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Die Neuausrichtung des Forschungsriesen
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. in Braunschweig (dpa/ Holger Hollemann) Ralf Krauter: Beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat man dieser Tage weitgehend unbemerkt einen Coup gelandet. Vergangene Woche präsentierte die Leitung dieses Forschungsriesen mit 8.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von rund 900 Millionen Euro in Berlin das Strategiepapier 'DLR 2030'. Und da steht nicht nur drin, wie man das DLR fit für die Zukunft machen will, sondern auch, dass dazu sieben neue Forschungsinstitute gegründet werden, für die der Bund jährlich zusätzlich 42 Millionen Euro locker macht. Weil das keine Peanuts sind, sondern Entscheidungen, die die Forschungslandschaft über Jahre prägen werden, haben wir das zum Anlass genommen, mal nachzufragen, welche neuen Akzente da nun gesetzt werden sollen. Klaus Hamacher, stellvertretender Vorsitzender des DLR-Vorstandes, hatte heute vormittag Zeit, mir das zu erklären. "Kernkompetenzen stärken und Synergiepotenzial ausnutzen", das ist das erklärte Ziel der DLR-Strategie 2030. Ich habe Klaus Hamacher gefragt, was das konkret bedeutet. Klaus Hamacher: Das hat zwei Aspekte. Zum einen wollen wir in den angestammten Forschungsbereichen, Luftfahrt, Raumfahrt, Energie und Verkehr natürlich, die Kräfte noch stärker bündeln auf die Ziele in diesen Forschungsprogrammen. Darüber hinaus wollen wir aber auch die Kompetenzen, die in den verschiedenen Bereichen im DLR vorhanden sind, stärker zusammenbringen, um neue Themenstellungen aufzugreifen. Da ist das Thema Digitalisierung, der Querschnittsbereich Digitalisierung ein ganz wesentlicher Aspekt in dieser Neuausrichtung. Potenziale durch Digitalisierung integrieren Krauter: Da soll sozusagen der digitalen Transformation Rechnung getragen werden, da sollen Dinge erforscht und entwickelt werden, die helfen, die zu beschleunigen. Warum fängt das DLR denn damit erst jetzt an, weil dass die digitale Revolution stattfindet, das wissen wir ja schon seit zehn Jahren. Hamacher: Es erweckt den Eindruck, als würden wir erst jetzt mit dem Thema anfangen. Tatsächlich sind wir in den Forschungsbereichen, in der Luftfahrt, in der Raumfahrt schon länger unterwegs, die Potenziale, die durch Digitalisierung entstehen, entstanden sind, in unsere Forschungsthemen zu integrieren. Das Thema virtuelles Flugzeug, virtuelles Produkt in der Luftfahrt ist ein Ansatz, der wird schon seit vielen Jahren verfolgt. In im Grunde allen Forschungsinstituten im DLR gibt es neben den experimentellen Einheiten, die zum Beispiel Strömungsuntersuchungen an Flugzeugen machen, immer auch einen Bereich, der sich mit numerischer Simulation beschäftigt, also eben gerade mit dem Thema virtuelle Ansätze, mit dem Thema, welche Potenziale hat die Digitalisierung dann eben auch für die Entwicklung von Technologien und Produkten. Zusammenbringen von Kompetenzen Krauter: Das heißt, das wurde schon länger gemacht, aber jetzt wird das institutionell in neue Formen gegossen eigentlich. Hamacher: Genau. Das ist richtig. Das ist der Ansatz, dass wir das eben auch strukturell jetzt noch stärker adressieren, dass wir einen Querschnittsbereich Digitalisierung im DLR etablieren, über den dann auch Ressourcen gesteuert werden für die einzelnen Projekte, die dann unterhalb dieses Querschnittsbereichs definiert sind. Ich nenne nur das Thema Global Connectivity oder Cyber-Sicherheit. Das sind auch Themen, wo das, was ich am Anfang angesprochen habe, nämlich das Zusammenbringen von Kompetenzen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen des DLR eine große Rolle spielt. Sieben neue Institute Krauter: Das soll auch richtig physisch passieren. Es werden nämlich, wurden schon, neue Institute gegründet, sieben an der Zahl. Das von Ihnen schon erwähnte wird in Dresden aufgemacht. Institut für Softwaremethoden zur Produktvirtualisierung. Da geht es um das virtuelle Flugzeug, das Sie eben schon angesprochen haben. Was genau soll an den sechs anderen neuen Instituten gemacht werden, die Sie schon aufgemacht haben Ende letzten Jahres? Hamacher: Wir haben ein neues Institut in Bremerhaven, das wird sich noch stärker mit dem schon bestehenden Forschungsschwerpunkt maritime Sicherheit befassen. Es gibt Aktivitäten zur maritimen Sicherheit schon an verschiedenen Instituten des DLR. Aber in Bremerhaven haben wir jetzt einfach mit der Gründung eines neuen Instituts die Chance, das Thema noch mal stärker zu adressieren. Auch hier gilt, dass natürlich Kompetenzen aus anderen Instituten, aus Raumfahrtinstituten zum Beispiel in diese neue Entwicklung eingebracht werden. In Oldenburg haben wir ein bestehendes Institut übernommen, Next Energy, das sehr stark das Thema Energiesysteme adressiert, und zwar auf der technologischen Seite. Das ist für das DLR insofern neu, als wir in der Vergangenheit sehr stark natürlich Einzeltechnologien erforscht und entwickelt haben, hier aber gerade der systemische Ansatz dann nochmal mit dazu kommt. Da geht es jetzt auch nicht um Systemstudien. Das macht das DLR schon lange, also zum Beispiel welche gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen, technologischen Randbedingungen zu beachten sind, wenn wir 2050 die Energieversorgung in Deutschland nur noch auf Basis von erneuerbaren Energien zum Beispiel als politisches Ziel haben, sondern da geht es wirklich um technologische Systeme, die da stärker vorangetrieben werden. Und das ist einfach eine Ergänzung des Portfolios von Einzeltechnologien hin zu Gesamtbetrachtungen. Dann gibt es in Hamburg zwei neue Institute, die sich zum einen mit Wartung und Instandhaltung von Luftfahrzeugen befassen, und ein Institut, das sich mit Luftfahrtsystemen auch eher auf der Ebene von Einzelsystemen wie Bordelektronik zum Beispiel befasst. Und in Augsburg wird es ein Institut geben, dass sich mit Triebwerkskomponenten und -technologien befasst. Auch hier Elemente, die wir bisher in der Form nicht gehabt haben. Und auch Augsburg wird sehr stark zum Thema Virtualisierung beitragen, weil hier im Grunde das Thema virtuelles Triebwerk im Gesamtsystem des virtuellen Flugzeugs dann entwickelt werden soll. Last but not least ein Institut in Jena, das sich mit dem Thema große Datenmenge, Analyse, Auswertung, neue Algorithmen et cetera beschäftigen soll. Technologie in Produkte und Dienstleistungen überführen Krauter: Das DLR will ja, auch das ist ein erklärtes Ziel dieser Strategie DLR 2030, als Innovationstreiber wirken. Erklärtes Ziel ist, den Technologietransfer in die Wirtschaft zu stärken, zum Beispiel auch, indem man Unternehmensgründungen aus den eigenen Reihen ermutigt. Wie soll das gelingen? Hamacher: Wir haben im DLR schon länger den Anspruch, sehr stark unsere Technologieentwicklungen auch in Produkte und Dienstleistungen zu überführen, aber in einer Forschungseinrichtung muss man schon sehen, dass man das nur bis zu einem bestimmten Punkt vorantreibt und irgendwann dann eben die Wirtschaft, die Industrie ins Boot geholt werden muss, um dann tatsächlich Produkte zu entwickeln. Das ist nicht Aufgabe des DLR oder von staatlich geförderten Forschungseinrichtungen generell. Und dazu gibt es verschiedene Instrumente, die wir in der Zukunft noch stärker forcieren wollen. Unternehmensgründungen oder -ausgründungen aus dem DLR ist ein Weg, der insbesondere dann zum Zuge kommt, wenn wir für unsere Technologien, für unser Know-how dann am Ende auch keine industriellen Partner finden, die bereit sind, diese Technologien in Produkte umzuwandeln. Da kann es ganz unterschiedliche Gründe dafür geben. Weil die Industrie einfach national oder international für diese Themen nicht aufgestellt ist, sicher auch andere Gründe. Und deswegen ist Ausgründung ein Ansatz. Krauter: Aber nochmal gefragt, mit welchen konkreten Maßnahmen will man denn diese Rolle des Innovationstreibers nun stärker ausfüllen? Mit Industrieunternehmen in einem Boot Hamacher: Das sind noch mehr kooperative Projekte mit industriellen Partnern. Das sind Instrumente wie kooperative Labore, wo wir also mit Industrieunternehmen gemeinsam in Laboren an Technologien forschen. Da findet dann auch ein Stück weit Transfer über Köpfe statt, nämlich durch die Zusammenarbeit zwischen Teams. Das findet statt über die erwähnten Ausgründungen, das wird verstärkt forciert werden dadurch, dass wir insbesondere jenseits der klassischen Forschungsbereiche auch Technologien über Entwicklungsförderung aus dem DLR heraus, in Anwendungsreife oder in Anwendungsnähe bringen. Gerade im Bereich der Robotik ist das ein Thema, wo eben Robotik klassisch im DLR ausgerichtet ist auf die Anforderungen der Raumfahrt, teilweise auch der Luftfahrt. Aber sehr viel an Transfer inzwischen ja insbesondere in den Gesundheitsbereich erfolgt, was zum Beispiel Roboterassistenzsysteme für den Menschen angeht, was robotische Operationssysteme angeht. Da ist das DLR dann auch mit finanziellen Ressourcen dabei, diese Entwicklungen insbesondere am Markt oder produktgetrieben aus den klassischen Anforderungen der Luft- und Raumfahrt heraus in die entsprechende Richtung zu entwickeln. Krauter: Welche Rolle wird das DLR künftig noch als Raumfahrtagentur spielen, die es ja auch ist? Gibt es denn da Tendenzen, vielleicht einige bisherige Aufgaben künftig eher kommerziellen Dienstleistern zu überlassen, die ja gezeigt haben, dass sie das zum Teil auch ganz gut können? Hamacher: Also die Strategie selbst sieht in diesem Kontext keine Änderungen vor. Das Thema New Space auf der Agenda ist auch im nationalen Umfeld, und die stärkere Privatisierung von Raumfahrtaktivitäten, das zielt ja eher in die Richtung der produzierenden Industrie, nicht so sehr in die Funktion des DLR als die Organisation, die Raumfahrttechnologien im staatlichen Interesse fördert. Krauter: Das heißt, da bleibt bis auf Weiteres erstmal alles beim Alten. Hamacher: Davon gehen wir aus. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Hamacher im Gespräch mit Ralf Krauter
Sieben neue Institute und 42 Millionen Euro mehr Etat - das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat sein Strategiepapier 2030 vorgelegt. Besonders die Rolle als Innovationstreiber soll ausgebaut werden. Man wolle "noch mehr kooperative Projekte mit industriellen Partnern" schaffen, sagte DLR-Vorstand Klaus Hamacher im Dlf.
"2017-07-31T14:38:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:38.766000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/strategiepapier-2030-des-dlr-die-neuausrichtung-des-100.html
422
Forschen am LKW der Zukunft
Auf fünf Kilometern zwischen Darmstadt und Frankfurt können hybride LKW Strom zapfen. Das Experiment läuft seit 2019, insgesamt zehn LKW sind auf der Strecke unterwegs. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
Heller, Piotr
Auf der A5 entscheidet sich die Zukunft des LKW-Verkehrs: Dort versorgen im Testbetrieb Oberleitungen hybride LKWs mit Strom. Sollte das Modell Erfolg haben, könnte das den CO2-Ausstoß von LKWs erheblich senken. Ergebnisse stehen noch aus.
"2023-07-04T16:35:50+02:00"
"2023-07-04T16:52:32.588000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tolle-idee-oberleitung-fuer-lkw-dlf-cd5d9c02-100.html
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Wandlungsfähiger Jazz
Lebt mittlerweile in Köln: Die australische Jazzposaunistin Shannon Barnett (Julia Goldsby) Shannon Barnett steht für wandlungsfähigen Jazz, der hin und wieder mit der Tradition flirtet oder mit Geräuschen aus dem Alltag, wie in ihrer Installation "Dead Weight" für Musiker und Fitnessstudio. Aufgewachsen ist die Posaunistin in Südaustralien. Dort spielte sie früh mit Jazzensembles wie The Vampires oder dem Australian Art Orchestra. Bei den Bell Awards wurde sie 2007 als "Young Australian Jazz Artist of the Year" ausgezeichnet. Seitdem tritt Shannon Barnett regelmäßig in den Jazzmetropolen der Welt auf, u.a. mit Musikern wie Charlie Haden, Dee Dee Bridgewater oder Sinéad O’Connor. Ein festes Engagement in der WDR Big Band führte die Musikerin 2014 nach Köln. Dort lehrt sie inzwischen als Professorin an der Hochschule für Musik und Tanz. In diesem Jahr wurde die 38-Jährige mit dem WDR-Jazzpreis in der Kategorie Improvisation ausgezeichnet. Musik-Laufplan Titel: Into temptationLänge: 05:32Interpret: Crowded HouseKomponist: Neil FinnLabel: CapitolBest.-Nr: 748763-2Plattentitel: Temple of Low MenTitel: Elegy for Mippy II für Posaune solo (Elegie für Mippy 2)Länge: 01:42Solist: Christian Lindberg (Posaune)Komponist: Leonard BernsteinLabel: BISBest.-Nr: 318Titel: FreedomLänge: 05:14Interpret: Charles MingusKomponist: Charles MingusLabel: VerveBest.-Nr: 589636-2Plattentitel: Finest hourTitel: Abidi BesenaLänge: 06:05Interpret: Aaron ChoulaiKomponist: Aaron ChoulaiLabel: Sunnyside RecordsBest.-Nr: 08542Plattentitel: We don't dance for no reasonTitel: Gone, without sayingLänge: 05:51Interpret: Gian Slater and InvenioKomponist: Gian SlaterLabel: Listen/Hear CollectionBest.-Nr: LHC 013Plattentitel: Gone, without sayingTitel: The future is the pastLänge: 05:15Interpret: Jackson JacksonKomponisten: Harry James Angus, Jan SkubiszewskiLabel: EMI Music AustraliaBest.-Nr: 0946 387864 2 9Plattentitel: The fire is on the birdTitel: The mythLänge: 04:22Interpret: Nils Wogram & Root 70Komponist: Nils WogramLabel: Intuition RecordsBest.-Nr: INT3397-2Plattentitel: FahrvergnügenTitel: Boo Bee Boo Bee BeeLänge: 02:20Interpret: Andrew d'AngeloKomponist: Andrew d'AngeloLabel: Skirl RecordsBest.-Nr: Skirl 008Plattentitel: Skadra DegisTitel: People don't listen to musicLänge: 04:43Interpret: Shannon Barnett QuartettKomponistin: Shannon BarnettLabel: DOUBLE MOON RECORDSBest.-Nr: 7505768Plattentitel: Hype
null
Ihre Musik sei "feurig bis düster und schrullig humorvoll", sagt Shannon Barnett, die dieses Jahr den WDR-Jazzpreis erhielt. Im Dlf präsentiert die Posaunistin Musik aus Australien, aber auch Klassiker wie die von Charles Mingus.
