danach aber offenbar kein Geld, seine Rechnungen zu bezahlen. Deshalb bat das Land nach Informationen der BILD-Zeitung die FIFA um Hilfe. So steht es in den Ermittlungsakten der Schweizer Bundesanwaltschaft, die der Zeitung vorliegen. Das Geld kam von der FIFA Sie zitieren Aussagen des früheren Finanzchefs der FIFA, Markus Kattner – selbst im Mai 2016 vom Fußball-Weltverband entlassen. Demnach überwies die FIFA den Anteil Beckenbauers auf das Konto einer Firma im Steuerparadies Gibraltar. Das hätte sie aber nicht tun dürfen: Die Fifa-Statuten verbieten es, Bewerbungskosten zu erstatten. Weder die FIFA noch Franz Beckenbauer haben sich bislang zu den Vorwürfen geäußert.
Von Carsten Upadek
Neue Vorwürfe wegen dubioser Zahlungen gegen Franz Beckenbauer: er und zwei Vertraute sollen im Jahr 2005 insgesamt 1,7 Millionen Euro von der FIFA überwiesen bekommen haben, weil sie Südafrika bei der Bewerbung um die WM 2010 beraten hatten.
"2017-02-20T22:52:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:03.037000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dubiose-zahlung-warum-bekam-beckenbauer-geld-von-der-fifa-100.html
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Staatsrechtler klagt gegen Flüchtlingspolitik
Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider mit dem thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke: Auch im Auftrag der AfD hat Schachtschneider bereits ein Rechtsgutachten erstellt. (dpa/picture alliance/Martin Schutt) Rund 500 Menschen waren gekommen, in ein Gasthaus am Rand der thüringischen Skat-Stadt Altenburg. Eingeladen hatte das dort ansässige Bürgerforum - ein Zusammenschluss besorgter Bürger - und das rechtskonservativ-völkische Hochglanzmagazin COMPACT. Vorgestellt wurde die Verfassungsbeschwerde des Staatsrechtlers Karl Albrecht Schachtschneider. Zentraler Angriffspunkt ist Merkels Migrations- und Asylpolitik, die nach Schachtschneiders Lesart einen klaren Rechtsbruch darstelle: "Das Land heißt ja nicht umsonst Deutschland. Das ist ein substanzieller Begriff, der zur Verfassungsidentität dazu gehört. In irgendeiner Weise muss das Land deutsch sein und bleiben, solange nicht das Volk in einer Volksabstimmung, sich ein neues Verfassungsgesetz gegeben hat und vielleicht entscheidet, ein Einwanderungsland zu sein wollen." Auch der SPD-Oberbürgermeister kommt zur Vorstellung Die Asylpolitik nennt der emeritierte Erlangener Staatsrechtler Schachtschneider - ein zackiger Gelehrter um die 75 - einen Staatsstreich. Es könne nicht sein, dass Bundeskanzlerin Merkel ihre eigene Empathie über das Recht setze, so Schachtschneider weiter, weshalb er das Grundgesetz in Gefahr sehe. "Und das muss abgewehrt werden. Die Flüchtlinge, die kommen, haben durchgehend kein Recht zu kommen. Alle reisen illegal ein," behauptet Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider. Die Migrationspolitik der Bundesregierung sei mit dem Grundgesetz völlig unvereinbar, sagt er, und müsse sofort beendet werden. Mit dem Instrument der Verfassungsbeschwerde hoffe man das zu erreichen, so Schachtschneider weiter. Zur Vorstellung der Verfassungsbeschwerde waren in Altenburg besorgte Bürger, Wutbürger, Unzufriedene und einfach Neugierige gekommen. Journalisten wurden argwöhnisch beäugt. In der ersten Reihe saß der SPD-Oberbürgermeister Michael Wolf und hörte aufmerksam zu. Er wolle die Sorgen der Leute ernst nehmen, statt sie auszugrenzen, sagte er: "Wir leben in einer Zeit, wo man mit allen reden muss, nur so können wir alle in der Mitte halten." "Den jungakademischen Nachwuchs weltanschaulich schulen" Beschwerdeführer der Verfassungsklage ist neben Staatsrechtler Schachtschneider und Rechtspopulist Jürgen Elsässer auch Publizist Götz Kubitschek. Letzterer ist der Gründer des sogenannten Instituts für Staatspolitik. Ein Thinktank für das rechtsintellektuelle Milieu Deutschlands, die Vordenker für national-konservative AfD-Politiker wie Björn Höcke oder André Poggenburg, so David Begrich, der Leiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander in Magdeburg: "Es geht ihnen darum, den jungakademischen Nachwuchs weltanschaulich zu schulen. Im Sinne eines Konservatismus, der von drei Elementen bestimmt ist. Erstes Element: anti-liberales Denken. Zweites Element: Klare Feindbestimmung und das ist der Liberalismus. Und das dritte Element: Auseinandersetzung mit dem Islam." Zusammenfassend kann man sagen: Staatsrechtler Schachtschneider sieht die verfassungsrechtlich gesicherte Identität Deutschlands durch die Einwanderung bedroht. Ähnlich hat es der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier, CSU, bereits formuliert. Daher birgt die Verfassungsbeschwerde nichts Neues. Und unter Rechtsgelehrten ist es durchaus umstritten, ob der Streit um die Asyl- und Migrationspolitik ein Fall für Karlsruhe ist. Und ob das Bundesverfassungsgericht dem Bund eine bestimmte Politik vorschreibe, ist schwer vorstellbar, sagen Juristen. Weshalb es für die Beschwerdeführer nun darauf ankommen wird, dass die Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe überhaupt erst mal angenommen wird.
Von Christoph Richter
Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider hat bereits gegen den Lissabon-Vertrag, den Euro und das Transplantationsgesetz geklagt. Er gilt als konservativer Vordenker der Rechten. Nun hat er in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel eingelegt. Doch ob die Beschwerde überhaupt angenommen wird, ist unsicher.
"2016-02-04T06:19:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:08.346000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verfassungsbeschwerde-staatsrechtler-klagt-gegen-100.html
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"Ich glaube, dass wir nicht vorverurteilt haben"
Nach Ansicht von "Bild"-Chef Julian Reichelt hat sich seine Zeitung im Fall Christoph Metzelder nicht schuldig gemacht (dpa / Bernd von Jutrczenka) Brigitte Baetz: Gegen den ehemaligen Fußballprofi Christoph Metzelder wurde von der "Bild"-Zeitung in der letzten Woche eine Berichterstattungslawine losgetreten, die heute immer noch in der Medien- und der Juristenszene heftig diskutiert wird. Mehr als ein Dutzend Artikel, darunter zwei Titelgeschichten, widmete das Blatt mit den vier Buchstaben den Vorwürfen wegen möglichem Besitzes und Verbreitung von kinderpornographischem Material. Bewiesen ist nichts, es wird ermittelt, und das vermutlich, weil die "Bild"-Zeitung selbst an die Hamburger Polizei herangetreten ist. Julian Reichelt, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung: Warum haben Sie Metzelders Namen sofort veröffentlicht? Julian Reichelt: Warum sind wir mit dem Namen Christoph Metzelder rausgegangen? Weil die Durchsuchungsmaßnahmen in aller Öffentlichkeit stattgefunden haben, bei einem nicht nur deutschlandweit national bekannten, sondern weltbekannten Fußballstar, weil diese Durchsuchungsmaßnahmen in Anwesenheit von zum Beispiel anderen ehemaligen Bundesliga-Profis stattgefunden haben, weil davon absolut auszugehen ist, dass mediale Aufmerksamkeit dort innerhalb kürzester Zeit stattfindet, dass die Durchsuchungsmaßnahmen in seinem Haus, in einer Nachbarschaft stattgefunden haben, wo einfach jeder ihn kennt. Und eine Verkürzung des Namens hätte aus unserer Sicht in diesem Fall keinerlei schützenden Effekt gehabt. Im Gegenteil: Das hätte die Spekulationen darüber, um wen handelt es sich denn da, warum wird denn über den jetzt abgekürzt berichtet, wird da vielleicht etwas verborgen, massivst befeuert. Und dadurch das, was die große Sorge aller Kritiker ist, nämlich Vorverurteilung, vermutlich eher noch beschleunigt als gedämpft. Kontaktaufnahme mit Polizei als "staatsbürgerliche Pflicht" Baetz: Aber vielleicht nochmal von Anfang an: Am Mittwoch war in der Zeitung zu lesen, eine Frau habe sich bei der Polizei gemeldet. Am Donnerstag zitieren Sie in "Bild" einen Hamburger Polizeisprecher, die "Bild"-Zeitung sei an die Polizei herangetreten. Was stimmt denn nun? Reichelt: Also erstens ist darin kein Widerspruch. Zweitens kommentieren wir nicht, wie wir mit Quellen umgehen. Drittens, das Statement des Polizeisprechers haben Sie ja genannt. Dem habe ich überhaupt gar nichts hinzuzufügen. Es ist grundsätzlich so, dass wir Quellen, die möglicherweise von strafrechtlich relevanten Vorgängen wissen, dass wir diesen Quellen raten, sich an die Polizei zu wenden. Das ist unser grundsätzliches Vorgehen. Das hat auch nichts mit der Arbeit von Medien zu tun, sondern das ist aus meiner Sicht eine staatsbürgerliche Pflicht, dass wenn man von möglicherweise schweren Straftaten erfährt, dass man diese Verdachtsmomente der Polizei meldet. Das ist von den journalistischen Vorgängen völlig getrennt. Das ist sozusagen unser grundsätzliches Vorgehen. Wie das hier genau war, kommentieren wir hier wie immer bei Quellen nicht. Aber es gibt ja das Statement der Hamburger Polizei. Was sich im Übrigen glaube ich sehr lobend über "Bild" äußert, auch wenn das hier und da in der Berichterstattung ganz gerne weggelassen worden ist. Die "Bild"-Zeitung hat groß über Ermittlungen gegen Christoph Metzelder berichtet (Deutschlandfunk / Christoph Sterz) Baetz: Der "Bildblog" schreibt aber quasi, dass Sie die eigene Berichterstattung erst initiiert haben, indem Sie sich an die Hamburger Polizei gewandt haben. Was würden Sie dazu sagen? Reichelt: Dazu müssen Sie den "Bildblog" fragen, wie sie auf diese Interpretation kommen und wie, das würde mich dann interessieren, "Bildblog" verfahren würde, wenn sie, wie gesagt, in einem grundsätzlich gelagerten Fall Kenntnis von möglichen schwersten Straftaten erlangen, ob sie das dann für sich behalten, was ich bei "Bildblog" durchaus für möglich halte, oder ob sie das der Polizei mitteilen würden. "Ich glaube, dass wir Verdachtsberichterstattung geübt haben" Baetz: Herr Reichelt, Sie sagen, Sie haben Christoph Metzelder nicht vorverurteilt, aber Sie haben doch relativ reißerisch berichtet. Zum Beispiel eine Überschrift hieß: "Hier holen Fahnder Metzelder aus der Sportschule". Das bedeutet doch, im übertragenen Sinne: Hier wird jemand abgeführt. Aber er wurde ja gar nicht verhaftet. Reichelt: Ja, da haben Sie jetzt kunstvoll, glaube ich, drei oder vier verschiedene Dinge vermischt, die alle rein gar nichts miteinander zu tun haben. Sie haben gesagt, vorverurteilt, ich habe auch nicht gesagt, da haben Sie mich falsch zitiert, wobei ich glaube, dass wir nicht vorverurteilt haben, sondern Verdachtsberichterstattung geübt haben. Dann haben Sie gesagt "eine reißerische Überschrift", "Hier holen sie Metzelder aus der Sportschule ab". Das ist eine rein nachrichtliche Überschrift auf einen Sachverhalt. Und dann sagen Sie, er ist doch gar nicht verhaftet worden. Das steht dort aber auch nirgendwo. Also um da reißerische Berichterstattung sehen zu wollen, muss man die schon sehr, sehr, sehr dringend und energisch sehen wollen. Die Überschrift bei uns war der Sachverhalt: Hier holt die Polizei Christoph Metzelder in der Sportschule Hennef ab. Das ist tatsächlich genau das, was dort geschehen ist. Baetz: Wieso waren denn Fotografen überhaupt dabei, als Metzelder zum Verhör gebracht wurde? Reichelt: Weil es unser Beruf ist, Dinge zu recherchieren und Dinge zu wissen, genau wie bei Ihnen auch. "Keinerlei Grundlage für irgendeinen Deal" Baetz: Das heißt, einen Deal haben Sie nicht gemacht mit der Polizei möglicherweise? Reichelt: Sie können dazu gerne die Behörden anfragen, ob Behörden Deals in solchen Fällen schließen. Ich glaube, es ist relativ offenkundig, wenn man der Argumentation folgen kann, dass das Anzeigen von möglicherweise schweren Straftaten kein Gefallen und kein Zugeständnis an die Behörden ist, sondern eine staatsbürgerliche Pflicht. Und aus dem Nachkommen von staatsbürgerlichen Pflichten ergibt sich logischerweise und zwangsläufig keinerlei Grundlage für irgendeinen Deal, dass man sagen kann, wir haben Euch jetzt aber da einen Gefallen getan, selbst wenn das in dem Fall jetzt so wäre. Es kann einen Deal nur dann geben, wenn man hier etwas zu bieten hat. Und es bleibt weiter unsere Aufgabe, zu Dingen, von denen wir erfahren haben, zu recherchieren und nicht Deals zu schließen. Baetz: Wolfgang Kubicki, der FDP-Politiker, hat bei "Maischberger" letzte Woche sinngemäß gesagt, Metzelder wäre durch die Berichterstattung im Grunde jetzt fertig. Es bleibt eigentlich immer etwas hängen, gerade bei einem solchen Vorwurf. Haben Sie sich da jetzt schuldig gemacht? Bewiesen ist ja noch nichts. Reichelt: Ich finde, dass das Wort schuldig im Umgang mit dem demokratisch-freiheitlichen Grundrecht auf Verdachtsberichterstattung ehrlich gestanden ziemlich abwegig ist. Also welcher Sache sollte ich mich schuldig gemacht haben? Dass ich ein Recht der freien Presse wahrgenommen habe, Verdachtsberichterstattung auf Grundlage von Recherche, oder worin besteht jetzt genau die Schuldigkeit? Das wüsste ich jetzt von Ihnen gerne. Verdachtsberichterstattung als Grundrecht der Presse Baetz: Die Schuldigkeit würde darin bestehen, dass Sie schon über Ermittlungen berichten, die ja auf jeden Fall von der Polizei durchgeführt werden müssen, egal, was dann zum Schluss dabei rauskommt. Reichelt: Und aus dem, was man da Verdachtsberichterstattung nennt und was ein Grundrecht der Presse ist, würden Sie eine Schuldigkeit ableiten? Baetz: Nein, aber es bleibt ja immer etwas hängen. Reichelt: Aber dann kann ich mich ja nicht schuldig gemacht haben, wenn Sie keine Schuldigkeit daraus ableiten. Das halte ich ehrlich gestanden für einen abwegigen Vorwurf. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julian Reichelt im Gespräch mit Brigitte Baetz
Die „Bild“-Zeitung berichtete exklusiv über eine Razzia bei Christoph Metzelder. Mit den Berichten über den ehemaligen Fußballprofi habe sich seine Zeitung nicht schuldig gemacht, sagte „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt im Deutschlandfunk. Die "Bild" sei "staatsbürgerlichen Pflichten" nachgekommen.
"2019-09-09T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:47.169000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bild-berichte-ueber-christoph-metzelder-ich-glaube-dass-wir-100.html
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"Regierung versucht antideutschen Geist zu stiften"
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bei einer Kranzniederlegung zum 75. Jahrestag des Warschauer Aufstand (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld) HStefan Heinlein: Keine einfache Mission für den deutschen Außenminister derzeit in Polen. Heute vor 75 Jahren begann der Warschauer Aufstand. Partisanen der polnischen Heimatarmee erhoben sich gegen die Schreckensherrschaft der Nazis, ein Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Heiko Maas nimmt teil an den Gedenkfeierlichkeiten, viele Ansprachen und Gesten, aber auch eine Gelegenheit vor Ort, über die zuletzt nicht ganz einfachen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn zu sprechen. Zum Besuch des deutschen Außenministers in Polen Florian Kellermann aus Warschau. Soweit unser Polenkorrespondent Florian Kellermann, und am Telefon begrüße ich jetzt meinen Kollegen Bartos Wielinski. Er ist außenpolitischer Redakteur bei der großen polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Guten Morgen, Herr Wielinski! Bartos Wielinski: Guten Morgen! Symbol für eine gewisse Normalität Heinlein: Der Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau, das war ein Bild für die Geschichtsbücher. Wie wichtig ist es heute, im Jahr 2019, für einen deutschen Außenminister auf seine Worte und Gesten in Polen genau zu achten? Wielinski: Das ist ein Symbol für gewisse Normalität. Wir sind ja gewöhnt, dass in diesen Tagen, also am 1. September oder am 1. August, um diese Jahrestage kommt irgendjemand aus Deutschland und sagt, dass die Verantwortung der Deutschen nicht vergessen wird, eine Verantwortung für diese Schreckenstaten, für diese Untaten, für das, was geschehen ist im Zweiten Weltkrieg in Polen. Das war immer ein Zeichen, eine Normalität, das war nachvollziehbar, dass die Deutschen die Verantwortung dafür tragen müssen. Das, was sie jetzt in Polen beobachten, also seit fast vier Jahren, ist eine Rückkehr zu einer gewissen Instrumentalisierung der Geschichte. Also eine Sache ist nicht vergessen, und Verantwortung tragen andere Sache ist, die politischen Forderungen davor zu ziehen, und das ist ausgerechnet das, was die heutige Regierung in Polen macht, dass man versucht, mit Bildern, mit Beweisen, mit Erinnerungen von diesen schrecklichen Zeiten der deutschen Besatzung, Völkermord, Auschwitz und so weiter, die Wählerschaft von der national-konservativen Partei zu mobilisieren, und man versucht auch, Forderungen gegenüber Deutschland zu stellen und einen gewissen antideutschen Geist zu stiften in Polen, auch für politische Zwecke. Heinlein: Politisch instrumentalisiert, die schwierige deutsch-polnische Geschichte durch die Regierung, sagen Sie. Ist das nur eine Strategie der Regierung oder ist dieser Blick in den Rückspiegel, der Blick in die Vergangenheit in weiten Teilen immer noch prägend für alle Polen, wenn man auf die Beziehungen beider Länder blickt? Wielinski: Die Beziehungen sind immer besser, die Beziehung zwischen Menschen, also das, was der Kern dieser Beziehung, der guten Nachbarschaft ist, die haben sich wesentlich verbessert. Also für meine Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg viel gelitten hat, hat sogar Todesstrafe von den deutschen Besatzern bekommen, und beinahe wurde sie enthauptet, für sie, Versöhnung, das war keine Frage. Sie wollte darüber nicht sprechen. Für meine Generation, das ist eine Sache, die normal ist, so ein Ziel, wonach wir streben müssen. Wenn man die Umfragen sieht, manche Umfragen zeigen, dass die Beziehungen verbessert sind, dass beide Länder sich auch freundschaftlich behandeln und nachbarlich. Das ist völlig normal, aber leider versuchen die Politiker, davon politisches Kapital zu sammeln. Das Problem liegt darin, das ist wirklich eine einfache Sache: in Polen, für die Nationalkonservativen gegen Deutsche gewisses Missverständnis, gewisse Feindlichkeit sogar besteht. Suche nach neuen Themen gegen Deutschland Heinlein: Herr Wielinski, zu dieser politischen Instrumentalisierung gehört ja auch das schwierige Thema Reparationen. Die polnische Regierung hat ja schon gesagt, sie wolle da in die Schlacht ziehen, und die Rede ist von einer Billion Euro. Wielinski: Nein, noch mehr. Heinlein: Noch mehr? Was ist denn das Motiv? Wielinski: Also das Motiv ist ganz einfach. Also vor zehn Jahren, also PiS zum ersten Mal regierte in Polen, die Rede war über Geschichtsfälschungen in Deutschland, damals, das waren die Zeiten von Erika Steinbach und dem Zentrum gegen Vertreibungen, also diesen großen Themen. Das ist schon vorbei, also die Sache ist geregelt. Man suchte nach einem neuen Thema, das die Polen gegen die Deutschen mobilisieren könnte, und die einzige Sache, die auf dem Tisch geblieben ist, sind die Reparationen. Es geht darum, eine Vorstellung der Wählerschaft näherzubringen, dass irgendjemand Polen wirklich Billionen Dollar oder Billionen Euro bezahlt, damit Polen sich noch besser entwickeln würde, damit die Leute noch reicher werden. Also ich habe sogar die Stimmen von den Politikern der nationalkonservativen Partei gehört, dass wenn die Deutschen uns bezahlen, dann würden wir kein Geld von der EU brauchen. Also das ist so absurd. Das ist eine absurde Vorstellung, dass irgendjemand kommen würde und uns Billionen schenkt. Die Regierung hat keine Strategie, hat kein Gericht genannt, das uns dieses Geld … der die Deutschen zwingen würde, dieses Geld uns zu zahlen. Also das ist ein rein populistisches Schlagwort. Heinlein: Rein populistisch, sagen Sie, ein Schlagwort. Dennoch wird Polen versuchen, in Zukunft diese Forderungen, diese Billionenforderungen mit allen politischen und juristischen Mitteln durchzusetzen? Was erwarten Sie? Wielinski: Nein, also ich glaube, man wird darüber reden, also es geht nicht darum, das Ziel zu erreichen, sondern diese Vorstellung wachzuhalten, also die Leute ständig zu überzeugen, wir kämpfen, das ist sehr schwierig, aber wir machen viel. Die Juristen in Polen sind in einer ganz anderen Lage als in Griechenland. Also die Griechen haben nie auf die Reparation von Deutschland verzichtet. Polen hat das schon bereits unter Druck der Sowjets im Jahren 1943 gemacht. Also juristisch scheint die Sache vom Tisch zu sein. Das wird wirklich sehr schwierig, auch für die Griechen, irgendetwas nach 70 Jahren zu erreichen. Das einzige Gericht, das zuständig wäre, ist das Gericht in Den Haag, der internationale Gerichtshof. Es ist absolut peinlich für die Beziehungen. Die Frage ist, ob sich das lohnen würde für die Griechen. In Griechenland ist die Sache auch politisch motiviert, aber ich glaube, in Polen wird das viel Krach geben, aber wenig Folgen. "Polen ist gespalten wie noch nie" Heinlein: Sie sagen, es ist ein wenig peinlich. Ist das, was Sie jetzt sagen, diese Einschätzung, das Stimmungsbild in der polnischen Bevölkerung, oder freut man sich auf das mögliche Geld, die vielen Euros aus Deutschland? Wielinski: Na ja, ich glaube nicht. Also Polen ist gespalten wie noch nie. Also Polen kann man mit den Vereinigten Staaten vergleichen, also Teil der Gesellschaft ist für Trump, Teil ist strikt gegen ihn, und diejenigen, die in Polen die Regierung unterstützen, sind selbstverständlich antideutsch, und zum Teil die nationalen Medien, die staatlichen Medien hetzen ständig gegen Deutschland. Also das Thema, prodeutsch zu sein oder deutschfreundlich zu sein, das in den Kreisen der Regierungsunterstützer ist ein Schimpfwort. Aber es gibt ein anderes Polen, also Polen darf nicht mit PiS verglichen werden. Das sind zwei Sachen. Die Polen, die, glaube ich, rational denken, sind proeuropäisch, sind offen, tolerant. Also Schwulenhass ist auch ein Begriff in Polen, und der Schwulenhass wird auch gestiftet von der Regierung. Also die Polen sind tolerant und proeuropäisch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bartos Wielinski im Gespräch mit Stefan Heinlein
Diejenigen, die in Polen die Regierung unterstützten, seien "selbstverständlich antideutsch", sagte Bartos Wielinski, Redakteur der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", im Dlf. Man dürfe das Land aber nicht mit der PiS-PArtei gleichsetzen. Die Polen an sich seien weltoffen, tolerant und proeuropäisch.
"2019-08-01T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T23:04:17.182000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/journalist-zu-maas-besuch-in-polen-regierung-versucht-100.html
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Geheimnisse des Waldes
In den Wäldern gibt es viel Spannendes über die Natur zu entdecken. (picture alliance / Klaus Rose) "Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder.Man sieht es nicht.Man liest es nur im Blatt.Man zählt die Tage und man zählt die Gelder.Man sehnt sich fort aus dem Geschrei der Stadt." Henning Küper ist kein Stadtmensch. Seit 30 Jahren arbeitet der Endfünfziger als Förster beim Forstamt Rotenburg Wümme, das zu den niedersächsischen Landesforsten gehört. Dazu zählt ein Ausbildungsbetrieb für Forstwirtschaft; sieben Azubis lernen hier derzeit den Umgang mit Motorsägen, das Freischneiden und werden unter anderem in den Themen Forst- und Pflanzenschutz geschult. Nachwuchsmangel gibt es nicht, auch wenn der Beruf des Forstwirtes nicht ungefährlich ist. "Ich bin jeden Tag froh, wenn alle, die im Wald tätig gewesen sind, ohne irgendwelche Unfälle und irgendwelche Probleme nach Hause kommen, da atme ich jeden Tag durch. Man erlebt schon böse Sachen." Das romantisch verklärte Bild vom grün gekleideten Försters-Mann mit Rauschebart, der mit Flinte und Dackel stundenlang durch die Wälder streift, stimmt nur bedingt. Henning Küper ist mit seiner Lederhose, der abgewetzten Wetterjacke und dem schlohweißen längeren Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden ist, zwar ebenso eine imposante Erscheinung - und zwei Dackel hat er auch - doch romantisch ist sein Job eher nicht, obwohl er ihn mit großem Engagement auszuüben scheint. "Man muss robust sein, aber man muss vor allem motiviert sein. Natürlich wollen wir Holz ernten, nachhaltig ernten, aber auch alle anderen Funktionen, ich sach mal, der Bodenschutz als wichtigste Funktion muss beachtet werden. Der Boden ist ja das wichtigste Naturgut, was wir als Wald bewirtschaftende Menschen haben; auf dem fußt der Wald. Dieses Ökosystem muss insgesamt erkannt werden, nur so kann man die Waldpflege optimal leisten. Meine Hauptaufgabe ist also die Regelung des Betriebes: zu organisieren, zu entscheiden, wer, wann, wo was macht. Ich muss entscheiden, welches Holz eingeschlagen wird, wie es verkauft wird, wie die Holzabfuhr geregelt wird, ich entscheide, wenn Pflegemaßnahmen zu regeln sind." Unterwegs mit dem Förster Bis zu 100 Kilometer täglich fährt Küper mit seinem in die Jahre gekommenen Combi durch Teile eines 2000 Hektar großen Gebietes. Und fast immer trifft er dabei auf andere Menschen. So wie jetzt, als uns ein Polizeiauto entgegenkommt, mitten auf dem einsamen Wege, mitten im Wald. "Guten Tach, ich bin der Förster. - Irgendein Problem? - Hier sollte irgendwo einer rumlaufen, aber ich find hier keinen. - Ich sach Bescheid, wenn was ist. - Das kommt natürlich vor, dass sich Menschen in diesen Wäldern mal verirren." "Sie erwachten erst in der finsteren Nacht und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte: Wart nur Gretel bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe. Sie zeigen uns den Weg nach Hause. Als der Mond aufging, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein mehr." Erst mal tief durchatmen! Waldesluft tut nicht nur dem Spaziergänger gut. "Der Klimaschutz ist absolut wichtig und ist eine Grundlage der Forstwirtschaft, weil der Wald das schädliche CO2 binden kann, als Kohlenstoff. Wenn wir viel Wachstum im Walde haben, viel Holz erzeugen, leisten wir einen erheblichen Beitrag zur Minimierung des schädlichen CO2. Ich habe festgestellt, in den 20, 30 Jahren, die nun hinter uns liegen, dass sich die Vitalität des Waldes erhöht hat. Wir haben diese schlimme Phase der Säureeinträge hinter uns. Was ein bisschen Sorgen machen könnte, wäre ein Klimawandel, der die Baumartenzusammensetzung, wie wir sie jetzt hier bei uns finden, evtl. nicht mehr möglich macht." Ebenfalls Sorge macht die Einstellung mancher Waldbesucher zur Natur. "Das is ja schön, wenn die Bevölkerung den Wald mitnutzt. Sie sehen viel und helfen viel und was sie viel machen, diese wirklich freundlichen Waldbesucher; die nehmen den Müll der anderen mit. - Wird viel hinterlassen? - Ja, leider." Je nach Standort dominiert im deutschen Wald das Nadelholz, wie Kiefer oder Fichte. Auch Buchenwälder kommen häufig vor, gefolgt von Eichen und Birken. Henning Küper, der in seinem Beruf sämtliche Pflanzen des Waldes kennen muss, hegt eine echte Beziehung zu seinen Bäumen: "Ich kenne viele wirklich sehr, sehr gut über viele Jahre und freue mich an ihrer Entwicklung. So manches Mal, wenn ich auszeichne und der Baum kommt weg, dann sag ich: Komm, wir passen nicht mehr zusammen. Also ich werde in meinem forstlichen Leben am Ende mehr Bäume gepflanzt haben lassen und gepflanzt haben, als ich dann eingeschlagen habe. Mit Holz sollte man immer achtsam umgehen. Es ist sehr, sehr wertvoll." Historische Spuren zwischen den Bäumen Und es schafft zahlreiche Arbeitsplätze. Auf unserer Entdeckungstour durch den Wald, treffen wir auf eine Gruppe Männer, die Kiefernstammholz in einen Container verlädt. "Die Kiefern werden gleich beim Einschlag in Containerlänge eingeschnitten und werden dann zu den Seehäfen gebracht. Dieses Mal geht es nach Bremerhaven, das Holz, in den Containerterminal und wird dann auf Schiffe verladen. Ich nehme an, dass es nach Korea geht. Die Masse des Holzes bleibt natürlich bei uns hier in Deutschland, aber es gehen natürlich auch Produkte in die Türkei zum Beispiel oder nach Indien; wir exportieren Holz nach Amerika." Der Wald ist pflegeintensiv; manchmal wird er aber auch seinem Schicksal überlassen. Dann ist es ein sogenannter Naturwald, eingebunden in ein Schutzkonzept der niedersächsischen Landesforsten. "Es ist die höchste Kategorie des Schutzes, weil hier wird gar nix mehr gemacht. Was aber schön und wichtig ist, dass dieser Prozess wissenschaftlich begleitet wird." Mitten durch solch einen Naturwald führt ein Weg mit altem Kopfsteinpflaster. Er soll erhalten bleiben; er hat historische Bedeutung, denn seine Steine stammen vom Vorplatz des Bremer Doms.Die gelangten bei Aufräumarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Rotenburger Wald. Mit etwas Geduld kann man Kreuze oder andere runenähnliche Zeichen auf den Steinen entdecken.Es knackt und knarzt und obwohl im Schutze eines profunden Waldkenners befindlich, fühlt es sich ein bisschen unheimlich an, dass alles hier, mitten im Wald.Kann das sein? "Ja, weil es hier viele Geschichten gibt, Sagen. In dem anderen Forst, der nebenan liegt, gibt es einen ganz mystischen Ort, wo es eine ganz alte und schöne Sage gibt." "Diese Geschichte soll euch an dieser Stelle nicht weiter erzählt werden, da sie zu sehr an euren Nerven zehren würde. Aber hört die ersten Verse, von einem Matthias Claudius erdacht: Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar." "Für mich schweigt der nicht! Für mich erzählt der. Die Dynamik, die in dieser Waldentwicklung liegt, das ist für mich wie Klang. Man hört häufig den Wind, man hört die Vögel, diese Veränderungen über den Jahreswechsel, dieses bunte Leben." Von den Jägern und ihrer Arbeit Zur Jagdsaison wird die Stille, die keine ist, von manchem Knall zerrissen.Wild soll als Teil des Ökosystems erhalten bleiben, aber es darf auch nicht dazu führen, dass es Forstschäden gibt, meint der Förster, der auch Jäger ist. "Also zu den Tieren haben Sie kein so besonderes Verhältnis? - Ja doch, doch, doch, ja, ja, nein, wirklich! - Ich kenne viele Hirsche und kann sie wieder erkennen, dokumentiere ihre Entwicklung, das ist mit viel Freude verbunden; ich kenne viele Tiere. - Wir hatten hier die dicke Emma, eine ganz, ganz starke Bache, die hier immer gefrischt hat." Die dicke Emma kennen diese Kids vermutlich nicht, doch dafür: "Eichhörnchen, Rehe, Hirsche, Hasen, Kaninchen, Fasäne." Sie müssen es wissen, denn es sind Waldkindergartenkinder aus Rotenburg an der Wümme, die sich fünf Stunden täglich in der Natur tummeln; bei Wind und Wetter, zumeist im Wald. Mädchen oder Junge, ganz egal; Dreck ist hier völlig normal und der wird sich auch freiwillig ins Gesicht geschmiert, einfach so, weil ´s Spaß macht. "Wir spielen manchmal unterschiedliche Spiele und wir buddeln. Die Fantasie wird geweckt und die Kinder werden sich immer dran erinnern, an diesen Lebensraum Wald, an diese Besonderheiten, die sie hier erlebt haben und die werden diesen Wald auch schützen wollen." Knut Sierk ist Förster und Waldpädagoge im Waldpädagogikzentrum Lüneburger Heide. "Wenn wir aus Hamburg Gruppen kriegen, merkt man schon diese Naturentfremdung sehr deutlich, aber selbst Kinder die in einem kleinen Dorf aufwachsen, sind manchmal schon erschreckend weit weg von Natur und da ist es unsere Aufgabe, die an den Wald, an die Natur ran zu bringen." "Der Wald birgt Geheimnisse. Wenn man genauer hinguckt, hat man jeden Tag kleine Veränderungen. Wir müssen einfach lernen, hinzugucken. Ich denke auch, dass der Wald auf die Seele des Menschen eine sehr beruhigende und ausgleichende Wirkung hat." "Die Seele wird vom Pflastertreten krumm. Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um. Die Wälder schweigen, doch sie sind nicht stumm. Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden." Erich Kästner
Von Claudia Kalusky
Deutschland gehört zu den Ländern in Europa mit der größten Waldfläche. Beim Spaziergang durch die Natur lassen sich viele spannende Phänomene beobachten. Wer mit einem Förster unterwegs ist, erfährt auch ein paar Geheimnisse.
"2015-03-22T11:30:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:48.461000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/niedersaechsischer-forst-geheimnisse-des-waldes-100.html
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AfD fordert Abkehr vom "bunten Europa"
Die AfD heizt die Sicherheitsdebatte nach den Terroranschlägen in Brüssel an. (imago stock and people / Pacific Press Agency) Am Morgen, nachdem Paris im November zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres von einer Terrorwelle getroffen wurde, nahm Staatspräsident Francois Hollande das Wort in den Mund, das er nach den Anschlägen im Januar noch vermieden hatte: "La France est en guerre" – Frankreich befindet sich im Krieg. In Deutschland wird der Krieg heute Morgen an den Zeitungsständen ausgerufen: "Wir sind im Krieg", titelt die BILD-Zeitung. Politiker bemühten sich derweil noch gestern um verbale Abrüstung: "Ich würde dringend davon abraten, jetzt in eine Kriegsrhetorik zu fallen. Denn wenn wir tatsächlich bei solchen Verbrechen von Krieg reden, dann würden wir ja sozusagen anerkennen, dass es sich bei dem 'Islamischen Staat' tatsächlich um einen Staat handelt", sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Irene Mihalic, gestern Abend im DLF. Die Polizei müsse zunächst aufklären, nicht zuletzt, ob es Verbindungen der Brüsseler Attentäter zu deutschen Terrorzellen gebe. Die Erkenntnis, dass sich der Terror nicht einfach an europäischen Grenzen stoppen lässt, prägt die politischen Reaktionen. Der Austausch von Erkenntnissen und Daten der Sicherheitsbehörden innerhalb Europas müsse verbessert werden, fordert am Morgen der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach im DLF: "Diese Daten stecken in einem großen Silo. Und diese Silos stehen nebeneinander. Wichtig wäre aber eine Gesamtschau und dafür ist natürlich notwendig, dass wir diese Daten miteinander verknüpfen." Lässt der Terror Europa enger zusammenrücken? Werden Initiativen der EU-Innenminister zu einem intensiveren Austausch von Fluggastdaten jetzt schneller umgesetzt? Oder werden auch diejenigen jetzt wieder lauter vernehmbar, die Sicherheit vor allem durch nationale Maßnahmen fordern? Schlagen die europakritischen und nationalpopulistischen Parteien Kapital aus den Anschlägen von Brüssel? In Deutschland hat die Spitze der gerade auf Landesebene gestärkten AfD zunächst mit Facebook-Einträgen reagiert. "Es geht um unsere Identität als freiheitlich aufgeklärte Europäer" postet AfD-Chefin Frauke Petry und wendet sich dann an ein nicht näher bestimmtes "Sie": "Jetzt werden sie nämlich wieder irgendwas sein" schreibt Petry mit Blick auf die zahllosen Solidaritätsbekundungen in den sozialen Netzwerken und fährt fort: "Sie waren Charlie, sie waren Paris und jetzt sind alle Brüssel oder gar Belgien". Ein paar Zielen später heißt es "Ihr Heuchler". Einen fast wortgleichen Text hatte wenig zuvor Petrys Lebensgefährte, der nordrhein-westfälische AfD-Vorsitzende Marcus Pretzell auf Facebook veröffentlicht. Dort heißt es noch "Ihr verfluchten Heuchler". Der Wutausbruch des AfD-Mannes wurde offenbar in innerfamiliärer Redaktionsarbeit zumindest sprachlich geglättet. Unmittelbar nach den Anschlägen hatte sich in Brüssel selbst die AfD-Europaabgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch zu Wort gemeldet. Von Storch meldet knapp, dass sie das Gebäude des Europäischen Parlaments verlassen habe und schreibt, es gebe offenbar viele Tote "am Flughafen und am Zentralbahnhof". Dann fügt sie spöttisch raunend hinzu: "Hat aber alles nix mit nix zu tun". Substanzielle Aussagen zur Terrorbekämpfung oder Forderungen zur Sicherheitspolitik waren von der AfD bisher nicht zu vernehmen.
Von Stephan Detjen
Nach den Terroranschlägen in Brüssel streiten sich Politiker über die innere Sicherheit. Die AfD setzt auf eine härtere Anti-Terror-Politik und belächelt Solidaritätsbekundungen mit den Opfern im Internet. Auf Facebook werfen Spitzenpolitiker der Partei ihren Gegnern Heuchelei vor - in gewohnt scharfer Form.
"2016-03-23T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:20:10.687000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sicherheitsdebatte-afd-fordert-abkehr-vom-bunten-europa-100.html
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Johannes Dürr nennt Namen
Der österreichische Langläufer Johannes Dürr während einer Pressekonferenz bei den Olympischen Spielen in Sotschi 2014 (imago / GEPA pictures) Bisher hatte Dopingbetrüger Johannes Dürr immer betont: Er werde die mutmaßlichen Hintermänner seines Dopings öffentlich nicht nennen. Doch jetzt wo er selbst Beklagter ist, nennt er Namen. In den polizeilichen Vernehmungen nach den Razzien von Seefeld und Erfurt belastete er seinen damaligen ÖSV-Cheftrainer Gerald Heigl, sagt sein Rechtsbeistand Max Rammerstorfer. "Was wir bestätigen können ist, dass unser Mandant in seinen polizeilichen Einvernehmungen ausgesagt hat, dass er in den Wettkampfsaisonen unmittelbar vor Sotschi 2014 Dopingpräparate von Herrn Gerald Heigl erhalten hat, wobei es sich in erster Linie um EPO-Präparate gehandelt hat." Verdacht: Beschaffung von EPO, Dosierungsanweisungen, Mitwisserschaft Laut Vernehmungsprotokoll steht Heigl im Verdacht Epo verschafft, Dosierungsanweisungen gegeben zu haben und vom Blutdoping gewusst und Trainingspläne darauf abgestimmt zu haben. Sagte Dürr, der schon mehrfach gelogen hat, die Wahrheit? Heigls Anwalt Christian Horwath dementiert jedenfalls vehement:"Die ganzen Vorwürfe seitens des Herrn Dürr sind völlig haltlos, und mein Mandant wird dagegen auch rechtliche Schritte einleiten." Heigl verließ den ÖSV vor zwei Jahren – offiziell auf eigenen Wunsch. Am Innsbrucker Landesgericht wird ab heute die Frage geklärt, ob einer der erfolgreichsten Wintersportverbände der Welt beim Doping weggeschaut hat oder nicht. Ein Prozess, der nicht nur in Österreich mit Interesse verfolgt wird.
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Der Österreichische Skiverband klagt gegen Johannes Dürr, der die Razzien rund um die Ski-WM in Seefeld angestoßen hatte. Beim jetzt beginnenden Prozess geht es um die Frage: Darf Dürr öffentlich behaupten, der ÖSV habe beim Doping weggeschaut? Jetzt konkretisiert Dürr seine Anschuldigungen.
"2019-04-29T22:51:00+02:00"
"2020-01-26T22:49:23.321000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doping-affaere-johannes-duerr-nennt-namen-100.html
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Ohne Duschen und Zuschauer - und mit Abstand
Das Auftaktrennen der World Triathlon Series 2020 findet am 5. und 6. September in Hamburg statt - geschwommen wird im Stadtparksee (imago images / Hanno Bode) Alexander Fricke veranstaltet Volkswettkämpfe. Im Sommer hat er die ersten während der Corona-Pandemie organisiert: Ein Langstreckenschwimmen auf der Olympia-Regattabahn in Oberschleißheim, dann ein Langstreckenschwimmen durch den Starnberger See und am vergangenen Wochenende einen Triathlon, ebenfalls auf der Regattabahn. Die Grundlage für die Veranstaltungen sei die bayerische Infektionsschutzverordnung gewesen, so Fricke. Diese erlaube sportliche Wettkämpfe. Es gebe im Wesentlichen drei Vorgaben: "Duschen und Umkleiden nicht benutzen, Abstandsregeln einhalten und keine Zuschauer." Es habe beispielsweise beim Abholen der Startunterlagen und bei Ein- und Auschecken der Fahrräder eine Maskenpflicht gegeben. Außerdem seien die Teilnehmenden einzeln an den Start gegangen. Bislang nur wenige Amateur-Veranstaltungen Die Resonanz der Sportlerinnen und Sportler sei sehr gut gewesen. Auch die fehlenden Siegerehrungen habe sie nicht gestört: "Wir bekommen noch jeden Tag Emails voll der Begeisterung - gerade für den Triathlon." Dass es nur vereinzelt Amateur-Wettkämpfe gibt, erklärt sich Fricke mit der Unvorhersehbarkeit der Corona-Pandemie. Er habe Veranstaltungen durchgeführt, die eigentlich früher im Jahr hätten stattfinden sollen und für die es schon Anmeldungen gegeben habe. Wenn man aber Veranstaltungen plane, für die sich die Sportlerinnen und Sportler erst noch anmelden müssten, hielten sich viele zurück. Diese könnten ja immer noch ausfallen. Deshalb würden sie gar nicht erst angeboten werden.
Alexander Fricke im Gespräch mit Tobias Oelmaier
Viele Volksläufe, Stadtmarathons und Radrennen in Deutschland sind wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. Erst seit Kurzem gibt es wieder vereinzelt Veranstaltungen. Der Münchener Veranstalter Alexander Fricke erfährt eine positive Resonanz von den Teilnehmenden.
"2020-08-30T19:30:00+02:00"
"2020-09-04T17:07:48.328000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/volkswettkaempfe-in-corona-zeiten-ohne-duschen-und-100.html
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Die Suche nach dem historischen Franziskus
Eine Franziskus-Darstellung (imago/United Archives) Nachdem über Jahrhunderte durch zahlreiche Legenden ein teilweise kitschiges Franziskusbild vermittelt wurde, hat die Franziskusforschung im 19. und 20. Jahrhundert viele neue Erkenntnisse über den Mann aus Assisi und seine religiöse Bewegung in Erfahrung gebracht. "Dem ehrwürdigen Vater in Christus, Bruder Crescentius durch Gottes Gnade Generalminister, entbieten Bruder Leo, Bruder Rufinus und Bruder Angelus einst Gefährten unseres hochseligen Vaters Franziskus, ergebene Hochachtung."Mit diesen Worten beginnt ein Brief, der am 11. August 1246 in der mittel-italienischen Stadt Greccio von drei Franziskanerbrüdern unterzeichnet wurde."Auf Befehl des letzten Generalkapitels und auch auf Euren eigenen Befehl sind die Brüder verpflichtet, Zeichen und Wundertaten des hochseligen Franziskus Eurer Paternität zu berichten. Wir, die längere Zeit mit ihm zusammenlebten, hielten es daher für gut, einige von seinen vielen Taten Eurer Heiligkeit mitzuteilen. Diese Taten haben wir mit eigenen Augen gesehen oder von anderen Brüdern erfahren."Mit diesem Schreiben schickten die drei ihrem Generalminister Crescentius von Jesi die sogenannte "Dreigefährtenlegende", mit Berichten über das Leben und Wirken des Franziskus von Assisi.Der Brief und das beiliegende Manuskript waren die Antwort auf einen Aufruf, den Crescentius, der Generalminister der Franziskaner, zwei Jahre zuvor an alle Brüder geschickt hatte. Darin hatte er aufgefordert, alle Aussprüche und Ereignisse von Franziskus zu sammeln und an ihn zu schicken. Es gab zwar bereits eine Vita des Franziskus, die der Franziskanerbruder Thomas von Celano im Auftrag von Papst Gregor IX. geschrieben hatte. Doch inzwischen war deutlich geworden, dass in Celanos Legende noch so manches Berichtenswerte über Franziskus fehlte.Die Dreigefährtenlegende stand von Anfang an in einem besonderen Ansehen, da Bruder Leo, der Sekretär und Beichtvater des Franziskus, einer der drei Mitverfasser war. Aus diesem Grund gab Crescentius von Jesi nun Thomas von Celano den Auftrag, noch einmal eine Vita des Franziskus zu schreiben, in der er die Dreigefährtenlegende und alle anderen neu eingegangenen Informationen aufarbeiten sollte.Da inzwischen Papst Gregor IX verstorben war, der die erste Vita über Franziskus bei Thomas von Celano in Auftrag gegeben hatte, konnte Bruder Thomas jetzt frei vom Einfluss aus Rom seiner zweiten Franziskus-Vita eine zum Teil völlig neue inhaltliche Prägung geben.Zu diesem Zeitpunkt begannen aber auch andere Brüder, ohne offiziellen Auftrag, ihre eigene Franziskuslegende zu schreiben. Auffällig war, dass die Franziskus-Darstellungen nun auch immer stärker voneinander abwichen. Schon zu Lebzeiten des Franziskus hatte es verschiedene Strömungen in der Gemeinschaft gegeben, von denen nun jede bemüht war, Franziskus auf ihre Seite zu ziehen und sein Wirken in ihrem Sinne zu interpretieren. Das schlug sich nun in den zahlreichen Legenden nieder, die inzwischen in den Ordenshäusern der Franziskaner in Umlauf waren. Inoffizielle Erinnerungen sind "wertvollere" Legenden Helmut Feld, Professor für Historische Theologie am Institut für europäische Geschichte in Mainz:"Im Gegensatz zu 'offiziellen' Franziskus-Biografien enthalten die nicht-offiziellen Legenden viele wertvolle Erinnerungen der Gefährten des Franziskus an dessen Persönlichkeit und die ursprüngliche Gestalt der franziskanischen Bruderschaft. Mit der Betonung des Wertes, der in den nicht-offiziellen Legenden enthaltenen Traditionen gegenüber offiziellen Lebensbeschreibungen soll keineswegs bestritten werden, dass auch die Erinnerungen der Gefährten des Franziskus tendenziös sind."Die inoffiziellen Biografien stammen zu einem großen Teil von den Brüdern, die die Entwicklung des Ordens kritisieren. Dabei handelt es sich um die radikale Fraktion unter den Franziskanern, die mehr Distanz zur Kurie in Rom wollten.Diese sogenannten "Spiritualen" vertreten auch weiterhin die konsequente Armutsforderung des Franziskus, die von der anderen Fraktion, also den gemäßigten Franziskanern, den sogenannten "Konventualen", abgemildert worden war.Veit Jakobus Dietrich, Professor an der Fakultät für evangelische Theologie an der Universität Hohenheim:"Beide Sichtweisen, die der offiziellen wie die der oppositionellen Gruppe, verfolgen somit ein bestimmtes Interesse. Sie versuchen, mit der Autorität des Franziskus ihre Position zu stärken. Manche Erzählungen werfen demnach eher Licht auf die Auseinandersetzungen im Orden als auf die historische Gestalt des Franziskus."Stärker durchsetzen konnte sich aber schon bald die gemäßigte Fraktion der "Konventualen", die von Anfang an auch eine enge Bindung an die Kurie in Rom suchte.Im Auftrag dieser Gruppe verfasste der Generalminister Bonaventura dann in den 60er-Jahren des 13. Jahrhunderts – also etwa eine Generation nach Franziskus – eine große und ein kleine Franziskuslegende, die vom Generalkapitel des Ordens in Paris 1266 zu den einzigen legitimen und geduldeten Lebensbeschreibungen des Franziskus erklärt wurden. Alle älteren Legenden mussten jetzt vernichtet werden. Das galt auch für die beiden offiziellen Legenden, die Thomas von Celano vorher im Auftrag des Papstes und des Ordens verfasst hatte. Von nun an prägte Bonaventuras Darstellung des Franziskus für Jahrhunderte das offizielle Bild von Franziskus. Der französische Mediävist Jacques Le Goff:"Die Anforderungen der modernen Geschichtswissenschaft revidierten dann dieses traditionelle Bild des Heiligen und haben Ende des 19. Jahrhunderts erstmals das verstümmelte, zurechtgeschminkte und süßliche Bild korrigiert, das Bonaventura von Franziskus gezeichnet hatte."Dies war vor allem deshalb möglich, weil die Aufforderung von 1266, alle anderen Franziskuslegenden zu vernichten, glücklicherweise nicht überall befolgt worden war. Auch Bruder Leo, der Sekretär und langjährige Gefährte von Franziskus, soll sich der Vernichtungskampagne widersetzt haben.Der evangelische Theologe und Franziskus-Biograf Klaus Reblin:"Dass sich dennoch viele andere Legenden erhalten haben, verdanken wir mutigen Brüdern, die ihre Aufzeichnungen noch rechtzeitig vor der Vernichtung in die Klöster mutiger Frauen gebracht haben. Von Bruder Leo wird erzählt, dass er jahrelang Abend für Abend von Santa Maria degli Angeli unterhalb von Assisi nach San Damiano lief, um das, was er tagsüber aus der Erinnerung aufgeschrieben hatte, bei den Schwestern der heiligen Klara in Sicherheit zu bringen."So konnte die Franziskusforschung, die vor allem mit dem französischen Theologen Paul Sabatier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, im Laufe der Zeit zahlreiche schriftliche Quellen und auch einige authentische Schriften von Franziskus selbst wieder auffinden. In fast allen Fällen waren sie sorgfältig in Klöstern aufbewahrt worden. Helmut Feld:"Alter, gegenseitige Abhängigkeit, historische Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Lebensbeschreibungen sind Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die unter der Bezeichnung 'Franziskanische Frage' in die Geschichte der Forschung eingegangen und bis heute nicht abgeschlossen sind."Auch das genaue Geburtsjahr des Franziskus von Assisi ist unbekannt. Die Franziskusforscher sind bis heute uneinig darüber, ob er nun 1181 oder 1182 geboren wurde. Für welches Jahr man sich entscheidet, hängt dabei davon ab, aus welchem Teil Italiens der Verfasser einer schriftlichen Quelle stammte. Denn die Jahreszählung war damals in Italien sehr unterschiedlich. Während zum Beispiel in Venedig der Jahresanfang am 25. Dezember war, begann das Jahr in Mittelitalien am 25. März und in Süditalien am 1. September.Auf jeden Fall fällt das Geburtsjahr des Franziskus in die Regierungszeit des Stauferkaisers Barbarossa. Als dessen Sohn und Nachfolger, Kaiser Heinrich VI., dann 1197 starb, gerieten die politischen Kräfteverhältnisse in Italien durcheinander, weil der Erbe Heinrichs, Friedrich Roger, der spätere Kaiser Friedrich II., noch ein Kind war und unter die Vormundschaft von Papst Innozenz III. geriet.Ulrich Köpf, Professor für Kirchengeschichte an der Fakultät für evangelische Theologie der Universität Tübingen:"Als Franziskus zur Welt kam, lag in der Rocca, der Burg auf der Höhe des Stadthügels von Assisi, eine deutsche Besatzung unter dem schwäbischen Ritter Konrad von Irslingen als Stadtherrn. Nach dem Tode Heinrich VI. brach die Herrschaft der Staufer in Mittelitalien zusammen. Papst Innozenz III. konnte sich um die Wiedererrichtung eines ausgedehnten Kirchenstaates bemühen. Bevor sie ihre Stadt aber dem Papst auslieferten, zerstörten die Bürger von Assisi die Rocca und bauten mit ihren Steinen die Stadtbefestigung weiter aus. Bereits 1205 trat die Stadt dann wieder auf die Seite der Staufer. 1220 stand sie dann erneut unter päpstlicher Herrschaft."Franziskus wuchs in einer politisch bewegten Zeit in einem wohlhabenden Elternhaus behütet auf. Er war der älteste Sohn des reichen Tuchhändlers Pietro di Bernadone, der sich sehr häufig geschäftlich in Südfrankreich aufhielt, woher vermutlich auch Franziskus' Mutter, Donna Pica, stammte. Getauft war er auf den Namen Giovanni Battista, also Johannes Baptist, aber schon früh erhielt er von seinem Vater den Beinamen "Francesco", was Franzose bedeutet, den er auch später beibehielt. Helmut Feld:"Es kann als sicher gelten, dass er anhand des Psalters die lateinische Sprache lesen und schreiben lernte. Er lernte auch die damals aus Frankreich kommenden ritterlichen Dichtungen und Erzählungen kennen, wie das Rolandslied und die Artus- und Gralssage." Ein Laie, kein studierter Kleriker Veit Jakobus Dieterich:"Die beiden Fremdsprachen Lateinisch und Französisch beherrschte er jedoch nicht perfekt. Lesen und Schreiben fielen ihm niemals leicht. Später diktierte er meist seine Briefe und andere Schriften. Gern bezeichnete er sich denn auch als einen Ungebildeten. Doch wollte er mit diesem Begriff vielleicht ausdrücken, dass er ein Laie und keine studierter Kleriker war."Übereinstimmend sprechen die Legenden davon, dass Franziskus als junger Mann den aufwendigen Lebensstil eines verwöhnten Sohnes reicher Eltern pflegte. Jacques Le Goff:"Der junge Mann verbrachte seine Zeit mit den üblichen Vergnügungen seines Standes, mit Nichtstun, Klatsch, Liedern und Mode, aber nichts darüber hinaus. Er strebte die Rolle eines Anführers der 'jeunesse doreé' an. Er war – und daran ist nicht zu zweifeln - vor allem ein gewaltiger Verschwender."Außerdem fiel Franziskus schon früh dadurch auf, dass er gern in die Rolle eines Schauspielers schlüpfte und Ereignisse, die um ihn herum geschahen, nachspielte. Klaus Reblin:"Franziskus muss schon in seiner Jugend ungewöhnlich sensibel und außerordentlich fantasievoll gewesen sein. Alles, was er liest oder hört, die Geschichten von Karl dem Großen etwa oder von König Artus und seiner Tafelrunde, verwandelt sich für ihn sogleich in Bilder. Und zu der intensiven Aufnahmefähigkeit kommt sein darstellerisches, schauspielerisches Talent, das ihn später in die Lage versetzt, alles, was er denkt, in symbolische Handlungen umzusetzen."Franziskus Vorliebe für Ritterromane ließ in ihm aber auch immer stärker den Wunsch aufleben, selbst in den Ritterstand erhoben zu werden. Deshalb trainierte er den Umgang mit Waffen und beteiligte sich als 20-Jähriger mit Begeisterung an dem Städtekrieg zwischen Assisi und seiner mächtigen Rivalin Perugia.Hoch zu Pferde, wie ein Ritter, nimmt Franziskus an diesem Krieg teil. Aber er hat dann auch die Niederlage Assisis in dieser Schlacht erlebt und ist in Gefangenschaft geraten, aus der er erst nach einem Jahr wieder freigelassen wird.Im Anschluss an diese Zeit im Kerker in Perugia ist er krank geworden. Es wird berichtet, dass er nach seiner Rückkehr nach Assisi ein Jahr lang das Bett hüten musste. Es ist aber nicht überliefert, um welche Krankheit es sich dabei handelte. Veit Jakobus Dieterich:"Die Franziskus-Legenden erzählen von einer tiefen körperlichen, seelischen und geistigen Krise nach seiner Rückkehr."Sobald er sich wieder gesund fühlte, verfolgte er sofort wieder seinen Plan, zum Ritter geschlagen zu werden. Deshalb schloss er sich einem Adeligen aus Assisi an, der nach Apulien zog, um dort mit den Truppen des Papstes gegen Anhänger der Staufer zu kämpfen. Franziskus hoffte, für seine Dienste in diesem Kampf endlich den Ritterschlag zu erhalten. Veit Jakobus Dieterich:"Anschaulich erzählt eine alte Legende von einem Traum, in dem Franziskus einen Palast voller Waffen und Ritter sah. Franziskus habe diesen Traum mit den Worten kommentiert: Ich weiß, dass ich noch ein großer Fürst sein werde."Doch schon bald sollte sich zeigen, dass für Franziskus alles ganz anders kommen sollte.
Von Rüdiger Achenbach
Franziskus von Assisi gehört zu den populärsten Heiligen der römisch-katholischen Kirche und wird auch in den anderen christlichen Konfessionen als eine der bedeutendsten Gestalten verehrt. Er ist der Begründer der Franziskaner-Bruderschaft.
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https://www.deutschlandfunk.de/franziskus-von-assisi-teil-1-die-suche-nach-dem-100.html
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Außenministerin Baerbock besucht Australien, Neuseeland und Fidschi
Außenministerin Baerbock (hier ein Archivbild von einer anderen Auslandsreise) (picture alliance / dpa / Soeren Stache) Ziel ihrer Reise sei es, die Zusammenarbeit in der Klima- und Sicherheitspolitik auszubauen, so Baerbock. Außerdem gehe es um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie die Rolle Chinas in der Indo-Pazifik-Region. In Australiens Hauptstadt Canberra wird Baerbock am Dienstag an einer Zeremonie teilnehmen, bei der Kulturgüter an Vertreter des indigenen Volkes der Kaurna zurückgegeben werden. Am Donnerstag reist die Grünen-Politikerin weiter nach Neuseeland, bevor sie am Freitag und Samstag in Fidschi erwartet wird. Der Inselstaat ist besonders stark vom Anstieg des Meeresspiegels in Folge der Klimakrise betroffen. Diese Nachricht wurde am 13.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
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Außenministerin Baerbock ist zu einem einwöchigen Besuch in Australien, Neuseeland und Fidschi aufgebrochen. Baerbock sagte vor ihrem Abflug in Berlin, dass die Länder geografisch zwar auf der anderen Seite des Globus‘ lägen, man aber durch gemeinsame Werte aufs Engste miteinander verbunden sei.
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https://www.deutschlandfunk.de/aussenministerin-baerbock-besucht-australien-neuseeland-und-fidschi-100.html
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Immer mehr stranden in Griechenland
Flüchtlinge in einem Schlachboot erreichen die griechische Insel Lesbos. Das Bild entstand am 8. Oktober. (picture alliance / dpa / Yannis Kolesidis) Auf dem kleinen Platz "Plateia Victorias" im Zentrum von Athen schlägt ein Flüchtling die Trommel. Etwa ein Dutzend junger Männer klatschen, schreien und ein paar tanzen auch. So vertreiben sie sich die Zeit. Ein 20-jähriger Marokkaner erzählt, dass er 700 Euro für die Überfahrt mit dem Schlauchboot aus der Türkei auf eine griechische Insel bezahlt habe. An der Grenze zu Mazedonien sei er nicht durchgelassen und zurück nach Athen gebracht worden: "Wir wollen nicht in Griechenland bleiben, wir wollen nach Frankreich oder Deutschland." Er hofft, dass die Grenzen bald wieder geöffnet werden – auch für Marokkaner. Boher, ein junger Iraner steht ebenfalls auf dem Platz, zusammen mit einer Iranerin, die schon lange in Athen lebt. Er hatte Glück, die 60-jährige Shirin hat ihn bei sich aufgenommen. Inzwischen hat der 18-jährige hier in Athen einen Asylantrag gestellt, erklärt sie: "Er will nicht in einem Staat leben, der den Menschen sagt, was sie anzuziehen haben, in dem es keine Freiheit gibt. Er möchte Boxer werden. Aber Sportler werden im Iran nicht respektiert." Die Handlungsmöglichkeiten sind beschränkt Von den 850.000 Flüchtlingen, die vergangenes Jahr nach Griechenland kamen, haben weniger als 15.000 Asylanträge in Griechenland gestellt. Das ist nicht verwunderlich. Denn das Land steckt in einer tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise. Ein bis zwei Milliarden Euro – genau weiß es wohl auch die Regierung nicht - hat Griechenland im vergangenen Jahr für die Flüchtlinge ausgegeben, obwohl das Land harte Sparauflagen erfüllen muss. Und die EU-Unterstützung war bisher bescheiden. Die Leiterin des Athener Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nicole Katsioulis, findet: "Griechenland versucht das Bestmögliche zu tun. Aber die Handlungsmöglichkeiten sind sicherlich beschränkt. Alles kann Griechenland nicht finanzieren. Griechenland ist mit der Finanzierung überfordert." In Athen hat die Regierung bisher Unterbringungsmöglichkeiten für maximal 1.400 Flüchtlinge geschaffen. Die Hälfte der Plätze befindet sich in neu errichteten, kleinen Wohnhütten. Die übrigen 700 sind sehr behelfsmäßig: im Anbau des Hockeystadions, das 2004 für die Olympischen Spiele gebaut wurde – und in der Zwischenzeit leer stand. Im Büro dieses Flüchtlingslagers kümmert sich die Leiterin, die 25-jährige Kristina Christidou um alles. In den letzten zwei Monaten lebten hier nur etwa 150 bis 200 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen bleiben nur ein paar Tage, erholen sich ein wenig, bevor sie weiter fahren an die griechisch-mazedonische Grenze. Aber in letzter Zeit nimmt die Zahl der Flüchtlinge aus Ländern wie Pakistan, Algerien und Marokko zu. Denn für diese hat Mazedonien seine Grenze grundsätzlich geschlossen. Kristina: "Im Augenblick stammt die Hälfte der Flüchtlinge, die von den Inseln ankommen, aus Ländern wie Syrien und Afghanistan. Denen ist die Weiterreise erlaubt. Aber andere werden an der Grenze abgewiesen." "Hier können doch nicht viele bleiben" Der 18jährige Marokkaner Halid ist einer von ihnen. Seine Eltern haben ihm die gefährliche Überfahrt finanziert, denn in Casablanca gebe es keine Arbeit, sagt er. Er wollte nach Deutschland. Aber an der Grenze zu Mazedonien wurde auch er zurückgeschickt: "Jetzt will ich zurück nach Marokko. Ich erhalte ein Ticket und 400 Euro für die freiwillige Rückführung. Am Mittwoch reise ich ab." Wie die anderen schläft er in den kahlen Räumen des Stadionanbaus. Die meisten Feldbetten stehen nebeneinander auf den Gängen. Aber obwohl das Lager nur zu einem Drittel voll ist, gibt es nicht für alle Feldbetten. Auch Tische oder Stühle fehlen. Für das Allernötigste ist zwar gesorgt. Doch ohne Freiwillige würde es nicht funktionieren. Die ärztliche Versorgung hat zum Beispiel die Nichtregierungsorganisation "Ärzte der Welt" übernommen, denn Flüchtlinge haben es schwer, im staatlichen Gesundheitssystem aufgenommen zu werden. Und die Vorbereitung und Verteilung des angelieferten Essens organisieren 15 freiwillige Helferinnen. Katarina, eine 45-jährige Frau mit drei Kindern, ist eine von ihnen. Sie helfe gern, Griechen und Europäern sei das große Problem doch bewusst, meint sie. Nur hat sie eine Sorge: Wenn die Grenzen zu anderen europäischen Ländern immer mehr geschlossen würden, würde Griechenland mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen werden. Das aber würde das Land überlasten. Katarina: "Hier können doch nicht viele bleiben. Wir haben ja jetzt schon große wirtschaftliche Probleme."
Von Jerry Sommer
Mehr als 850.000 Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr in Griechenland an. Im Januar sind es trotz ungünstiger Wetterbedingungen schon wieder mehr als 45.000 gewesen. Die meisten von ihnen wollen weiter nach Mittel- und Nordeuropa, was aber zunehmend schwieriger wird. Und Griechenland ist mit der Aufnahme der Menschen völlig überlastet.
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"2020-01-29T18:11:29.258000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-immer-mehr-stranden-in-griechenland-100.html
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Vertrauensabstimmung in Prag
Es war die stabilste Mehrheit seit der Revolution '89. Mit deutlichem Vorsprung wurde die Mitte-Rechts-Regierung vor zwei Jahren ins Amt gewählt. Doch das Vertrauen ist dahin. Nach etlichen Korruptionsskandalen und Affären hat sich die Dreiparteienkoalition aufgelöst. Ministerpräsident Necas kämpft heute um sein politisches Überleben:"Ich habe beschlossen, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Das ist die sauberste Lösung. Jeder kann sagen, ob er für oder gegen die Regierung ist. Wenn wir verlieren, gibt es im Juni Neuwahlen."Die Abstimmung wird zu einer Zitterpartie für Petr Necas. Nach der Spaltung der kleinsten Koalitionspartei VV hat die Regierung ihre Mehrheit im Parlament verloren. In Prag wird deshalb jetzt der Rechenschieber ausgepackt. Der konservative Ministerpräsident hofft auf die Stimmen von Überläufern und fraktionslosen Abgeordneten:"Wir wollen eine Koalition aus drei politischen Subjekten. Meiner Partei der ODS, unserem Koalitionspartner der TOP 09 und einer neuen politischen Plattform, von der wir erwarten, dass sie bald eine Fraktion sein wird."Dieses riskante politische Manöver des Ministerpräsidenten sorgt für heftige Empörung bei der Opposition. Die Sozialdemokraten liegen in den Umfragen mit großem Abstand in Führung. Parteichef Sobotka wittert nun die Chance über Neuwahlen an die Macht zu kommen:"Die Existenz der Regierung hängt an einer Gruppe von Überläufern. Das ist der Weg in die Hölle. 80 Prozent der Bevölkerung haben genug von dieser Koalition. Wir fordern Neuwahlen."Tatsächlich sind die Umfragen eindeutig. Zwei Drittel der Tschechen sind für ein möglichst rasches Ende der Mitte-Rechts-Regierung. Der Prager Politikwissenschaftler Jiri Pehe rechnet deshalb mit einem Erfolg des Misstrauensvotums:"Die Überläufer werden mit Ja stimmen, nicht, weil sie inhaltlich von der Regierung überzeugt sind, sondern weil sie Angst vor Neuwahlen haben. Sie fürchten um ihre politische Existenz. Eine solche Regierung wird sehr instabil sein."In Tschechien wächst unterdessen der Druck der Straße. Auf dem Prager Wenzelsplatz demonstrierten am vergangenen Wochenende mehr als 100.000 Menschen gegen das Sparpaket der Regierung. Sie sind gegen die Mehrwertsteuererhöhung, die Einführung von Studiengebühren und die angekündigten Rentenkürzungen.Schluss mit den asozialen Reformen – stoppt die Regierung – fordern die Gewerkschaftsvertreter. Sollte Ministerpräsident Necas die Vertrauensfrage heute gewinnen, haben sie für die kommenden Wochen weitere Proteste und Streiks angekündigt, um die Regierung aus dem Amt zu jagen. Beobachter warnen deshalb vor den politischen Folgen der Vertrauensabstimmung. Jiri Pehe: "Das ist eine politische Tragödie. Wir erleben den Kollaps der Regierung auf offener Bühne. Das ist sehr gefährlich. Die Stimmung vieler Menschen richtet sich jetzt auch gegen das demokratische System, weil sie es für gescheitert halten."Vor dem Hintergrund des harten Sparkurses und der machtpolitischen Manöver der Regierung haben viele Tschechen das Vertrauen in die etablierte Politik verloren. Jeder Fünfte hält mittlerweile die orthodox-kommunistische Partei für die einzig echte Alternative zu den affären- und korruptionsbelasteten Rechtsparteien. "Ich glaube dieser Regierung nicht mehr. Sie hangelt sich nur von einer Korruptionsaffäre zur nächsten. Ich möchte lieber eine gemeinsame Regierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten."Keine Einzelmeinung. Sollte die Regierung heute scheitern, rechnen alle Beobachter bei Neuwahlen mit einem deutlichen Linksruck in Tschechien. Die Sozialdemokraten schließen eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten mittlerweile nicht mehr grundsätzlich aus.
Von Stefan Heinlein
Vor dem Hintergrund des harten Sparkurses und der Affären- und Korruptionsskandale der Regierung haben viele Tschechen das Vertrauen in die etablierte Politik verloren und fordern Neuwahlen. Ministerpräsident Necas will nun im Parlament die Vertrauensfrage stellen.