"2020-07-25T10:05:00+02:00"
"2020-07-02T09:38:32.579000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-jazzposaunistin-shannon-barnett-wandlungsfaehiger-jazz-100.html
424
Das Parlament bleibt bis zuletzt gespalten
Der Bundestag debattiert die Waffenlieferungen, die Bundesregierung hofft auf seine Unterstützung. (Maurizio Gambarini/dpa) Er sitzt nicht im Bundestag, umso mehr scheint er sich darüber zu wundern, dass das Parlament der Bundesregierung relativ kritiklos folgen wird. Eine "lemminghafte Eigendynamik" hatte Ralf Stegner mit Blick auf die Waffenlieferungen in den Irak beklagt. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende hält es für falsch, die kurdischen Peschmerga mit Gewehren und Panzerabwehrraketen auszustatten. "Waffen, die wir heute dorthin liefern, werden morgen gegen unschuldige Menschen eingesetzt. Und Waffenlieferungen bringen in der Regel nichts Gutes. Und wenn die Amerikaner helfen – man muss ja helfen – liegt es auch ein bisschen daran, dass durch den Irak-Krieg gegen Saddam Hussein die Strukturen kaputt gemacht worden sind, die sonst helfen können." So Stegner am Morgen im ZDF. Es spricht für uns, wenn die SPD als Friedenspartei in dieser Frage mit sich ringt, meint er. Von diesem Ringen allerdings ist nicht wirklich viel zu spüren. Immerhin: Aus Sorge vor zu großem Widerspruch waren es die Sozialdemokraten, die darauf gedrängt hatten, den Bundestag über die Waffenlieferungen abstimmen zu lassen. Von Disziplinierung des eigenen Lagers will Fraktionschef Thomas Oppermann nichts wissen, ohnehin ist der Beschluss des Parlamentes nicht bindend. "Es entscheidet nicht der Bundestag. Aber wir wollen deutlich machen, dass wir die Bundesregierung in dieser Entscheidung mit großer Mehrheit unterstützen." Merkel kommt Kritikern entgegen Um diese breite Unterstützung zu erzielen, ist die Kanzlerin den Kritikerin noch einmal entgegengekommen. Die Waffen für die Kurden werden in drei Tranchen geliefert - in der Hoffnung damit besser kontrollieren zu können, was mit dem Kriegsgerät geschieht. Außerdem will die Bundesregierung mit aller Macht verhindern, dass deutsche Soldaten in den Irak geschickt werden müssen. Damit wird eine verbindliche Zustimmung des Bundestages ausgeschlossen. Unionsfraktionschef Volker Kauder ist sicher, dass die kurdischen Kämpfer nicht vor Ort an den deutschen Waffen geschult werden müssen "Die Ausbildung kann ja so erfolgen, dass Ausbilder in Deutschland ausgebildet werden. Das geht ohne Probleme, die Systeme sind relativ einfach. Eine Panzerfaust ist relativ zu bedienen. Ich glaube schon, man das hinkriegen wird." Hans-Peter Bartels, Sozialdemokrat und Chef des Verteidigungsausschusses, macht im Deutschlandfunk klar, dass er kein Problem damit hat, dass die Bundestagsabgeordneten am Nachmittag zwar über die Waffenlieferungen debattieren, den Export aber nicht verhindern können. Entscheidend ist für ihn, dass keine deutschen Soldaten involviert sein werden "Nein! Wenn nicht die Gefahr besteht, in bewaffnete Konflikte, wie es im Parlamentsbeteiligungsgesetz heißt, einbezogen zu werden, dann muss der Bundestag dazu keinen Beschluss fassen." Linke: Der Bundestag muss entscheiden Unklar ist die Haltung der Grünen. Parteichef Czem Özdemir hält die Waffenlieferungen für richtig und ein bindendes Votum des Bundestages für nicht erforderlich. Anders seine Kollegin Simone Peter. "Wir haben immer gesagt: Die Waffenlieferungen in Krisengebiete dürfen von uns nicht unterstützt werden, daran halten wir weiter fest." Katja Kipping, Chefin der Linkspartei, geht weiter. Sie geht trotz aller gegenteiliger Beteuerungen davon aus, dass deutsche Soldaten gebraucht werden, um kurdische Soldaten auch vor Ort einzuweisen. Kipping im ZDF: "Solch eine Frage muss der Bundestag entscheiden. Denn wir liefern ja nicht nur Waffen, da gehen einige Soldaten mit hin, um die Soldaten anzulernen an den Waffen. Insofern handelt es sich meiner Meinung nach schon um einen Bundeswehreinsatz, wenn auch im Kleinen. Und da gilt bei uns der Parlamentsvorbehalt." Um 14 Uhr ist erst einmal Angela Merkel gefragt. Die Kanzlerin will dem Parlament erklären, warum aus ihrem anfänglichen Nein zu Waffenlieferungen in den Nordirak inzwischen ein deutliches Ja geworden ist.
Von Frank Capellan, Hauptstadtstudio
Vor der Debatte zu den Waffenlieferungen an die Kurden zeigt sich der Bundestag weiter uneinig, auch innerhalb der Parteigrenzen. Die Bundesregierung konnte die Kritiker mit ihrem Entgegenkommen nicht überzeugen. Vor allem die Frage, ob deutsche Soldaten in den Irak müssen, bleibt umstritten.
"2014-09-01T12:25:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:35.192000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/waffenlieferungen-in-den-irak-das-parlament-bleibt-bis-100.html
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Wenn die Wissenschaft dem Konsum nachjagt
Einkäufe in Plastiktüten (dpa / picture alliance / Wolfram Steinberg) Anja Reinhardt: "Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben." So stilistisch elegant begann Denis Diderot 1768 einen Essay über seinen neuen Morgenrock, der ihm doch einiges Kopfzerbrechen bereitete. Denn mit dem feinen Hausmantel wurde ihm plötzlich klar, dass seine restliche Kleidung sehr schäbig aussah. Und die Wohnung erst! Alles musste nachgekauft werden, damit es zum Morgenmantel passte. Diesen So genannten Diderot-Effekt kennen Sie vielleicht auch: Neue Hose gekauft – und nichts passt dazu, weswegen man noch mehr kaufen muss. Konsum ist mindestens so alt wie der Kapitalismus – und sein Ruf ist eher schlecht. Warum eigentlich, fragt eine neue Forschungsstelle an der Universität Hildesheim, die den Konsum als Phänomen untersucht, also ganz ohne Ressentiments und mit Blick auf die Möglichkeiten für den Konsumenten. Der Kulturwissenschaftler Dirk Hohnsträter ist der Leiter dieser neuen Forschungsstelle für Konsumkultur, und er hat mir vor der Sendung erklärt, wie die Forschungsziele aussehen. Dirk Hohnsträter: Wir untersuchen den Konsum aus kultureller Perspektive. Das heißt nicht das, was man normalerweise vielleicht unter Konsumforschung versteht, Marktforschung oder ökonomische oder juristische Studien, sondern Konsum aus kultureller Sicht. Das heißt die Kulturgeschichte des Konsums oder die Ästhetik des Konsums. Das ist eine besondere, auch neue Perspektive auf den Konsum. Man guckt sich zum Beispiel die Warenästhetik an. Man nimmt ein Produkt und schaut, als wäre es ein Gedicht oder ein Roman, wie wird das gemacht ästhetisch, mit welchen Strategien werden welche Effekte erzielt, was ist das Objekt aus ästhetischer Sicht. Reinhardt: Das was wir heute unter Konsum verstehen, das ist ja eigentlich eher negativ konnotiert, oder? War das mal anders? Hohnsträter: Ja, das ist eine interessante Frage, und da muss man auch ein bisschen weiter noch zurückgehen als nur ins 20. Jahrhundert. Seit der moderne Konsum oder die moderne Konsumkultur entsteht, ich würde sagen ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts, wird der Konsum kritisiert. Das ist von Anfang an dabei als begleitendes Phänomen. Seit der Konsum da ist, gibt es Stimmen dagegen, oft sehr vehement und durchaus auch erfolgreich. Und das Interessante, finde ich, ist nun, dass das seit langer Zeit so ist und trotzdem der Konsum so erfolgreich ist. Das finde ich ein interessantes Phänomen und darauf einen Blick zu werfen und zu fragen: Wie kommt das eigentlich, dass etwas, was intellektuell, sage ich mal, oder kulturell so eine Ablehnung erfährt, trotzdem so ein Riesenerfolg ist? Da kann man dann unter anderem feststellen, dass der Konsum oder die Welt des Konsums immer sehr flexibel reagiert hat auf Einwände. Dann wird zum Beispiel kritisiert, dass die Produktionsbedingungen nicht fair sind, und dann entstehen Produkte wie zum Beispiel Fair-Trade-Produkte, die darauf reagieren. Und diese Flexibilität scheint mir ein Grund dafür zu sein, dass die Konsumkultur so erfolgreich ist, obwohl sie eigentlich auf so breiter Front zunächst einmal abgelehnt wird. Reinhardt: Sie gehen eigentlich davon aus oder Sie sagen, dass Konsum kreativ sein kann. Das heute eigentlich weit verbreitete Credo, würde ich sagen, ist schon eher 'Konsum ist böse'. Es gibt den Trend des Do-it-yourself, auch durchaus des Konsumverzichts auf bestimmte Dinge. Inwiefern, können Sie vielleicht auch erklären, kann Konsum denn kreativ sein? Konsumenten müssen ein großes Angebot "kuratieren" Hohnsträter: Ja, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Konsumenten finden ein sehr großes Angebot vor und dann müssen die erst mal auswählen. Man könnte jetzt vielleicht etwas hochtrabend sagen, kuratieren. Die stellen sich sozusagen ihre eigene Lebenswelt durch Kaufentscheidungen, durch Konsumprodukte zusammen. Bei der Kleidung ist das ganz offensichtlich, bei der Wohnungseinrichtung, sag mir was Du kaufst und ich sag Dir wer Du bist. Konsum ist ein Selbstausdruck und dazu gehört natürlich eine gewisse Einbildungskraft oder Fantasie, um sein eigenes Leben zu entwerfen und die "richtigen" Konsumentscheidungen dafür zu treffen. Eine andere Möglichkeit, kreativer den Konsum zu betrachten, geschieht darin, dass man schaut, was machen die Konsumenten mit den Produkten, bleiben die eigentlich so, wie sie im Laden waren. Und da stellt man häufig fest: Nein, die werden irgendwie in das eigene Leben integriert, die werden vielleicht umgenutzt, die werden vielleicht angemalt, die werden irgendwie verfremdet, die werden vielleicht auch in kritischer Absicht verfremdet. Da zeigt sich eine kreative Aneignung oder Anverwandlung, sage ich gerne, der Konsumprodukte, die durchaus kreative Elemente hat. Reinhardt: Aber da würde Ihnen wahrscheinlich ein Kapitalismuskritiker vorhalten, das ist doch auch nur eine Strategie des Kapitalismus, den Konsumenten in seinem Handeln aufzuwerten. Aneignung durch Verfremdung und "Mikro-Handlungsmöglichkeiten" Hohnsträter: Ja und nein. Das würde der mir natürlich vorhalten. Zunächst mal beobachte ich ja nur dieses Phänomen. Aber was dann natürlich der berechtigte Punkt an diesem kritischen Einwand meines Erachtens ist, das ist, dass die Produzenten in der Lage sind, diese kreative Aneignung wieder aufzugreifen und wieder zu einem Verkaufsversprechen zu machen. Man sieht das zum Beispiel bei Computern. Da ist dann der Apfel drauf. Dann wird der von meinen Studentinnen und Studenten zum Beispiel mit Aufklebern versehen, um das Markenlogo zu verfremden, und dann sehen Sie von einer Computerfirma ein paar Monate später einen Werbespot, wo die genau diese Verfremdung aufgreift und das als coole Eigenschaft dieser Computer, dass man die so verfremden kann, zeigt. Das ist natürlich so eine ganz interessante Bewegung, wie ein Impuls, der vom Verbraucher oder von den Konsumenten kommt, dann wieder auf Produzentenseite aufgegriffen und absorbiert wird und wieder zu einem Verkaufsversprechen umgemünzt wird. Reinhardt: Im Grunde ist es ein existenzphilosophischer Gedanke, indem wir unsere Abhängigkeit anerkennen und trotzdem eine gewisse Freiheit daraus schöpfen, indem wir selbstbestimmt handeln. Hohnsträter: Ja. Ich denke schon, dass es Konsumenten grundsätzlich möglich ist, selbstbestimmt zu handeln. Es ist ja niemand gezwungen, jetzt außer der elementaren Grundversorgung oder ganz elementaren Gebrauchsgegenständen ist ja praktisch niemand gezwungen, etwas zu kaufen. Aber die Leute tun das und tun das sehr gerne, und ich denke, als Kulturwissenschaftler ist es gut, wenn ich erst mal die Bewertung zurückhalte und mal schaue: Was spielt sich da eigentlich ab? Wenn ich nämlich mit der Haltung herangehe und sage 'Das ist ja klar, die sind ja alle verblendet', dann sehe ich gar nicht mehr, was da vor sich geht. Ich denke, es ist wichtig, erst mal zu gucken: Welche Spielräume gibt es da denn vielleicht? Wo liegt denn vielleicht der Kulturkritiker, der von Anfang an dagegen ist, daneben, weil er vielleicht übersieht, was da an, ich sage mal, Mikro-Handlungsmöglichkeiten auf dem Feld des Konsums vielleicht möglich ist? Das würde ich gerne genau beobachten, bevor ich ein Urteil darüber fälle. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dirk Hohnsträter im Gespräch mit Anja Reinhardt
Warum und wie Menschen konsumieren, wird neuerdings an der Universität Hildesheim untersucht. Der Leiter der Forschungsstelle, Dirk Hohnsträter, bringt das Kaufen mit unserer Kreativität in Verbindung. "Konsum ist Selbstausdruck", sagt er.