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https://www.deutschlandfunk.de/vertrauensabstimmung-in-prag-100.html
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Taifun stürzt Philippinen ins Chaos
"Haiyan" heißt übersetzt Sturmvogel. Und der Taifun, der am Morgen die Philippinen erreichte, macht seinem Namen alle Ehre. In Böen mit 379 Kilometern pro Stunde fegt er übers Land. Mindestens drei Menschen kamen bereits ums Leben. Ein US-Meteorologe sagte, er erwarte katastrophale Zerstörungen in dem Fischerort Guiuan, der als erster in der Flugschneise des Sturmvogels lag und der inzwischen von der Außenwelt abgeschnitten ist. Hundertausende Menschen verlassen ihre Häuser Die Stromversorgung und die Telefonverbindungen sind unterbrochen. Entwurzelte Bäume versperren Straßen. Aufgrund der Spitzengeschwindigkeiten sprechen die Experten inzwischen von einem "Super-Taifun". Wie die Behörde für Katastrophenschutz mitteilte, mussten bereits mehr als 680.000 Menschen ihre Häuser in Küstengebieten oder anderen gefährdeten Regionen verlassen. 22 Provinzen seien betroffen. Vorsorglich wurden bereits Schulen geschlossen und Hunderte Flüge gestrichen. Auf der Insel Bohol, wo seit einem Erdbeben im Oktober mit mehr als 220 Todesopfern zahlreiche Menschen noch immer in Zeltstädten leben, wurden Tausende Menschen in Notunterkünfte gebracht. "Haiyan" ist der schwerste Sturm des Jahres und innerhalb von drei Jahrzehnten. Auf den Philippinen gibt es normalerweise etwa 20 starke Stürme pro Jahr. Der Sturmvogel ist bereits der 24. in diesem Jahr. Meteorologen erwarten, dass der Taifun noch bis Samstag über den Philippinen wüten wird und dann über das Südchinesische Meer in Richtung Vietnam abzieht.
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Der Taifun "Haiyan" hat die Philippinen erreicht und das Land ins Chaos gestürzt. Am Morgen traf der Sturm auf die Insel Samar rund 600 Kilometer südöstlich von Manila. In Böen erreichte er bereits Geschwindigkeiten von rund 380 Kilometer pro Stunde. Mindestens drei Menschen starben bereits, Hundertausende mussten ihre Häuser verlassen.
"2013-11-08T11:51:00+01:00"
"2020-02-01T16:44:10.303000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tropischer-wirbelsturm-taifun-stuerzt-philippinen-ins-chaos-100.html
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Philharmonischer Techno
Nicht nur ein Ort für klassische Musik: In der Berliner Philharmonie treten auch Techno-Produzenten auf (dpa picture alliance/ Britta Pedersen) Wenn es in Deutschland eine Stadt gibt, die für elektronische Musik und Clubkultur steht, dann ist es Berlin. Legendäre Clubs wie der "Tresor" und später die "Love Parade" haben Berlin zu einer der Techno-Hauptstädte der Welt gemacht. Aber nicht jede Art von Techno beziehungsweise elektronischer Musik ist auch für den Club und die Tanzfläche produziert. Schon in den frühen 1990er-Jahren haben sich experimentelle Spielarten herausgebildet, die eher zum Hören als zum Tanzen geeignet waren. "Dieser Musik wollten wir einen Rahmen bieten", so Stefan Goldmann, der das Strom-Festival in der Berliner Philharmonie kuratiert hat. "Wir wollten Musikern die Möglichkeit geben, das, was sie normalerweise in Clubs oder auf experimentelleren Festivals machen, in einer ganz anderen Hörsituation aufzuführen." Technik gegen den Strich bürsten Techno ist für Stefan Goldmann eine Musik, die immer ihre eigenen Produktionsbedingungen thematisiert und auch hinterfragt hat. Denn: Techno sei aus einer Art Zweckentfremdung von Instrumenten heraus entstanden. "Die Pioniere des Techno hatten keinen Zugang zu großen Studios. Sie hatten billige Instrumente, die niemand anderes haben wollte, zum Beispiel Drum-Machines oder Basssynthesizer – also: Begleitinstrumente." Und diese Begleitinstrumente seien aus der Not heraus zu Hauptinstrumenten gemacht worden. "Das heißt", so Goldmann: "Technik gegen den Strich zu bürsten, ist in der Geburtsstunde von Techno und House schon mit drin." Und genau daraus entstanden dann auch künstlerische Konzepte wie die von Pole und Oval, die mit vermeintlichen Fehlern wie dem Knacken eines kaputten Synthesizerfilters oder dem Klicken defekter CDs gearbeitet haben. Verschiebung kultureller Parametern Eine der Künstlerinnen, die an diesem Wochenende beim "Strom"-Festival auftritt, ist Deena Abdelwahed. Sie stellt mit ihrer Musik die spannende Frage: "Wie würde Techno klingen, wenn er nicht in Detroit, sondern im arabischen Raum erfunden worden wäre?" Den Ansatz von Abdelbahed erläutert Stefan Goldmann so: "Wenn man einen Synthesizer kauft, ist der zunächst mal einem Klavier, also einem europäischen Instrument, nachempfunden. Er hat eine Tastatur. Und es hat sehr lange gedauert, bis Musiker aus dem arabischen Raum überhaupt mal ihr Stimmsystem darauf einsetzen konnten. Heute ist das ohne weiteres möglich – und Deena Abdelwahed macht genau das und schafft so in ihrer Musik eine völlig neue Ausgangslage. Das ist das spannende an Techno: Dass in dieser Musik immer mehr unterschiedliche Kulturen reflektiert werden." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Goldmann im Corsogespräch mit Sascha Ziehn
Beim Strom-Festival treten Techno-Künstler in der Berliner Philharmonie auf, wo sie laut Kurator Stefan Goldmann experimentellere Klänge ausprobieren können. „Techno findet normalerweise im Club statt. Aber viele Ansätze gehen gar nicht in Richtung ‚Tanzmusik‘“, sagte Goldmann im Deutschlandfunk.
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"2020-02-12T14:51:10.360000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/elektronische-musik-philharmonischer-techno-100.html
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Ideen für umweltfreundliches Bauen
Nachhaltigkeit am Bau, das ist mehr als Energie sparen. Das gehört natürlich auch dazu – wobei der derzeit im Neubau vorgeschriebene Niedrigenergie-Standard bald noch weit unterboten wird, meint Gerd Hauser, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik in Stuttgart."Ich gehe fest davon aus, dass wir ab dem Jahr 2020 so genannte Plusenergie-Häuser haben werden. Das sind Gebäude, die im Jahr mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. Wir müssen extrem dämmen, extrem luftdicht bauen, und dann mit Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung arbeiten. Zusätzlich, um Energie zu gewinnen, brauchen wir die Solarthermie und Photovoltaiksysteme – aber bitte in dieser Reihenfolge. Es hat keinen Sinn, dass man mit Photovoltaik beginnt und die Wärmedämmung vernachlässigt."In extrem gedämmten Häusern bildet sich leicht Schimmel – so die landläufige Meinung. Das stimmt aber nicht, wenn man zugleich Lüftungssysteme einbaut. Dann ist behagliches Wohnen oder Arbeiten möglich, wobei die Wärme der Abluft nach innen zurückgeführt wird. In Neubauten stecken solche Lüftungskanäle mit Wärmerückgewinnung in der Decke. Bestehende Gebäude haben dafür oft zu niedrige Räume."Deswegen die Lösung, dass man in dem Dämmstoff integrierte Lüftungskanäle vorsieht. Der Dämmstoff, der mittlerweile im Sanierungsfall 16 Zentimeter oder mehr dick ist auf der Außenwand, bietet genügend Platz, im wandnahen Bereich einen solchen Kanal aufzunehmen, damit ich außen die Verteilung vornehme – viel eleganter, als das im Gebäudeinneren zu machen."Und noch eine Neuentwicklung in Sachen Dämmstoffe ist auf der Messe zu sehen: Materialien, die nicht einfach Luft zwischen Innenraum und Außenwelt packen, sondern die Wärme aktiv speichern."Eine Technik, die wir von Verglasungen seit vielen Jahren kennen. Durch Beschichtung einer Verglasung konnten wir die Wärmedurchlasswiderstände erheblich verbessern. Gleiches gelingt nun auch beim Dämmstoff, dass man Graphit eingebettet hat, sodass der langwellige Strahlungsaustausch zwischen den Porenwandungen gemindert wird – und ich entweder zu deutlich kleineren Wärmeleitfähigkeiten komme und kleinere Schichtdicken brauche. Oder ich brauche deutlich weniger Rohstoffmaterial als beim üblichen Dämmstoff."Denn möglichst wenig Material zu verwenden, trägt auch zur Nachhaltigkeit bei. Wie auch die Nutzung des nachwachsenden Rohstoffs Holz. Selbst Aluminium, das nur unter hohem Energieaufwand herzustellen ist, lässt sich im Sinne der Nachhaltigkeit am Bau zum Beispiel bei Fenstern sinnvoll einsetzen, indem das Leichtmetall recycelt wird."Hier ist in meinen Augen eine Beschichtung mit Aluminium hervorragend. Also eine Mehrschichtkonstruktion: außen Aluminium, innen der tragende Körper Holz, womöglich wärmegedämmt, um einen hohen Wärmedurchlasswiderstand am Rahmen zu erzeugen. Das sind sinnvolle Lösungen – also bitte nicht ein Material von vornherein verdammen, es hängt sehr stark vom Anwendungsfall ab."Recyclingfähigkeit von Baustoffen ist ein weiteres Kriterium für nachhaltiges Bauen. Hier ist wichtig, möglichst wenig zu kleben, damit später eine sortenreine Trennung gelingt. Forscher der Uni Stuttgart entwickeln außerdem Betonfertigteile, etwa für Leitungsschächte. Sie werden nicht – wie bisher üblich - mit Wänden und Decken vergossen, sondern über spezielle Fugenverbinder verknüpft. Nach seiner Lebensdauer wird so ein Gebäude eher zerlegt als abgerissen. All das trägt zur Nachhaltigkeit am Bau bei. Sie wird seit heute mit einem eigenen Gütesiegel gewürdigt. Auch ein Gebäude, das Gerd Hauser untersucht hat, erhält diese Auszeichnung."Es geht um das Zentrum für Umweltbewusstes Bauen in Kassel, das bauphysikalische und anwendungstechnische Komponenten vorantreiben soll, das Bindeglied zwischen Wissenschaft, Handwerk und Industrie darstellt, so dass man dort in Richtung nachhaltiges und umweltgerechtes Bauen einen Impuls gesetzt hat."
Von Hellmuth Nordwig
Energieeffizienz war auf der Fachmesse BAU schon länger ein Thema – doch der Schwerpunkt in diesem Jahr verspricht mehr: Nachhaltiges Bauen. So wird anlässlich der Schau erstmals ein Haus zu sehen sein, das mehr Energie erzeugt als verbraucht.
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https://www.deutschlandfunk.de/ideen-fuer-umweltfreundliches-bauen-100.html
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"Hier sind Fallensteller und Trickser am Werk"
Donald Trumps Twitter-Meldungen auf einem Smartphone. Im Hintergrund das Logo von CNN. (imago / Jaap Arriens) Bisher war der US-Verlag Meredith mit Sitz in Iowa eher für Lifestyle- und Gartenmagazine bekannt. Mit dem geplanten Kauf des Time-Verlags versuche Meredith nun, politisch Einfluss zu nehmen, sagte der USA-Korrespondent Thilo Kößler im Dlf. Der Time-Verlag, ein mediales Schwergewicht, soll jetzt also von Meredith übernommen werden - für 2,8 Milliarden US-Dollar. 2003 hatte Meredith schon einmal den Versuch unternommen, den Time-Verlag zu kaufen, damals vergeblich. 2018 werde es vermutlich klappen, da Meredith finanziell von den milliardenschweren Koch-Brüdern unterstützt werde. Diese Allianz ist "ein politischer Coup", so Kößler. Auf diese Weise werde "die liberale Presse im Land mundtot gemacht". Das Interesse der Kochs am Kauf des Time-Verlags auch politisch motiviert Die Kochs hätten zwar geäußert, ihr Interesse am Time Verlag sei rein finanzieller Natur. "Das kann man 100.000 Mal mit den Augenaufschlag eines Unschuldslamms beteuern, sich darauf zu verlassen, wäre aber leichtsinnig." Ähnlich sei es auch bei Rupert Murdoch gewesen, der 2007 das Wallstreet Journal übernommen hatte. Finanzpolitisch ein Muss, sei das Blatt "aber politisch unerträglich", findet Kößler. Weiteres Beispiel: Die geplante Fusion zwischen At&T und Time Warner rücke die Medienlandschaft weiter nach rechts. Das Unternehmen AT&T sorge dabei für die Bereitstellung der Verbreitungswege und Time Warner für den Inhalt. Präsident Donald Trump knüpfe die "Super-Fusion" allerdings an eine Bedingung: Er wolle "nur zustimmen, wenn Time Warner sein Schlachtschiff CNN verkauft". CNN gelte Trump als "verhasster Sender", der das Bild eines linksliberalen Amerikas präge. "Sicher ist das alles kein Zufall." Trump habe seine Verbalattacken, seine "unflätigen Diskreditierungen, Unterstellungen (und) Denunzierungen" gegen CNN seitdem verschärft. Und das zu einem Zeitpunkt, so Kößler, zudem der russische Präsident Wladimir Putin seine umstrittenen Mediengesetze just verabschiedet hat. "Sicher ist das alles kein Zufall." Die Absicht scheine damit "klar zu sein: Die Rechtspopulisten wollen die kritischen Stimmen durch Eigentümerwechsel zum Schweigen bringen." "Schäbige Methoden der rechten Aktivisten enthüllt" Beispiel Nummer drei: Der Versuch einer konservativen Aktivistin, die "Washington Post" mit einer Falschmeldung in die Falle zu locken. Die Frau hatte sich bei der "Washington Post" gemeldet und hatte vorgegeben, im Alter von 15 Jahren vom republikanischen Senatorbewerber Roy Morre geschwängert worden zu sein. Sie habe daraufhin abgetrieben. Die Frau sei Mitglied der rechten Mediengruppe "Project Veritas". Eine "Strohfrau", die bewusst "Lügen und Irreführungen" gestreut habe. "Da sollte eine unseriöse Geschichte platziert werden", resümiert Kößler. Die "Washington Post" entschied sich gegen eine Veröffentlichung. Sie habe "großartig recherchiert". Das Blatt habe "nicht nur eine fingierte Geschichte auffliegen lassen, (es) hat damit auch die schäbigen Methoden der rechten Aktivisten enthüllt". Eine Garantie dafür, dass ein solcher Gegencheck - wie im Falle der "Washington Post" - immer gelinge, gebe es allerdings nicht: "Irgendwann könnte es bei allen Bemühungen und bei allen Sicherheitsvorkehrungen ins Auge gehen."
Thilo Kößler im Gespräch mit Isabelle Klein
Der konservative US-Verlag Meredith will den Time-Verlag kaufen, eine Informantin wollte die "Washington Post" mit einer Falschmeldung in die Falle locken, und ein Präsident, der bei der Fusion von AT&T und Time Warner mit dem Verkauf von CNN pokert - erleben die Medien in den USA gerade einen Rechtsruck?
"2017-11-29T15:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:59.487000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsruck-in-den-us-medien-hier-sind-fallensteller-und-100.html
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"Landwirte werden gezwungen, bedarfsgerecht zu düngen"
Die Landwirtschaft wird vor allem für die steigende Nitratbelastung des Grundwassers verantwortlich gemacht. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul) Jasper Barenberg: Eigentlich ist Gülle ein nützlicher Dünger, es sei denn es landet viel zu viel davon auf den Feldern und Böden. Denn Landwirte in Deutschland halten und mästen immer mehr Tiere auf immer weniger Höfen, und das ist Gift am Ende fürs Trinkwasser. Versorger müssen schon jetzt immer öfter mit teuren Verfahren dafür sorgen, dass das Trinkwasser sauber bleibt. In einer Studie warnt das Bundesumweltamt jetzt davor, dass der Wasserpreis deshalb um bis zu 45 Prozent steigen könnte, wenn nichts geschieht. Zum Jahresbeginn hatte der Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft gar einen Anstieg der Preise für Trinkwasser von bis zu 60 Prozent errechnet. Als Hauptgrund gilt in jedem Fall die Überdüngung in der Landwirtschaft. Am Telefon ist jetzt Bernhard Krüsken, der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes. Einen schönen guten Morgen! Bernhard Krüsken: Schönen guten Morgen! Barenberg: Herr Krüsken, warum sollen wir Verbraucher bald möglicherweise viel Geld für Schäden bezahlen, die Landwirte mit der vielen Gülle anrichten? Krüsken: Ich glaube, ich kann das ein bisschen entschärfen. Es gibt aus meiner Sicht zwei mögliche Erklärungen für diese Portionierung, die das UBA gemacht hat. Der erste Grund ist der, die waren die letzten sechs Monate offline und haben nicht hingehört, was sich im politischen Prozess und im Nitratbericht der Bundesregierung so darstellt, und die zweite Möglichkeit ist, man will jetzt einfach noch mal ein bisschen nachlegen. Also Sie merken, wir haben wenig Verständnis dafür, und ich will das auch erklären: Nitratbericht 2016 der Bundesregierung sagt eigentlich relativ klar, dass wir natürlich an einigen Stellen Probleme mit Nitrat im Grundwasser haben, dass wir aber auf keinen Fall hier eine Tendenz haben, dass alles immer schlimmer und alles immer schlechter wird. An relativ vielen Stellen hat sich die Nitratsituation im Grundwasser sogar verbessert, sodass wir davon ausgehen, dass ein Wasserversorger, der es bisher hinbekommen hat, die Nitratgehalte im Trinkwasser auf dem Niveau zu halten, wo sie jetzt sind, dass er keine zusätzlichen Investitionen machen muss. Zweiter Punkt, und das ist der eigentlich wichtige: Wir haben seit wenigen Tagen ein neues Düngerecht, um das wir wirklich lange gerungen haben – Landwirte, Wasserversorger, Politik –, und dieses neue Düngerecht in Form der neuen Düngeverordnung wird doch schon dramatische Veränderungen mit sich bringen für die Landwirte, für die Düngung, und sie wird – und das ist der wichtigste Punkt – einen signifikanten Beitrag dazu leisten, dass sich die Probleme, die man mit Nitrat im Grundwasser hat, weiter reduzieren. Barenberg: Herr Krüsken, lassen Sie uns gleich noch über das neue Düngerecht sprechen und bleiben wir einen Moment noch bei der Ausgangslage, bei der Situation jetzt. Ich nehme mal als Beispiel Schleswig-Holstein. Da hat auch der Bauernverband dort einräumen müssen, dass die Analyse stimmt, wonach es seit zehn Jahren keine Verbesserung gegeben hat, keine Verringerung der Nitratbelastung im Grundwasser, im Oberflächenwasser, und dass die Situation insgesamt als absolut besorgniserregend einzuschätzen ist. Zweifeln Sie an der Analyse Ihrer eigenen Vertretung in Schleswig-Holstein? Krüsken: Da muss man schon ein bisschen differenzierter hinschauen. Gerade Schleswig-Holstein hat natürlich auch eine Situation, wo es tatsächlich so ist, dass es seit zehn Jahren konstant ist, aber da ist kein flächendeckendes Nitratproblem im Grundwasser vorhanden. Da gibt es punktuell Probleme, die sind durchaus da, die müssen gelöst werden, da gibt es einen Handlungsbedarf. Insofern volle Übereinstimmung, aber das ist so mit dem halb vollen und dem halb leeren Glas. Viele Akteure in der Diskussion zeichnen das Bild, dass es nun immer schlimmer und immer dramatischer wird. "Bei einem Drittel der Messstellen eine Verbesserung der Nitratwerte" Barenberg: Aber wo wird es denn besser, Herr Krüsken? Wo ist es denn besser geworden in den vergangenen Jahren, denn die Probleme gibt es ja schon seit einer ganzen Weile? Krüsken: Wenn Sie in den Nitratbericht reinschauen, dann haben wir ungefähr bei einem Drittel der Messstellen eine Verbesserung der Nitratwerte, eine Senkung, und bei etwas mehr als einem Viertel haben wir eine Verschlechterung. Ich bestreite ja gar nicht, dass es dieses Problem gibt. Es gibt natürlich akuten Sanierungsbedarf, da, wo ich über die 40 in Richtung 50 Milligramm Nitrat im Grundwasser komme, da muss gehandelt werden, und da muss man vor Ort diese Messstelle, diesen Grundwasserkörper sanieren, und da spielt natürlich auch die Landwirtschaft eine entscheidende Rolle. Bundesbürger müssen vielleicht bald viel mehr für Trinkwasser bezahlen. (dpa/picture-alliance/Lukas Schulze) Barenberg: Heißt das, wenn wir an dem Punkt gleich bleiben, Herr Krüsken, heißt das für solche Gegenden, dass es dort eine feste Relation, ein festes Verhältnis zwischen Fläche und Viehwirtschaft braucht, denn nur dann ist garantiert, dass eben nicht mehr Stickstoffnitrate in den Boden gelangen als dieser Boden es verträgt? Krüsken: Man kann das nicht mit einer eindimensionalen Betrachtung machen. Stickstoff kann natürlich aus organischen Düngern kommen, er kann aus den Klärschlämmen kommen, er kann aus dem mineralischen Dünger kommen, und die Nährstoffbilanz in einer Region, auf einer Fläche, muss natürlich stimmen, und ich kann sie überstrapazieren sowohl mit tierischen Düngemitteln, also mit Gülle, ich kann sie aber auch mit anderen Stickstoffquellen überstrapazieren. Der Punkt ist der: Wir brauchen, oder es ist gute fachliche Praxis, die Dinge, die Nährstoffbilanz ausgeglichen zu haben, und das ist natürlich Aufgabe eines jeden Landwirtes und einer jeden Region. Barenberg: Jetzt haben Sie über die neue Düngeverordnung gesprochen, über die neuen Regeln, die seit einigen Tagen gelten und über die Jahre gestritten und verhandelt und beraten wurde. Jetzt heißt es, dass die gar nicht dafür sorgen, dass es weniger Dünger gibt, sondern dass der nur anders verteilt wird. Ist das richtig? Es wird überhaupt nicht weniger Dünger geben und weniger Austrag solcher Nitrate auf die Felder und auf die Böden? Krüsken: Ich kann dieser Aussage so nicht folgen, weil … Überwachung durch die Behörden Barenberg: Na ja, strengere Regeln, da würde man sich zunächst mal vorstellen, dass es weniger am Ende und eine geringere Belastung am Ende gibt, weil weniger auf die Felder kommt. Ist das mit diesen neuen Regeln gewährleistet? Krüsken: Lassen Sie mich so anfangen: Solange wir in der Landwirtschaft noch mineralische Düngemittel einsetzen, haben wir noch Verbesserungsbedarf bei organischen Düngemitteln. Es kann ja nicht sein, dass Regionen, in denen starke Viehhaltung stattfindet, Nährstoffüberschüsse haben und dann 100 Kilometer weiter noch Mineraldünger eingekauft wird. Ich glaube, das muss man sehen. Das Prinzip der neuen Düngeverordnung ist, dass jeder Landwirt gezwungen wird, bedarfsgerecht zu düngen und dass er vor allen Dingen diese Kalkulation unter den Augen der Behörde und unter der Überwachung der Behörde machen muss. Ich glaube, das ist der Punkt, und das wird natürlich in den Regionen, in denen eine starke Tierhaltung stattfindet, für erheblichen Druck auf die Fläche sorgen. Es geht ja hier bei dem Thema Düngung nicht darum, irgendwelche überschüssigen Nährstoffe loszuwerden, sondern es geht am Ende des Tages um die Ernährung von Pflanzenbeständen, und deshalb wird es auf Sicht in der Landwirtschaft ohne Düngemittel – und das gilt für den konventionellen und den ökologischen Landbau – nicht gehen. Barenberg: Sagt Bernhard Krüsken, der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes. Danke für Ihre Zeit heute Morgen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bernhard Krüsken im Gespräch mit Jasper Brenberg
Durch Überdüngung in der Landwirtschaft wird das Grundwasser mit Nitrat belastet. Das Bundesumweltamt warnt, dass die Reinigung zu einem deutlichen Anstieg der Wasserpreise führen könnte. Die neue Düngeverordnung bringe tendenziell eine Verbesserung der Grundwassersituation, sagte Bernhard Krüsken vom Deutschen Bauernverband im Dlf.
"2017-06-13T06:50:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:09.986000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nitratbelastung-des-grundwassers-landwirte-werden-gezwungen-100.html
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Geologen sollen umstrittene Besitzverhältnisse klären
Durch den Klimawandel und das schmelzende Eis ist der Arktische Ozean ins Interesse der Rohstoffsucher gerückt. (picture-alliance / dpa / Silvia Pecota) Der Nordpol sei ein Punkt inmitten eines kalten Meeres: Treibeis, 4.000 Meter Wassertiefe, Finsternis für drei Monate im Jahr, beschreibt Michael Byers von der University of British Columbia in Vancouver: "Der Nordpol liegt mehr als 650 Kilometer von der nächsten Küste entfernt und weit außerhalb jeder nationalen Wirtschaftszone. Er ist auf Hoher See, niemand wird je die Meeresoberfläche am Nordpol oder das Wasser besitzen können." Worauf Russland, Dänemark und Kanada Ansprüche erheben, ist etwas anderes, erläutert Jon Rahbek-Clemmensen von der Universität Süddänemarks: "Die ganze Debatte dreht sich um Gebirge am Meeresboden, vor allem um den 1.800 Kilometer langen Lomonossow-Rücken. Der erstreckt sich vom Norden Kanadas und Grönlands her über den Nordpol hinweg bis vor Russland. Nach dem UN-Seerechtsübereinkommen können Staaten den Meeresboden entlang solcher Gebirge beanspruchen, falls diese geologisch direkt mit ihrem Territorium verbunden sind. Dann sind sie Teil ihres Kontinentalschelfs, also der vom Meer überfluteten Randzonen eines Kontinents. Kanada sieht im Lomonossow-Rücken eine untermeerische Fortsetzung Nordamerikas, Dänemark eine Grönlands und Russland eine Nordasiens." Durch den Klimawandel und das schmelzende Eis ist der Arktische Ozean ins Interesse der Rohstoffsucher gerückt. 2008 hatte der US-amerikanische Geologische Dienst vermutet, dass rund ein Fünftel aller unentdeckten Öl- und Gas-Ressourcen der Welt in der Arktis liegen. Auch wenn die Gegend um den Nordpol selbst nicht vielversprechend aussieht, sollen Geologen nun die Besitzverhältnisse klären. Dabei arbeiteten die Staaten zusammen, urteilen die beiden Juristen: "Anders als in den Medien dargestellt, kooperieren die Länder. Sie kooperieren bei der Datensammlung und tauschen Daten aus, so, wie es das UN-System vorsieht." "Die Länder kooperieren stark miteinander" "So haben Kanada und Dänemark für die Erhebung wissenschaftlicher Daten am Nordpol einen Eisbrecher gechartert, der einem russischen staatseigenen Betrieb gehört. Die Länder kooperieren stark miteinander." Ohnehin sei die Aufteilung des Arktischen Ozeans fast überall unstrittig. Bei den Anträgen Russlands und Dänemarks gebe es nur eine schmale Überlappungszone - eben den Lomonossow-Rücken: Den reklamieren beide Staaten aufgrund der geologischen Befunde für sich. Wie der kanadische Antrag bei der UN-Kommission zur Begrenzung der Kontinentalschelfe in New York genau aussehen wird, ist noch offen: "Die Kommission wird die drei Anträge begutachten. Als erstes wird wohl über den russischen entschieden, denn Russland hatte 2001 einen Antrag gestellt, der jedoch wegen schlechter Begründung abgewiesen wurde. Das Verfahren selbst jedoch endet nicht mit dem Urteil der Kommission. Wenn sie erklärt, dass die Anträge wissenschaftlich ausreichend begründet sind, müssen sich die Länder zusammensetzen und gemeinsam über die Grenzziehung entscheiden." Und Jon Rahbek-Clemmensen glaubt, dass die drei Länder die Sache möglichst ohne großen Streit vom Tisch haben wollen. Auch Russland, denn das kann ohne die technologische Hilfe anderer nicht einmal die Bodenschätze direkt vor der eigenen arktischen Küste ausbeuten. Michael Byers: "Als vor einigen Jahren das Forschungs-U-Boot Mir 1 eine russische Flagge auf den Meeresboden des Nordpols aussetzte, bezeichnete der russischen Außenminister die Aktion nach internationalen Protesten als reine PR-Nummer - Wahlkampf eben. Während Russland die internationalen Regeln beachtet, spielt das Land - genau wie übrigens die anderen auch - für das heimische Publikum ein anders Spiel. Man muss hier Innenpolitik und internationale Diplomatie unterscheiden." Die Arktis sei so groß und so lebensfeindlich für Menschen, dass jeder Staat über einen Krieg dort Bankrott gehen würde: Kooperation sei für alle Anrainer billiger und einfacher. Und Jon Rahbek-Clemmensen betont: "Die größte Herausforderung werde es sein zu vermeiden, dass sich zu Hause eine Opposition gegen die friedliche Einigung auf verbindliche Landesgrenzen am Ozeanboden aufbaut."
Von Dagmar Röhrlich
Russland und Dänemark haben bei der zuständigen UN-Kommission einen Antrag eingereicht, den Boden des Arktischen Ozeans ihrem Territorium zuzuordnen. Auch die Nordpol-Anrainer USA, Kanada und Norwegen beanspruchen Teile dieses kleinsten Weltmeeres für sich. Für Uneinigkeit sorgt vor allem der sogenannte Lomonossow-Rücken - ein 1.800 Kilometer langes Unterwasser-Gebirge.
"2015-09-07T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:58:15.103000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wem-gehoert-der-nordpol-geologen-sollen-umstrittene-100.html
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Die Sippschaft von Schrödingers Katze
Schrödingers Katze hat Zuwachs auf Quantenebene erhalten (picture alliance/dpa/Patrick Pleul) "Seit 1935 geschlossene Box geöffnet: Schrödingers Katze ist eindeutig tot." So witzelte vor einiger Zeit "Der Postillion", ein Satire-Portal im Internet. Der Gag beweist: Auch außerhalb der Physik hat es Schrödingers Katze zu einiger Berühmtheit gebracht. "Schrödingers Katze geht zurück auf Erwin Schrödinger. Das war einer der Väter der Quantenmechanik." Sagt Martin Ringbauer, Physiker an der Universität Innsbruck. 1935 hatte Erwin Schrödinger eine Idee, wie man die Merkwürdigkeiten der damals noch jungen Quantenmechanik veranschaulichen könnte – und zwar mit einem drastischen Beispiel. Schwebezustand zwischen tot und lebendig "Die Idee ist: Eine Katze ist in einer Box, und in der Box ist auch ein Atom, das eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, radioaktiv zu zerfallen. Dann gibt's ein Gerät, das falls das Atom zerfällt, dann wird da Gift freigesetzt und dann stirbt die Katze leider." Mit der Zeit gerät das radioaktive Atom in einen seltsamen Zustand, so wollen es die Regeln der Quantenphysik. Mathematisch gesehen befindet sich das Atom dann in einer Art Schwebezustand zwischen Zerfallensein und Nichtzerfallensein. Auf die Alltagswelt übertragen würde das bedeuten, dass auch die Katze in einem Schwebezustand wäre - ein Schweben zwischen tot und lebendig. "Das bedeutet natürlich nicht, dass die Katze beides gleichzeitig ist. Sie ist weder tot noch lebendig noch beides gleichzeitig. Sondern es ist ein neuartiger Zustand, der ein Quantenzustand ist. Sprich: Solange man nicht hinschaut, bleibt dieser Quantenzustand erhalten. Wenn man nachschaut, findet man die Katze entweder in dem einen oder anderen Zustand." Quantenschweben zwischen vier Zuständen Klingt fast schon esoterisch, doch mittlerweile lassen sich diese Schwebezustände sogar technisch nutzen, etwa beim Quantencomputer. Anders als herkömmliche Computer rechnet der nicht mit Bits, also mit Nullen und Einsen, sondern mit Qubits, mit Schwebezuständen zwischen Null und Eins. Doch es blieb nicht bei Schrödingers Katze. Im Jahr 2001 stieß ein Physikteam auf einen nahen Verwandten. "Das ist der sogenannte Kompass-Zustand, wo man vier Möglichkeiten hat. Diese vier Möglichkeiten sind genauso wie Nord, Ost, Süd, West, die Hauptrichtungen vom Kompass, ausgerichtet." Ein Quantenschweben nicht zwischen zwei Zuständen wie bei Schrödingers Katze, also zwischen tot und lebendig, sondern zwischen vier: Bildlich gesprochen wäre eine Quanten-Kompassnadel irgendwie verschmiert und würde in alle vier Richtungen gleichzeitig zeigen – in Nord, Ost, Süd und West. Doch jüngst konnten Ringbauer und seine Kollegen noch einen draufsetzen - und zwar mit einem originellen Experiment. Photonen auf dem Mini-Trampolin "Wir hatten eine Membran. Das kann man sich als Trampolin vorstellen, das ist ungefähr einen Millimeter groß ist." Auf diesem Mini-Trampolin ließen die Fachleute einzelne Lichtteilchen auf und ab hüpfen, einzelne Photonen. "Was passiert, wenn wir mit einem einzelnen Photon die Membran anstoßen, dann kurz warten, dann nochmal anstoßen und dann wieder kurz warten und nochmal anstoßen? Und da sind wir auf eine ganze Familie von Zuständen gestoßen." Bei jedem dieser Photonenhüpfer geriet das Trampolin ins Schwingen, sodass sich die Schwingungen von aufeinanderfolgenden Hüpfern überlagerten. Und in ebendiesen Überlagerungen haben die Fachleute eine neue Klasse von Quantenzuständen erkannt – im Fachjargon Hyperwürfel genannt. Ein Beispiel dafür ist ein 4D-Würfel – ein abstrakter Würfel, der nicht im dreidimensionalen Raum existiert, sondern im vierdimensionalen. Das Besondere ist nun: Anders als bei Schrödingers Katze kann ein Quantenteilchen bei einem Hyperwürfel nicht nur zwei Zustände annehmen, sondern deutlich mehr. Mögliche Anwendungen in der Medizin "Beim vierdimensionalen Würfel wären es dann schon ziemlich viele. Da hat man acht Zustände ganz außen. Und nahe der Mitte gibt's dann nochmal acht Zustände. Es wird dann schon sehr kompliziert." Klingt zunächst wie ein weiteres Absurdum der Quantenmechanik. Doch in Zukunft könnten die neuen Verwandten von Schrödingers Katze einen ganz praktischen Nutzen haben - etwa bei der Entwicklung hochempfindlicher Magnetsensoren. "Die Motivation dahinter ist aus der Medizin und der Materialforschung. Wenn man so etwas wie Magnetresonanztomografie hat oder Ströme im Gehirn messen will, braucht man sehr gute Magnetfeldsensoren. Wenn man da an Genauigkeit gewinnen kann, kann man die Auflösung von solchen medizinischen Methoden verbessern." Eine Forschungsrichtung, die das Team um Martin Ringbauer nun einschlagen will.
Von Frank Grotelüschen
Das wohl prominenteste Sinnbild der absurden Quantenwelt ist Schrödingers Katze – ein Gedankenexperiment, bei dem das arme Tier zugleich lebendig und tot ist. Doch nun konnte ein internationales Forschungsteam diese Kuriosität sogar noch steigern.
"2019-08-19T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:48.296000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/quantenkosmos-die-sippschaft-von-schroedingers-katze-100.html
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"Wenn für den Betroffenen nichts rauskommt, ist es nicht sinnvoll"
Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka) Landsberg sprach sich für den Vorschlag von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) aus, den Unterhaltsvorschuss bis zum 18. Lebensjahr zu bezahlen. "Es ist nicht einzusehen, dass er wie bisher nur bis zum zwölften Lebensjahr bezahlt wird", sagte Landsberg. Doch es werde verkannt, dass viele Mütter nichts von dem Geld hätten. 87 Prozent derer, die den Unterhaltsvorschuss bekämen, würden auch Hartz-IV-Leistungen beziehen und müssten dieses Geld verrechnen. Für diese Frauen würde es "keine Besserstellung" geben. Und das sei kein Einzelfall. Dafür würde aber dennoch ein "Riesenorganisationsaufwand" betrieben werden müssen. "Wenn für den Betroffenen nichts rauskommt, ist es nicht sinnvoll", betonte Landsberg. 400.000 Anträge zusätzlich? Dem hält wiederum der Bund entgegen, dass ein Drittel der Hartz-IV-Bezieherinnen berufstätig ist. Dieser Gruppe von Aufstockerinnen werde mehr Unterhaltsvorschuss helfen, aus dem Hartz-IV-Bezug herauszukommen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums erhalten gegenwärtig 440.000 von insgesamt 1,6 Millionen Alleinerziehenden einen Unterhaltsvorschuss für ihre Kinder. Von der Reform würden 260.000 Kinder profitieren. Das beschreibt Landsberg als nicht überzeugend. "Denn dann bekommen die Kinder keine Leistungen aus dem Bildungspaket mehr. Es würden keine Klassenfahrten, keine Schulausrüstung oder Beiträge für den Sportverein dann mehr bezahlt." Das bedeute dann sogar eine Schlechterstellung. Vor diesem Hintergrund wolle er die finanzielle und personelle Belastung der Länder und der Kommunen nicht hinnehmen und forderte bei einer Ausweitung des Unterhaltsvorschuss entsprechende Zuwendungen vom Bund. Er geht von 400.000 Anträge zusätzlich aus, "die den Betroffenen kaum etwas bringen". Das Kabinett hat den Gesetzentwurf von Familienministerin Schwesig zum Unterhaltsvorschuss bereits beschlossen. Er soll ausgezahlt werden, wenn ein Elternteil den Unterhalt für das gemeinsame Kind verweigert. Die Begrenzung der Bezugsdauer von bislang sechs Jahren soll entfallen und die Altersgrenze der Kinder von zwölf auf 18 Jahre angehoben werden. Über die Finanzierung soll am Donnerstag beim Bund-Länder-Treffen entschieden werden. Das Gespräch in voller Länge: Ann-Kathrin Büüsker: Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig möchte Alleinerziehenden das Leben etwas erleichtern und den Unterhaltsvorschuss ausweiten. Bislang ist der stark begrenzt. Wenn das andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt, dann springt der Staat für maximal sechs Jahre ein und auch nur maximal bis zum 12. Lebensjahr. Schwesig will, dass der Vorschuss unbegrenzt bis zum 18. Lebensjahr gezahlt wird. Gelten soll das ihrem Willen nach schon ab Januar, aber da die Finanzierung weiterhin unklar ist, blockieren insbesondere die Länder, die Mehrkosten fürchten. Heute soll eine Einigung her im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen. Kritik kommt auch von den Kommunen und darüber möchte ich mit Gerd Landsberg sprechen, Vorsitzender des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Guten Morgen, Herr Landsberg. Gerd Landsberg: Guten Morgen, Frau Büüsker. Büüsker: Herr Landsberg, mehr soziale Gerechtigkeit für Alleinerziehende - was ist daran falsch? Landsberg: Das ist völlig richtig, das ist gut gemeint, aber leider schlecht gemacht. Es ist natürlich nicht einzusehen, dass man den Unterhaltsvorschuss nur bis zum 12. Lebensjahr bekommt, denn dann werden die Kinder teuer, sie kommen in die Pubertät, sie wachsen. Da unterstütze ich die Ministerin voll. Aber - und jetzt kommt das große Aber: Es wird etwas verkannt. Man kann das, ehrlich gesagt, nur an einem Beispiel festmachen. Nehmen wir an, die alleinerziehende Krankenschwester verdient 2500 Euro und der Vater zahlt nicht. Dann geht sie zum Jugendamt, die stellen den Tatbestand fest, okay, sie bekommt Geld, das geht bis 194 Euro vom 6. bis zum 11. Lebensjahr. Alles gut, finden wir richtig, finden wir auch über das 12. Lebensjahr hinaus richtig. Jetzt nehmen wir das andere Beispiel: Eine Frau ist erwerbslos, sie ist mit dem Kind im Hartz-IV-Bezug. Sie bekommt für den Lebensunterhalt monatlich 500 Euro plus Miete plus Krankenkasse, das soll uns nicht interessieren. Auch da zahlt der Vater nicht. Nun geht diese Frau auch zum Jugendamt und sagt, der Vater zahlt nicht. Dann sagen die: Gut, Du bekommst auch die 194 Euro. Die werden aber vom Hartz-IV-Bezug abgezogen. Das heißt, unterm Strich hat die Frau keinen Euro mehr, aber sie hat einen Riesen-Organisationsaufwand ausgelöst. Deswegen wird es jetzt noch komplizierter. Denn diesen Unterhaltsvorschuss zahlt der Bund zu einem Drittel und zu zwei Dritteln Kommunen und Länder. Das heißt, das muss dann intern verrechnet werden, rückwirkend und Ähnliches. Nun könnten Sie sagen, das ist ein Einzelfall, aber ist es leider nicht. 87 Prozent aller Personen, die Unterhalts-Vorschussleistungen bekommen, sind im Hartz-IV-Bezug. Das heißt, für die ganz, ganz große Mehrheit der Betroffenen bringt dieses Gesetz jedenfalls keine Besserstellung. "Wir können nicht das Personal in den Jugendämtern verdoppeln, um letztlich ein Großteil von Anträgen zu bearbeiten, die den Betroffenen kaum was bringen." Büüsker: Aber, Herr Landsberg, hier argumentiert der Bund, dass gerade berufstätige Aufstocker durch den Unterhaltsvorschuss aus Hartz IV rauskommen. Landsberg: Aufstocker sind natürlich nur ein kleiner Teil und das ist die Frage, wie hoch sie aufstocken. Jetzt bringe ich Ihnen noch das dritte Beispiel und das ist, ehrlich gesagt, noch schlimmer. Jetzt nehmen wir wieder die Mutter - es sind ja meistens Mütter -, die hat jetzt nicht den vollen Hartz-IV-Bezug, sondern ist nur Aufstockerin. Nehmen wir an, sie stockt um genau 194 Euro auf. Jetzt geht die wieder zum Jugendamt. Dann sagen die: Gut, Du hast den Unterhaltsvorschuss-Anspruch, Du bekommst diese 194 Euro. Damit ist sie in der Tat aus Hartz IV raus, aber sie hat Nachteile, denn auf einmal bekommt das Kind keine Leistungen mehr nach dem Bildungspaket. Es bekommt die Klassenfahrt nicht bezahlt, es bekommt die Ausrüstung für die Schule nicht bezahlt, es bekommt den Sportverein nicht mehr bezahlt. Das heißt, im Einzelfall - ich gebe allerdings zu, das ist ein Einzelfall - ist dann sogar eine Schlechterstellung mit dem insgesamt aber gut gemeinten Ziel erreicht, und deswegen glauben wir, kann die Konstruktion nicht so funktionieren. Man muss auch ehrlich sein: Wir liegen jetzt bei Kosten pro Jahr von rund 800 Millionen. Das wird sich verdoppeln. Wenn der Bund so was machen will, dann soll er auch die Kosten tragen, und zwar auch unsere Personalkosten. Wir können nicht, wenn das Gesetz jetzt im Dezember in Kraft tritt, mal eben überall das Personal in den Jugendämtern verdoppeln, um letztlich ein Großteil von Anträgen zu bearbeiten, die den Betroffenen kaum was bringen. Büüsker: Das sagen Sie, dass es den Betroffenen kaum etwas bringt. Aber ist es nicht auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit, dass wir gerade die Menschen, die besonders wenig haben, auch unterstützen, gerade auch in Zeiten von schwarzer Null im Haushalt und Millionen Steuerüberschüssen? Landsberg: Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich bin ja dafür, dass es ausgeweitet wird. Ich bin nur nicht dafür, dass es bei denen angewandt wird, die sowieso nichts davon haben. "Das ist keine Diskriminierung von Hartz-IV-Empfängern" Büüsker: Also Hartz-IV-Empfänger rausnehmen? Landsberg: Der normale Bezieher, der soll das bekommen, das ist in Ordnung. Aber der Hartz-IV-Bezieher, da muss es doch angerechnet werden. Wenn der Vater seiner Unterhaltspflicht nachkommt, dann ist der Hartz-IV-Betrag geringer. Das ist ja auch ganz logisch. Niemand behauptet, dass das nicht angerechnet werden soll. Es wird nur nicht so formuliert. Büüsker: Verstehe ich Sie dann richtig, dass Sie Hartz-IV-Empfänger vom Unterhaltsvorschuss ausnehmen wollen? Landsberg: Nein, natürlich nicht, weil ich das Geld von den Vätern ja haben will. Ich will nur sagen: Der Hartz-IV-Empfänger, der muss gar nicht erst zum Jugendamt gehen. Das Amt selber, in dem Fall das Jobcenter versucht, den Anspruch gegenüber dem Vater durchzusetzen, und wenn das gelingt, dann ist es gut. In den meisten Fällen gelingt es nicht. Aber diese Doppelbürokratie, die wir haben, mit der Verrechnung, die nützt den Betroffenen in dem Fall - ich habe die Fälle ja genannt - nichts. Das ist keine Diskriminierung von Hartz-IV-Empfängern. Ich glaube auch, ehrlich gesagt, dass der Masse der Menschen es ziemlich egal ist, wenn ich 500 Euro kriege. Letztlich ist ja auch der Unterhaltsvorschuss eine Sozialleistung. Der Staat greift ein, weil der Betroffene, in dem Fall der Vater nicht das tut, was er eigentlich tun müsste. Diese feingliedrige Differenzierung, dass man da Hartz-IV-Empfänger benachteiligt, die kann ich nicht erkennen. Büüsker: Okay. - Das heißt, Sie würden aber, würde der Bund das Ganze straffen, organisatorisch auf bessere Füße stellen und auch mehr Geld zugeben, dann wären Sie zufrieden? Landsberg: Dann wäre ich nicht glücklich, aber dann wäre ich zufrieden. Wenn der Bund sagt, wir wollen das und wir zahlen den Kommunen auch das Personal. Aber ich sage ganz deutlich: Bis zum 1. Januar schaffen wir das mit dem Personal nicht. Das sind zig Stellen. Ich will mal eine Zahl nennen. Wir gehen davon aus, der Bund sagt, es sind etwa 260.000 zusätzliche Anträge. Wir gehen von über 400.000 aus. Das ist natürlich bedauerlich, dass so viele Eltern oder Elternteile ihren Unterhaltspflichten nicht nachkommen. Aber ich kann es nicht ändern und wenn jetzt diese Riesen-Verwaltungsaufgabe auf den Weg gebracht wird, dann brauchen wir dafür Zeit, und ich denke, es ist jetzt auch nicht entscheidend, ob das am 1. Januar oder am 1. Juli in Kraft tritt. "Wenn der Bund diese soziale Gerechtigkeit schaffen will, dann ist es auch seine Pflicht, es zu finanzieren" Büüsker: Na ja, für die Betroffenen dürfte es schon entscheidend sein, ob sie für ein paar Monate mehr Geld bekommen oder eben nicht. Landsberg: Ja. Aber ich habe Ihnen ja versucht, klar zu machen, dass 87 Prozent der Betroffenen ohnehin nicht mehr kriegen. Büüsker: Macht immerhin noch ein paar Prozent, die etwas mehr bekommen. Landsberg: Das ist richtig. Auch das würde ich mitmachen, wenn man sagen würde, okay, zum 1. Januar nur die, die wirklich was davon haben. Das würden wir auch verwaltungsmäßig schaffen. Aber die Bereitschaft sehe ich da, ehrlich gesagt, nicht. Büüsker: Ministerin Schwesig hat ja auch einen anderen Kompromiss angeboten, nämlich das Ganze später einzuführen, aber dann rückwirkend zu bezahlen. Wäre das ein guter Kompromiss? Landsberg: Das ist natürlich schon eine gewisse Erleichterung, aber Sie wissen auch, was das bedeutet. Dann stehen die Leute im April Schlange und wir müssen es rückwirkend berechnen. Das ist immer besser, als wenn alles am 1. Januar in Kraft tritt, aber es ist eigentlich auch nur eine Krücke, wenn man ehrlich ist. Büüsker: Aber es wäre immerhin etwas, damit die Leute ihr Geld bekommen. Landsberg: Es wäre etwas, damit die Leute ihr Geld bekommen. Büüsker: Und letztlich reden wir über soziale Gerechtigkeit und wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, ob das nicht ein Aufwand ist, den wir auf uns nehmen müssen. Landsberg: Ja, das ist schon richtig. Ich bin ja wie gesagt auch dafür. Aber wenn unterm Strich für den Betroffenen nichts rauskommt, dann ist es eigentlich nicht so richtig sinnvoll aus meiner Sicht. Und wenn der Bund diese soziale Gerechtigkeit schaffen will, dann ist es doch wohl auch seine Pflicht, es zu finanzieren und es nicht den Kommunen und den Ländern zu überlassen. Büüsker: … sagt Gerd Landsberg, Vorsitzender des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Herr Landsberg, vielen Dank für das Gespräch. Landsberg: Bitte schön, Frau Büüsker! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerd Landsberg im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
Der Städte- und Gemeindebund kritisiert die zusätzlichen Kosten für Kommunen und Länder bei der Erweiterung des Anspruchs von Alleinerziehenden auf Unterhaltsvorschuss. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg sagte im DLF, die meisten Betroffenen bezögen auch Hartz IV und müssten das Geld ohnehin damit verrechnen.
"2016-12-08T08:20:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:40.062000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unterhaltsvorschuss-wenn-fuer-den-betroffenen-nichts-100.html
773
Taliban-Offensive vor Geberkonferenz für Afghanistan
Afghanische Sicherheitskräfte stehen in der Stadt Kundus. Zuvor hatten Taliban die Stadt angegriffen. (imago / Xinhua) Die Taliban griffen in der Nacht und im Morgengrauen von mehreren Seiten an. Zuvor hatten sie wichtige Zufahrtsstraßen blockiert. Wie weit sie in die Stadt Kundus eindringen konnten, darüber gibt es widersprüchliche Angaben. Die Regierung spricht vom Stadtrand. Anwohner in der Stadt aber berichteten auch von Schüssen und Explosionen im Zentrum von Kundus, nicht weit vom Sitz des Gouverneurs entfernt. Einige Außenbezirke seien bereits in der Hand der Taliban. Die afghanische Luftwaffe flog mehrere Angriffe. Auch Helikopter sind im Einsatz. Die wenigen Mitarbeiter internationaler Organisationen, die noch in Kundus arbeiten, bereiten sich Medienberichten zufolge darauf vor zu fliehen. Anwohner berichteten jedoch, selbst eine Flucht sei gefährlich, weil unter anderem die afghanischen Sicherheitskräfte auf alle Fahrzeuge schießen würden, die in den Straßen der Stadt unterwegs sind. Andere Anwohner bestätigten Regierungsangaben, wonach sich die Taliban aus ihren Positionen wieder zurückziehen würden. Die internationalen Einheiten in Afghanistan erklärten, die US-Armee sei bereit, die afghanischen Soldaten zu unterstützen. Ob es bereits zu Einsätzen von amerikanischen Spezialeinheiten oder der Luftwaffe gekommen ist, das blieb aber offen. Die Bundeswehr ist ebenfalls seit einigen Monaten wieder dauerhaft in Kundus stationiert. Die deutschen Soldaten sollen ihre afghanischen Kollegen beraten, eingreifen in die Kämpfe sollen sie aber nicht. Taliban-Kämpfer hatten sich in der Stadt versteckt Die Lage in der gesamten Provinz Kundus hatte sich in den vergangenen Wochen drastisch verschlechtert. Unter anderem hatte die afghanische Parlamentsabgeordnete Shukria Paykan Ahmadi vor wenigen Tagen im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Südasien vor einem erneuten Fall der Stadt gewarnt: "Bei meinem letzten Besuch vor wenigen Tagen konnte ich nicht einen einzigen Distrikt besuchen. Die Taliban kontrollieren drei Distrikte vollständig und in den anderen beschränkt sich der Einfluss der Regierung auf das Gelände, in dem wichtige Behörden wie etwa die Polizei untergebracht sind. Auch in der Stadt Kundus hat die Regierung nicht die vollständige Kontrolle." Tatsächlich hatten sich Taliban-Kämpfer in der Stadt versteckt gehalten. In einigen Distrikten regieren sie dagegen offen und haben eigene Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Der Armee gelang es bisher nicht, eine entscheidende Offensive gegen die Extremisten durchzuführen. Die Sicherheitskräfte sind an zu vielen anderen Schauplätzen gebunden. Unter anderem verloren sie in Helmand in Südafghanistan heute einen Distrikt. Auch die dortige Provinzhauptstadt sowie die Hauptstadt der Provinz Uruzgan standen in den vergangenen Wochen kurz vor dem Fall. Morgen beginnt in Brüssel eine internationale Geberkonferenz für Afghanistan, auf der es um Milliardenhilfen für das vom Krieg zerrüttete Land gehen soll. Die heutige Offensive der Taliban war offenbar im Zusammenhang mit dieser Konferenz geplant worden. Das deuten die Taliban in mehreren Äußerungen an, in denen sie die Konferenz brandmarken. Die Milliardenhilfen dienten nicht dem afghanischen Volk, sondern korrupten Regierungsmitgliedern, heißt es in einem der Statements.
Von Jürgen Webermann
Die Lage in der afghanischen Provinz Kundus hat sich in den vergangenen Wochen drastisch verschlechtert, heute griffen die Extremisten die Stadt Kundus an. Die Offensive steht vermutlich im Zusammenhang mit einer internationalen Geberkonferenz für Afghanistan in Brüssel.
"2016-10-03T13:25:00+02:00"
"2020-01-29T18:57:07.469000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kaempfe-in-kundus-taliban-offensive-vor-geberkonferenz-fuer-100.html
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Peking erstickt im Smog
Den vollständigen Beitrag können Sie mindestens bis zum 14. Juni 2013 in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
Von Ruth Kirchner
Seit Tagen bleibt den Menschen in Peking die Luft weg: Über der chinesischen Hauptstadt hängt die Smogglocke so dicht und tief wie selten zuvor. Jetzt haben die Behörden erstmals Smog-Alarmstufe Orange ausgerufen.
"2013-01-14T11:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:04:22.118000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/peking-erstickt-im-smog-100.html
777
"Es gibt keine Alternative zu den Vereinten Nationen"
Eine junge Frau mit einem Unicef-Karton an einer Straße in der Nähe Rakkas (imago stock&people) Stefan Heinlein: In wenigen Tagen, im März geht der Bürgerkrieg in Syrien in sein achtes Jahr. Längst ist aus diesem Bürgerkrieg auch ein Stellvertreterkrieg geworden. Größere und kleinere Mächte erhoffen sich Vorteile - Russland und die USA, die Türkei und der Iran. Was die Menschen in den verschiedenen Kriegsgebieten jeden Tag erleiden müssen, übersteigt in den meisten Fällen das eigene Vorstellungsvermögen. Ein Massaker, das es zu verurteilen gilt - so die klaren Worte der Bundeskanzlerin im Bundestag. Nun gibt es zumindest einen kleinen Funken Hoffnung. Die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrates haben am Wochenende nach langer Debatte eine Resolution über eine sofortige Waffenruhe angenommen. Eine Chance für die internationalen Hilfsorganisationen, die notleidenden Menschen in Ost-Ghuta zumindest mit dem Notwendigsten zu versorgen. Bei mir im Studio ist Ninja Charbonneau von Unicef Deutschland, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Guten Morgen, Frau Charbonneau. Ninja Charbonneau: Guten Morgen. "Der erste Hoffnungsschimmer" Heinlein: Wie wichtig ist diese Resolution für Ihre Arbeit? Charbonneau: Sie ist sehr wichtig, weil sie ein Signal ist. Es ist zumindest ein Hoffnungsschimmer, der erste Hoffnungsschimmer seit langem für die Menschen in Ost-Ghuta, vor allen Dingen für die Familien und Kinder. Aber dem müssen jetzt natürlich erst mal Taten folgen. Das heißt, wir müssen sehen, dass es wirklich auch eine Waffenruhe gibt, die diesen Namen verdient, damit die Helfer rein können und ihren Job machen können. Heinlein: Wie rasch können Sie denn in die Stadt nach Ost-Ghuta, um dort dann Nahrung, Wasser und Medikamente zu verteilen? Gibt es da schon Indizien? Charbonneau: Sobald wir Zugang haben, sind wir drin. Das geht, innerhalb von 24 Stunden wäre das kein Problem, denn Damaskus ist nur wenige Kilometer entfernt. Die Entfernungen sind ja… das ist ein Steinwurf sozusagen von Ost-Ghuta. Dort haben wir unsere Warenlager, dort haben wir unser Hauptbüro. Wir können jederzeit rein. Wir sind auf Standby und sobald sich die Möglichkeit bietet, werden wir den Familien helfen. "Mindestens zwölf Prozent der Kinder mangelernährt" Heinlein: Die Stadt war ja belagert von den Assad-Truppen. Das war eine fast mittelalterliche Strategie mit dem Versuch, die Menschen quasi auszuhungern und zum Aufgeben zu bewegen. Wer kontrolliert dann in Zukunft, was Sie in die Stadt bringen? Charbonneau: Ja, es ist überall im Land so, dass wir natürlich darauf angewiesen sind, zu verhandeln mit denjenigen, die die Kontrolle haben über das jeweilige Gebiet. In letzter Zeit hat die Regierung mehr Gebiete zurückerobert und mehr Gebiete stehen deshalb unter Regierungskontrolle. Aber egal wo, wir unterscheiden nicht, sondern wir bringen Hilfe zu den Kindern, zu den Familien, egal wo sie sind, und haben das auch immer wieder von allen Konfliktparteien eingefordert. Ninja Charbonneau, Pressesprecherin von Unicef Deutschland (Deutschlandradio / Nina Carbonetti) Heinlein: Sie unterscheiden nicht, Frau Charbonneau, sagen Sie. Unicef unterscheidet nicht. Gehen Nahrung und Medikamente nicht nur an die Zivilbevölkerung, sondern möglicherweise auch an die islamistischen Kämpfer und Rebellen, die in Ost-Ghuta dort aktiv sind? Charbonneau: Wir verteilen Hilfe an Kinder, an Familien. Die Kinder können nichts für diesen Krieg. Sie sind gefangen in diesem Konflikt. Sie leiden darunter. Wir wissen, dass in Ost-Ghuta mindestens zwölf Prozent der Kinder mittlerweile mangelernährt sind durch diese Abriegelung und durch diese, wie Sie es auch zurecht genannt haben, mittelalterliche Strategie, die Leute auszuhungern. Das ist sehr besorgniserregend und die Kinder – ich sage es noch mal -, sie können nichts für diesen Konflikt und brauchen dringend Hilfe. "Lage ist nach dem Bombardement mit Sicherheit noch dramatischer" Heinlein: Wird es denn auch die Möglichkeit geben, ist das absehbar, die Verwundeten, Kinder und andere Menschen aus der Stadt zu bringen? Die medizinische Infrastruktur, die Krankenhäuser, das war ja ein Ziel dieses Bombenhagels von Assad. Charbonneau: Ja, genau. Zuletzt ist es am 14. Februar, vor knapp zwei Wochen, einem UN-Konvoi gelungen, nach Ost-Ghuta reinzukommen, und auch Unicef-Mitarbeiter waren bei diesem Konvoi dabei. Was sie geschildert haben, sind wirklich dramatische Szenen von Menschen, die völlig ausgehungert waren, die schwer verletzt waren, die mangelernährt waren, die völlig erschöpft waren. Es ist dringend Hilfe nötig. Schon da sagten die Vereinten Nationen, sie rechnen damit, dass 700 Menschen evakuiert werden müssen aus medizinischen Gründen. Das war noch vor dem schweren Bombardement der letzten Tage, wo ja weitere Krankenhäuser offenbar zerstört worden sind. Das heißt, die Lage ist jetzt mit Sicherheit noch dramatischer geworden. Wasserversorgung, Schulaufbau, psychosoziale Hilfe Heinlein: Ist Ost-Ghuta die einzige Region, wo Unicef aktiv ist in Syrien, oder gibt es noch andere Regionen? Charbonneau: Ja, wir sind in ganz Syrien aktiv. Ich bin selbst im November in Aleppo gewesen und habe mir dort die Programme ansehen können. Auch Aleppo stand ja vor etwas mehr als einem Jahr in den Schlagzeilen wegen der schweren Bombardements. Das Ergebnis kann man da jetzt sehen: Die Hälfte der Stadt, mehr oder weniger, liegt in Trümmern und die Menschen stehen vor dem Nichts. Sehr viele sind binnenvertrieben, haben aber auch keine Häuser, zu denen sie wieder zurückkehren können. Dort leisten wir umfangreiche Hilfe durch Wasserversorgung, durch Schulaufbau, durch psychosoziale Hilfe für die Kinder. Aber auch zum Beispiel im Norden haben wir jetzt neu wieder Zugang zu den ehemals IS-Gebieten und auch dort ist der Bedarf gewaltig. "UN-Sicherheitsrat nur so so stark wie seine Mitglieder es zulassen" Heinlein: Frau Charbonneau, Unicef ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, eine Tochter der UN, der Vereinten Nationen. Wie haben Sie in Köln das tagelange Gezerre im UN-Sicherheitsrat in New York um eine Waffenruhe beobachtet? Charbonneau: Ja, das ist natürlich schwer erträglich für alle, die wie wir mit leiden mit den Menschen in Syrien und die sich nichts sehnlicher wünschen, mit den Menschen dort, dass endlich Frieden herrscht oder dass zumindest eine Waffenruhe herrscht. Dass die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sich dort tagelang nicht einigen konnten, das war schon sehr schwer zu ertragen. Heinlein: Schwer zu ertragen. - Ist man auch ein Stück weit wütend auf die Politik, auf den Weltsicherheitsrat, auf die Akteure dort, auf dieses Taktieren? Schämt man sich vielleicht sogar, dass Ihre Dachorganisation da nicht schneller reagiert? Charbonneau: Ich finde, man muss da unterscheiden, denn wir reden hier von dem UN-Sicherheitsrat. Der ist immer nur so gut und so stark, wie seine Mitglieder es zulassen. Aber zu den Vereinten Nationen gehören auch wir als UN-Kinderhilfswerk. Zu den Vereinten Nationen gehört auch das Welternährungsprogramm, die Weltgesundheitsorganisation, das Flüchtlingshilfswerk und viele andere, die wirklich Enormes leisten, und das schon seit Beginn des Konfliktes, seit fast sieben Jahren, und ich finde, das darf man dabei auch nicht vergessen. "Viele Kollegen riskieren Tag für Tag ihr eigenes Leben" Heinlein: Wenn Sie sich, Frau Charbonneau, etwas wünschen könnten als Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, als Unicef, welche Reform der Vereinten Nationen, der UN wäre da aus Ihrer Sicht am notwendigsten? Charbonneau: Da gibt es sicherlich auch einiges, was sich verbessern ließe. Das ist gar keine Frage. Effizienz - da kann man immer weiter dran arbeiten; Transparenz, da kann man weiter dran arbeiten. Da gibt es mit Sicherheit noch viel zu tun. Aber ich finde auch, jetzt immer auf den Vereinten Nationen herumzuhacken, während viele von unseren Kollegen gerade in Syrien auch ihren Kopf riskieren, Tag für Tag ihr eigenes Leben riskieren, um Menschen zu helfen, da tue ich mich dann auch schwer mit. "Es ist immer blutiger, immer komplizierter geworden" Heinlein: Dennoch die Frage. Sind die Vereinten Nationen in ihrer jetzigen Form überhaupt noch in der Lage, auf Konflikte wie in Syrien angemessen zu reagieren? Die UN wirkt ja an vielen Stellen recht hilflos und viele fordern andere Strukturen. Charbonneau: Welche Strukturen sollen das denn sein, wenn Sie mir mal eine Gegenfrage erlauben? Denn wir haben keine Alternativen zu der Diplomatie. Wir haben gesehen, gerade in Syrien, dass die Lage nicht besser geworden ist für die Menschen vor Ort, je mehr Akteure sich einmischen. Im Gegenteil: Es ist immer blutiger, immer komplizierter geworden. Das heißt, es gibt keine Alternative zu den Vereinten Nationen. Es gibt keine Alternative zu Gesprächen und einem Friedensprozess, auch wenn der lange dauern wird. Heinlein: Noch einmal zurück zur praktischen Ebene, Frau Charbonneau. Wie gut funktioniert denn die Zusammenarbeit dieser großen Hilfsorganisation, der Unicef, mit den kleineren privaten Organisationen? Charbonneau: Wir arbeiten überall, so auch in Syrien, immer mit einem breiten Netzwerk von Partnern zusammen. Das sind einerseits unsere UN-Partnerorganisationen, aber eben immer auch ein sehr breites Netz aus Nichtregierungsorganisationen, nationalen und internationalen. Anders können wir unsere Arbeit gar nicht machen. Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Ninja Charbonneau, Sprecherin von Unicef Deutschland. Ganz herzlichen Dank für den Besuch hier im Studio. Charbonneau: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ninja Charbonneau im Gespräch mit Stefan Heinlein
Ninja Charbonneau von Unicef Deutschland hat Kritik an der Uno zurückgewiesen: Es gebe keine Alternative zu Diplomatie und Gesprächen, auch wenn dies lange dauern werde, sagte Charbonneau im Dlf. Die UN-Resolution zur 30-tägigen Waffenruhe in Syrien sei seit langem ein erster Hoffnungsschimmer im Syrienkrieg.
"2018-02-26T08:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:40:57+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unicef-zur-lage-in-syrien-es-gibt-keine-alternative-zu-den-100.html
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Agrarminister Schmidt will Herkunftsbezeichnungen doch nicht abschaffen
Im "Spiegel" sagte Schmidt, Hersteller regionaler Spezialitäten wie Schinken oder Brot könnten durch TTIP ihre Privilegien verlieren. (Imago/Imagebroker) Er wolle die Herkunftsbezeichnungen nicht abschaffen sondern sichern und erhalten, sagte Schmidt dem Bayerischen Fernsehen. Nur so könnten sie den USA vermittelt werden. Wo regional draufstehe, müsse auch regional drin sein. Verbraucherschutz und Vertrauen sei bei dem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP dringend notwendig. Die EU-Kommission müsse vor den Verhandlungen mit den USA über den Handelsvertrag "klare Kante" zeigen, forderte der CSU-Politiker. Bayerisches Bier müsse aus Bayern, fränkischer Bocksbeutel aus Franken stammen, forderte Schmidt. Das schaffe Transparenz für die Verbraucher und schütze kleine Hersteller aus den Regionen. Zuvor Privilegien in Frage gestellt Zuvor hatte Schmidt im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erklärt, wenn man die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wolle, könne man nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen. Hersteller regionaler Spezialitäten könnten durch das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA ihre Privilegien verlieren. Die Verhandlungen der Europäische Union und der USA über das umstrittene Freihandelsabkommen laufen seit 2013, bis Ende dieses Jahres sollen sie beendet sein. Die Bundesregierung sieht in TTIP neue Chancen für Wachstum und Beschäftigung. Dagegen sorgt der geplante Vertrag bei Umwelt- und Verbraucherschützern sowie auch bei Kulturverbänden für Kritik. Sie befürchten eine Senkung mühsam errungener Schutzstandards und rügen eine Intransparenz bei den Gesprächen. Umstritten sind auch die unabhängigen Schiedsgerichten, vor denen einzelne Firmen ein Land verklagen könnten. (bor/jcs)
null
Kein Schwarzwälder Schinken mehr? "Wir können nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen." So äußert sich Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt im neuen "Spiegel" zum Freihandelsabkommen TTIP. Doch dann relativiert er - deutlich.