"2017-04-01T17:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:21:45.897000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-forschungsstelle-in-hildesheim-wenn-die-wissenschaft-100.html
426
Klaviertrio in Vollendung
Schon mit seiner ersten Trioplatte "Now He Sings, Now He Sobs" von 1968 legte er ein Meisterwerk der Jazzgeschichte vor: Chick Corea (IMAGO / Eastnews) Chick Corea hat als Sideman, Bandleader und Solist fünf Jahrzehnte lang Jazzgeschichte geschrieben. Mit Miles Davis brachte er den Jazzrock auf den Weg. Seine eigene Formation Return To Forever wurde eine der Supergruppen dieses Genres. Aber auch in kammermusikalischen Duos u.a. mit Vibrafonist Gary Burton, als Solist oder in Zusammenarbeit mit klassischen Klangkörpern ist Corea rastlos produktiv und kreativ geblieben. Seine Akoustic Band mit Bassist John Patitucci und Schlagzeuger Dave Weckl war eines der prägenden Klaviertrios im Jazz der letzten drei Dekaden. 2018 gab Corea mit dieser Gruppe ein Konzert im Rahmen des Klavierfestival Ruhr. Chick Corea - PianoJohn Patitucci - KontrabassDave Weckl Schlagzeug Aufnahme vom 8. Juli 2018, Essen Das vollständige Konzert finden Sie hier: Chick Corea Akoustic Band, Klavier-Festival Ruhr in Essen 08.07.2018 (93:11)
Am Mikrofon: Karsten Mützelfeldt
Am 9. Februar 2021 starb Chick Corea im Alter von 79 Jahren. Er war einer der großen Pianisten des Jazz und Wegbereiter des Jazzrock. Aus diesem Anlass wiederholt der Dlf einen Konzertmitschnitt mit seinem Trio vom 8. Juli 2018 beim Klavierfestival Ruhr.
"2021-02-16T21:05:00+01:00"
"2021-02-09T12:04:55.954000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chick-corea-klaviertrio-in-vollendung-100.html
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AStA hat zunehmend Nachwuchsprobleme
An deutschen Hochschulen herrscht politische Eiszeit. Und das bereitet den Studierendenvertretungen großes Kopfzerbrechen. Denn für die Posten im Studentenausschuss finden sich Freiwillige nur mit großer Mühe, sagt Andreas Niegl. Der 24-Jährige ist im AStA-Vorstand der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. "Je nach Referat kann das ziemlich schlimme Auswirkungen für den AStA haben. Bis hin zum Nichtfunktionieren. So etwas Wichtiges, wie zum Beispiel das Finanzreferat. Wenn man da niemanden für findet, und da haben wir auch sehr lange gesucht, ist der AStA in keiner Form befugt etwas zu tun." Dieses frustrierende Bild zeichnet auch eine Befragung der Universität Konstanz: seit der Jahrtausendwende sei die Politisierung der Akademiker auf einem Tiefpunkt angekommen. Besonders schlecht stehe es um das Engagement an den eigenen Hochschulen: dafür interessieren sich nur noch fünf Prozent. Das zeigt sich aber nicht nur bei der schwierigen Personalsuche. "Auch Veranstaltungen, die wir machen, sind leider sehr schlecht besucht. Sei es politische Info-Veranstaltungen, aber auch Kulturveranstaltungen. Das sind ja Möglichkeiten, dass Leute den AStA kennenlernen. Wenn niemand das frequentiert, ist das super schade." Keine Zeit mehr für Fragen Andreas Niegl sieht einen Grund dafür im stark verschulten Studiensystem. Da bleibe oft kaum Zeit für ein politisches Ehrenamt, meint seine Kollegin Anna Tenti, die auch im AStA-Vorstand in Düsseldorf aktiv ist. "Weil man nur seinen Credit-Punkten hinterherläuft und kaum noch lernt, Fragen zu stellen. Aber, dass vielleicht die Bedingungen daran Schuld sind, dass die Strukturierung vom Studium daran Schuld ist, das ist ein Schritt zu dem keiner mehr kommt. Das ist das Problem." Die 23-jährige Philosophiestudentin sieht aber noch eine weitere Hürde: Nicht jeder wisse, was politisches Engagement bedeute. "Politik ist vor allem das: was sind unsere Studienbedingungen, was sind die Zugangsbedingungen, wie können wir uns dafür einsetzen, dass mehr Leute Master-Plätze bekommen. Das ist alles politisch. Und das wird meistens nicht gesehen. Es geht um viel mehr als nur um meine eigene Situation, es geht um die Situation von allen anderen." Viele Studierende wollen vor allem mit guten Noten schnell durchs Studium kommen. Sie engagieren sich meist nur dann, wenn es einen positiven Effekt auf ihren Lebenslauf hat, glaubt Anna Tenti. Das sollte ihnen aber nicht zum Vorwurf gemacht werden. "Mich ärgert, dass die Schuld bei den Studierenden gesucht wird. Das Problem liegt eigentlich an den Studienbedingungen, auch an der Schule und Politik. Denn da, wo nicht gelehrt wird, wie man sich für sich selbst einsetzt, da kann auch keine eigene politische Meinung entstehen. Deshalb ist es für junge Menschen auch nicht erstrebenswert sich politisch zu engagieren." Über soziale Netzwerke mobilisieren Um die Solidarität füreinander zu wecken, wird in Düsseldorf auf den Fluren und in den Seminarräumen für ein Amt im AStA geworben. "Wir versuchen auch, viel über Facebook mit unseren Studierenden zu sprechen. Wir hängen echt sehr viele Plakate auf. Und versuchen mit denen zu sprechen. Wir hoffen, dass es über Mund zu Mund Propaganda vom einen zum nächsten kommt. Dass hier Leute sind, die sich für die studentischen Belange einsetzen." Ob es diesen Einsatz auch in Zukunft weiter geben wird, da ist Anna Tenti nicht sicher. "Weil es wenig Erstsemester gibt, die sich politisch interessieren. Und wenn das so weitergeht, haben wir halt in fünf Jahren kaum noch Leute, die sich hier engagieren wollen und dann ist der AStA hier nur noch halb so groß wie jetzt."
Von Meriem Benslim
Das politische Engagement bei jungen Menschen ist verflogen, das sagt eine repräsentative Befragung. Vor allem die Vertreter der Studierenden bekommen diese Lücke deutlich zu spüren: An vielen Hochschulen hat der AStA große Nachwuchssorgen.
"2014-11-15T14:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:13:49.645000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschulpolitik-asta-hat-zunehmend-nachwuchsprobleme-100.html
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Soziologe Hurrelmann: Jugend im Dauerkrisenmodus
Viele Jugendliche erlebten die Krisenzeiten als existenzbedrohend, sagt Soziologe Klaus Hurrelmann. (picture alliance / dpa / Fabian Sommer)
Armbrüster, Tobias
Die Corona-Pandemie und die sich überlappenden Krisen haben bei Kindern und Jugendlichen erhebliche Spuren hinterlassen, sagt der Soziologe Klaus Hurrelmann. In der Bildung gebe es große Lücken und die soziale Ungleichheit sei gewachsen.
"2023-04-12T06:50:00+02:00"
"2023-04-12T07:13:59.827000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-klaus-hurrelmann-soziologe-bielefeld-zu-verlorene-krisengeneration-dlf-a9dce257-100.html
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Funktionäre Napout und Marin schuldig
Ehemaliger Fifa-Vizepräsident Juan Angel Napout aus Paraguay (dpa / picture alliance / Patrick Seeger) Die beiden Funktionäre wurden unter anderem wegen organisierter Kriminalität, Korruption und Betrug verurteilt. Es handelt sich um den früheren Boss des brasilianischen Fußballverbandes, José María Marín, und den ehemaligen FIFA-Vizepräsidenten Juan Angel Napout aus Paraguay. Schmiergeld in Millionenhöhe angenommen Marín wurde in sechs von sieben Fällen, Napout in drei von fünf Fällen für schuldig befunden. Noch steht das Strafmaß aus, die Richterin ordnete aber sofortige Haft für beide an. Marín soll laut Anklage über 6,5 Millionen, Napout 10,5 Millionen Dollar Schmiergeld angenommen haben. Der dritte Angeklagte, Perus früherer Verbandschef Manuel Burga, wartet unterdessen noch auf das Urteil der Jury. Im Gegensatz zu den beiden anderen wird ihm nicht die Annahme von Bestechungsgeldern vorgeworfen. Burga darf gegen Kaution vorerst auf freiem Fuß bleiben, muss aber am Dienstag wieder erscheinen, wenn die Geschworenen erneut tagen. FIFA sieht sich als Opfer Die FIFA sehe sich als Opfer, betonte der Weltverband in einer Stellungnahme. Man unterstütze daher die "Bemühungen der US-Behörden, jene Personen zur Verantwortung zu ziehen, die ihre Ämter missbraucht und den internationalen Fußball zum eigenen Nutzen korrumpiert haben". Die FIFA wolle "alle notwendigen Schritte" unternehmen, um von den schuldig gesprochenen Angeklagten Entschädigungszahlungen einfordern zu können. Die US-Anklageschrift richtet sich insgesamt gegen 42 Personen, mehrere davon haben sich bereits schuldig bekannt.
Von Moritz Folk
Es ist ein bahnbrechendes Urteil und es unterstreicht die Sicht der US-Justiz auf die FIFA, zumindest vergangener Jahrzehnte: Als Organisation mit mafiösen Strukturen. In Brooklyn sind zwei ehemalige Fußballfunktionäre jetzt verurteilt worden. Die Ermittler stützen sich auch auf ein Gesetz zur Zerschlagung der Mafia, den sogenannten RICO-Act.
"2017-12-23T19:12:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:28.719000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-prozess-funktionaere-napout-und-marin-schuldig-100.html
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Zwischen Sorgfalt und Sanktionen
Wenn es nach den Landesmedienstalten geht, soll der Medienstaatsvertrag auch neue Regeln für YouTube beinhalten. (picture alliance / Britta Pedersen) CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat mit ihrem Wunsch, über Regeln zu "Meinungsmache" im Netz nachzudenken, eine Debatte ausgelöst. Dass die Meinungsfreiheit auch im Internet ein hohes Gut ist, darauf berufen sich so gut wie alle, die sich zu diesem Thema zu Wort meldet. Es gibt allerdings inzwischen auch eine "Ja, aber"-Fraktion: Ja, Meinungsfreiheit ist auch im Netz wichtig, aber es braucht trotzdem zeitgemäßere Regeln, damit zum Beispiel gezielte Falschinformationen im Internet nicht ungestraft verbreitet werden können. Zu dieser "Ja, aber"-Fraktion gehört auch Siegfried Schneider, der Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien: "Weil man unterscheiden muss, ob ich als Privatperson meine Meinung äußere oder ob ich fast professionell auch Meinungen produziere, die einem Millionenpublikum mitgeteilt werden. Und das ist ein Teil medialer Macht, und dazu gehören auch bestimmte Regeln", so Schneider im Gespräch mit @mediasres. YouTuber müssen sich bereits an Regeln halten Als professionell gilt für Schneider, wenn recherchiert, sorgfältig ausgewählt und darauf geachtet werde, dass Fakten stimmten - "dann steckt auch ein bestimmtes journalistisches redaktionelles Arbeiten dahinter, und dann müssen auch bestimmten Ansprüchen genüge geleistet werden." Zwar müssten sich YouTuber schon jetzt an Regeln wie Werbebeschränkungen, Jugendschutz und Sorgfaltspflicht halten, doch gerade die Einhaltung der Sorgfaltspflicht lasse sich bislang nicht durch die Landesmedienanstalten überwachen. "Das ist eine der Forderungen der Landesmedienanstalten - dass dann, wenn die Sorgfaltspflicht nicht eingehalten würde, dies auch sanktioniert werden kann. Dafür müsste der Rundfunkstaatsvertrag geändert werden - diese Forderung liegt seit 2017 von uns auf dem Tisch und wir hoffen, dass das im neuen Medienstaatsvertrag auch angegangen wird." Landesmedienanstalten wollen vorsorgen Ab wie vielen Klicks oder Abonnenten dies dann gelten soll, dazu wollte sich Schneider im Dlf nicht festlegen. Ihm gehe es ganz unabhängig von der Debatte über das Video des YouTubers Rezo darum, Vorsorge zu betreiben. "Wir haben ja eine Debatte über Fake-News und andere Dinge, und wir wollen vorher auch klare Aussagen von der Politik haben, auch Regeln haben, um im Falle, wenn etwas schief ginge, auch eingreifen zu können."
Siegfried Schneider im Gespräch mit Christoph Sterz
Sind neue Regeln für YouTuberinnen und YouTuber nötig, damit gezielte Falschinformationen im Netz nicht ungestraft verbreitet werden können? Der Präsident der Bayerischen Landesmedienanstalt plädiert im Gespräch mit @mediasres dafür - und hofft auf den neuen Medienstaatsvertrag.
"2019-05-29T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:38.608000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regeln-fuer-youtuber-zwischen-sorgfalt-und-sanktionen-100.html
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Ein Finne geht, ein Finne kommt
Verlässt die EU-Kommission nach zehn Jahren: Olli Rehn (AFP PHOTO GEORGES GOBET) Der Nachfolger steht längst fest: auf den Finnen Olli Rehn folgt ein Finne. Der ehemalige Ministerpräsident Jyrki Katainen wird der neue Kommissar für Wirtschafts- und Währungsfragen. Zumindest bis zum Herbst, bis die neue Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat. Olli Rehn sitzt dann längst für die Liberalen als Abgeordneter im Europäischen Parlament. In seiner alten Funktion hatte er sich aber schon letzte Woche in Luxemburg offiziell verabschiedet. Zum letzten Mal nahm da der Finne als EU-Währungskommissar an einem Treffen der Eurogruppe und der 28 EU-Finanzminister teil. Und selbst Eurogruppenchef Jerun Deisselloem, sonst eher nüchtern im Ton, wurde ein bisschen sentimental: "Olli Rehn hat die Hochzeiten der Krise erlebt in der Eurogruppe und in der Eurozone. Er war immer eine Leitfigur und ich habe bei meinen Kollegen eben auch seine Coolness gelobt – das war sehr hilfreich in diesen manchmal doch sehr hysterischen Zeiten der Krise. Also er war immer sehr cool, dafür haben wir ihm gedankt und ihm alles Gute gewünscht für seine neue und wichtigere Funktion als Parlamentarier". Tatsächlich hat die Finanz- und Wirtschaftskrise seine viereinhalbjährige Amtszeit als Wirtschafts- und Währungskommissar entscheidend geprägt. Ob nun die Sparprogramme für Griechenland, Irland, Portugal und Zypern oder auch die Gründung des EU-Rettungsschirms – Rehn war überall maßgeblich beteiligt. Kritik aus den Krisenstaaten Das hat ihm nicht nur Lob eingebracht – er sei mit verantwortlich für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten, lautet nicht zuletzt der Vorwurf der europäischen Sozialdemokraten. Eine Kritik, die er ernst nimmt. Und trotzdem hält Rehn den eingeschlagenen Weg für richtig. Das gilt auch für die Spielregeln, die sich die Euroländer mit dem Wachstums- und Stabilitätspakt selbst gegeben haben und die jetzt gerade auch von den Sozialdemokraten offen in Frage gestellt werden: "In den Hochzeiten der Krise waren damals 24 von 27 Mitgliedsstaaten in einem Defizitverfahren. Jetzt werden es elf von 28 sein. Das bedeutet, der Wachstums- und Stabilitätspakt funktioniert und er liefert." Laut ist er bei seinen Appellen und regelmäßigen Presseauftritten nie geworden. Der Tonfall eher monoton, der Gesichtsausdruck schwermütig, wenn er wieder einmal den zeitlichen Verzug bei den griechischen Reformmaßnahmen monierte. Zum Schluss gab es aber jetzt in Luxemburg selbst für die Journalisten noch ein freundliches Wort. Danke für die Unterstützung und das Verständnis, schließlich habe man die eine oder andere Nacht zusammen überstehen müssen. Um sich dann kurz und bündig zu verabschieden: "Good Night and Good Luck!"