"2015-01-04T18:43:00+01:00"
"2020-01-30T12:15:27.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommen-ttip-agrarminister-schmidt-will-100.html
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Programmieren ist wie ein Hausbau
Die Apps von Twitter, Snapchat, Instagram, Netflix und den Mediatheken von ARD und ZDF auf einem Smartphone. (dpa / Rolf Vennenbernd) Obwohl es in seinem Arbeitsalltag nur so von Quellcodes wimmelt, wie ein Nerd sieht Thomas Kollbach nicht aus. Dreitagebart, bequemer Wollpulli, ein freundlicher, offener Typ. Kollbach sitzt über seinem Laptop in einem Berliner Büro, ruft den Quellcode einer App auf. In einer Programmiersprache ist sie quasi die für Menschen lesbare Variante der Software, erklärt der 34-Jährige. Mit zwei Kommilitonen hat der Informatiker vor ein paar Jahren die Evenly GmbH gegründet. Ohne die Codes geht es nicht. Um eine App zu schaffen, sagt Kollbach, braucht es jedoch mehr als nur eine Programmiersprache. "Empathie ist sicherlich ein Faktor, Empathie und ein Verständnis dafür, wie Entscheidungsprozesse funktionieren. Also man kann eine App nicht nur mit einem Softwareentwickler entwickeln. Man braucht einen Designer, man braucht einen Produktmanager, der dieses Gesamtpaket im Blick hat. Man braucht Tester, man braucht User-Experience-Experten, es gibt also sehr, sehr viele Bereiche." Auf dem Computer-Display vor ihm tauchen im Sekundentakt neue Zeilen mit neuen Zahlen auf. Das Bild erinnert irgendwie an die Matrix im gleichnamigen Film. Monatelange Tüftelei Der App-Entwickler verbindet das Smartphone mit dem Laptop. Auf dem Handy erscheint plötzlich eine orangefarbene, quadratische Grafik. Die App des Fernsehsenders arte. Thomas Kollbach tippt auf die Oberfläche, Herzlich willkommen in der Version 4.5 steht dort! Außerdem, dass der Videoplayer verbessert worden sei. Thomas Kollbachs Team hat den Code geschrieben. Er tippt auf einen Programmhinweis. "Diese menschenlesbare Version der Programmiersprache wird quasi übersetzt von einer Komponente, die sich Compiler nennt. Und dieser Compiler verwandelt das dann in Maschinencode. Also in die Sprache, die der Prozessor des Telefons versteht." Was simpel klingt, bedeutet in Wirklichkeit monatelange Tüftelei. Bis eine App programmiert ist und auf dem Display fehlerfrei funktioniert, vergehen oft Monate. Und Programmiersprache ist nicht gleich Programmiersprache. Für iPhones verwendet man Swift, Android-Geräte laufen auf Java. Einzelne Programmierschritte kann Thomas Kollbach zum Glück schon während der Programmierung auf dem Handy testen. Immer die gleichen Arbeitsschritte "Man schreibt halt ein Stück Code, dann kann man den schon ausprobieren und dann findet man zum Beispiel einen Fehler, weil man irgendwas falsch gemacht hat, das kommt sehr oft vor. Es ist ein ständiger iterativer Prozess. Man wiederholt immer wieder die gleichen Schritte und baut so Stück für Stück und probiert immer wieder einzelne Komponenten aus. Und schaut, ob alles so funktioniert, wie man es sich vorstellt und dann baut man weiter an der nächsten Komponente." Eine Komponente ist zum Beispiel der Videoplayer, eine andere die Lupe für die Suchmaske. Die Erstellung einer App vergleicht Thomas Kollbach mit dem Bau eines modularen Einfamilienhauses. Erst hebt man die Grube für den Keller aus, danach gießt man das Fundament, zieht die Wände hoch, am Ende kommt das Fertigdach drauf und wer es sich leisten möchte, baut noch eine Garage an. "Ein gutes digitales Produkt macht halt aus, dass es einfach zu benutzen ist, dass es simpel ist für den Nutzer, aber doch sehr viele Möglichkeiten bietet und die richtige Balance zu finden, ist oft die Herausforderung."
Von Susanne Arlt
Ein Smartphone ohne Apps ist eigentlich gar nicht vollstellbar. Die Entwicklung dieser kleinen Programme ist aber mit viel Arbeit verbunden. Oft dauert es Monate, bis sie richtig funktionieren und alle Fehler ausgebügelt sind. Die Arbeit sei vergleichbar mit dem Bau eines Hauses, sagt ein App-Programmierer.
"2017-03-02T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:17:22.044000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arbeit-eines-app-entwicklers-programmieren-ist-wie-ein-100.html
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"Reflexartig gewisse Ressentiments"
Esra Kücük, Leiterin der Jungen Islamkonferenz (imago/Jens Jeske) Karin Fischer: "Was ist deutsch?" fragen wir die Nachkommen der Migrantenfamilien früherer Jahrzehnte, die heute in Deutschland denken und schreiben. Esra Kücük ist Sozialwissenschaftlerin und hat 2010 die "junge Islamkonferenz" gegründet, auch als Reaktion auf Thilo Sarrazin und seine krude Thesen. Im März wird sie zum Gorki-Theater stoßen und dort das Gorki-Forum aufbauen, das die gesellschaftlichen Debatten einer postmigrantischen Großstadt wie Berlin reflektieren und spiegeln soll. - Esra Kücük ist sehr gerne empirisch und wissenschaftlich unterwegs und hat deshalb auf eine Studie der Humboldt-Universität hingewiesen, die die Einstellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Religion, Gesellschaft und Identität klären wollte. Was, habe ich Esra Kücük zuerst gefragt, erfahren wir dort denn zu unserer Frage? Esra Kücük: Ja, auf "Was ist deutsch?" kann man natürlich auf mehrere Art und Weise antworten. Wie Sie sagen, empirisch sind wir dieser Frage nachgegangen in der Studie. 97 Prozent der Bevölkerung ist wichtig, dass Deutscher der ist, der die Fähigkeit mitbringt, deutsch zu sprechen. 79 Prozent sagen, die deutsche Staatsangehörigkeit ist ihnen wichtig. Oder 40 Prozent, die sagen, man muss akzentfrei deutsch sprechen. Das sind ja alles eher Kriterien und haben nicht so viel mit emotionalen Dingen zu tun. Darum haben wir versucht, auch rauszubekommen, was denn so die Gefühlswelt betrifft, was die Narration oder vielleicht die Ereignisse aus der Geschichte sind, die Menschen mit dem Deutschsein verbinden. Und da haben wir rausbekommen, dass im Grunde erst einmal Deutschland ein sehr positives Image hat, dass 85 Prozent der Menschen sagen, ich liebe Deutschland. Und dass der Ausgangspunkt von diesem positiven Selbstbild die Wiedervereinigung ist und gar nicht mehr mit dem Zweiten Weltkrieg oder mit dem Holocaust. Das sind sehr viel geringere Zahlen, die darauf verweisen. Ich glaube, es ist immer leichter, von außen auf etwas zu schauen und zu sagen, wie es ist, als von innen heraus. Ich glaube, das ist die Schwierigkeit und die Debatte, die wir führen jetzt hier aus dem Inneren heraus: Was ist eigentlich deutsch? Fischer: Aber Sie gucken ja schon seit ein paar Jahren aus diesem Inneren heraus. Könnte man sagen, dieses Wir, dieser deutsche Gesellschaftskörper, um es mal pathetisch zu formulieren, ist längst so was wie ein multiethnisches Gebilde geworden und deutsch überhaupt nur insoweit, als alle seine Teile in diesem Land leben, dass man die Frage "Was ist deutsch?" vielleicht dann besser beantworten kann, wenn man fragt, "Wer sind wir?" 20 Prozent der Gesellschaft mit Migrationshintergrund Kücük: Genau! Ich glaube, das ist ein Teil der Antwort, wenn wir in den Spiegel schauen und sehen, dass mehr als 20 Prozent unserer Gesellschaft heutzutage Migrationshintergrund mitbringt. Darum wird vielmehr die Frage sein, gar nicht das zu nivellieren, dass wir vielfältig sind, sondern eher die Frage sein, wie gehen wir damit um. Weil ich glaube, wir können keine positive Geschichte daraus machen, wenn wir die ganze Zeit uns dagegen wehren, das sein zu wollen. Also ist mehr die Frage, welche Gesellschaft wollen wir sein, weil dann können wir auch diese Gesellschaft, glaube ich, werden, als uns darum zu streiten, wie vielfältig und ob wir Vielfalt gut finden oder nicht, weil sie ist einfach da. Und wir sehen ja auch die Gesellschaften, die das gemacht haben, dass es im Grunde positive Ergebnisse erbracht hat, wenn wir an so Länder wie Kanada denken beispielsweise. Unity in diversity, Einheit in Vielfalt, ist nicht nur unser Slogan, also nicht nur Marketing, sondern ist auch das, womit wir uns wirklich identifizieren. Fischer: Jetzt haben Sie, Frau Kücük, schon einige der Schwierigkeiten benannt, die wir Deutschen, sage ich jetzt, mit der postmigrantischen Gesellschaft und mit diesem "die" und "wir" haben. Wir hatten gestern an derselben Stelle das Beispiel, dass viele der Helfer, die heute Flüchtlinge unterstützen, selbst aus migrantischen Familien stammen, darüber aber nie berichtet wird. Das scheint mir aber nach gerade ein strukturelles Problem zu sein. Kücük: Ja, das ist leider momentan in der Diskussion um Flucht in Deutschland grundsätzlich eine Sache, die ich ein bisschen vermisse. Dass wir diesen Menschen gar nicht so sehr vertrauen, wenn sie sagen, wir schaffen das, und wenn sie positiv mit dieser Herausforderung umgehen, sondern die Stimmen viel lauter gerade wahrgenommen werden, die Angst machen, die eher diese Abwehrhaltung haben. Und in der Tat finde ich das sehr schade, dass in einem positiven Kontext, wenn wir Helferinnen und Helfer haben mit Migrationsgeschichte, die jeden Tag an Flüchtlingsunterkünften, Erstaufnahmelagern stehen und helfen, dass wir da den Migrationshintergrund nicht betonen, aber jetzt gerade, wie wir es sehen, in der Debatte rund um die Übergriffe in Köln, die sich ereignet haben, da den Migrationshintergrund ganz bewusst betonen, obwohl wir noch gar nicht genauere Informationen haben zu den Tätern, aber schon eine laufende Debatte dazu, wie damit umgegangen werden soll, wenn die Täter einen solchen oder solchen Hintergrund mitbringen. Fischer: Dazu wollte ich Sie gerade ansprechen. Da erleben wir gerade die Vermischung sämtlicher Begrifflichkeiten in dieser Debatte um die Gewalt gegen Frauen in der Silvesternacht. Plötzlich wird Frauen der gute Rat gegeben, sich von Männergruppen fernzuhalten. Die Kürzestdenkenden werfen da in den üblichen Netzkanälen die möglichen Täter sofort mit den Flüchtlingen in einen Topf. Was passiert denn da gerade im Augenblick? Köln als "Beweis" für die Maskulinisierung im öffentlichen Raum Kücük: Zunächst einmal müssen wir ja sagen, was wissen wir überhaupt. Wir wissen, dass eine Gruppe von organisierten Kriminellen die chaotische Situation vor dem Hauptbahnhof in der Silvesternacht genutzt haben, um sich über Opfer herzumachen. Diebstahl und sexuelle Übergriffe, davon wissen wir. Und das ist furchtbar und so was darf natürlich überhaupt nicht passieren und so was muss diskutiert werden. Was wir jetzt aber wirklich diskutieren oder haben - mal wieder - ist eine Einwanderungsdebatte, eine Debatte über unsere Einwanderungspolitik, über unsere Flüchtlingspolitik. Einige Akteure sind sehr froh darüber, dieses Beispiel zu nehmen, um das als Beweis für die Maskulinisierung des öffentlichen Raums durch Flüchtlinge zu thematisieren und wieder Obergrenzen auf die Agenda zu bringen. Obwohl die Polizei bereits die Information gegeben hat, dass es sich hierbei nicht um Flüchtlinge handelt, dass es sich um polizeibekannte Intensivtäter handelt, die offenbar gezielt als Gruppe diese Aktion geplant haben. Aber für mich ist das auch egal. Ganz unabhängig von dem Hintergrund ist es für mich nicht zulässig, jetzt diese Debatte so zu führen. Wenn es zulässig wäre, angesichts der Übergriffe in Köln die Zuwanderungspolitik infrage zu stellen, dann müsste man das ja ständig machen. Dann müsste man ja angesichts von 800 Anschlägen auf Flüchtlingsheime auch darüber sprechen, dass es zulässig wäre, Pegida oder AfD oder die NPD zu verbieten. Und so funktioniert eben die Rechtsstaatlichkeit nicht. Fischer: Man hat aber den Eindruck, als ob im Moment wirklich viel zusammenkommt, das Thema Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu triggern. Wo stehen wir gerade in dieser Hinsicht? Kücük: Ja, im Grunde sind das Debatten, die wir gerade erleben, die wir in den 90er-Jahren auch schon hatten. Und das ist das, was ich so traurig daran finde, dass wir reflexartig gewisse Ressentiments wiederholen. Dieser Vergewaltigungsmythos beispielsweise, diese Debatte hatten wir auch im Zusammenhang der italienischen Gastarbeiter damals, wo es hieß, sie werden unsere blonden Frauen im Schwabenland vergewaltigen. Und diese tief dahinter sitzenden Ressentiments in den Debatten, die werden leider derzeit überhaupt nicht so richtig decodiert, weil die rechte Gegenöffentlichkeit so präsent ist. Dass ich den Eindruck habe, dass auch seriöse Medien gerade in den Druck geraten, dass sie dem Vorwurf gerecht werden müssen, nicht aus falsch verstandener Toleranz oder politischer Korrektheit nicht über die negativen Dinge zu berichten. Aber darüber gerät einiges durcheinander. Und da würde ich mir doch wieder mehr wünschen, dass wir an die Dinge zurück uns erinnern, wovon wir auch viel gelernt haben in der Zeit der Gastarbeiter und des Asylkompromisses in den 90er-Jahren. Fischer: Das ist eine interessante Tendenz, die Sie da aufzeigen, Frau Kücük. Gibt es denn auch positive Entwicklungen in der aktuellen Integrationsdebatte? Kücük: Ja. Ganz positiv ist natürlich, dass uns die Gesellschaft, und zwar nicht die politischen Debatten, sondern die Gesellschaft da draußen, um die es ja geht, die vor Ort sind an den Erstaufnahmelagern, die vor Ort sind und mithelfen, dass die uns spiegeln dieses Kredo der Kanzlerin, wir schaffen das. Wenn ich vor Ort bin und mit den Menschen rede, oder wenn ich neue Berliner zu mir nachhause zu einem Abendessen einlade. Und sie mir spiegeln, was sie bisher von Deutschland mitbekommen haben, dann sind das ganz viele positive Geschichten. Und ich glaube, auf die können wir sehr stolz sein und uns darüber freuen, dass immer noch die Bereitschaft so anhält und wir eine sehr positive Zivilgesellschaft haben. Fischer: Esra Kücük, die Begründerin der jungen Islamkonferenz und demnächst Mitglied im Direktorium des Gorki-Theaters in Berlin, zur Frage "Was ist deutsch?". Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Esra Kücük im Gespräch mit Karin Fischer
Für Esra Kücük von der Jungen Islamkonferenz wiederholt sich gerade die Geschichte. Wie früher die italienischen Gastarbeiter sähen sich heute die Flüchtlinge dem "Mythos" ausgesetzt, sie würden deutsche Frauen vergewaltigen, sagte sie im DLF. Die "rechte Gegenöffentlichkeit" sei leider zu präsent, um die Ressentiments auszuräumen.
"2016-01-06T17:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:26.933000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serie-was-ist-deutsch-reflexartig-gewisse-ressentiments-100.html
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Umwelt-Experte: Einheitlicher CO2-Preis ist wichtig
Die größten Treibhausgas-Emittenten seien in der Stromerzeugung - wie beim Kohleabbau - und in der Industrie zu finden. Dort müsse man ansetzen, sagte Ulf Sieberg von CO2-Abgabe e.V. im Dlf (picture alliance / Chromorange) Susanne Kuhlmann: Der Verein CO2-Abgabe e.V. spricht, angesichts der nationalen, europäischen und internationalen Schutzziele, von einer Klimaschutzlücke, die Deutschland drohe. Bevor die Bundesregierung -voraussichtlich am 20. September - ein Maßnahmenpaket zum Klimaschutz verabschiedet, hat er eine Studie vorgelegt. Sie stammt von Dr. Joachim Nitsch, einem Ingenieurwissenschaftler, Energieexperten und Beiratsmitglied des Vereins. Es geht um die Frage, welchen Beitrag ein CO2-Preis zum Erreichen der Klimaschutzziele leisten kann. - Am Telefon in Berlin ist Ulf Sieberg von CO2-Abgabe e.V. Guten Tag! Ulf Sieberg: Schönen guten Tag, Frau Kuhlmann:!! Kuhlmann: Herr Sieberg, in welchen Sektoren ist die Klimaschutzlücke besonders groß? Sieberg: Das ist sie eigentlich in allen Sektoren, denn die Bundesregierung will ja bis 2030 55 Prozent weniger Treibhausgase gegenüber 1990 einsparen. Das heißt, wir müssen bis 2030 302 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente insgesamt einsparen. Und wenn Sie das jetzt vergleichen mit den Werten, die wir seit 1990 geschafft haben, dann müssen wir unsere Anstrengungen verdreifachen. Kuhlmann: Auf welche Art und Weise sind Sie auf diese Klimaschutzlücke gestoßen? Wie war die Methodik? Sieberg: Wir haben ein Energieszenario hinter der Studie liegen, die Herr Dr. Nitsch schon seit vielen Jahren macht. Er hat Energieszenarien früher für das Bundesumweltministerium gerechnet, die Erneuerbaren-Szenarien, und diese Szenarien hat er jetzt in seiner Rentenzeit weiter fortgesetzt. Und wir haben natürlich die verfügbaren Daten, die wir vom Umweltbundesamt in erster Linie haben, entsprechend ausgewertet und die Jahre gegeneinandergestellt, und dann hat der Verein ein eigenes Konzept zur CO2-Bepreisung mit einem einheitlichen sektorübergreifenden CO2-Preis, der dahinter liegt, und so sind wir dann auf die Werte für den Strom-, für den Wärme- und den Verkehrssektor gekommen. "Wichtig ist ein einheitlicher und sektorübergreifender Preis" Kuhlmann: Wie genau kann ein Preis für CO2 lenkend einwirken? Sieberg: Das habe ich jetzt in Teilen schon gesagt. Wichtig ist vor allen Dingen ein einheitlicher und sektorübergreifender Preis, so wie ihn auch die Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten für die Bundesregierung empfohlen haben. Einheitlich und sektorübergreifend ist deshalb so wichtig, weil natürlich die größten Treibhausgas-Emittenten vor allen Dingen in der Stromerzeugung, beispielsweise bei der Braun- und Steinkohle, und in der Industrie zu finden sind, und dort sind auch die Emissionsreduktionen am einfachsten zu heben. Deshalb ist ein Preis, der nur den Non ETS betrifft, die Emissionshandelssektoren, die nicht dort involviert sind, wie Wärme und Verkehr, nicht ausreichend und nicht zielführend, sondern den größten Beitrag können wir mit einem CO2-Mindestpreis im europäischen Emissionshandel erschließen. Das hat auch das Gutachten des MCC von Professor Edenhofer für die Wirtschaftsweisen beziehungsweise die Bundesregierung herausgearbeitet und deshalb ist dieser einheitliche, sektorübergreifende Preis für Strom, Wärme und Verkehr so bedeutend. Kuhlmann: An welche Dimension denken Sie? Sieberg: Wir wollen mit 40 Euro die Tonne im Jahr 2020 starten. Der Preis soll dann um fünf Euro pro Jahr ansteigen, bis er 2030 bei 90 Euro liegt. Und er würde dann weiter steigen pro Jahr um fünf Euro die Tonne, so dass er im Jahr 2048 bei 180 Euro beziehungsweise 190 Euro dann im Jahr 2050 läge. Das wären dann die Umweltschadenskosten, die das Umweltbundesamt schon heute beziffert. "Brauchen weitere Maßnahmen im Wärme- und Verkehrssektor" Kuhlmann: Wäre der CO2-Preis die einzige Maßnahme, die sinnvoll ist, oder könnten Sie sich noch andere Dinge vorstellen, die notwendig sind, um zum Beispiel im Gebäude- oder auch Verkehrssektor voranzukommen? Sieberg: Wir brauchen zwangsläufig weitere Maßnahmen im Wärme- und Verkehrssektor. Wir können mit einem solchen CO2-Preis-Ansatz, wie wir ihn vorschlagen, 200 Millionen Tonnen bis 2030 in der Stromerzeugung einsparen, aber nur 35 Millionen Tonnen bei Wärme und Verkehr. Wenn wir höhere Preise allein im Wärme- und Verkehrsbereich annehmen, kommen wir nicht zwangsläufig tatsächlich auch zu höheren Einsparungen. Die Studie des Bundesumweltministeriums sagt da zwischen 19 und 72 Millionen Tonnen Einsparung für Wärme und Verkehr voraus. Aber wir wissen nicht, ob es dann 19 oder 72 Millionen Tonnen sind. Und bei uns ist es so: Wir sparen 200 Millionen über den CO2-Mindestpreis in der Stromerzeugung alleine ein, ein signifikanter Beitrag, und nur 35 Millionen bei Wärme und Verkehr. Deshalb brauchen wir zwangsläufig auch, um die europäischen Ziele vor allen Dingen für den Non-ETS-Bereich, den Wärme- und Verkehrsbereich zu erreichen, weitere Maßnahmen ordnungspolitischer und förderrechtlicher Natur. Allerdings müssen wir gerade in der Förderung viel zielgruppenspezifischer fördern, insbesondere einkommensschwache Haushalte bei Investitionen in Klimaschutz unterstützen sowie Gebäudeeigentümer. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ulf Sieberg im Gespräch mit Susanne Kuhlmann
Mit einem CO2-Mindestpreis, der für alle Sektoren gilt, ließen sich im europäischen Emissionshandel die größten Emissionsreduktionen erreichen, sagte Ulf Sieberg vom Verein CO2-Abgabe im Dlf. Für die Bereiche Verkehr und Wärme seien jedoch weitere Maßnahmen notwendig.
"2019-08-30T11:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:08:29.455000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimaschutz-ziele-umwelt-experte-einheitlicher-co2-preis-100.html
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Stimmungsbild aus einem verstörten Deutschland
Autorin Sabine Riedel war 2022 der gefühlten Verunsicherung und Angst in Deutschland in vollen Zügen auf der Spur: "Ich habe plötzlich erlebt, wie offen, freundlich und hilfsbereit die Menschen sein können." (IMAGO / Arnulf Hettrich )
Götzke, Manfred
Russischer Angriffskrieg, Klimakrise, Verunsicherung: Autorin Sabine Riedel reiste 2022 mit dem 9-Euro-Ticket durchs Land, um ein Stimmungsbild zu zeichnen. Im Zug erlebte sie "die Deutschen als Solidargemeinschaft der Leidenden" - aber auch sehr viel Empathie.
"2023-08-06T07:37:14+02:00"
"2023-08-06T09:02:30.696000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reise-durch-ein-verstoertes-land-interview-mit-sabine-riedel-autorin-dlf-f69ff114-100.html
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"Das Foto mit Erdogan musste der DFB ertragen"
Sportverbände sollten Kriterien für politische Äußerungen ihrer Athleten erarbeiten, schlägt Rechtsexperte Reinhard Merkel vor (dpa / picture-alliance / Eventpress Stauffenberg) Sport muss unpolitisch sein. Diese Forderung war laut Reinhard Merkel nicht nur immer schon naiv, sondern "auch normativ nicht wünschenswert". Man müsse vielmehr zunächst bestimmen, "welche Art politische Rolle der Sport überhaupt spielt", sagte der Rechtswissenschaftler in der Sendung "Sport am Samstag". Vor diesem Hintergrund allerdings müsse man "dem einzelnen Sportler schon sagen dürfen: 'Du hast ein Recht auf freie Meinungsäußerung - aber auf der Bühne, auf der du sichtbar bist für Millionen Menschen, gibt es für dich bestimmte Grenzen.'" Reinhard Merkel ist der Ansicht, dass ein Sportverband in Bezug auf Topathleten nicht alles hinnehmen müsse, was der Rechtsstaat aus verfassungsrechtlichen Gründen dulden muss: "Ich meine, die Grenze darf enger sein als die, die der Rechtsstaat dem einzelnen Bürger bei der freien Meinungsäußerung lässt." Bedeutende Sportler sind Idole für die Jugend - auch wenn diese etwas "phrasenhafte Formulierung" nicht in jedem Fall zutreffe, sei diese Aussage doch eine "orientierende Idee", so Merkel, "vor der man dem einzelnen Sportler sagen könne: 'Du musst dich mehr in Zaum nehmen als der Politiker selber etwa, wenn er sich öffentlich äußert.'" Kritik ja - Hysterie nein Das zuletzt vieldiskutierte Foto, das Mesut Özil und Ilkay Gündogan zusammen mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan zeigt, würde Reinhard Merkel "als etwas ansehen, das der DFB ertragen musste - allerdings müssen dann Özil und Gündogan ertragen, dass eine kritische Diskussion losgeht." Diese Diskussion sollte jedoch nicht hysterisch sein im Sinne von: Das hätten die nicht machen dürfen. "Sondern man kann sagen", so Merkel, "das war ein dummer Akt von euch und wir kritisieren euch dafür. Aber dass zwei türkischstämmige Fußballspieler sich mit Erdogan ablichten lassen, würde ich für zulässig halten." Die Verbände müssten sich mit ihren Kriterien, mit denen sie Grenzen für die politischen Äußerungen ihrer Athleten ziehen, der öffentlichen Debatte stellen "und diese Kriterien müssen moralisch beglaubigt sein". Bedingungen und Grenzen der Vorbildrolle eines Sportler müssten laut Merkel etwas näher bestimmt werden: Etwa indem ein Sportverband eine Art Enquete-Kommission damit beauftragt, ein Konzept zu erarbeiten, das die normativen und moralischen Grundlagen klärt "für solche Postulate, wie wir sie jetzt gegebenenfalls an die Athleten richten und fomulieren wollen." Und über dieses Konzept könne es im Anschluss dann eine öffentliche Debatte geben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Reinhard Merkel im Gespräch mit Marina Schweizer
Darf es für Sportler eine Art Kodex für politische Äußerungen geben? "Es darf eine Schmerzgrenze geben für das, was nicht mehr akzeptabel ist", sagte Reinhard Merkel, Jurist und Mitglied im Deutschen Ethikrat, im Dlf. Diese Grenze zu definieren, sei nicht einfach - aber auch nicht unmöglich.
"2018-08-04T19:24:00+02:00"
"2020-01-27T18:04:48.622000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/politik-und-sport-das-foto-mit-erdogan-musste-der-dfb-100.html
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Wie ein schärferes Gesetz vor Missbrauch schützen soll
Das Bundesinnenministerium bestätigte dem Dlf auf Anfrage, dass ein Entwurf für die Gesetzesänderung zum Waffenrecht vorliege und nun mit anderen Ministerien abgestimmt werde. (picture alliance/dpa/Silas Stein) Es ist nur wenige Wochen her, dass sich der erste Amoklauf an einer Schule in Deutschland zum 20. Mal jährte. Im April 2002 erschoss ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt 16 Menschen und schließlich sich selbst. Für die Pistole hatte der 19-Jährige, der Mitglied im Schützenverein war, eine Waffenbesitzkarte. Sieben Jahre später erschoss ein 17-Jähriger 15 Menschen an einer Schule in Winnenden, richtete die Waffe dann gegen sich selbst. Die Waffe stammte aus dem Bestand seines Vaters. Der Vater, ein Sportschütze, hatte Pistole und Munition nicht so gelagert, wie es das Gesetz vorschreibt. Ein drittes Attentat wurde 2020 verübt: der rechtsextreme Terrorakt von Hanau. Ein 43-jähriger Rassist mit Vernichtungsphantasien ermordet neun junge Menschen, dann erschießt er seine Mutter und schließlich sich selbst. Wieder ein Sportschütze mit einer Waffe, die legal erworben worden war. Bundesinnenministerin Faeser (SPD) Aus dem Anschlag von Hanau müssen noch sehr viele Lehren gezogen werden Bundesinnenministerin Faeser (SPD) Aus dem Anschlag von Hanau müssen noch sehr viele Lehren gezogen werden Zwei Jahre nach dem Anschlag von Hanau sieht Bundesinnenministerin Nancy Faeser weiteren Aufklärungsbedarf. Die SPD-Politikerin kündigte im Interview der Woche auch eine Verschärfung des Waffenrechts an, um den Rechtsterrorismus zu bekämpfen. Auf EU-Ebene sieht sie die Chance für ein gemeinsames Asylrecht. Angehörige der Opfer von Hanau "Nehmt den Rechtsextremisten die Waffen weg" 1561 Rechtsextremisten besaßen im Dezember 2021 legal Waffen. Beim Ausstellen von Waffenscheinen muss die Behörde beim Verfassungsschutz anfragen, ob gegen den Antragsteller etwas vorliegt. Nicht nur den Angehörigen von Hanau geht das nicht weit genug: Hessen will das Waffenrecht verschärfen. Schusswaffen in Deutschland - Waffenbesitzer werden zu selten kontrolliert Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag, sagt: “Wir haben natürlich die Risiken, die sich mit dem privaten Waffenbesitz verbinden, die haben wir ja schon seit Jahren. Und deswegen haben wir uns auch als Ampelkoalition vorgenommen, das Waffenrecht entsprechend zu evaluieren und genau zu prüfen, wo zum Beispiel auch die Kontrollmöglichkeiten noch verbessert werden, was den privaten Waffenbesitz betrifft, um die Gefahren, die damit einhergehen, möglichst zu minimieren.” Gesetz soll erneut verschärft werden Mihalic ist Polizistin und studierte Kriminologin. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit den Gefahren, die von Schusswaffen ausgehen. Erfurt, Winnenden und Hanau sind drei der eklatantesten Beispiele für Gewalttaten in den vergangenen Jahren - verübt von Menschen, die legal Schusswaffen besaßen oder Zugang zu solchen hatten. Mehrmals zuvor war das Waffengesetz bereits verschärft worden, oft in Folge von Attentaten. Und auch jetzt, nach den Morden von Hanau, will die Bundesregierung einen neuen Anlauf nehmen und das bestehende Waffengesetz weiter verschärfen. Das Bundesinnenministerium bestätigte auf Anfrage, dass mittlerweile ein Entwurf für die Gesetzesänderung vorliege und nun mit anderen Ministerien abgestimmt werde. Worauf diesmal besonders geachtet werden soll: Dass zum einen keiner an Waffen kommen kann, der politisch radikalisiert ist. Und/oder zum anderen psychisch so schwer krank ist, dass er für sich oder andere eine Gefahr darstellt. Gefahr durch politisch radikalisierte und kranke Menschen Ein besonders erschreckendes Beispiel: Der Täter von Hanau war nicht nur wegen seiner rechtsextremen Gesinnung bekannt. Einem Gutachten zufolge war er auch psychisch krank. Davon wussten einige Behörden jedoch nicht — oder aber sie reagierten nicht. Die Waffe blieb im Besitz des späteren Attentäters. Die erneute Verschärfung des Gesetzes soll verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Abgeordnete Irene Mihalic: „Wir versprechen uns davon natürlich, dass psychische Auffälligkeiten dadurch früher erkannt werden und die Waffenbehörden dann auf Grundlage dieser Erkenntnisse entsprechend tätig werden können.“ Anzahl der Rechtsextremisten und Reichsbürger mit einer waffenrechtlicher Erlaubnis von 2019 bis 2020 (Statista) Rund eine Million Menschen in Deutschland besitzt eine Waffe, ganz legal. Die meisten von ihnen sind Sportschützen, Jäger oder Förster. Sie besitzen insgesamt mehr als fünf Millionen Schusswaffen. Die große Mehrzahl der Waffenhalter bereitet Politik und Behörden keine Kopfschmerzen. Aber die Sorge ist groß, dass noch immer Menschen an eine Waffe kommen, die entweder nicht zurechnungsfähig sind oder sie gezielt missbrauchen wollen. BMI: 1.500 mutmaßliche Rechtsextreme unter Waffenbesitzern Immerhin 1.500 mutmaßliche Rechtsextremisten zählt das Bundesinnenministerium unter den legalen Waffenbesitzern. Verfassungsschutzbehörden warnen schon länger, dass Neonazis gezielt in Schützenvereine eintreten. Viele von ihnen wählten diesen vergleichsweise einfachen Weg, um an Waffen zu kommen, bestätigt auch Dagmar Ellerbrock. Sie ist Historikerin und Expertin für Waffengeschichte an der Technischen Universität Dresden. „Wenn wir jetzt beobachten — und das sehen wir alle mit großer Sorge —, dass wir zunehmend eine sich verstetigende Organisation im rechtsradikalen Milieu haben und eine Organisation von rechtsradikalen, rassistischen Gruppierungen, die sich gezielt bewaffnen, dann ist es hohe Zeit, dass wir versuchen, diesen politischen Gruppen den Weg über die Schützenverbände zumindest zu erschweren.“ WaffenrechtSportschützen wollen Rassismus-Prävention 05:00 Minuten28.02.2020 Unter anderem deshalb sollen Waffenbesitzkarten leichter entzogen oder verwehrt werden können. Eine solche Karte erhalten etwa Sportschützen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen wie regelmäßiges Training erfüllen. Damit nicht die Falschen an eine Waffe kommen, sollen sich Verfassungsschutz, Waffenbehörden und Polizei besser abstimmen. Um zu verhindern, dass psychisch Kranke Waffen haben, sollen die Waffenbehörden außerdem regelmäßig Anfragen an die Gesundheitsämter schicken. Altersgrenzen für Großkaliberwaffen wurden angehoben Der Direktor des Instituts für Rechtspsychologie der Universität Bremen, Dietmar Heubrock, befürwortet den Schritt. "Grundsätzlich halte ich das für sinnvoll, weil wir ja gesehen haben: Wenn wir in Deutschland Ereignisse mit Legalwaffenbesitzern haben, sind die entweder radikalisiert gewesen, da haben wir ja einige Beispiele, oder aber psychisch krank.“ Was aber auf dem Papier gut klingt, kann in der Umsetzung kompliziert werden. Heubrock beschäftigt sich mit der Prävention von Attentaten im öffentlichen Raum, ist waffenrechtlicher Gutachter und wurde unter anderem bei der letzten Novelle des Waffenrechts als Sachverständiger des Bundestags hinzugezogen. Er hat erlebt, wie aufwendig solch eine Gesetzesnovelle ist. Heubrock war bereits beteiligt, als das Waffenrecht nach dem Amoklauf von Erfurt im April 2002 geändert wurde. Die Altersgrenzen für den Kauf von Großkaliberwaffen wurden angehoben. Blick in die USA Nach Amoklauf in Texas Warum das Waffenrecht in den USA bisher nicht verschärft wurde Nach Amoklauf in Texas Warum das Waffenrecht in den USA bisher nicht verschärft wurde Wieder wurden bei einem Amoklauf in den USA unschuldige Zivilisten getötet. Und wieder kocht die Debatte um eine Verschärfung des Waffenrechts hoch. Doch warum scheinen politische Reformen hier aussichtslos? Welche Kräfte wirken dem entgegen? Außerdem gilt seitdem: Wer jünger als 25 Jahre alt ist, muss mit einem ärztlichen Zeugnis die „geistige Eignung“ nachweisen, um die Erlaubnis für eine Schusswaffe zu erhalten. „Die hat dann allerdings gezeigt, dass ein Gesetz zu machen, das eine ist, aber das dann auch vollziehen zu können oder so aufzubereiten, dass die Behörden auch was damit anfangen können und die Menschen geschützt werden, dass das eine ganz andere Geschichte ist. Das war der Grund, warum wir damals an der Uni Bremen eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben, weil der Gesetzgeber hatte nichts, aber auch wirklich gar nichts vorbereitet. Wenn ein Gesetz geändert wird, das eigentlich ein gutes Ziel verfolgt, dann muss sich der Gesetzgeber auch die Zeit lassen, es so umzusetzen, dass die Menschen, die geschützt werden sollen, was davon haben. Der Vollzug muss dann auch vernünftig und praktikabel geregelt werden. Das war damals nicht der Fall. Meine Befürchtung ist eben, dass das jetzt auch vielleicht nicht so gut gelingt.“ Waffenbesitzer können ohne Verdacht kontrolliert werden Eine weitere Verschärfung des Waffengesetzes folgte auf den Amoklauf in Winnenden von 2009. Auch die Altersgrenze fürs Sportschießen mit Großkaliberwaffen wurde angehoben, von 14 auf 18 Jahre. Und: Waffenbesitzer können seitdem auch ohne Verdacht kontrolliert werden. Wer Waffen nicht regelkonform aufbewahrt, wie es der Vater des Attentäters tat, macht sich außerdem strafbar. Nach den Anschlägen von Paris 2015 mit 130 Toten, als islamistische Terroristen unter anderem das Konzerthaus Bataclan überfielen, folgte eine weitere Verschärfung. Diesmal änderte die EU ihre Feuerwaffenrichtlinie. 2020 wurde die Richtlinie dann in deutsches Recht übernommen, es ist die bislang letzte Novelle. Die Waffenbehörden sind seitdem dazu verpflichtet, beim Verfassungsschutz abzufragen, ob ein Antragsteller dort als Extremist bekannt ist. Solch eine Regelabfrage könne die Behörden jedoch schnell an die Grenzen bringen, meint Heubrock, der selbst Jäger ist und dadurch nicht nur als Fachmann, sondern auch als Betroffener erlebte, wie problematisch eine solch regelmäßige Überprüfung ist." Da gab es auch wieder ein Vollzugsdefizit, denn diese Anfragen bei den Verfassungsschutzbehörden der Länder sind händisch erfolgt. Das hat einen Riesenstau gegeben. Die Jagdscheine wurden dann nur mit einem Vorbehalt verlängert, aber sie waren damit verlängert. In der Zwischenzeit hätte also ein Reichsbürger, der noch in der Pipeline gewesen wäre zur Überprüfung, gut und gerne mit einem verlängerten Jagdschein und der entsprechenden Waffe ein Attentat machen können.“ Gestiegener Waffenbesitz Deutschlands Bürger rüsten auf Gestiegener Waffenbesitz Deutschlands Bürger rüsten auf Immer mehr Menschen wollen einen Kleinen Waffenschein beantragen, und auch die Anzahl scharfer Schusswaffen hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Dazu kommt: Die Zahl von Rechtsextremisten, die legal Waffen besitzen, ist deutlich gestiegen. Regelmäßige Überprüfungen scheitern oft am Personalmangel in Behörden. Regelabfrage bei Gesundheitsämtern geplant Auf ähnliche Probleme könnten die Behörden durch eine mögliche Regelabfrage bei den Gesundheitsämtern stoßen, die jetzt durch die jüngste Novellierung eingeführt werden soll. Eine Nachfrage bei einigen davon betroffenen Ämtern ergab: Auch dort werden in vielen Fällen die Daten noch händisch erfasst. Bereits während der Kontaktnachverfolgung in der Corona-Pandemie fiel auf, dass in den Ämtern mitunter noch per Fax und Brief kommuniziert wurde und nicht digital. Hinzu kommt: In den Gesundheitsämtern sind nur wenige Menschen registriert, die psychisch krank sind. Rechtspsychologe Heubrock befürchtet deshalb, dass die geplante Gesetzesnovelle die Erwartungen nicht erfüllen kann. „Das Problem dabei ist, dass die im häuslichen Umfeld bekanntwerdenden psychischen Krisen im Gesundheitsamt gar nicht bekannt werden. Das Gesundheitsamt erfährt es, wenn beispielsweise eine Zwangseinweisung, wenn eine erhebliche Fremd- und Selbstgefährdung passiert. Wo dann auch ein Richter einen Beschluss machen muss, die Polizei vor Ort ist und die Person in einen Rettungswagen verfrachtet und die nächste Psychiatrie verbracht wird. Das sind Ereignisse, die sind bei den Gesundheitsämtern gemeldet. Aber wenn ein schon lange latent psychisch Kranker, bei dem sich jetzt die Ehefrau nach langem Hin und Her trennt, sagt, wenn du mich verlässt, dann knall ich dir eine Kugel in den Kopf, das erfährt doch das Gesundheitsamt gar nicht. Also das, was geplant ist, nämlich eine Regelabfrage bei den örtlichen Gesundheitsämtern, fischt höchstens ein paar Prozent ab, vielleicht 2,3 Prozent. Aber die Masse der potentiell Auffälligen, die wird ja überhaupt nicht abgegriffen.“ Kritik an Umsetzung vergangener Gesetzesänderungen Auch innerhalb der regierenden Ampelkoalition gibt es unter anderem deshalb Vorbehalte, vor allem bei der FDP. Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, verweist auf den Koalitionsvertrag. Darin sei beschlossen worden, die bisherigen Waffenrechtsänderungen zunächst auszuwerten, bevor das Gesetz erneut verschärft wird. „Und wenn man sich anschaut, wie viel Bürokratie, wie viele offene Rechtsfragen es schon nach der Umsetzung der erneuerten EU-Feuerwaffenrichtlinie in der letzten Legislaturperiode gegeben hat, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass die Rechtsänderung durch den Gesetzgeber hier in Berlin und die Anwendung in den vielen hundert Waffenbehörden, die wir ja haben, es ist eine hohe Zahl, die in den Landkreisen in Deutschland hierfür Verantwortung tragen, dass das doch sehr weit auseinanderklafft. Bisherige Waffenrechtsänderungen auswerten, bevor das Gesetz erneut verschärft wird: FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle (imago images/Future Image) Kuhle weiter: "Wir schauen uns das an in einer ganz konstruktiven und einer ganz dem Thema angemessenen Haltung. Und dann muss man aber genau herausarbeiten, ob es da Änderungsbedarf gibt oder ob der Gesetzgeber, wie in der Vergangenheit leider sehr häufig, einfach das Recht ändert, aber bei der Umsetzung und bei der Ausstattung der Waffenbehörden dann nicht nachlegt. Und das darf eben nicht passieren.“ Bereits im vergangenen Jahr hatte die vorige Bundesregierung aus Union und SPD einen Anlauf gemacht, das Waffengesetz zu verschärfen. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte ähnlichen Schritte geplant wie seine Amtsnachfolgerin Nancy Faeser von der SPD. Faeser kündigte an, dass sie daran anknüpfen wolle. FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle warnt, dass seine Partei bei einer reinen Neuauflage des Seehofer-Gesetzes nicht mitziehen werde: „Die Innenministerin kann nicht in einer Koalition mit der FDP einen Gesetzentwurf, der mit der CDU nicht umsetzbar war, einfach wieder aufwärmen. Der ist mit uns erst recht nicht umsetzbar.“ Teile von CDU/CSU lehnte Seehofers geplante Änderung ab Die FDP hatte das Gesetzesvorhaben in der vergangenen Legislaturperiode abgelehnt. Seehofers Vorstoß war aber vor allem an der eigenen Fraktion gescheitert. Abgeordnete von CDU und CSU stellten sich gegen die Pläne des damaligen Innenministers, nachdem es lautstarken Protest unter anderem von Schützenverbänden gegeben hatte. Jörg Brokamp vertritt einen von ihnen. Er ist Geschäftsführer des Deutschen Schützenbunds, des größten Dachverbandes für Sportschützen in Deutschland mit mehr als 1,3 Millionen Mitgliedern: „Der Entwurf, der damals auf dem Tisch war in der Form, war für uns so nicht tragbar, weil letztendlich es hier auch in die Persönlichkeitsrechte jedes einzelnen gegangen wäre, noch nicht einmal nur der legalen Waffenbesitzer. Sondern auch eines potenziell Interessierten, der letztendlich unter einen Generalverdacht gestellt worden wäre und ihm quasi staatlicher Seite unterstellt würde, dass er irgendetwas Böses vorhat oder eben halt nicht ganz richtig im Kopf vielleicht ist oder irgendeine psychische Erkrankung hat.“ Der frühere Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte ähnliche Schritte geplant wie sie jetzt seine Nachfolgerin Nancy Faeser von der SPD vorhat (picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm) Der Verband teile das Ziel, dass Extremisten und Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung nicht in den Besitz von Waffen kommen dürfen, so Brokamp. Aber die Gesetzespläne von Innenministerin Faeser sehe er skeptisch. „Unsererseits kann es nicht sein, dass man in diesem höchstpersönlichen Bereich der Bürgerinnen und Bürger vielleicht unter Missachtung datenschutzrechtlicher Dinge Regelungen einführt, die dann nicht tragbar werden.“ Rückendeckung für Schützenbund bei der FDP Rückendeckung findet der Deutsche Schützenbund bei Faesers Koalitionspartner, bei der FDP. Auch der Abgeordnete Kuhle äußert die Befürchtung, dass legale Waffenhalter oder Interessenten durch die Überprüfung ihrer Gesundheitsdaten stigmatisiert werden könnten. „Wir haben sehr viele Menschen, die sich gut mit Waffen auskennen. Wir haben aber auch viele Menschen, die im Schützenverein, als Jäger, als Sammler, als Händler wirklich eine besondere Verantwortung übernehmen. Und ausgerechnet dieser im Vergleich zu den illegalen Waffen wirklich sehr kleinen Gruppe immer wieder das Leben schwer zu machen - da haben wir als FDP doch ein grundsätzliches Problem mit.“ Die Historikerin Dagmar Ellerbrock von der TU Dresden bezweifelt dagegen, dass Waffenbesitzern das Leben unnötig schwergemacht werde. Ihrer Ansicht nach hat sich die Debatte in Deutschland fälschlich verlagert. Legal eine Waffe zu besitzen, werde zunehmend als ein Recht dargestellt – als ein Recht, dass durch Gesetze eingeschränkt werde. Das sei es aber nicht. "Das ist ein Privileg, ein Privileg, das einer herausgehobenen Gruppe zugestanden wird. Und das ist der Punkt, an dem unsere aktuelle deutsche Debatte momentan falsch läuft, dass wir dieser falschen Argumentationslinie folgen, dass wir Waffeninhaber einschränken wollen. Die richtige Diskussion ist aber, dass wir einer herausgehobenen Gruppe, herausgehobenen Menschen Privilegien erteilen, und es ist in unserer Gesellschaft natürlich an allen möglichen Orten völlig gang und gäbe, dass, in dem Moment, wo man ein Privileg hat, ein besonderes Recht hat, man sich auch für dieses Recht qualifizieren muss.“ Defizite beim Gesetz, bei der Umsetzung oder beidem? Was bleibt, ist die Frage, warum es Sicherheitslücken gibt – warum es in der Vergangenheit immer wieder tödliche Attentate geben konnte. Ist es das Gesetz, das Defizite aufweist, oder ist es dessen Umsetzung? Oder womöglich beides? Auch die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic warnt davor, das Gesetz noch komplexer und komplizierter zu machen, als es das ohnehin schon ist - bevor sein Nutzen wirklich geklärt ist. „Wenn sie sich die Kriminalstatistik anschauen, dann werden Delikte, die mit Waffen begangen werden, immer noch nicht zielgenau erfasst. Wir können nicht unterscheiden, ob zum Beispiel eine bestimmte Straftat mit einer legalen Waffe oder mit einer illegalen Waffe begangen wurden.“ Anzahl der erfassten Schusswaffen und Schusswaffenteile in Privatbesitz in Deutschland von 2016 bis 2020 (Statista) Der Waffensachverständige und Journalist Lars Winkelsdorf spricht von Defiziten in der Praxis. Er glaubt, dass die Sicherheitslücken eher durch eine bessere Umsetzung des Gesetzes geschlossen werden können als durch eine weitere Änderung. Und er plädiert dafür, dass nicht nur die Waffenbehörden Regelabfragen etwa an den Verfassungsschutz senden, sondern dass auch andere Stellen auf die Waffenbehörden zugehen und diese gezielt warnen. "Dieses Waffenrecht darf nicht als Einbahnstraße über den Gesetzesvollzug durch Behörden reguliert werden, sondern es muss eben gleichzeitig auch eine Informationspflicht für Staatsschutz und Verfassungsschutz implementiert werden, ihre Erkenntnisse an die zuständigen Waffenbehörden zu geben, damit gehandelt werden kann.“ Grüne fordern bessere Ausstattung der Ämter Eine ähnliche Idee hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler. Bevor der Kriminalhauptkommissar 2021 in den Bundestag einzog, war er Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter und gab den Abgeordneten als Experte Auskunft. Auch er glaubt, dass die Waffenbehörden gezielt auf potenzielle Gefährder hingewiesen werden sollten. „Wenn also beispielsweise jemand in einem Ministerium sitzt, und er kriegt dort merkwürdige Beschwerdeschreiben, und da rede ich davon, dass so Leute evident psychisch auffällig sind, dann ist die Idee, einen Informationskanal zunächst einmal in Form einer Einbahnstraße ans nationale Waffenregister, das liegt beim Bundesverwaltungsamt, abzusetzen, um dort eine Überprüfung zu ermöglichen, ob der- oder diejenige eine Waffe hat.“ Aber auch die besten Ideen zünden nicht, wenn das Personal fehlt, um sie umzusetzen. Viele Waffenbehörden seien zu schlecht besetzt, um genauere Kontrollen zu ermöglichen, kritisiert der Bundestagsabgeordnete Marcel Emmerich, Obmann der Grünen im Innenausschuss. „Da haben wir die Situation, dass häufig eine Person für den ganzen Landkreis zuständig ist und damit gar nicht die Kontrollen alle abarbeiten kann, so wie das eigentlich nötig wäre, um hier sicher unterwegs sein zu können.“ Die Länder müssten die Ämter besser ausstatten, fordert Emmerich, womöglich müsse auch der Bund mitfinanzieren. Immer deutlicher zeichnet sich ab: Wenn Waffen, die in legalem Besitz sind, nicht gegen Menschen gerichtet werden sollen, dann kann eine Gesetzesnovelle nur der Anfang sein.  (Anmerk.d.Red.: *In einer ersten Version des Vorspanns zu diesem Beitrag war davon die Rede, dass alle drei Männer legal Schusswaffen besessen hätten. Im Fall des Attentäters von Winnenden ist es - wie im Beitrag korrekt dargestellt - nicht der Fall.)
Von Benjamin Dierks
Die Attentate von Erfurt, Winnenden und Hanau sind drei eklatante Beispiele für Gewalttaten in den vergangenen Jahren. Zwei wurden von Männern verübt, die ganz legal Schusswaffen besaßen. Mehrmals ist das Waffengesetz bereits verschärft worden. Die Ampelregierung will einen weiteren Anlauf machen.
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https://www.deutschlandfunk.de/waffen-waffengesetz-waffenrecht-amok-100.html
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Kriegsbilder aus weiblicher Hand
Foto von Anja Niedringhaus: US-Marineinfanteristen führen Ende 2004 eine Razzia im Haus eines irakischen Abgeordneten im Stadtteil Abu Ghraib durch (Kunstpalast/picture alliance/AP Images) "Sie haben Bilder voller Sensibilität, Kraft und Menschlichkeit geschaffen", so das Fazit der Kuratorinnen zu den besonderen Fotos von besonderen, mutigen Frauen. Der Düsseldorfer Kunstpalast zeigt ab Freitag erstmals in dieser Breite Bilder von acht "Fotografinnen an der Front" - etwa Catherine Leroy (1944–2006), Anja Niedringhaus (1965–2014) und Christine Spengler (*1945). "Es gibt Berichte, wo Fotografinnen sagen, ihr Geschlecht sei von Vorteil für sie in der Arbeit - weil sie von der Zivilbevölkerung oder von den Militärs nicht als Bedrohung wahrgenommen wurden", sagte Felicity Korn im Deutschlanfunk. Sie hat die Ausstellung zusammen mit Anne-Marie Beckmann kuratiert. Betroffene und Opfer - vor allem Frauen und Kinder - würden sich Frauen eher öffnen als ihren männlichen Kollegen, sagte Korn. Wir haben noch länger mit Felicity Korn gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Dennoch ergebe sich aus der Zusammenschau der Fotos der Bildreporterinnen: "Nicht das Geschlecht des Autoren ist ausschlaggebend, sondern das Bild selbst." Dennoch mussten sich die Frauen ihren Platz hinter der Kamera und in den Medien hart erkämpfen, denn die Chefetagen seien in der Regel mit Männern besetzt, die den Fotografinnen skeptisch gegenüberstünden, wie Korn erzählte. "Es ist ein ganz schmaler Grad" Dass mit den Kriegsbildern im Museum das Kriegsgeschehen äthetisiert und in Richtung Kunst gerückt würde, sieht die Kuratorin nicht. "Alle Fotos, die wir ausstellen, sind ursprünglich für den Pressekontext entstanden, sie haben Nachrichtenwert gehabt." Erst dann habe man geschaut, welche Bilder so überzeugend seien, dass sie wirklich Bestand haben. "Es ist ein ganz schmaler Grad, aber das Mittel der Ästhetisierung ist total legitim bis zu dem Grad, wo es den Fotografen hilft, in der Nachrichtenflut aufzufallen." Alle Kriegsfotografinnen und -Fotografen wollten auf Konflikte aufmerksam machen und ein authetisches Bild des Krieges vermitteln, sagte Korn, fügte aber nüchtern hinzu: "Kein Kriegsfoto hat es leider bisher geschafft, Kriege weltweit zu beenden." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Felicity Korn im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
"Man kann keinen weiblichen Blick auf den Krieg feststellen“, sagte Ausstellungskuratorin Felicity Korn im Dlf. Dennoch bekämen Kriegsfotografinnen oft schneller Zugang zu den Menschen. Der Düsseldorfer Kunstpalast zeigt Arbeiten von acht Bildreporterinnen. Sie würden heute noch "zur Seite gekehrt".
"2019-03-06T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:40:59.914000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fotografinnen-an-der-front-kriegsbilder-aus-weiblicher-hand-100.html
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Die EU und der UN-Migrationspakt
Flüchtlinge in einem UNO-Lager im Irak im Januar 2017 (AFP / Delil Souleiman) Britta Fecke: Herr Vorreiter, Österreich hat die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft inne und wollte sich bei der Flüchtlingspolitik als ehrlicher Makler präsentieren. Glaubhaft ist Wien nun nicht mehr, oder wie wird das in Brüssel wahrgenommen? Paul Vorreiter: Dass Österreich aussteigt ist insofern außergewöhnlich, weil es als Inhaber der Ratspräsidentschaft und es ist auch die Aufgabe von Österreich, da auch Kompromisse zwischen den Mitgliedsländern in der Migrationspolitik zu erzielen - das hat Österreich zum Schluss auch versucht beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im Oktober hier in Brüssel. Stichwort war die "verpflichtende Solidarität", also das Modell, wonach Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, zum Beispiel Geld beisteuern sollen für Entwicklungshilfe. Dieser Vorschlag von Kanzler Kurz wurde scharf abgelehnt durch die deutsche Bundeskanzlerin, die befürchtet, so würde am Ende niemand mehr Flüchtlinge aufnehmen, sondern nur noch mit Geld seinen Beitrag leisten. Kann Österreich noch als Brückenbauer zwischen den EU-Staaten fungieren? Und deswegen stellt man sich die Frage, ob ein Land, das aus einem Regelwerk aussteigt, das sich eben global den Herausforderungen der Migration annimmt, also durchaus deswegen ein sehr wichtiges Abkommen ist, ob ein solches Land jetzt noch als Brückenbauer zwischen den EU-Staaten fungieren kann. Dementsprechend hört man aus dem Europaparlament auch scharfe Kritik, wie hier von Ska Keller, Ko-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im EP: "Als Ratspräsidentschaft wollte die österreichische Regierung das Migrationsthema voranbringen, nach Lösungen suchen, Kurz hat selbst immer angemahnt, dass es multilaterale Ansätze geben muss. Und jetzt haben wir sie auf dem Tisch, und die österreichische Regierung sagt, da will sie nicht mitmachen." Und Ska Keller ist da nicht alleine, Birgit Sippel, SPD, sie schließt sich dem an, sie empfand die Kritik von Jean Claude Juncker als zu lasch, und hätte sich noch härtere Worte gewünscht: "Unabhängig davon, dass Österreich bedauerlicherweise nicht das einzige Land ist, das sich mit dem Global Compact nicht anfreunden kann, glaube ich tatsächlich, wenn denn der politische Wille da ist, dass es noch eine Einigung geben kann." Jean Claude Juncker hat ja auch noch angekündigt, in den kommenden Wochen mit den Österreichern zu sprechen. Er sieht sich auch in seiner Forderung bestätigt, in außenpolitischen Fragen zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit überzugehen. Fecke: Wie es scheint, finden alle Kräfte vom rechten bis zum linken Rand Argumente für oder gegen den UN-Migrationspakt. Lassen Sie uns ein Blick ins Detail werfen: Auch Migranten stehen Menschenrechte und Grundfreiheiten zu Vorreiter: Der Vertrag ist 34 Seiten lang und formuliert 23 Ziele und versteht sich selbst als einen nicht rechtsverbindlichen Kooperationsrahmen. Es geht einerseits darum, Rechte von Migranten zu formulieren, also nicht nur von Flüchtlingen, für die bereits die Genfer Flüchtlingskonvention greift. Auch Migranten stehen Menschenrechte und Grundfreiheiten zu. Sie sollen auch Zugang zu rechtlichen Dokumenten bekommen, um ihre Menschenrechte auszuüben, bestimmte Leistungen, "Grundleistungen" wortwörtlich, also etwa Bildung und Gesundheit. Es sollen Möglichkeiten der regulären Einreise zu Arbeitszwecken geschaffen werden. Migranten sollen außerdem vor Diskriminierung geschützt werden. Auch soll Migranten nicht willkürlich die Freiheit entzogen werden. Auch zu lesen ist, dass Fluchtursachen und Schlepperwesen bekämpft werden sollen. Man macht sich für ein koordiniertes Grenzmanagement stark. Es ist also ein Regelwerk, das möglichst viele Aspekte der Migration umfassen will und deshalb auch so viele Angriffspunkte bietet. Fecke: Kritiker bemängeln aber, dass der Text zahnlos ist? Vorreiter: Zwar ist ein Überprüfungsmechanismus vorgesehen, alle vier Jahre sollen sie zwischenstaatlich geprüft werden, wie sehr die Ziele umgesetzt wurden, der UN-Generalsekretär soll alle zwei Jahre berichten. Doch in der Tat sind die im Vertrag vorgesehenen Rechte nicht einklagbar. Und es steht eindeutig drin, dass die Souveränität der Staaten unangetastet bleibt. Wörtlich heißt es: "Der Globale Pakt bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereichs in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln." 
Also der Pakt stößt an seine Grenzen.
Paul Vorreiter im Gespräch mit Britta Fecke
Mehr als 190 Mitgliedsstaaten wollen den UN-Migrationspakt im Dezember unterzeichnen. Doch die EU wird das globale Abkommen wohl nicht gemeinsam unterstützen. Ungarn, wahrscheinlich auch Tschechien, Polen, Italien, Dänemark und Österreich wollen diese politische Absichtserklärung nicht unterzeichnen.
"2018-11-05T09:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:52.369000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/keine-gemeinsame-linie-die-eu-und-der-un-migrationspakt-100.html
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Opfer des E-Bike-Booms?
Markus Bauer wurde im Oktober 2017 Deutscher Meister im Marathon. (Michael Bührer) "Viele Marken, die nicht im sportiven Segment ihre Wirtschaftlichkeit sehen, haben sich entschlossen, ihre Marketingbudgets vor allem in Richtung E-Bikes zu verschieben, weil da gerade ein extremer Markt entsteht", erklärt Markus Bauer. Als Sportler sei man auf Sponsoren angewiesen und leider habe man es nicht geschafft, sich von der Radsportindustrie unabhängiger zu machen. Markus Bauer war drei Jahre lang für das Kreidler Werksteam unterwegs. (Michael Bührer) Daher habe es eine riesige Umwälzung im Bereich Mountainbike hin zum E-Bike gegeben. Dieser Trend werde aus der Szene heraus gerade stark bekämpft. "Viele wollen es nicht wahrhaben, dass es so kommt oder schon so ist, dass die Zukunft motorenbetrieben ist", meint Bauer. Der Trend sei für die Radindustrie allerdings eine Riesenchance, um Leute für den Radsport zu begeistern. Gefahr durch E-Bikes Ganz unproblematisch sei das Zusammenspiel von Mountain- und E-Bikern aber nicht immer. Er selber sei schon in eine gefährliche Situation gebracht worden: "Ich bin auf einem Singletrail bergab gefahren und mir kam ein E-Bike entgegen, auf einem Trail, auf dem es ganz klar untersagt ist, bergauf zu fahren", berichtet Markus Bauer. Solche Situationen würden sicherlich nicht zu einer größeren Akzeptanz in der Szene beitragen.
Markus Bauer im Gespräch mit Klaas Reese
Markus Bauer wurde 2017 Deutscher Meister im Marathon. Noch vor einigen Jahren wäre ihm ein lukrativer Profivertrag sicher gewesen. Doch seine Sportart habe an Attraktivität verloren, sagte Markus Bauer im Dlf. Der Trend zum E-Bike sei für die Radindustrie allerdings auch eine Riesenchance.
"2018-05-21T19:37:00+02:00"
"2020-01-27T17:53:14.380000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mountainbikesport-opfer-des-e-bike-booms-100.html
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"Wichtiges Zeichen, dass die Schuldfrage geklärt ist"
Dirk Müller: Kein Wort der Reue, kein Wort der Entschuldigung, das über eineinhalb Jahre lang. Dies hat die noch lebenden Opfer und Nebenkläger insbesondere entsetzt. Vor 18 Monaten hat der Prozess begonnen, gegen den früheren KZ-Wächter John Demjanjuk, der inzwischen 91 Jahre alt ist. Vor wenigen Minuten das Urteil der Münchner Richter: fünf Jahre Gefängnis für den Angeklagten. Am Telefon ist nun der NS-Forscher und Politikwissenschaftler Joachim Perels. Guten Tag!Joachim Perels: Guten Tag!Müller: Herr Perels, gibt es in einem solchen Fall so etwas wie ein angemessenes Urteil?Perels: Es gibt es und es gibt es nicht. Ich würde sagen, es gibt es insoweit, das Wichtige an einem Verfahren mit einem 91 Jahre alten Mann ist das, dass ein, wie die Juristen sagen, Schuldspruch erfolgt, das heißt, dass sein Anteil an der Ermordung der Juden durch den Schuldspruch sozusagen scharf und deutlich zum Ausdruck kommt. Und es gibt es nicht, weil ein solches Verfahren natürlich so spät abläuft, dass vieles nicht mehr historisch ganz genau recherchiert werden kann und die Zeugenaussagen auch wahrscheinlich nicht ganz ausreichend sind, den spezifischen Tatbeitrag herauszustellen. Wenn es das Verfahren früher gegeben hätte, das wäre meine These, wäre die Frage aufgeworfen worden, ist Herr Demjanjuk Täter, also der die Tat als eigene wollte, und muss er daher zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Das ist nicht erfolgt, das liegt aber an dem späten Prozess. Und das Dritte, was man sagen kann: Seine Verurteilung liegt in dem Trend der meisten NS-Prozesse, dass die größten Täter, also größere noch als Demjanjuk, der Adjutant in Auschwitz et cetera, alle, die allermeisten nicht als Täter, sondern als Gehilfen verurteilt wurden. Das heißt, es wird immer behauptet, sie seien nur Rädchen gewesen, hätten die Tat nicht als eigene gewollt. Das ist hoch problematisch, es gibt auch eine entschiedene juristische Diskussion dazu, aber im Ergebnis, um es in einem Satz zusammenzufassen, ist das ein wichtiges Zeichen, nicht dass Herr Demjanjuk eineinhalb Jahre sitzen muss, sondern dass die Schuldfrage eindeutig, jedenfalls so weit man das sagen kann, geklärt ist und ein Aufklärungseffekt damit verbunden ist.Müller: Wie ist das für Sie, Herr Perels? Ist Demjanjuk für Sie Täter?Perels: Für mich ist er - Ich weiß ja viel weniger, als wenn ich an dem Prozess teilgenommen hätte und alles mir angehört hätte, was die Verteidigung sagt, was die Staatsanwaltschaft sagt. Wenn ich selber recherchieren könnte, würde ich möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass er Täter war, aber ich kann es sozusagen aus der hohlen Hand nicht sagen. Da muss man die Frage stellen – das ist die entscheidende Frage, die in den früheren Prozessen eben nicht gestellt worden ist -, welche Stellung hatte Demjanjuk zum NS-System, war er sozusagen gezwungener Gehilfe oder freiwilliger Mitarbeiter an dem Vernichtungsprozess. Wie das war im Prozess, weiß ich nicht. Wenn das Letztere bewiesen werden kann, wäre er Täter. Aber natürlich wollte man sozusagen rechtspolitisch nicht jemand mit 91 noch mit lebenslangem Zuchthaus oder Gefängnis genauer gesagt versehen. Das ist sicherlich im Gericht auch besprochen worden.Müller: Aber die Rolle Demjanjuks vor Ort, im Konzentrationslager Sobibor, ist ja äußerst umstritten und man hat die Frage offenbar, so weit wir das hier erkennen können, gar nicht klären können, an welcher Position, in welcher Position hat er vor Ort gewirkt, hat er "gearbeitet". Spielt das keine Rolle?Perels: Nein, natürlich muss es eine Rolle spielen. Wenn Sie sich die anderen Prozesse anschauen – ich habe mich nicht mit allen, aber mit dem Auschwitzprozess ziemlich intensiv beschäftigt -, dort sind die Einzelnen, die ihre Rolle gespielt haben, zum Beispiel als diejenigen, die Spritzen gegeben haben, um Menschen umzubringen, diejenigen, die Zyklon B besorgt haben, die an der Gaskammer gearbeitet haben, für ihr je spezifisches einzelnes Handeln zur Rechenschaft gezogen worden und zum Teil als Täter, zum Teil als Gehilfen verurteilt worden. Ich habe den Prozess nicht en Detail verfolgt, deswegen kann ich auf die Frage keine absolute Antwort geben. Aber man muss trotzdem sagen, dieser Ausweis von Demjanjuk ist nicht gefälscht - da hat der Berichterstatter das richtig dargestellt – und der ist ein wichtiges Indiz für seine Rolle. Und dann könnte man anfangen zu vergleichen, was haben andere mit diesem Ausweis in Sobibor gemacht, sodass ein indirekter Indizienbeweis vielleicht möglich war. Aber ich fantasiere, ich habe den Prozess ja nicht im Einzelnen verfolgt.Müller: Herr Perels, reden wir dennoch weiter über Demjanjuk.Perels: Ja natürlich!Müller: Befehlsnotstand, das hat es immer wieder auch als Argument gegeben, auch in früheren Prozessen. Kann auch ein noch so kleines Rädchen im System dieses Argument für sich nicht beanspruchen?Perels: Kann es nicht beanspruchen. Da würde ich dem Rechtsanwalt mal raten, die Forschung sich anzuschauen von großen Forschern, die die Frage, ob es diesen Notstand gegeben hat, eingehend empirisch untersucht haben und festgestellt haben: Es gibt keinen nachweisbaren Fall von Befehlsnotstand. Befehlsnotstand heißt nämlich, dass man gegen seinen Willen gezwungen wird, sich an den Morden zu beteiligen, und man hat sich nur beteiligt, um nicht dabei umgebracht zu werden im Anschluss. Die aller-allermeisten Täter – und ich vermute das jetzt auch bei Herrn Demjanjuk – haben ihre Arbeit verrichtet in Übereinstimmung mit dem System, und daher ist der Notstand gar nicht aufgetreten, konnte nicht auftreten. Das würde ich auch bei Demjanjuk erst einmal vermuten.Müller: Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass jeder, der dort mitgewirkt hat, nicht gezwungen worden ist, sondern sich freiwillig in diese Situation begeben hat?Perels: Na ja, das wäre übertrieben gesagt. Nicht jeder, aber ich kann Ihnen das am Auschwitz-Prozess ganz deutlich machen. Die meisten derer, die vor Gericht standen, waren Mitglieder der SS. Der Adjutant des Lagerkommandanten hat die SS-Leute ausgebildet, hat ihnen den Antisemitismus noch mal zusätzlich beigebracht und war insofern identifiziert mit seiner Tätigkeit. Es gab auch im Auschwitz-Prozess einen, der nicht identifiziert war und zu denen, die er in die Gaskammer schickte, relativ freundlich war; der wurde dann auch milder beurteilt. Aber das war die Ausnahme! Ausnahmen gab es, ja, aber die allgemeine Tendenz bei den Tätern lief in eine andere Richtung. Das ist auch in der Forschung sehr eingehend untersucht worden, auf die man sich da eigentlich stützen muss.Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der NS-Forscher und Politikwissenschaftler Joachim Perels. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.Perels: Ja, ich bedanke mich auch. Auf Wiederhören.
Joachim Perles im Gespräch mit Dirk Müller
Das Landgericht München hat den früheren KZ-Wachmann John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es sei wichtig, dass ein Schuldspruch erfolgt sei. Dadurch komme sein Anteil an der Ermordung der Juden scharf und deutlich zum Ausdruck, sagt der Politikwissenschaftler und NS-Forscher Joachim Perels.
"2011-05-12T13:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:19:52.834000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wichtiges-zeichen-dass-die-schuldfrage-geklaert-ist-100.html
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Protest gegen religiöse Schulen
"Genug! Hört auf, unsere Schulen in Imam Hatips zu verwandeln!" - Schon im vergangenen Sommer demonstrierten Eltern gegen die Schulpolitik. (OZAN KOSE / AFP) Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist als Kind selbst auf eine Imam-Hatip-Schule gegangen. Das sind eigentlich Berufsschulen für Imame. Sie sind aber für alle Schülerinnen und Schüler offen; jeder kann dort Abitur machen. Präsident Erdogan ist überzeugt: Der Unterricht dort tut jedem gut. Im Stundenplan stehen drei zusätzliche Fächer, nämlich: Koran; das Leben des Propheten und Arabisch. Die Mädchen tragen im Unterricht Kopftuch, was an den normalen staatlichen Schulen der Türkei bis vor Kurzem noch verboten war. Aber die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat das Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten aufgehoben. Und sie hat vor zwei Jahren durchgesetzt, dass Schüler bereits ab der 5. Klasse und nicht erst ab der 9. Klasse Imam-Hatip-Schulen besuchen dürfen. Für diese Reformen lässt sich Staatspräsident Erdogan noch heute feiern. Wenn er bei Wahlkampfreden fragt: Haben wir die Imam-Hatip-Schulen für Fünftklässler geöffnet? - Dann rufen seine Anhänger begeistert: Ja! "Kann wieder jeder und jede - auch mit Kopftuch - an jeder beliebigen Uni studieren? Deswegen ist die Zahl von 60.000 wieder angestiegen, und zwar auf eine Million Schüler und Schülerinnen." Ja, eine Million Kinder in der Türkei gehen bereits auf eine religiös geprägte Imam-Hatip-Schule, eine Million von insgesamt 16 Millionen Schülerinnen und Schülern. Das ist ganz im Sinne der Bildungspolitik, wie sie Staatspräsident Erdogan vorschwebt, denn, so hat er gesagt: Er möchte eine fromme Generation heranziehen. So begeistert seine Anhänger ihm dafür zujubeln, so heftig ist der Widerstand bei Eltern und Lehrern, die kein religiös-konservatives Weltbild haben. "Wir werden nicht zulassen, dass unsere Kinder zum Futter für diese rückständige Ordnung werden," sagt Ilknur Birol von der Lehrergewerkschaft bei einer Versammlung von Eltern in Istanbul. Die Behörde wollte die Schule ihrer Kinder im Istanbuler Stadtteil Göztepe von heute auf morgen in eine Imam-Hatip-Schule umwandeln. "Die Kinder sollen vor allem eines lernen: gehorchen" Aber der Protest der Eltern und der Lehrer war riesig. Sie stritten dafür, dass ihre Kinder in der Schule nicht nach dem Koran erzogen werden, sondern - wie bisher üblich an den staatlichen Schulen der Türkei - nach den Idealen von Staatsgründer Atatürk. Was das genau bedeutet, brachte eine Musiklehrerin auf den Punkt: "Jedes einzelne Kind ist wertvoll. Unsere Kinder sollen in einem aufgeklärten Land groß werden." Gewerkschafterin Birol ist empört, dass die islamisch-konservative Regierung immer mehr Schulen in Imam-Hatip-Schulen umwandelt: "Sie gehen mit allen Mitteln ans Werk, damit sie unsere kleinen Kinder in einer Imam-Hatip-Schule einer religiösen Bildung unterwerfen können. Die Kinder sollen dann vor allem eines lernen: gehorchen." Die Schulbehörden stützen sich meist auf die Behauptung, viele Eltern hätten den Wunsch geäußert, dass ihre Kinder künftig mehr Religion lernen sollen. Dieser Nachfrage will die islamisch-konservative Regierung nachkommen und immer mehr staatliche Schulen in religiöse Imam-Hatip-Schulen umwandeln. Im Falle der Schule im Istanbuler Stadtteil Göztepe ist dieser Plan jedoch am Widerstand der Eltern gescheitert. Die Spaltung der türkischen Gesellschaft in Menschen mit religiösem oder mit liberalem Weltbild spiegelt sich immer deutlicher auch im Schulsystem wider.
Von Thomas Bormann
Die Spaltung der türkischen Gesellschaft spiegelt sich auch im Schulsystem wider: Immer mehr staatliche Schulen sollen in sogenannte Imam-Hatip-Schulen umgewandelt werden, Einrichtungen mit einem Schwerpunkt auf religiöser Erziehung. Doch viele liberale Eltern wehren sich dagegen.
"2015-06-06T14:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:40:42.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-protest-gegen-religioese-schulen-100.html
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"Asien stellt eine Übermacht dar"
Badminton-Nationalspieler Marc Zwiebler. (picture alliance / dpa - Oliver Dietze) In Indonesien, wo die Weltmeisterschaft stattfindet, sei Badminton "Volkssportart", das Stadion in Jakarta legendär für viele Turniere. Die Dominanz Asiens sei vergleichbar mit der im Tischtennis, aber dort hätten die Chinesen absolute Dominanz, im Badminton seien auch Indonesien und Thailand stark. Für Deutschland sei es schwer, die Lücke zu schließen. Dafür müssten weitere Erfolge her, die Förderstruktur sei jedoch nicht entsprechend.. Zwiebler wird in Runde zwei voraussichtlich bereits auf den früheren Weltranglistenersten, Lee Chong Wei aus Malaysia, treffen. Das habe am Tag der Auslosung seine Vorfreude gedämpft, nun sei sie aber wieder groß. Lee hatte eine positive Dopingprobe und war für ein halbes Jahr gesperrt. Daher ist er in der Weltrangliste abgerutscht. Zwiebler sagte dazu: " Das ist bitter für ihn und für mich, dass ich ihm so früh begegnen muss." Kein Verdacht gegen Le Chong Wei Was die Dopingvorwürfe betrifft, sagte Zwiebler, es sei ordentlich ermittelt worden. Lee habe angeblich bei einer OP ein falsches Medikament bekommen. "Ich glaube ihm da einfach. Wir sind froh, dass es im Badminton noch nie einen positiven Doping-Befund gab." Zwiebler hat ein dutzend Mal gegen Lee gespielt und nie gewinnen können. Aber, so der Deutsche: "Wenn nicht hier, wo dann?" Ein Erfolg wäre, wenn er die zweite Runde bestehe und ins Achtelfinale einzöge. Das vollständige Gespräch können Sie als Audio-on-Demand nachhören.
Marc Zwiebler im Gespräch mit Matthias Friebe
Der Deutsche Badminton-Verband habe in den letzten Jahren einen Sprung nach vorne gemacht, indem das Team unter anderem Europameistertitel geholt habe, sagte der Badminton-Nationalspieler Marc Zwiebler im DLF. Aber Länder wie China hätten ein Sportförderungssystem, "das wir uns in Deutschland nicht leisten können oder wollen".
"2015-08-09T19:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:44.451000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/badminton-wm-asien-stellt-eine-uebermacht-dar-100.html
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Wettbewerbe sollen mitten in Paris stattfinden
Blick auf das Stadtzentrum von Paris (picture alliance / ZB / Waltraud Grubitzsch) Hinter dem dicht befahrenen Quai Branly reckt sich der Eiffelturm in den blauen Himmel. Im Sommer 2024 sollen zu seinen Füßen zehntausend Zuschauer Sportlern aus aller Welt beim Beachvolleyball zusehen. Unter dem runden Dach des Grand Palais éphémère, das sich am Ende des Marsfeldes erstreckt, werden Judo-Kämpferinnen und Kämpfer ihr Können unter Beweis stellen. So erklärt es Pierre Rabadan. Der ehemalige Rugby-Nationalspieler ist im Pariser Rathaus für den Sport und die Olympischen Spiele zuständig. „Das Schöne an Paris ist sein Kulturerbe, das in der ganzen Welt bekannt ist. Das wollen wir mit den Olympischen und Paralympischen Spielen herausstellen. Wir haben also beschlossen, die Wettbewerbe ins Herz der Stadt zu legen. So werden die Leute Paris anders entdecken. Dann haben wir geschaut, wo es möglich ist, das zu tun. In einer so dichten Stadt wie Paris gibt es dafür nicht viele Orte.“ Paris will nachhaltig und barrierefrei sein Wenig Neues bauen und stattdessen auf bestehende Strukturen setzen. Das ist die Leitlinie der Pariser Stadtverwaltung - aus Kosten-Gründen und wegen des Umweltschutzes. Am nördlichen Stadtrand entsteht die Arena mit 8 000 Zuschauerplätzen. Die Stadt betont, dass das riesige Sport-Stadion vor allem den Bewohnern der umliegenden Viertel zugute kommt. Auch Sportler im Rollstuhl sollen es unkompliziert nutzen können. Die Arena ist die einzige neue, bleibende, große Sportstätte für die Olympischen Spiele, sagt Pierre Rabadan. „Alle anderen Einrichtungen, an denen die Wettbewerbe stattfinden, gibt es schon, zum Beispiel das Stadion Roland Garros, das Rugby-und Fußballstadion Prinzenpark oder das Kongresszentrum. Bei den temporären Stätten bringen wir die nötige Infrastruktur ein, die dann nach den Olympischen Spielen abgebaut und für andere Veranstaltungen wieder genutzt wird.“ Die Spiele sollen dem Breitensport einen Schub versetzen Ein weiteres Ziel dieses neuen Konzeptes: „Paris soll sportlicher werden. Jedes Mal, wenn es ein Ereignis wie die Olympischen und Paralympischen Spiele gibt, wollen mehr Leute Sport treiben. Das wollen wir nutzen.“ Paris 2024 Wie Olympia Frankreich zu mehr Sport bringen soll Paris 2024 Wie Olympia Frankreich zu mehr Sport bringen soll Macron, Pécresse oder Le Pen: In Frankreich findet im April die Präsidentschaftswahl statt. In der nächsten Legislaturperiode steigt dann auch das größte Sportereignis der Welt in Frankreich – die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Das soll den Sport nachhaltig in der französischen Gesellschaft verankern. Doch Corona hat den franzöischen Sport gezeichnet. Aber die Sportstätten der Stadt sind schon jetzt gut belegt. Rabadan will für die städtischen Vereine noch eine Schippe drauflegen: „Wir schaffen zum Beispiel Zeitfenster für die Sportvereine, um außerhalb der herkömmlichen Zeiten unsere Sporteinrichtungen zu nutzen. Wenn diese am Samstag um 20 Uhr schließen, lassen wir sie die Vereine in Eigenregie bis Mitternacht nutzen und geben ihnen damit künftig vier Stunden mehr, um Sport zu machen.“ Und die Stadt sucht nach nicht genutzten Räumlichkeiten, oft im Erdgeschoss von Gebäuden – wie aufgegebene Geschäfte.    „Wir versuchen Sportarten, wie Kampfsport – Judo oder Karate, die nicht unbedingt in Sporthallen trainieren müssen – dorthin zu verlegen. Damit die Turnhallen frei werden für die Sportarten, die man nur da machen kann.“ Eine neue Sportstätte pro Stadtteil Schon jetzt kann die Stadt den bestehenden Bedarf nicht abdecken. Eine neue Sportstätte pro Arrondissement hat sie sich zu den Olympischen Spielen als Ziel gesetzt. „Das kann eine Turnhalle oder ein Schwimmbad sein. Im 16. Arrondissement werden wir zum Beispiel ein Box-Studio einrichten und einen Tischtennis-Raum. Wir haben an die 15 Basketball-Plätze renoviert, sie zusammen mit einem Künstler neu bemalt, und neue Plätze geschaffen. Die Olympischen Spiele geben uns die Gelegenheit dazu, zusammen mit privaten Partnern und Sportverbänden. Wir versuchen, damit schlau umzugehen.“ Luftverschmutzung soll reduziert werden In den Stadtwäldern, wie dem Bois de Boulogne werden Trainingspfade ausgebessert. Zwischen dem Place de la Nation im Osten der Stadt und dem Place de Clichy im Norden soll ein riesiger Parcours entstehen. Aber ist es wirklich attraktiv, mitten in Paris mit seiner hohen Luftverschmutzung Sport zu treiben? „Ich weiß nicht, ob es attraktiv ist. Aber hier leben die Leute. Sport machen sie in der Nähe ihrer Wohnung oder ihres Arbeitsplatzes. Deswegen wollen wir die Luftverschmutzung in Paris reduzieren.“ Weniger Autos, mehr Grünflächen. Die Olympischen Spiele dienen auch dazu, die Umweltziele der Stadt voranzubringen. Auf der chronisch verstopften Umgehungsstraße Pérphérique wird den Athleten ein Fahrstreifen frei geräumt. Bis zum Startschuss 2024 soll außerdem die Wasserqualität der Seine so gut sein, dass Wettbewerbe der Wassersportarten in dem Fluss der Stadt stattfinden können. Auch der Gebrauch von Wegwerf-Plastik soll in Paris 2024 Geschichte sein. Pierre Rabadan gibt zu, dass ein Großereignis wie die Olympischen Spiele immer eine Belastung für die ökologische Bilanz einer Stadt ist. Aber: „Wir wollen mit unserem Konzept die CO2-Bilanz der Olympischen Spiele um die Hälfte reduzieren im Vergleich zu dem, was London 2012 hatte.“
Von Christiane Kaess
Nur noch zwei Jahre, dann ist Paris Gastgeberin der Olympischen Sommerspiele. Die Wettbewerbe sollen 2024 im "Herzen der Stadt" stattfinden. Das sagt Pierre Rabadan, ehemaliger Rugby-Nationalspieler, der für die Vorbereitung zuständig ist. Und: Die Spiele sollen nachhaltig werden.
"2022-05-26T19:30:00+02:00"
"2022-05-26T16:34:53.940000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/paris-olympische-spiele-sportstaetten-vorbereitung-100.html
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Sind Flüchtlinge in Deutschland der Willkür ausgeliefert?
Einer unserer Gesprächsteilnehmer ist Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. (picture-alliance / dpa / Christoph Schmidt) Andere Bilder zeigten Gefangene, die in perverser Weise nackt vorgeführt, gefoltert und gedemütigt wurden. Die amerikanischen Sicherheitsleute fotografierten sich auch noch dabei. Zehn Jahre später wurden jetzt Bilder publik, die an die von damals erinnern. Allerdings waren es diesmal keine Bilder aus dem irakischen Abu Ghraib. Sondern Fotos und Videos, die mitten in Deutschland aufgenommen wurden. Private Sicherheitsleute drangsalieren Menschen, die auf staatlichen Schutz besonders angewiesen sind: Flüchtlinge in Aufnahmelagern. Viele konnten es wahrscheinlich gar nicht fassen, dass so etwas in Deutschland möglich ist. Unsere Gesprächsteilnehmer: Günter Burkhardt, Geschäftsführer "Pro Asyl" Thorsten Klute, SPD, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Beisitzer im Vorstand der SPD-NRW, Bürgermeister in Versmold (2004 bis 2013) Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer, Städte- und Gemeindebund Stephan Mayer, CSU, Innen- und rechtspolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Bei "Kontrovers" heißt es mitdiskutieren! Rufen Sie uns an – schreiben Sie uns: Tel. 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei) und E-Mail: kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Dirk-Oliver Heckmann
Zehn Jahre ist es bereits her, da gingen höchst verstörende Bilder von misshandelten Menschen in Gefängnissen um die Welt. Zehn Jahre später wurden jetzt Bilder publik, die an die von damals erinnern. Doch die Bilder stammen aus deutschen Aufnahmelagern.
"2014-10-06T10:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:34.065000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/misshandelt-gequaelt-gedemuetigt-sind-fluechtlinge-in-100.html
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Rot-Rot in Prag hat gute Aussichten
Ein Spottlied auf die Politik und die korrupten Parteienvertreter. Fast jeden Abend spielt das Prager Kabaretttheater "Rubin" vor ausverkauftem Haus. Das Drehbuch für das bitterböse Erfolgsstück "Blonde Bestien im Narrenhaus" schreibt die Realität. Fast alle Dialoge basieren auf Abhörprotokollen der Polizei. Tatsächlich zweifeln nur wenige in Tschechien an einem deutlichen Linksrutsch nach den Wahlen. Das neue Machtdreieck aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Präsidentenpartei werde das Land in den kommenden Jahren prägen,Seit ihrem Amtsantritt Mitte 2010 hangelt sich die Mitte-Rechts-Regierung von Skandal zu Skandal. Zwei Drittel aller Kabinettsmitglieder müssen im Laufe der Legislaturperiode ihrem Hut nehmen. Das harte Sparprogramm mit massiven Steuererhöhungen lässt die Popularität des Ministerpräsidenten auf einen historischen Tiefststand sinken. Im Sommer 2013 steht Petr Necas schließlich selbst im Mittelpunkt des größten Korruptions- und Spitzelskandals der tschechischen Nachwendegeschichte. Es ist der Auftakt für einen wochenlangen Politkrimi in Prag: Razzien bei Parlamentsabgeordneten Den Staatsanwälten aus der ostböhmischen Provinz ist die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Vor der versammelten Hauptstadtpresse präsentieren sie Anfang Juni die Ergebnisse monatelanger Ermittlungen:"An der Operation beteiligten sich 400 Polizisten – über 30 Häuser wurden durchsucht. Wir haben mehr als fünf Millionen Euro Bargeld und kiloweise Gold sichergestellt."Ziele der nächtlichen Razzien sind auch das Regierungsamt und das Verteidigungsministerium. Bei sieben Personen klicken die Handschellen. Der Skandal reicht bis in die innersten Machtzirkel der tschechischen Politik:"Die Schlüsselfigur ist Jana Nagyova. Es geht um Korruption und Bestechung. Das Strafmaß beträgt bis zu fünf Jahren."Jana Nagyova ist die engste Mitarbeiterin von Ministerpräsident Necas. Sie soll Abgeordnete reihenweise bestochen und mit lukrativen Posten in Staatsunternehmen belohnt haben. Als schließlich bekannt wird, der Ministerpräsident pflegte über Jahre ein intimes Verhältnis zu seiner Kabinettschefin, gehen auch seine Parteifreunde auf Distanz zu Petr Necas. Nach einer nächtlichen Krisensitzung zieht der Regierungschef die Konsequenzen:"Ich habe meinen Koalitionspartnern meinen Rücktritt mitgeteilt. Ich stehe zu meiner politischen Verantwortung. Ich will alles dafür tun, das die bisherige Koalition unter der Führung meiner Partei bis zu den regulären Neuwahlen im kommenden Jahr fortgesetzt wird." Petr Necas,ehemaliger Premierminister in Tschechien (picture alliance / dpa) Expertenkabinett hält 30 Tage Doch der Wunsch von Petr Necas geht nicht in Erfüllung. Präsident Milos Zeman übernimmt das politische Ruder in Prag. Die Verfassung gibt ihm das Recht zur Vergabe eines neuen Regierungsauftrages. Der Linkspolitiker nutzt die Gunst der Stunde für eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse in Tschechien:"Die Variante, die ich für realistisch halte, ist die einer Beamtenregierung. Für mich ist das eine Regierung der Experten. Also keine Amateure sondern Leute, die sich in ihren Fachbereichen auskennen."Nach einer ersten Schockstarre sorgt die eigenmächtige Entscheidung des Präsidenten für Empörung bei allen Parteien. Die Missachtung der bestehenden Mehrheitsverhältnisse im Parlament verändert das politische System in Tschechien, warnt Finanzminister Kalousek:"Es geht um einen Regimewechsel. Wollen wir eine freie parlamentarische Demokratie oder ein autoritäres Präsidialsystem?"Auch in den meisten Medien wird der Schachzug des Präsidenten kritisch kommentiert. Eine Beamtenregierung ohne politisches Mandat sei Butter in den Händen von Milos Zeman. Doch unbeeindruckt von der breiten öffentlichen Kritik vergibt er den Regierungsauftrag an seinen engen politischen Weggefährten Jiri Rusnok. 30 Tage später jedoch ist das Expertenkabinett bereits wieder am Ende. Mit deutlicher Mehrheit verliert die Übergangsregierung die notwendige Vertrauensabstimmung im Parlament. Immer lauter werden in Prag die Rufe nach einer Selbstauflösung des Abgeordnetenhauses. Die Suche nach der notwendigen Dreifünftelmehrheit ist überraschend schnell beendet. Von den ultraorthodoxen Kommunisten bis zur bürgerlich-konservativen Partei TOP 9 stimmen Mitte August fast alle Fraktionen für den Selbstmord des Parlamentes:Der Beifall kommt aus allen Ecken des Parlamentes. Zum ersten Mal seit der Samtenen Revolution 1989 machen die Abgeordneten mit ihrer Entscheidung den Weg frei für vorgezogene Neuwahlen. Innerhalb von 60 Tagen müssen die Bürger nun über die Zusammensetzung des Parlamentes entscheiden. In Tschechien beginnt ein kurzer harter Wahlkampf.Orangene Rosen im Feierabendverkehr. An einer Straßenkreuzung in der Prager Innenstadt sucht Bohuslav Sobotka den Kontakt mit den Wählern. Seit gut zwei Jahren steht der 42-jährige Jurist an der Spitze der Sozialdemokraten. Die CSSD will mit ihm die politische Kehrtwende in Tschechien erreichen: Jiri Rusnok steht der aktuell regierenden Expertenkommission in Tschechien vor (picture alliance / dpa / Roman Vondrous) Tschechen hoffen auf Wende "Nach sieben Jahren einer Rechtsregierung steckt das Land in einer tiefen Krise. Wir wollen das ändern. Mehr staatliche Investitionen in die Infrastruktur – für Wohnungen, Straßen und das Gesundheitswesen. Außerdem muss der Staat für mehr Arbeitsplätze sorgen."Versprechungen, die bei den Wählern gut ankommen. In den Umfragen pendeln die Sozialdemokraten knapp über der 30 Prozent Marke. Eine neue Regierung kann deshalb nicht ohne die CSSD gebildet werden, meint nicht nur der Journalist Petr Honzejk:"Die Sozialdemokraten werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Wahlen klar gewinnen. Doch sie brauchen einen Koalitionspartner. Wenn die Kommunisten gut abschneiden, wird es eine linke Regierung geben."Noch allerdings verhindert ein Parteitagsbeschluss der Sozialdemokraten eine Koalition mit den ultraorthodoxen Kommunisten auf Landesebene. In den vielen Städten und Regionen gibt es jedoch bereits seit Jahren rot-rote Bündnisse. Ein Modell, das für Parteichef Sobotka auch in Prag nicht mehr undenkbar ist:"Die Sozialdemokraten stehen den Kommunisten inhaltlich sicher näher als den rechten Parteien. Wir können uns eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten auch ohne eine gemeinsame Regierungskoalition vorstellen – das sollte nicht allzu kompliziert sein."Blasmusik, Bier und Bratwurst locken Hunderte zumeist alte Leute auf das Prager Messegelände. Noch immer sind die Kommunisten die mit Abstand mitgliederstärkste Partei in Tschechien. Anders als in den meisten anderen postsozialistischen Ländern verzichtet die KSCM bisher auf eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Dennoch will fast jeder sechste Tscheche sein Kreuz bei den Kommunisten machen:"Die Partei hat keine Skandale und Korruptionsaffären. Sie hat unser Land nicht ausgeplündert und verkauft. Im Sozialismus ging es vielen Menschen deutlich besser. Die KSCM wird sich um uns kleine Leute kümmern." Kommunisten sind frei von Skandalen Das erklärte politische Ziel der Kommunisten ist der demokratische Sozialismus. Dazu gehören die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, der Austritt Tschechiens aus der NATO und eine kritische Distanz zu Brüssel. Dennoch – so Parteivize Jiri Dolejs - reiche die politische Schnittmenge mit den Sozialdemokraten aus für eine Zusammenarbeit in Prag:"Wir wollen eine sozialdemokratische Minderheitsregierung aus inhaltlichen Gründen unterstützen. Unsere Programme sind in weiten Teilen identisch. Wenn wir nicht formell Teil der Regierung sind, werden wir sie zumindest politisch kontrollieren – im Parlament und auch in den Ausschüssen."Diese angekündigte Duldung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung durch die Kommunisten gibt der Partei eine politische Schlüsselrolle in Tschechien, warnt der Politikwissenschaftler Lubomir Kopecek. Zwar verliere die marxistisch-leninistische Ideologie langsam an Bedeutung, doch die KSCM sei noch immer ein nostalgisches Freilichtmuseum. "Die Kommunisten werden für ihre Unterstützung wichtige Posten im Parlament, in der Verwaltung und anderen staatlichen Einrichtungen erhalten. Diese Strategie ist nur ein Zwischenschritt, um allmählich die ganze Macht im Land zurückzuerobern."Wahlkampf in der Universitätsstadt Brünn. Auf dem Marktplatz wirbt die SPOZ um Unterstützung. Erst vor wenigen Jahren wurde die Partei der Bürgerrechte von Milos Zeman aus der Taufe gehoben. Nach einem Streit mit der Führung der Sozialdemokraten gründete der ehemalige CSSD-Vorsitzende seine eigene Partei. Zemanovci – die Freunde Zemans heißt die linkspopulistische Gruppierung mit vollem Namen. Auf ihren Wahlplakaten wirbt die SPOZ mit dem Porträt des Präsidenten. Der Sprung über die fünf Prozent ist diesmal sehr wahrscheinlich – so der Journalist Petr Honzejk:"Die SPOZ wird an der Regierung beteiligt sein. Zeman wird davon profitieren. Auch viele Sozialdemokraten halten ihn für den eigentlichen Führer der Linken. Damit driftet Tschechien weiter in Richtung eines Präsidialsystems - weg von einer parlamentarischen Demokratie."Schon vor seinem Amtsantritt hatte Zeman angekündigt, sich aktiv in die Tagespolitik einmischen zu wollen. Als erster direkt gewählter Präsident des Landes habe er ein stärkeres Mandat als seine Vorgänger Havel und Klaus. Offen wirbt er in seinen Reden für seine Vorstellungen einer Machtverteilung nach den Wahlen:"Das ideale Szenario ist eine Minderheitsregierung. Wenn der Wahlsieger von einer anderen Partei toleriert wird, haben sie doch eine Mehrheit im Parlament. Dann ist doch alles in Ordnung." Keiner zweifelt an Linksrutsch Tatsächlich zweifeln nur wenige in Tschechien an einem deutlichen Linksrutsch nach den Wahlen. Das neue Machtdreieck aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Präsidentenpartei werde das Land in den kommenden Jahren prägen, erwartet der Politikwissenschaftler Kopecek. Im Zentrum stehe künftig jedoch die Prager Burg. Von dort aus werde Milos Zeman die Fäden der Politik ziehen:"Er wird seine Kompetenzen soweit wie möglich ausdehnen. Die meisten Menschen werden das akzeptieren, weil ihr Vertrauen in die Parteien extrem gesunken ist. In einer Zeit der politischen Instabilität suchen viele nach neuen Lösungen und einfachen Antworten. Das ist der neue tschechische Populismus."Applaus für Andrej Babis. Der Unternehmer ist einer der reichsten Männer des Landes. Sein Milliardenvermögen hat der frühere Kommunist nach der Revolution 89 mit der Privatisierung der ehemaligen landwirtschaftlichen Genossenschaften gemacht. Sein internationaler Konzern hat heute einen Jahresumsatz von knapp 6 Milliarden Euro. Vor zwei Jahre gründete er seine Bewegung ANO – die Partei der unzufriedenen Bürger:"Weil ich habe viele Jahre lang jemanden gesucht, und ich habe gesagt, wenn das so weitergeht, hat dieses Land leider keine Zukunft, weil unsere Politiker keine Vision für dieses Land haben."Mit einer aufwendigen und hoch professionellen Wahlkampagne schafft es ANO innerhalb weniger Wochen auf Platz 3 in den Umfragen. Viele bekannte Gesichter aus Kultur und Medien gehören zum Team der Partei. Doch auf allen Großflächenplakaten lächelt Andrej Babis. Er sei kein Politiker, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann der das Land aus der Krise führen werde:"Alle Parteien, die hier 23 Jahre an der Macht waren, versprechen viel, aber am Ende haben sie alle die gleiche Vision, und das ist Geld und Macht. Unsere Politiker sind kein Vorbild an Tüchtigkeit oder Moral."Die einfachen Botschaften treffen die Stimmungslage großer Teile der Bevölkerung. Schon jetzt ist die Politikverdrossenheit in Tschechien weit verbreitet. Nur wenige sind bereit, sich für die junge tschechische Demokratie zu engagieren. Auch aus den Medien kommt nur wenig Gegenwind. Im Sommer kaufte der Milliardär im Handstreich die beiden wichtigsten Tageszeitungen des Landes. Nur wenige Journalisten wie Petr Honzejk kritisieren den Populismus von Andrej Babis:"Seine Bewegung und seine persönlichen Motive liegen völlig im Dunkeln. Das Parteiprogramm ist absolut bruchstückhaft. Eine merkwürdige Mischung aus dem rechten Glauben an die Wunderkraft niedriger Steuern und der linken Vorstellung von der Macht des Staates die Wirtschaft anzukurbeln. Babis ist ein extrem erfolgreicher Unternehmer, der zu allem fähig ist. Er ist absolut undurchschaubar, und das macht mir persönlich große Angst."In einer Straßenbahn tourt Karel Schwarzenberg mit böhmischer Folkloremusik quer durch die Prager Viertel. Der Fürst ist der letzte Hoffnungsträger des bürgerlichen Lagers. Während die Umfragewerte für die langjährige Regierungspartei ODS tief in den Keller gestürzt sind und der ehemalige Koalitionspartner Lidem völlig von der Bildfläche verschwunden ist, kann seine Partei TOP 09 auf ein gutes Abschneiden bei den Wahlen hoffen. Der ehemalige Außenminister wirbt mit den bürgerlich-liberalen Werten um Vertrauen:"Unser Leitmotiv ist die Verteidigung von Recht und Freiheit. Es geht um unsere Grundwerte und unsere Verfassung. Wir stehen für Freiheit und Verantwortung. Dafür werden wir kämpfen."Vor allem in den Städten hat der adelige Politiker seine Anhänger. Als Gegenkandidat von Milos Zeman bei den Präsidentschaftswahlen Anfang des Jahres wurde der 75-jährige von vielen Studenten, Künstlern und Intellektuellen unterstützt. Im Mittelpunkt seiner Wahlkampagne steht der Kampf gegen Präsident Zeman und die Warnung vor einer grundlegenden Veränderung des politischen Systems in Tschechien:"Wir befinden uns an einer entscheidenden Gabelung der tschechischen Geschichte. Die parlamentarische Demokratie ist in Gefahr. Es droht die schleichende Einführung eines autoritären Präsidialsystems."Doch die Kampagne des Fürsten kontert Milos Zeman mit seiner ganz eigenen politischen Taktik. Der Präsident weiß, laut Verfassung hat nur er das Recht über die Vergabe des Regierungsauftrages zu entscheiden. Schon vor dem eigentlichen Wahltermin legt sich Milos Zeman fest: Er wird unter keinen Umständen grünes Licht für eine große Koalition aus Sozialdemokraten und der konservativen TOP 09 geben."Weil eine solche Koalition ganz einfach Verrat an den Wählern der beiden Parteien wäre."Mit dieser eigenmächtigen Interpretation des Wählerwillens blockiert der linke Präsident voraussichtlich jegliche Machtoptionen der TOP 09. Sein Intimfeind Karel Schwarzenberg steht damit schon vor Auszählung der Stimmen auf dem politischen Abstellgleis. Ein kühl kalkulierter Schachzug des Präsidenten – so der Journalist Petr Honzejk:"Er weiß genau, warum er jegliche Zusammenarbeit der Sozialdemokraten mit der TOP 09 von vorne herein ausschließt. Bei dieser Großen Koalition wäre sein Einfluss beschränkt, und er bekäme keine größere Macht. Und genau darum geht es ihm."Die Winkelzüge des Präsidenten lassen viele Tschechen bereits vor dem Wahltermin resignieren. Die Gefahren für die parlamentarische Demokratie werden allenfalls schulterzuckend registriert. Die schwach entwickelte Zivil- und Bürgergesellschaft in Tschechien bleibt weitgehend stumm. Der Blogger Jiri Boudal ist einer der wenigen jungen Tschechen der sich aktiv in die Politik einmischt. Mit seiner Organisation kämpft er gegen die Korruption und die leeren Versprechungen der Parteien. Doch diese Wahlen hat auch er bereits abgehakt: "Die meisten Tschechen erwarten keinerlei positive Veränderungen. Kaum jemand interessiert sich für diesen Wahlkampf oder die Inhalte der Parteien. Ich hoffe dennoch. In ein paar Jahren gibt es auch in Tschechien ein Angebot an politischen Alternativen. Diesmal jedoch geht es leider nur um die Wahl des kleineren Übels."
Von Stefan Heinlein
Sieben Jahre regierte Petr Necas Tschechien, bis der Konservative über eine Bespitzelungs- und Korruptionsaffäre stolperte. Interimslösung ist seither ein Expertengremium, das Präsident Milos Zeman einberufen hatte. Heute und morgen finden vorgezogene Parlamentswahlen statt.
"2013-10-25T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:41:53.663000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rot-rot-in-prag-hat-gute-aussichten-100.html
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"Tradierte Vorurteile und Rivalitäten seit Anbeginn des Christentums"
Der Historiker Michael Wolffsohn (imago/Müller-Stauffenberg) Andreas Main: Heute beginnt in Leipzig die Buchmesse. Schwerpunkt ist Israel. Der Anlass: Vor 50 Jahren haben Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen. Ein viel beachtetes Buch zu diesem Thema hat schon im Vorfeld der Buchmesse einige Beachtung gefunden – und zwar eine kleine Studie von Dan Diner mit dem Titel "Rituelle Distanz". Darin geht es auch viel um Religion, aber letztlich primär um das Verhältnis der Staaten Israel und Deutschland. Wir wollen auf der Ebene der Religionen bleiben und mit Professor Michael Wolffsohn sprechen – über den Stand der jüdisch-christlichen Beziehungen. Denn parallel zu den Aussöhnungsbemühungen auf staatlicher Ebene gab es immer auch diese Ebene von Christen und Juden. Michael Wolffsohn ist Historiker und hat sich immer wieder auch mit dieser Frage beschäftigt, etwa in seinem Buch "Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen." Mit ihm sind wir nun verbunden in München. Guten Morgen, Herr Wolffsohn. Michael Wolffsohn: Guten Morgen, Herr Main. Main: Wo sind die Parallelen und wo sind die Unterschiede, wenn Sie sich anschauen, wie sich die deutsch-israelische Beziehungen einerseits und die christlich-jüdischen Beziehungen andererseits entwickelt haben? Wolffsohn: Also, die deutsch-israelischen Beziehungen sind sehr intensiv geworden, auf der Regierungsebene, vor allem auch auf der Ebene der israelischen Bevölkerung - und zwar im positiven Sinne. Ich möchte daran erinnern, dass im vergangenen Jahr rund 800.000 Israelis Deutschland besucht haben. Das sind - in absoluten Zahlen wohlgemerkt - weit mehr, als Deutsche Israel besucht haben; und das bei völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen bekanntlich. Auch ein Indiz dafür sind die Umfragestimmen: Die israelische Bevölkerung ist Deutschland gegenüber viel freundlicher, wenn Sie so wollen: nachsichtiger, als umgekehrt, die Deutschen Israel gegenüber. Damit sind wir bei der zweiten Seite. Die deutschen Regierungsparteien haben traditionell intensive, gute und enge Kontakte gepflegt. Gewiss, es gab hier und da mal Kräche. Aber auf der Ebene der breiten Bevölkerung sieht es seit Anfang der 80er-Jahre ganz schlecht aus. Das heißt konkret: Israel ist seit 1981 immer eine der drei in der deutschen Bevölkerung – damals westdeutschen, heute gesamtdeutschen Bevölkerung - unbeliebtesten Staaten weltweit. Main: Inwieweit spiegelt sich das auch in den christlich-jüdischen Beziehungen wider? Wolffsohn: Das ist eine sehr gute Frage. Und da kommen wir zu den Tiefendimensionen des deutsch-israelisch-jüdischen Verhältnisses. Tiefendimension, die übrigens das von Ihnen erwähnte Buch von Dan Diner "Rituelle Distanz" ganz wunderbar und sehr tiefsinnig - bezogen auf die israelisch-jüdische Seite - darstellt. Nun, es sind tradierte Vorurteile, Rivalitäten seit Anbeginn des Christentums. Und vergessen wir nicht, dass der Anfang des Christentums im Grunde genommen auch der Beginn eines neuen Judentums gewesen ist – nämlich des Talmudischen Judentums. Daher ist es falsch, davon zu reden, dass das Judentum die Mutterreligion des Christentums wäre. Es sind eben zu jener Zeit – plus minus Christi Geburt – zwei neue aus dem Alten sich heraus entwickelnde Religionen entstanden. Und bis 1800 war das Rivalitätsverhältnis theologisch, religiös definiert. Seit plus minus 1800 ist der traditionelle Anti-Judaismus ein teils rassischer, nationalistischer Antisemitismus geworden, bis hin zum mörderischen Antisemitismus. Diese beiden vereinigen sich. Das war keineswegs nur ein "Privileg" des Christentums oder der Christentümer, sondern auch in der säkularisierten Form erlebbar. Von rechts sowieso – Stichwort Nationalsozialismus und andere Faschismen – aber wohlgemerkt auch von links. "Christlich-jüdischer Dialog in der Kreisbewegung" Main: Wenn wir jetzt aber mal in die Gegenwart gehen, dann haben wir intensive christlich-jüdische Beziehungen. Noch in diese Woche haben sich Rabbiner und Bischöfe getroffen, um genau über christlich-jüdische Zusammenarbeit zu sprechen. Das müsste sich ja auswirken – diese Zusammenarbeit – auf das Verhältnis von Christen in Deutschland zum Staat Israel. Was passiert da? Wolffsohn: Also, hier widerspreche ich Ihnen in Bezug auf Teil 1. Teil 1 – die Intensität des christlich-jüdischen Dialogs. Hier widerspreche ich heftig. Das ist seit Jahrzehnten eine Kreisbewegung. Man dreht sich im Kreise, man betreibt Kuschel-Theologie, sehr oberflächlich, nie in die Tiefe gehend. Da werden seit Jahrzehnten nur oberflächliche Phrasen produziert und präsentiert. Das liegt einfach auch daran, dass in der allgemeinen Bevölkerung aus bekannten Gründen das Interesse an Religionen weitgehend abhandengekommen ist - und mit dem Interesse auch die Kenntnisse. Das gilt für die christliche ebenso wie für die jüdische Seite. Wir haben auf der christlichen Seite auch immer begrenztere Kenntnisse in Bezug auf das Judentum. Und wir stellen bei den christlichen, vor allem bei der evangelischen Kirche fest – ich sage das ohne jede Polemik – auch eine Politisierung der Religion fest. Das hat sich von den theologisch-religiösen Grundlagen entfernt. Und auch im Judentum ist in der Orthodoxie traditionell sowieso kein großes Interesse an anderen Religionen vorhanden. Und in den nicht-religiösen jüdischen Kreisen ist die Kenntnis des eigenen Judentums so begrenzt – und das Interesse ebenso, dass von einem wirklich christlich-jüdischen Dialog mit Niveau überhaupt nicht gesprochen werden kann. Main: Inwieweit haben Sie den Eindruck, dass sich ein gewisser Anti-Israelismus auch in bestimmten kirchlichen Kreisen breit macht? Wolffsohn: Das ist kein Eindruck, sondern das ist eine Tatsache, die seit Jahrzehnten feststellbar ist, die man genau in ihren Entstehungsvorgang datieren kann – nämlich mit der Linksradikalisierung der evangelischen Jugend in den späten 60er-Jahren. Stichwort 68er. Die evangelischen Studentengemeinden waren damals Hort und Ort des Linksradikalismus, wo also die Theologie, das Religiöse immer mehr in den Hintergrund geraten ist. Das sind die ehemaligen Studenten, die heute in Schlüsselpositionen sind und sich natürlich ein bisschen diplomatischer entwickelt haben. Aber kein ernsthafter Theologe im innerkirchlich evangelischen Bereich wird bestreiten, dass es eine – na, sagen wir mal zurückhaltend – Israeldistanz gibt in der evangelischen Kirche. Das ist doch unbestreitbar, das ist kein Eindruck. "Abraham ist eine verdammt wackelige Brücke" Main: Und auf globaler Ebene – wenn wir Positionen des Papstes oder des Weltkirchenrats zu Israel abklopfen, zu welchem Ergebnis kommen Sie da? Wolffsohn: Auch alles Phrasen. Und dann gibt es das Hauptstichwort der Phraseologie, das seit dem Zweiten Vaticanum umhergeistert, das Stichwort von den drei abrahamitischen Religionen, also nicht nur Christentum und Judentum, oder in diesem Falle umgekehrt Judentum und Christentum, sondern auch Islam. Und das ist nun wirklich nichts anderes als eine inhaltsleere Phrase. Denn gerade der Bezug auf den jüdischen Stammvater Abraham ist alles andere als verbindend zwischen den drei Religionen. Wenn man sich die Quellen anschaut, dann ist Abraham nun wahrlich nicht die Brücke. Und wenn das die Brücke sein soll zwischen Judentum, Christentum und Islam, dann ist die verdammt wackelig, so wie es Autobahnbrücken vermeintlich oder tatsächlich momentan in der Bundesrepublik sind. Main: Sie sprechen von wackeligen Brücken, von Phrasen, von Kuscheltheologie. Wie kommen wir da raus, wie kommen wir zu mehr Ehrlichkeit? Wolffsohn: Indem wir uns die Texte genau ansehen und nicht Wünsche hinein interpretieren, dass wir durchaus die Unterschiedlichkeiten des Anderen kennen und benennen und aus dieser Unterschiedlichkeit hinaus einen gemeinsamen Kanon entwickeln mit Betonung und Kenntnis der Unterschiedlichkeit. Also von katholischer – nicht amtskatholischer – Seite her gibt es ja bekanntlich den Versuch von Küng mit dem Weltethos. Den halte ich hier und da für sehr problematisch, aber das sind durchaus Ansätze, wenn sie, anders als beim Weltethos, nicht in einer Art von Tutti Frutti sich dann vermengen lassen. Und das lässt auch in Bezug auf die Entstehung aller drei monotheistischen Religionen historisch-theologisch nachvollziehen. Das Judentum hat sich heraus entwickelt aus dem antiken Polytheismus und hat auch viele Elemente dieses Polytheismus immer noch drin, wenngleich das immer wieder bestritten wird. Aber auch da muss man genau hinschauen. Ebenso wie das Christentum sich aus dem Judentum heraus entwickelt hat, aber gleichzeitig das neue Judentum, das Talmudische Judentum entsteht. Und der Islam entsteht ja letztlich auch aus einer bestimmten Form des Christentums in Verbindung auch mit Teilen des Judentums. Und das sind die Gemeinsamkeiten und zugleich die Unterschiedlichkeiten und Abgrenzungen. All das wird ja in einer Art von Wischi-Waschi-Theologie, Kuscheltheologie vereint und das führt uns nicht weiter.
Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main
Israel ist Schwerpunkt der diesjährigen Leipziger Buchmesse, und jeweils im März wird bundesweit die Woche der Brüderlichkeit veranstaltet. Wie aber steht es wirklich um das Verhältnis Deutschland-Israel? Die christlich-jüdischen Beziehungen seien geprägt von Kuscheltheologie und Phrasen, sagte der Münchner Historiker Michael Wolffsohn im DLF.
"2015-03-11T09:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:25:57.029000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-juedische-beziehungen-tradierte-vorurteile-und-100.html
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Abitur muss vergleichbarer werden
Es gebe eine zunehmende Anzahl an Abiturienten die den Anforderungen eines Studiums nicht gewachsen sind. (dpa/picture-alliance/Gregor Fischer) Regina Brinkmann: Einige haben es schon schwarz auf weiß, andere müssen sich noch etwas gedulden bis sie ihre Abi-Zeugnisse in den Händen halten. Die Hochschulreife, die ihnen mit diesem Dokument attestiert wird, haben offensichtlich aber immer weniger Schulabgänger. So die Kritik von Peter Andre Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Er spricht in dieser Funktion immerhin für mehr als 260 Hochschulen. In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland beklagt Alt, es gäbe gravierende Mängel, was die Studierfähigkeit zahlreicher Abiturienten angehe. So hapert es vor allem an Mathe. Außerdem falle es den Studierenden schwerer, lange Texte zu lesen und zu schreiben, so der HRK-Präsident. Was läuft also in den Schulen schief, dass Abiturienten solche Anforderungen später an der Uni nicht beherrschen. Diese Frage habe ich weitergereicht an den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, an Heinz-Peter Meidinger. Heinz-Peter Meidinger: Also ich glaube tatsächlich, dass die Kritik der Hochschulrektorenkonferenz zu großen Teilen berechtigt ist. Wir haben nach wie vor sehr gute Abiturienten in Deutschland, aber wir haben leider auch eine zunehmende Anzahl an Abiturienten, Abiturientinnen, die den Anforderungen eines Studiums nicht gewachsen sind. Das hängt auch mit der mangelnden Vergleichbarkeit in Deutschland zusammen. Das Abitur in den verschiedenen Bundesländern, über die verschiedenen Wege zum Abitur auch, ist zu unterschiedlichen Preisen zu haben. Das heißt, hier sind die Anforderungen nicht vergleichbar. In einem Bundesland muss man die Abiturprüfung schriftlich in Mathe machen, im anderen nicht. Die Aufgabenpools, die für mehr Vergleichbarkeit sorgen sollen, werden in einem Bundesland in Anspruch genommen, im anderen nicht. Deswegen wundert es mich auch nicht, dass wir eine immer größere Anzahl an Studienabbrechern haben, vornehmlich in den Bachelor-Studiengängen. Ich glaube, wir müssen massive Schritte tun, massive Maßnahmen treffen, um die Vergleichbarkeit des Abiturs in Deutschland und dessen Qualität zu heben. Brinkmann: Inwieweit stehen denn Sie als Lehrer und die Schulen selbst unter Druck, also möglichst viele vermeintlich gute Abiturienten zu entlassen? Meidinger: Ja, natürlich. Es gibt so die Erwartungshaltung, dass jemand, der dann beispielsweise am Gymnasium ist, natürlich auch das Abitur schafft. Es sind Schulen in der Kritik, die höhere Durchfallquoten haben. Ich schließe nicht aus, dass bei dem einen oder anderen Abiturienten dann auch mal das eine oder andere Auge zugedrückt wird, und das ist in Hinblick auf den späteren Studienerfolg wahrscheinlich kein guter Rat gewesen. Brinkmann: Nun werden ja auch so Einsernoten viel leichter vergeben als früher. Also früher musste man 100 Prozent der Leistungen bringen, heute reichen schon 90 Prozent. Würden Sie dafür auch plädieren, dass man da strengere Maßstäbe ansetzt? Meidinger: Also mit Sicherheit. Es sollte so sein, wenn eine Eins vergeben wird im Abitur, tatsächlich auch wirklich eine besondere, sehr gute Leistung vorliegt. Wenn wir Bundesländer haben, die demnächst eine Eins beim Abi-Durchschnitt vor dem Komma haben – also wir haben ja Bundesländer, die sind knapp davor, bei 2,0, 2,1 –, dann sind die wirklich guten Abiturientinnen und Abiturienten ja gar nicht mehr erkennbar. Meidinger: G8 und Lehrermangel waren der Qualität des Abiturs nicht zuträglich Brinkmann: Der HRK-Präsident sieht vor allem in den letzten fünf Jahren eine erhebliche Verschlechterung. Was ist in diesem Zeitfenster in den Schulen schlechter gelaufen? Meidinger: Also ich weiß nicht, ob die Beobachtung zutrifft, dass das jetzt vor allem eine Folge ist der Entwicklung in den letzten fünf Jahren, aber natürlich hatten wir im letzten Jahrzehnt bestimmte Entwicklungen, die der Qualität des Abiturs nicht zuträglich waren, beispielsweise die überstürzte Einführung des G8 in den alten Bundesländern, die ja doch dann auch zu Lehrplankürzungen geführt hat. Wir haben den Lehrermangel gehabt, der auch die Gymnasien seinerzeit und die beruflichen Schulen, die ja auch das Abitur verleihen, betroffen hat. Und wir haben natürlich auch eine zunehmende Anzahl an Schülerinnen und Schülern gehabt, die Einrichtungen besucht haben, die zum Abitur führen. Wir haben eine Steigerung der Hochschulzugangsquote mittlerweile auf fast 50 Prozent, und das hat auch Auswirkungen auf die Qualität gehabt. Brinkmann: Das heißt, nicht alle Abgänger kommen von besonders guten Ausbildungsstätten, Schulen, oder wie muss ich mir das vorstellen? Meidinger: Also ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, der eine Weg zum Abitur ist schlecht oder qualitativ schlecht, der andere gut. Ich würde mir aber tatsächlich wünschen, dass wir mal – und das wäre möglich aufgrund des statistischen Materials, das die Hochschulen haben –, klare Auskünfte darüber, was das Abitur, also der Zugang zur Hochschule, über das Abitur in einem bestimmten Land oder auch über eine bestimmte Schulart, was das für Auswirkungen hat auf den Studienerfolg. Also gibt es Wege, die erfolgreicher sind, die besser vorbereiten für das Studium, und gibt es Wege, wo man sozusagen nachbessern muss. Es geht nicht darum, da den Schwarzen Peter rumzuschieben, sondern zu sehen, wo tatsächlich die Schwachstellen im deutschen Bildungswesen sind. "Es werden da häufig Datenschutzgründe vorgeschoben" Brinkmann: Und dieser Wissensaustausch findet bisher nicht statt zwischen Hochschulen und Schulen? Meidinger: Es werden da häufig Datenschutzgründe vorgeschoben. Es ist leider so, dass wir kaum Zahlen darüber zur Verfügung gestellt bekommen, wie es mit dem Studienerfolg von Studenten aussieht je nach Herkunft. Da würde ich mir wünschen, dass wir mehr Transparenz bekommen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heinz-Peter Meidinger im Gespräch mit Regina Brinkmann
Einführung von G8, Lehrermangel, Lehrplankürzungen: Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, sieht viele Gründe, warum Abiturienten den Studienanforderungen nicht mehr gewachsen sind. Im Dlf forderte er "massive Schritte", um die Schwachstellen im deutschen Bildungssystem zu beheben.
"2019-06-18T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:57:51.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-lehrerverband-zum-schulsystem-abitur-muss-100.html
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Einigen Berufen fehlt die Wertschätzung
Warum werden manche Berufe gesellschaftlich und finanziell mehr anerkannt als andere? (dpa / Christian Charisius) Egal ob Sicherheitsmitarbeiter am Flughafen, Rettungssanitäter, Erzieherin oder Pflegekraft: Bei vielen Berufsgruppen ist der Frust groß angesichts fehlender Wertschätzung und gesellschaftlicher Anerkennung. Doch warum bleibt jenen Berufsgruppen, die im Notfall ebenso wie im Alltag für unsere Sicherheit, Gesundheit und Lebensrettung einstehen, eben diese Wertschätzung verwehrt? Eine Wertschätzung, die sich auch in einer angemessenen Bezahlung widerspiegelt? Wie entstehen überhaupt Ansehen und Wertschätzung für bestimmte Berufe? Warum werden manche Berufe gesellschaftlich und finanziell mehr anerkannt als andere? Und lässt sich diese gesellschaftliche Wertschätzung beeinflussen? Rufen Sie uns kostenfrei an unter der Nummer: 00800 44 64 44 64 oder schicken Sie eine E-Mail an: lebenszeit@deutschlandfunk.de Gesprächsgäste: Prof. Dr. Gerhard Bosch, Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen Andrea Becker, Landesfachbereichsleiterin Besondere Dienstleistungen, ver.di-Landesbezirk NRW Swantje Seismann-Petersen, Altenpflegerin, Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe Mathias Brak, Rettungsassistent Malteser Leverkusen und Projektleiter von Malteser Herzenswunsch-Krankenwagen
Am Mikrofon: Michael Roehl
Sie sorgen für unsere Sicherheit. Sie sind im Notfall oft als Erste zur Stelle. Sie erziehen unsere Kinder oder pflegen uns am Ende unseres Lebens. Oft rund um die Uhr und im Schichtdienst, meist unter hohen körperlichen und psychischen Belastungen. Doch am Ende steht selten ein Dankeschön und oftmals nur ein Gehaltszettel knapp über dem Mindestlohn.
"2016-10-14T10:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:52.839000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/von-sicherheitspersonal-bis-altenpflege-einigen-berufen-100.html
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Wege durch den Dschungel staatlicher Zuwendung
Wer hilft bei der Bearbeitung der verschiedenen Anträge? (imago / Ralph Peters) Betroffene klagen über eine Flut unterschiedlicher Leistungen und Anträge. Sie fürchten, dass Gelder gekürzt werden, wenn sie sich nicht auf eine vorgeschlagene Stelle bewerben, auch wenn diese offensichtlich gar nicht zu ihnen passt. Früher sei es zu leicht gewesen, sich in der "sozialen Hängematte" auszuruhen, hieß es bei der Einführung von Hartz IV. Heute scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Arbeitslose würden in einem absurden Beschäftigungsmarathon gegängelt, lautet die Kritik. Doch wie funktioniert die als "Fordern und Fördern" bekannte Praxis tatsächlich? Wer hilft bei der Bearbeitung der verschiedenen Anträge? Gibt es in Konfliktfällen zwischen Kunden und Mitarbeitern der Behörde eine Vermittlung?Und wie zufrieden sind potenzielle Arbeitgeber mit der Vermittlung? Jan Tengeler diskutiert Ihre und unsere Fragen mit diesen Gästen: Claudia Zippe vom DRK Dresden; sie ist Sozialarbeiterin in der Kontakt- und Begegnungsstätte für Arbeitslose "Auftrieb" Ingo Zielonkowsky, Leiter des Jobcenters in DüsseldorfHelena Steinhaus, Geschäftsführerin von Sanktionsfrei.de; der Berliner Verein hilft Hartz-IV-Empfängern angeben, die von Sanktionen betroffen sindHilmar Schneider, Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn Hörerfragen sind wie immer willkommen. Die Nummer für das Hörertelefon lautet: 00 800 - 44 64 44 64 Und die E-Mail-Adresse: marktplatz@deutschlandfunk.de
Am Mikrofon: Jan Tengeler
Wer längere Zeit ohne Arbeit ist, hat Anspruch auf Hartz IV. Zuständig dafür sind die Jobcenter, deren Aufgabe es ist, die Arbeitssuchenden möglichst schnell wieder in Lohn und Brot zu bringen. Der Weg dorthin ist allerdings unübersichtlich und steinig.
"2017-10-05T10:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:28.085000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hartz-iv-wege-durch-den-dschungel-staatlicher-zuwendung-100.html
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Die CDU ohne Kompass
Wie geht es mit dem Richtungsstreit in der Union weiter? (imago/Felix Zahn) Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte ihren Rückzug an, nachdem sie mit ihrer Forderung nach Neuwahlen in Thüringen gescheitert war. Wie stabil ist die CDU? Und droht der Partei jetzt eine ebenso langwierige Personalsuche, wie sie die SPD erlebt hat? Ministerpräsidentenwahl in Thüringen - Zocken mit der DemokratieDie Wahl des Ministerpräsidenten hat nicht nur Thüringen in eine politische Krise gestürzt. Der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken scheiterte in drei Wahlgängen, völlig überraschend wurde stattdessen der FDP-Mann Thomas Kemmerich gewählt – auch von der AfD. Es diskutieren: - Melanie Amann, der "Spiegel"- Kristina Dunz, "Rheinische Post"- Andreas Rinke, Nachrichtenagentur Reuters- Ralf Schuler, "Bild"-Zeitung Aufzeichnung: Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio Berlin.
Moderation: Stephan Detjen
Annegret Kramp-Karrenbauer verzichtet auf die Kanzlerkandidatur für die Union – und kündigt gleichzeitig an, sich vom Parteivorsitz der CDU zurückziehen zu wollen. Die Rückzugsankündigung nach nur gut einem Jahr als Vorsitzende kam trotz vieler interner Kritiker überraschend. Doch wie geht es weiter?
"2020-02-12T19:15:00+01:00"
"2020-02-18T15:29:27.829000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rueckzug-und-richtungskampf-die-cdu-ohne-kompass-100.html
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Miefiger Schlager plötzlich modern
Die Band Frei.Wild auf der Bühne: "Reaktionär, aber keine Nazis." (picture alliance / Eventpress Hoensch) Mit dem Titel "One Nation Under A Groove" ist die 29. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung, die vom 1. – 3. November in Mainz stattfindet, überschrieben, bei der über den Begriff der Nation und auch über Nationalismus und rechte Gesinnung in der Popmusik diskutiert wird. Im rechts- oder nationalistisch orientierten Rock oder Pop tauche letztlich das komplette Themenspektrum auf, das insgesamt die Rechten oder auch sogenannte besorgte Bürgerinnen beschäftige, sagte Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs. "Das hat viel mit Heimat zu tun, das hat mit Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung zu tun" – und es schlage schnell in Rassismus um. Von Deutschpop bis Hip-Hop ist alles dabei Stilistisch sei von dem, was man Deutschpop nenne über den klassischen Deutschrock bis zum deutschsprachigen Hip-Hop alles dabei. Auf der Tagung gehe es aber nicht nur um Rechtspopulismus oder –extremismus; es solle ganz grundsätzlich das Konzept "Nation" für die Tauglichkeit in der populären Musik überprüft werden. Wie im US-Hip-Hop lasse sich auch bei Rappern aus Deutschland oder Österreich ein Wechselspiel zwischen globaler Orientierung und der Thematisierung des eigenen Nahfelds, der Region oder sogar Nation feststellen. "Wobei es bei Hip-Hop spannend zu beobachten ist, wie Hip-Hop immer dann besonders erfolgreich ist, wenn sich die Leute, die Hip-Hop machen, in der Diaspora verortet fühlen und ihr Outsidertum entsprechend feiern." Rapper in der Diaspora geben den Outsider Es gebe etwa auch eine überraschend breit aufgestellte Hiphop-Szene auf Sardinien oder auch in Katalonien, hier mit einem Diaspora-Gefühl gegenüber der Zentralregierung in Madrid. Im Zusammenhang mit Rammstein oder auch dem Eurovision Song Contest – beide thematisch auf der Tagung vertreten – stellt sich für Hindrichs die Frage: "Gibt es nicht irgendwo einen Kipppunkt, wo aus einer reinen Repräsentation auch ein affirmatives oder im schlimmsten Fall nationalistisches Weltbild entspringt." "Helene Fischer inszeniert sich unglaublich weltoffen" Dass der deutsche Schlager und seine Hörerinnen und Hörer gerade wieder ein größeres Selbstbewusstsein entwickeln, stelle einige alte Gewissheiten auf den Kopf, sagte Hindrichs und konstatiert angesichts einer "weltoffenen" Helene Fischer und einer "reaktionären" Band wie Frei.Wild eine Verschiebung, die da stattgefunden habe: "Dass dieser total bürgerliche, spießige, miefige Schlager so etwas wie Moderne repräsentiert und der antibürgerliche Punkrock eigentlich das Gegenteil." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thorsten Hindrichs im Corsogespräch mit Bernd Lechler
Rammsteins „Deutschland“, europäische Identitäten beim ESC: die Gesellschaft für Popularmusikforschung diskutiert in Mainz den Begriff der „Nation“ im Pop. Bei "20, 25 Prozent rechter Gesinnung in der Bevölkerung", so Leiter Thorsten Hindrichs, sei klar, "dass sich das in der Popmusik abbildet.“
"2019-11-02T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:20.788000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nationalismus-im-pop-miefiger-schlager-ploetzlich-modern-100.html
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Kriegsdrohung als legitimes Mittel
Alles Teil einer Werkzeugkiste: Kriegsandrohung, Sanktionen und Dialog? Dem widersprechen andere Experten und fordern mehr Kompromisse. (dpa / AP / Lee Jin-man) Die Nordkorea-Strategie geht auf - meint Außenminister Tillerson noch auf dem Rückflug vom Asean-Gipfel. Allein: Es fällt vielen schwer, sie zu erkennen. Während Präsident Trump mit schärfsten Drohungen aus der Hüfte gegen Nordkorea schießt - steuert Tillerson dagegen. Versucht, das Kriegsgebrüll zurück in diplomatische Bahnen zu lenken. Der einzige Weg, meint der ehemalige Spitzendiplomat Nicholas Burns: "Diplomatie ist die letzte Chance", sagt der Ex-Vize Außenminister von Präsident Georg W. Bush. Doch gerade, um sich Gehör zu verschaffen, müssten die USA zeitgleich militärische Stärke demonstrieren. Wenn auch mit weniger schrillem Gebrüll als dem von Trump. Für Burns ist klar: Trumps harsche Worte waren an die Chinesen gerichtet: "Er lässt sie wissen, dass wir Amerikaner unser Land verteidigen sowie unsere Verbündeten Japan und Südkorea und unsere dort stationierten Soldaten." Und würden die Amerikaner militärisch in Nordkorea zuschlagen, würden sie damit auch China treffen. Das habe große Angst vor einem Zusammenbruch des Nachbarlands: Vor Hunderttausenden Flüchtlingen ebenso wie vor einem vereinten Korea an der Seite der USA. China sei an einer stabilen Pufferzone zwischen sich und dem Amerikafreund Südkorea interessiert. Seit er im Weißen Haus ist, hat Trump daher versucht, China ins Boot zu holen, um den Diktator in Pjöngjang zum Einlenken zu zwingen. Diese Anstrengungen müssten verschärft werden. Die Staatschefs sollten schleunigst direkt miteinander sprechen. "Die Chinesen müssen ins Boot. Sie haben Einfluss. Sie versorgen Nordkorea mit Lebensmitteln und Kohle." Das gemeinsame Votum für die Ausweitung von Sanktionen reiche nicht aus, meint auch die ehemalige Top-Diplomatin in der Obama-Regierung Wendy Sherman. Das Puzzle hat viele andere Teile, sagt sie. Korea-Expertin: Militäroption als wichtiges Mittel Wir brauchen Zuckerbrot und Peitsche, um die Nordkoreaner an den Verhandlungstisch zu bekommen. Noch deutlicher sagte es Korea-Expertin Balbina Hwang von der Georgetown Universität in Washington. "Die Militäroption war stets auf dem Tisch. Zu Recht, wie ich meine. Und dort sollte sie auch bleiben. Denn im Prinzip sind wir mit Nordkorea im Krieg." Die gebürtige Südkoreanerin, die viele Jahre im US-Außenministerium gearbeitet hat, sieht diese Option als wichtiges Mittel, um der ganzen Region eines klarzumachen: "Wenn China nichts tut und Nordkorea sein Verhalten nicht ändert, gibt es schwere militärische Konsequenzen. Und es wäre nicht das Schlechteste, wenn die Region das begreift." Es gehe hier nicht um eine Entweder-oder-Frage, meint Hwang. Eine Kriegsdrohung sei keine Absage an die Diplomatie: "Militäroptionen, Sanktionen, Dialog - Das alles sind Teile einer Werkzeugkiste". Polit-Experte: "Mehr Kompromisse und Zwischenschritte" Und von allen sollten die USA Gebrauch machen, um Nordkorea dazu zu bringen, sein Atom- und Raketenprogramm aufzugeben. Doch auch hier sollte das Weiße Haus seine Strategie überdenken, meint Robert Litwak vom Washingtoner Politik-Forum Wilson Center. Er plädiert für mehr Kompromisse und Zwischenschritte. "Eine neue Komponente wäre es, wenn wir China dazu brächten, den Nordkoreanern moderaten Druck zu machen, sie vom Einfrieren des Programms zu überzeugen. Null Sprengköpfe - das ist für Nordkorea keine Option. Aber 20 sind besser als hundert." Eine Option, die Nordkorea die Angst nehmen würde, dass die USA das Regime stürzen wollten. Dieser Kompromiss würde Kim Jong Un die Macht weiter sichern. Und das Beste aus der verfahrenen Situation machen, meint Politologe Litwak. Doch eins sei unabdingbar, um den seit 30 Jahren schwelenden Konflikt zwischen Pjöngjang und Washington beizulegen, sagt Litwak: Es wäre allein schon hilfreich, den Mischmasch an Botschaften zu klären, die gerade aus Washington kommen.
Von Antje Passenheim
Die USA wollen, dass Nordkorea sein Atomprogramm aufgibt. China braucht Nordkorea als Puffer zwischen sich und dem USA-Freund Südkorea. Nordkoreas Regime wiederum fürchtet, von den USA gestürzt zu werden. Ob eine Militäroption aus diesen Interessenskonflikten herausführen kann, darüber sind Polit-Experten sich uneins.