Von Jörg Münchenberg
Seine Amtszeit fiel mit dem Höhepunkt der Euro-Krise zusammen: Mehr als vier Jahre lang war Olli Rehn EU-Wirtschafts- und Währungskommissars. Sein Kurs brachte dem Liberalen nicht nur Lob ein. Nun geht der manchmal etwas hölzern wirkende Finne zurück ins Europaparlament. Sein Amt übernimmt ein Landsmann.
"2014-06-25T17:05:00+02:00"
"2020-01-31T13:49:08.558000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-eu-waehrungskommissar-ein-finne-geht-ein-finne-kommt-100.html
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"Kein Vertrag, aus dem man einfach austritt"
Sollten die USA Sanktionen gegen den Iran verhängen, könnte das dazu führen, dass der Iran seinerseits den Rückzug aus dem Atomabkommen erklären könnte, sagte Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Dlf. (dpa/picture alliance/ ) Tobias Armbrüster: Eine ereignisreiche Woche ist das, die bei der UNO in New York jetzt zu Ende geht. Wir haben verbale Drohungen gehört vom US-Präsidenten, Drohungen gegen Nordkorea und gegen den Iran vor allem. Und die entsprechenden Antworten, erst aus Teheran und dann heute aus Pjöngjang, die haben wir auch mitgekriegt. Als außenstehender Beobachter in Europa denkt man da leicht, was ist da los. Schaukeln sich hier drei Staatenlenker gegenseitig hoch in ihrer Kriegsrhetorik? Und wie viel hat Europa in diesen Konflikten eigentlich noch zu melden? Aufrüstung also im Iran, Beleidigungen aus Nordkorea – wie ernst ist das alles? Das können wir jetzt besprechen mit Oliver Meier. Er ist Experte für Sicherheitsfragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das ist ein Forschungsinstitut, das vor allem Bundestag und Bundesregierung berät. Schönen guten Tag, Herr Meier. Oliver Meier: Schönen guten Tag, Herr Armbrüster. Armbrüster: Herr Meier, bleiben wir zunächst mal beim Iran. Wenn das Regime dort jetzt weiter aufrüstet, gießt der Iran dann nicht einfach nur Öl ins Feuer? Meier: Ja natürlich ist es problematisch, wenn der Iran weiter aufrüstet. Man muss aber sehen, dass im Iran im Gegensatz zu Nordkorea eine lebhafte und auch kontroverse innenpolitische Debatte stattfindet, wie man auf die Politik der USA insbesondere reagiert. Und der iranische Präsident ist auch innenpolitisch unter Druck von den Kritikern des Atomabkommens, hier schärfer zu reagieren. Von daher haben wir eine innenpolitische Dynamik, die zum Teil zumindest die Ankündigungen hier erklärt, wenn sie vielleicht auch nicht diese Ankündigungen entschuldigt und sie trotzdem kontraproduktiv wirken. "Das ist ja kein internationaler Vertrag, aus dem man einfach austritt" Armbrüster: Für wie wahrscheinlich halten Sie denn, dass die USA tatsächlich das Atomprogramm, das Abkommen jetzt tatsächlich aufkündigen? Meier: Aufkündigen ist der falsche Ausdruck in diesem Zusammenhang, denn das ist ja kein internationaler Vertrag, aus dem man einfach austritt. Wahrscheinlicher erscheint ein Szenario, bei dem die USA versuchen, auf einem sanften Weg oder mit einer Strategie der tausend Nadelstiche dieses Abkommen langsam zu Fall zu bringen. Der Präsident könnte Mitte Oktober die Sanktionen nicht wiederverhängen, aber die Aufhebung der Sanktionen nicht verlängern. Da könnte der Kongress zwei Monate lang beraten darüber, welche Schritte unternommen werden, sodass hier so eine Art Grauzone entsteht, politisch auch, die dazu führen könnte, dass der Iran dann seinerseits den Rückzug erklärt. Armbrüster: Und das Ganze wäre tatsächlich kein Bruch irgendeines unterzeichneten Vertragstextes? Meier: Nein. Das Atomabkommen selber ist kein Vertrag. Den hat auch niemand unterschrieben. Aber er ist Teil einer Sicherheitsratsresolution, die dann kurz nach dem Abkommen verabschiedet worden ist. Von daher hat es schon eine Rechtswirksamkeit. Und sicherlich wäre eine Wiederverhängung der Sanktionen, die explizit versprochen werden, ein Bruch des Abkommens. Aber die Frage wäre, wie der Iran darauf reagiert. Ist das für ihn dann Anlass, seinerseits zum Beispiel die Atominspektionen, die stattfinden, zurückzufahren. Und die andere Frage ist, wie reagieren die anderen Teilnehmer dieses Abkommens, dieser Vereinbarung und insbesondere die Europäer. "Amerikanische Sekundärsanktionen treffen auch europäische Unternehmen" Armbrüster: Darüber müssen wir sprechen. Was würde das denn für Europäer bedeuten, über den Gesichtsverlust hinaus? Meier: Die Frage, die im Raum steht, ist aus europäischer Sicht die schwierige Frage, wenn die USA bestimmte Sanktionen wiederverhängen mittelfristig gegen den Iran. Dann würde es auch möglicherweise den Handel europäischer Firmen mit Iran betreffen. Dieser Handel hat nach dem Abkommen zugenommen. Das war auch gewünscht und gewollt und auch Sinn des Abkommens. Aber amerikanische Sekundärsanktionen treffen auch europäische Unternehmen, die diesen Handel machen. Das streut schon jetzt Unsicherheit und das würde sicherlich zunehmen, wenn die USA hier aus dem Abkommen sich zurückziehen. "Für die Europäer wäre das ein großer Rückschritt" Armbrüster: Jetzt haben die Europäer natürlich im Laufe der Jahre auch einiges investiert in dieses Abkommen. Wie würde die EU dastehen, wenn das Ding tatsächlich vor die Wand fährt? Meier: Für die EU und das europäische Engagement in solchen Krisen und insbesondere in Krisen, in denen es um die Kontrolle von Atomwaffen geht – und da ist der Schritt nach Nordkorea nicht besonders weit -, wäre das ein großer Rückschritt. Die USA hat über zwölf Jahre, seit 2003 bis zum Abschluss dieser Vereinbarung 2015, sehr viel politisches Kapital investiert, anfangs auch gegen den expliziten Widerstand der USA eine diplomatische Lösung vorangetrieben. Wenn man jetzt hier sich auf Druck der USA zurückziehen müsste, dann würde das natürlich die Glaubwürdigkeit eines möglichen europäischen Engagements auch in Nordkorea verringern, und das ist die Gefahr, die hier im Raum steht. "Nordkorea selbst will natürlich gar nicht mit den Europäern reden" Armbrüster: Steht so ein Engagement denn auf der Tagesordnung, dass die Europäer da mit einbezogen werden in die Verhandlungen mit Nordkorea? Meier: Sicherlich nicht im gleichen Maße, wie das im Iran der Fall war. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind weniger und Nordkorea selbst will natürlich gar nicht mit den Europäern reden, sondern fast ausschließlich mit den USA. Von daher ist die Nachfrage nach einem solchen europäischen Engagement sicherlich geringer. Aber die Europäer haben gesagt: Wenn hier der Bedarf bestünde, nach einem Moderator, nach einem auch außenstehenden Moderator, dann stünde man bereit, hier diese Rolle auszufüllen, weil man natürlich das übergeordnete Interesse hat, hier eine militärische Eskalation zu verhindern. Armbrüster: Eine Eskalation hören wir jetzt aus Nordkorea bislang nur vor allen Dingen in verbaler Form. Wie beurteilen Sie so etwas, wenn Kim Jong-un den US-Präsidenten als debilen US-Greis bezeichnet? Meier: Wenn es ein Gebiet gibt, auf dem Nordkorea gegenüber den USA haushoch überlegen ist, dann ist das sicherlich das Gebiet der rhetorischen Übertreibung und Scharfmacherei. Sich hier auf so ein Shouting-Match einzulassen, ist sicherlich nicht der klügste Zug. Ich sehe langfristig die Gefahr, dass hier auch die Legitimität der amerikanischen Führungsrolle darin, die internationale Gemeinschaft zusammenzuführen bei der Isolierung Nordkoreas, Schaden nimmt. Das war ja auch seit 25 Jahren das übergeordnete Ziel auch der USA, die Staaten, auch diejenigen Staaten, die Interessen in Nordkorea haben, insbesondere China, dazu zu bringen, hier auch gegen das nordkoreanische Atomprogramm stärker schärfer vorzugehen. Wir sehen jetzt immer mehr Anzeichen, dass China tatsächlich die Geduld verliert und auch entsprechende Schritte folgen lässt. Und in einem solchen Zeitpunkt sich in die Niederungen der nordkoreanischen Argumentation zu begeben, ist sicherlich nicht hilfreich. Armbrüster: Sagt hier bei uns in den "Informationen am Mittag" Oliver Meier, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen. Meier: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Oliver Meier im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Sollte das Atomabkommen mit dem Iran in die Brüche gehen, wäre das für die EU ein großer Rückschritt, sagte Oliver Meier, Sicherheitsexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Bildung, im Dlf. Schaden entstünde vor allem für die Glaubwürdigkeit der EU im Hinblick auf ihr Eingreifen in solchen Krisen.
"2017-09-22T12:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:52:21.265000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-ueber-iran-abkommen-kein-vertrag-aus-dem-man-einfach-100.html
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Vereine sollen Flüchtlinge integrieren
In Berlin gibt es bereits das Fußball-Projekt "Champions ohne Grenzen" - der DFB will jetzt in Sachen Integration nachziehen. (Deutschlandradio/Ronny Blaschke) Ilkay Gündogan steht in einem weißen Raum und schreibt das Wort Diskriminierung vor sich an eine transparente Wand. Dann streicht er zwei Wortteile so aus, dass das Wort "nie" übrigbleibt. Der TV-Spot mit dem BVB-Spieler ist Teil einer Kampagne zur Integrationsinitative des deutschen Fußballs, die von der Bundesliga-Stiftung ins Leben gerufen wurde. Heute wurde die Initiative in Berlin vorgestellt. Startschuss dafür ist der Aktionstag am 26. Spieltag der Bundesliga und der 2. Bundesliga. Unter anderem werden die Spieler Trikots mit dem Motto der Initiative tragen, das lautet: Mach einen Strich durch Vorurteile. Die Initiative soll aber nicht auf das Wochenende beschränkt sein, sondern zum einen sollen auch 3. Liga und die Allianz Frauenbundesliga das Thema aufgreifen, zum anderen soll es neben der Kampagne auch Projekte in den Vereinen geben. Liga-Präsident Reinhard Rauball setzt darauf, dass die Wirkung durch die große Verbreitung des Fußballs nicht verpufft: "Der Fußball tut viel gesellschaftspolitisch, aber wir können noch sehr viel mehr tun, weil der Fußball sich eine Stellung erarbeitet hat, der gerade bei jüngeren Leuten unglaublich gefestigt ist und die Möglichkeit bietet, durch diese Leute, die sich dann auch dem Fußball in dieser Form zuwenden, in die Gesellschaft hinzuwirken." Niersbach: "Offene Arme und Türen in den Vereinen" Die Initiative hat zwar einen allgemeinen Ansatz, aber vor allem steht ein Thema Mittelpunkt: die Integration von Flüchtlingen. Denn Integration habe durch die aktuell vielen Flüchtlinge – allein 2014 wurden in Deutschland 200.000 Asylanträge gestellt – eine neue Dimension bekommen, sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach: "Wir wollen von der Spitze des deutschen Fußballs die Botschaft ihnen aussenden, dass wir sie mit offenen Armen und auch mit offenen Türen in unseren Vereinen empfangen." Damit die Vereine auch die Flüchtlinge tatsächlich in ihr Vereinsleben integrieren können, soll es eine Broschüre geben, die den Titel trägt: "Willkommen im Verein – Fußball und Flüchtlinge". "Es stärkt die Menschen, wenn sie wissen, wie kann ich denn den Spielerpass besorgen und welche Schwierigkeiten gehen womöglich damit einher", sagte Aydan Özoguz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Sie unterstützt auch eines der Projekte im Rahmen der Initiative, das vor allem vor Ort mit den Vereinen zusammen und den Profivereinen, die Patenschaften übernehmen, die Flüchtlingsarbeit in den Fokus nimmt. In einem zweiten Projekt sollen Fußballvereine, die sich für Flüchtlinge engagieren finanzielle Unterstützung bekommen. 1,2 Millionen Euro stehen dafür jährlich zur Verfügung.
Von Katharina Hamberger
Der Flüchtlingsstrom nach Europa ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht. Der Sport kann dabei helfen, dass diese Menschen in Deutschland gut aufgenommen werden. Für den Fußball startet die Bundesliga-Stiftung dazu jetzt eine Initiative.