"2017-08-10T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:16.627000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-nordkorea-kriegsdrohung-als-legitimes-mittel-100.html
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Ein Land am Scheideweg
Gedenken an den ermordeten Journalisten Jan Kuciak un seine Verlobte Martina Kusnirova in Bratislava (Dalibor Gluck/CTK/dpa ) Es ist der 13. Januar, ein Montag. Auf diesen Tag haben die Slowaken seit zwei Jahren gewartet: Vor dem zweiten Senat des Spezialisierten Strafgerichts in der Kleinstadt Pezinok schildert der Angeklagte Miroslav M. in allen Einzelheiten, wie er am 21. Februar 2018 den Journalisten Jan Kuciak und seine Verlobte Martina Kusnirova erschossen hat. Miroslav M. hat gestanden. Sein Verfahren ist inzwischen abgetrennt worden. Der Vermittler zwischen Auftraggebern und Tätern hat sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. Im Dezember ist er zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Bleiben noch drei Angeklagte, die in Pezinok vor Gericht stehen. Im Mittelpunkt: der Geschäftsmann Marian Kocner. Er soll den Mord in Auftrag gegeben haben. "Little Big Country" - Marketing-Claim der Slowakei Die Geschichte der unabhängigen, demokratischen Slowakei hat durch den Mord an dem jungen Paar eine neue Zeitrechnung bekommen - davor und danach. Danach sind die Menschen zu Zehntausenden immer wieder auf die Straße gegangen, "für eine anständige Slowakei", für ein Ende von Korruption und Machtmissbrauch und für einen politischen Wechsel. Davor galt die Slowakei als Erfolgsgeschichte, vor allem wirtschaftlich. "Die Erfahrung, die die Slowakei in diesem Jahrtausend gemacht hat, ist, dass das Land mit der Schaffung guter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und damit einhergehend der Aufschwung an Investitionen, der dadurch ausgelöst wurde, wirklich sehr gut gefahren ist, wenn man jetzt mal von dem Krisenjahr 2009 absieht", sagt Markus Halt, stellvertretender Geschäftsführer der Deutsch-Slowakischen Industrie und Handelskammer. Der Geschäftsmann Marian Kocner soll den Mord an Jan Kuciak in Auftrag gegeben haben (AFP / Tomas Benedikovic ) Das Land hat nach tiefgreifenden neoliberalen Reformen einen rasanten Aufholprozess hinter sich. "Little Big Country", so hieß lange der Marketing-Claim der Slowakei mit ihren fünf Millionen Einwohnern. Tüchtige Leute, clever und aufgeweckt, voller unternehmerischer Energie, offen für Neues, pro-europäisch aus Überzeugung, das einzige Euro-Land in Mittelosteuropa. Dank der Autokonjunktur herrscht – statistisch betrachtet - Vollbeschäftigung. Die Realeinkommen in der Slowakei sind deutlich gestiegen."Das reine Niedriglohnland ist sie schon seit mehreren Jahren nicht mehr und wird sie mit dem aktuell steigenden Lohnniveau, was auch jetzt weiterhin für die kommenden Jahre prognostiziert wird, in der Zukunft auch immer weniger werden." Der Fall Jan Kuciak - Schriftsteller: Gerechter Prozess wäre Hoffnung für alleDer slowakische Schriftsteller Michal Hvorecky hofft im Fall des ermordeten Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten auf einen gerechten Prozess. Denn auch wenn die Slowakei viel erreicht habe, herrsche immer noch viel Korruption im Land. Korruption und Machtmissbrauch Es ist jedoch ein Erfolg mit Schattenseiten. Damit meint Markus Halt vor allem die Probleme der deutschen Unternehmen, was die Rechtssicherheit angeht. "Da hat die Slowakei nach wie vor Nachholbedarf, was sich vor allem sehr stark auf die Verfahrensdauer auswirkt. Die Urteile sind häufig überhaupt nicht vorhersehbar. Aufgrund formeller Fehler werden Verfahren immer wieder neuaufgerollt. Und das macht es dann für Unternehmen sehr schwer, Ansprüche über den Rechtsweg dann einzuklagen." Und natürlich gebe es Korruption. Nur davon seien die deutschen Unternehmen nicht so sehr betroffen, weil sie mehr mit slowakischen Unternehmen zu tun haben und weniger mit dem Staat. Korruption und Machtmissbrauch – das aber waren die Themen des Journalisten Jan Kuciak. Er ist vermutlich ermordet worden, weil er dabei war, die mafiösen Umtriebe des Geschäftsmanns Marian Kocner offenzulegen. Womit wir in der Zeit danach angekommen wären, in der Zeit nach dem Mord an dem Journalisten und seiner Verlobten. Kein Tag vergeht seither, ohne dass die Slowaken aus ihren gut recherchierenden Medien neue Details über Marian Kocner und sein kriminelles Netzwerk in Politik, Polizei und Justiz erfahren. Wegen millionenschweren Betrugs mit gefälschten Schuldscheinen ist er diese Woche in einem vom Kuciak-Mord unabhängigen Prozess zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Bratislava im Februar 2020: Tausende Menschen nehmen an der Gedenkkundgebung für den 2018 ermordeten Journalisten Jan Kuciak und dessen ebenfalls ermordete Verlobte Martina Kusnirova teil (Dano Veselsky /TASR via AP / dpa) Korrupte Richter und fragwürdige Kontakte zu Kocner Der Mann muss sich zeitweise unantastbar gefühlt haben, meint Daniel Lipsic, ehemaliger Justizminister und derzeit Anwalt der Familie Kuciak."Über Jahre hat er alle möglichen Wirtschaftsverbrechen begangen, Steuerhinterziehung, Betrug und ähnliches. Und ihm ist nichts passiert. Er hatte eine Art von Immunität." Ein gutes Dutzend Richter und Staatsanwälte sind wegen ihrer fragwürdigen Kontakte zu Marian Kocner entweder suspendiert, freiwillig zurückgetreten oder entlassen worden. Gegen einen ehemaligen und mit Kocner befreundeten Generalstaatsanwalt wird wegen Amtsmissbrauch ermittelt. Unlängst gerieten auch Parlamentspräsident Danko und ein Verfassungsrichter in Erklärungsnot. Die Ermittlungen rund um Kocner führen außerdem zurück in die dunkelsten Kapitel der korruptionsgeprägten Privatisierung zu Beginn des Jahrtausends, in die nach wie vor ungeklärte Gorilla-Affäre. Dabei ist Kocner nur eine mittelgroße Nummer unter den Oligarchen der Slowakei. Was haben wohl die anderen gemacht, fragt sich der Soziologe Michal Vasecka. Und mit Blick auf die Justiz: "Wissen wir, wie viele Richter nicht korrupt sind, wie viele tatsächlich nicht bestochen worden sind? Das ist eine Alptraum-Frage für die Verfechter der liberalen Demokratie in diesem Land." Die landesweiten Demonstrationen "für eine anständige Slowakei", zuletzt vergangene Woche am zweiten Jahrestag des Doppelmordes, haben zunächst Hoffnungen geweckt, dass eine grundlegende politische Wende möglich ist. Als Vorbotin dieser Wende galt die unerwartete Wahl von der liberalen Juristin Zuzana Caputova zur Präsidentin. Die Wende schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Das Klima in der Slowakei, politisch und psychologisch, hat sich verändert, registriert Michal Vasecka. "Die Slowaken sind erschöpft, der politischen Schlacht wirklich müde. Vergangenes Jahr haben sie praktisch täglich Geschichten von Korruption und Klientelismus gehört, wie der Staat von der politischen Elite ausgeraubt wurde. Und jeder hat begriffen, dass er in einem gekidnappten Staat lebt.""Ja, die Leute werden müde, aber ich denke nicht, dass sich deshalb nun ein großer Teil der Gesellschaft von der Demokratie abwendet", glaubt Beata Balogova, Chefredakteurin der Sme, der größten slowakischen Tageszeitung. Spitzenkandidat bei der Parlamentswahl ist nun Peter Pellegrini (AFP / Vladimir Simicek) Spitzenkandidat ist nun Peter Pellegrini Und auch der Schriftsteller Michal Hvoretzky erlebt die Stimmung im Lande eher düster. "Es gibt aber trotz all dem Gründe zum Optimismus. Nur die Stimmung ist irgendwie trüb. Und es herrscht eben irgendwie kein Gemeinschaftsgefühl: Wir schaffen das." "Wir stehen immer noch an einem Scheideweg, seit dem Mord an Jan Kuciak, als die Menschen erkannt haben, dass es eine Gruppe von Leuten gab, die einen Staat im Staat gebildet hatten, und das war ein Schock." Für Beata Balogova ist klar, dass das System Kocner vor allem durch ein System Fico ermöglicht und gefördert wurde, durch Robert Fico, den langjährigen Regierungschef und seine linkspopulistische Partei Smer. "In den letzten zehn Jahren hatte Robert Fico alles unter Kontrolle. Und die meisten Verbindungen von Marian Kocner führten zu Leuten, die der Smer nahestehen." Robert Fico musste 2018 nach dem Mord an Jan Kuciak und Martina Kusnirova als Regierungschef zugunsten von Peter Pellegrini zurücktreten, um seine Dreier-Koalition zu retten. Ihre Smer befindet sich seither im Sinkflug. Nur noch 17 Prozent sagen die Umfragen für die Partei voraus, die noch vor acht Jahren eine absolute Mehrheit bekam. Spitzenkandidat ist nun Peter Pellegrini. Im Wahlkampf erscheint er als das freundliche, vertrauenswürdige Gesicht der Smer, als Saubermann und Aufklärer. Sein engster Mitarbeiter ist Matus Estok, der Chef der Staatskanzlei:"Die Leitung des Innenministeriums und der Polizei wurden ausgewechselt. Die Nationale Kriminalagentur Naka macht jeden Tag Razzien. Polizei und Justiz haben heute freie Hände. Jeder, der gegen die Gesetze handelt, wird bestraft." "Sozialstandards immer noch sehr niedrig" Aber auf allzu große Distanz zu Robert Fico kann Matus Estok nicht gehen, denn der ist immer noch Parteichef und zieht nun die Fäden im Hintergrund. Ficos politische Vermächtnis und Verdienst sieht Estok darin, dass in seinen zehn Regierungsjahren die Schwächeren in der Gesellschaft etwas vom Wohlstand abbekommen hätten. Fico habe aus der Slowakei einen Sozialstaat gemacht. Markus Halt von der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer mag sich mit dieser Charakterisierung nicht anfreunden. Selbst an slowakischen Verhältnissen gemessen seien die Sozialstandards immer noch sehr niedrig. "Die Ansatzpunkte gingen eigentlich nicht dahin: Wie kann man die Abgabenbelastung verringern. Zum Beispiel ist der Steuerfreibetrag in den letzten zehn Jahren gar nicht gestiegen. Und die Löhne sind aber sehr stark gestiegen. Das heißt, von allen Lohnerhöhungen hat der slowakische Fiskus extrem profitiert." Der Soziologe Michal Vasecka sieht in Fico vor allem einen begnadeten Taktiker der Macht, einen Populisten ohne Werte. "Ein tschechischer Journalist hat einmal geschrieben, und ich finde, das ist die beste Beschreibung, Robert Fico war in der Slowakei am längsten an der Macht, aber er hat das Land am wenigsten verändert." Smer präsentiert sich als Garant für Stabilität Das soziale Profil der Smer scheint aber der letzte Rettungsanker der Partei zu sein. Noch in diesen letzten Tagen vor der Parlamentswahl treibt sie in Sondersitzungen ein Sozialpaket durch das Gesetzgebungsverfahren: Eine 13. Monatsrente für die Alten, doppeltes Kindergeld und Abschaffung der Autobahnmaut für Privatfahrzeuge unter 3,5 Tonnen. Zur Stimmenmehrheit gehören übrigens die Rechtsextremisten von Marian Kotleba. Anwalt der kleinen Leute will die Smer sein, pro-europäisch und der einzige Garant für politische Stabilität: "Unser Angebot ist das einer verantwortungsvollen Veränderung. Wir sind der klare Garant für Stabilität und Ruhe, auch für Auslandsinvestoren. Die Alternative der Opposition ist eine Verbindung von sechs bis acht Parteien mit fragwürdiger Stabilität." Ein Wahl-Video der Smer aus dem Internet. Unter den Klängen eines bekannten Volkslieds werden die Führer der Oppositionsparteien verspottet. Sie erscheinen als animierte Trickfiguren mit den jeweiligen Gesichtern und hauen sich wie die Kesselflicker. Am Ende kommt dann eine sonore Sprecherstimme: "Das ist wirklich nicht mehr lustig. Wir brauchen keine gefährliche Wende". Der Spott über die zersplitterte Opposition ist das eine. Die Verleumdung politischer Gegner das andere. Sie ist Sache von Robert Fico, der besonders heftig austeilt, wenn es um seinen Rivalen und früheren Präsidenten Andrej Kiska geht, der mit einer neuen Partei mit dem Namen: "Für die Menschen" antritt. "Es gibt hier einen gewissen Herrn Kiska, den ich jetzt nicht näher definieren will. Er ist ein Betrüger, Dieb und Lügner, der ohne zu zögern sagt, er würde Tausende Migranten herbringen. Sind wir denn alle verrückt geworden?" "Für Robert Fico ist es eine Frage des Überlebens. Er hat den Rubikon komplett überschritten", meint Beata Balogova, die Chefredakteurin der Sme "Das Vorbild für ihn ist Viktor Orban. Deshalb nutzt er in Teilen seiner Kampagne das Feindbild Migranten, oder diese ganzen Verschwörungstheorien, was sich für die Leute sehr ähnlich anhört wie das, was Kotleba sagt." Marian Kotleba könnte mit seiner rechtsextremen Partei zweitstärkste Kraft werden (dpa/picture-alliance/ Vaclav Salek) Eine Koalition mit den Rechtsextremen? Marian Kotleba, der Chef der rechtsextremen "Volkspartei Unsere Slowakei". Nicht nur Beata Balogova traut Robert Fico zu, zur Not auch mit Kotleba zusammen zu gehen, um an der Regierung zu bleiben. Matus Estok, der Kanzleichef von Peter Pellegrini, schließt das aus. Die Smer sei ganz klar antifaschistisch. "Also nicht nur, weil es Faschisten sind. Sie haben auch keine geeigneten Leute und inhaltlich nichts anzubieten. Eine Stimme, die bei der Wahl an die Kotleba-Partei geht, ist eine verlorene Stimme." Marian Kotleba wird bei den Wahlen zulegen. Zeitweilig lag er in den Umfragen mit zwölf Prozent sogar gleich hinter der Smer. Kotleba kanalisiert die Wut und die Frustration jener, die auch den letzten Rest von Vertrauen in die demokratischen Institutionen verloren haben. Der Soziologe Michal Vasecka beschreibt das Profil der Kotlebovci: "Wer sind die typischen Wähler von Kotleba? Überwiegend Männer aus ländlichen Gebieten und Kleinstädten, Leute, die viel im Internet unterwegs sind, meistens mit einfacher Schulbildung, Arbeiter, tief frustriert über niedrige Löhne, wobei die nahe am Durchschnitt liegen." Kotlebas Faschisten sind inzwischen auch bei jungen Leuten schick. Das hier ist Livia, eine junge aparte Frau mit langen Haaren, 18 Jahre alt. In ihrem so genannten Kulturblog präsentiert sie sich vor slowakischen Sehenswürdigkeiten, um dann loszuhetzen gegen alles, was neben der Norm der Rechtsextremisten liegt: gegen Feministinnen und kinderlose Frauen, gegen Schwule und Lesben, gegen Migranten, Muslime, Roma und Liberale. Der Kulturkrieg sei in vollem Gange. 15 Prozent für die rechtspopulistische Olano Nach den letzten Umfragen wird die Smer-geführte Koalition tatsächlich ihre Mehrheit verlieren, auch weil mindestens ein Koalitionspartner wohl an der Fünf-Prozent-Klausel scheitern wird. Ob jedoch die demokratische Opposition eine eigene Mehrheit bekommt, ist völlig offen. Ein Erfolg der Faschisten könnte zu einem Patt der beiden politischen Lager führen. Und im Lager der Opposition gibt es dann auch noch Igor Matovic und seine rechtspopulistische Olano – die so genannte "Partei der gewöhnlichen Menschen und Unabhängigen". Sie hat lediglich 45 Mitglieder, ist aber in den letzten Umfragen steil nach oben gegangen. Matovic ist ein Aktivist mit einem gewissen Charisma; er erinnert ein wenig an Pepe Grillo in Italien: laut, direkt, grob und unberechenbar. So wie hier in einer Parlamentsdebatte. "Das ist also euer Sozialstaat. Bei einer einzigen beschissenen Fähre 50 Millionen Euro zu klauen. Ihr seid Diebe! Diebe regieren die Slowakei. Ihr seid die Mafia, ihr seid organisiertes Verbrechen." Mit 15 Prozent kann die Olano von Igor Matovic rechnen. Vielleicht zieht sie sogar noch an der Smer vorbei. In dem losen Anti-Fico-Bündnis der Opposition ist Matovic kaum kalkulierbar. Für die demokratische Opposition ist die Ablösung der Smer alles andere als ein Selbstläufer. Das weiß auch Miroslav Beblavy, Chef der neuen liberalen Partei Spolu. Sie ist mit der ebenfalls neuen "Progressiven Slowakei" eine Allianz eingegangen. "Einerseits gibt es eine gewaltige Nachfrage nach einer Wende, und die nimmt noch zu. Andererseits gibt es die Sorge, dass es die Opposition zwar schafft, dass aber eine Regierung zu kompliziert wird, wegen vieler Egoismen und den Oligarchen, die heute so viel Einfluss haben und sich im Hintergrund schützen wollen." Wichtigste Wahl seit 1998 Mit der ebenfalls neuen Partei des Ex-Präsidenten Kiska ist das liberale Lager wieder zersplittert. Die neoliberale SaS droht an der Fünf-Prozent-Klausel zu scheitern, wie mehrere andere auch. Die Christdemokraten könnten ins Parlament zurückkehren. Dazu die stramm rechte Sme-Rodina. Inhaltlich wäre ein solches Bündnis jenseits der jetzigen Regierung äußerst fragil: Mindestens sechs Parteien, Pro-Europäer und Europagegner, Liberale, Katholisch-Konservative und Nationalisten, dazu viele persönliche Feindschaften. Michal Hvorecky, der Schriftsteller, sieht das ebenfalls kritisch: "Ich habe das Gefühl, dass die Opposition so zerstritten ist und so zersplittert, dass sie einfach nicht fähig ist, eine Art optimistische Stimmung zu kreieren und überzeugend zu wirken: Wir wollen tatsächlich regieren, wir wollen eine andere Politik." So oder so. Die Wahl am Samstag gilt als die wichtigste seit 1998. Damals hatte ein ebenfalls sehr heterogenes Bündnis den Autokraten Vladimir Meciar von der Macht verdrängt. Diesmal ist das Ergebnis überhaupt nicht vorherzusagen. Aber die Slowaken sind immer für eine Überraschung gut.
Von Peter Lange
Die Slowakei gilt eigentlich als liberaler Hoffnungsschimmer im Osten Europas. Doch seit dem Mord am Journalisten Jan Kuciak ist nichts mehr so, wie es einmal war: Bei der anstehenden Parlamentswahl haben die Rechtsextremisten beste Chancen, zur zweitstärksten Partei des Landes aufzusteigen.
"2020-02-28T18:40:00+01:00"
"2020-03-17T08:51:06.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/parlamentswahl-in-der-slowakei-ein-land-am-scheideweg-100.html
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Persönliche Angriffe und Falschaussagen
Wird von der AfD angefeindet: Klimaaktivistin Greta Thunberg (M.) bei einer Kundgebung in Hamburg (dpa/Daniel Reinhardt) "Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr uns die Zukunft klaut." - Bunt geschminkt, in Blumen-Kostümen werden sie heute wieder Pflanzensamen verteilen und ihre Plakate hochhalten. Auch Pauline Dost will kommen. Die 13-jährige Gymnasiastin aus Berlin ist stolz auf die Fridays-for-Future-Bewegung. "Wir sind das Vorbild", sagt Pauline: "Die sollen sich alle mal bewusst machen: Wir Kinder tun was dafür, dass wir in Zukunft hier leben wollen. Und das ist ein wichtiger Punkt, den sich alle klarmachen müssen." Thunberg: "Die ältere Generation stiehlt uns die Zukunft" Auch Greta Thunberg ist heute in Berlin dabei. Tausende Jugendliche werden zum Brandenburger Tor pilgern, wo ihr Idol am Mittag eine Rede hält. Und da sagt FDP-Chef Christian Lindner, Klimaschutz sei nur was für Profis? Blödsinn, sagt Pauline: "Was heißt Profis?! Ich meine, wir müssen uns alle hier damit beschäftigen, denn es betrifft uns alle. Nicht nur Profis, sondern die ganze Welt." Begonnen hat alles in Stockholm: Monatelang hat Greta Thunberg letztes Jahr vor dem schwedischen Parlament für mehr Klimaschutz protestiert. Inzwischen ist sie mit ihrer Wollmütze und den zwei geflochtenen Zöpfen zum Gesicht der Bewegung geworden. Gerade einmal vier Wochen liegt Thunbergs letzter Besuch in Deutschland zurück: Anfang März kam die 16-Jährige freitags nach Hamburg. Der Medienrummel, der Personenkult, die deutsche Schulschwänzer-Debatte: Greta Thunberg reagiert auf das äußerlich gelassen. Ihr geht es ums Klima: "We are angry because the older generations are stealing our future – right now." Die ältere Generation stiehlt uns die Zukunft, meint Thunberg und wird für diesen Satz bejubelt. AfD: Persönliche Angriffe statt Sachargumente Doch es gibt auch andere Stimmen, etwa die von Marc Jongen, Abgeordneter des Deutschen Bundestags und Mitglied der AfD. Für Jongen ist Greta Thunberg: "Ein krankes Kind, denn es ist bekannt, dass Greta Thunberg am Asperger-Syndrom, einer Form des Autismus leidet. Der Fall Greta ist von höchster Symbolkraft für die wahnhafte Klimarettungspolitik im Ganzen." Michael Schäfer vom Umweltverband WWF widerspricht scharf und verweist auf die Arbeit des Weltklimarats, der regelmäßig über die fortschreitende Erderwärmung berichtet: "Das ist ein Gremium aus mehreren hundert Wissenschaftlern, die auf Basis aller Veröffentlichungen, die es zum Thema Erderhitzung gibt, zusammenfasst, was der Stand der wissenschaftlichen Forschung ist." AfD-Politiker Jongen legte unterdessen nach, vor zwei Wochen im Bundestag: Er prangert die, Zitat, "mächtige Klimalobby" an und unterstellt den Eltern von Greta Thunberg Geschäftemacherei. Die Zwischenrufe im Plenarsaal werden lauter, als Jongen fortfährt: "Asperger-Patienten pflegen ein extremes Schwarz-weiß-Denken. Das Abwägen und Differenzieren ist nicht ihre Sache." Die der AfD allerdings auch nicht, hält SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch dagegen: "Das, was Sie hier an diskriminierenden Worten verloren haben, ist niederträchtig, und es gehört nicht in dieses Haus." "Natürlich gilt, erst recht im Deutschen Bundestag, die Würde eines jeden Menschen", sagt rückblickend die Bundestagsabgeordnete und Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock. "Dass es immer wieder Ausfälle bei dieser Partei gibt, sich über Menschen mit Behinderung lustig gemacht wird, das zeigt, dass diese Partei nicht auf dem Boden unseres Grundgesetzes steht." Morddrohungen gegen Klimaforscher AfD-Parlamentarier Marc Jongen wirft dem Weltklimarat der Vereinten Nationen fehleranfällige Modellrechnungen vor, er greift die Grünen an, und immer wieder Greta Thunberg. "Da eben diese Klimaskeptiker, oder Leugner, wie man sie ja eigentlich nennen muss, keine Sachargumente haben, geht’s halt immer auf die Person", erklärt Stefan Rahmstorf, Physiker beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. "Jeder Klimaforscher, der öffentlich sich zu dem Thema exponiert äußert, kriegt Morddrohungen. Hab ich auch schon bekommen, auch gegen meine Familie. Daran muss man sich, leider Gottes fast, gewöhnen, wenn man Dinge sagt, die manchen Menschen gegen das eigene Weltbild gehen und die keine sachlichen Gegenargumente haben." Führende AfD-Vertreter beharren auf ihren Thesen. Im gerade erst verabschiedeten Europawahlprogramm erklärt die Partei: "Wir bezweifeln aus guten Gründen, dass der Mensch den jüngsten Klimawandel, insbesondere die gegenwärtige Erwärmung, maßgeblich beeinflusst hat oder gar steuern könnte. Klimaschutzpolitik ist daher ein Irrweg." Ende Juli, mitten im Dürresommer 2018, erklärte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, die extremen Wetterereignisse hätten nichts mit dem Klimawandel zu tun: "Wir glauben nicht, dass das sehr viel mit dem CO2-Ausstoß durch die Industrieproduktion oder durch menschliches Tun zu tun hat." Solche Aussagen stoßen in den Braunkohle-Revieren in der Lausitz auf offene Ohren, erst recht wenige Monate vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Aber auch in ihrem Programm für die Europawahl hält die AfD fest: "Umweltpolitik muss sich zuerst an nationalen Bedürfnissen orientieren." Klimaforscher: AfD argumentiert mit Falschaussagen Von dieser Forderung hält Michael Schäfer vom Umweltverband WWF - nichts: "Ein Thema wie den Klimaschutz kann man nicht national lösen. Sondern er erfordert eine Kooperation aller Staaten der Erde, wie es beim Pariser Klimavertrag ja der Fall ist. Und dieses objektive Dilemma versucht die AfD damit zu lösen, indem sie einfach leugnet, dass es den Klimawandel und die Erderhitzung gibt." Karsten Hilse, klimapolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, mischte sich bei einer der letzten Fridays-For-Future-Kundgebungen unter die Jugendlichen und verteilte ein sogenanntes Quiz mit Fragen zum Klimawandel. Klimaforscher Rahmstorf hat sich die Fragen angesehen und in seinem Internet Blog ausführlich analysiert: "Da werden dann Dinge behauptet, dass es im Holozän, also in den letzten 10.000 Jahren schon mal global mehrere Grad wärmer gewesen sein soll als heute. Was einfach wissenschaftlich falsch ist. Und wenn man nach den Belegen fragt, kommen eben Standard-Behauptungen der Klima-Skeptiker, die schlichtweg falsch sind." Karsten Hilse hingegen betont gegenüber unserem Programm: Der CO2-Gehalt und die Temperaturänderungen hätten noch nie in der Erdgeschichte in einer Ursache-Wirkung-Beziehung gestanden. Umweltpolitiker anderer Parteien schütteln darüber den Kopf. Michael Schäfer vom WWF hält die Gefahren solcher Thesen für überschaubar, rät aber zu Wachsamkeit: "Sie werden nur dann gefährlich, wenn die anderen Parteien dadurch mutlos werden. Aber ich sehe nicht, dass es Klimaleugner in anderen Parteien als der AfD gibt."
Von Barbara Schmidt-Mattern
Als schlichtweg falsch bezeichnen seriöse Wissenschaftler die Thesen der AfD zum Klimawandel. Die Rechtspopulisten diskreditieren aber nicht nur Forschungsergebnisse, sondern auch diejenigen, die das Klima schützen wollen, wie die Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg.
"2019-03-29T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:40.630000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-klimapolitik-der-afd-persoenliche-angriffe-und-100.html
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Familienförderung statt Ehegattensplitting
Jasper Barenberg: Seit die Koalitionsparteien öffentlich darüber streiten, ob das Ehegattensplitting auch gleichgeschlechtlichen Paaren zustehen sollte, gerät der Steuervorteil für Verheiratete selbst auch wieder in die Diskussion. Ein Mal mehr steht die Forderung nach einer grundlegenden Reform im Raum, und zwar einer Reform zugunsten von Familien und Kindern, etwa indem man das Ehegattensplitting in ein sogenanntes Familiensplitting umwandelt. Die SPD allerdings tut sich offenbar schwer mit dem Thema. Die zuständige Fachpolitikerin der Bundestagsfraktion nennt den Vorschlag völlig absurd, Parteichef Sigmar Gabriel dagegen hat sich hier im Deutschlandfunk klar für ein Familiensplitting ausgesprochen."O-Ton Sigmar Gabriel: Na ja, ich bin eher der Meinung, dass wir weg müssen vom Ehegattensplitting und hin zu einem Familiensplitting, also dass wir Familien mit Kindern fördern und nicht nur den Eheabschluss. Aber solange man das nicht hat, muss es natürlich eine Gleichbehandlung geben der Lebenspartnerschaften. Aber eigentlich bin ich der Überzeugung, dass man das Ehegattensplitting umwandeln muss in ein Familiensplitting. Was die CDU jetzt macht, ist, dass sie einen Streit führt über etwas, was eigentlich in der Gesellschaft längst entschieden ist."Barenberg: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hier im "Interview der Woche"im Deutschlandfunk. Parteichef und Fraktion also uneins. Wir wollen in den kommenden Minuten darüber mit der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Manuela Schwesig sprechen, der Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales in der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern. Einen schönen guten Morgen!Manuela Schwesig: Guten Morgen, Herr Barenberg!Barenberg: Frau Schwesig, Familiensplitting anstelle des alten Ehegattensplittings: Ist das nun Teufelszeug oder das richtige Rezept?Schwesig: Es kommt darauf an, wie man es ausgestaltet. Fakt ist, dass zunächst es richtig ist, dass es auch für Homoehen das Ehegattensplitting gibt, das ist eine Frage der Gleichberechtigung der Lebensform. Aber wir sind uns einig, dass das Ehegattensplitting eigentlich überholt ist, denn es fördert ja nur die Ehe und es werden eben Partnerschaften ohne Trauschein oder Alleinerziehende mit Kindern oder eben andere Familienformen mit Kindern gar nicht gefördert. Und jetzt ist die Frage: Wenn man vom Ehegattensplitting abrückt, weil es überholt ist und ausschließlich die Ehe fördert und nicht Familien mit Kindern allgemein, wie kann man das machen im Steuerrecht? Und da ist eine Form das Familiensplitting. Es kommt darauf an, wie man es ausgestaltet: Der Vorschlag der CDU, das Familiensplitting der CDU ist definitiv sozial ungerecht, weil davon am meisten die Familien profitieren, die ein sehr hohes Einkommen haben und viele Kinder. Und viele Familien würden leer ausgehen. Es ist … Barenberg: … das hat der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel also nicht gemeint?Schwesig: Nein, das hat er nicht gemeint, den Vorschlag Familiensplitting der CDU. Sigmar Gabriel hat sich ganz klar dafür ausgesprochen, dass wir vom Ehegattensplitting abrücken hin zu einer Familienförderung. Und da muss man schauen, wie das ausgestaltet ist. Es gibt einen dritten Weg neben Ehegattensplitting und dem CDU-Familiensplitting, und zwar den Weg der Individualbesteuerung. Klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Das heißt, jeder zahlt zunächst Steuern auf sein Einkommen. Hohes Einkommen hohe Steuern, niedriges Einkommen keine oder niedrige Steuern. Und dann werden die Familienverpflichtungen angerechnet. Also, wenn ich mit einem Partner zusammenlebe, gibt es dafür einen Freibetrag, wenn ich Kinder habe, gibt es dafür einen Freibetrag. Das wäre individueller und gerechter. Dennoch … Barenberg: … wie viel würden denn Familien gegenüber dem derzeitigen Stand der Dinge dann verlieren an Steuervorteil? Das sind ja einige Tausend Euro bei vielen?Schwesig: Na, es kommt ganz auf die Gestaltung an. Fakt ist doch, dass jetzt ganz viele Familien gar keine Förderung bekommen. Lassen Sie uns ein konkretes Beispiel machen: Ein Ehepaar, wo der Mann arbeitet, 120.000 Euro im Jahr verdient, also schon zum Spitzenverdiener gehört, die Frau arbeitet nicht, die haben zusammen einen Steuervorteil von 8350 Euro durch das sogenannte Ehegattensplitting. Paare, die nicht verheiratet sind, das gleiche Einkommen haben, aber Kinder haben, haben diesen Vorteil nicht, Alleinerziehende haben diesen Vorteil auch nicht. Also, das jetzige System ist ungerecht. Man muss natürlich die Individualbesteuerung so ausgestalten, dass letztendlich Familien mit Kindern nicht verlieren, sondern gewinnen, gerade die Familien, die jetzt nicht berücksichtigt werden. Und die SPD hat sich entschlossen, dass wir das Ehegattensplitting für die neuen Ehen nicht mehr einführen, aber alle die, die jetzt die letzten Jahre und Jahrzehnte natürlich darauf vertraut haben, es weiterhin bekommen. Das ist eine Frage auch von Verfassungsrecht, aber vor allem auch von Vertrauensschutz. Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt sagen: Man kann keine Familienförderung optimal und gerecht über Steuerrecht machen, weil man immer wieder an die Grenzen stößt, dass doch, wenn man dann, um möglichst viel abzusetzen, der profitiert, der auch eh schon sehr viel verdient. Und deshalb setzt die SPD auf die Individualbesteuerung und auf direkte Leistung für Kinder. Wir wollen eine Kindergrundsicherung, die besteht zum einen aus Recht auf Bildung, also kostenfreie Ganztagskitas, Ganztagsschulen, und zweitens ein faires und gerechtes Kindergeld. Das Kindergeld jetzt in Deutschland ist ungerecht. Familien mit einem hohen Einkommen bekommen ein höheres Kindergeld über den Steuerfreibetrag als Familien mit einem durchschnittlichen oder kleinen Einkommen. Wenn ich 40.000 Euro im Monat verdiene, bekomme ich bis zu 100 Euro mehr Kindergeld über die Steuern als andere. Das ist ungerecht, das wollen wir umdrehen. Wir wollen, dass zukünftig alle Familien das gleiche Kindergeld bekommen. Und gerade die Familien, die kleine Einkommen haben, bis 3000 Euro brutto im Monat, auf ihr Kindergeld einen Zuschlag bekommen, damit sie auch wirklich nicht in die Armut rutschen. Das wäre ein gerechtes System.Barenberg: Frau Schwesig, Sie haben jetzt dieses Modell der individuellen Besteuerung erklärt und favorisieren das auch. Ich will noch mal zurückkommen auf das Familiensplitting, wie es beispielsweise in Frankreich Praxis ist: Da ist es ja so, dass das Einkommen dann nicht addiert wird der beiden Verdienenden möglicherweise in einer Familie, sondern dass dazu auch noch die Kinder kommen. Dass es also durch mehr Personen geteilt wird, die von diesem Geld leben müssen. Warum kann das kein Vorbild sein? Das klingt doch wirklich wie eine plausible Regelung?Schwesig: Es klingt auf den ersten Blick wirklich gut, deswegen haben wir uns damit auch intensiv auseinandergesetzt. Es klingt zunächst gerecht nach dem Motto, es werden eben alle Kinder voll angerechnet wie Erwachsene. Aber wer hat davon etwas? Das sind die Familien mit einem hohen Einkommen mit vielen Kindern. Aber Familien mit einem kleineren und mittleren Einkommen, von denen ich eben sprach, die gehen leer aus, weil es ja jetzt schon so ist, dass viele Familien … Dort gehen Eltern arbeiten, zahlen aber keine Steuern, weil ihr Einkommen so gering ist, oder nur kleine Steuern. Und die würden von so einem Splitting kaum profitieren. Deswegen setzt die SPD auf direkte Leistung durch kostenfreie Bildungsinfrastruktur und vor allem durch ein faires, gerechtes Kindergeld. Wir wollen das neu machen, wir wollen dass nicht mehr die, die Spitzenverdiener sind, mehr Geld für ihre Kinder bekommen, sondern die, die auch fleißig sind, aber kleine und mittlere Einkommen haben. Und die Individualbesteuerung findet ja in Schweden statt und Schweden ist ja oft ein Vorbild für Familienförderung, und deswegen, finde ich, kann man sich da ruhig mal was abgucken. Fakt ist: Wir müssen vom überholten Ehegattensplitting weg, hin zu einer Besteuerung und zusätzlicher Familienförderung, die alle Familien in den Blick nimmt und sich endlich an die moderne Welt anpasst, die da heißt: Paare mit oder Trauschein, Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Regenbogen-Familien.Barenberg: 07:25 Uhr, Sie hören den Deutschlandfunk, ein Interview mit der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Manuela Schwesig. Frau Schwesig, die Debatte um die Kanzlerkandidatur in der SPD nimmt wieder Fahrt auf, zuletzt hat Torsten Albig, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, sich klar für Fraktionschef Walter Steinmeier ausgesprochen als Kanzlerkandidat der Sozialkandidaten. Damit hat sich ein erster führender SPD-Politiker festgelegt. Unterstützen Sie ihn?Schwesig: Ich halte die Debatte nicht für richtig zu diesem Zeitpunkt, denn wir haben eine klare Verabredung, dass wir uns damit zum Jahreswechsel beschäftigen wollen, das entscheiden wollen und spätestens nach der Niedersachsen-Wahl die sogenannte K-Frage klären. Wir müssen zum richtigen Zeitpunkt uns mit den richtigen Fragen befassen. Jetzt müssen wir uns vor allem mit den Problemen in Deutschland befassen. Denn die Bundesregierung kann diese nicht lösen, es gibt genug, die Euro-Krise, das Thema, was wir eben besprochen haben, wie sieht es aus mit Familienförderung und, und, und. Und von daher finde ich es nicht gut, wenn jetzt jeder Einzelne wieder die K-Debatte anzettelt. Fakt ist: Wir haben eine klare Verabredung, uns nach der Niedersachsen-Wahl zu positionieren Anfang nächsten Jahres, und daran sollten wir uns einfach alle halten.Barenberg: Aber braucht denn inhaltliche Position nicht auch ein passendes Gesicht dazu?Schwesig: Natürlich, aber es ist wichtig, zunächst über die Inhalte zu reden. Machen wir uns doch nichts vor, wir kommen doch als SPD mit Inhalten gar nicht durch, wenn wir ständig Personaldebatten führen. Und deswegen haben wir uns zusammengesetzt und uns überlegt, welcher Weg ist der richtige? Wir haben gesagt, wir machen jetzt Inhalte, Bürgerdialoge bis zum letzten Jahr, über die Inhalte, über unser Regierungsprogramm, entscheiden die K-Frage am Anfang des nächsten Jahres. Und an diesen Zeitplan sollten wir uns halten oder dann zunächst intern besprechen, wenn jemand der Meinung ist, dass es so nicht der richtige Weg ist.Barenberg: Heute Morgen im Deutschlandfunk die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig. Besten Dank für das Gespräch!Schwesig: Ich danke Ihnen, einen schönen Tag, tschüss!Barenberg: Tschüss!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Manuela Schwesig im Gespräch Jasper Barenberg
Das Ehegattensplitting sei eigentlich überholt, sagt Manuela Schwesig, stellvertretende Vorsitzende der SPD. "Denn es fördert nur die Ehe." Partnerschaften ohne Trauschein oder Alleinerziehende mit Kindern würden gar nicht gefördert. Sie setzt auf eine individuelle Besteuerung wie in Schweden.
"2012-08-13T07:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:21:20.785000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/familienfoerderung-statt-ehegattensplitting-100.html
805
"Die Lobby der Verlage hat gut gearbeitet"
Wolf machte deutlich, dass zwar noch nicht genau feststehe, ob und in welchem Umfang dem WDR nun Werbeeinnahmen entgehen werden. Wenn es aber keine Kompensation gebe - etwa von Seiten der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten) - dann bedeute das: Der WDR hat weniger Geld. Das könne zum Problem für die freien Mitarbeiter werden und möglicherweise auch zu Einschränkungen im Programm führen. Der Landtag in Nordrhein-Westfalen hatte das WDR-Gesetz am Mittwoch verabschiedet. Es soll mehr Transparenz, Kontrolle und Staatsferne ermöglichen, aber eben auch eine deutliche Verringerung der Werbung im Hörfunk-Programm - von täglich 90 Minuten auf 60 Minuten im Jahr 2019. Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate nach Ausstrahlung in unserem Audio-Player nachhören.
Fritz Wolf im Gespräch mit Andreas Stopp
Das neue WDR-Gesetz sieht vor, die Werbezeiten in den Hörfunkprogrammen deutlich zu verkürzen. Der Journalist und Fernsehkritiker Fritz Wolf sagte im DLF, es sei kein Geheimnis, dass von der Novelle die 45 Lokalsender in NRW profitieren sollten. Hinter ihnen stünden die Verlage, und deren Lobby habe gut gearbeitet.
"2016-01-30T17:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:19.497000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wdr-gesetz-die-lobby-der-verlage-hat-gut-gearbeitet-100.html
806
"Kein Wissenschaftsbereich mehr ohne Digitalisierung denkbar"
Der Präsident der TU Berlin, Christian Thomsen (dpa-Zentralbild) Michael Böddeker: Bis der Flughafen in Berlin fertig wird, dauert es noch ein bisschen. Aber ein anderes Großprojekt soll jetzt an den Start gehen, und zwar im Bereich Bildung. 50 neue Professuren im IT-Bereich sollen in Berlin entstehen. Finanziert werden sollen die von verschiedenen Einrichtungen, zum Teil privat, zum Teil öffentlich. Die ersten 18 Professorinnen und Professoren werden jetzt gesucht. Berufen werden sollen sie an die vier Berliner Universitäten, also an die Universität der Künste, die Freie Universität Berlin, die Humboldt-Universität und die Technische Universität Berlin. Mehr darüber weiß Christian Thomsen, er ist Präsident der TU Berlin. Ihn habe ich gefragt, wie es überhaupt zu diesen neu geschaffenen Professuren gekommen ist. Christian Thomsen: Es kam dazu, eigentlich inspiriert ursprünglich durch einen Artikel im "Tagesspiegel" nach der gescheiterten Olympia-Bewerbung von Berlin, dass man das Geld, das man dorthin hätte stecken wollen, doch auch in Wissenschaft stecken kann, insbesondere in die IT-Forschung. "Es werden andere Methoden verwendet werden" Böddeker: Und daraus werden dann jetzt die neuen Professuren am Ende? Thomsen: In der Tat. Es ist so, dass es ein Private Public Partnership ist. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von Industrieunternehmen, die dieses Thema Digitalisierung für sich als wichtig erkannt haben und die sich an der Finanzierung etwa hälftig beteiligen. Eine Reihe von außeruniversitären Forschungseinrichtungen und auch der Berliner Senat gibt einiges hinzu, sodass insgesamt etwa knapp 40 Millionen Euro zur Verfügung stehen für die nächsten sechs Jahre. Böddeker: Digitalisierung ist das gemeinsame Thema, das haben Sie gerade noch mal genannt. Was genau bedeutet das? Also, was soll konkret erforscht werden? Thomsen: Es ist so bei der Digitalisierung, dass kein Wissenschaftsbereich mehr ohne wesentliche Digitalisierungselemente denkbar ist. Es wird neu gedacht werden, es werden andere Methoden verwendet werden. Ich nenne als Beispiel Big Data, viele Wissenschaften, wahrscheinlich alle Wissenschaften erzeugen wahnsinnige, große Datenmengen. Und es geht zum Beispiel um Algorithmen, wie man diese Datenmengen vernünftig inhaltlich analysiert und Aspekte herausfindet, die das menschliche Auge nicht finden würde. Böddeker: Die neuen Professuren sollen zum Teil privat, also von den beteiligten Unternehmen finanziert werden, die geben zwölf Millionen. Wie soll sichergestellt werden, dass sich die Geldgeber nicht in Forschung und Lehre einmischen? Thomsen: Das ist hier ganz klar so geregelt, dass die Stifter an die Einstein-Stiftung in Berlin stiften. Das ist eine angesehene, unabhängige Wissenschaft fördernde Einrichtung. Und die wiederum verteilt die Gelder an die vier Universitäten, die Sie genannt haben, plus die Charité, sodass kein unmittelbarer Einfluss zwischen Stifter und Hochschullehrer stattfindet. Hoffnung auf Zukunft für Privat-Public-Partnership-Modelle Böddeker: Wie genau soll dieses ganze Projekt ablaufen? Also, wie geht es jetzt konkret weiter erst mal? Thomsen: Konkret nach der Bewegung, die heute ausgesprochen worden ist und verkündet worden ist, wird ausgeschrieben und wir haben die ersten 18 Professuren ab heute ausgeschrieben und werden die Berufungskommission an den vier Universitäten und der Charité in Berlin besetzen und starten zum 01. April 2017. Böddeker: Und wie lange läuft das Projekt dann? Thomsen: Sechs Jahre von da an. Böddeker: Wie geht es danach weiter? Thomsen: Das wird man in der Zukunft sehen. Wenn es erfolgreich ist, dann denke ich, dass es weitere Stifter gibt, die sich für das Thema interessieren. Es könnte auch sein, dass das Thema sich etwas wandelt in den nächsten fünf, sechs Jahren, das werden wir beobachten. Die Hoffnung ist jedenfalls, dass diese Form der Private Public Partnership für Wissenschaftsfinanzierung ein Modell wird für Deutschland. Böddeker: Die ersten 18 Professuren sollen jetzt besetzt werden. Wen suchen Sie konkret, also, wer kann sich da bewerben? Thomsen: Das sind überwiegend Juniorprofessuren, da können sich Menschen bewerben, die promoviert haben, die im Bereich IT oder im Bereich einer der Geistes- oder der Industrie-4.0-Wissenschaften Kompetenzen besitzen. Und die Idee ist ja, dass durch diese interdisziplinäre Forschung neue Wissenschaftsfachgebiete aufgebaut werden. Also, die Fächer, die wir ausschreiben, gibt es im direkten Sinne bislang nicht oder wenig nur, und die Hoffnung ist, dass innovative junge Menschen aus dem In- und Ausland sich darauf bewerben. Digitale Gesellschaft, Arbeit 4.0, Vertrauen Böddeker: Wie heißen diese neuen Fächer, gibt es da auch schon einen Namen für? Thomsen: Jedes heißt verschieden. Eines heißt zum Beispiel "Vertrauen in digitale Dienste". Also, die Frage, das ist ein bisschen eine gesellschaftliche Frage: Wie viel müssen Menschen den digitalen Diensten zum Beispiel in der E-Medizin vertrauen, um das als sinnvolles und wirkungsvolles Instrument einzusetzen. Eine andere sind "Physikalische Grenzen der Sicherheit". Also, da geht es um: Wie kann man die Übertragungswege sicherstellen, dass man nicht abhören kann? Dann gibt es Themen wie digitale Gesellschaft, Arbeit 4.0, wie wird sich für arbeitstätige Teile der Gesellschaft das Arbeitsleben dadurch ändern, dass viele der Produktionsprozesse, viele auch der Serviceprozesse digitalisiert werden? Böddeker: Diese 50 neuen Professorinnen und Professoren, die es am Ende geben soll, werden die auch zusammenarbeiten oder sind die dann an ihren jeweiligen Universitäten und können da alleine vor sich hinforschen? Thomsen: Es wird beides geben. Der größte Teil wird zusammenarbeiten in einem Gebäude, das der Berliner Senat in der Mitte von Berlin zur Verfügung stellen wird. Es wird Einzelfälle geben, wo es sinnvoller - zum Beispiel bei großen Laboranwendungen - wo es sinnvoller ist, wenn die Menschen in ihrer Heimateinrichtung auch sitzen. Dennoch ist in jedem Fall geplant, dass es gemeinsame Seminare und Vorträge und Veranstaltungen zentral gibt, sodass dieser Vernetzungsgedanke, der zwischen diesen 50 Professuren geplant ist, auch tatsächlich eintreten kann. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian Thomsen im Gespräch mit Michael Böddeker
Die Digitalisierung hat die Gesellschaft verändert - und wird es wohl auch weiter tun. Auf diese Entwicklung reagieren Berliner Hochschulen: Für die vier Universitäten der Hauptstadt wurden 18 neue Professuren ausgeschrieben, die sich gezielt mit Digitalisierungsthemen befassen. Wer sich bewerben kann, erläuterte Christian Thomsen, Präsident der TU Berlin, im DLF.
"2016-09-12T14:56:00+02:00"
"2020-01-29T18:52:58.553000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digital-professuren-fuer-berlin-kein-wissenschaftsbereich-100.html
807
"Zeitgeschichte ist ein Stiefkind des Geschichtsunterrichts"
Die fast vollständige Beseitigung der Berliner Mauer nach dem Mauerfall war ein "geschichtspolitischer Fehler", kritisierte der Historiker Klaus Schröder im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Roland Holschneider) Es sei erschreckend, dass Schüler heute aufgrund von Unkenntnis behaupteten, die DDR sei demokratisch gewesen, sagte Klaus Schröder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, im Deutschlandfunk. In der Schule werde Zeitgeschichte nur unzureichend vermittelt. Das Thema DDR werde häufig am Schuljahresende behandelt, wenn Unterricht ausfalle. "Dann rutscht das eben durch", sagte Schröder im DLF.Dabei gebe es gute Gründe, den Geschichtsunterricht mit Zeitgeschichte zu beginnen und anschließend zurückzugehen. Statt reinem Vermitteln von Daten müsse der Unterricht mit Leben gefüllt werden, sagte Schröder. Er schlug vor, etwa die Schicksale von DDR-Flüchtlingen im Unterricht zu behandeln. Sinnvoll sei auch, die politischen Systeme von BRD und DDR zu vergleichen. Die Schüler könnten auf diese Weise lernen, was eine Demokratie von einer Diktatur unterscheidet.Stattdessen werde die DDR von manchen Lehrern nur sozial betrachtet, da sie zum Teil in ihrer Vergangenheit Sympathien für die DDR gehegt hätten. Dabei hätten Schule, Öffentlichkeit und Politik die Aufgabe, Menschen zu kritischen Demokraten zu erziehen. "Einen geschichtspolitischen Fehler" nannte Schröder die Beseitigung der Mauerreste in Berlin. Es habe sich um "Geschichtsvergessen" gehandelt, so der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat.In Berlin und anderen Städten wird heute an den Beginn des Mauerbaus vor 53 Jahren erinnert. Das Interview mit Klaus Schröder in voller Länge: Dirk-Oliver Heckmann: Was geschah am 13. August 1961, also genau heute vor 53 Jahren? Ich hatte gerade bereits auf die Studie hingewiesen, die die Bundesstiftung Aufarbeitung in Auftrag gegeben hatte, und die zu dem Ergebnis kam, dass gerade einmal die Hälfte der Deutschen weiß, dass an diesem Tag die DDR-Führung damit begonnen hat, die Mauer zu errichten – bei den jungen Leuten übrigens ist es sogar nur ein Drittel. Doch das ist beileibe nicht die einzige Erkenntnis, im Gegenteil, denn jeder fünfte Bundesbürger glaubt, dass die DDR-Führung mit dem Bau der Mauer versucht habe, den Ost-West-Konflikt zu entschärfen. Im Osten Deutschlands glaubt daran sogar ein Viertel der Befragten. Zugeschaltet aus Berlin ist uns jetzt der Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU Berlin, Klaus Schröder. Schönen guten Tag, Herr Schröder! Klaus Schröder: Ja, schönen guten Morgen! Heckmann: Sie haben ja zuletzt vor zwei Jahren eine ähnliche Studie veröffentlicht, bei der es um die Kenntnisse von Jugendlichen ging und die ja ebenfalls erschreckende Resultate hervorbrachte. Wenn Sie sich jetzt die aktuellen Ergebnisse anhören, wie überrascht sind Sie dann? Zeitgeschichte im Schulunterricht: "Es hat sich nichts getan" Schröder: Überhaupt nicht überrascht. Ich bin überrascht, dass sich überhaupt nichts geändert hat, denn die Politiker, auch die Bildungspolitiker sagten ja 2008 nach den Veröffentlichungen unserer ersten Studie, jetzt würde was geschehen in den Schulen, das Thema wird auch Abiturprüfungsthema und so weiter. Es hat sich nichts getan. Und heute werden wieder Sonntagsreden gehalten, dass man im Schulunterricht mehr tun soll. Also das ist ein Laufen gegen die Wand, gegen Windmühlen. Ich verstehe das nicht. Heckmann: Also was man da genau tun kann, darüber können wir ja im Verlauf des Gesprächs gerne noch mal intensiver sprechen, aber kommen wir erst mal vielleicht mal zu den Ursachen. Sie haben mir vor diesem Gespräch gesagt, bei Ihrer Studie hätte es auch Jugendliche gegeben, die gesagt hätten und die fest davon überzeugt gewesen sind, der Westen hätte die Mauer gebaut, um Armutsflüchtlinge aus dem Osten abzuwehren. Was sind die Gründe für diese frappierende Unkenntnis? Schröder: Das ist Resultat von Unkenntnis, und sie wissen aber, dass Europa sich abschottet gegen Armutsflüchtlinge aus Afrika, dass die USA sich abschotten gegenüber Mexiko, und daraus schließen sie – weil sie keine konkreten Kenntnisse über die deutsche Zeitgeschichte haben –, daraus schließen sie: Der reiche Staat grenzt sich ab, macht dicht gegen potenzielle Armutsflüchtlinge. Unbewusste Assoziationen statt Kenntnisse Das wird übertragen, unbewusst, ohne dass sie das wissen oder darüber reflektieren, sondern das nehmen sie so einfach mit, genau wie Schüler, die nicht wissen, was die DDR eigentlich war, wenn man sie fragt, war die DDR demokratisch, kurz überlegen und dann sagen, ja, natürlich, denn sie hieß ja Deutsche Demokratische Republik. Das heißt, da, wo keine Kenntnisse da sind, werden Assoziationen unbewusster Art getätigt, und dann kommt so was heraus. Heckmann: Aber die Frage ist ja: Weshalb verfügen Schülerinnen und Schüler über so wenig konkrete Kenntnisse über die Zeitgeschichte? Schröder: Das wird in der Schule offenbar nicht vermittelt oder nicht hinreichend vermittelt. Die Zeitgeschichte ist ein Stiefkind des Geschichtsunterrichts, die kommt ... steht immer am Ende, dann ist oft das Schuljahr zu Ende, Stunden sind ausgefallen, im Osten mögen die Lehrer, die älteren jedenfalls, sich mit diesem Thema auch immer noch nicht beschäftigen. Und dann rutscht das eben durch. Insofern wäre es eine Überlegung wert, vielleicht mit der Zeitgeschichte zu beginnen und dann zurückzugehen. Hierfür gibt es gute Gründe, denn es gibt ja nicht nur mangelnde Kenntnisse über die DDR, sondern auch über die alte Bundesrepublik wissen viele Schüler überhaupt nichts. Manchmal denkt man, die Schüler gehen davon aus, es gab den Nationalsozialismus, die DDR und dann kam die Wiedervereinigung. Also das ist schon erschreckend. Heckmann: Jetzt ist es ja vielleicht nicht nur eine Frage, wie viel Zeitgeschichte vermittelt wird in der Schule, sondern auch, auf welche Art und Weise, nämlich wie das gemacht wird. Ist da möglicherweise auch eine Ursache zu finden? Keine Demokratieerziehung in der Schule Schröder: Ja, auf jeden Fall, denn rein das Vermitteln von Daten – die rutschen wieder weg. Sie müssen gefüllt werden mit Leben. Nehmen wir das Beispiel der Abriegelung der DDR, die dann 61 vollendet wurde. Es gab ja eine Grenze durch ganz Deutschland. Man könnte zum Beispiel Lebensschicksale von Flüchtlingen im Schulunterricht behandeln. Es gibt genug Biografien. Dann wird auch klar: Warum wollte jemand die DDR verlassen? Es gab unterschiedliche Motive. Und dann wird das mit Leben gefüllt. Gleichzeitig könnte man auch in einem Vergleich Bundesrepublik – DDR aufzeigen: Was unterscheidet eigentlich eine Demokratie von einer Diktatur? Wie waren die Medien, wie war das Gerichtswesen, wie war die Demonstrationsfreiheit oder -unfreiheit? Also an ganz verschiedenen Punkten kann man lebendig machen: Was hat diese beiden Systeme unterschieden? Was ist charakteristisch für eine Demokratie, was für eine Diktatur? Denn das können die Schüler zum größten Teil nicht. Bei unserer letzten Studie kam ja heraus, dass jeder Dritte in Ostdeutschland glaubte, dass die DDR demokratisch legitimiert war, im Westen immerhin noch jeder Vierte. Also da passiert etwas in der Schule nicht, was notwendig ist, nämlich Demokratieerziehung. Heckmann: Junge Leute können immer weniger zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden, haben Sie gerade eben noch mal betont. Nur die Hälfte der Befragten, laut Ihrer Studie, konnten sagen, dass das Dritte Reich eine Diktatur gewesen ist, und bei der DDR war es gerade mal ein Drittel, die zu dieser Erkenntnis kam. Auf der anderen Seite war es nur die Hälfte der Befragten, die gesagt hatten, dass es sich bei der alten Bundesrepublik um eine Demokratie gehandelt hat. Man könnte ja auch sagen, das ist alles Vergangenheit – wo ist das Problem? "Abstrakte Begriffe müssen mit Leben gefüllt werden" Schröder: Das Problem ist, dass ja auch für das vereinte Deutschland ein Drittel das nicht weiß, ob es nun eine Demokratie ist, weil es abstrakte Begriffe sind. Demokratie, Diktatur – da können junge Leute erst mal nichts mit anfangen. Das muss mit Leben gefüllt werden. Es muss aufgezeigt werden: Was hieß das im Alltagsleben? Was hieß das für das politische System? Erst dann können sie nachvollziehen und auch die Demokratie schätzen lernen, wenn sie wissen: Was passiert in einer Diktatur eigentlich, sei es im Nationalsozialismus, einer ungleich schlimmeren Diktatur, aber auch in der sozialistischen Diktatur DDR, wo die Menschen entmündigt wurden, wie kleine Kinder behandelt wurden von der SED? Also alles das wird nicht vermittelt. Im Osten kann ich es manchmal nachvollziehen, weil die Älteren sich das schönreden, weil sie ihr eigenes Leben schönreden wollen. Aber im Westen ist es offenbar Desinteresse. Heckmann: Es ist ja auch erschreckend: Nachdem das Thema im Unterricht behandelt wurde, sind Sie zu der Erkenntnis gekommen, dass der Anteil derer, die glauben, dass die DDR eine Demokratie gewesen ist, sogar noch anstieg. Können wir uns also politisch-historische Bildung ganz gleich sparen? Schröder: Nein, das liegt natürlich an bestimmten Lehrern, die ihren Schülern was erzählen und diese Trennlinien auch verschwimmen lassen. Es ist ja häufig, dass Lehrer sagen, die DDR hatte Demokratiedefizite, und dann wird ein bisschen erzählt, wie sozial sie war, und auf einmal war sie dann doch wieder demokratisch. Heckmann: Das wissen Sie, dass das so läuft teilweise im Unterricht? Schröder: Ja, es läuft so. Wir haben ja auch mit Schülern geredet, mit Lehrern geredet, und da kommt dann eben heraus, dass die DDR manchmal nur sozial betrachtet wird, die soziale Dimension betrachtet wird, übrigens auch im Westen. Das sind zum Teil Lehrer, die in ihrer Jugend auch Sympathien offenbar für die DDR hatten. Die wollen auch ihre eigene Vergangenheit nicht über Bord werfen. Heckmann: Das sind dann aber doch massive Verstöße gegen die geltenden Lehrpläne, oder? Schröder: Na ja, wer kontrolliert das? Ich höre immer wieder von Lehrern auch: Man darf den Kindern nicht sagen, die DDR war eine Diktatur, das muss ergebnisoffen geschehen. Da entgegne ich immer, ergebnisoffen aber nur im Sinne des Pluralismus unseres Grundgesetzes, und nicht ergebnisoffen generell. Denn dann ... Was heißt das für den Nationalsozialismus? Sollen wir das auch nicht als Diktatur kennzeichnen? Heckmann: Kommen wir noch mal auf die Mauer zurück. In Berlin, da ist es ja gar nicht so einfach, die Stellen zu finden, wo man die Mauer noch einigermaßen authentisch sozusagen – mit Abstrichen natürlich – erleben kann. Die Gedenkstätte Bernauer Straße, die gilt vielen als doch ein bisschen künstlich. War es ein Fehler, die Mauer so gründlich abgerissen zu haben? Schröder: Ja, auf jeden Fall, es war Geschichtsvergessen. Man wollte die Vergangenheit so schnell wie möglich hinter sich lassen und hat deshalb alles beseitigt, was zu beseitigen war. Ich halte das für einen geschichtspolitischen Fehler. "Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie wäre das Schlimmste" Heckmann: Der aber auch nicht mehr zu korrigieren ist? Schröder: Nein, der ist nicht zu korrigieren. Es gibt jenseits von Berlin einige Orte, zum Beispiel in Mödlareuth in Bayern, dort ist ein Dorf genauso getrennt worden wie Berlin, deshalb hieß das Dorf auch Klein-Berlin im Volksmund. Da können Sie das noch authentisch sehen, aber hier in Berlin kaum. Heckmann: Wir haben also festgestellt, Herr Schröder: Jugendliche wissen sehr wenig über die Zeitgeschichte, über die DDR, auch über die alte und die neue Bundesrepublik. Denken Sie, dass sich das mit dem Alter dann auch irgendwann gibt, oder kommt da ein richtiges Problem auf uns zu? Schröder: Ich hoffe nicht. Ich hoffe nicht, dass es zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie kommt, denn das wäre das Schlimmste. Wir haben das schon mal erlebt in der Weimarer Republik. Wir hatten institutionell eine Demokratie, aber keine Mehrheit von Demokraten. Das ist das, was Schule leisten muss, was die Öffentlichkeit, die Politik leisten muss, Menschen zu kritischen Demokraten zu erziehen, nicht, dass sie alles glauben und alles gut finden, was heute stattfindet, sondern dass sie kritisch damit umgehen, aber dass sie ihr Recht, zu kritisieren, ihr Recht, etwas infrage zu stellen, lernen. Und das kann man nur auch in der Schule, indem auch Kenntnisse vermittelt werden über Zeiten, wo es keine Demokratie gab. Heckmann: Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer, doch nur jeder zweite Deutsche weiß mit dem Datum etwas anzufangen. Und über Ursachen haben wir gesprochen mit Klaus Schröder, dem Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU Berlin. Herr Schröder, danke Ihnen, dass Sie ins Funkhaus gekommen sind! Schröder: Ja, bitte. Wiedersehen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Schröder im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
53 Jahre nach Beginn des Mauerbaus sei das Wissen über die DDR unter jungen Leuten mangelhaft, kritisiert der Historiker Klaus Schröder. Demokratieerziehung finde in der Schule nicht statt, sagte der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat im Deutschlandfunk.
"2014-08-13T08:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:58:15.877000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wissen-ueber-die-ddr-zeitgeschichte-ist-ein-stiefkind-des-100.html
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Schlagzeilen des Jahres 2019
Die Bundeswehr bekommt den Friedensnobelpreis - nur eine der erstaunlichen Nachrichten, die uns das neue Jahr bringen wird. (imago / Photothek) Januar 2019: CDU kommt nicht zur Ruhe - Merz und Schäuble schlagen sich gegenseitig für das Amt des Bundespräsidenten vor. Februar 2019:Neuer Vorstoß der EU-Kommission - Nach Fehlschlag bei der Zeitumstellung will Juncker jetzt gleich den ganzen Winter abschaffen. März 2019: Gesichtswahrende Lösung beim Brexit gefunden - Großbritannien verlässt die Europäische Union wie vorgesehen, allerdings mit 80jähriger Übergangsphase. April 2019: Rüstungsindustrie wendet Exportverbot durch Selbstverpflichtung ab - Deutsche Firmen wollen nicht mehr an Länder liefern, die – Zitat – "besonders schlimme Kriege führen". Mai 2019: Manipulationsverdacht nach der Europawahl - Ergebnis exakt wie von Russland vor Wochen vorhergesagt, doch Präsident Putin spricht von "reinem Zufall". Juni 2019: Hat Trump jetzt übertrieben? - US-Präsident will George Washington auf dem Ein-Dollar-Schein durch sein eigenes Bild ersetzen. Juli 2019: Neuer Pisa-Schock - Schülerinnen und Schüler im Ausland deutlich besser in Fremdsprachen. August 2019: Ex-Verfassungsschutzchef sorgt wieder für Aufregung - Maaßen nennt katholische Kirche linksextrem und fordert Verbot der Bergpredigt. September 2019: Nach weiteren Ermittlungen gegen die Konzerne - Bundesverband der Automobilindustrie verlegt Vorstandssitzung in die JVA Wolfsburg. Oktober 2019: Friedensnobelpreis für die Bundeswehr - Nobelkomitee verweist auf Nicht-Einsatzfähigkeit fast aller Panzer und Kampfjets und spricht von "friedfertigster Armee auf dem Erdball". November 2019: Origineller Versuch der SPD - Partei stellt angesichts weiter sinkender Umfragewerte Antrag auf Aufnahme in die Liste der bedrohten Arten. Dezember 2019: Rentner aus Gummersbach kommt in das Guinness-Buch der Rekorde - 67-Jähriger verbrachte dreieinhalb Monate in der Warteschleife der Telekom-Hotline. In der Audioversion hören Sie Kathrin Baumhöfer, Marco Bertolaso und Jörg-Christian Schillmöller, der auch die Produktion übernommen hat.
Von Marco Bertolaso
Was machen Deutschlands Top-Automanager in der JVA Wolfsburg? Wieso bekommt ausgerechnet die Bundeswehr den Friedensnobelpreis? Und was hat Donald Trump schon wieder vor? Die Dlf-Nachrichtenredaktion weiß es schon - und lässt Sie an diesem (nicht ganz ernst gemeinten) Wissen teilhaben.
"2018-12-31T00:00:00+01:00"
"2020-01-27T18:27:36.181000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aus-der-nachrichtenredaktion-schlagzeilen-des-jahres-100.html
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„Sehnsucht nach Weltniveau“
DDR-Architektur mit Strahlkraft - Karl-Marx-Allee und Fernsehturm in Berlin (picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler) Jörg Biesler: Ben Kaden ist in der DDR geboren worden. Er hat gerade die Texte zum Buch "DDR-Architektur" des Fotografen Hans Engels geschrieben. In unserer Reihe "Wendepunkte. Vorher – Nachher" habe ich mit ihm über das Erbe der DDR-Architektur gesprochen. Aber worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir von DDR-Architektur sprechen. Gibt es die? Ben Kaden: Ich denke schon, dass es sie gibt. Es ist die Architektur, die seit Gründung der DDR bis zu ihrem Ende, also von 1949 bis 1990, entstanden ist. Ob es da spezifische Sachen gibt oder nicht, das ist eine Abwägungssache. Es gab viele Parallelentwicklungen: Das sieht man in Berlin ganz deutlich, dass zum Beispiel die Moderne sich in beiden Teilen auch im Konkurrenzverhältnis ausgeprägt hat. Aber ich denke schon, dass man von einer DDR-Architektur sprechen kann als Bezugsgröße. Biesler: Und man hat offensichtlich ja auch ähnliche technische Gestaltungsprinzipien gehabt, also die Charta von Athen mit der typischen Funktionstrennung von Arbeiten und Wohnen – das gab’s hüben wie drüben. Kaden: Ja, genau. Die Architekturgeschichte ist ja nicht vergessen worden. Es ist bloß sehr interessant zu sehen, wie die politische Einflussnahme über die Jahre stattfand. Man begann ja – das sieht man in Berlin sehr schön, auch in der Nähe der berühmten Stalinallee oder Karl-Marx-Allee - mit einem sehr aufgelockerten Neuaufbau der Stadt, mit der sogenannten Wohnzelle Friedrichshain. Am bekanntesten sind die beiden Laubenganghäuser vom Kollektiv Ludmilla Herzenstein, die 1949/50 fertiggestellt wurden. Und danach gab es dann diese Wende hin zu dieser sogenannten Zuckerbäckerarchitektur, also der nationalen Bautradition. Und man sieht das dann gleich hinter den Laubenganghäusern mit dem Hochhaus an der Weberwiese. Das läutet sozusagen diese zweite Phase – die erste war ja sehr, sehr kurz – der DDR-Architektur ein. Parallelen zwischen Ost- und West-Berlin Biesler: Da hat man sich an der Sowjetunion orientiert. Kaden: Genau, das war die Vorgabe. Was man aber sehr schön sieht, ist auch, dass es da Parallelen gab: Also das Degewo-Hochhaus in Berlin-Schöneberg am Innsbrucker Platz ist im Prinzip das West-Pendant zum Hochhaus an der Weberwiese. Man kann in Berlin das immer wunderschön in der Parallelentwicklung weiterverfolgen. Biesler: Und die sehen dann auch ähnlich aus? Kaden: Ja, sie sehen schon unterschiedlich aus, aber sie sind von der Baumasse ähnlich, und sie sind von der Intention auch ähnlich. Es ist allerdings dann wirklich zum Kampf der Systeme gekommen, der vorwiegend auch über die Presse ausgetragen wurde. Das ist sehr spannend nachzuvollziehen. Natürlich wurde das nicht in West-Berlin für den Arbeiter gebaut. So hat das das "Neue Deutschland" dann geschrieben. Und die DDR-Baukultur baut halt für die Arbeiterklasse und ermöglicht Leuten jetzt großzügige Wohnungen, die sich sonst nie einer hätten leisten können. Biesler: Ja, diese politisch-ideologische Ausrichtung hat ja möglicherweise auch Folgen gehabt für die Möglichkeiten, die man als Architekt überhaupt hatte in der DDR. Wenn der Formalismus-Verdacht über allem steht und möglicherweise da Eitelkeiten im Spiel sind und nicht das Volkswohl, dann ist das möglicherweise eine Architektur, die dann auch von der Regierung nicht geschätzt wird. Kaden: Ja, das blieb dann aber meistens auf der Ebene der Entwürfe. Was nicht geschätzt wurde, wurde gar nicht realisiert. Eitelkeiten gibt es natürlich bei Architekten sowieso. Das ist ja ganz grundständig so. Aber wenn man sich das im Detail ansieht, sieht man schon, dass auch viele Freiräume genutzt wurden. Es sind also auch Bauwerke entstanden, die an internationalen Schulen wieder anschließen konnten. Die Moderne kam ja dann wieder. Man sieht es ja sehr schön an der Karl-Marx-Allee: dieser erste Bauabschnitt bis zum Strausberger Platz und dann der zweite Bauabschnitt, der verlängert wurde bis zum Alexanderplatz. Das sind ganz unterschiedliche Architektursprachen, die da realisiert wurden. Und das ist ein sehr schönes Beispiel, wie sich die Dinge dann über die Zeit verändert haben. Typisierter Wohnungsbau Biesler: Da kehrt die Sachlichkeit zurück. Kaden: Da kehrt die Sachlichkeit zurück, die dann auch natürlich ihre Wirkung auf die so genannte Typenbauweise hat, die dann prägend war ab den 70er-Jahren vor allem in den Großwohnsiedlungen in den neuen Wohngebieten, wo wirklich jedes Gebäude typisiert war. Deswegen sehen diese Wohngebiete auch sehr, sehr ähnlich aus – egal, ob man sich in Rostock befindet oder Zwickau. Diese Stile waren schon sehr nah aneinander angelehnt. Biesler: Das führt uns geradewegs zur verpönten Platte, zum Plattenbau. Das industrielle Bauen, das aber doch vielleicht auch beides war: einerseits Effizienzprogramm, aber andererseits auch bewusster Ausdruck von Modernität, oder? Kaden: Da war auch sehr viel aus der Not geboren beim Plattenbau. Es ist schon sehr bewundernswert, wie ästhetische Merkmale abgerungen wurden auch besonders durch die Bekunstung, dass man also Mosaike angebracht hat oder mit bestimmten Kacheln Muster an die Wände gebracht hat. Aber es ist eigentlich eher funktional technisch vorgegeben, dass man diese Gebäude wirklich sehr leicht industriell in großer Stückzahl errichten kann. Die DDR war durchweg ein Versprechen auf die Zukunft Biesler: Was man dann sieht auch in dem Buch, das ist eine Reihe von Gebäuden, die vielleicht nicht experimentell sind, aber doch sehr eigenartig: der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz, den die meisten kennen werden; aber auch das Rundkino in Dresden, das so heißt, weil es genau diese Form auch hat; das neue Gewandhaus in Leipzig, das so eine Art postmoderner Bau ist. Wenn man da mal zusammenfassen will, kam bei mir der Gedanke auf, dass, was trotzdem alle vereint, ist, dass sie eine ungeheure Zuversicht ausstrahlen. Ist das vielleicht einer der Kernpunkte dieser DDR-Architektur? Kaden: Ja, die DDR selbst war ja eigentlich durchweg ein Versprechen auf die Zukunft, die da kommt. Also dieser Aspekt Zuversicht ist sicherlich richtig. Da ist immer ein utopisches Element. Die genannten Gebäude hatten aber zugleich ganz stark auch repräsentative Zwecke. Die DDR hatte diese Sehnsucht nach Weltniveau, so hat man das immer genannt. Ob das im Sport war oder auch in anderen Kulturbereichen, wie man das am Gewandhaus dann sieht. Das ist wirklich ein Gebäude, dass Weltqualität haben musste, damit man damit repräsentieren kann. Man wollte eher zeigen: Wir können das auch. Wir können auf diesem Niveau bauen. Vom kontrollierten zum privaten Bauen Biesler: Jetzt gibt es das Ende der DDR natürlich und damit auch ein Ende dieses politischen, dieses staatlichen Bauens. Kein vollständiges Ende, aber es gibt doch eine viel stärkere Beteiligung von privaten Bauherren, die auch ganz andere Interessen haben als der Staat. Wenn sie zum Beispiel ein Kaufhaus bauen oder ein Bürohaus in der Innenstadt, dann eher an Rendite interessiert sind. Wie haben Sie das wahrgenommen? Ist das das Ende einer Ära gewesen? Hat sich da viel verändert in den Städten? Kaden: Natürlich hat sich da sehr viel verändert, weil sich die Vorzeichen im Prinzip umgekehrt haben von dem absolut kontrollierten gesellschaftlichen Bauen hin zu einem privat organisierten Bauen. Aber das Interessante ist ja das Bauen in diesem Bestand. Und es ist nicht nur die Architektur, die da hervorsticht, sondern vor allem auch der DDR-Städtebau, die Stadtanlagen, die überdauern im Prinzip die einzelnen Gebäude. Biesler: Das heißt, dass stärker als die Architektur eigentlich das, was bleibt, die Stadtplanung ist? Kaden: Das würde ich tatsächlich so sagen. In der Breite wird sich sicherlich eher die Stadtstruktur erhalten, weil sich natürlich Städte verändern. Es werden Gebäude entfernt, es werden neue Gebäude gebaut, es werden Lücken geschlossen. Das Interessante ist, wenn wir jetzt diese Debatten sehen zur Erhaltung der DDR-Architektur oder des baulichen Erbes der DDR, dann müssen wir uns fragen: Was wollen wir eigentlich erhalten? Wollen wir die Gebäude im Rohzustand erhalten? Wollen wir das erhalten, was noch da ist? Oder wollen wir eigentlich Erinnerungen erhalten? Aus meiner Sicht finde ich es wichtig, dass man die Lesbarkeit tatsächlich dessen, was geschehen ist, dessen, warum diese Gebäude da stehen und wie die Gebäude da standen, dass man das erhält. Es sind Erinnerungsräume – das darf man auch nicht vergessen. Dass sehr viele Leute natürlich, mich eingeschlossen, sehr viele Erinnerungen an diese Stadtgestaltung, an diese Gebäude haben. Und das sind natürlich auch biographische Marker, die in der Stadt stehen. Wenn diese Marker zerstört werden, überformt werden, abgerissen werden, dann macht das auch oft etwas mit den Erinnerungen oder mit der Wahrnehmung der Erinnerung der Personen, die davon betroffen sind. Deswegen würde ich sagen, in dieser Richtung ist Sensibilität eigentlich auch ein wichtiger Aspekt. Sensibilität für persönliche Erinnerungen Biesler: Was uns zu einem ganz aktuellen politischen Thema führt, nämlich dem Gefühl vieler Ostdeutscher, nicht ernstgenommen zu werden. Da könnte man auf städtebaulichem und denkmalpflegerischem Gebiet dafür arbeiten, dass vielleicht dieses Gefühl nicht mehr so dominiert? Kaden: Ja, das fügt sich in einen ganz übergreifenden Prozess natürlich, dass bestimmte Aspekte erstmal in den 90ern radikal entwertet wurden. Auch natürlich von ostdeutscher Seite. Das war auch das Selbstbild, was selbst dekonstruiert wurde, was aber dann nach und nach wiederkam. Das ist etwas, was jetzt stärker zunimmt. Das beobachte ich ganz stark, dass auch nostalgische Elemente eine Rolle spielen, dass man also sehr stark an einzelnen Gebäuden hängt, um die auch kämpft. Und dass aus einer globalen Perspektive jetzt schon fragwürdig ist, ob jetzt unbedingt dieses Objekt denkmalschutzwürdig ist. Aber biographisch individuell oder auch für stadtgesellschaftliche Deutungen ist es vielleicht sehr wichtig. Und das hat nicht unbedingt in jedem Fall was mit der architektonischen oder bautechnischen Qualität zu tun. Ben Kaden ist in der DDR geboren worden. Der Bibliothekswissenschaftler ist Mitautor eines neuen Buches des Fotografen Hans Engels über DDR-Architektur. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ben Kaden im Gespräch mit Jörg Biesler
Auch beim Bauen habe man sich in der DDR nach den Vorgaben aus der Sowjetunion gerichtet. Doch Architekten wussten Freiräume zu nutzen, erklärte Architekturexperte Ben Kaden im Dlf. Wer sich heute mit DDR-Gebäuden beschäftige, dürfe nicht vergessen, dass es sich um Erinnerungsräume handele.
"2019-08-28T17:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:08:06.254000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/architektur-in-der-ddr-sehnsucht-nach-weltniveau-100.html
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"Lieber Ludwig, die Welt heute wäre so anders ohne Ihre Musik"
Die Pianistin Mari Kodama dankt in ihrem Brief an Beethoven für seine Musik an die Menschheit (dpa / picture alliance / Oliver Berg) Verehrter Maestro, ich schreibe Ihnen als Pianistin und mein Name ist Mari Kodama. An meinem Namen können Sie vielleicht erkennen, dass ich ursprünglich Japanerin bin, aber schon mit sechs Jahren nach Deutschland kam und dann von meinem 14. Lebensjahr an in Frankreich studierte. Seit meiner frühen Kindheit spielt Ihre Musik eine bedeutende Rolle in meinem Leben. Zu Beginn konnte ich natürlich nicht verstehen, warum Ihre Musik bis heute so bedeutend ist, wo Sie uns doch schon vor fast 200 Jahren verlassen haben. Aber nachdem ich nun Ihre Musik über 40 Jahre studiert und gespielt habe, werde ich noch immer von Entdeckungen überrascht: Ihre Kompositionen sind stets so voller Wärme und so begleiten sie uns durch unser ganzes Leben – durch gute und schlechte Zeiten. Beethoven hat sich nie wiederholt Das ist vielleicht, weil Sie in der Entwicklung der Musik immer nach vorne geschaut haben, immer für Menschlichkeit, Humanität und die Freiheit Aller gekämpft haben; wir würden heute sagen: für eine demokratische Musik in einer demokratischen Gesellschaft. Und so haben Sie sich nie wiederholt, Ihre 32 Klaviersonaten sind alle so verschieden und haben, jede für sich, einen eigenen Charakter. Ich musste 32 Sprachen lernen, um jede einzelne zu verstehen. Dabei haben Sie uns auch gezeigt, dass man wachsen kann durch Begrenzung – was für eine Freiheit haben Sie gewonnen in Ihrem Kampf gegen die Taubheit! Was wäre unsere Welt ohne Ihr Vermächtnis! Nun möchte ich noch eine Frage an Sie stellen: Sie waren selbst immer fasziniert vom Fortschritt der Technik und wie wir diese nutzen könnten, um unsere Möglichkeiten zu erweitern. Würden Sie auch heute ein "klassischer" Musiker sein – was ich hoffe – oder würden Sie sich eher technologisch engagieren, um unserer heutigen Welt in ihren großen Problemen zu helfen? Und auf welchem Wege würden Sie dann mit all Ihrer Kreativität versuchen den Problemen der Menschheit zu begegnen, denen wir immer wieder gegenüber stehen? Beethoven 2020 (Deutschlandradio / imago / Klaus W. Schmidt) Wunsch nach Zeitmaschine Ich wünschte, ich hätte eine Zeitmaschine um mit Ihnen darüber zu sprechen, über unsere Zukunft im 21. Jahrhundert! Aber für heute möchte ich Ihnen noch einmal innigst danken für das Geschenk Ihrer Musik an die Menschheit. Die Welt heute wäre so anders ohne Ihre Musik. In großer Verehrung, Ihre Mari Kodama
Von Mari Kodama
Seit früher Kindheit spielt Beethovens Musik eine bedeutende Rolle im Leben der Pianistin Mari Kodama, schreibt sie in ihrem Brief an den Komponisten. Auch nach 40 Jahren in der Auseinandersetzung mit seiner Musik werde sie immer wieder von Entdeckungen überrascht.
"2020-11-30T20:10:00+01:00"
"2020-12-01T11:45:06.263000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/briefe-an-beethoven-lieber-ludwig-die-welt-heute-waere-so-100.html
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Arbeiten statt Enkel hüten
Das Symposium "Potenziale des Alters" der Hamburger Körber-Stiftung stellte Lösungen für ein längst bekanntes, aber immer noch nicht gelöstes Problem unserer Gesellschaft vor: Die Bevölkerung wird immer älter und die jüngeren Generationen werden mit der Sicherung der Renten für das Heer all derer, die aus dem Beruf ausscheiden, maßlos überfordert sein. Die heute vorgestellte Studie "Produktiv im Alter", von der Körber-Stiftung, dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und der Robert-Bosch-Stiftung belegt diese Entwicklung. Und kommt zum Schluss: wir müssen länger arbeiten. Um ein auskömmliches Einkommen zu haben und um weiterhin in die Rentenversicherung einzuzahlen. Allerdings müssten sich dafür zuallererst unsere Vorstellungen vom Arbeiten und Leben verändern, Dr. Reiner Klingholz, Mitautor der Studie:"Wir haben aus der alten Zeit eine absurde Vorstellung von Arbeit und Freizeit mitgenommen. Übertrieben formuliert heißt das: "Arbeit ist schrecklich!" Und die sollte man möglichst schnell wieder los werden! Damit man endlich in Rente kommt und dann die Freizeit genießt. Das hat früher nicht in die Welt gepasst und heute auch nicht. Denn Arbeit macht sehr vielen Leuten Spaß! Und umgekehrt ist das Rentendasein nicht der Eintritt ins Paradies. Viele Leute langweilen sich ganz schrecklich."Und auch die Unternehmen müssten sich viel stärker der Potenziale der alten Hasen bewusst werden.Zum längeren Arbeiten gehören ein längeres Lernen, mehr und qualifiziertere Weiterbildungen, so Klingholz. Vor allem aber auch ein gesünderes Arbeiten, dass Rücksicht nimmt auf die körperliche Belastbarkeit der Arbeitskräfte. Margarete Heckel, Autorin des Buchs "Aus Erfahrung gut", hat deutsche Firmen besucht, die neue, zukunftsträchtige Arbeitszeitmodelle einführen. Ein Beispiel dafür ist der Maschinenbauer Trumpf, so Heckel:"Da kann jeder Mitarbeiter, egal, ob am Band oder in der Konzernzentrale für die jeweils nächsten zwei Jahre sagen: 'Ich möchte 1 und 43 Stunden in der Woche arbeiten!' Das heißt, sie könnten sagen: 'Ich will 28 Stunden arbeiten!' Ich kann sagen: 'Ich will 33 Stunden arbeiten!' Und ihr Nachbar sagt: 'Ich will 38 Stunden arbeiten!'"Wie Arbeit im Alter aussehen kann, schilderten auf dem Symposium auch Gäste aus den Vereinigten Staaten. Die Firma "Vita Needle" produziert im Speckgürtel von Boston Metallröhrchen für die Industrie und für medizinische Anwendungen. Der Altersschnitt liegt bei 74 Jahren. Howard Ring arbeitet als Ingenieur für "Vita Needle". Sechs Jahre lang war der heute 79-Jährige auf Arbeitssuche, heute ist froh, bei der Oldie-Firma - nicht ganz freiwillig - weiter machen zu dürfen."Ich habe dort angefangen, weil ich das Geld brauchte. Dann habe ich gemerkt: Ich habe dort Freunde, Menschen, mit denen ich sprechen kann, eine Struktur für mein Leben. Wenn ich aufstehe, habe ich einen Ort, an dem ich gebraucht werde. Wo ich Dinge tun kann, die ich vorher auch gemacht habe."Und das funktioniert auch bis ins sehr hohe Alter: Seine älteste Kollegin hat gerade ihren 95. Geburtstag gefeiert. Ein Problem mit der Diskriminierung älterer Arbeitnehmer hat seine Firma auf jeden Fall nicht.
Von Axel Schröder
Mit 70 Jahren ein Dach neu decken - bei einigen mag das gehen, aber bei der Mehrzahl der Älteren dürften die Knochen wohl kaum noch mitmachen. Unsere Gesellschaft altert und es stellt sich die Frage: Wie lange können und wollen wir arbeiten? Dazu gibt es nun eine neue Studie.
"2013-11-13T17:05:00+01:00"
"2020-02-01T16:45:00.649000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arbeiten-statt-enkel-hueten-100.html
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Brüsseler Spekulationen über Merkels "Restlaufzeit"
Langjährige politische Weggefährten in Brüssel: Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Juncker (AFP / Alain Jocard) Es war eines der beliebten Brüssel Gerüchte: dass die geübte Brüsseler Krisenmanagerin Angela Merkel nach ihrem Abgang aus Berlin eine wichtige Rolle auf der EU-Bühne spielen könnte - zum Beispiel als Nachfolgerin des nicht immer sonderlich diplomatisch-geschickt agierenden EU-Ratspräsidenten Donald Tusk im kommenden Jahr. Doch Merkel hat in ihrer Pressekonferenz alle europapolitischen Ambitionen ausgeschlossen. Wenn sie mehr Zeit hätte würde sie ihren Garten etwas besser pflegen und Reisen in andere Zeitzonen machen. Was sie als Kanzlerin schlecht könne weil sie dann völlig entkoppelt sei vom heimatlichen Geschehen hatte Angela Merkel zuvor bereits der Augsburger Allgemeinen anvertraut. Spätestens jetzt ist klar: Merkel wird als Ex-Kanzlerin eines Tages eher nach Boston & Bali als nach Brüssel reisen. Zurückhaltung bei Juncker Die EU-Kommission gab sich nach Merkels gestriger Paukenschlag-Pressekonferenz betont verschlossen. Auf die Frage, ob Merkels Parteifreund und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit der Kanzlerin nach ihrer Pressekonferenz telefoniert habe und wie das Juncker-Team Merkels Machtverlust aus europäischer Sicht bewerte zog sich die Kommissionssprecherin auf die Formulierung zurück man verfolge zwar die deutsche Innenpolitik. Aber man enthalte sich jeden Kommentars. Und beantworte auch nicht die Frage nach telefonischen Kontakten zwischen dem Kommissionspräsidenten und der Kanzlerin. Doch auch wenn Jean-Claude Juncker sich öffentlich mit Kommentaren zurückhält. Und Merkels Luxemburger EVP-Parteifreund nicht vergessen hat, dass Merkel ihn vor vier Jahren keineswegs für eine Idealbesetzung an der Spitze der Kommission hielt. Ist Merkels Machtverlust sowohl für das Juncker-Team wie auch für den von ihr sehr geschätzten EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ein Problem. Denn Brüssel und den EU-Institutionen stehen extrem schwierige Monate bevor: Es gilt einen Chaos-Brexit ohne Scheidungsvertrag zu verhindern. Die Kommission und die Staats-und Regierungschefs müssen eine kluge Antwort auf den italienischen Schuldenhaushalt finden, wenn die Populisten in Rom im nächsten Monat kein überarbeitetes Budget vorlegen. Außerdem seht der Europawahlkampf steht bevor, den Europas Rechtspopulisten von Matteo Salvini bis Marine Le Pen nutzen wollen, um eine starke Machtbasis im zukünftigen EU-Parlament zu erreichen. Bei den kommenden EU-Gipfeln ist also eine kluge Moderation gefragt - es geht weniger um große Visionen als um Krisenmanagement. Doch die Kanzlerin ist ab sofort vor allem mit dem Management der eigenen Krise beschäftigt - so die Sorge des Juncker-Teams. Henkel pro Merz Um sie als starke Gipfel-Dramaturgin zu erhalten hatte Haushaltskommissar Oettinger noch kurz vor Merkels Pressekonferenz dafür plädiert die Kanzlerin solle den Parteivorsitz nicht abgeben. "Frau Merkel hat ja auch sicher viele Verdienste", gab ihr europapolitischer Kontrahent und Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel heute in Brüssel zu. Um Merkel im nächsten Atemzug dann die Griechenland-Rettung durch die EU, die Energiewende in Deutschland und die Flüchtlingskrise in Europa vorzuwerfen. "Und auch der Brexit ist meiner Ansicht nach teilweise auf sie zurückzuführen" . EU-Parlamentarier Henkel von der Deutschen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformen nutzt die Kritik an Merkel in Brüssel gleich um für Friedrich Merz als potentielle zukünftigen CDU-Parteichef zu werben. "Ich bin fest davon überzeigt mit einem Friedrich Merz an der Spitze könnte die CDU sich wieder aufrichten und die AfD halbieren." "Die Zeit von Friedrich Merz sei längst abgelaufen meint hingegen der grüne Europaparlamentarier Reinhard Bütikofer. Wenn Friedrich März die Zukunft der CDU sein wolle dann wäre ungefähr so als wolle Rudolf Dreßler die Zukunft der SPD werden. Allerdings sei auch das Ende der Ära Merkel erreicht: Für den Grünen Reinhard Bütikofer steht mit Blick auf die Kanzlerin fest, "dass Ihre Restlaufzeit nur noch von sehr begrenzter Dauer sein wird".
Von Ralph Sina
Der Brexit, Italiens Haushalt, die Europawahl 2019: Kanzlerin Angela Merkel hat auf EU-Ebene noch Mammutaufgaben vor sich. Dass sie als CDU-Chefin aufhört, wird in Brüssel mit diplomatischer Zurückhaltung aufgenommen. Deutsche EU-Abgeordnete sagen hingegen ziemlich deutlich, was sie von Berliner Personalien halten.
"2018-10-30T05:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:17:56.364000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-reaktionen-auf-rueckzug-der-cdu-chefin-bruesseler-100.html
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"Wir sind Kirche" spricht von Führungskrise
Der Sprecher und Kopf der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner (dpa / Tobias Hase) Dirk-Oliver Heckmann: Robert Zollitsch, er war in den vergangenen sechs Jahren das Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland. Es waren keine einfachen Jahre, fiel in seine Amtszeit die Aufdeckung des Missbrauchsskandals ebenso wie die Affäre um den Limburger Bischof Tebartz-van Elst. Die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche zumindest in Ansätzen wieder herzustellen, eine gewaltige Aufgabe für den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, und auch eine Aufgabe für seinen Nachfolger wird das sein, denn Robert Zollitsch scheidet mit 75 Jahren altersbedingt aus. In Münster auf der Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz, suchen die katholischen Würdenträger ab heute einen Nachfolger. Ein Amtswechsel ist ja immer auch Anlass, Bilanz zu ziehen. Wie zufrieden waren Sie denn mit der Arbeit von Robert Zollitsch? Das habe ich Christian Weisner gefragt. Er ist Sprecher der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche". Christian Weisner: Ich glaube, Erzbischof Zollitsch hat in einer sehr, sehr schwierigen Zeit alles versucht, die katholische Kirche in Deutschland zusammenzuhalten. Er hat wichtige Impulse gesetzt gerade mit dem Dialogprozess. Man muss aber genauso auch konstatieren, dass seine Impulse von den anderen Mitbrüdern, den Mitbrüdern im Bischofsamt, lange nicht so aufgenommen worden sind, wie man sich das gewünscht hätte. Wir haben eine viel zu starke Polarisierung, und das ist in den vergangenen Jahren nicht besser geworden. Dazu kommt natürlich der große Druck aus Rom. Heckmann: Der Dialogprozess, das ist der Prozess, der nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals angestoßen worden ist. Weisner: Richtig. Heckmann: Was hat das für Gründe gehabt, dass die Mitbrüder, wie Sie sagen, von Robert Zollitsch diesen Prozess eben nicht so aufgenommen haben? Die Deutsche Bischofskonferenz sucht einen Nachfolger für Robert Zollitsch - dialogbereit muss er sein, meint die Initiative "Wir sind Kirche". (dpa picture alliance / Boris Roessler) Weisner: Ich glaube, unter den Bischöfen hier in Deutschland und leider genauso im Vatikan besteht Uneinigkeit, wie ernst die Krise wirklich ist. Es ist ja nicht nur die Vertuschung sexueller Gewalt, des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, es ist der Rückgang der Kirchensteuerzahlungen, weil so viele Menschen aus der Kirche austreten, das Vertrauen ist lange schon in die katholische Kirche gesunken, in Rom haben wir die Probleme "Vatileaks", Vatikanbank, es ist also wirklich eine Kirchenleitungskrise, in der wir uns befinden, und da sind die Schritte der Bischöfe insgesamt auf das Kirchenvolk, auf die Gläubigen zuzugehen, wieder um Vertrauen zu werben, die sind viel zu gering. Es scheint, immer noch Bischöfe zu geben, die sagen, wir machen einfach weiter, wir selber sind ja nur die Kirche und das Kirchenvolk ist uns relativ egal. Heckmann: Aus der Vertrauenskrise ist eine Kirchenleitungskrise geworden, sagen Sie. Was hätte es denn für Schritte noch bedurft, um dieses Vertrauen wieder herzustellen? Weisner: An einem Beispiel, was uns hier in Deutschland ja schon seit 30 Jahren betrifft, das ist die Frage von geschiedenen Wiederverheirateten. Sind die zum Kommunionsempfang zugelassen oder nicht? Das ist ein Thema, das 1993 von den damaligen Bischöfen in Freiburg, in Mainz und in Rottenburg-Stuttgart, also von dem Kardinal Lehmann jetzt in Mainz, aber auch von Kardinal Kasper damals in Stuttgart, angestoßen worden ist. Wir sind da immer noch nicht weiter. Das heißt, die Menschen warten wirklich auf konkrete Entscheidungen, dass sich etwas in der Pastorale bewirkt, dass nicht immer nur vertröstet wird. Heckmann: Aber es gibt ja Signale gerade bei diesem Thema, dass sich da was bewegen könnte jetzt in Zukunft. Gehen Sie davon aus, dass das kommt? Weisner: Das Thema ist ganz oben auf der Tagesordnung bei diesem Gesprächsprozess, den die deutschen Bischöfe 2010 eingeleitet haben. Das Thema scheint auch bei Papst Franziskus auf der Tagesordnung zu sein. Aber wir haben genauso auch in Rom Kardinal Müller, jetzt den Präfekten der Glaubenskongregation, der sich ganz eindeutig dagegen ausgesprochen hat. Also wir erleben jetzt im Augenblick in der römisch-katholischen Kirche – und das ist vielleicht was positives –, wir erleben eine offene Diskussion, was ist wirklich theologisch richtig, aber was ist auch pastoral erforderlich, und diese Diskussion wird im Augenblick auch in aller Öffentlichkeit geführt. Ich denke nur an die Rede von Kardinal Kasper, die er am 22. Februar vor den Kardinälen in Rom gehalten hat. Die wird jetzt am Montag veröffentlicht, die erscheint hier in Deutschland als Buch. Wir haben diese Diskussion, aber es muss wirklich weitergehen. Wir müssen wirklich langsam mal auch zu Veränderungen kommen, und das heißt nicht, die katholische Lehre abschaffen, eine katholische Moral light, aber das heißt, wirklich die Situation der Menschen, der Familien ernst zu nehmen. Heckmann: Und das betrifft auch die Sexualmoral, also den Umgang mit Homosexualität oder mit der Verhütung? Weisner: Ja natürlich! Das sind ganz wichtige Themen. Man kann nicht einfach sagen, in der katholischen Kirche ist die Sexualität nur innerhalb der Ehe. Das hat gerade der Fragebogen gezeigt, die Ergebnisse des Fragebogens. Das ist natürlich auch sehr bemerkenswert gewesen. Der Vatikan hat in Vorbereitung der Familien-Synode im Oktober 2014 Fragen formuliert. Die waren noch nicht ganz toll formuliert, aber immerhin sind diese Fragen öffentlich geworden und es ist gebeten worden, dass nicht nur die Bischöfe diese Fragen beantworten, sondern eben wirklich das Kirchenvolk, die Gemeinden, die Gruppen, die Initiativen. Und die Ergebnisse, die Ende Januar auch wirklich veröffentlicht worden sind schon in Deutschland und auch in anderen Ländern übrigens, die zeigen, da ist eine große Kluft zwischen der absoluten Moral der römisch-katholischen Kirche und dem, was Katholiken und Katholikinnen in der Ehe, in Familien, aber eben auch Homosexuelle leben. Und diese Kluft müssen wir wieder schließen. Kardinal Meisner wäre "überfordert" Heckmann: Blicken wir mal auf das, was kommen könnte nach Robert Zollitsch. Vor sechs Jahren, als er ja gewählt worden war, da war der eigentliche Favorit der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, der ja inzwischen zum Kardinal erhoben worden ist. Ist jetzt seine Zeit gekommen? Weisner: Das kann ich nicht sagen. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, damals, vor sechs Jahren war er zu jung im Amt. Im Münchner Erzbistum war er gerade erst einige Monate ins Amt gekommen. Da wäre das eine Überforderung für ihn gewesen. Ich glaube, jetzt ist es fast zu spät, denn Kardinal Marx hat ja in Rom und auf der europäischen Ebene viele, viele Aufgaben. Das heißt, er ist in seinem Bistum München und Freising, in dem Bistum, wo ich auch lebe, ist er gar nicht mehr richtig präsent. Das müssen seine Weihbischöfe, das muss der Generalvikar erledigen. Kardinal Marx ist auch Mitglied der K8-Gruppe, der Kardinäle, die den Papst berät. Er ist jetzt neuerdings auch noch Mitglied in dem Kuratorium, was sich um die Finanzen in Rom kümmert. Also ich glaube, er wäre überfordert und er könnte dieses Amt in Deutschland als Vorsitzender gar nicht so ausfüllen, wie es wirklich jetzt im Augenblick notwendig wäre. Wir brauchen jemand, der hier in Deutschland präsent ist, der moderiert, der Initiativen anstößt, der Dialoge ermöglicht und der wirklich alles daran setzt, dass die Bischöfe wieder zu einer Geschlossenheit, ich will nicht sagen, einer Einheitsmeinung kommen, aber dass sie nicht mehr diese Polarisierung haben, dass der eine Bischof Hü und der andere Bischof Hott sagt, denn das ist wirklich ein sehr, sehr schlechtes Ergebnis in der Außenwirkung für die Katholiken und Katholikinnen, aber auch natürlich für die gesamte Öffentlichkeit. Vatikan vor einer "Zerreißprobe" Papst Franziskus spendet den Segen Urbi et Orbi (dpa / Osservatore Romano) Heckmann: Herr Weisner, seit Franziskus Papst ist - seine Wahl zum Papst, die jährt sich am Donnerstag zum ersten Mal -, da scheinen die liberalen Kräfte auch in Deutschland im Aufwind zu sein. Sehen Sie das auch so? Weisner: Ich würde mir wünschen, dass das noch viel deutlicher wirklich spürbar wäre. Dieser Kurs des Franziskus, wirklich dieser Kurs. Es ist ja nicht nur sein persönlicher Kurs, bei allem Charisma, das Bergoglio als Kardinal aus Lateinamerika hier in den Vatikan in Rom in die Kirche bringt, sondern das ist natürlich auch die Linie, die wirklich vom Zweiten Vatikanischen Konzil vor 50 Jahren, von diesem Reformkonzil angestoßen worden ist. Und es ist auch eine Linie, glaube ich, die sehr viel mehr auf der Linie des Evangeliums, der Nachfolge Jesu liegt, wo Jesus sich wirklich im Grunde den Menschen zugewandt hat. Es ist keine Kirche, die nur in aller Feierlichkeit im Petersdom am Hochaltar stattfindet, sondern eine Kirche, die sich den Menschen zuwendet, und ich glaube, das ist im Augenblick sehr, sehr notwendig, Stichwort Barmherzigkeit. Das ist von Bergoglio, von Franziskus sehr ausgeführt worden. Es geht ja nicht jetzt nur um „alles ist egal’“ oder „alles wird geduldet“ oder „immer ein Auge zudrücken“, sondern das ist wirklich eine Zuwendung zu den Menschen, und die ist, glaube ich, in der heutigen Zeit, gerade angesichts der globalen Krisen, der Verarmung ganzer Völker und Nationen, dieser Kurswechsel, wieder die Menschen in den Blick zu nehmen, den einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen, das ist ein wichtiger Kurs und der ist, glaube ich, wichtiger, als dass wir die Dogmen in der katholischen Kirche hochhalten. Heckmann: Wie groß ist denn die tatsächliche Reformbereitschaft des Papstes? Es gibt ja auch Kritiker, die sagen, das Ganze bewegt sich dann doch eher in so einem theoretischen Raum. Weisner: Wenn man die Theologie von Bergoglio sieht, wenn man weiß, was er in Argentinien als Vorsitzender, aber auch der letzten Bischofskonferenz von Lateinamerika, von Aparecida wirklich in Bewegung gesetzt hat - das ist ein Dokument, was 2007 von der Kirche in Lateinamerika erarbeitet worden ist; Aparecida ist das Stichwort -, das ist auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das ist aber die Lehre der katholischen Kirche mit den Augen der Armen, mit den Augen der Lateinamerikaner gesehen, und das bringt er jetzt mit nach Rom. Ich glaube, das ist wirklich ein grundsätzlicher Wandel und man muss sich vorstellen: wir haben 30, 35 Jahre versucht, das Zweite Vatikanische Konzil wieder zu vergessen, in die Schranken zu weisen. Aber dort in Lateinamerika hat sich das Zweite Vatikanische Konzil ganz anders entwickelt. Das ist die Theologie der Befreiung, vielleicht nicht im marxistischen Sinne, aber in einer Theologie des Volkes, wie es Franziskus dort erlebt hat. Und dieses jetzt hier wirklich wieder in den Vatikan hier nach Europa zurückzubringen, das ist natürlich eine Aufgabe, die kann nicht in einem Jahr passieren. Da wird es fünf oder 15 Jahre zu brauchen. Aber der Kurswechsel hat stattgefunden. Was mir bloß große Sorge macht: Es gibt anscheinend im Vatikan auch sehr, sehr harte und beharrende Widerstände. Das fängt an von einem Kardinal Müller, von einem Erzbischof Gänswein bis hin natürlich hier auch in Deutschland zu dem Kardinal Meisner. Das geht zu Tebartz-van Elst. Da scheint eine große Kluft zwischen Bischöfen und dem Papst zu sein, die auf der Linie des Konzils liegen, und anderen, die beharrende Kräfte sind, und das stellt die katholische Kirche im Augenblick vor eine Zerreißprobe. Heckmann: In Münster beginnt heute die Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz und da wird ein Nachfolger für den Vorsitzenden Robert Zollitsch gesucht. Wir haben gesprochen mit Christian Weisner. Er ist Sprecher der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“. Herr Weisner, ich danke Ihnen für das Gespräch! Weisner: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian Weisner im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
In Münster sucht die Deutsche Bischofskonferenz einen Nachfolger für Robert Zollitsch. Der Neue habe die schwierige Aufgabe, Glaubwürdigkeit und Zerrissenheit der katholischen Kirche wiederherzustellen, sagte Christian Weisner von "Wir sind Kirche" im DLF.
"2014-03-10T08:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:00.094000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zollitsch-nachfolge-wir-sind-kirche-spricht-von-100.html
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Wenn die Infektionswarnung auf sich warten lässt
Coronavirus - Vorstellung der Corona-Warn-App (Hannibal Hanschke/Reuters Pool/dpa) Die Corona-Warn-App verzeichnet inzwischen rund 16 Millionen Downloads und kann zur schnelleren Nachverfolgung positiv getesteter Corona-Patienten beitragen. Nicht überall läuft der Betrieb reibungslos, an Updates wird gearbeitet. Auch bei den Warn-Nachrichten im Fall einer Infektion eines Nutzers gibt es noch Verbesserungsbedarf, wie der Dlf-Wissenschaftsjournalist Peter Welchering erklärt. Ralf Krauter: Ist die App das IT-Vorzeigemodell aus deutschen Landen, als das sie jetzt herumgereicht wird, Peter Welchering? Peter Welchering: Die Corona-Warn-App kann einige Erfolge für sich verbuchen. Das ist gar keine Frage. Dass der Chaos Computer Club bei der Vorstellung der App keine Kritik geübt hat(*) – also loben wollen die ja ausdrücklich nicht – ist vom Bundesgesundheitsministerium natürlich ein bisschen propagandistisch ausgeschlachtet worden. Aber dahinter steht natürlich auch ein Prozess, und den muss man kritisch bewerten. Corona-Tracing-App - So funktioniert die deutsche Corona-Warn-AppDie offizielle Corona-Warn-App der Bundesregierung ist auf dem Markt. Sie soll Nutzer frühzeitig über einen Kontakt zu einem Infizierten informieren und helfen, Infektionsketten zurückzuverfolgen. Experten bewerten die App überwiegend positiv – aber es gibt auch Kritikpunkte. Ein Überblick. Ralf Krauter: Inwiefern? Welchering: Der Club hat sich ja sehr stark für die jetzt verwirklichte dezentrale Lösung und für den Open-Source-Prozess eingesetzt. Dass die Community das teilweise gegen die Politik, auf jeden Fall gegen das Ministerium und Teile der Großen Koalition durchgesetzt hat, war ein unglaublicher Erfolg. Und diesen Erfolg wollte man nicht durch Kritik an technischen Details der Corona Warn App gefährden. (*) Die Zahl der Downloads ist größer als erwartet Krauter: Da klingt an, dass es im Detail durchaus noch Kritik gibt. Da kommen wir gleich noch drauf. Sprechen wir aber erstmal über die nackten Zahlen: Die sehen doch gar nicht schlecht aus? Welchering: Ja, die App wurde inzwischen 16 Millionen Mal heruntergeladen. Das ist beachtlich für einen Zeitraum von vier Wochen. Die Zahl der Downloads ist größer als erwartet. Allerdings wissen wir nicht, wieviele Nutzer die App auch tatsächlich auf ihrem Smartphone installiert haben und wieviele Menschen sie jetzt auch aktiv nutzen. Dazu gibt’s keine belastbaren Zahlen. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Krauter: Woran liegt das? Das wäre doch wirklich wichtig zu wissen? Welchering: Die aktiven Nutzer zu erfassen, ist einfach aufwendig. Merlin Chlosta von der Ruhr-Universität hat dazu eine Methode vorgestellt, bei der er die Bluetooth-Aktivitäten der App scannt, mit einem sogenannten Bluetooth-Sniffer. Damit war er im Juni in der Bochumer Innenstadt unterwegs und hat über 1.000 der pseudonymen IDs gescannt, die die Corona-Warn-App aussendet. Um hier valide Zahlen zu bekommen, müsste man das allerdings bundesweit flächendeckend machen. Und der Bluetooth-Schnüffler kann leider auch nicht entscheiden, ob ein Nutzer mehrfach auftaucht bei den ausgesandten IDs. Das müsste man dann noch irgendwie rausrechnen. Also zur wirklichen Nutzung liegen derzeit keine validen Zahlen vor. Krauter: Vermutlich liegt die Zahl aktiver User dann doch deutlich unter den 16 Millionen, die die App runtergeladen haben. Zumal ja sicher auch mancher – obwohl er die App aktiviert hat - Bluetooth abgeschaltet hat. Und dann ist diese Corona Warn-App ja quasi blind, oder? Welchering: Wenn Bluetooth ausgeschaltet ist, läuft die App zwar weiter, aber sie kann keine Kontakt-IDs mehr austauschen. Ja, sie ist dann blind. Infektionsketten schon ab zwölf Millionen Nutzern unterbrechbar Krauter: Was passiert, wenn ich im Urlaub im Ausland bin? Kann ich die App da auch nutzen? Welchering: Nein, denn wir haben noch keinen europäischen Standard für den Austausch der Kontakt-IDs. In Sachen Corona-Warn-App kocht gerade jedes Land sein eigenes Süppchen. Da sind wir nicht kompatibel. Krauter: Wie stehen die Chancen, dass die deutsche Corona-Warn-App künftig europaweit zum Einsatz kommen könnte? Welchering: Schlecht. Denn im Augenblick schafft es die EU ja nicht einmal, sich auf Standards für den Austausch von Kontakt-IDs zu einigen. Corona-Apps scheinen da mitunter mit Fragen des nationalen Selbstwertgefühls verbunden zu sein. Das macht‘s schwierig und hat ja auch dazu geführt, dass die schon sehr früh verfügbare Rot-Kreuz-App eben nicht europaweit eingesetzt wurde. Labors und Gesundheitsämter sind an App-Infrastruktur oft nicht angeschlossen Krauter: Wieviele aktive Nutzer der Corona-Warn-App bräuchten wir in Deutschland, damit sie ihre Frühwarn-Funktion erfüllen kann? Am Anfang war ja mal von 50 Millionen die Rede. Ist das immer noch die Messlatte? Welchering: Diese Zahl geht auf eine Modellrechnung von Forschern der Universität Oxford zurück, wonach rund 60 Prozent der Bevölkerung die App nutzen müssten, damit sie wirklich was bringt. Die Forscher selbst erklärten allerdings, dass diese Simulation gemacht wurde, als man in Großbritannien noch das Ziel der Herdenimmunität verfolgte und deshalb nur minimale Infektionsschutzmaßnahmen vorgesehen hatte. An der Studie mitgearbeitet hat die Immunologin Lucie Abeler-Dörner. Und die hat eben auch noch einmal ausgeführt, dass Infektionsketten schon dann effektiv unterbrochen werden könnten, wenn nur 15 Prozent der Bevölkerung die Warn-App nutzen würden, also zwölf Millionen Deutsche. Von den Downloads her ist diese Zahl schon überschritten. Krauter: Wieviele App-Anwender haben denn über die App bereits eine Infektionswarnung an ihre Kontakte gesandt, nachdem sie positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden? Welchering: Laut Robert Koch-Institut sind von den Labors und Gesundheitsämtern bislang 500 Transaktionsnummern vergeben worden. Diese TAN braucht man ja, damit man – nach einem positiven Coronatest - über den RKI-Server eine Warnmeldung an alle App-Nutzer senden kann, denen man in den vergangenen Tagen nahe gekommen ist. Was das RKI allerdings nicht weiß, ist, ob alle Empfänger solch einer TAN dann auch tatsächlich eine Warnmeldung abgeschickt haben. Die Zahl der verschickten TANs ist also kein verlässliches Maß für den Erfolg der App. Das andere Problem, mit dieser TAN ist: Die Labors und Gesundheitsämter sind an die App-Infrastruktur zum großen Teil nicht angeschlossen. Da werden Testergebnisse noch fröhlich gefaxt und von Hand eingetippt, so dass zwischen einem positiven Laborbefund und einer Warn-Meldung über die App schnell mal Tage vergehen. Um effizient zu sein, müsste das natürlich alles automatisch gehen – aber diese Anschlussarbeiten, die dauern noch. Einige hartnäckige Fehlermeldungen und Absturzursachen Krauter: Die Fehlerbeseitigung dagegen lief ja schneller. Einige Bugs wurden schon ausgemerzt. Ist man damit jetzt durch? Welchering: Nein, einige Fehlermeldungen und Absturzursachen scheinen da sehr hartnäckig zu sein. Abstürze mit der berühmten Fehlermeldung "Ursache9002", die nehmen auf Android-Geräten sogar zu. Bei der Suche nach der Ursache tappen die Entwickler noch im Dunklen. Ebenso bei Kommunikationsfehlern mit der Google-API, also der Programmierschnittstelle für Android-Smartphones. Bei den iPhones sind Fehlermeldungen unausrottbar wie "zu wenig Speicherplatz", und die berühmten Domain-Fehler 5,11 und 13. Da weiß man auch noch nicht so genau, was dahintersteckt. Ignorieren sollten Anwender die Fehlermeldung, dass die App in der Region nicht unterstützt würde. Die App würde trotzdem weiterlaufen, versichern die Entwickler da. Das scheinen überwiegend Fehler der Betriebssysteme zu sein und Fehler der Bluetooth-Schnittstellen bei Apple und Google. Die beiden IT-Unternehmen versichern, sie arbeiten daran. Krauter: Die App läuft ja nur auf neueren Smartphones. Telekom-Chef Timotheus Höttges hat da aber bei der Einführung der Corona-Warn-App bereits Abhilfe versprochen. Ist die schon in Sicht? Welchering: Nein. Das Problem ist die Bluetooth-Schnittstelle, die die App nutzt. Die muss eben entsprechend ins Betriebssystem integriert sein. Deshalb funktioniert die App beim iPhone ab Betriebssystem iOS13.5, bei Android ab Version 6. Smartphones mit älteren Betriebssystemen können die App nicht nutzen – und daran wird sich künftig wohl auch nichts ändern. (*) Hier haben wir eine Präzisierung vorgenommen
Peter Welchering im Gespräch mit Ralf Krauter
Seit einem Monat ist die Corona-Warn-App verfügbar. Bei den Warnmeldungen im Falle einer Infektion gibt es aber noch Probleme, berichtet Peter Welchering. Zwischen einem positiven Laborbefund und einer Warn-Meldung über die App vergingen schnell mal Tage. Denn Testergebnisse würden teils noch gefaxt.
"2020-07-15T16:35:00+02:00"
"2020-07-16T10:08:14.679000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwischenbilanz-der-corona-warn-app-wenn-die-100.html
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Lesung und Gespräch mit dem Preisträger Norbert Scheuer
Der Schriftsteller Norbert Scheuer im Foyer des Frankfurter Schauspielhauses. (dpa/ Frank Rumpenhorst) Gemeinsam mit der Stadt Braunschweig vergibt der Deutschlandfunk seit dem Jahr 2000 einen der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland, den Wilhelm Raabe-Literaturpreis. 1944, noch im Krieg gegründet (und an die gebürtige Braunschweigerin Ricarda Huch verliehen), blickt der Preis also auf eine 75-jährige Geschichte zurück.Er ist mit 30.000 Euro dotiert und wird jährlich rund um den Todestag Wilhelm Raabes (15.11.1910) in der ersten Novemberhälfte in Braunschweig verliehen. Der Preisträger 2019 ist Norbert Scheuer. Die neunköpfige Jury hatte in diesem Jahr folgende Nominiertenliste erstellt: Norbert Gstrein: "Als ich jung war"Judith Kuckart: "Kein Sturm, nur Wetter"Terézia Mora: "Auf dem Seil"Norbert Scheuer: "Winterbienen"Saša Stanišic: "Herkunft"Jackie Thomae: "Brüder"David Wagner: "Der vergessliche Riese" Die feierliche Preisverleihung fand am 3. November 2019 im Braunschweigischen Staatsschauspiel statt, unter anderem mit dem Intendanten des Deutschlandradio, Stefan Raue, und dem Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig, Ulrich Markurth. Die Veranstaltung wird am 30. November 2019 von 20:05 Uhr bis 22:00 Uhr, im Deutschlandfunk übertragen - gefolgt von einem Gespräch mit dem Preisträger und einer Lesung; moderiert von Hubert Winkels, dem Sprecher der Jury.
Norbert Scheuer im Gespräch mit Hubert Winkels
„Winterbienen“ von Norbert Scheuer ist der seltene Fall von einem gegenwärtigen poetischen Realismus im Sinne Wilhelm Raabes. Ein Glücksfall also, dass er den Raabepreis des Dlf erhält.
"2019-11-30T20:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:21:31.908000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wilhelm-raabe-literaturpreis-2019-lesung-und-gespraech-mit-100.html
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"Es geht jetzt darum, die individuelle Schuld der Täter nachzuweisen"
Silvia Engels: Beate Zschäpe steht heute wegen des Verdachts der Mittäterschaft an zehn Morden vor Gericht. Morde, die die rechtsextremistische Zelle NSU in den Jahren 2000 bis 2007 verübt hat und die sich gezielt gegen Zuwanderer richtete. Lange Jahre erkannten die Ermittler den rechtsextremistischen Hintergrund der Taten nicht. In einer beispiellosen Kette von Behördenversagen gerieten stattdessen teilweise Angehörige der Mordopfer unter Verdacht. Umso wichtiger ist es für die Familienangehörigen, dass heute der Prozess gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe und viel mögliche Komplizen tatsächlich beginnt. Am Telefon ist Barbara John, sie ist die Obfrau der Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors. Guten Morgen, Frau John!Barbara John: Guten Morgen, Frau Engels!Engels: Sie haben mit vielen Angehörigen der Opfer gesprochen. Welche Gefühle, welche Erwartungen bewegen sie?John: Ja, natürlich vor allem das Gefühl, warum ist uns das geschehen, warum ist es überhaupt passiert? Warum konnten die Ermittler nicht frühzeitig eingreifen und diese Mordserie beenden? Aber natürlich auch das Gefühl, da muss endlich Recht gesprochen werden, das heißt, das Unrecht muss erkannt und die Schuld muss gesühnt werden. Aber vor allen Dingen, wir haben gestern Abend noch mal zusammengesessen, auch die Frage, warum ist das überhaupt passiert und wie wird es weitergehen in Deutschland? Dieser ganze Vorgang und die Reaktionen darauf haben doch die Hinterbliebenen und Opfer sehr – ja, erstaunt kann man sagen oder waren nicht so, dass sie sehr viel Mitgefühl oder überall Mitgefühl gespürt haben. Und das ist etwas, was sie nach wie vor beunruhigt.Engels: Es wird wahrscheinlich ein sehr langwieriger und komplizierter Prozess werden, der sich auf Indizien stützt. Wie sind die Angehörigen auf einen solchen Verlauf vorbereitet?John: Es ist für sie der erste Strafprozess, und gleich so ein großer und wichtiger ja auch für ganz Deutschland. Die ganzen Prozessrituale sind ihnen mit Sicherheit nicht vertraut. Sie haben ihre Anwälte bei sich, die ihnen das vielleicht erklären können. Es sind auch vier Konsekutivdolmetscher da, denn nicht alle können einem solchen Prozess folgen, besonders nicht die älteren. Also ich bin gespannt, wie das überhaupt sprachlich machbar ist. Aber es wird wichtig sein, unglaublich wichtig sein, dass auch nach den Tagen, am Abend, viel darüber gesprochen wird. Wir sind ja hier mit den meisten Hinterbliebenen und Opfern zusammen in einer Einrichtung, in einem Übernachtungshaus, ein Exerzitienhaus etwas weiter draußen von München und können uns darüber austauschen. Aber das wird auch nötig sein. "Den Nebenklägern muss natürlich klar sein, worum es da geht" Engels: Viele Beobachter gehen ja davon aus, dass die Hauptangeklagte, Beate Zschäpe, größtenteils oder komplett schweigen wird. Welche Rolle spielt das für die Opferangehörigen?John: Ja, darauf sind sie natürlich durch die Presse schon vorbereitet. Das Wünschenswerte wäre, aber das ist auch das ganz und gar Unwahrscheinliche, dass die Mittäterin sagt, wie es dazu gekommen ist, warum die Opfer ausgesucht worden sind, warum überhaupt dieser Tötungshass entstanden ist. Das wird sicher nicht der Fall sein, und all das ist, glaube ich, nicht mehr die große Enttäuschung für die Opfer, denn über Beate Zschäpe haben sie sich ihr Bild gemacht. Es gibt auch Hinterbliebene, die nicht gekommen sind und sagen, ich will diese Frau nicht sehen, ich will ihr nie in meinem Leben begegnen. Auch das ist eine mögliche Reaktion. Aber wichtig ist, dass das, was im Prozess abläuft, dass das erklärt wird. Denn der Prozess ist natürlich die große öffentliche Abrechnung mit diesem Verbrechen, und da muss den unmittelbar Beteiligten, den Nebenklägern natürlich klar sein, worum es da geht. Wir haben gestern Abend schon miteinander gesprochen, und ich habe gesagt, es geht jetzt darum, die individuelle Schuld der Täter nachzuweisen. Das leuchtet allen ein, aber eigentlich wollen sie, warum ist das überhaupt in Deutschland passiert. Das steht für sie noch im Vordergrund.Engels: Das war ja auch gestern zu hören, als mehrere Anwälte von Angehörigen der Opfer ja vor die Kameras traten und gestern gefordert haben, dass auch das Versagen staatlicher Stellen und das Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds in diesem Mordprozess behandelt werden müssten. Kann der Prozess das überhaupt leisten?John: Das kann er mit Sicherheit nicht leisten, sondern er muss die Straftaten, die geschehen sind, in der Vorbereitung, in der Durchführung, die muss er nachweisen, und das ist natürlich etwas ganz anderes. Das andere gehört zur politischen Aufarbeitung. Der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages hat sich darum bemüht, wird in Kürze seinen Abschlussbericht vorlegen. Dann darf es aber nicht zu Ende sein, das Ganze geht ja weiter. Und zwar, das ist es auch, was die Angehörigen umtreibt, wie geht es weiter, wie wird künftig verhindert, dass in dieser Art und Weise wieder junge Deutsche aufwachsen, sich in diesen Hass begeben, um dann Richter zu spielen, wer darf hier leben und wer muss sterben. Das sind ja so ungeheure Vorgänge, wie wir noch gar nicht, glaube ich, begriffen haben, was da eigentlich passiert ist.Engels: Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, ruft heute in der "Mitteldeutschen Zeitung" nach der Höchststrafe für die Angeklagten, also lebenslänglich. Solche Forderungen sind emotional verständlich, aber sind sie mit Blick auf das Gericht hilfreich?John: Ja, ich denke, dass es viele Menschen gibt, die eine solche Forderung erheben würden, ob sie das nun leise oder laut tun – aber das wird ein Gericht mit so viel Erfahrung natürlich nicht beeindrucken. Es muss hier nach Recht und Gesetz gehen. Die Verbrechen sind so unglaublich und ungeheuerlich, dass man sehr leicht auf diese Forderung kommt. Und wir werden sehen, wie das Ganze ausgeht. Über die Hinterbliebenen: "Der Prozess ist heilsam für sie selbst" Engels: Im Zentrum eines Strafprozesses steht zwingend der oder die Angeklagte der oder die Angeklagte, nicht das Opfer. Das heißt, vor dem Gericht werden die Fakten des Hergangs eines Mordes an einzelnen Menschen behandelt, aber nicht der ermordete Mensch selbst gewürdigt. Wir wird das für die Angehörigen auszuhalten sein?John: Ja, das stelle ich mir auch unglaublich schwierig vor, und das ist ein Spannungszustand, den sie erst einmal erleben müssen. Wie gesagt, sie waren noch nicht in einer solchen Situation, und wir müssen viel abends darüber sprechen. Es wird sie auch sehr beschäftigen, dass das so ist. Sie kommen natürlich mit dem Bild ihres Angehörigen hierher, mit ihrem Leid, mit ihren Verwundungen und sehen jetzt, dass sich alles voll auf die Täterin und die Mittäter konzentriert. Das ist schon eine Herausforderung für sie, eine große seelische Anspannung. Wir werden auch sehen, es ist ja der Prozessbeginn, viele haben sich vorgenommen, auch später noch da zu sein, wenn die Tatorte verhandelt werden. Ob sie das machen werden, wird sich in diesen ersten drei Tagen entscheiden.Engels: Wird allein schon deshalb der Prozess zur Enttäuschung für die Angehörigen werden?John: Das kann ich nicht sagen. Wir haben den Prozess noch nicht begonnen. Aber der Prozess wird ein Auftakt sein, wie neu über das Leben in Deutschland, wie hier Recht gesprochen wird, dass sie darüber nachdenken. Und wir haben gestern Abend auch darüber gesprochen, dass einige der Hinterbliebenen, besonders die zweite Generation, die Geschwister auch des einen Ermordeten, unbedingt etwas machen wollen, damit sich in Deutschland etwas ändert. Also diese Aktivität – ich finde es trotzdem unglaublich wichtig, dass die Hinterbliebenen und Opfer an diesem Prozess teilnehmen. Das ist heilsam für sie selbst. Denn jetzt sprechen sie Recht, jetzt sitzen sie zu Gericht über die Täter. Das ist etwas, was ihnen helfen kann, auch damit fertig zu werden und wieder Aktivität zurückgewinnen, die sie ja brauchen für das Leben in unserer Gesellschaft.Engels: Barbara John, Obfrau der Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors. Vielen Dank für das Gespräch!John: Ich danke Ihnen!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Barabara John im Gespräch mit Silvia Engels
Für die Opfer der NSU-Morde steht eine wichtige Frage im Vordergrund: Warum haben diese Verbrechen ausgerechnet in Deutschland stattgefunden? Die Ombudsfrau Barbara John stellt klar, dass das Gericht diese Frage nicht beantworten kann. Die politische Aufarbeitung stehe noch bevor.
"2013-05-06T08:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:17:04.454000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/es-geht-jetzt-darum-die-individuelle-schuld-der-taeter-100.html
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"Ohne die SPD läuft in Deutschland nichts"
Der SPD-Vizevorsitzende Ralf Stegner. (pa/dpa/Rehder) Zur Kritik der CSU am Kooperationsmodell sagte Stegner: Wer glaube, dass auf die SPD Druck ausgeübt werden könne, der irre sich. "Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Wählern und sollten Drohkulissen lassen." Es sollte möglich sein, vernünftig über das Modell Kooperationskoalition - kurz KoKo - zu sprechen. Seine Partei gehe jedoch nicht mit einem festen Modell in die Gespräche mit der Union. "Wir müssen zeigen, dass wir verstanden haben, was die Wähler gestört hat an der Großen Koalition", sagte Stegner. Er sehe bisher nicht, dass die Union das verstanden habe. Seehofer zu KoKo: Vorschlag aus der "Krabbelgruppe" Das Modell einer sogenannten Kooperationskoalition war von der SPD-Linken ins Spiel gebracht worden. Dabei sollen nicht mehr alle, sondern nur noch einige Themen fest vereinbart werden. Andere Vorhaben würden dann ohne Koalitionszwang im Bundestag beraten. In der Union stößt das aber auf Skepsis. Ablehnend äußerten sich unter anderem die stellvertretende CDU-Vorsitzende Klöckner und CSU-Chef Seehofer. Seehofer sagte, er halte "gar nichts" von der Idee. Er sprach von einem Vorschlag aus der, so Seehofer wörtlich, "Krabbelgruppe". Das Interview in voller Länge: Silvia Engels: In Berlin kommen am Abend Menschen zusammen, die sich nach der Bundestagswahl eigentlich vorgenommen hatten, sich nicht mehr so häufig zu treffen. Die Rede ist von den Partei- und Fraktionschefs von Union und SPD. Doch dann erlebte die Union das Scheitern der Sondierungen zu einer Jamaika-Koalition und dann reifte die Einsicht in der SPD, sich einer Regierungsarbeit vielleicht doch nicht komplett verweigern zu können. Und deshalb sitzen sie nun, zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl, dann doch wieder an einem Tisch. Und die SPD bringt auch noch neue Regierungsmodelle mit. Michael Kretschmer, der designierte Ministerpräsident von Sachsen von der CDU, hat gestern hier im Deutschlandfunk ebenfalls von der SPD statt Kooperations-Koalition ein klares Entgegenkommen in Richtung Großer Koalition verlangt. Er sagte: O-Ton Michael Kretschmer: "Diese Art, Politik zu machen, von Martin Schulz mag im Europäischen Parlament gut angekommen sein. Ich glaube, auch dort war sie nicht nur segensreich. Aber in Deutschland ist sie wirklich gefährlich. Er sollte endlich damit aufhören und die Vernünftigen in der SPD sollten sich durchsetzen. Dieses Land braucht eine Koalition. Das ist doch das, weswegen wir gewählt werden, weswegen es Wahlen gibt. Das ist doch das, auch wenn man sich mal anschaut, wie die Weimarer Republik am Ende zugrunde gegangen ist: aus Egoismen und aus Eitelkeiten und aus nur noch parteipolitischen Interessen, die im Mittelpunkt gestanden haben." Engels: Michael Kretschmer (CDU). Mitgehört am Telefon hat Ralf Stegner, stellvertretender SPD-Parteivorsitzender. Guten Morgen, Herr Stegner. Ralf Stegner: Schönen guten Morgen, Frau Engels. "In der Situation, in der wir jetzt sind, sind wir nicht durch die SPD" Engels: Freuen Sie sich angesichts dieser Töne schon wieder darauf, mehr mit der CDU zu tun zu haben? Stegner: Nein, das ist ja auch albern. Ich sage mal: Jemand, der wie die Sachsen-CDU hinter der AfD landet, der sollte jetzt nicht anderen Ratschläge geben. Und die brauchen wir auch wirklich nicht, denn in der Situation, in der wir jetzt sind, sind wir ja nicht durch die SPD. Am Wahlergebnis hat sich ja leider nichts geändert. Das war schlecht. Sondern wir sind in der Situation deswegen, weil die Union, FDP und Grüne ihre schwarze Ampel-Verhandlungen krachend gegen die Wand gefahren haben. Das heißt, die Überschrift lautet doch, ohne die SPD läuft in Deutschland nichts, und da brauchen wir keine öffentlichen Ratschläge, wie das geht, sondern da müssen wir ergebnisoffen - das hat unser Parteitag beschlossen - darüber reden, ob und wie wir zu einer stabilen Regierung in Deutschland kommen. Dazu hat uns auch der Bundespräsident aufgefordert. Und nichts anderes tun wir. Und das Argument, kennen wir nicht, machen wir nicht, das, finde ich, ist vielleicht nicht angemessen als Reaktion auf die Wähler, die immerhin gesagt haben, minus 14 Prozent für die Partner der Großen Koalition. Das ist nun wirklich kein Auftrag für ein "weiter so!" und das wird es mit der SPD auch nicht geben, ein "weiter so!". Engels: Bevor wir aufs Inhaltliche gehen, schauen wir aufs Atmosphärische. Es ist ja erstaunlich: Herrn Kretschmer haben wir gerade gehört. Herr Seehofer spricht von Vorschlägen aus der Krabbelgruppe. Und ähnliche Aufforderungen sind drastisch auch aus der CDU/CSU zu hören. Was bedeutet es eigentlich für das Gespräch heute Abend, wenn die Atmosphäre im Vorfeld schon wieder mit solchen Begriffen aufgeladen wird? Stegner: Ich muss Ihnen ehrlich sagen, wir nehmen das gar nicht ernst. Wir machen ja Politik nicht für uns selbst, sondern für die Bürgerinnen und Bürger. Und es soll doch eher ablenken davon, dass die Union in eine Lage geraten ist, wo sie doch gar nichts anderes mehr kann. Sie hat das wirklich nicht geschafft. Diese große Zukunftskoalition, von der die Rede war, die ist gescheitert, und jetzt kommt man zur SPD. Und ich kann nur sagen: Wer ernsthaft glaubt, dass Druck ausgeübt werden kann auf die Sozialdemokraten, aus der Öffentlichkeit, aus der Wirtschaft oder aus anderen Parteien, der täuscht sich. Wir gehen da selbstbewusst rein. Wir haben eine Verantwortung auch gegenüber den 9,5 Millionen Wählern, die uns gewählt haben - leider zu wenig, aber immerhin die waren das. Und wir gehen in die Gespräche selbstbewusst. Wir müssen gar nichts, aber wir wollen einen Beitrag dazu leisten, wie immer übrigens in der Geschichte der SPD, dass am Ende was Vernünftiges rauskommt. Und da kann man diese Drohkulissen lassen. Alle kennen die Parteiprogramme. Wir müssen reden darüber, was wir inhaltlich wollen und ob wir zusammenkommen. Und wenn wir dann sagen, lasst uns mal gucken, ob man in so einer Lage das Parlament nicht stärken könnte, dann finde ich dieses mit den Etiketten, die da verteilt werden, nicht besonders sinnvoll. Im Übrigen zeigt das ja mehr die Schwäche derjenigen, die so was sagen, als dass das eine starke Verhandlungsposition wäre. "Auf dem Wahlzettel stehen nicht Koalitionen, sondern Parteien" Engels: Höre ich da heraus, dass Sie sich dieses Modell Kooperations-Koalition vorstellen könnten, also nur bestimmte Kernprojekte in einem Koalitionsvertrag festzuschreiben und den Rest dann mit wechselnden Mehrheiten zu organisieren? Stegner: Jedenfalls muss man darüber doch mal vernünftig reden, ob das ein Modell sein kann. Was ist das für eine Haltung in einer Demokratie zu sagen, uns interessiert gar nicht, was die Wählerinnen und Wähler gesagt haben. Die haben gesagt, sie wollen kein "weiter so!". Die haben leider die Rechten gestärkt im Parlament. Das kann man doch nicht ignorieren. Und da reden wir momentan darüber, was gibt es da an Möglichkeiten, um es anders zu machen als das, was die Wählerinnen und Wähler offenkundig nicht wollten. Herr Kretschmer hat übrigens noch in einem Unrecht. Auf dem Wahlzettel stehen eben nicht Koalitionen, sondern Parteien. Die Bürgerinnen und Bürger wählen Parteien und Inhalte und wir müssen sehen, wie demokratische Parteien zusammenkommen können. Und ob es am Ende eine Kooperation ist oder ob es eine Koalition werden kann oder muss, das werden wir sehen am Ende der Gespräche, aber am Ende der Gespräche. Bei uns entscheiden das übrigens die Mitglieder. Das kommt noch hinzu. Nicht die Parteiführung, sondern die Mitglieder entscheiden das, und das ist auch gut so. Das zeigt, dass wir eine moderne demokratische Partei sind und unsere Mitglieder mitnehmen. Das ist auch notwendig, wenn man in so schwierigen Zeiten zu einer Regierungsbildung kommen will. Engels: Aber dann schauen wir doch mal konkret auf dieses Modell Kooperations-Koalition. Was hätte denn die SPD davon, fest zuzusagen, gewisse Themen der Union zu unterstützen, denn vom Wähler wird es ja wahrscheinlich wieder am Ende nur der Union gutgeschrieben werden? Stegner: Das weiß ich eben nicht. Die Wählerinnen und Wähler haben das letzte Mal gesagt, ihr habt zwar gute Arbeit gemacht - das haben wir übrigens auch in der Koalition -, aber ihr habt euch nicht genug unterschieden. Und was war das für ein Gewürge, bis am Ende zum Beispiel die Ehe für alle durchgesetzt worden ist? Da hat Frau Merkel taktiert und das hat man dann irgendwie hinbekommen. Aber man hatte im Koalitionsvertrag wirklich bis ins kleinste Detail alles Mögliche festgelegt. Das war offenbar nicht das Richtige und deswegen müssen wir darüber reden. Engels: In der letzten Legislaturperiode hätten Sie auch für die Ehe für alle eine Mehrheit gehabt, die Sie dann ja am Ende auch genutzt haben. In der jetzigen haben Sie das nicht. Das heißt, bei wechselnden Mehrheiten kann die SPD nicht auf Rot-Rot-Grün setzen. Stegner: Deswegen ist es ja auch nicht so einfach und deswegen gehen wir auch nicht mit einem festen Modell in die Gespräche, sondern sagen, wir machen das ergebnisoffen. Wir reden über die Inhalte, Maßstab unser Wahlprogramm, und wir reden über Formen der Kooperation oder Koalition, und ich kann dem ja gar nicht vorgreifen. Ich weiß gar nicht, was am Ende dabei herauskommt. Wir sollten uns dafür auch die Zeit nehmen. Wir haben ja übrigens auch eine stabile geschäftsführende Regierung. Wenn ich mal von diesem Glyphosat-Unfug absehe, den die CSU da veranstaltet hat, dann funktioniert die ja im Prinzip auch. Das heißt, man kann und muss sich jetzt die Zeit nehmen, miteinander auszuloten, was da geht, und da helfen im Übrigen öffentliche Beschimpfungen, glaube ich, wenig. Und das Wort ergebnisoffen meinen wir wirklich ernst. Ich habe das ja als Karikatur gelesen in den letzten Tagen und ich glaube, dass das gar nicht so schlecht ist, mal darüber nachzudenken, ob man noch was anderes machen kann, damit vielleicht auch die Wählerinnen und Wähler zufriedener sind, als sie es offenkundig waren nach der letzten Wahl. "Macron geht voran mit Frankreich. Deutschland sitzt da und guckt zu" Engels: Über dieses Modell wollen Sie reden. Aber was halten Sie von dem Modell, dann lieber sauber eine Minderheitsregierung nur zu tolerieren, um die SPD dann wirklich sauber herauszuhalten? Stegner: Das ist eine andere Variante, über die man reden kann. Da muss man gucken, ob man am Ende wirklich was davon hat. Das heißt, ob dabei was rauskommt, was dem Land auch wirklich nützt und was uns weiterbringt. Wir reden ja nicht über Kleinigkeiten, Frau Engels. Wir reden darüber, dass wir eine ganz andere Europapolitik brauchen. Macron geht voran mit Frankreich. Deutschland sitzt da und guckt zu. Wie kommen wir raus aus der Austeritätspolitik, dass wir eine gemeinsame wachstumsorientierte Politik für Europa kriegen? Das ist eine wesentliche Frage. Oder wie schaffen wir es, dass man nach einem langen Arbeitsleben eine ordentliche Rente sicher hat, oder dass wir in der digitalen Gesellschaft gute stabile Arbeitsverhältnisse haben, die nicht prekär sind, oder wie kommen wir zu Milliarden-Investitionen in der Bildung, oder wie geht es mit Gesundheit und Pflege weiter. Das sind alles wichtige Themen und da muss man schon ernsthaft reden. Engels: Aber wie passt es da zusammen, dass Sie sagen, in der Europapolitik passiert im Moment zu wenig, auf Macron wird nicht reagiert? Auf der anderen Seite sagen Sie, die SPD nimmt sich Zeit. Ist nicht gerade mit Blick auf Europa und andere, auch internationale Themen hier wirklich Zeitdruck angesagt, dass man sich nicht bis weit ins nächste Frühjahr von der SPD her Zeit nehmen kann? Stegner: Mit Zeit nehmen meinte ich nur, man kann jetzt nicht in der Hektik der Tagesaktualität mit Politik unterm Weihnachtsbaum, was die Wählerinnen und Wähler übrigens auch nicht gut finden, das eben mal schnell regeln. Wir haben ja eine stabile Regierung. Aber wir haben ja nicht vor, das bis zum Sommer auszudehnen. Aber ernsthaft die Fragen auszuloten, und ich sage noch mal, auch zu zeigen, dass wir was verstanden haben, was die Wählerinnen und Wähler uns gesagt haben. Einfach weiter so zu machen, dafür gibt es kein Mandat bei niemandem. Das würde nicht nur keine Zustimmung in der SPD finden, sondern das ist nicht die richtige Reaktion. Schauen Sie doch mal das Argument zum Beispiel, dass wir bei einer Großen Koalition den Oppositionsführer Gauland hätten von den Rechtspopulisten. Das ist ja nicht weg. Und dass die Bürgerinnen und Bürger sich abgewandt haben, auch nicht. Wir nehmen das wirklich ernster. Ich habe den Eindruck, CDU und CSU haben noch gar nicht begriffen, was da passiert ist. Dieses wochenlange Winken von Balkons mit ihren komischen Jamaika-Verhandlungen hat offenbar den Blick ein bisschen dafür getrübt, dass die Lage ja schon so ist, dass wir da ernsthaft was ändern müssen, und das will die SPD. Uns geht es um die Inhalte. Wir wollen nicht regieren um jeden Preis. Das unterscheidet uns übrigens auch von anderen. Aber wir wollen auch nicht nicht regieren um jeden Preis, wie Martin Schulz gesagt hat. Also wir gehen da selbstbewusst heran, aber eben auch ergebnisoffen und mit Seriosität in die Gespräche. Engels: Und wieviel Zeit brauchen Sie, um dann die mehrheitlich ablehnende SPD-Basis zu überzeugen? Stegner: Na ja. Ich glaube, dass die Basis der SPD auch weiß, dass das Land stabil regiert werden muss. Aber sie will eben nicht regieren um jeden Preis. Sie will, dass wir für unsere Inhalte kämpfen, dass am Ende etwas herauskommt, was man auch insgesamt vertreten kann. Es liegt, glaube ich, weniger an der SPD-Basis als an der Einsichtsfähigkeit der Union. Wie es mit der aussieht, weiß ich nicht so genau. Die CSU ist sich nicht besonders einig, immer noch nicht. Seehofer sagt, er will den Söder gar nicht dabei haben bei Verhandlungen. Und ob Frau Merkel verstanden hat, was das bedeutet, dass ihre Sondierungsgespräche mit der schwarzen Ampel gescheitert sind, weiß ich auch nicht. Wie stark der Partner ist, mit dem man da verhandelt, das werden wir sehen. Die SPD ist jedenfalls bereit dazu, offen, konstruktiv, aber auch klar, dass es kein "weiter so!" geben kann, in die Gespräche zu gehen. Engels: Ralf Stegner, SPD-Parteivize, heute Früh im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch. Stegner: Sehr gerne! Tschüss, Frau Engels. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralf Stegner im Gespräch mit Silvia Engels
SPD-Vizechef Ralf Stegner hat den Vorschlag, eine sogenannte Kooperationskoalition mit der Union zu bilden, verteidigt. Nachdem Union, Grüne und FDP die Jamaika-Sondierungen "krachend gegen die Wand gefahren" hätten, müsse man andere Koalitionsmodelle in Betracht ziehen, sagte er im Dlf.