"2015-03-19T22:54:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:31.434000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-vereine-sollen-fluechtlinge-integrieren-100.html
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Chancen und Hürden der Diversität
Im nordrhein-westfälischen Landtag haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund (picture alliance / dpa / Federico Gambarini) Der Landtag in Nordrhein-Westfalen, Mitte Mai. "Meine Damen und Herren, ich freue mich …" Zweieinhalb Jahre lang haben 13 Landtagsabgeordnete aller Fraktionen darüber beraten, wie Vielfalt in der Demokratie gestärkt werden könnte. Dazu stellen sie nun als Enquete-Kommission "Subsidiarität und Partizipation – Zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie" ihren Abschlussbericht vor. "Wir haben intensive Diskussionen gehabt", sagt der Kommissionsvorsitzende und CDU-Abgeordnete Stefan Nacke. 85 Handlungsempfehlungen haben er und sein Team erarbeitet. Es geht darum, politische Bildung schon früh in der Schule zu verankern, Prozesse direkter Demokratie zu fördern und Beteiligungsmöglichkeiten außerhalb der Parlamente zu schaffen. "Demokratie braucht mündige Bürger und braucht politische Bildung." Migrantenparteien- und InitiativenFast jeder vierte Bundesbürger hat eine Zuwanderungsgeschichte. In der Politik wird diese Realität aber kaum abgebildet: Gerade einmal acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Inner- und außerparteiliche Initiativen versuchen das zu ändern. Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert Ein Schlagwort allerdings, das in der Vorstellung fehlt, ist Repräsentanz. Dabei ist sie ein Grundpfeiler unserer parlamentarischen Demokratie: Die Bürger und Bürgerinnen werden durch gewählte Vertreter und Vertreterinnen repräsentiert – so zumindest das hehre Ziel. Was aber, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen chronisch unterrepräsentiert sind? Nachfrage: "Es gibt schon einige Frauen, aber Menschen mit Migrationshintergrund sehe ich kaum und in den Parlamenten ist das natürlich ein großes Problem. War das bei Ihnen überhaupt Thema, diese Frage Diversität?" Kurzes Schweigen – und dann fraktionsübergreifende Selbstkritik: "Parlamente müssen schon die unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung aufgreifen und deshalb war es uns ein Anliegen, da Lösungen anzubieten. Da sind wir nun nicht an allen Stellen übereingekommen." "Ich finde, sie haben den Finger durchaus in eine richtige Wunde gelegt, weil wir natürlich aus einem Parlament kommen, das nicht repräsentativ in dem Sinne besetzt ist." "Wir haben wirklich viele sehr intensive Diskussionen darüber geführt …" "… hatten dann aber auch Grundfragen zu klären: Wer repräsentiert denn eigentlich wen in so einem Parlament?" Die Zahlen lassen hier wenig Interpretationsspielraum: In Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt 26 Prozent der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund – das heißt: Sie selbst oder ihre Eltern sind zugewandert. Etwa aus der Türkei, Polen oder einem anderen Land. In den Parlamenten sind die Anteile dagegen weitaus geringer: In Nordrhein-Westfalen haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, im jüngst gewählten Landtag von Rheinland-Pfalz liegt der Anteil bei zwei Prozent, in Baden-Württemberg immerhin bei knapp zehn Prozent. Im Bundestag haben gut acht Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund. Unterschiedliche Interessen brauchen unterschiedliche Vertreter Was bedeutet das für unsere Demokratie, wenn zwar – je nach Region in Deutschland - ein Viertel bis ein Drittel der Menschen einen Migrationshintergrund haben, aber in den Parlamenten höchstens jeder Zehnte? Kann man hier noch von Repräsentation sprechen? "Der Begriff der Repräsentanz ist überaus schwierig", stellt die Juristin Sophie Schönberger klar. Sie sitzt nahe der Universität in Düsseldorf in ihrem Garten. Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht sowie Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung. "Also Repräsentanz in unserer repräsentativen Demokratie bedeutet nicht und kann nicht bedeuten, dass wir ein exaktes Abbild haben der Bevölkerung im Parlament. Das Parlament ist keine Miniatur-Bevölkerung. Das geht auch gar nicht, denn dann hätten wir keine freie Wahl mehr." Mehr Quoten wagen? Laut Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Die Realität sieht anders aus - deshalb fordern viele eine Frauenquote. Auch andere Gruppen wollen Teilhabe: Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderungen. Brauchen wir mehr Quoten? Gesetzliche Quoten – ob nun für Frauen oder für Menschen mit Migrationshintergrund – hätten deshalb verfassungsrechtlich kaum eine Chance. "Aber auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass Demokratie davon lebt, dass unterschiedliche Interessen artikuliert werden. Und dafür ist es ganz zentral, dass eben das Parlament divers zusammengesetzt ist und auch Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und natürlich auch mit unterschiedlichen sonstigen biografischen Hintergründen inklusive einer Migrationsgeschichte eben dann vereint." Geld und Netzwerke als Hürden Hieran mangelt es in deutschen Parlamente allerdings. Und offenbar – so zeigt es das Beispiel der Enquete-Kommission im NRW-Landtag – können sie daran eigenmächtig kaum etwas ändern. "Es ist im Moment definitiv nicht divers genug." Woran liegt das? An mangelndem Interesse wohl nicht. Verschiedene Studien, zum Beispiel der Bertelsmann-Stiftung, haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte durchaus engagieren wollen – und sie tun das auch, allerdings vor allem in Sportvereinen, Kulturclubs, Kirchen und Moscheen. Warum nicht auch in der Politik? "Wenn man nicht einen seltenen Quereinsteiger-Weg wählt, muss man sich sehr früh dafür entscheiden, darauf zuarbeiten. Man muss sehr viel Zeit investieren, mitunter auch Geld investieren für solche Kandidaturen. Das ist etwas, was natürlich Hürden aufbaut, völlig klar. Und diese Hürden sind natürlich größer für jemanden, der vielleicht nicht den familiären Hintergrund hat, wo irgendwie schon der Onkel oder wer auch immer in der politischen Partei aktiv war, vielleicht mal ein kommunales Mandat hatte. Also das sind faktische Hürden." Einer, der diese Hürden schon genommen hat, ist Ibrahim Yetim. Der 56-Jährige ist Sohn türkisch-kurdischer Einwanderer, gelernter Bergmechaniker und seit 2010 SPD-Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag. Dreimal wurde er bisher als Direktkandidat ins Parlament gewählt. Zuvor war er jahrelang in Kommunalparlamenten aktiv, auch in der Gewerkschaft engagierte er sich. So baute Yetim wichtige Netzwerke auf und setzte sich innerparteilich durch. "Allein diesen Wahlkreis zu holen, ist ja wirklich schon schwierig. Das sind ja auch eigene Erlebnisse, die ich hatte. Wo dann natürlich so im Flurfunk, insbesondere dann, wenn es eben mehrere Bewerber gibt, dann natürlich auch intern gesagt wird: ob wir das mit einem türkischen Namen auf einem Wahlplakat schaffen." Zunehmender Rassismus blockiert Yetim ist in Dinslaken geboren, in Duisburg aufgewachsen, hat in Essen studiert und wohnt heute mit seiner Familie im niederrheinischen Moers. Und trotzdem sei seine Partei nach der Landtagswahl 2010 gefragt worden: "Habt Ihr denn keinen Deutschen?" Rassismus begleite ihn und seine politische Arbeit seit jeher, sagt Yetim. Allerdings hätten die Angriffe und Beleidigungen zuletzt zugenommen. "Über all die Jahre hinweg baut man sich ja auch so eine Mauer um sich herum und lässt so etwas nicht an sich herankommen. Ich habe aber sehr deutlich gemerkt, dass diese Mauer auch anfängt zu bröckeln." Er habe Verständnis dafür, dass sich viele diesen Angriffen nicht aussetzen wollen. Aminata Touré (Grüne): "Rassistische Strukturen an ganz vielen Stellen" Nach rassistischen Drohungen hat der Grüne Tareq Alaows seine Bundestagskandidatur zurückgezogen. Seine Erfahrung zeige, dass es in Deutschland für Personen mit Fluchthintergrund nicht leicht sei, ein politisches Mandat anzustreben, sagte die Grünen-Politikerin Aminata Touré im Dlf. Die polizeiliche Statistik zählte bundesweit im Jahr 2020 mehr als 3.000 politisch motivierte Übergriffe auf Amts- und Mandatsträger in Deutschland, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die meisten Angriffe passierten verbal, per Hassbotschaft im Netz oder über Droh-Mails, aber auch 89 Fälle von Gewalt wurden gezählt. Der syrische Flüchtling Tareq Alaows zum Beispiel wollte als Direktkandidat der Grünen für den Bundestag kandidieren – und zog seine Kandidatur jüngst wegen rassistischer Angriffe und Drohungen zurück. Gesetzliche Quote problematisch Ibrahim Yetim, der Landtagsabgeordnete, Familienvater und Bürger mit Migrationshintergrund, sieht hier nicht nur den Staat mit seiner Polizei und den Gerichten in der Pflicht, sondern auch die politischen Parteien. Wenn sich wirklich etwas ändern soll, die Parlamente diverser werden sollen, müssten die Parteien mit gutem Beispiel vorangehen. "Diskriminierung findet ja nicht nur in den Feldern außerhalb der Parteien und der Politik statt, sondern auch in Parteien und Politik." Zwar sprechen sich fast alle Parteien offen gegen Rassismus aus und geloben, mehr Vielfalt in den eigenen Reihen zu fördern. Aber bei konkreten Maßnahmen sieht es dünn aus, auch in Yetims eigener Partei. "Was wir jetzt für den Bundestag aufgestellt haben – das ist, das habe ich auch sehr deutlich gesagt - das ist ein Armutszeugnis für uns als NRW-SPD." Unter den ersten 20 Listenplätzen sei niemand mit Migrationshintergrund. "Die Parteien, wir tragen ja zur Willensbildung bei. Wir sagen ja immer alle – bis auf eine Partei – sagen wir ja immer: Wir sind ein Einwanderungsland und so weiter. Das ist ja mittlerweile Konsens bei uns. Und wenn wir unseren Auftrag wahrnehmen wollen, die Willensbildung in der Gesellschaft voranzubringen, dann müssen wir genau das tun." Vielfalt Fehlanzeige - Migranten in der Politik wenig vertreten In den Parlamenten sitzen kaum Menschen mit ausländischen Wurzeln. Auch die Parteien tun sich mit der Vielfalt in den eigenen Reihen schwer. Das führt zu einem Demokratiedefizit – und Frust bei migrantischen Wählern. Wie lässt sich das ändern? Die unterrepräsentierten Gruppen fördern. Natürlich gilt auch bei der Aufstellung der Landeslisten für die Bundestagswahl: Quoten sind verfassungsrechtlich höchst problematisch. Professorin Sophie Schönberger: "Mit gezielten Maßnahmen von oben, also wirklich mit staatlicher Steuerung kann man da relativ wenig erreichen." Was also tun? Schönberger sieht wie Yetim die Verantwortung bei den Parteien. "Die Parteien selber sind natürlich gefragt, die Menschen zu ermutigen, und natürlich auch eigene Hürden abzubauen, eigene rassistische Strukturen und Vorurteile zu hinterfragen." Als erste Partei in Deutschland haben sich Ende vergangenen Jahres die Grünen ein sogenanntes Vielfaltsstatut gegeben. Es ist so etwas wie eine parteiinterne Quote. Bisher unterrepräsentierte Gruppen sollen bei den Grünen künftig gemäß ihrem Anteil an der Gesellschaft vertreten sein – und zwar auf allen Ebenen der Partei. Noch ist es zu früh, um abschätzen zu können, ob solch eine Selbstverpflichtung wirklich greift. Blickt man auf die aktuellen Fraktionen im Bundestag, zeigen Berechnungen des Mediendienstes Integration: Bei den Grünen haben 15 Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, bei den Linken sind es 19 Prozent, bei der SPD etwa zehn Prozent. Die Quoten der restlichen Fraktionen liegen im einstelligen Bereich, die CDU hat mit nur drei Prozent den geringsten Anteil an Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Bundestag. Schema des klassischen Politikers greift immer noch Serap Güler möchte den CDU-Schnitt im neuen Bundestag heben – die nordrhein-westfälische Integrationsstaatssekretärin geht als CDU-Direktkandidatin für den Wahlkreis Köln-Mülheim ins Rennen um ein Bundestagsmandat. Seit 14 Jahren ist sie auf landespolitischer Ebene aktiv – und erinnert sich an ihre Anfänge: "Meine Motivation war ja auch, dass ich mir dachte: Okay, ein Cem Özdemir hat es geschafft. Also kann man das schaffen. Es ist nicht einfach, er war ja lange der einzige. Lale Akgün war ja die zweite, die haben es geschafft. Also kannst du das auch schaffen." Es sei natürlich nicht immer einfach gewesen, aber das gehöre zur politischen Karriere dazu und habe nicht immer gleich etwas mit ihren türkischstämmigen Eltern zu tun, sagt Güler. "Manche Dinge sind anstrengend, das ist richtig, und in manchen Bereichen ist die Konkurrenz auch größer. Das ist richtig. Aber ich glaube, das belebt auch hier politisch das Geschäft, weil man immer ein Stückchen besser sein will als der andere. Das ist gut für eine Demokratie." Sophie Schönberger beschreibt das politische Geschäft so: "Man darf nicht vergessen, es geht hier auch um die Verteilung von Machtpositionen. Also Listenplätze sind begehrt. Und da greifen eben ganz schnell alte Mechanismen, Seilschaften, die schon vorhanden sind. Und da gibt es dann Hürden, dass Menschen, die irgendwie anders sind und die nicht in das Schema des klassischen Politikers – der eben immer noch weiß, mittelalt und männlich, sehr, sehr grob vereinfacht, ist – die da nicht so ganz reinpassen." Serap Güler, CDU-Landtagsabgeordnete in NRW, integrationspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion (Deutschlandradio / Ellen Wilke) Lamya Kaddor für die Grünen in den Bundestag Lamya Kaddor entspricht diesem Schema nicht: 42 Jahre alt, zweifache Mutter, die Eltern aus Syrien. Sie bezeichnet sich selbst als liberale Muslimin und gibt an Schulen im Ruhrgebiet islamischen Religionsunterricht. Außerdem ist sie Publizistin und vergangenen Oktober den Grünen beigetreten – und die wählten sie jüngst auf Platz zwölf der NRW-Landesliste für den Bundestag, ein quasi sicheres Ticket nach Berlin. "Ja, ich glaube, es ist eine Sache zu kritisieren, zu kommentieren, zu beobachten und vielleicht auch zu analysieren. Und eine ganz andere Sache ist, dann auch die Möglichkeit zu haben, das in gewisser Weise umzusetzen und zu verändern." Lamya Kaddor beim Landesparteitag der Grünen NRW (picture alliance/dpa/Revierfoto ) Gerade sitzt Kaddor in Duisburg in einem schicken Hinterhof-Büro. "Dass die Grünen sehr homogen wirken, auch lange mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, als weiße, als zu weiße Partei, das wissen wir. Es ist ein erster Schritt gewesen, mit mir