"2017-12-13T07:15:00+01:00"
"2020-01-28T11:04:46.031000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regierungsbildung-ohne-die-spd-laeuft-in-deutschland-nichts-100.html
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Manuskript: Am Puls der Arktis
Die Framstraße, der Seeweg zwischen Spitzbergen und Grönland, weit jenseits des Polarkreises. Jetzt, im Sommer, geht hier die Sonne überhaupt nicht mehr unter. Und Land ist keines in Sicht, nur Wasser und Eis. Die Polarstern, Deutschlands größtes Forschungsschiff, bricht sich ihren Weg durch das Packeis. Ihre Mission: Messgeräte austauschen, die tief auf dem Meeresgrund verankert sind. "In der Polarregion zu forschen, ist ziemlich schwierig. Das Problem ist natürlich das Eis. Messgeräte an der Oberfläche würde das Treibeis einfach mitnehmen. Wir können deshalb keine Boje hier haben, die Daten nach Hause schickt. Also müssen wir jedes Jahr herkommen und unsere Instrumente austauschen."Die Meeresforscherin Agnieszka Beszczynska vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven leitet die Expedition. Einen Monat lang sind die Wissenschaftler auf dem Eisbrecher unterwegs. In der Tiefe des Meeres suchen sie nach Antworten auf ihre Fragen. Beszczynska:"Wieviel Wasser strömt in die Arktis, wieviel hinaus? Und wie warm ist das Wasser?"Und, vor allem: Wie wirkt sich der Klimawandel aus? Um das genau zu beobachten, haben die Forscher eine ganze Kette von Messgeräten im Meer versenkt, einmal quer über die Framstraße. Hier, auf 78°50' Nord, fühlen sie der Arktis den Puls."Der Ozean hat eine wesentliche Rolle im Klimasystem einfach durch die Tatsache, dass er sehr viel Wärme speichern kann."Uwe Mikolajewicz sitzt in seinem Büro im Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Wie die Meere unser Klima beeinflussen, das ist sein Thema:"Als einfaches Beispiel sieht man es daran, dass das Klima am Meer deutlich weniger Variabilität zeigt als im Inneren. Wenn Sie den Jahresgang vergleichen von Gebieten wie Deutschland und Moskau, die fast auf derselben Breite liegen, aber doch wesentlich kältere Winter in Moskau haben."Der Ozean bedeckt zwei Drittel der Erdoberfläche: eine gigantische Wassermasse, ein ganzer Kosmos aus Strömungen, Wirbeln, Mäandern. Und ein entscheidender Mitspieler im Klimageschehen. Mikolajewicz:"Der Ozean hat eine durchschnittliche Tiefe von 4000 Metern, die natürlich viel mehr Wärme speichern kann und demzufolge dem gesamten Klimasystem eine gewisse Trägheit verleiht. Das heißt, das System kriegt ein Gedächtnis."Der Puls der Weltmeere geht langsam. Und er hallt lange nach. Kleine Veränderungen summieren sich und können noch in Jahrzehnten Folgen haben – nicht nur für die Ozeane, sondern für das Weltklima insgesamt. Lange haben Klimaforscher die Bedeutung der Meere für das Klima unterschätzt. Mikolajewicz:"Zum einen weil die Klimaforschung damals hauptsächlich von Meteorologen betrieben worden ist, die den Ozean vielleicht nicht so wichtig genommen haben. Zum anderen ist es wesentlich komplizierter durch den Ozean, weil der Ozean ein langes Memory hat, langes Gedächtnis. Die ganzen Simulationen verkomplizieren sich deutlich, wenn man da einen dynamischen Ozean drin hat."Interessant sind für die Klimaforscher vor allem die Polargebiete, sie reagieren besonders schnell auf Veränderungen. In der Arktis sind die Temperaturen in den vergangenen 50 Jahren doppelt so stark gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt: Sie ist deshalb ein wichtiges Frühwarnsystem für den Klimawandel. In diesem Jahr steht die Region unter besonderer Beobachtung: Auf der Weltklimakonferenz in Doha muss endlich eine Nachfolgeregelung für das Kyoto-Protokoll gefunden werden, es läuft Ende des Jahres aus. Um so wichtiger ist es, die Folgen des Klimawandels in der empfindlichen Polarregion genau zu beobachten."Dann CTD zur Oberfläche, bitte.""CTD ist an der Oberfläche.""Gut, dann gehen wir jetzt auf Tiefe. Fieren mit 0,5, bitte.""Wir gehen auf Tiefe. Fieren mit 0,5."4:15 Uhr in der Früh, Levke Caesar hat gerade ihren Dienst angetreten. Die Studentin arbeitet als Hilfskraft auf der Polarstern. Ihre Aufgabe: Sie überwacht die Messungen mit dem CTD-Gerät. Diese Sonde wird an einem Seil in die Tiefe des Meeres heruntergelassen, sie misst Temperatur und Salzgehalt – wertvolle Informationen über die aktuelle Situation in der Framstraße. Caesar schaut auf ihren Monitor, dort erscheinen die Messwerte als farbige Linien. "Gut, dann hieven wir auf 2480 Meter.""Stopp."Die Sonde wird wieder heraufgeholt."Hieven auf 2000 Meter.""Auf 1700 Meter, auf 1500, auf 1200, auf 1000 …"Auf dem Weg nach oben lässt Levke Caesar die Sonde immer wieder anhalten, um Wasserproben zu nehmen. Rund um die Messgeräte sind Flaschen montiert, die die Studentin per Mausklick schließen kann. So sammeln sie jeweils Wasser aus einer ganz bestimmten Tiefe ein."Auf 11." "Auf 5 Meter.""Und CTD an Deck."An Deck werden die Proben schon erwartet. Vier Biologen und zwei Chemiker stürzen sich auf die Sonde, um Wasser für ihre Experimente abzuzapfen."Wir messen Spurengase im Wasser, wie zum Beispiel das Schwefelhexafluorid, SF6, oder das Dichlorodifluoromethan, oder kurz F12."Tim Stöven ist Chemiker am Geomar in Kiel. In seinem Labor auf der Polarstern hat er eine komplizierte Apparatur aus Drähten, Schläuchen und Schaltern aufgebaut. Das Herz ist ein grauer Kasten, der Gas-Chromatograph. Das Gerät trennt die einzelnen Gase, die im Meerwasser stecken. Stöven füllt die erste Probe ein. Am Computer kann er die Analyse direkt verfolgen, erst einmal ist nur die Basislinie zu sehen."So, jetzt bei ein fünf kommt … genau … jetzt kommt der SF6er, das ist das erste Molekül, was wir detektieren wollen."Die Linie auf dem Monitor schlägt kurz aus, dann kehrt sie zur Basis zurück."So, jetzt kommt der 12er, das ist der größte Peak im Chromatogramm."Ganze 354 Proben jagt Stöven auf dieser Expedition durch seine Apparatur. Seine Ergebnisse sollen dazu beitragen, eine heiß diskutierte Frage zu klären."Im ersten Schritt fangen wir an, die Konzentration zu bestimmen: Wie ist die gesamte Struktur der Tracer aufgebaut? Im zweiten Schritt fang ich dann an, das Alter zu modellieren. Über das mittlere Alter kann man indirekt bestimmen, wie viel vom Menschen geschaffenen CO2 im Wasser gespeichert wurde."Wie viel Kohlendioxid können die Ozeane aufnehmen? Davon wird abhängen, wie drastisch sich das Klima auf der Erde ändert. Heute schlucken die Meere ein Viertel des vom Menschen in die Luft geblasenen CO2. Doch mit dem Tempo, mit dem wir den Ausstoß des Treibhausgases erhöhen, können sie nicht mithalten. Wann werden sie kapitulieren? Das ist einer der tipping points – der heiklen Punkte, an denen das Klimasystem schlagartig kippen könnte.Fahrtleiterin Agnieszka Beszczynska kommt gerade von der ersten Einsatzbesprechung im Kinosaal der Polarstern. Sie hockt sich auf das Sofa in ihrem Büro. Die quirlige Forscherin kann kaum still sitzen, ihre Kollegen ziehen sie gern mit ihrer Ungeduld auf."Die wichtigste Veränderung, die wir beobachtet haben, ist, dass das Wasser aus dem Atlantik, das in die Arktis strömt, viel wärmer geworden ist – ein Grad über 15 Jahre. Das erscheint erst mal vielleicht nicht so viel, aber wenn man überlegt, wie viel Wärme das Wasser transportiert, ist das eine riesige Menge."Und diese Wärmemenge könnte auch Einfluss auf die Eisbedeckung haben: In diesem Sommer ist das Eis in der Arktis so stark geschmolzen wie noch nie. Womöglich wird der bisherige Negativrekord gar um satte 20 Prozent unterschritten. Doch ganz so klar, wie es auf den ersten Blick scheint, ist der Zusammenhang nicht:"Das warme Wasser, das hier hereinströmt, ist von der Oberfläche getrennt. Es liegt unter einer Schicht, die wir kalte Halokline nennen. Und deshalb kann die Wärme aus dem Atlantikwasser nicht an die Oberfläche gelangen und nicht direkt zum Schmelzen des Meereises beitragen. Aber möglicherweise gibt es einige Stellen, wo das warme Wasser von einem speziellen Mechanismus nach oben transportiert wird."Das Klimasystem ist komplex, und es ist verflochten. Der Wandel in der Arktis wirkt sich auch auf unsere Breiten aus: Weniger Meereis im hohen Norden erhöht die Wahrscheinlichkeit für kalte Winter in Mitteleuropa – weil sich die Luftdruckgebiete verändern und arktische Luft nach Süden schleusen. Ein paradoxes Phänomen: frostige Kälte als Folge der Erderwärmung. Beszczynska warnt deshalb vor klimatologischen Kurzschlüssen:"Das ärgert mich wirklich, wenn Leute sich nur die Fakten oder Beobachtungen herauspicken, die in ihre Theorie passen – einfach aus politischen Gründen – und wenn sie nicht tiefer in das Thema einsteigen und das ganze Bild sehen wollen."Das ganze Bild – oder zumindest ein möglichst genaues – will Beszczynska mit Hilfe der Messkette in der Framstraße zeichnen: Während die CTD-Sonde nur im Sommer ein paar Schnappschüsse machen kann, sammeln 16 fest verankerte Geräte das ganze Jahr über Daten. Seit 15 Jahren vermessen sie die Strömungen in der Framstraße, auf einer Breite von 300 Kilometern. Mit gut fundierten Erkenntnissen könnten Forscher auch Einfluss auf die Klimapolitik nehmen, meint Beszczynska:"Wir können die Politik nicht direkt beeinflussen. Aber wir können versuchen, unsere Ergebnisse klar und schnell zugänglich zu machen, und sie überzeugend zu machen. Wir wissen, was wir sehen. Und natürlich machen wir uns Sorgen über mögliche Folgen.""Jetzt fahren wir aber erstmal auf’n Punkt.""So, jetzt ist es da drüben. Da drüben müssen wir hin.""Ja, ich zieh schon rum."Auf der Brücke der Polarstern. Seit zwei Wochen sind die Wissenschaftler jetzt unterwegs, schon neun Verankerungen haben sie ausgetauscht, jedes Mal ohne Probleme. Aber je weiter sie nach Westen, Richtung Grönland, vordringen, desto dichter wird das Packeis – und desto schwieriger ist es, die Instrumente zu bergen. Jetzt warten die Forscher darauf, dass Kapitän Stefan Schwarze das Schiff an die nächste Position steuert: 78°50' Nord, 0°49' West. "Wir fahren noch ein kleines Stück.""Steuerbord 10.""Steuerbord 10.""Mittschiffs. Ruder auf mittschiffs.""Ruder auf mittschiffs."Die Polarstern ist auf Position, hier müssen die Messgeräte sein. Sie sind in verschiedenen Tiefen an einem Seil befestigt, das mit einem Gewicht auf dem Meeresboden verankert ist, 2600 Meter tief. Die Forscher schicken ein Signal in die Tiefe, ein Haken springt auf, das Seil treibt mit den Geräten an die Oberfläche. Plötzlich tauchen in dem Gewirr aus Wasser und Eis leuchtend orangefarbene Kugeln auf – die Auftriebskörper. Kapitän Schwarze steuert den Eisbrecher heran. Kein einfaches Manöver."Wo kommt die denn jetzt her?""Das kleine Scheißding hier vorne, das hat sich da reingemogelt."Im letzten Moment hat sich eine Eisscholle zwischen Schiff und Auftriebskörper geschoben. Jetzt heißt es warten und hoffen. Eine halbe Stunde später erst ist die Scholle weitergetrieben, Glück gehabt. Der Bootsmann schleudert einen Wurfhaken auf das Knäuel aus Seil und Auftriebskörpern. Treffer. "So, angebissen hat er schon."Die Winde wickelt das Seil Meter um Meter auf, der Kran hievt die ersten Geräte an Deck. Doch der Rest steckt unter dem Eis fest. Ein Trick muss her: Matthias Monsees lässt ein Gewicht am Seil herunter, damit die Instrumente nach unten treiben und sich lösen. Doch die Verankerung bleibt verkeilt. Zeit für Trick Nummer 2. "Weil unser Versuch, mit dem Gewicht das Verankerungsseil zu bergen, nicht funktioniert, drehen wir das Schiff jetzt längs zur Verankerungsleine und stechen mit dem Bug ins Eis und versuchen so, den Auftriebskörper freizukriegen. Dafür haben wir den Eisbrecher mit."Aber das Manöver ist heikel."Der Supergau wäre jetzt natürlich, wenn diese schwarze Leine dann auch noch in die Schraube kommt."Dann kann das Seil reißen, die teuren Geräte wären verloren – und vor allem die kostbaren Daten.Insgesamt 100 Menschen leben in diesen vier Wochen auf der Polarstern, etwa die Hälfte gehört zur Besatzung: neben Kapitän, Offizieren, Ingenieuren und Matrosen natürlich auch ein Koch und Stewardessen. Und auch ein Arzt ist dabei, für den Notfall. Auf dieser Fahrt hat er nicht viel zu tun: ein paar neue Zahnfüllungen, das war es. Die meisten der 45 Wissenschaftler dagegen sind in Schichten rund um die Uhr im Einsatz, besonders die Biologen. Sie suchen Antworten auf eine drängende Frage: Wie wirkt sich die Erwärmung des Wassers auf das Leben in der Framstraße aus? Agnieszka Beszczynska:"Alles hängt zusammen, die physikalische Umwelt hat einen enormen Einfluss auf das Leben hier. Es kommen mehr Arten hierher, die im warmen Atlantikwasser leben und nicht so typisch für die Polarregion sind."Meist müssen die Biologen nachts arbeiten, wenn keine Messgeräte geborgen oder neu ausgelegt werden. Dann haben sie das Arbeitsdeck für sich. Gerade nimmt Barbara Niehoff ein wassertriefendes Netz entgegen."Im Moment sieht man noch nicht so viel, weil die Tiere, die wir untersuchen wollen, sind sehr klein. Es sind kleine so genannte Zooplankta, die ihr ganzes Leben in der Wassersäule driften."In ihrem klimatisierten Laborcontainer im Laderaum betrachtet Niehoff ihren Fang durch das Mikroskop."So, hier haben wir auch wieder Ruderfußkrebse oder Copepoden. Und zwar sind das Krebse, die aus den unterschiedlichen Tiefen gefangen wurden."Die winzigen Tiere überwintern in der Tiefe des Meeres. Im Frühjahr wachen sie wieder auf und kommen an die Oberfläche. Niehoff will wissen, was sie dazu bringt."Wenn man davon ausgeht, dass das auch externe Faktoren sein können, das heißt also Temperatur oder Licht oder Futter, dann werden sich die natürlich durch den Klimawandel auch verändern. Wenn das Eis weg geht durch die Erwärmung, dann wird mehr Licht ins Wasser dringen, dann wird die Algenblüte zu einer anderen Zeit stattfinden. Das heißt, dass auch die Futterversorgung der Tiere dann zu anderen Zeiten stattfinden könnte."Niehoff misst die Aktivität verschiedener Enzyme, die für den Stoffwechsel der Ruderfußkrebse zuständig sind. Das kann sie aber erst zu Hause tun, in ihrem Labor am Alfred-Wegener-Institut. Besonders interessieren auch die Biologin die heiklen Punkte, an denen das System kippen könnte."Viele Arten sind sehr flexibel bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn der überschritten wird, bekommen sie Probleme. Aber genau abzuschätzen, wann das der Fall ist, ist sehr schwer."Experimente helfen dabei: Im Labor können die Forscher die Bedingungen gezielt manipulieren und die Reaktion der Tiere beobachten. Im Kühlcontainer auf der Polarstern hat Niehoff Wasserbecken aufgebaut, darin schwimmen Hunderte kleiner Krebse. Ein Schlauch führt ins Wasser, kleine Bläschen steigen auf: Kohlendioxid."Dieses Experiment beschäftigt sich mit der Versauerung der Ozeane. Wir möchten wissen, wie sich die häufigsten Krebse, die häufigsten Tiere hier darauf einstellen können. Wir gucken uns im Moment an, ob die Menge an Algen, die die Tiere aufnehmen können, damit zusammenhängt, wie die CO2-Konzentration ist."Lebewesen binden Kohlenstoff und setzen ihn frei – ein Faktor, den die Klimamodelle bisher noch zu wenig berücksichtigen können, weil man einfach nicht genug über ihn weiß. Unterdessen herrscht im Hubschrauber-Hangar der Polarstern Hochbetrieb, einer der beiden Helikopter wurde schon an Deck geschoben. Drei Forscher machen sich für den Flug bereit, mit Mühe quetschen sie sich in ihre orangefarbenen Überlebensanzüge. Jeremy Demey und seine Kollegen vom belgischen Labor für polare Ökologie beobachten Wale und Eisbären. Heute wollen sie sich mit dem Helikopter einen Überblick verschaffen, vor allem nach Narwalen wollen sie Ausschau halten."Narwale sind etwas ganz Besonderes. Wir wissen nicht viel über ihre Verbreitung in der Framstraße, wir müssen also auf gut Glück fliegen. Vom Schiff aus können wir sie nicht beobachten, weil sie sehr scheu sind."Demey freut sich auf den Flug."Das ist die Traum-Spezies für jeden Walforscher; der Narwal ist ein mythisches Tier, er lebt hoch im Norden, und es ist der einzige Wal überhaupt, der einen Stoßzahn hat."Die drei klettern in den Hubschrauber."Polarstern, Heli 1.""Hier Polarstern.""So, kann losgehen.""Wind auf 8 Uhr mit 20 Knoten."Seit 25 Jahren schickt das Labor für polare Ökologie Tierbeobachter in die Arktis. Demey:"Eine Sache, die wir festgestellt haben, ist, dass wir seit 2005 mehr Wale hier zählen. Gleichzeitig ist das Eis zurückgegangen. Also vielleicht, ich sage: vielleicht ist das die Erklärung, warum wir in den vergangenen sieben Jahren mehr Wale gesehen haben."Der Rückgang des Eises eröffnet einigen Tieren neue Lebensräume. Andere verlieren womöglich ihr Revier: Eisbären auf schmelzenden Schollen sind zum Symbol für den Klimawandel geworden. Experten befürchten, dass sich die Bestände in den nächsten 50 Jahren um zwei Drittel reduzieren werden. In der Framstraße jedoch konnten die Forscher keinen Rückgang der pelzigen Raubtiere feststellen. Demey:"Wir haben 27 Eisbären gezählt, sehr aufregend, sehr nah am Schiff. Wir haben Muttertiere mit Jungen gesehen, auch mit älteren Jungtieren, und wir haben Männchen gesehen. Jedes Jahr beobachten wir etwa dieselbe Anzahl an Bären hier."In den einzelnen Gebieten entwickeln sich die Populationen sehr unterschiedlich, und sie sind schwierig zu erfassen. Deshalb sind Langzeitbeobachtungen wie diese so wichtig. Und es gibt Hoffnung: Fachleute vermuten, dass Eisbären sich neuen Klimabedingungen erstaunlich gut anpassen können – sie haben auch schon wesentlich wärmere Zeiten in der Erdgeschichte überstanden.Der Hubschrauber nimmt wieder Kurs auf die Polarstern."Ja, ist verstanden, der Wind im Moment aus 10 mit 18.""Aus 10 mit 20 noch.""Schaukelt ja ganz schön."Eine Böe hat den Helikopter gepackt, doch er setzt sicher auf dem Heli-Deck auf. Die drei Forscher steigen aus. Jeremy Demey strahlt."Wir sind zur Küste von Grönland geflogen, um dort Narwale zu suchen, aber das Wetter war sehr schlecht. Also sind wir umgekehrt, und plötzlich tauchte zu unserer Überraschung eine Gruppe von elf Narwalen auf! Das ist wirklich ein Traum, wirklich unglaublich!"Und es passt zu dem Befund aus den vergangenen Jahren, dass die Forscher in der Framstraße immer mehr Wale beobachten. Insgesamt haben sie in diesem Jahr 224 Tiere gesichtet, mehr als jemals zuvor. Zurück beim Bergungsmanöver. Heute geht alles schief. Tatsächlich gerät das Seil mit den wertvollen Messinstrumenten unter den Eisbrecher. Die Matrosen versuchen, es wieder hervorzuzerren, vom Arbeitsdeck am Heck über die ganze Längsseite des Schiffs bis zum Bug. Matthias Monsees:"Es ist nicht so einfach, das Seil nach vorne zu kriegen, weil ja überall die Aufbauten zwischen sind. Und das haben wir mit Wurfhaken und anderen Wurfleinen geschafft, das Seil überhaupt nach vorne zu kriegen."Bootsmann und Erster Offizier klettern bis zur äußersten Bugspitze. Dort montieren sie eine Rolle, die das Seil umlenkt. Jetzt kann es Stück für Stück am Schiff vorbeigezogen werden."Das ist das erste Mal, dass ich das so mache."Seit 15 Jahren fährt Matthias Monsees in die Framstraße, um Verankerungen zu bergen. "Alle anderen Verankerungen auf dieser Reise gingen bis jetzt ganz komfortabel aus dem Wasser. Diese zickt jetzt wirklich ein bisschen, was aber nicht so ungewöhnlich ist, weil wir ja 80 Prozent Eisbedeckung haben….Jetzt ist das Seil tight."Das Seil ist gerettet, aber die Geräte hängen immer noch unter dem Eis fest. Der allerletzte Versuch: Drei Eisenbahnräder, eine Tonne schwer, werden am Seil heruntergelassen. Sie sollen die Verankerung nach unten ziehen und so aus den Schollen befreien. Doch sie könnten sie auch endgültig versenken. Monsees:"Da sind soviel scharfe Kanten dran, dass wir uns selbst das Seil durchschneiden können, wenn wir Pech haben."In wenigen Tagen wird die Polarstern wieder in Spitzbergen ankommen. Die Daten aus den verankerten Messgeräten vollständig auszuwerten, wird noch Monate dauern. Aber auf andere Ergebnisse muss Agnieszka Beszczynska nicht so lange warten. Noch während der Fahrt analysiert sie auf ihrem Laptop die Messergebnisse der Sonde, 125 Mal haben die Forscher sie in die Tiefen des Meeres herabgelassen. Beszczynska:"Was uns sehr überrascht hat: Wir haben sehr kaltes Atlantikwasser in der Framstraße gemessen. Vor der Expedition hatten wir erwartet, dass das Wasser ziemlich warm sein würde. Das sind aber erst mal nur die Daten von diesem Sommer, nicht vom ganzen Jahr. In den 15 Jahren, die wir hier messen, war dieser Sommer der zweitkälteste."Fast ein Grad kälter war das Wasser als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Damit hat die Meeresforscherin nicht gerechnet. Jetzt macht sie sich auf die Suche nach dem Grund für die plötzliche Abkühlung."Das ist wirklich sehr schwierig zu sagen, aber normalerweise hängen die Temperaturschwankungen, die wir in der Framstraße beobachten, mit den Bedingungen stromaufwärts, also im Nordatlantik, zusammen. Der nächste Schritt wird jetzt sein, dass wir uns Messungen aus dem Nordatlantik ansehen und unsere Daten damit vergleichen."Beszczynska hofft jedoch, dass schon die Daten aus den verankerten Instrumenten helfen, das Rätsel zu lösen. "Natürlich werden wir uns auch unsere Verankerungsdaten sehr sorgfältig anschauen, weil sie zeigen, wie sich die Temperatur und andere Parameter über das ganze Jahr verändert haben, bis zur Bergung der Geräte jetzt."Spannend wird es dann in den kommenden Jahren: Schwächt sich der warme Trend womöglich ab? "Es ist sehr, sehr schwierig, solche kleinen Wackler in einer Zeitreihe mit langfristigen Veränderungen in Beziehung zu setzen. Wir kennen die Antwort jetzt noch nicht. Vielleicht können wir mehr sagen, wenn wir noch einmal fünf oder zehn Jahre beobachtet haben."Meeres- und Klimaforschung ist Langzeitforschung. Und sie hält immer wieder Überraschungen bereit: Auch die diesjährige Rekordschmelze in der Arktis hatten Experten längst nicht so drastisch erwartet – ein ziemlicher Schock. Der Nordpol wird in den Sommermonaten wohl deutlich früher eisfrei sein, als gedacht: Der Weltklimarat IPCC nahm in seinem letzten Bericht noch an, dass es bis zum Ende des Jahrhunderts dauern würde. Jetzt befürchten manche Fachleute, dass es schon in zehn Jahren so weit ist. Das zeigt, wie wackelig die Klimamodelle noch sind – und wie wichtig deshalb sorgfältige und langfristige Messungen wie die mit der Polarstern. Wer den Puls der Strömungen verstehen will, braucht Geduld. Eigentlich nicht gerade Agnieszka Beszczynskas größte Stärke."Geschafft."Es hat geklappt: Mit dem tonnenschweren Gewicht aus Eisenbahnrädern konnten die Matrosen die Messgeräte aus dem Eis befreien. Die letzten Instrumente werden an Deck gehievt, Matthias Monsees ist erleichtert."Das war sehr spannend. Das stand auf Messers Schneide, wir hätten genauso gut die Hälfte der Verankerung verlieren können. Letztendlich hat diese ganze Aktion viereinhalb Stunden gedauert. Das ist lange, aber doch immer noch gut, weil wir jetzt alle Geräte und alle Daten haben."Die Polarstern setzt sich wieder in Bewegung, die Forscher müssen noch eine weitere Verankerung aus dem Eis bergen. Dann werden sie neue auslegen, um in zwei Jahren zurückzukehren und sie wieder an Bord zu hieven. Die "Polarstern" auf ihrer 26. Arktisfahrt 2011 am Nordpol (AWI/Mario Hoppmann) CTD-Messsonde (Stefanie Schramm) Ein Messgerät wird nach zwei Jahren wieder aus den Tiefen der Framstraße an Bord der "Polarstern" geholt. (Stefanie Schramm) Einholen von Messgeräten (Stefanie Schramm) Geschafft! (Stefanie Schramm) Schwimmmkörper an Bord (Stefanie Schramm)
Eine Reportage von Stefanie Schramm
Die Arktis gilt als wichtiges Frühwarnsystem für den Klimawandel: In den vergangenen 50 Jahren sind die Temperaturen dort doppelt so stark gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt. In diesem Jahr steht die Region unter besonderer Beobachtung: Das Meereis ist so stark geschmolzen wie noch nie.
"2012-09-30T16:30:00+02:00"
"2020-02-02T14:27:20.126000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/manuskript-am-puls-der-arktis-100.html
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"Ich habe dann nur noch geweint"
Mann mit gesenktem Haupt sitzt auf einer grünen Parkbank in Berlin. (imago/imagebroker) Depressionen schleichen sich mitunter langsam in das Leben von Patienten ein, so langsam, dass sie vergleichsweise spät die Krankheit registrieren. Dem Düsseldorfer Rechtsanwalt Thorsten Stelter ist genau das passiert: "Also, es ging Ende 2011, Anfang 2012 los, ich habe damals als Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Düsseldorf gearbeitet. Die Arbeitsbelastung war halt sehr hoch, der Druck war enorm hoch und hinzukam mit der Zeit ein kleiner interner Kanzleikonflikt, der geschwelt hat und irgendwann auch ausgebrochen ist. Es war so, dass ich Schlafprobleme hatte, ich konnte nicht mehr durchschlafen, bin nachts aufgewacht, musste dauernd grübeln, hatte auf einmal Zukunftsängste, fing auch an, meine bisherige Laufbahn infrage zu stellen. "Heulend zusammengebrochen" Es war dann eines Morgens im Dezember: Ich habe mich ganz normal fertiggemacht und wollte in die Kanzlei fahren. Da, wo ich wohne, gab es eine Kreuzung, ich hätte links abbiegen müssen. Ich konnte es auf einmal nicht. Ich bin dann geradeaus in den Wald gefahren, habe mich dort auf den Parkplatz gestellt und bin dann dort heulend zusammengebrochen. Also, ich hab dann nur noch geweint. Irgendwann habe ich dann meine Partnerin angerufen und habe gesagt, 'ich steh hier im Wald und weiß nicht weiter'. Dann sagte sie, 'okay, beruhige Dich, fahr zum LVR-Klinikum'. Das ist eine Klinik für psychische Erkrankungen, die haben halt auch eine Notfallambulanz. Wobei der erste Kontakt eigentlich eher negativ war, weil der erste Arzt, bei dem ich dort vorstellig geworden bin, hat das nicht ganz so ernst genommen und hat mir Schlaftabletten mitgegeben, oder so ein Beruhigungsmittel. Ich sollte doch erst mal nach Hause fahren und mich beruhigen und dann wird schon wieder alles. Diagnose "Depression" Das war ja keine Lösung in dem Sinne, und meine Partnerin hat dann gesagt, 'komm, wir gehen da noch mal gemeinsam hin.' Und dann muss ich sagen, hatte ich eine ganz tolle Ärztin erwischt. Die hat sich anderthalb Stunden Zeit genommen für mich, hat mit mir geredet, ich bin dann dort regelmäßig hingegangen. So ging das dann los, und in dem Zusammenhang wurde dann auch die Diagnose "Depression" gestellt. 2013 habe ich gesagt, 'okay, jetzt ziehe ich erst einmal die Reißleine, ich muss wirklich mal komplett Abstand von allem gewinnen', hab dann da erst mal einen Cut gemacht. Und als ich gemerkt habe, es wird wieder besser, habe ich überlegt, was mach ich jetzt eigentlich. Berufliche Neuorientierung In den Rechtsbereich wollte ich erst mal nicht wieder rein und dann bin ich über eine Stellenanzeige gestolpert aus einem Weinladen. Dann habe ich mich dort beworben und hab der Eigentümerin des Ladens eine E-Mail geschrieben und habe ihr meine Geschichte erzählt. Das fand sie sehr beeindruckend, ja, und seitdem verkaufe ich Wein."
Von Mirko Smiljanic
Viele depressive Menschen haben das Gefühl, einfach nicht mehr weitermachen zu können. Sie schlafen oftmals schlecht, grübeln viel und müssen weinen. Der Patient Thorsten Stelter berichtet über seine Erfahrungen mit der Krankheit.
"2017-01-17T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:29:18.518000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/depression-ich-habe-dann-nur-noch-geweint-100.html
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Mehr Sonne, aber noch keine Wärme
Die Sonne scheint zwar schon wieder etwas länger, dennoch ist es noch sehr kalt. (NASA) Der Lauf der Sonne über den Himmel bestimmt zunächst einmal nur die Zeitspanne, die es pro Tag hell ist. Ob es wärmer oder kälter ist, hängt dagegen nicht nur davon ab, wie lange die Sonne scheint und wie hoch sie steht. Da spielen viele andere Faktoren eine Rolle, etwa die geographische Breite oder die Nähe zu Ozeanen. Die Hitze des Sommers ist noch im Gestein und vor allem in den Meeren gespeichert. Auch im Januar kühlt Mitteleuropa pro Nacht im Schnitt mehr aus als die Sonne mit ihrer noch geringen Strahlungskraft am Tage ausgleichen kann. Das ist gar nicht so überraschend – schließlich stehen rund fünfzehn Stunden Dunkelheit gegen etwa neun Stunden schwache Erwärmung durch die Sonne. Erst irgendwann im Februar kehrt sich der Trend um. Dann heizt die immer höher steigende Sonne der Erdoberfläche ordentlich ein – und zwar im Schnitt mehr als nachts wieder verloren geht. Der Winter geht zu Ende und das Nahen des Frühlings ist zu spüren. An welchen Tagen genau es am kältesten oder wärmsten ist und welche Höchst- oder Tiefstwerte erreicht werden, hängt allerdings nicht vom Sonnenstand ab – sondern vom jeweiligen Wettergeschehen, insbesondere der Windrichtung. Selbst wenn es jetzt noch richtig kalt werden kann: Die Sonne signalisiert Tag für Tag, dass sie allmählich die Kühle der Nacht übertrumpfen wird.
Von Dirk Lorenzen
Heute ist die Mitte des astronomischen Winters erreicht, die kürzesten Tage liegen schon fast anderthalb Monate zurück. Zwar scheint die Sonne inzwischen mehr als eine Stunde länger pro Tag als kurz vor Weihnachten, aber von Erwärmung ist noch nichts zu spüren.
"2017-02-04T02:05:00+01:00"
"2020-01-28T09:33:13.629000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kaelteste-phase-des-jahres-mehr-sonne-aber-noch-keine-waerme-100.html
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Analyse bestätigt: Beratungsstelle wirkt
Im Sport fehlen oft die Strukturen, um effektiv gegen sexualisierte Gewalt vorgehen zu können (picture alliance / ZB / Thomas Eisenhuth) Seit sechs Monaten gibt es „Anlauf gegen Gewalt“. Die erste unabhängige Beratungsstelle für Betroffene von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt im Sport. Eine Initiative des Vereins Athleten Deutschland. Der hat dem Sportausschuss eine wissenschaftliche Untersuchung der Arbeit seiner Anlaufstelle präsentiert. Fazit: „Anlauf gegen Gewalt wirkt, für Kaderathletinnen und -Athleten. Wir hatten über 90 Anfragen von Mai bis Ende Oktober“, nennt Maximilian Klein von Athleten Deutschland die Fakten. Sowohl aktive als auch ehemalige Kaderathletinnen - überwiegend Frauen - hätten sich bei der Anlaufstelle gemeldet. Sie hätten über alle Formen von Gewalt berichtet, sexuelle Gewalt mit und ohne Körperkontakt etwa, aber in den allermeisten Fällen sei es um psychische Gewalt gegangen. Ein Klima, das klein macht Nadine Dobler von Anlauf gegen Gewalt beschreibt etwa Berichte über eine gezielt hergestellte Atmosphäre psychischer Gewalt im leistungssportlichen Alltag der Athletinnen: „Niemand traut sich Verletzungen anzuzeigen, weil die ignoriert werden, es geht darum nachts überwacht zu werden, ob ich zu Hause bin. Es wird ein Klima geschaffen, was klein macht und nieder macht. Und wo Betroffene zum Teil 15 Jahre später noch an den psychischen Folgen leiden.“ Die Betroffenen wünschten sich von Anlauf gegen Gewalt in erster Linie psychosoziale Beratung, so die Untersuchung. Außerdem wollten sie durch ihre Meldung aktive Täter aus dem Sport entfernen. Solche Sanktionen als Folge von Intervention sollen dann eine der Aufgaben des unabhängigen Zentrums für Safe Sport sein. Die Einrichtung einer solchen übergeordneten unabhängigen Stelle begrüßt auch der Deutsche Olympische Sportbund. Schutzlücken schließen Der hatte mit seinen Mitgliedern einen Abstimmungsprozess durchgeführt, um zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. „Das Zentrum kann und soll dabei helfen, Schutzlücken im Sport zu schließen.“ So Christina Gassner, Vorstandsmitglied des Deutschen Olympischen Sportbundes. Der Sport wolle sich nun an dem in einer Woche beginnenden sogenannten „Stakeholderprozess“ zum Zentrum für Safe Sport beteiligen: „Der Zweck dieses Stakeholder Prozesses ist nicht, dort ein fertiges Konzept vorzulegen, sondern die Stakeholder erstmal zu Wort kommen zu lassen, ihnen zuzuhören“, so Steffen Rülke, Abteilungsleiter Sport im Bundesinnenministerium. Das ist für die Umsetzung des Zentrums für Safe Sport zuständig. Grundlage: die Ergebnisse des „Stakeholderprozesses“, die im Sommer vorliegen sollen. Sexualisierte Gewalt Betroffene können wieder Anträge auf Unterstützung stellen Sexualisierte Gewalt Betroffene können wieder Anträge auf Unterstützung stellen Der Deutsche Olympischen Sportbund unterstützt Betroffene von sexualisierter Gewalt im Sport wieder mit Sachleistungen. 20 Monate nach einer entsprechenden Ankündigung ist jetzt der Vertrag dazu zwischen DOSB und dem zuständigen Bundesfamilienministerium unterschrieben. Studie zu sexuellem Missbrauch Gewalterfahrungen im Sport sind weitverbreitet Die Berichte von 72 Betroffenen in der bislang größten Studie über sexualisierte Gewalt im Sport sind erschütternd. Wegen der hohen Betroffenenquoten im Sport sollten die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Schutzmaßnahmen rasch umgesetzt werden. Sexualisierte Gewalt im Sport "Auf dem richtigen Weg" Vor einem Jahr erzählten drei Betroffene sexualisierter Gewalt im Sport ihre Geschichte in einem Hearing der Aufarbeitungskommission der Bundesregierung. Darunter auch die Fußballerin Nadine. Sie berichtet heute, die Veranstaltung von damals habe durchaus etwas bewirkt.
Von Andrea Schültke
Heute stand im Sportausschuss des Bundestages das Thema interpersonale Gewalt im Sport auf der Tagesordnung. Konkret der aktuelle Stand beim geplanten Zentrum für Safe Sport und der Erfahrungsbericht der Beratungsstelle „Anlauf gegen Gewalt“.
"2022-11-30T22:57:00+01:00"
"2022-11-30T22:17:13.737000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zentrum-safe-sport-sitzung-sportausschuss-100.html
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Befremdlich enge Bande zu Saudi-Arabien
Saudi-Arabien und Frankreich sind enge Partner in der Rüstungsindustrie (dpa/picture alliance/Remy de la Mauviniere) Über 4.000 französische Unternehmen sind in Saudi-Arabien vertreten, mehr als zwei Drittel von ihnen sind kleine- und mittelständische Betriebe. Sie verkaufen Lebensmittel, Kleidung, Parfum, Kosmetik, die Konzerne liefern Autos, Straßen- und Eisenbahnen. Bei den erneuerbaren Energien arbeitet man zusammen, über den Bau von 16 Atomreaktoren gibt es Kooperationsverträge. Für den Waffenlieferanten Frankreich ist Saudi-Arabien der beste Kunde überhaupt: Zuletzt wurde Interesse an "mehreren hundert" Leclerc-Panzern bekundet, vom Kampfflugzeug "Rafale" will das Königreich 72 Exemplare anschaffen – was wesentlich auf die anhaltenden Bemühungen der französischen Regierung zurückgehen dürfte: War das Flugzeug doch jahrelang praktisch unverkäuflich. Im Oktober 2015 reiste Premierminister Manuel Valls nach Riad, um Handelsverträge und –vorverträge über insgesamt rund zehn Milliarden Euro zu unterschreiben: "Partnerschaft – das ist sicher das Schlüsselwort unserer Beziehungen und der Verträge, die wir gerade unterschrieben haben. Wir vertiefen unsere vertrauensvollen wirtschaftlichen Beziehungen mit Saudi-Arabien und werden sie entschlossen in die Zukunft führen." Und auch umgekehrt verspricht sich die französische Regierung viel von ihrem Werben um Saudi-Arabien. Frankreich steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand – jeder Geldgeber ist willkommen. "Kommen Sie und investieren Sie in unserem Land im Herzen Europas – das ist der Moment – mehr denn je!" Saudischer "Hinrichtungsminister" mit Orden ausgezeichnet An kritischen Stimmen fehlt es nicht. Schon nach dem Anschlag auf die Redaktion der Zeitschrift "Charlie Hebdo" hatte Oppositionspolitiker Bruno Le Maire gefragt, ob man nicht "das außenpolitsche Verhältnis zu Saudi-Arabien neu überdenken" müsse, ob Staaten, die "terroristische Gruppen unterstützen", Verbündete sein können. Die Zeitung "Le Monde", die Präsident Hollande schon früher den "Francois von Arabien" genannt hatte, stellte nach den Anschlägen vom November 2015 dieselbe Frage und gab zu bedenken: Saudi-Arabien sei am Entstehen genau jener Terrorgruppe beteiligt gewesen, gegen die Frankreich heute "im Krieg" sei. Frankreich müsse die Menschenrechtsverstöße in Saudi-Arabien anprangern, die Hinrichtungen, das gewaltsame Vorgehen gegen die schiitischen Houthi-Rebellen im Nachbarland Jemen. Vieles wurde kritisiert, doch eine große Debatte wurde daraus nicht. So führte es auch nur zu einem bemerkenswert kleinen Eklat, als Präsident Hollande im März ohne die sonst übliche Ankündigung den saudischen Thronfolger und Innenminister Mohammed ibn Naif im Elysee-Palast empfing, jenen Mann, der in Saudi-Arabien für die Hinrichtungen zuständig ist – und ihn in einer diskret gehaltenen Zeremonie – Zitat : "für seine Verdienste im Kampf gegen den Terrorismus" mit dem Orden der Ehrenlegion auszeichnete, der höchsten Ehrung, die Frankreich zu vergeben hat. Die Aufregung in den Medien, auch bei Menschenrechtsorganisationen, war groß. Michel Tubiana von der "Liga für Menschenrechte": "Das ist eine Ehrung für einen Menschen, der die Todesstrafe praktiziert; das ist ein Staatsmann, der die rückständigsten Systeme auf der ganzen Welt unterstützt – wir wissen wirklich nicht, warum er diese Ehrung bekommt, sie ist auf jeden Fall äußerst unangebracht!" Waffenhandel ist neue"französische Obsession" Zu einer wirklichen Debatte über die Haltung Frankreichs zu Saudi-Arabien kam es indes auch diesmal nicht. Manche Politiker und Militärs zeigten sich empört, der frühere Direktor der Museen in Frankreich, Alain Nicolas, gab unter Protest seinen "Orden der Ehrenlegion" zurück. Außenminister Jean-Marc Ayrault blieben die Reaktionen nicht verborgen, er könne sie verstehen, sagte er, kommentierte dann aber, im Gespräch mit dem Radiosender "France Inter": ausweichend. "Wir reden mit diesem Land und worüber reden wir: Über den Frieden in Syrien, und da spielt Saudi-Arabien eine große Rolle." Und es sei nun einmal eine diplomatische Tradition, den Orden der Ehrenlegion auch an Politiker aus dem Ausland zu verleihen: "C’est une tradition diplomatique." Zu Wochenbeginn war der saudische Verteidigungsminister in Paris. Dazu schrieb die französische Internet-Zeitung "Mediapart", der Waffenhandel mit Saudi-Arabien sei seit der Wahl von Francois Hollande eine "französische Obsession" geworden: Seit 1926 habe es 39 gegenseitige Staatsbesuche gegeben - und 15 davon hätten zwischen 2012 und Ende 2014 stattgefunden. Danach, so hieß es, habe die französische Botschaft in Riad aufgehört zu zählen.
Von Jürgen König
Seit Francois Hollandes Amtszeit sind die Staatsbesuche in Saudi-Arabien massiv angestiegen. Ein Grund ist der Waffenhandel mit den Saudis. Kritiker monieren, dass Präsident Hollande mit einem Staat flirte, dessen politische Position sich nicht sonderlich von den Positionen der Attentäter von Paris und Brüssel unterscheidet.
"2016-04-27T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:26:22.221000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-befremdlich-enge-bande-zu-saudi-arabien-100.html
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USA bereiten Anklage gegen Assange vor
Julian Assange 2016 auf dem Balkon der ecuadorianischen Botschaft in London (picture alliance / dpa ) Der Geheimnisverrat habe in den vergangenen Jahren sehr zugenommen, so Justizminister Sessions. Erfahrene Sicherheitsexperten seien schockiert über die Zahl der undichten Stellen: "Wir haben bereits unsere Anstrengungen verstärkt, uns damit zu befassen. Der Geheimnisverrat hat ein mir bislang nicht erahntes Ausmaß erreicht. Und ja, wir werden versuchen, ein paar Leute ins Gefängnis zu bringen." Einige der Fälle seien ziemlich ernst, so Sessions. Wann immer es möglich sei, sollten die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Schritt nicht unererwartet Zu den ernsten Fällen gehört für Sessions auf jeden Fall auch Julian Assange, der umstrittene Gründer von Wikileaks. Amerikanische Staatsanwälte haben in den vergangenen Wochen einen Entwurf für eine Anklage gegen Assange und weitere Wikileaks-Mitarbeiter ausgearbeitet. Demnach könnten Assange und seine Mitarbeiter unter anderem wegen Verschwörung, Diebstahls von Regierungseigentum und Verstößen gegen das Spionagegesetz angeklagt werden. Der Schritt kommt nicht unerwartet. Auch die Obama-Regierung hatte gegen Assange ermittelt, war aber zum Schluss gekommen, dass eine Anklageerhebung wegen der umfassenden Redefreiheitsrechte in den USA schwierig sei. Im März brachte Wikileaks CIA-Dokumente an die Öffentlichkeit, die auf eine Cyberspionage-Technik hinwiesen, mit der sich der Geheimdienst Zugang zu Smartphones und Fernsehern verschaffen kann, um die Geräte zum Abhören zu nutzen. Vor zwei Wochen war Wikileaks bereits von CIA-Direktor Mike Pompeo als feindlicher Geheimdienst eingestuft worden: "Wikileaks benimmt sich wie ein feindlicher ausländischer Geheimdienst. Sie haben ihre Anhänger ermutigt, sich auf Jobs bei der CIA zu bewerben, um an geheime Informationen zu kommen. Sie haben Chelsea Manning bei ihrem Geheimnisverrat gesteuert. Sie agieren fast nur gegen die USA." Wikileaks werde häufig von Russland unterstützt Und: Wikileaks werde häufig von Russland unterstützt. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Wikileaks gehackte E-Mails der US-Demokraten, die der Präsidentschaftskandidatin Clinton schadeten, weil sie einen steten Verdacht gegen Clinton suggerierten, diesen aber nie belegten. Die amerikanischen Behörden fanden Merkmale einer Hackergruppe des russischen Geheimdienstes bei den Daten. Offensichtlich, so die Schlussfolgerung der amerikanischen Sicherheitsdienste, hatte sich Wikileaks zum Handlanger des russischen Geheimdienstes gemacht.
Von Marcus Pindur
US-Justizminister Jeff Sessions hat angekündigt, den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, vor Gericht zu stellen. Dasselbe hatte die Obama-Administration versucht, das Vorhaben dann aber fallengelassen. Assange könnte wegen Verschwörung, Diebstahls von Regierungseigentum und Verstößen gegen das Spionagegesetz angeklagt werden.
"2017-04-21T18:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:24.151000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wikileaks-usa-bereiten-anklage-gegen-assange-vor-100.html
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"Man muss die Türkei ernst nehmen"
Flagge zeigen für den Premierminister - Anhänger von Ahmet Davutoglu in der türkischen Hauptstadt Ankara. (picture alliance / dpa / Umit Bektas / Pool) Martin Zagatta: Mitgehört hat Ahmet Külahci, Kolumnist der türkischen Zeitung Hürriyet, die ja auch unter Druck gekommen ist in diesem Wahlkampf. Guten Abend, Herr Külahci! Ahmet Külahci: Guten Abend. Hallo. Zagatta: Herr Külahci, zunächst einmal: Die Meinungsforscher, die waren ja bis gestern der Ansicht, auch dieser unfaire Wahlkampf, das Vorgehen gegen unkritische Medien, der neue Krieg mit der PKK, das alles würde sich nicht auszählen für Erdogan. Jetzt ist es ganz anders gekommen. Sind Sie von diesem Wahlausgang auch überrascht? Külahci: Nicht nur ich, glaube ich. Auch die AKP selbst hat mit diesem Ergebnis überhaupt nicht gerechnet. Wie gesagt: Die Meinungsforschungsinstitute haben alle der AKP zwischen 38 und 44 Prozent der Stimmenanteile zugerechnet. Aber das ist doch eine sehr große Überraschung für alle, auch für mich selbstverständlich. Zagatta: Lässt sich denn für Sie jetzt absehen, was das bedeutet? Wie wird das jetzt weitergehen in der Türkei? Setzt die AKP da Ihrer Meinung nach weiter auf Konfrontation? Külahci: Ich hoffe es nicht. Ich habe erst gestern Abend nach den ersten Zahlen, die ein bisschen präsentiert worden sind, vom türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu gehört, dass er nicht nur für die Wähler, die ihn gewählt haben, Ministerpräsident sein wird, sondern für die ganze Türkei und für alle Menschen, die in der Türkei leben. Das sind Töne, die man in der letzten Zeit kaum gehört hat. Er meint, dass er jetzt den Samen der Liebe in der Türkei säen würde, und ich hoffe es, dass er es damit ernst meint, dass er anstatt zu spalten doch die ganze Bevölkerung in der Türkei gewinnt. "Europäische Union hat große Fehler gemacht" Zagatta: Samen der Liebe - können die auch im Kurden-Gebiet aufgehen? Da hat ja die AKP beziehungsweise die Regierung zuletzt Krieg geführt gegen die Terrororganisation PKK. Muss man sich da auf weiteres Blutvergießen einstellen, oder könnte dieser Samen der Liebe dort auch aufgehen? Külahci: Ich hoffe, dass das überall für die ganze Türkei gelten wird. Ich meine, da hat man auch als PKKler doch einen großen Fehler begangen, glaube ich, indem die mit den Terroranschlägen doch sofort wieder angefangen haben, und als sie damit begonnen haben, hat der türkische Staatspräsident die Friedensinitiative für beendet erklärt. Gott sei Dank hat die Regierung das nicht ganz mitgemacht. Der Ministerpräsident meinte, mit der Friedensinitiative würden sie weitermachen, aber gegen die PKK würden sie doch unnachgiebig weiterkämpfen. Ich meine, das haben wir auch gesehen, dass diese PKK-Anschläge auch der prokurdischen Partei geschadet hat. In diesem Vorbericht haben wir gehört, dass die Menschen in Diyarbakir nicht damit zufrieden waren, aber es waren die Wähler in Diyarbakir, die kurdischstämmigen Wähler, die in Diyarbakir leben, die die HDP nicht gewählt haben, sondern auch die AK-Partei gewählt haben. Von daher muss man auch sich fragen, warum die Kurden selbst diese prokurdische Partei nicht gewählt haben. Zagatta: Da ist das Konzept von Erdogan schon aufgegangen bei dieser Wahl. Aber wie passt das jetzt zu Bemühungen der Türkei, in die EU aufgenommen zu werden, zumindest mittelfristig? Ist das Erdogan noch wichtig? Külahci: Ich weiß es nicht, ob es für Erdogan wichtig ist. Aber in den letzten Jahren hat man als Europäer, als Europäische Union große Fehler gemacht, glaube ich. Bis vor drei Jahren war die Akzeptanz, was den EU-Beitritt betrifft, bei den Türken in der Türkei ziemlich hoch, bis zu 78 Prozent. Aber in der letzten Zeit hatte diese Neigung, diese Begeisterung, EU-Begeisterung doch ziemlich abgenommen. Das liegt zurzeit bei 33 Prozent. Wenn ich die Regierungsmitglieder höre und denen Glauben schenken darf, die sind dabei, die sagen auch, dass sie doch ein sehr großes Interesse daran haben, dass die Türkei in der EU ihren Platz nimmt. Ich hoffe es, dass das der Fall sein wird. Das will ich deswegen, weil der Demokratisierungsprozess in der Türkei in westlichen Werten doch viel mehr und viel schneller weitergehen wird als bisher. Von daher: Ich bin dafür, dass die EU sich Gedanken machen sollte, dass man auch die Türkei ernst nimmt und auch denen gute Vorschläge macht. "In der Flüchtlingsfrage kann man der Türkei nichts vorwerfen" Zagatta: Die EU und auch Deutschland haben sich ja mit Kritik merklich zurückgehalten, offenbar auch, weil man in der Flüchtlingskrise auf die Türkei angewiesen ist. Was ist da jetzt aus Ihrer Sicht zu erwarten? Gibt es da irgendeinen Grund für die Türkei, die Flüchtlinge nicht weiterziehen zu lassen in Richtung Deutschland, so wie man sich das hierzulande erhofft? Külahci: Ich meine, es ist enorm schwierig, glaube ich. Wir wissen alle, dass in der Türkei seit 2011, seitdem in Syrien dieser Bürgerkrieg angefangen hat, fast über zwei Millionen, 2,3 Millionen syrische Flüchtlinge leben. Und irgendwie hat die EU, haben die EU-Länder doch geschlafen, obwohl sie wussten, dass in der Türkei so viele Menschen leben und deren Lage nicht ganz einfach sei. Keiner machte sich Gedanken, wie diese Menschen dort leben, wie lange sie dort leben sollen. Die EU-Länder sind erst wach geworden, als diese Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machten, das heißt vor zwei, drei Monaten. Wo waren denn die Europäer bis jetzt? Die Türkei hat man in dieser Hinsicht allein gelassen. Ich meine, man kann der türkischen Regierung viel vorwerfen in vieler anderer Hinsicht, was die Pressefreiheit betrifft und was die unabhängige Justiz betrifft. Da kann man wie gesagt die türkische Regierung kritisieren. Aber was die Flüchtlingsfrage betrifft, denen kann man überhaupt nichts vorwerfen. Zagatta: Das heißt, Deutschland oder die EU müsste da jetzt mit Geld gewaltig einsteigen? Külahci: Wir wissen ja alle, dass in der Türkei viel mehr Flüchtlinge leben als in den gesamten europäischen Unionsländern. Und darüber hinaus hat die Türkei bis jetzt acht Milliarden Euro ausgegeben für die Flüchtlinge. Das heißt, das ist viel mehr, als die gesamten EU-Länder ausgegeben haben. Wenn man sich Gedanken macht, wie diese Menschen sich nicht alle in Richtung Europa aufmachen, sollte man mit der Türkei zusammenarbeiten und den Menschen, die dort leben, den Flüchtlingen doch ein bisschen mehr Möglichkeiten geben, besser zu leben, wie Menschen zu leben. Ich meine, das ist nicht ganz einfach, wenn man in einer Zeltstadt leben muss und das nicht zwei, drei Monate, sondern zwei, drei Jahre lang. Das ist eine Katastrophe. Zagatta: Ahmet Külahci von der türkischen Zeitung Hürriyet. Herr Külahci, herzlichen Dank für das Gespräch. Külahci: Bitte schön. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ahmet Külahci im Gespräch mit Martin Zagatta
Nach den Wahlen in der Türkei erwartet der türkische Journalist Ahmet Külahci Fortschritte in Sachen EU-Beitritt. Die Demokratisierung in der Türkei schreite schneller voran als bisher, sagte der Kolumnist der türkischen Zeitung Hürriyet im DLF. Die EU müsse darauf reagieren.
"2015-11-03T06:25:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:17.877000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-beitrittsverhandlungen-man-muss-die-tuerkei-ernst-nehmen-100.html
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Waszczykowski auf Konfrontationskurs mit der EU
Polens Außenminister Witold Waszczykowski (dpa / picture-alliance / Pawel Supernak) Eigentlich sei alles gar nicht so, wie es derzeit dargestellt werde, sagte Polens Außenminister im Interview mit der "Bild"-Zeitung. Die Reformen, die unter anderem die Arbeitsprozesse des Verfassungsgerichts beeinflussen und eine Neubesetzung der Chefposten in den öffentlich-rechtlichen Medien durch die Regierung vorsehen, hält er für notwendige Schritte. "Wir wollen lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen, damit er wieder genesen kann." Das Verfassungsgericht war seiner Meinung nach nie unabhängig. Es sei schon immer eine "politisch besetzte Einrichtung", so Waszczykowski. Die konservative polnische Regierung hatte zuletzt mehrere neue Richter in das Gericht berufen. Zustände "wie im russischen Fernsehen" Und das Gesetz, das der Regierung mehr Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien verschafft, sei gerechtfertigt. Die Medien hätten zuletzt "extrem einseitig" gegen die polnische Regierung berichtet. Es gebe keine Konservativen und Katholiken als Gesprächspartner in Fernsehdiskussionen - das seien Zustände "wie im russischen Fernsehen". "Deshalb werden wir ehrenwerte, unabhängige Intendanten einsetzen, die eine Vielfalt von Meinung und Information garantieren", so Waszczykowski. Noch ist das Gesetz nicht in Kraft. Präsident Andrzej Duda hat es noch nicht unterschrieben. Nicht nur bei der polnischen Opposition, sondern auch bei der EU sieht man die Entwicklungen allerdings anders als Waszczykowski. Sie befürchten, die konservative Partei PiS schaffe die Demokratie ab. Der Präsident des Europaparlaments, der SPD-Politiker Martin Schulz, hatte Mitte Dezember im DLF gesagt, was sich in Polen abspiele, habe "Staatsstreich-Charakter". "Timmermans kein legitimierter Partner" Der stellvertretende EU-Kommissionspräsident Frans Timmermans forderte in einem offenen Brief von der polnischen Regierung kürzlich weitere Informationen über die Gesetzesänderungen beim Verfassungsgericht und verlangte, die Änderungen aufzuschieben. Waszczykowski bezeichnete Timmermans nun als einen EU-Beamten, "der durch politische Beziehungen ins Amt kam". Er sei kein legitimierter Partner. Die Spannungen zwischen der EU und Polen dürften noch weiter zunehmen. Am Wochenende teilte die Kommission mit, man werde die Lage am 13. Januar diskutieren. Das gilt als erster Schritt in einem möglichen Verfahren, in dem die Rechtsstaatlichkeit Polens untersucht wird. Sollte die Kommission Verstöße feststellen, könnte Polen am Ende sein Stimmrecht bei Ministerräten und EU-Gipfeln verlieren. (pr/dk)
null
Ein Staatsstreich in Polen? "Abwegig". Die Neubesetzung der Chefposten in den öffentlich-rechtlichen Medien? "Ein Schritt zu mehr Meinungsvielfalt". Polens Außenminister Witold Waszczykowski hat in einem Zeitungsinterview die Reformen der neuen polnischen Regierung verteidigt und Kritik von Seiten der EU zurückgewiesen.
"2016-01-04T07:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:57.529000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polens-aussenminister-waszczykowski-auf-konfrontationskurs-100.html
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"Glaube will keine Gewalt"
Gedenken an die Opfer an der Berliner Gedächtniskirche, unmittelbar am Ort des Anschlags auf einen Berliner Weihnachtsmarkt. (picture alliance / Britta Pedersen / dpa-Zentralbild / dpa) Im Hinblick auf das - mit großer Wahrscheinlichkeit - islamisch-fundamentalistisch motivierte Attentat vom Montagabend sagte Trautwein: Nur weil bestimmte Menschen im Namen der Religion Gewalt ausübten, dürfte man Glauben nicht im Allgemeinen als gefährlich bewerten oder verurteilen. Im Gegenteil: Alle Menschen, denen an ihrem Glauben liege - egal ob jüdisch, christlich oder muslimisch - müssten laut und deutlich für Frieden und Dialog eintreten. Regionalbischöfin Ulrike Trautwein (Thomas Ecke /Berliln) Aus ihrer Sicht habe sich der interreligiöse Dialog im vergangenen Jahr zwar nicht verändert: "Die Menschen mit denen ich im Dialog bin, teilen den Wunsch nach einer friedlichen Welt." Allerdings erlebe sie, dass vor allem muslimische Partner stärker unter dem Druck stünden, sich rechtfertigen zu müssen. "Ich sehe keine Alternativen" Angesichts der derzeit zu beobachtenden Polarisierung in muslimischen Gemeinden, sagte Trautwein: "Wir orientieren uns derzeit nicht so stark an Organisationen, sondern an den Menschen, mit denen wir Kontakt haben." Auf die Frage, ob die Kirchen in Deutschland zu naiv an die Flüchtlingspolitik herangegangen wären, sagte Trautwein: "Wenn eine bestimmte Anzahl an Menschen ins Land kommt, ist da auch immer eine gewisse Anzahl an schwierigen Menschen dabei. Nur weil man geflüchtet ist, ist man nicht per se ein guter Mensch. Genauso wenig wie man als Einheimischer per se ein guter Mensch ist. Das bringt natürlich Schwierigkeiten mit sich, aber ich sehe keinen Alternativen." Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Berliner Regionalbischöfin Ulrike Trautwein im Gespräch mit Benedikt Schulz
In der Berliner Gedächtniskirche fand am Dienstagabend ein Gedenkgottesdienst für die Opfer des Anschlags statt. Daran beteiligt war Ulrike Trautwein, Generalsuperintendentin der evangelischen Kirche in Berlin. Die Theologin sagte im DLF, dass der Dialog zwischen den Religionen unbedingt weitergehen müsse - auch wenn es schwierig sei.
"2016-12-21T00:00:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:33.930000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interreligioeser-dialog-glaube-will-keine-gewalt-100.html
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"Ein Freispruch ist nicht möglich"
Auf Steuerhinterziehung in Millionenhöhe stehe laut BGH-Urteil aus dem Jahr 2008 eigentlich Gefängnishaft, erklärt Michael Watzke. Da das Finanzamt Hoeneß' Selbstanzeige nicht anerkannt hat und es laut Staatsanwaaltschaft um rund drei Millionen Euro geht, sehe es also schlecht aus für den FC Bayern-Präsidenten. Ein Freispruch sei in keinem Fall möglich. Hoeneß hoffe nun auf "mildernde Umstände", so Watzke, um nur mit einer Bewährungsstrafe davonzukommen. Schließlich habe er sich aus eigenem Antrieb angezeigt. Allerdings stehe der Vorwurf im Raum, Hoeneß sei nur aktiv geworden, weil er geglaubt habe, dass Journalisten des "Stern" ihm auf die Schliche gekommen seien. Ob Uli Hoeneß diesen Vorwurf entkräften kann, wird sich laut Watzke vielleicht schon am morgigen ersten Prozesstag zeigen, auch ein Urteil bereits kommenden Donnerstag sei nicht unwahrscheinlich. Sollte Uli Hoeneß danach nicht ins Gefängnis müssen, geht Michael Watzke davon aus, dass die Anteilseigner des FC Bayern weiter zu ihrem Präsidenten stehen werden. Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 09. September 2014 als Audio-on-demand abrufen.
Bayern-Korrespondent Michael Watzke im Gespräch mit Philipp May
Ein Freispruch im Prozess gegen Uli Hoeneß sei undenkbar, sagt Bayern-Korrespondent Michael Watzke. Der Präsident des FC Bayern hoffe auf "mildernde Umstände", damit er mit einer Bewährungsstrafe davonkommt - und nicht ins Gefängnis muss.
"2014-03-09T20:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:29:58.761000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoeness-prozess-ein-freispruch-ist-nicht-moeglich-100.html
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"Das Problem ist die Gesellschaft, nicht die Menschen"
Der Theologe Gerhard Schreiber zählt zu den wenigen Männer seines Fachs, die sich mit Gender befassen (Ralf Stieber (Ev. Akademie Baden)) Christiane Florin: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Auf diesen Satz wird das Buch "Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir meist reduziert. Erschienen ist es 1949 - man glaubt es kaum. Damals war von Gender noch nicht die Rede, aber genau das ist hier gemeint: das Geschlecht nicht als genetische Gegebenheit, sondern als etwas gesellschaftlich und kulturell Geprägtes. Fast 70 Jahre später provoziert dieser Gedanke noch immer oder wieder. Wie wird man Frau, wie wird man Mann – und reichen zwei Geschlechter überhaupt? Jetzt reicht's – mögen manche sagen, viele schreiben uns genau das. So ein Gender-Quatsch brauche kein Mensch, das sei Ideologie und Gehirnwäsche. Aber es gibt auch die anderen, diejenigen, die sagen: Es reicht noch lange nicht, wir haben noch gar nicht angefangen, intensiv darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn das vermeintlich Naturgegebene in Frage gestellt wird. Das gilt auch für die Theologie. Von Essen aus zugeschaltet ist Gerhard Schreiber, evangelischer Theologe am Institut für Theologie und Sozialethik in Darmstadt und einer der wenigen Männer seines Fachs, der sich mit Gender befasst, guten Morgen, Herr Schreiber. Gerhard Schreiber: Guten Morgen Frau Dr. Florin. Florin: Herr Schreiber, sprechen wir so viel über das Geschlecht, damit es irgendwann nicht mehr die Bedeutung hat, die es noch hat? Schreiber: Gute Frage. Geschlecht wird in sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen unserer Gesellschaft ganz gewiss immer eine Rolle spielen. Es ist nicht nur fundamentaler Kern unserer Persönlichkeit, sondern auch die Einteilung der Menschen nach Geschlecht ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Alltagsbewusstseins, aber auch der Rechtsordnung. Nun ist aber die Frage, ob nicht diese Bedeutung und Rolle von Geschlecht genau zu analysieren sind - nicht zuletzt deshalb, um zu erkennen wo und wie die Menschen auf Grund ihres Geschlechtes ausgegrenzt, benachteiligt und herabgewürdigt werden. Das heißt, wir müssen Geschlecht thematisieren, damit wir Diskriminierungen von Menschen auf Grund ihres Geschlechts aufdecken und beseitigen können. In dieser Hinsicht sollte dann Geschlecht bald einmal keine Rolle mehr spielen. "Ein Ordnungsprinzip zur Herstellung männlicher Privilegien" Florin: Es gab vor einigen Wochen einen Aktionstag "Gender Studies" und da gab es auch eine Erklärung von Tübinger Theologieprofessorinnen und -professoren und in dieser Erklärung heißt es, die Normalitätsannahme sei: Es gibt zwei Geschlechter, die sind aufeinander bezogen und jeder Mensch hat genau ein Geschlecht. Und mit dieser Normalitätsannahme werde Macht und Einfluss verteilt, werden Ämter verteilt. Inwiefern gilt das auch für die Theologie? Schreiber: Man darf nicht vergessen, dass das Modell dieser von Ihnen gerade beschriebenen Geschlechter-Binarität oder die Annahme der bipolaren Zweigeschlechtlichkeit nicht nur ein stabiles Differenzierungskriterium ist, sondern gerade auch hierarchisierendes Ordnungsprinzip zur Herstellung und Aufrechterhaltung nicht zuletzt männlicher Privilegien. Und wenn nun an dieser unumstößlichen und schicksalsbestimmenden Festlegung - wie sie sich ja auch im traditionellen christlichen Menschenbild findet - gerüttelt wird, dann führt das zunächst erstmal zu Irritationen, was diese sogenannte Normalität oder Normativität angeht. Die es bei Lichte betrachtet gar nicht so gibt. Florin: Nun regeln Religionen ganz gern das Begehren. Sie erklären, was gute Sexualität ist und was verbotene ist, was gute Geschlechterbeziehungen sind und was schlechte. Mit Homosexualität tun sich viele Religionen schwer - sie haben vorhin von der Diskriminierung gesprochen. Nun gibt es seit Oktober dieses Jahres die Möglichkeit, dass Personen gleichen Geschlechts in Deutschland eine zivile Ehe eingehen dürfen, dass das auch Ehe heißt. Was ist Ehe, theologisch betrachtet, im Jahre 2017? Schreiber: Da muss man unterscheiden, ob man jetzt hier aus der evangelischen Sicht oder aus der katholischen Sicht argumentieren möchte. Florin: Zuerst mal die evangelische. Schreiber: Da könnte man argumentieren, ob man nicht weggehen müsste von einer Definition der Ehe auf die Gestalt - zwei Personen unterschiedlichen Geschlechtes gehen eine Ehe ein - hin zur Gestaltung dieser Beziehungsform. Wenn man so argumentiert, könnte man sagen: Ehe ist nun eine auf Dauer angelegte rechtlich verbindliche Partnerschaft, die einen Schutzraum für beide Partner und dann auch, wenn sie sich entscheiden oder wenn gewünscht oder möglich, ihren Kindern Sicherheit und Freiheit gewähren. Also diese Frage, ob Menschen im privaten Umfeld verlässlich und dauerhaft, aber auch generationsübergreifend Verantwortung übernehmen, indem sie füreinander Sorge tragen. Wenn das die Definition von Ehe ist, dann spricht nichts dagegen aus protestantischer Sicht einem Menschen die Bitte um Gottes Segen dann für das gemeinsame Leben zu gewähren. Nichts anderes ist ja die Eheschließung im evangelischen Verständnis. Dass ein Ehepaar Gott um seinen Segen für das gemeinsame Leben bittet. "Die Liebe begründet die Ehe" Florin: Und aus katholischer Sicht? Die katholische Kirche tut sich schwerer, weil sie die Ehe als Sakrament betrachtet und von der Komplementarität der Geschlechter ausgeht. Schreiber: Ja, die Komplementarität der Geschlechter ist sicherlich eine schöne Idee. Nur entspricht sie nicht der Wirklichkeit, der naturalen Wirklichkeit. Wenn man es historisch betrachtet, zum Beispiel, dass eine ganze Kindergeneration allein von Kriegerwitwen großgezogen wurde und die Zahl alleinerziehender Eltern seit der 60er Jahren weiter anwächst. Für die katholische Auffassung ist die grundsätzliche Offenheit für die Weitergabe von Leben maßgeblich und trotzdem muss man sagen, dass diese Verknüpfung von Ehe einerseits, Kinder und Familie andererseits für das Verständnis auch der katholischen Kirche nicht mehr so wesentlich zu sein scheint, weil man eben auch eine Ehe ohne Kinder als eine vollwertige Ehe betrachtet. Die Liebe begründet die Ehe. Florin: Aber können Sie nicht Menschen verstehen, die etwa wie die Bundeskanzlerin - evangelisch - sagen: "Für mich besteht eine echte Ehe aus der Verbindung zwischen Mann und Frau" - weil es eben jahrhundertelang so war. Schreiber: Natürlich kann ich das verstehen, auch gerade weil es eine Gewissensentscheidung ist. Nur das, wonach man sich zurücksehnt, dass Ehe schon immer ein Zusammenschluss von Mann und Frau war ist ja auch nicht etwas, was historisch schon immer so war, weil es eine anthropologische Konstante war. Es (die eheliche Kernfamilie) ist auch etwas, was sich spätestens mit dem Aufkommen des Bürgertums erst herauskristallisiert hat. "Kein eindeutiges Geschlecht führt zu Verunsicherung" Florin: Wer in Spielzeugläden geht, und wahrscheinlich hat man es auch unter dem Weihnachtsbaum ganz gut sehen können, der findet dort mehr denn je rosa Prinzessinnen, die auf einen Prinzen warten, und Baumeister in blauen Latzhosen. Warum kommt diese konventionelle Geschlechtervorstellung gerade heute so gut an? Schreiber: Geschlecht wird auch gern mit bestimmten Vorstellungen und Idealisierungen verknüpft. Und man passt sich nicht nur dem an, sondern man ist auch so geprägt wie man erzogen wird. Besonders dann wird es markant, wenn das Geschlecht eines Menschen nicht eindeutig zu sein scheint oder zum ersten Anschein nicht passt und die Erwartungen und Vorstellungen, die man von Geschlecht hat durchkreuzt werden. Das führt dann zu Verunsicherung und Irritationen. Ich denke, dass jede Verunsicherung oder zumindest diese Art von Verunsicherung auch dann den Rückgriff auf scheinbar Selbstverständliches provoziert. Also dieses sich zurücksehnen nach Normalität, nach der sogenannten "guten alten Zeit". Florin: Kommen wir zu einem weiteren Thema, das unsere Hörerschaft gespalten hat: Es gab begeisterte Stimmen, es gab aber auch Verunsicherung oder sogar Angst. Und zwar geht es um das sogenannte "dritte Geschlecht". Vor einigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber aufgefordert, das Personenstandsgesetz zu ändern. Im Geburtenregister soll es nicht nur weiblich und männlich geben, sondern eine dritte Möglichkeit für intersexuelle Menschen. (Hören wir zunächst den Bericht von Michael Hollenbach über die theologischen Folgen dieser Entscheidung.) Herr Schreiber, warum fällt es der katholischen Kirche leichter, Intersexualität zu akzeptieren als Transsexualität? Schreiber: Nach meinem Dafürhalten ist das deswegen der Fall, weil Intersexualität - das wurde ja auch vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken in seiner Stellungnahme zur Verfassungsklage betont - ein eindeutig biologisches Phänomen ist. Das hat auch die Kongregation für die Glaubenslehre in ihrem bislang unveröffentlichten Schreiben zu Transsexualität, also zur Ehefähigkeit von transsexuellen Menschen, betont, dass sich die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen nach dem Genotypus, also nach der Gesamtheit der Erbanlagen richtet und nicht nach dem Phänotypus. Wenn man sich dann vor Augen hält, dass auch die traditionelle katholische Moraltheologie meist rein naturrechtlich nach dem Motto argumentiert: nach dem Schöpfungsbericht gibt es nur Mann und Frau, aber was ein Mensch von seinem biologischen Geschlecht von Anfang an ist, das bleibt er auch egal was medizinisch und psychisch an Veränderungsprozessen geschieht, weil allein das genotypische Geschlecht rechtserheblich ist, begründet sich zumindest diese Ablehnung der geschlechtsangleichenden Maßnahmen, die transsexuelle Menschen an ihrem Körper vornehmen, die dann - wenn man so argumentiert - nichts anderes als Selbstverstümmlung sind, während man sich bei Intersexualität geradezu wunderbar auf das biologische Phänomen berufen kann, dem dann eben eine andere Bedeutung zukommt. "Vielleicht ist die Norm falsch und nicht die Menschen" Florin: Wobei das auch nicht so sicher ist, wie gemeinhin angenommen wird. Ein zentrales Argument ist um etwas zu verändern immer die Leidminderung. Wer leidet eigentlich unter der konventionellen Geschlechterzuordnung? Schreiber: Mal pointiert gesagt: Nicht intersexuelle Menschen oder auch transsexuelle Menschen sind das Problem, sondern die Gesellschaft. Und für deren menschenwürdige Verfasstheit tragen Christen gleich welcher Konfession im Namen Gottes Verantwortung. Und dann müssen wir uns schlicht fragen, ob angesichts der Vielgestaltigkeit von Geschlecht nicht jeder Versuch von Normierung von Geschlecht erstmal fraglich erscheint. Ob nicht Geschlecht etwas ist, was nicht nur innerhalb oder außerhalb einer bestimmten Norm wie der Zweigeschlechtlichkeit oder Heteronormativität sich befindet, sondern ob Geschlecht nicht vielmehr außer Norm ist. Also pointiert formuliert muss man sich doch fragen: Wenn so viele Menschen einer bestimmten Norm nicht entsprechen, dann ist vielleicht die Norm falsch und nicht die Menschen. Florin: Nun haben sich populistische Bewegungen den Kampf gegen Gender auf die Fahnen geschrieben. Es heißt immer "Genderwahnsinn" oder "Gender-Gaga". Woher kommt dieses Reizklima gerade bei diesem Thema? Schreiber: Ich glaube es ist diese Verunsicherung. Verunsicherung, die - wie ich schon sagte - dann, weil man vor etwas gestellt wird, was nicht der Erwartung entspricht, den Rückgriff auf scheinbar Selbstverständliches dann provoziert. Dass man sich zurücksehnt nach einer guten alten Zeit. In meinen Seminaren, den Sexualethikseminaren an der Universität Darmstadt, mache ich dann auch gerne eine Fragerunde. Ich frage: Wenn wir von der guten alten Zeit der Ehe und Familie sprechen, wann glauben Sie wurde zum Beispiel die Vergewaltigung einer Frau in der Ehe für strafbar erklärt? Dann kommen Antworten wie: "Ja, das muss ja im 19. Jahrhundert passiert sein oder spätestens in der Nachkriegszeit". Wenn ich dann sage, dass es erst zum 1. Juli 1997 erfolgte, vor gerade einmal 20 Jahren, dann relativiert sich auch wieder die Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Bei Gender ist die Frage, was darunter alles subsummiert wird, was dem unterstellt wird. Wichtig ist zu sagen: Es ist keine Ideologie, sondern eher eine Analysekategorie. Diese biologischen Geschlechterdifferenzen sollen ja nicht aufgehoben werden. Man fragt sich nur: Sind sie hinreichend als Legitimation dafür, gesellschaftliche Unterschiede zwischen Geschlechtern zu akzeptieren, die zu Ausgrenzung und Benachteiligung führen. Also nicht diese Geschlechterdifferenzen sollen hier abgeschafft werden, sondern die Bedingungen, die die Anerkennung von Vielfalt, aber auch von Verschiedenheit verhindern. Und deswegen ist es wichtig diesen Begriff hochzuhalten. Florin: Herr Schreiber, vielen Dank. Mit dem Theologen Gerhard Schreiber von der Uni Darmstadt habe ich über Geschlecht gesprochen und warum wir vielleicht eines Tages nicht mehr darüber sprechen müssen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerhard Schreiber im Gespräch mit Christiane Florin
"Ehe für alle", "drittes Geschlecht", Gender - das waren Erregerthemen 2017. Warum dieses Reizklima? Der Theologe Gerhard Schreiber sagt: "Wir müssen Geschlecht thematisieren, damit wir Diskriminierungen aufdecken und beseitigen können." Auch das christliche Menschenbild enthalte Diskriminierendes.