jedenfalls auch mal was dagegen zu tun, aber es reicht natürlich nicht." "Wir haben genau wie viele andere Parteien das Problem, dass Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Rassismuserfahrung bei uns unterrepräsentiert sind", sagt Felix Banaszak, Vorsitzender der NRW-Grünen. "Das ist jetzt nicht der alleinige Grund, sondern es geht natürlich auch um die Person Lamya Kaddor, die extrem viel beizutragen hat, enorm vernetzt ist, die ganz viel Expertise hat in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen. Aber es geht natürlich auch darum, dass wir besser werden müssen, diese vielfältige Gesellschaft auch in unseren eigenen Strukturen abzubilden und auch zur politischen Teilhabe über parlamentarische Arbeit zu verhelfen. Deshalb ist das, glaube ich, eine Win-Win-Situation." "Ich lasse mir von niemandem erklären, wie deutsch ich bin Die Autorin Lamya Kaddor ermutigt Migranten dazu, sich trotz der Erfahrung von Diskriminierung nicht in der Opferrolle zu sehen. Sie sagt, wichtige Integrationshelfer seien Menschen, die an einen glauben. In Duisburg lächelt Lamya Kaddor, als sie auf die Win-Win-Situation angesprochen wird. Sie wolle nicht die Quoten-Migrantin sein, sagt sie und weiß dabei natürlich, dass sie als politische Quereinsteigerin aktuell genau das mitbringt, was die Grünen brauchen: den Migrationshintergrund und ihren Glauben. Wenn sie dafür später von Berlin aus Innenpolitik mitgestalten kann, vielleicht auch ein Vorbild sein kann für andere Frauen und Minderheiten, wenn sie ihre Ideen zu Integration, Gesellschaft und Demokratie voranbringen kann, dann sei das aber ein kleiner Preis. "Es ist auch dringend notwendig, dass wir ein stückweit auch unsere Gesellschaft im Bundestag darstellen. Also die können doch nicht über unsere Gesetze entscheiden, über unsere Gesellschaft entscheiden, über uns, über unser Zusammenleben entscheiden, wenn nicht unterschiedliche Teile dieser Gesellschaft schlichtweg auch mitentscheiden dürfen." Repräsentation wird immer noch unterschätzt Diese Erkenntnis nehme in der Gesellschaft mittlerweile zu – aber es bewege sich trotzdem noch viel zu wenig, sagt die Journalistin und Vorsitzende der Neuen Deutschen Medienmacher, Ferda Ataman. Die Parlamente in Deutschland seien schlichtweg immer noch zu weiß. "Weil das im Jahr 2021 immer noch so ist, gehöre ich zu denjenigen, die finden, wir brauchen eine Quote, damit es tatsächlich endlich umgesetzt wird. Denn wir wissen aus dem Frauen-Gleichstellungsbereich, dass das ohne Quote in manchen Gruppen einfach nicht passiert." Ataman plädiert für freiwillige Quoten, Selbstverpflichtungen der Parteien oder Institutionen. "Ich glaube, dass Parteien immer noch massiv unterschätzen, wie wichtig Repräsentation ist und das Gefühl haben, sie würden es ja alles irgendwie mitdenken und mitberücksichtigen. Und deswegen sei das schon okay." Sei es aber eben nicht. "Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Menschen sich mit Dingen identifizieren, wenn sie ein Nähe-Gefühl haben, das kennt aber auch jeder und jede aus ihrem Alltag. Wenn ich eine junge Frau bin, dann fühle ich mich von einem 60, 70-jährigen Mann, der vielleicht auch noch ganz anders redet, von seiner Art her als ich und ein anderer Typ ist, nicht unbedingt repräsentiert oder angesprochen." Projekt "Brand New Bundestag" will zu Diversität verhelfen Wahlberechtigte entscheiden sich dann einfach für die Parteien, die es verstanden haben – oder für gar keine. So zeigte eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen nach der Bundestagswahl 2017, dass die Wahlbeteiligung von türkischstämmigen Deutschen deutlich unter der Gesamtbevölkerung lag. Einige Menschen wollen auf die Eigeninitiative von Parteien und Parlamenten nicht mehr warten – und versuchen, selbst Einfluss auf die Zusammensetzung von Parlamenten zu nehmen. Max Oehl ist einer von ihnen. Der Anwalt hat das Projekt "Brand New Bundestag" mitgegründet. "Brand New Bundestag ist eine Graswurzelorganisation, die gezielt Menschen dabei hilft, politisch erfolgreich zu sein und sich dabei auf die Fahnen geschrieben hat, den Bundestag zum einen progressiver und zum anderen diverser zu machen." Brand New Bundestag: Das Parlament soll jünger und bunter werden Eine progressive, zukunftsweisende Politik – dafür engagiert sich die Bewegung "Brand New Bundestag". Die unterstützt acht ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten bei ihrem Weg ins Parlament. Das Vorbild kommt aus den USA. Elf Bundestagskandidaten und -kandidatinnen unterstützen Oehl und sein Team– unter anderem mit Coachings, Zugang zu Netzwerken und Pressearbeit. "Es ist ja kein Geheimnis, dass zum Beispiel allein Frauen im Bundestag unterrepräsentiert sind, Menschen mit Migrationsbezug unterrepräsentiert sind, aber eben auch Ostdeutsche. Vor allem großes Problem: Menschen ohne höheren Bildungsabschluss sind im politischen Betrieb generell unterrepräsentiert. Und wir haben quasi auch Leute, die alle diese Erfahrungen und Perspektiven mit in ihre politische Arbeit mit einbringen in unserem Kandidierenden-Portfolio." Vorbild von "Brand New Bundestag" ist das US-amerikanische Projekt "Brand New Congress", das die 31 Jahre alte Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez unterstützte. Sie wurde 2019 in den Kongress gewählt und gilt mittlerweile als eine Ikone der Linken in den USA. Oehl ist optimistisch, dass der neu zu wählende Bundestag zumindest ein bisschen vielfältiger aufgestellt sein wird. "Wenn man sich vor Augen hält, was für große Reformen wir ja vor der Brust haben, als Gesellschaft, die große, nachhaltige Transformation, da brauchen wir natürlich auch einen breiten Rückhalt und da können wir es uns nicht erlauben, auf gewisse Gruppen mehr oder weniger zu verzichten, weil das natürlich auch total destabilisierend sein kann für unser ganzes System." Bessere Integration erforderlich Letztlich müssen mehrere Ansätze greifen, um unterrepräsentierte Gruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund in die Politik zu bringen, sagt Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger. "Ich glaube, man kann das nicht isoliert lösen, sondern man kann das nur lösen, so wie man es in der gesamten Gesellschaft lösen kann. Sobald da einfach die Integration noch besser wird, sobald da Hürden abgebaut werden, sobald rassistische Vorurteile stärker abgebaut werden. Aber sobald eben auch insgesamt die Chancen von Menschen mit Migrationsgeschichte besser werden, auch im beruflichen Bereich, sodass überhaupt vielleicht erst Ressourcen frei werden, um zu sagen: Okay, jetzt habe ich auch die Zeit und die materiellen Ressourcen, um mich in der Partei zu engagieren. Sobald das erreicht ist, wird sich das auch in den politischen Parteien verbessern." Und damit auch in den Parlamenten, ob nun in Düsseldorf, Mainz oder Berlin.
Von Vivien Leue
In deutschen Parlamenten hat nur höchstens jeder zehnte Abgeordnete einen Migrationshintergrund. Parteien wollen diesen Anteil durch freiwillige Selbstverpflichtung erhöhen. Dabei geht es um die Frage, ob in unserer Demokratie die Gesellschaft hinreichend politisch repräsentiert wird - und werden kann.
"2021-05-23T18:40:00+02:00"
"2021-05-24T15:26:32.622000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/migrationsgeschichten-in-der-politik-chancen-und-huerden-100.html
436
"Auch Atheisten haben eine Weltanschauung"
Tatjana Schnell ist seit 2005 an der Universität Innsbruck als Persönlichkeits- und differentielle Psychologin tätig (Wendy A. Hern) Monika Dittrich: Frau Schnell, Sie machen derzeit eine große Studie zu konfessionsfreien Identitäten, wie es dort heißt. Erklären Sie uns das mal, was wollen Sie genau herausfinden? Tatjana Schnell: Wir würden gerne wissen, was diejenigen, die bisher als quasi ohne Weltanschauung betrachtet wurden, was hier für Einstellungen und Werte vorliegen. Dittrich: Was weiß man denn bislang über diese Menschen ohne Religionszugehörigkeit? Schnell: In der Sozialforschung waren sie lang ausgeklammert, man ist davon ausgegangen, wer nicht religiös ist, der ist nichts und nichts ist einfach sehr schwer zu untersuchen. Von daher gibt es hier sehr wenige Studien, wir haben vor sieben, acht Jahren schon eine durchgeführt, wo wir überzeugte Atheisten und Atheistinnen befragt haben und dort haben wir zum Beispiel gesehen, dass innerhalb dieser schon recht eng umgrenzten Gruppe schon sehr viel Unterschiedlichkeit herrscht, also vor allem bezüglich der Sinnorientierung. Wir haben dort welche gefunden, die sehr stark selbstbezogen gelebt haben, aber wenig Sinn in ihrem Leben gesehen haben, andere, die ganz breit aufgestellt waren und ganz andere Sinnquellen benannt haben. Und da möchten wir jetzt gerne weiter schauen, was es für Vielfalt gibt, in diesen Weltbildern, die wir in unserer Gesellschaft haben. Seelsorge für Menschen ohne Konfession Dittrich: Welche Sinnquellen, von denen Sie sprechen, könnten das denn sein? Schnell: Da haben wir ganz viele Möglichkeiten, wie wir in der empirischen Sinnforschung gesehen haben: Es gibt einerseits die Möglichkeit in sich selbst, in den eigenen Potenzialen und Stärken Sinn zu finden, das ist dann so etwas wie Leistung und Kreativität, aber Sinn entsteht eher dann, wenn wir zusätzlich auch Dinge tun, die nicht nur mit uns zu tun haben, das heißt einerseits in Beziehungen und in Gemeinschaft und andererseits auch in der Selbstüberschreitung, die eben auch horizontal geschehen kann, wie wir das nennen, innerhalb dieser Welt, durch soziales Engagement, Naturverbundenheit und so weiter. Dittrich: Welche Rolle spielt dann Spiritualität? Schnell: Spiritualität ist zunächst einmal ganz schwer zu definieren, wir haben Spiritualität als zentrales Merkmal von Religiosität, also eigentlich alle religiösen Menschen bezeichnen sich als spirituell auch, aber inzwischen gibt es auch viele Stimmen von konfessionsfreien Menschen, die sagen, naja, wir sind aber auch spirituell. Denn hier geht es darum, dass wir nicht reine Materie sind, dass Geistigkeit eine Rolle spielt, dass wir zum Beispiel die Welt in ihrer Komplexität und Schönheit wahrnehmen und da auch so etwas wie Ehrfurcht und Dankbarkeit wahrnehmen können. Dittrich: Jetzt machen Sie diese aktuelle Studie - das ist eine Vergleichsstudie in mehreren europäischen Ländern - erwarten Sie unterschiedliche Ergebnisse für die Länder, das sind Deutschland, Österreich, die Schweiz, Niederlande und Dänemark? Schnell: Das passt ganz gut zu dem Beitrag (über die Wissenskneipe), den wir gerade gehört haben. Denn auch Menschen, die keiner Konfession angehören sind froh, wenn sie zum Beispiel in Zeiten von Krankheit so etwas wie Seelsorge erhalten oder im Palliativbereich es Angebote gibt und auch im Bildungsbereich und all das ist schon viel selbstverständlicher in den Niederlanden und in Dänemark. In Deutschland kommt es langsam, in Österreich ist es noch ganz anders, von daher erwarten wir hier, dass wahrscheinlich Menschen, die konfessionsfrei leben sich auch in der Gesellschaft anders wahrnehmen, je nachdem wie stark sie gehört werden. Dittrich: Den Link zu dem Onlinefragebogen haben wir auch bei uns im Netz zur Verfügung gestellt, auf Deutschlandfunk.de/tag-fuer-tag, noch bis Ende Dezember kann man sich daran beteiligen. Wie stellen Sie eigentlich sicher, dass das tatsächlich überzeugte Konfessionslose und Atheisten sind, die dann daran teilnehmen? Schnell: Also teilnehmen darf eigentlich wirklich erstmal jeder, wir fragen natürlich dann, gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an und als wie spirituell oder religiös verstehen Sie sich. Und somit werden wir dann anhand der Daten sehen können, wer hier teilgenommen hat und die Menschen miteinander vergleichen können. Dittrich: Was denken Sie, wie viele Leute daran teilnehmen werden? Wie viele haben Sie schon im Säckchen? Schnell: Das geht ganz gut bisher, wir haben schon über tausend vollständige Fragebögen und wir hoffen, dass es noch einige hundert mehr werden. Atheisten melden sich zu Wort Dittrich: Sie haben das eben schon einmal beschrieben, dass das, was Sie machen ziemlich neu ist - die Einstellung von konfessionsfreien Menschen sind bislang kaum erforscht worden. Warum ist das so, woran liegt das? Schnell: Religion ist etwas, das man einem Menschen zuschreiben kann, das man untersuchen kann und wenn diese Religiosität nicht vorhanden ist, dann ging man lang davon aus, dass dann stattdessen auch nichts anderes da ist, aber in der letzten Zeit haben sich immer mehr Atheisten zu Wort gemeldet und gesagt, wir haben auch eine dezidierte Weltanschauung, wir haben eine Position, die ein Gegenentwurf oder eine Alternative darstellt zu dem religiösen Weltbild und dadurch ist es dann auch stärker in den Vordergrund gerückt, dass wir sehen, das ist nicht einfach nichts, konfessionsfrei zu leben, sondern dahinter stehen auch bestimmte Einstellungen und Werte, allerdings wissen wir noch nicht, wie sich die unterscheiden, je nach Organisation oder je nach Benennung auch und das ist das, was uns interessiert. Dittrich: Wenn wir über die multireligiöse Gesellschaft sprechen, gerade in diesen Zeiten, wo wir gerade in Deutschland, aber auch in Österreich erleben, dass viele Muslime zu uns kommen, welchen Platz könnten oder sollten da die Konfessionsfreien einnehmen? Schnell: Mir scheint, dass dadurch, dass viele Muslime, die ihren Glauben sehr überzeugt leben, auch in unserer Gesellschaft dieses Thema Religion nochmal anders ins Bewusstsein gekommen ist. Wir hatten uns in einer relativen Indifferenz eingerichtet, gedacht, wir glauben ja eh alle das gleiche, wir sind eine aufgeklärte Gesellschaft und jetzt kommen Menschen, die eine sehr überzeugte Religiosität leben, die dann auch das Christentum wieder herausfordern, sich zu positionieren und dadurch natürlich auch deutlich machen, für diejenigen, die dem Christentum nicht zustimmen können, sich auch zu verorten und zu sagen, also wir haben aber eine andere Meinung und die soll bitte auch gehört werden. Von daher wird durch diese Entwicklung glaube ich dieses Thema Weltanschauung nochmal ganz anders in die Gesellschaft gebracht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Tatjana Schnell im Gespräch mit Monika Dittrich
Die Psychologin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck erforscht "konfessionsfreie Identitäten". Bisher ist wenig darüber bekannt, was Menschen verbindet, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Wo finden Sie Sinn? Wie halten Sie es mit der Spiritualität?
"2016-12-06T09:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:15.623000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leben-ohne-glauben-auch-atheisten-haben-eine-weltanschauung-100.html
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Der bange Blick auf den Kohlekompromiss in den Revieren
Im sächsischen Mühlrose haben die meisten Einwohner die Umsiedlung längst akzeptiert - 15 Jahre lang warteten sie darauf. (dpa / Miriam Schönbach) Was bewegt die Menschen in den Revieren? Wie schauen sie in die Zukunft und wo sehen Sie ihre Heimat? Darum geht es in der Länderzeit. Zu Wort kommen Menschen aus der Region, Beobachter und Entscheider. Gesprächsgäste: Jadwiga Mahling, Pfarrerin in Schleife, Sachsen Torsten Pötzsch, Oberbürgermeister von Weißwasser in Sachsen, Sprecher der Sächsischen Kommunen in der Lausitzrunde David Dresen, Initiative "alle Dörfer bleiben", Kuckum in Nordrhein-Westfalen Moritz Küpper, Deutschlandfunk, NRW-Landeskorrespondent Andreas Pinkwart, FDP, Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen. Und Sie können sich beteiligen. Rufen Sie uns an, unter der kostenfreien Rufnummer: 00800 4464 4464, oder mailen Sie an: laenderzeit@deutschlandfunk.de.
Eine Sendung von Petra Ensminger
Mit dem Kohlekompromiss keimte bei vielen Bewohnern in den Revieren neue Hoffnung auf, dass ihr Dorf doch nicht den Braunkohlebaggern zum Opfer fällt. Andere wollen nach dem jahrelangen Kampf einen Schlussstrich ziehen, im neu aufgebauten Ort in die Zukunft starten. Ein tiefer Riss zieht sich durch betroffene Gemeinden.
"2019-03-27T10:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:04.014000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-wird-aus-uns-der-bange-blick-auf-den-kohlekompromiss-in-100.html
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SG Trier wechselt nach England
Die SG Trier will zukünftig in Großbritannien spielen (picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger) Die Entscheidung über den Wechsel nach England gab der Bundesliga-Abteilungsleiter der SG Trier in einer Pressemitteilung bekannt. Der 2. Vorsitzende des Gesamtvereins SG Trier, Viktor Reichert, erklärte im DLF, es habe anscheinend Versuche gegeben, die Bundesligamannschaft Triers in einen anderen Verein in Deutschland zu integrieren, das habe aber nicht funktioniert. Der Zugriff auf das Bundesligateam habe komplett gefehlt, berichtete Reichert: "Wir hatten einen Abteilungsleiter vor Ort. So richtig Kontrolle über die Bundesliga hat der Grundverein aber nie gehabt. "Es steht zwar SG Trier drauf, es ist aber nicht SG Trier drin. Die Bundesliga war einfach etwas komplett Separates, was wir auch als Chance gesehen haben, damals bei der Fusion. Aber die Ideen, die wir damals hatten, haben sich nicht bestätigt." Die ersten Jahre habe es zwar gut funktioniert, "doch in den letzten Jahren haben wir gemerkt, dass sich die beiden Abteilungen – der Breitensport und der Profisport zu sehr auseinander entwickelt haben." Dazu kam, dass der Verein keinen Einblick in die Buchhaltung und Buchführung der Bundesligamannschaft bekommen habe. "Wir hatten das vor Jahren bei der Mannschaftsleitung der Bundesliga angefragt und haben nie Zahlen gesehen. Dann haben wir gesagt, wir trennen uns." Das vollständige Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Viktor Reichert im Gespräch mit Marina Schweizer
Britain statt Bundesliga: Die Bundesliga-Mannschaft der SG Trier gibt ihren Rückzug aus der deutschen Liga bekannt. Die Mannschaft wird zukünftig in der britischen Four Nations League antreten. "So richtig Kontrolle über die Bundesliga hat der Grundverein nie gehabt", sagte Viktor Reichert, der 2. Vorsitzender der SG Trier, im DLF.
"2017-05-06T19:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:39.106000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schach-sg-trier-wechselt-nach-england-100.html
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Zwischen Verzückung und Verzweiflung
Für den Soziologen Robert Feustel sind Drogen eine Konstante der menschlichen Kulturgeschichte. (picture alliance / Frank Duenzl / Frank Duenzl)
Catherine Newmark;Feustel, Robert
Alkohol, Koffein oder ein kollektives Ritual mit magischen Pilzen - womit sich die Menschheit berauscht, das unterliegt dem kulturellen und historischen Wandel. Aber wo verläuft die Trennlinie zwischen guter Medizin und bösen Drogen?
"2023-07-16T09:30:00+02:00"
"2023-07-16T09:38:37.953000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-verzueckung-und-verzweiflung-robert-feustel-im-gespraech-dlf-2f15ef60-100.html
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Im Wolkenkuckucksheim
Diskuswerfer Christoph Harting in Rio bei der Verleihung der Goldmedaille. (picture alliance / dpa/ Bernd Thissen) Es gab da den einen, der gewann Gold, aber fand das so witzig, dass er bei der Siegerehrung erheblich aus der Rolle fiel. Es gab zwei andere, die die Veranstaltung ebenfalls zum Lachen fanden. Auch wenn sie mit Platz 81 und 82 rein gar nichts gewonnen hatten. Und dann gab es noch jene vier, die gleich eine ganze Geschichte erfanden, eine richtige Räuberpistole, wirklich nicht amüsant, aber vermutlich von demselben Impuls beseelt: Man inszeniert sich als Sportler inzwischen gerne. Nur geht so etwas manchmal schief. Besonders im Rahmen von Großereignissen wie den Olympischen Spielen, wo ein riesiges Publikum weltweit voller Erwartungen zuschaut. Das gewiss nicht nur Leistungen sehen will, aber ansonsten am liebsten vorgestanztes Verhalten, das den Klischees vom hart arbeitenden, sich quälenden, ehrenwerten Athleten entspricht. Um keine Missverständnisse zu produzieren. Natürlich darf man sich über Diskus-Olympiasieger Christoph Harting und die Hahner-Zwillinge und erst recht über die amerikanischen Schwimmer, allen voran Ryan Lochte, aufregen. Darf es schlimm finden, wenn Top-Athleten aus der Rolle ausbrechen, die ihnen die Medien und die Zuschauer zuweisen wollen. Im Olympischen Eid sind schließlich gewisse Ansprüche vorgegeben: die Ehre des Vaterlands zum Beispiel und der Ruhm des Sports. Keine "ritterliche Gesinnung" Aber irgendetwas an der Reaktion auf solche Ausreißer wirkt eher künstlich und allzu grell. Gemessen an dem dünnen Echo auf die Verhaftung eines IOC-Vizepräsidenten aus Irland etwa, der bis dato immer Erster Klasse flog, pro Tag in offizieller Mission knapp 1000 Dollar zugesteckt und offensichtlich trotzdem den Hals - und die Taschen – nicht voll bekam. Wo entzündete sich ähnlich intensive Empörung angesichts einer der frivolsten Aussagen dieser Olympischen Spiele überhaupt: "Wir sind nicht verantwortlich für die Gefahren, denen Frau Stepanowa ausgesetzt sein mag." So formulierte es Thomas Bach, ein Mann nach dem Geschmack von Wladimir Putin, der gerne darüber hinwegsieht, dass es im Sumpf des staatlich geförderten russischen Dopings Todesfälle gegeben hat. Und den am Olympischen Eid nur das interessiert, was ihm selbst und seiner Machtposition nützt. Die darin beschworene "ritterliche Gesinnung" – die offensichtlich nicht. Voller Fokus auf sich selbst Denn eigentlich dürfte es angesichts der Qualitäten der Funktionärsriege, auf deren Kappe das massive Dopingproblem geht, wirklich niemanden wundern, dass auch die Sportler nur noch sich selbst sehen. Nur noch sich selbst feiern wollen. Und dass sie den ganzen Pomp und das extrem teure Drumherum, mit seiner Hinterlassenschaft aus Sportruinen und enormen Kosten für überforderte Städte nicht mehr ernst nehmen. Es dient auch ihnen nur noch als Kulisse für den eigenen Spaß. Genauso wie den Betreibern des IOC, die gar nicht mehr wissen, was Bodenhaftung ist. Und die in einem Wolkenkucksheim namens "Olympismus" wohnen, ja so heißt das wirklich, in dem angeblich noch solche Dinge existieren wie " Freude an Leistung", der erzieherische "Wert des guten Beispiels" sowie die "Achtung universell gültiger fundamentaler ethischer Prinzipien". Die meisten Athleten haben verstanden, dass dies längst nicht mehr stimmt. Und sie tanzen – je nach Typ und Begabung – mehr und mehr aus der Reihe. Es wäre klug, sich auch daran zu gewöhnen. Oder gleich ganz abzuschalten. Jedes Gerät hat dafür den entsprechenden Knopf.
Von Jürgen Kalwa
Sportler, die bei Olympischen Spielen sich selbst inszenieren, werden gerne mit massiver Kritik überzogen. Eine Reaktion, die völlig verdrängt, welche Maßstäbe von der Funktionärsriege gesetzt werden, kommentiert Jürgen Kalwa.
"2016-08-21T19:17:00+02:00"
"2020-01-29T18:48:42.061000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/selbstinszenierung-bei-olympia-im-wolkenkuckucksheim-100.html
441
Russischer Beschuss in Cherson tötet sechs Zivilisten
Deutschlandfunk - die Nachrichten (Deutschlandfunk ) Das teilte der ukrainische Innenminister Klymenko mit. Im Dorf Schyroka Balka seien ein Paar, ihr Baby und ein weiterer Mann ums Leben gekommen. Im Nachbardorf Stanislaw wurden zwei weitere Menschen getötet. Das ukrainische Militär hatte im November den westlichen Teil der Region Cherson zurückerobert. Russische Truppen beschießen das Gebiet jedoch weiterhin regelmäßig von der anderen Seite des Flusses Dnipro aus. Russland meldete, zwei ukrainische Drohnen über russischem Staatsgebiet abgeschossen zu haben. Die Angaben beider Seiten lassen sich kaum unabhängig prüfen. Diese Nachricht wurde am 13.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Bei einem russischen Angriff auf zwei Dörfer in der ukrainischen Region Cherson sind sechs Zivilisten getötet worden.
"2023-08-13T22:23:54+02:00"
"2023-08-13T16:56:25.804000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russischer-beschuss-in-cherson-toetet-sechs-zivilisten-100.html
442
Juan Antonio Samaranch und die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele
Juan Antonio Samaranch stand insgesamt 21 Jahre lang an der Spitze des Internationalen Olympischen Komitees. (IMAGO / Camera 4)
Späth, Raphael
21 Jahre lang stand Juan Antonio Samaranch als Präsident an der Spitze des Internationalen Olympischen Komitees. Für viele Expert*innen ist er hauptverantwortlich für die Kommerzialisierung der Olympischen Bewegung. Wie hat er das geschafft?
"2022-09-15T17:00:00+02:00"
"2022-09-15T11:39:24.027000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geld-im-sport-juan-antonio-samaranch-und-die-olympische-kommerzialisierung-dlf-6c5f1aaa-100.html
443
„Man hat das Gefühl, Dinge bewegen zu können“
Friedemann Görl ist Fußverkehrsverantwortlicher in Leipzig (Deutschlandradio / Claudia Euen) Wie viel verdienen Sie? "Ich arbeite hier in der Stadt Vollzeit, in einer unbefristeten Stelle und verdiene derzeit 3.600 Euro Brutto. Mit einem städtischen Gehalt kommt man sehr gut über die Runden. Ich selbst wohne auch noch in einer WG, sodass die Kosten, die man für eine Miete ausgibt, relativ gering sind. Aber man sieht natürlich auch, dass sich das in der letzten Zeit verändert, dass man immer mehr Geld für Wohnraum ausgeben muss." In der Reihe "Karrierestart" erzählen junge Menschen, wie sie den Start in den Beruf erlebt haben (imago images / alimidi) Was war beim Berufseinstieg anders als erwartet? "Es ist immer anders als in der Beschreibung, weil in der Beschreibung ist es meistens bloß drei, vier, fünf Zeilen. Und dann stellt man fest, dass es noch viel, viel mehr ist und es gar nicht auf einen A4-Zettel passt, was alles dazu gehört. Ich habe in Leipzig meinen Bachelor gemacht und in Halle meinen Master. In der Geografie hat man mit sehr vielen Dingen zu tun: Klimawandel bis Bodenprofile graben, aber auch Stadt- und Raumplanung. Diese ganze Mischung befähigt einen, ein bisschen derjenige zu sein, der die Fäden von allen möglichen Seiten zusammenziehen kann. Und das ist sozusagen auch das, was ich aus dem Studium mitgenommen habe, das ist auch sehr praktisch hier auf Arbeit." Was an Ihrem Job macht Spaß? "Am meisten Spaß macht, dass man das Gefühl hat, Dinge bewegen zu können. Manchmal sind es auch kleine Dinge, wie etwa dass baulich etwas umgesetzt worden ist, wo sich vorher bei mir eine Seniorin gemeldet hat, dass sie auf dem Weg zum Bäcker die Bordsteine abgesenkt braucht, ansonsten kommt sie nicht mehr zum Bäcker. Und wenn man dann sieht, dass das umgesetzt wird, das macht einem Spaß, weil man dann auch positives Feedback bekommt." Friedemann Görl in seinem Büro (Deutschlandradio / Claudio Euen) Was an Ihrem Job nervt manchmal? "Ganz klar, in der öffentlichen Verwaltung ist die Bürokratie ein sehr großer Faktor. Das nervt auch manchmal, weil man sehr vieles schriftlich, mit Unterschrift, doppelt und Ämterumlauf und et cetera, das kann sehr viel Zeit fressen und das nervt natürlich manchmal auch." Wurden Sie für den Joballtag gut ausgebildet? "Während des Studiums habe ich mich in der studentischen Selbstverwaltung sehr aktiv eingebracht. Wo ich bei vielen Themen auch mit unterschiedlichen Meinungen konfrontiert war, bestimmte Dinge aushalten musste, verhandeln musste, das sind sozusagen auch Softskills, die man auch hier braucht, wenn es darum geht, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, Sachen zu erklären, auch Hinweise aufzunehmen, sozusagen der Mediator, der Moderator zu sein." Und sonst so? "Also hehres Ziel von der Stelle des Fußverkehrsverantwortlichen ist es eigentlich, dass man mich irgendwann nicht mehr braucht, weil integriert, geplant und gedacht wird, dass alle Verkehrsarten gleichberechtigt in die Planung einfließen. Wenn das Ziel erreicht ist, braucht man mich gar nicht mehr, dann kann ich mir einen neuen Job suchen und mich obsolet machen."