"2017-12-29T09:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:52.718000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/homo-und-intersexualitaet-in-der-theologie-das-problem-ist-100.html
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Virologin: "Man muss in den Prozess der Risiko-Nutzen-Abwägung gehen"
Eine Durchmischung von Gruppen müsse man bei der Wiederöffnung von Schulen und Kitas vermeiden, um Infektionsketten nachverfolgen zu können, sagte Ulrike Protzer im Dlf (picture alliance/Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa) Vertreter von vier medizinischen Fachgesellschaften fordern in einem Appell an die Politik, Kindertagesstätten und Schulen zeitnah wieder uneingeschränkt zu öffnen. Auch Ulrike Protzer unterstützt diese Forderung. Sie ist Virologin und Direktorin des Instituts für Virologie an der TU München und am Helmholtz-Zentrum in München. Ulrich Blumenthal: Frau Professor Protzer, wie bewerten Sie die Forderung der Fachgesellschaften? Ulrike Protzer: Ich denke, dass man einen Plan erarbeitet, wie man alles genau wieder öffnen möchte, ist absolut sinnvoll. Und diesen Plan sollte man natürlich jetzt möglichst rasch vorantreiben in Abstimmung mit den lokalen Gesundheitsämtern. In Abstimmung mit Hygienespezialisten kann man, glaube ich, Regeln finden, wie man auch die Kinder wieder in die Schule bringen kann. Man darf aber auch nicht vergessen, dass natürlich Kinder schon infektiös sind, Infektionsquellen sein können, und man muss sich des Risikos bewusst sein – deswegen eben einfach sehr gezielte und gut überlegte Maßnahmen treffen. Aber ich glaube, damit muss man jetzt anfangen. Schule in Coronazeiten - Wie es nach den Sommerferien weitergehen sollIrgendwie wird es mit der Schule nach den Sommerferien weitergehen, nur wie? Die Eltern sind verunsichert und wollen Klarheit. Blumenthal: Wer muss sich des Risikos bewusst sein – die Kindertagesstätten, die Erzieher, die Eltern, auch für die Kinder Verantwortung tragen, es ist ja nicht nur eine einfache Risikoabwägung. Protzer: Absolut. Ich meine, das Erkrankungsrisiko für die Kinder selber ist gering, das wissen wir. Wir haben zwar gehört von den Fällen, diese Kawasaki-Syndrom-ähnliche Hyperinflammation, die kann auftreten, aber man muss sagen, sie ist selten. Sie ist nicht null, das heißt, des Risikos muss man sich bewusst sein, aber sie ist selten, und das ist sicherlich ein vertretbares Risiko. Das Risiko, was höher ist, ist, wenn die Kinder in den Schulen sich eine Infektion einfangen, dass sie die nach Hause tragen und dann vielleicht zu Hause weitergeben an entweder Familienmitglieder, die Vorerkrankungen haben, oder auch an ihre Großeltern. Da müssen jetzt einfach alle zusammenarbeiten. Da müssen die Eltern daheim mitarbeiten, müssen sich überlegen, besteht denn da bei uns überhaupt ein Risiko, und wenn ja, wie kann ich dieses Risiko denn minimieren. Dann müssen natürlich auch die Schulen mitarbeiten und müssen sich überlegen, wie kann ich denn möglichst konkrete Gruppen zusammen lassen, sodass, wenn es zu einer Infektion kommt, man möglichst genau weiß, mit wem hatte ein Kind denn Kontakt, an wen könnte es denn die Infektion übertragen haben. Ich glaube, das sind Punkte, die muss man sich jetzt einfach sehr gut überlegen. Übertragung von COVID-19 - Welche Rolle spielen Schulen als Infektionsherde?Die Abschlussjahrgänge dürfen teilweise schon seit einigen Wochen wieder die Schule besuchen. Unklar ist noch, wie sich Schulöffnungen auf das Infektionsgeschehen auswirken. Ein Überblick. Protzer: Ansteckungsrisiko für und durch Kinder abwägen Blumenthal: Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" gesagt, wenn sich wirklich bewahrheiten sollte, dass Kinder eine geringere Infektions- und Ansteckungsrate hätten, könne man anders über die Rückkehr zum vollständigen Regelbetrieb diskutieren, und sie hat aber auch gesagt, es braucht Studien. Also so ganz klar ist sozusagen die Risikobewertung für die Übertragung bei Kindern, mit Kindern, Ansteckungsmöglichkeiten in Kitas und Schulen doch nicht. Protzer: Ich glaube, da gehen zwei Sachen durcheinander. Das eine ist das Ansteckungsrisiko für Kinder und das Risiko, dass Kinder andere anstecken. Wir wissen von allen Virusinfektionen, dass Kinder sich natürlich genauso anstecken können wie Erwachsene, und man weiß es auch aus den ersten Untersuchungen zu COVID-19, dass Kinder auch die Infektion übertragen können. Die beiden deutschen Studien, die wir bisher haben – sowohl die Studie in Heinsberg als auch die Untersuchungen von Herr Drosten –, bestätigen das, und wir haben auch selber Untersuchungen gemacht und sehen natürlich, dass Kinder auch infektiös sein können. Das würde man erwarten. Aber der zweite Punkt ist ja, werden die Kinder selber krank. Da muss man sagen, das Risiko von den Kindern, an der Infektion zu erkranken, das ist relativ gering. Viele machen das einfach asymptomatisch durch oder mit ganz, ganz wenig Symptomen, sodass man es kaum merkt, und schwere Fälle sind bei Kindern wirklich extrem selten, aber ansteckend sind die Kinder trotzdem. Deswegen eben der Punkt, man muss halt aufpassen, an wen sie es eben dann auch zu Hause übertragen können. Fahrplan für Wiederaufnahme des Schulbetriebs Blumenthal: Nun ist immer wieder die Rede davon, dass die Kindertageseinrichtungen und Schulen sozusagen eine schrittweise Öffnung machen. Was versteht man denn eigentlich unter einer schrittweisen Öffnung? Protzer: Wenn ich das recht sehe, dann ist damit gemeint, dass man in den Schulen zumindest zunächst bestimmte Jahrgänge in die Schule zurückbringt. Das hat man ja schon begonnen mit den Abschlussklassen für die verschiedenen Schulabschlüsse – sei es Hauptschulabschluss, Realschulabschluss oder dann natürlich auch Abitur – und dann peu à peu die anderen Klassen zurückbringt. Wichtig war es sicherlich auch, die Kinder, die jetzt nach der Grundschule den Übertritt in die weiterführende Schule machen wollen, wieder zurück in die Schulen zu bringen, weil das ist ja auch eine wichtige Phase im Leben. Von da ab muss man dann weiterentscheiden, wie geht man vor. Da spielen natürlich viele Dinge eine Rolle. Da spielt die räumliche Möglichkeit in der Schule eine Rolle, da spielt eine Rolle, wie stark sind denn die Eltern durch die Betreuung zu Hause belastet, und das ist bei kleineren Kindern natürlich stärker der Fall, als wenn die Kinder jetzt schon 14 oder 15 sind und sich dann doch ganz gut auch mal ein paar Stunden selber zu Hause beschäftigen können. Ich glaube, solche Überlegungen spielen da auch mit hinein. Da einen klaren Fahrplan zu erarbeiten, das ist auch die Forderung, die die Fachgesellschaften haben, und diese Forderung ist sicherlich berechtigt. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Protzer: Vermeiden, "dass sich Gruppen untereinander mischen" Blumenthal: Wenn man sich die aktuellen Schutz- und Vorsorgemaßnahmen in der Öffentlichkeit anschaut und dann in der Stellungnahme liest, Voraussetzung für die Rückkehr zum Regelbetrieb sei eine gute Hygieneausstattung, Abstandsregelungen, kontinuierliches Testen des Personals, feste Unterrichts- und Spielgruppen sowie Unterrichtszeiten in den Nachmittag hinein – können Sie sich vorstellen, dass das alles so detailliert und genau umgesetzt wird? Protzer: Nein, ich glaube, auch da muss man eine Priorisierung machen. Das Wichtige ist sicherlich, dass man zunächst mal Grundregeln für die Hygiene definiert, dass man Grundvoraussetzungen schafft, um Abstand halten zu können, also beispielsweise nicht alle gleichzeitig aus der Schule schickt, nicht alle gleichzeitig in die Pause schickt, sondern vielleicht in Fünf- oder Zehn-Minuten-Abständen. Man kann so Einbahnregelungen durch die Gebäude definieren – auf der einen Seite geht man rein, auf der anderen Seite geht man raus, und man kann in den meisten Klassenzimmern ja auch dafür sorgen, dass die Kinder schon einen gewissen Abstand haben. Wichtig ist es sicherlich, dass man vermeidet, dass sich Gruppen untereinander mischen, weil dann ist es schwierig, Infektionsketten wieder nachzuvollziehen. Aber in festen Klassengruppen, die immer wieder zusammen sind – und so ist es ja in den allermeisten Jahrgängen der Fall –, da weiß man ja auch ganz genau, wer war denn mit wem zusammen und wo könnte denn überhaupt eine Übertragung stattgefunden haben. Das ist schon eine Situation, die sich, glaube ich, beherrschen lässt und die sich auch nachvollziehen lässt. Blumenthal: Insofern ist für Sie dann der Appell der vier Fachgesellschaften an die Politik und die Gesellschaft, die Kindertagesstätten und Schulen zeitnah wieder uneingeschränkt zu öffnen, berechtigt – und die Kritik unberechtigt? Protzer: Ich glaube, dass die Bitte der Fachgesellschaften, sich über diese Öffnung konsequent Gedanken zu machen und diese Konzepte voranzutreiben, die ist absolut berechtigt. Ob das nachher heißt, man kann uneingeschränkt alles wieder aufmachen, das muss die Risikoabwägung letztendlich ergeben. Es kann auch sein, dass man in einzelnen Bereichen sagt, okay, da ist jetzt das Risiko zu hoch, da kann man es nicht machen. Nehmen Sie mal eine Gruppe von behinderten Kindern zum Beispiel, wo vielleicht einige dabei sind, die Voroperationen an der Lunge oder am Herzen haben, wo man sagt, für diese Kinder ist aber jetzt das Risiko zu hoch. Da könnte es durchaus sein, dass man sagt, man will jetzt nicht ganz breit öffnen, aber ich glaube, man muss in den Prozess der Risiko-Nutzen-Abwägung gehen und in den Prozess gehen, wo man eben entscheidet, das und das sind die Maßnahmen, die man treffen kann, um hier unter vernünftiger Wahrung des Abstandes unter möglichst Einhaltung/und möglichst der Einhaltung der Hygieneregeln eine möglichst breite Öffnung voranzutreiben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ulrich Blumenthal im Gespräch mit Ulrike Protzer
Die Virologin Ulrike Protzer hält eine Wiederöffnung von Kitas und Schulen trotz Coronakrise für sinnvoll. Die Pandemie sei immer noch da, sagte sie im Dlf, aber unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln sei eine breite Öffnung von Kitas und Schulen denkbar. Es brauche aber einen klaren Fahrplan.
"2020-05-22T16:35:00+02:00"
"2020-05-23T09:15:23.363000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wiederoeffnung-von-kitas-und-schulen-virologin-man-muss-in-100.html
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"Erst ab Windstärke acht ein Versicherungsfall"
Wie hier im bayerischen Weilheim hat Sturmtief "Niklas" Schäden angerichtet. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel) Ursula Mense: Einer der stärksten Stürme zieht zurzeit über Deutschland hinweg. Der Wetterdienst gab Unwetterwarnungen für große Teile Deutschlands heraus, denn der Sturm hat bereits Bäume entwurzelt und schwere Schäden verursacht. Die Versicherungen stellen sich schon darauf ein, dass sie zahlen müssen. Fragt sich allerdings, wofür und in welchen Fällen Versicherte, sprich die meisten Verbraucher Ansprüche haben. Darüber habe ich kurz vor der Sendung mit Michael Bruns von der Stiftung Warentest gesprochen und ihn zunächst gefragt, ab wann Versicherungen bei Sturmschäden überhaupt zahlen. Michael Bruns: Auch wenn es noch so sehr weht und sich die Äste biegen, für die Versicherer ist ein Sturm erst ab Windstärke acht wirklich ein Sturm, ein Versicherungsfall. Das muss der Kunde nachweisen. In der Praxis ist das aber sehr einfach. Möglich ist, dass zum Beispiel in der Nachbarschaft ähnliche Schäden entstanden sind, oder man ruft einfach bei der Hotline des Deutschen Wetterdienstes an. Die findet man im Internet. Die können einem dann bestätigen, dass in der Gegend, wo man wohnt, tatsächlich mindestens Windstärke acht war. Gebäudeversicherung Mense: Reden wir zunächst mal über das Haus, und da würde ja wohl in erster Linie die Gebäudeversicherung in Anspruch genommen werden können. Was ist denn dadurch alles versichert? Bruns: Die größten Schäden entstehen am Gebäude. Das sind etwa 70 Prozent der Schadenssumme nach Stürmen, die auf die Versicherer zukommen. Das sind in erster Linie abgedeckte Dächer, auch wenn Dachziegel runterfallen und das Dach wieder ausgebessert werden muss, oder wenn Bäume umstürzen, wenn Schornsteine abgeknickt werden, oder wenn das Gartenhaus Schaden nimmt. Das sind die Hauptprobleme dabei. Mense: Und in den Fällen kann man einfach davon ausgehen, dass die Versicherung auch bezahlt? Bruns: Wenn es Windstärke acht war, ist die Versicherung bei Schäden am Gebäude tatsächlich dran. Hausratversicherung Mense: Was ist jetzt mit Dingen, die im Haus kaputt gehen? Bruns: Da ist die Hausratversicherung der Ansprechpartner. Im Haus: Das kann zum Beispiel passieren, wenn der Sturm das Dach abgedeckt hat und es reinregnet und dadurch die Möbel oder auch die Fußböden Schaden nehmen, oder wenn der Sturm ein Fenster eingedrückt hat und dadurch zum Beispiel eine Vase oder ein Spiegel dahinter umkippt und es zu Schäden kommt. Was natürlich nicht versichert ist, wenn jemand das Fenster offen stehen lassen hat, denn dass man bei so einem starken Sturm die Fenster schließt, am besten auch noch die Rollläden runterlässt, das versteht sich von selbst. Mense: Kommen wir mal zu vielleicht etwas schwierigeren Fällen. Was ist denn, wenn der Baum in meinem Garten auf das Nachbarhaus fällt? Haftpflichtversicherung Bruns: Das wäre ein Fall für die Haftpflichtversicherung. Grundsätzlich sind Grundstückseigentümer, Baumbesitzer verpflichtet, den Baum regelmäßig zu kontrollieren, am besten zweimal im Jahr, einmal im belaubten und einmal im unbelaubten Zustand. Da ist nicht jeder gleich ein Forstexperte, man ist Laie, das reicht auch. Man darf auch mit laienhaften Augen draufschauen. Aber wenn man zum Beispiel sieht, dass der Baum morsch ist, oder dass Pilzbefall ist, oder dass es Äste gibt, wo das Laub gar nicht mehr grün wird, sondern braun bleibt, dann ist das klar, dass da irgendwo ein Schaden ist, und dann muss der Baum näher untersucht werden. Denn wenn es solche Probleme gibt, dann kann zum Beispiel vor allen Dingen die Standfestigkeit in Gefahr sein und dann wäre man in der Haftung. Kaskoversicherung Mense: Wie sieht das aus bei Autos? Auch da können Bäume fallen, entweder vorm eigenen Haus, oder auch, wenn man das Auto irgendwo geparkt hat, oder das Auto des Nachbarn zerstört wird. Ist das auch ein Haftpflichtfall? Bruns: In dem Fall kann sich der Autobesitzer zunächst mal an seine Kaskoversicherung wenden, wenn er denn eine hat. Die Teilkasko zahlt in dem Fall. Die Teilkasko hat auch den Vorteil, dass man keine Höherstufung bekommt. Man muss dann nicht im nächsten Jahr einen höheren Beitrag zahlen. Das liegt einfach daran, dass die Teilkasko Schäden versichert, für die der Autofahrer gar nichts kann. Mense: Vielleicht noch ganz kurz zum Schluss. Wie lange habe ich Ansprüche? Ist es wichtig, schnell zu handeln? Bruns: Ganz wichtig ist, dass man schnell der Versicherung Bescheid sagt. Ganz wichtig ist auch, dass man, solange es noch stürmt, den Schaden mindert. Es trifft den Geschädigten eine Schadenminderungspflicht, so nennen das die Versicherer. Man muss dann zum Beispiel das Dach erst mal notdürftig abdecken. Aber man darf nicht die Spuren des Schadens, den Schaden an sich selbst beseitigen, denn der Versicherer schickt ja eventuell einen Sachverständigen, der sich davon überzeugen will, dass tatsächlich ein Schaden vorgelegen hat. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Bruns im Gespräch mit Ursula Mense
Die meisten Schäden durch Sturmtief "Niklas", das über Deutschland gezogen ist, zahlt die Versicherung. Allerdings muss der Versicherte nachweisen, dass mindestens Windstärke acht vorlag, erklärt Michael Bruns von der Stiftung Warentest. Und er muss schnell handeln.
"2015-03-31T17:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:29:30.813000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sturmschaeden-erst-ab-windstaerke-acht-ein-versicherungsfall-100.html
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"Linke und AfD kommen als Koalitionspartner nicht infrage"
Der Bundesvorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) "Das haben wir in der Vergangenheit schon häufig gehabt, dass in unterschiedlichen Bundesländern die gleichen Parteien mit unterschiedlichen Parteien koalieren", sagte Ziemiak. Er wolle keine Koalitionen um jeden Preis, aber man müsse schon versuchen, einen Kompromiss zu finden, wenn man nicht stärkste Partei sei. Koalitionen mit der AfD und der Linken schloss Ziemiak jedoch weiter kategorisch aus. Beide Parteien würden Positionen vertreten, die mit den Grundwerten der Union nicht vereinbar seien. Darum kämen sie als Koalitionspartner "nicht infrage". Aufgeschlossen zeigte sich der Vorsitzende der Jungen Union dagegen gegenüber einem Bündnis mit den Grünen auch auf Bundesebene: "Mein Wunsch wäre eine Koalition mit der FDP, weil es inhaltlich am besten passt, aber auch die Unterschiede zwischen der CSU und den Grünen sind in Verhandlungen zu überwinden." Das Interview in voller Länge: Doris Simon: Was farblich zusammengeht, das bestimmt in der Politik der Wähler, und dementsprechend verändert sich gerade die politische Farbenlehre in Deutschland. Schwarz-Gelb, Rot-Grün, das war mal. Jetzt geht es um Kiwi, um Ampel und Kenia. In Baden-Württemberg verhandelt die CDU mit den Grünen und die Grünen mit der CDU, in Mainz die SPD, die Grünen und die FDP, und in Magdeburg beginnen heute Koalitionsgespräche zwischen CDU, Sozialdemokraten und Grünen. Am Telefon ist jetzt Paul Ziemiak, der Bundesvorsitzende der Jungen Union, guten Morgen! Paul Ziemiak: Guten Morgen, Frau Simon! Simon: Im einen Bundesland mit der einen Partei, im nächsten wieder mit anderen – politische Konstellationen nicht nach inhaltlichen Überschneidungen, sondern danach, was überhaupt geht. Tut Ihnen das eigentlich weh? Ziemiak: Das haben wir in der Vergangenheit schon häufig gehabt, dass in unterschiedlichen Bundesländern die gleichen Parteien mit unterschiedlichen anderen Parteien koalieren. Da geht mehr um Inhalte, kann man genug durchsetzen? Und klar ist aber auch: Wenn man nicht eine absolute Mehrheit in einem Parlament hat, dann muss man sich Partner suchen. Und das gehört eben dazu, wenn man demokratische Wahlen hat. "Am Ende muss immer noch deutlich sein, dass die CDU irgendeine entsprechende Handschrift hat" Simon: Natürlich gab es das in der Vergangenheit, aber so bunt wie heute war es noch nie. Ziemiak: Die Konstellationen haben sich etwas verändert, wenn Sie nach Sachsen-Anhalt schauen, dann ist die Situation besonders schwierig. Die Linke ist zweistellig, hat zwar verloren massiv, dann kommt eine neue Partei mit der AfD, die massiv Stimmen gewonnen hat, und es gibt eben wenig Koalitionsmöglichkeiten, wenn man sagt, man möchte nicht mit der Linken koalieren und man möchte auch nicht mit der AfD koalieren. Und deswegen finde ich es richtig, dass Reiner Haseloff versucht, eine Koalition auf den Weg zu bringen der demokratischen Parteien, also CDU, SPD und dann mit den Grünen zusammen. Das ist glaube ich der richtige Weg. Aber am Ende muss immer noch deutlich sein, dass die CDU irgendeine entsprechende Handschrift hat. "Neuwahlen können nicht immer die Lösung sein" Simon: Was schwierig genug wird, wenn drei zusammen sind. Schauen wir noch mal auf die einzelnen Konstellationen: In Berlin ist die CDU in der Großen Koalition, in Stuttgart gibt es Grün-Schwarz möglicherweise, in Magdeburg jetzt redet man, wie Sie sagten, mit SPD und Grünen und in Mainz heißt es, die Große Koalition sei nicht das Richtige, da müsse man sich als CDU in der Opposition finden. Für den Wähler trotzdem die Frage. Wo bleibt das Profil der CDU? Ziemiak: Ja, das ist ja schon da und das wird ja auch verwirklicht in den Koalitionsverhandlungen. Wenn Sie nach Baden-Württemberg beispielsweise schauen, die Situation ist sehr schwierig dort für die CDU, aber Thomas Strobl managt das ja ausgezeichnet und sagt, wie ich finde, zu Recht: Erst das Land, dann die Partei und dann erst die Personen. Simon: Ja, aber über die Inhalte ist ja noch nicht wirklich substanziell geredet worden. Ziemiak: Ja, man versucht jetzt, eine Koalition hinzubekommen aus einer Verpflichtung für das Land. Neuwahlen können ja nicht immer die Lösung sein. Aber Thomas Strobl sagt auch, ja nicht um jeden Preis. Insofern bin ich zuversichtlich, dass dort eben die CDU eine entsprechende Handschrift im Koalitionsvertrag prägen wird, das ist wichtig. Also Koalition nicht um jeden Preis, aber man muss schon versuchen, einen Kompromiss zu finden. Das gehört dazu eben, wenn man keine absolute Mehrheit hat oder wenn man nicht stärkste Partei ist. "Das ist eben Demokratie" Simon: Aber können Sie verstehen, Herr Ziemiak, dass manche Wähler da Probleme haben mit der Glaubwürdigkeit und sich fragen, welche von den vielen CDU in Koalition, wo ja unterschiedliche Geständnisse gemacht werden müssen, ist noch meine? Ziemiak: Na ja, auf Bundesebene muss man ja trennen zwischen der Bundesebene und eben Landesebene. Da gibt es ja auch unterschiedliche Themen, die eine Rolle gespielt haben. Aber wenn Sie den Wählerwillen betrachten, also noch mal, wenn die Parteien nicht alleine im Parlament vertreten sind, sondern mehrere und es unterschiedliche Konstellationen gibt wie beispielsweise in Baden-Württemberg ... Ein Beispiel: Die Menschen sind sehr unzufrieden gewesen mit der Verkehrspolitik, der Infrastrukturpolitik, der Koalition von SPD und Grünen, deswegen hat auch diese Koalition keine Mehrheit mehr. Aber unbestritten ist Winfried Kretschmann ein sehr geschätzter und beliebter Ministerpräsident. Und all diese Dinge spielen eine Rolle bei Wahlen und deswegen müssen sie auch in Koalitionen sich wiederfinden. Ich kann Ihnen da nur sagen, das ist eben Demokratie. Und ich glaube schon und bin auch zuversichtlich, dass die CDU da die CDU bleibt, weil für uns ja Grundwerte eine Rolle spielen, die wir auch in Koalitionsverhandlungen nicht aufgeben. "Mit den Grundpositionen der CDU nicht zu vereinbaren" Simon: Wo ist denn da, Herr Ziemiak, für Sie die Grenze der Kompromissfähigkeit erreicht bei aller Verantwortung für das Land oder für den Bund? Könnte das zum Beispiel auch am Ende eine Koalition der Union mit der Linken bedeuten, wenn ansonsten vielleicht nur in einer späteren Konstellation die AfD infrage käme? Ziemiak: Nein, auf gar keinen Fall, weil ich gerade von den Grundsätzen gesprochen habe. Die Linke genauso wie die AfD vertreten Positionen, die mit den Grundpositionen, unserer Grundausrichtung nicht zu vereinbaren sind. Wenn man Freiheit beispielsweise sagt, dass sie nur eingeschränkt gilt, wenn es um bestimmte Werte geht, wenn es darum geht, dass wir aus der NATO austreten, wenn es darum geht, dass wir uns außenpolitisch nicht mehr engagieren mit unseren Werten, dann sind das Koalitionspartner, die für uns nicht infrage kommen. Für mich geht es darum, dass man einen Kompromiss finden muss, der tragbar ist, der vereinbar ist mit den Grundsätzen. Nicht um jeden Preis, aber man sollte schon versuchen, es hinzubekommen. Denn das hat ja die CDU immer wieder deutlich gemacht und auch bewiesen, dass wir ein Stabilitätsfaktor sind in einem föderalen Deutschland, und das sollte auch so bleiben. Simon: Das heißt im Zweifel dann, wenn das nicht mehr, was Sie gerade beschreiben, mit Ihren Inhalten vereinbar ist: Neuwahlen? Ziemiak: Wenn es nicht vereinbar ist mit unseren Inhalten, mit unseren Grundausrichtungen, dann muss es hier im Zweifel zu Neuwahlen kommen, wenn keine andere Konstellation möglich ist. "Wir müssen für unsere Politik werben" Simon: Wenn wir noch mal auf Baden-Württemberg schauen, das, was da gerade passiert, das Grün-Schwarze ... Noch ist ja nicht entschieden, ob daraus eine Regierung wird, aber man macht sich auf den Weg. Ist ja auch ein Labor für die Bundestagswahl 2017! Was heißt das im nächsten Bundestagswahlkampf für den Umgang CDU/CSU? Sie vertreten ja als Vorsitzender der JU beide Parteien. Ziemiak: Ja, das heißt erst mal, dass wir für unsere Politik werben müssen. Und ich glaube, trotz mancher Differenzen in der Vergangenheit ist das eine Erfolgsgeschichte, die Union zwischen diesen beiden Parteien, CDU und CSU. Wir müssen dafür werben, dass wir als Erstes möglichst viele Stimmen bekommen. Denn wer CDU und CSU wählt, der wird am Ende im Parlament eben diese Politik mit vielen Abgeordneten sehen, das ist das Allerwichtigste. Und deshalb, glaube ich, sind wir da gut aufgestellt. Das eine ist, erst mal für uns zu werben, und am Ende im zweiten Schritt zu sehen, welche Koalitionen möglich sind. Ich glaube, das haben wir in der Vergangenheit so gehabt und das werden wir auch in Zukunft so haben, das hat uns auch ausgezeichnet, dass wir nicht einfach so lange wählen, bis das Ergebnis passt. Simon: Herr Ziemiak ... Ziemiak: Ich glaube auch, das würde die Menschen nicht verstehen. "Mein Wunsch persönlich wäre natürlich eine Koalition auch mit der FDP" Simon: Nein, das erwarten die bestimmt auch von Ihnen, dass Sie versuchen, möglichst viele Stimmen zu bekommen. Aber ganz im Ernst: Die CSU und die Grünen, da sind ja Welten dazwischen. Wie soll das gehen? Ziemiak: Indem man verhandelt und sich die Ergebnisse anschaut. Die CSU hat immer sehr, sehr gute Ergebnisse eingefahren ... Ich glaube, dass diese Unterschiede auch in einer Koalition überbrückbar sind, ich würde es auch so in der aktuellen Lage nicht ausschließen, dass wir natürlich auch mit den Grünen sprechen nach der nächsten Bundestagswahl. Mein Wunsch persönlich wäre natürlich eine Koalition auch mit der FDP, weil es inhaltlich einfach am besten passt. Aber ich glaube, es ist möglich, und auch diese Unterschiede zwischen der CSU und den Grünen, die sind in einer Koalition zu verhandeln, aber auch zu überwinden. Simon: Paul Ziemiak war das, der Bundesvorsitzende der Jungen Union. Herr Ziemiak, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören! Ziemiak: Ich danke Ihnen, Frau Simon! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Paul Ziemiak im Gespräch mit Doris Simon
In Sachsen-Anhalt verhandelt die CDU ab heute mit SPD und Grünen über eine mögliche Koalition, in Baden-Württemberg wohl mit den Grünen, in Rheinland-Pfalz geht sie wahrscheinlich in die Opposition. Der Junge-Union-Chef Paul Ziemiak sagte im DLF, ein Bündnis mit den Grünen könne er sich auch auf Bundesebene vorstellen - nicht aber eines mit AfD und Linken.
"2016-04-04T07:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:21:56.466000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/junge-union-linke-und-afd-kommen-als-koalitionspartner-100.html
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"Mischung aus Revoluzzertum, Sexyness, Körperlichkeit und auch Coolness"
Manfred Krug in den 1980er-Jahren im Berliner Zoo. (imago/Rolf Hayo) Karin Fischer: Frage an unsere Filmkritikerin Katja Nicodemus: Lakonie und Energie wären vermutlich auch passende Worte für Manfred Krug, oder wie würden Sie ihn charakterisieren? Katja Nicodemus: Ja, das stimmt schon. Aber ich finde, er hatte auch was, was wirklich nur ganz wenige deutsche Schauspieler hatten, nämlich so eine Mischung aus Revoluzertum, Sexiness, Körperlichkeit und auch Coolness. Im Grunde war er so eine Art Marlon Brando der DDR, wenn man ihn sich so anguckt, auch wenn er oft mit nacktem Oberkörper in seinen frühen Rollen zu sehen war. Ich habe mich übrigens immer gefragt, warum mir seine Stimme immer so wohlige Gefühle ausgelöst hat, und dann wurde es mir irgendwann klar, als ich mal gelesen habe. Er hat ja den Samson in der Sesamstraße gesprochen über Jahre hinweg und das war natürlich für mich dann eine absolute Prägung. "Das ist ja wirklich eine absolute Szene der Freiheit" Fischer: Wir müssen "Spur der Steine" besprechen, jenen Film von Frank Beyer, der in der DDR 1966 gleich nach Erscheinen verboten wurde, der berühmteste Verbotsfilm der DEFA. Krug spielt den Zimmermann und Brigadeleiter Hannes Balla. Es geht um, ich sage mal, sozialistische Planwirtschaft und Menschlichkeit. Nicodemus: Ja, das ist irgendwie ganz toll, weil er spielt da ja diesen Proletarier, der sich den Regeln der Planwirtschaft widersetzt, aber einfach auch nur, weil ihm das gegen den Strich geht, weil er da nicht aufgeht in seinem Enthusiasmus, in seinem Glauben, auch in seiner Integrität. Und da sieht der Krug mit seinen Zimmermannsklamotten, mit diesem breitkrempigen Hut aus wie ein Cowboy, wie so ein Westerner, und die DDR, die wirkt wie eine Pionierlandschaft, und er verkörpert diesen Mann, der mit einsamer Integrität das Gesetz dieser aufrechten Männlichkeit auch verkörpert, aber er hat auch eine unglaubliche Anarchie. Es gibt da ja diese irre Szene, wenn die Zimmerleute nackt in so einen Pool springen mit ihren breitkrempigen Hüten. Das ist ja wirklich eine absolute Szene der Freiheit. Und man merkte auch damals schon, dass dieses Gefühl, was Krug da verkörpert, irgendwie echt war. Er hat auch in der DDR eine Lehre als Stahlschmelzer gemacht und dann hat er auf der Stirn diese Narbe von einem Spritzer Stahl. Im Grunde war das schon so ein proletarisches Brandzeichen eigentlich. Fischer: Das war ja auch Teil des Erfolgs dieses Films. Manfred Krug ist vielleicht nicht, Katja Nicodemus, als politische Figur eigens zu würdigen, andererseits hat das Deutsch-Deutsche sein Leben doch sehr geprägt, und er hat all diese Fährnisse mit einer enormen Glaubwürdigkeit beantwortet. Nicodemus: Er war vielleicht nicht in einem so expliziten intellektuellen Sinne politisch, aber er war, glaube ich, noch auf eine ganz viel mutigere Art politisch. Es musste ihm ja auch bewusst sein, was es bedeutet hat, den Protest auch gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann zu unterzeichnen. Er hat ja daraufhin auch ein Teil-Berufsverbot bekommen, ist dann 1977 aus der DDR in die BRD ausgereist. Aber er hat sich da auch nie als Opfer stilisiert. Im Gegenteil. Im Grunde hat er auch im Gespräch, in Interviews immer wieder die Idee der DDR gegen ihre engstirnigen Funktionäre versucht, zu verteidigen. Es ging ja dann weiter mit diesem instinktiven politischen Mut. In der Bundesrepublik hat er ja zum Beispiel Werbung für die Telekom und ihren Börsengang gemacht und als die Aktien dann in den Keller gingen, dann hat er sich dafür auch in einem Interview entschuldigt und er wurde dann von der Telekom dafür rausgeworfen. Er hat sich als Buchautor sogar mit Amazon angelegt und er hat sich mit der "Bild"-Zeitung angelegt. Er hat sie bis zum Schluss eigentlich immer in der Öffentlichkeit als "Blöd"-Zeitung bezeichnet, und das muss man erst mal bringen als Schauspieler, der ja auch auf eine gewisse Popularität angewiesen ist. "Rolle eines Volksschauspielers" Fischer: Manfred Krug war so vieles. Er war auch Sänger und Chansonnier, der einige Jazzplatten veröffentlicht hat. Er hat in der DDR jahrelang im Musical "Porgy and Bess" auf der Bühne gestanden, er war Bestseller-Autor, er war Tatort-Kommissar und spielte – das war nachweislich seine Lieblingsrolle – einen LKW-Fahrer, der durch die Welt tourt. Bodenständigkeit und Abenteuerlust schienen, bei ihm kein Widerspruch zu sein. Was ist für Sie, Frau Nicodemus, die Rolle seines Lebens? Nicodemus: Ich würde schon einerseits sagen die Kinorollen, die frühen Kinorollen in der DDR. Die waren natürlich toll. Aber ich habe auch das Gefühl, dass eigentlich bei Manne Krug alle seine Rollen auf eine Art zusammenfließen zu etwas, was eigentlich im Deutschland der Nachkriegszeit kaum existiert hat, nämlich zu der Rolle eines Volksschauspielers, der wirklich quer durch alle Bevölkerungsschichten gemocht, gefeiert und vor allem geliebt wird. Ich fand ja, dass der Regisseur Egon Günther das mal toll gesagt hat. Der hat gesagt, er hat von der schauspielerischen Redlichkeit Krugs gesprochen, dass es diesen ganzen Firlefanz von Selbstbefindlichkeiten bei ihm nicht gab, und das haben wirklich nur ganz große Schauspieler von der Liga von Jean Gabin. Dieser uneitle Minimalismus, der letztlich in allen Rollen, in all seinen Kunstformen zusammengeflossen ist, sogar in der Telekom-Werbung. Und ich finde, diese unerschütterliche, man kann das nennen, Herz- und Instinktmischung, dass die zu einer einzigen Rollenperson zusammengeflossen ist. Und es ist ja auch kein Zufall, dass der Volksmund ihn dann so zärtlich als Manne Krug bezeichnet hat. Fischer: Herzlichen Dank. - Katja Nicodemus war das mit einer Würdigung des Schauspielers Manfred Krug, der bereits am vergangenen Freitag im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katja Nicodemus im Gespräch mit Karin Fischer
Manfred Krug sei eine Art Marlon Brando der DDR gewesen, findet DLF-Filmkritikerin Katja Nicodemus. Auch wie ein Volksschauspieler, den quer durch alle Bevölkerungsschichten alle gemocht, gefeiert und vor allem geliebt hätten.
"2016-10-27T17:35:00+02:00"
"2020-01-29T19:01:35.981000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zum-tod-von-manfred-krug-mischung-aus-revoluzzertum-100.html
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"Ort der Rückkehr" in Dresden eingeweiht
"Wir haben diesen buddhistischen Friedhof hier in Dresden geschaffen, heißt für uns, wir sind jetzt endlich angekommen." (dpa / picture alliance / Arno Burgi) "Wir stehen jetzt hier im Zentrum der Anlage vor der zentralen Figur. Insgesamt haben wir eine Ikonographie aus der buddhistischen Symbollehre versammelt mit einem Gewicht von circa. 23 bis 24 Tonnen. Wir haben fünf Figuren, plus zwei Eingangssäulen, die bekrönt werden von unserem universalen Zeichen, das Dharma, beziehungsweise das Lebensrad mit den acht Speichen", so Geo-Fried Dinglinger vom Vietnamesisch-Buddhistischen-Kulturzentrum Sachsen, mit Sitz in Dresden. Das Lebensrad, auf sanskrit "dharma Chakra", findet sich auch auf der achtfach durch Wege geteilten Rasenfläche wieder. An den vier Ecken stehen Bodhisattvas. Diese Inkarnationen Buddhas versinnbildlichen die sogenannte vier "Edlen Wahrheiten", das Zentrum der buddhistischen Lehre. An den Eingangssäulen aus poliertem Granit steht in verschiedenen Sprachen "Ort der Rückkehr". "Ort der Rückkehr hat eine ganz tiefe Bedeutung. In der buddhistischen Lehre gehen wir davon aus, dass Leben unendlich ist und vor allen Dingen und auch menschliches Leben wieder kehren kann. Das hängt mit der Karma-Lehre zusammen, also wer wie wann als was wieder geboren wird." Die quadratische Anlage befindet sich auf einem bisher unberührten Areal des größten Städtischen Friedhofs am Dresdner Stadtrand. Hier wurde vor drei Jahren auch ein Muslimisches Gräberfeld angelegt. "Die Richtung, die wir vertreten, die durch die vietnamesische Community vertreten wird, gehört der großen Richtung des Mahayana-Buddhismus an", erklärt Dinglinger, der selbst viele Jahre in Vietnam gelebt hat. Weil der Ahnenkult in dieser Glaubensrichtung eine so große Rolle spiele, sei es für die buddhistische Gemeinde wichtiger gewesen, das Gräberfeld anzulegen als eine Pagode zu bauen. "Weil der Respekt vor den Toten, vor den Vorfahren, die hier liegen werden, so wichtig war." Über zwei Stunden dauert die Weihezeremonie, durchgeführt von buddhistischen Mönchen und Nonnen in orangebraunen Gewändern. Sie sind aus Vietnam, Prag und Warschau angereist. Der Duft von Räucherstäbchen zieht über den noch jungen Rasen. Auf Tischen liegen Opfergaben, wie Obst, Gemüse, Kekse, Chips, Tofu, Reis, Salz und Zigaretten. Die ersten Gebete gelten dem zehn Tonnen schweren Buddha mit dem Räucheraltar. "Das war vorher nur eine Figur aus Stein. Und während der Zeremonie haben unsere Mönche die Seele in diese Steinfigur eingeführt. So glauben wir. Das heißt, ab jetzt leben unser Buddha und unsere Bodhisattvas auch hier. Außerdem, die Zeremonie hat auch sehr lange gedauert, weil wir haben gemeinsam für alle Seelen gebetet, die irgendwo hier herum existieren", erklärt An Thien, die Vereinsvorsitzende. Mit bürgerlichem Namen heißt sie Nguyen Thi Luong. Die 52jährige hat in der Sowjetunion Literatur studiert. Ihr Mann promovierte in Dresden. Ihre Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Zu Hause werde vietnamesisch, in der Öffentlichkeit deutsch gesprochen, erzählt die Geschäftsfrau. "Wir haben jetzt hier eine Firma und ich lebe hier sehr glücklich mit meinen Kindern. Zwei Söhne." Alleine in Sachsen leben rund 8.000 Vietnamesen. Mehr als 80 Prozent bekennen sich nach Angaben des Vereins zum Buddhismus. Das sei nicht immer so gewesen, sagt An Thien, schließlich stammen die Meisten aus Nordvietnam. Wie in allen sozialistischen Staaten galt Religion auch in dem südostasiatischen Land als etwas Rückständiges. Doch je mehr sich die Vietnamesen hierzulande etabliert hätten, desto mehr würden sie wieder ihre Traditionen pflegen. "Wir haben diesen buddhistischen Friedhof hier in Dresden geschaffen, heißt für uns, wir sind jetzt endlich angekommen." Und so fühlt sich beispielsweise die 20 Jahre alte Studentin Jenny Nuen nicht nur als Vietnamesin sondern auch als Deutsche. Als deutsch-vietnamesische Buddhistin, ergänzt sie. "Weil wir ja hier aufgewachsen sind, ist es auch unsere zweite Heimat sozusagen. Also mein Vater ist als Gastarbeiter her gekommen und meine Mutter als Asylbewerberin. Ja, man ist mit diesem Buddhistischen aufgewachsen, das ist in der Familie so drin. Meine Kinder werden später auch buddhistisch – ja." Bisher wurden die meisten Verstorbenen nach Vietnam geflogen. Wer das nicht bezahlen konnte, musste die Toten Angehörigen auf kommunalen oder auch auf christlichen Friedhöfen in Deutschland beisetzen lassen. Das spiegle die unsichere Situation der früheren Gastarbeiter und deren Familien wider, so An Thien. "Weil, damals haben wir uns auch noch nicht so sehr in diese Gesellschaft integriert und wir haben immer gedacht, wir fliegen irgendwann für immer nach Vietnam. Aber, diese Zeit ist jetzt fast vorbei. Man sagt, wo die Seele von Familienangehörigen beerdigt wurde, dann bleiben die Kinder von der Familie auch ewig da." Für Gunnar Ganzthorn, Sprecher des Rates der Deutschen Buddhistischen Union mit Sitz in München, gehört der Buddhismus zu Deutschland. Dafür ist das von der Stadt Dresden mitfinanzierte Gräberfeld ein sichtbares Zeichen. Immerhin seien die bestens integrierten Vietnamesen eine der größten Minderheiten im Land. "Wo wir wirklich sehen können, der Buddhismus ist aufgenommen, nach wie vor haben wir keinen rechtlichen Status, der vergleichbar wäre mit den christlichen Kirchen. Und ich denke, das ist auch ein wichtiger Schritt für die Integration. In den 2. Generationen beobachten wir das, die eben wirklich sehr zu Hause sind auch in unserer deutschen Kultur – wo wir nicht mehr darüber reden müssen, ob es Vietnamesen sind oder waren, sondern wo es einfach deutsche Mitbürger sind."
Von Wolfram Nagel
In Deutschland leben etwa 125.000 Buddhisten. Die meisten sind Vietnamesen. Sie kamen in den 1970er-Jahren als "Boatpeople" in die DDR und lebten lange in Unsicherheit. Die meisten wollen nicht zurück. Das bekräftigten sie am Wochenende mit der Einweihung eines buddhistischen Gräberfeldes in Dresden.
"2015-09-30T09:35:00+02:00"
"2020-01-30T13:02:01.214000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buddhistischer-friedhof-ort-der-rueckkehr-in-dresden-100.html
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Tag der Entscheidung in Frankreich
Zweite Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich. Hier ein Wahllokal in Lille. (picture alliance / 1/MAXPPP/dpa) Marine Le Pen tritt zum zweiten Mal an. 2012 war sie unterlegen. Jetzt ist sie in der entscheidenden Runde. Im ersten Wahlgang, im April, hatte die Chefin des Front National mehr als sieben Millionen Franzosen überzeugen können, ein Rekordergebnis für die extreme Rechte. "Der Moment ist gekommen. Vorwärts. Richtung Sieg. Es lebe das französische Volk, es lebe die Republik, es lebe Frankreich." Für Emmanuel Macron ist es der erste Anlauf. Der Newcomer liegt in den Meinungsumfragen vorne, mit 39 Jahren wäre er der jüngste Staatspräsident Frankreichs und der erste, der es mit einer Bewegung ins Amt geschafft hätte, die gerade erst ein Jahr geworden ist – "En marche!" "Ja, meine Freunde, wir müssen gewinnen, denn es geht um die Zukunft unseres Landes", rief der gemäßigte Kandidat seinen Anhängern auf den letzten Metern des Wahlkampfs in Südfrankreich zu. Eine Gruppe von Macron-Anhängern wirbt um letzte Stimmen An der Metrostation Muette, im wohlhabenden 16. Stadtteil von Paris, wirbt eine Gruppe von Macron-Anhängern um letzte Stimmen. Es ist Freitagabend, in wenigen Stunden wird es verboten sein, auf Wählerfang zu gehen - das französische Gesetz sieht das so vor. Noch ahnen die Wahlkämpfer Macrons nicht, dass das Material, das vor einigen Wochen von den Computern der Wahlkampfzentrale gestohlen wurde, kurz vor Mitternacht verbreitet werden wird – vermengt mit Halbwahrheiten und falschen Behauptungen. Noch scheint die Sonne, eifrig werden Handzettel verteilt, vorne der ernst, aber freundlich dreinschauende Emmanuel Macron, hinten Programm und Absichten. "Die Franzosen haben gesehen, dass die Dinge mit den traditionellen Parteien nicht vorangehen", sagt Boris, der für Emmanuel Macron Werbung macht. "In Deutschland habt ihr mit Frau Merkel und Schröder die nötigen Reformen gemacht, ihr hattet den Mut, ich glaube mit Macron können wir diese Reformen anstoßen." Boris ist optimistisch für den heutigen Wahltag. Aber natürlich ist nichts entschieden, "c’est pas encore fait …" Die große Unbekannte ist auch diesmal die Wahlbeteiligung Ein junger Mann kommt aus dem Metro-Schacht, "Nein", Wahlwerbung für Macron will er nicht, er wählt Marine Le Pen, bittet höflich um Verständnis und zieht weiter. Das TV-Duell am Mittwoch zuvor habe Marine Le Pen nicht geschadet, sagen ihre Anhänger, und die Kandidatin selbst, die aggressiv und streckenweise uniformiert aufgetreten war, argumentierte bis zum letzten Tag des Wahlkampfs: "Ich habe genau das getan, was das französische Volk von mir erwartete." Rund 47 Millionen Franzosen sind zur Wahl aufgerufen. Die letzten der Wahllokale schließen am Abend um 20 Uhr. Gewonnen hat, wer die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann. Die große Unbekannte ist auch diesmal die Wahlbeteiligung. Viele Anhänger der äußersten Linken hatten, die auf rund 20 Prozent der Stimmen gekommen war im ersten Durchgang, hatten, nachdem ihr Kandidat Mélénchon unterlegen war, angegeben, sie würden entweder gar nicht wählen oder sich der Stimme enthalten. Die Tatsache, dass in Frankreich mit dem ersten Wahlgang die traditionellen Regierungsparteien abgewählt worden waren, diese Tatsache machte sich auch in den Wahlbüros heute bemerkbar – die Kommunen hatten Schwierigkeiten Beisitzer und ehrenamtliche Kräfte zu finden – bislang hatten hier vor allem Konservative und Sozialisten angepackt. Der scheidende Staatspräsident, Francois Hollande, hat für den Abend sein Kabinett in den Élysée-Palast eingeladen, im Salon Murat wurde eigens in Bildschirm installiert. Bis spätestens 14. Mai muss der Sozialist die Schlüssel des Élysée-Palastes an seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin übergeben haben.
Von Ursula Welter
In Frankreich stehen an diesem Sonntag zwei vermeintliche Außenseiter zur Wahl als Staatsoberhaupt: Eine Rechtspopulistin tritt an gegen einen früheren Banker. Die große Unbekannte ist auch diesmal die Wahlbeteiligung. Viele Franzosen würden wohl am liebsten zu Hause bleiben. Ein Stimmungsbild.
"2017-05-07T13:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:40.743000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auf-den-strassen-von-paris-tag-der-entscheidung-in-100.html
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"Wir können das Morden nicht beenden, indem wir selbst morden"
Oskar Lafontaine, Linken-Fraktionsvorsitzender im saarländischen Landtag (Imago) Die Mehrheit für den Einsatz der Bundeswehr ist so gut wie sicher, der Einsatz von sechs Tornados und einer Fregatte dürfte im Bundestag heute beschlossen werden. Der Linksfraktionschef im Saarland, Oskar Lafontaine, ist gegen den Einsatz. "Ich bleibe bei der Position, die die deutsche Sozialdemokratie über viele Jahren vertreten hat: Krieg ist kein Mittel der Politik. Wir können das Morden nicht beenden, indem wir selbst täglich morden", sagte Lafontaine. Er forderte andere Maßnahmen. Der erste Schritt müsse sein, keine Waffen mehr in die Region zu liefern. Ein Krieg töte nicht nur Islamisten, sondern auch viele, die mit dem Krieg nichts zu tun haben und sich radikalisieren könnten. "Dann gibt es Verwandte, die sich rächen wollen. Das ist verantwortungslos, Irrsinn." Es gebe die Möglichkeit, sich nicht nur mit Bomben zu wehren. "Man muss den IS finanziell austrocknen", sagte Lafontaine, "denn dann ist er nicht mehr in der Lage, seine Kämpfer zu bezahlen." Der Ölhandel, der Schmuggel, aber auch die Finanzierung aus der Türkei und aus den Golfstaaten müssten gestoppt werden. "Unsere Verbündeten finanzieren den Terror, das weiß jeder." "Der größte Terrorist sind die USA" Den USA warf er vor, den IS mit aufgebaut zu haben. Terror definiere sich nach deutschen Gesetzen über "die rechtswidrige Anwendung von Gewalt, um politische Ziele durchzusetzen". Daraus folgerte er mit Verweis auf die Kriege der USA: "Der größte Terrorist sind die Vereinigten Staaten." Schon US-Präsident Dwight D. Eisenhower habe darauf hingewiesen, dass der militärisch-industrielle Komplex in den USA sehr wichtig geworden sei. Heute sei der Kriegshaushalt der USA der größte der Welt. "Eine Clique muss Krieg führen, um Gewinne einzustreichen", beklagte Lafontaine. Das Interview in kompletter Länge: Dirk Müller: Die Mehrheit ist sicher, so gut wie sicher, denn die Abgeordneten der Koalitionsfraktion stehen mit wenigen Ausnahmen hinter der Entscheidung der Regierung: Deutsche Hilfe im Kampf gegen den IS in Syrien. 1.200 Soldaten, sechs Tornado-Aufklärungsflugzeuge und eine Fregatte. Das alles, um die internationale Koalition zu unterstützen. Luftschläge gegen die Islamisten in Syrien, gegen die Terrororganisation, die Hunderttausende Menschen bedroht, die Menschen versklavt, drangsaliert, foltert, verstümmelt, tötet, gegen die Organisation, die den Terror auch nach Europa, auch nach Afrika gebracht hat. Scharfer Kritiker internationaler Militäreinsätze ist nach wie vor Oskar Lafontaine, ehemals Bundesfinanzminister und SPD-Chef, Ministerpräsident, seit vielen Jahren bei der Linkspartei. Guten Morgen, nach Saarbrücken. Oskar Lafontaine: Guten Morgen, Herr Müller. Müller: Herr Lafontaine, kann ein Krieg auch einmal gerechtfertigt sein? Lafontaine: Ich bleibe bei der Position, die die deutsche Sozialdemokratie seit vielen Jahren vertreten hat, heute nicht mehr, leider nicht mehr. Krieg ist kein Mittel der Politik. So stand es in den Grundsatzprogrammen. Oder ich bleibe bei der Nobelpreisrede Willy Brandts: Krieg ist heute die höchste Form der Unvernunft. Dieser Krieg, der dort geführt wird, tötet ja nicht nur Islamisten, wie das immer so schön heißt, sondern er tötet Menschen, die mit dem Krieg gar nichts zu tun haben, viele Menschen, Frauen und Kinder darunter, und wenn diese Menschen umgebracht werden, dann gibt es immer Verwandte, die sich jetzt nach der Kultur dieser Länder verpflichtet fühlen, ihre Verwandten zu rächen und zu Terroristen werden. Dieser Krieg ist verantwortungslos, ein einziger Irrsinn. "Wir müssen uns endlich an unsere eigenen Gesetze halten" Müller: Wenn der Staat in welchen Fällen auch immer keinen Krieg führen kann, ist er wehrlos. Stimmt dieser Satz? Lafontaine: Ich weiß nicht, ob man sich nur mit Bomben wehren kann. Beispielsweise werden ja auch wirtschaftliche Beziehungen geknüpft, um Frieden zu stiften, aber sie werden ja jetzt auch eingesetzt, Stichwort Sanktionen, um sich zu wehren. Der Begriff auch des Wehrens reicht ja nicht. Aber wenn wir schon über Begriffe diskutieren, will ich Sie mit einem Sachverhalt konfrontieren, der entscheidend ist. Wenn wir über Terrorismus sprechen, müssen wir wissen, was Terror ist. Das steht sogar im deutschen Gesetzbuch. Dort steht, Terror ist die rechtswidrige Anwendung von Gewalt, um politische Ziele durchzusetzen. Und wenn wir jetzt nachdenken und unsere Zuhörerinnen und Zuhörer da mitmachen, ist es dann so, dass viele, die dort Krieg führen, Terroristen sind. Der größte Terrorist sind die Vereinigten Staaten von Amerika, weil sie rechtswidrig Gewalt anwenden, um politische Ziele durchzusetzen, Stichwort Irak-Krieg. Müller: Und da sind wir jetzt dabei? Lafontaine: Da sind wir jetzt dabei, so ist es, denn es gibt ja auch keine UNO-Resolution für diese Maßnahmen. Aber letztendlich ist es eben so: Wir müssen uns endlich mal an unsere eigenen Gesetze halten. Aber es ist nun verblüffend, dass die Terroristen, die dort tätig sind, natürlich in keiner deutschen Anti-Terror-Datei auftauchen, weil wir eben diese doppelte Moral haben und keine klaren Begriffe haben von dem, worüber wir reden. Müller: Reden wir, Herr Lafontaine, über Moral und Realpolitik zur gleichen Zeit. Kann sich die internationale Koalition, Allianz, wie immer sie sich nennen mag, gegen den Terror in Syrien leisten zu warten, bis wir recht bekommen? Lafontaine: Sie kann es sich nicht leisten zu warten. Sie sollte schleunigst etwas tun. Das erste, was sie tun müsste - auch dies zeigt ja die Schizophrenie der Weltpolitik derzeit -, wäre, keine Waffen mehr in dieses Pulverfass zu liefern. Es ist nun mal so: Der IS hat keine Waffenfabrik und die Waffen, mit denen er kämpft, die sind alle restlos von denen, die jetzt gegen ihn kämpfen. Auch hier zeigt sich der Wahnwitz dieser Politik. Müller: Aber wenn dieser Fehler passiert ist, könnte man, muss man ihn hinterher korrigieren? Lafontaine: Man muss ihn korrigieren, und das wäre auch möglich, wenn man es denn wollte. Und da muss man nicht Bomben werfen und unschuldige Menschen umbringen. Das scheint das einzige Mittel noch zu sein, das international in den Köpfen spukt. Da muss man einmal anfangen, den IS finanziell auszutrocknen. Das wäre möglich. Das sagen alle internationalen Experten, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Und wenn man ihn finanziell ausgetrocknet hat und den Ölhandel unterbindet, den Schmuggel unterbindet, wenn man die Türkei anders angeht und sagt, wir spielen nicht mehr mit, wenn ihr so tut, als seid ihr dabei, den Terrorismus zu bekämpfen, dabei fördert ihr ihn, genauso wie die USA ja den Terrorismus fördern - sie hat den IS ja nach eigenen Berichten der Dienste mit aufgebaut -, solange das gemacht wird, solange denken die nicht daran, den IS finanziell auszutrocknen.Aber es geht nicht nur um die Türkei; es geht ja auch um die Golf-Staaten, die dort auch, weil Sie von Folter und Verstümmelung sprechen, verstümmeln, foltern, die Menschen enthaupten und so, die unsere Verbündeten dort sind. Diese Staaten finanzieren den Terror, das weiß jeder. Aber die offizielle Staatengemeinschaft meint, sie könne darüber hinwegsehen. Wenn man den IS finanziell austrocknet, dann wird er nicht mehr in der Lage sein, seine Kämpfer zu bezahlen. "Wir müssen die Doppelmoral ablegen" Müller: Das sagen viele Experten. Das bestreiten ja auch die westlichen Politiker nicht. Die Frage ist, wie lange dauert das. Bis dahin sterben noch Tausende, Zehntausende Menschen, ist jedenfalls die Befürchtung. Aber wenn wir das Ganze Rad noch einmal zurückdrehen? Sie sagen, komplexe Situation, die Nahost-Staaten werden zum Teil politisch unterstützt, es gibt wirtschaftliche Kooperation, Saudi-Arabien seit vielen, vielen Jahren ja im Zentrum der Kritik. Aber gehört das zur Realpolitik, letztendlich gegen den größten Übeltäter vorzugehen und die kleineren und mittelgroßen zunächst mal mit ins Boot zu holen? Lafontaine: Sehen Sie, der größte Übeltäter, das ist auch jetzt in Ihrer Frage ein Urteil. Ich habe gestern zufällig ein Interview mit einem der renommiertesten Intellektuellen der Welt gesehen, Noam Chomsky. Der sagt, die Vereinigten Staaten von Amerika sind der größte Übeltäter. Und Sie dürfen nicht vergessen: Ich bin aufgewachsen etwa mit dem Vietnam-Krieg. Da sind drei Millionen Menschen ums Leben gekommen. Wenn wir über diese Dinge sprechen, müssen wir die Doppelmoral ablegen. Aber wir können das Morden nicht beenden, indem wir selber jeden Tag morden. Wir heißt in diesem Fall die sogenannte westliche Wertegemeinschaft. Müller: Einer, der sich das auch nicht so einfach macht mit Militärinterventionen, ist der Grünen-Politiker und frühere Außenminister Joschka Fischer. Er hat über NTV Stellung genommen. Wir hören mal rein: Joschka Fischer: "Es wird da keine kurzfristige Lösung geben. Es ist nicht so: Man zieht da in den Krieg und dann ist die Sache erledigt. Man hat ja gesehen, dass die Tötung von Osama Bin Laden mitnichten zu einem Ende des Terrorismus geführt hat. Letztendlich geht es hier um eine radikale Idee und Ideologie, und deren Ausbreitung zu verhindern, dazu bedarf es auch eines militärischen Elements, aber es ist im Wesentlichen eine politische und gesellschaftliche Herausforderung." "Wir befürworten diplomatische Lösungen" Müller: Joschka Fischer gestern gegenüber RTL und NTV.Eine Analyse, wo er sagt, kurzfristig muss es auch diese militärische Option geben. Sehen Sie gar keinen Spielraum dafür? Lafontaine: Wir dürfen diese Logik in der Welt nicht immer weiterführen. Joschka Fischer war ja lange Zeit jemand, der diese Logik nicht vertreten hat. Er hat sie ja erst vertreten im Jugoslawien-Krieg, wo er ja dann auch mit der unmöglichen Formulierung "nie wieder Auschwitz" dieses Bombardieren gerechtfertigt hat.Wir müssen aus dieser Logik heraus. Es ist nun einmal so: Wer mordet, darf sich nicht wundern, dass diejenigen, die das Morden überleben, die ihre Verwandten rächen wollen, ebenfalls zu Mördern werden. Das ist diese Logik, die wir durchbrechen müssen. Deshalb setzen wir und befürworten wir diplomatische Lösungen. Die diplomatischen Lösungen sind diejenigen, die keine Folgewirkungen dieser Art haben, wie wir sie jetzt in unserem Gespräch schon mehrfach angesprochen haben. Müller: Was sagen Sie denn den Menschen vor Ort, die Hilfe erwarten, bei den Yeziden beispielsweise, die Peschmerga-Kämpfer, die interveniert haben, die Menschen befreit haben? Lafontaine: Das Hauptargument der Kriegsbefürworter ist immer, wir dürfen doch die Menschen nicht in ihrem Elend zurücklassen. Das Merkwürdige ist, dass die Kriegsbefürworter ihr Herz, ihr warmes Herz immer nur entdecken, wenn Bomben geworfen werden können. Wir lassen aber Millionen Menschen verhungern, ohne dass ein Finger gerührt wird. Auch dieses Argument trifft hier überhaupt nicht zu. Wir könnten dort unendlich viel helfen und die beste Hilfe für alle Menschen wäre, diesen Krieg sofort zu beenden. Nehmen Sie mal die Stadt Rakka. Meinen Sie, wir würden den Menschen dort helfen, wenn wir jetzt auch noch Bomben werfen? Da leben 200.000 Menschen, die Stadt ist ziemlich zerstört, die Bombenabwürfe der letzten Zeit haben Krankenhäuser und Schulen zertrümmert. Diese Bilder werden ja in den westlichen Fernsehanstalten oft überhaupt nicht gezeigt. "Wir müssen dieses jahrzehntelange Morden versuchen abzustellen" Müller: Aber was Sie sagen, würde ja Jahrzehnte dauern, wenn das umgesetzt werden würde. Lafontaine: Leider dauern die Kriege, von denen wir sprechen - ich habe vorhin den Vietnam-Krieg erwähnt, das ist ja ein jahrzehntelanges Morden. Da haben Sie völlig recht. Und wir müssen dieses jahrzehntelange Morden versuchen abzustellen. Müller: Aber Sie bleiben immer noch dabei: Größter Übeltäter, sagen Sie, haben Sie eben ja auch gesagt, sind die Amerikaner. Können die Amerikaner eigentlich irgendwann auch mal etwas richtig machen? Lafontaine: Selbstverständlich! Alle Menschen können etwas richtig machen. Aber diese Warnungen, dass die Politik der Vereinigten Staaten falsch ist, die kommt ja nicht nur von Noam Chomsky. Schon Eisenhower, ein Präsident in früheren Jahren, hat darauf hingewiesen, dass der militärisch-industrielle Komplex in den Vereinigten Staaten so mächtig geworden ist, dass er die Politik bestimmt, und dass man aufpassen muss, dass dieser militärisch-industrielle Komplex sich durchsetzt, und das ist ja in vollem Umfang geschehen. Der Kriegshaushalt, der bei uns immer Verteidigungshaushalt genannt wird - lächerlicherweise, wie ich sagen muss -, der Kriegshaushalt der Vereinigten Staaten ist der größte der Welt, mit riesigem Abstand der größte der Welt, und gerade ist ein Buch eines Ihrer Kollegen, James Risen - der ist mehrfacher Pulitzer-Preisträger -, erschienen mit dem Titel "Krieg um jeden Preis", wo er darauf hinweist, dass eine Clique, die davon profitiert in den Vereinigten Staaten, Kriege führen muss, um große Gewinne einzustreichen und Geld zu verdienen.Denn Sie müssen sich mal eine Frage immer wieder stellen: Würden die normalen Menschen, wenn ich hier vor die Tür gehe in dem Dorf, in dem ich wohne, würden die jemals Krieg beschließen oder sagen, wir müssen da oder dort ... Müller: Aber sie würden sich vielleicht verteidigen, wehren wollen, wie auch immer. Lafontaine: Genau, da haben Sie recht. Verteidigungskriege sind zulässig. Das ist ja auch internationales Recht. Aber wir wollen doch nicht sagen, dass die Vereinigten Staaten in der ganzen Welt Bomben werfen, weil sie sich verteidigen. "Dieses perverse Denken muss endlich aufgebrochen werden" Müller: Sie sind also nicht in allen Fällen Pazifist? Lafontaine: Ich habe das in einer ganzen Reihe von Interviews immer wieder gesagt, dass ich Verteidigungskriege bejahe. Wenn Deutschland angegriffen würde, dann besteht das Recht der Verteidigung. Aber von diesem Denken ist man ja längst weg.Heute meint man, wir verteidigen Deutschland am Hindukusch, jetzt in Syrien, demnächst in Mali. Wir verteidigen Deutschland in der ganzen Welt und dieses, wenn Sie so wollen, perverse Denken muss endlich wieder aufgebrochen werden. Müller: Heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk Oskar Lafontaine. Danke, dass Sie Zeit für uns gefunden haben. Lafontaine: Bitte sehr. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Oskar Lafontaine im Gespräch mit Dirk Müller
Oskar Lafontaine hat dem Westen eine verlogene Haltung im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat vorgeworfen. "Die Waffen des IS stammen restlos von denen, die jetzt gegen ihn kämpfen", sagte der Linken-Politiker im Deutschlandfunk.
"2015-12-04T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T13:12:24.767000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oskar-lafontaine-zum-syrien-einsatz-wir-koennen-das-morden-100.html
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