Von Claudia Euen
Seit Januar 2018 arbeitet Friedemann Görl als Fußverkehrsverantwortlicher für die Stadt Leipzig. In „Campus & Karriere“ erzählt er, warum ihm sein Engagement in der studentischen Selbstverwaltung beim Berufseinstieg geholfen hat.
"2019-10-01T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:12:54.943000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/friedemann-goerl-verantwortlicher-fuer-fussverkehr-man-hat-100.html
444
Für eine andere Art von Tourismus
Touristen schlendern durch eine Straße in Magaluf, Mallorca. (picture alliance / dpa / Emilio Rappold) Schon wieder hat er sich in der Tür geirrt. Alberto Jarabo passiert das dauernd im Moment. Immer nimmt er die falsche Tür in seinem neuen Büro. Die, die immer verschlossen ist. Es ist aber auch alles noch so neu. Sein noch sehr kahles Büro, sein Job - und seine Rolle. "Auf einmal sitzen wir im Parlament, stellen zehn von 59 Abgeordneten. Und nehmen so viel Platz ein. Das sind wir nicht gewohnt! Auch die Kleiderordnung ist Neuland für uns!" Alberto Jarabo hat bei seiner Antrittsrede im Parlament kein Sakko, sondern nur ein langes Hemd getragen. Das nicht in der Hose steckte. Jarabo will unbequem sein. So wie Joschka Fischer damals, mit seinen Turnschuhen im Bundestag. Jarabo war mal Dokumentarfilmer. Jetzt, mit 40, ist er Chef der neuen Partei Podemos im Parlament der Balearen. Podemos sorgt in Spanien für viel Aufsehen. Denn die Partei ist extrem links, sie steht ideologisch der griechischen Syriza nahe. Auf den Balearen toleriert Podemos die neue Regierung. Mallorca müsse sich verändern, sagt Jarabo: "Der Pauschal-Tourismus gibt der Insel nicht nur ein schlechtes Image, sondern lockt auch Touristen mit wenig Kaufkraft an. Die Insel profitiert davon nicht: Weder die Bevölkerung, noch kleine Unternehmen. Die einzigen, die profitieren, sind die großen Reiseveranstalter und die großen Hotels. Aber vielleicht noch nicht mal die!" Deswegen sollte es nicht noch mehr Hotel-Betten auf Mallorca geben, sagt Alberto Jabaro. Er hat Sympathie für die neue Bürgermeisterin von Barcelona, die erst mal keine neuen Hotellizenzen vergeben will. Und für den neuen Präsidenten der Kanaren, der sich für eine Obergrenze für Touristen ausspricht. Auch Mallorca sei an der Belastungsgrenze, sagt Jarabo. Und der harte Wettbewerb mit noch billigeren Reisedestinationen wie der Türkei oder Ägypten ruinös. Rund die Hälfte der Arbeitnehmer auf den Balearen arbeitet im Tourismussektor. Viele von ihnen nur im Sommer, viele unter immer schlechteren Arbeitsbedingungen. Für mehr Beschäftigung in der Nebensaison "Wir haben den Ruf eines Reiseziels, einer Insel, die Reichtum hervorbringt. Aber man muss auch das andere Gesicht von Mallorca kennen. Unser Reichtum ist schlecht verteilt. 30 Prozent unserer Bürger sind von sozialer Ausgrenzung bedroht." Francina Armengol von den Sozialisten. Auch sie hat ein neues Büro bezogen. Es ist definitiv das schönere: Als Ministerpräsidentin residiert sie jetzt in einem jahrhundertealten Stadtpalast an der Strandpromenade von Palma. Auch sie ist noch jung, 43 Jahre alt. Und auch sie will Mallorca verändern. An ihrer Regierung ist das linksgrüne Bündnis Mes beteiligt. "Wir wollen einen nachhaltigeren Tourismus, der sich nicht nur auf den Sommer konzentriert. Wir wollen auch Menschen im Frühjahr, im Herbst und im Winter nach Mallorca locken. Auch wegen des spanischen Sozialsystems: Denn wenn die Angestellten im Touristikbereich nur im Sommer arbeiten, nur vier, fünf Monate in die Sozialkasse einzahlen, bekommen sie im Winter kein Arbeitslosengeld. Auch deswegen haben wir hier Armut auf der Insel!" Daher will Francina Armengol die Kurtaxe einführen - und die Einnahmen in neue Wanderwege stecken oder in Kulturveranstaltungen. Im Frühjahr oder im Herbst versteht sich. Um Mallorca auch zu anderen Jahreszeiten attraktiv zu machen, für Beschäftigung in der Nebensaison zu sorgen - und ganz nebenbei auch andere, zahlungskräftige Touristen anzulocken. Armengol weiß, dass sie viele gegen sich hat: die mächtigen Reiseveranstalter und Hoteliers. Weil sie einen Wettbewerbsnachteil fürchten, wenn die Touristen stärker belastet werden. Doch der Billigtourismus ist für sie ohnehin kein Zukunftsmodell. Und erst recht nicht der Sauftourismus am Ballermann. "Wir wollen international für eine andere Art von Tourismus bekannt sein", sagt Armengol knapp. Sie weiß, dass das nicht einfach wird.
Von Marc Dugge
Auf der Baleareninsel Mallorca steigen die Urlauberzahlen, aber nicht alle sind begeistert. Der Pauschaltourismus sorge für ein schlechtes Image der Insel und locke auch Besucher mit wenig Kaufkraft an, klagt die neue, linke Regierung der Insel. Sie will das ändern, weiß aber auch, dass das nicht einfach wird.
"2015-07-17T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:21.211000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mallorcas-neue-regierung-fuer-eine-andere-art-von-tourismus-100.html
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Zwielichtige Lieferungen in Nivalis
In "Cloudpunk" arbeitet man als Rania für einen recht zwielichtigen Lieferdienst in der Cyberpunk-Stadt Nivalis (ION LANDS) "I am the delivery driver. I have your package.""You bring me packages. No questions, no mistakes. We'll be friends." Wir liefern das Paket aus und wir stellen keine Fragen, das sind die einzigen beiden Regeln, an die wir uns halten sollen. In "Cloudpunk" schlüpfen wir in die Haut von Rania, die als Kurierfahrerin für Cloudpunk arbeitet - einen recht zwielichtigen Lieferdienst. Die meisten unserer Vorgänger haben es hier nicht lange ausgehalten, aber wir brauchen nun einmal dringend Geld, und immerhin ist der Job halbwegs gut bezahlt. Und so rauschen wir mit unserem fliegenden Auto durch die pulsierende Metropole Nivalis. Wir tanken, wir suchen Landeplätze, wir stapfen durch den Regen, wir stellen das Paket zu, wir kassieren. Gesellschaft leistet uns nur ein müder KI-Hund namens Camus und die Funkzentrale von Cloudpunk. "Driver 14 FC, this is control. Come in. We need you to deliver a package to the Sin Wave Nightclub. You're going to have to deliver in person to the rooftop. That's where you can access the VIP area." Zwei Trends: Cyberpunk und prekäre Beschäftigung "Cloudpunk" hält fast jede Cyberpunk-Konvention aufs penibelste ein. Fliegende Autos? Check! Finstere Elektroclubs? Check! Sphärische kühl-metallische Klangteppiche im Dauerregen? Kybernetische Augen? Asiatische Fressbuden? Check, check, check! Und dann sind da natürlich dunkle Gassen, in denen sich zwielichtige Personen mit exotischen Tattoos und noch exotischeren Frisuren herumtreiben und mit abgefahrenen Designer-Drogen dealen. "Your face looks familiar. Do you need some stims?" Cloudpunk kombiniert zwei Trends im Computerspiel: Zum einen der Trend zur prekären Beschäftigung. Einen Lieferkurier haben wir erst im November gespielt, in "Death Stranding", und im Sommer kutschierten wir in "Neo Cab" als eine Art futuristische Uber-Fahrerin Passagiere hin und her – auch hier übrigens auch schon in einer Cyberpunk-Stadt. Womit wir beim zweiten Trend wären: Cyberpunk ist wieder in. Nicht nur auf Netflix, wo gerade die zweite Staffel von "Altered Carbon" läuft, sondern auch im Computerspiel, wo im September mit "Cyberpunk 2077" das meisterwartete Computerspiel des Jahres erscheinen soll, in dem unter anderem Keanu Reeves mitspielt. Die genredefinierenden Leitmotive, die alle schon in Williams Gibsons "Neuromancer"-Trilogie angelegt waren - also Kapitalismuskritik, Technologiekritik, das Mensch-Natur-Verhältnis, Transhumanismus, Urbanisierung, Überwachung und Widerstand -, die bewegen uns heute eben noch genauso wie damals - oder sogar mehr. So elegant wie ein Origami-Einhorn "Are you experiencing depression, apathy? Then check out this season's best selling emotional immunisation at a New One." Bald schon merken wir, dass Cloudpunk als Firma in etwa so serös ist, wie die dauerpräsente Werbung für irgendeinen Psychoquatsch, die uns einzulullen versucht. Und spätestens, als wir ein Paket transportieren sollen, das verdächtig tickt, müssen wir uns entscheiden: Wollen wir wirklich keine Fragen stellen? Oder versuchen wir herauszufinden, wer hinter Cloudpunk steckt? So langsam entspinnt sich eine interessante Geschichte - und dennoch ist der eigentliche Star des Spiels die neonlichterleuchtete und zugleich düstere Stadt, die kaputte Atmosphäre und der hypnotische Sound, der wirklich zum Hineinlegen ist. "Cloudpunk" ist ein verregnetes Spiel für sonnige Frühlingstage. Ein Spiel so elegant, wie ein Origami-Einhorn. Kurz: Ein Spiel, dass so cyberpunkig ist, wie ein Spiel nur sein kann. "Cloudpunk" von ION Lands erscheint am 23.04.2020 für PC.
Von Christian Schiffer
Ausliefern, keine Fragen stellen - das ist die Devise bei "Cloudpunk". Das Game zieht alle genreprägenden Cyberpunkregister und entführt in eine verregnete, neonlichterleuchtete Welt. Genau das Richtige für schöne Frühlingstage.
"2020-04-23T15:05:00+02:00"
"2020-04-24T08:52:10.752000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/computerspiel-cloudpunk-zwielichtige-lieferungen-in-nivalis-100.html
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"Allen war sofort klar, was passiert ist"
Nach dem Beben in Mexiko City: Rettungskräfte suchen immer noch nach Überlebenden in den Trümmer. (PEDRO PARDO / AFP) Das Beben traf die Menschen überraschend. Noch zwei Stunden zuvor hatte es eine Erdbeben-Übung gegeben - die hatte mit dem aktuellen Beben aber nichts zu tun, so ARD-Korrespondentin Ann-Kathrin Mellmann. Sie fand statt, weil sich gestern das schwere Beben von 1985 jährte. Als die Erde dann begann zu wackeln, sei trotzdem allen sofort klar gewesen, was passiert sei. Die Rettungsarbeiten dauerten an. Immer noch seien zahlreiche Menschen verschüttet. Aus einer eingestürzten Schule seien Klopfzeichen zu hören. Alle stünden unter Schock - dennoch attestiert Mellmann den Menschen im Land einen gelassenen, aber engagierten Umgang mit dem zweiten Beben innerhalb nur weniger Tage. Die Zivilgesellschaft sei gut organisiert, was Hilfeleistungen angeht. Denn das Vertrauen in die staatlichen Behörden sei nicht sehr groß. Bei dem Erdbeben nach jüngsten Angaben mehr als 240 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierung rief für Mexiko-Stadt den Notstand aus. Wie die Zivilschutzbehörde des Landes mitteilte, stammen die meisten der bislang geborgenen Toten aus dem Bundesstaat Morelos.
Anne-Kathrin Mellmann im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Hunderte Tote und Vermisste: Das erneute Erdbeben in Mexiko hat die Menschen mit ganzer Härte getroffen. Eine Vorwarnung gab es nicht, berichtet ARD-Korrespondentin Anne-Kathrin Mellmann, die das Beben vor Ort erlebt hat. Noch immer seien viele Menschen unter der Trümmern verschüttet. Im Dlf schilderte sie die schrecklichen Bilder der Verwüstung.
"2017-09-20T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:51:51.621000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erdbeben-in-mexiko-allen-war-sofort-klar-was-passiert-ist-100.html
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Nato-Chef: Wir stehen bereit
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen ( picture alliance / dpa / Vit Simanek) Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat der prowestlichen ukrainischen Regierung im Konflikt mit Russland demonstrativ den Rücken gestärkt. "Die Nato steht bereit, die Ukraine zu unterstützen", sagte Rasmussen am Donnerstag bei einem Besuch in Kiew. Er warf Russland die Destabilisierung des Landes und die Unterstützung der prorussischen Separatisten vor. Der Konflikt im Osten bedrohe "die Freiheit und die Zukunft der Ukraine", sagte der Nato-Generalsekretär. Rasmussen rief die russische Regierung auf, ihre Truppen von der Grenze zur Ukraine abzuziehen. Eine Nato-Sprecherin hatte Russland am Mittwoch vorgeworfen, in den vergangenen Wochen seine Truppenstärke an der Grenze von 12.000 auf 20.000 Soldaten erhöht zu haben. Auch äußerte sie die Sorge, dass Moskau in das Nachbarland intervenieren könnte. Auf Fragen von Journalisten, ob die Nato der Ukraine im Falle eines russischen Einmarschs militärisch oder mit Waffenlieferungen beistünde, reagierte Rasmussen ausweichend, berichtet DLF-Korrespondent Florian Kellermann aus Kiew. Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen (r.) mit Ukraines Präsident Petro Poroschenko am Nachmittag in Kiew. (EPA / MYKHAIL PALINCHAK JR./ dpa) Zudem äußerte sich Rasmussen auch zum heute verhängten russischen Importstopp für Lebensmittel aus westlichen Ländern, mit denen der Kreml auf die verschärften Sanktionen von EU, USA und Kanada gegen Moskau reagiert hatten. Er zweifle nicht daran, dass der Westen im Falle weiterer Einmischung durch Russland erneut Wirtschaftssanktionen verhängen werde, sagte der Nato-Generalsekretär. Kampfjet abgeschossen Unterdessen sind bei neuen Kämpfen im Osten der Ukraine mindestens fünf Zivilisten getötet und mehr als zehn Menschen verletzt worden, wie die Agentur Interfax meldet. In der Nähe der Absturzstelle der malaysischen Passagiermaschine soll ein Kampfjet abgeschossen worden sein. Der Nachrichtenagentur zufolge sind die prorussischen Separatisten für den Abschuss verantwortlich. Der Kampfjet sei im Gebiet Jenakijewo von den "Terroristen" getroffen worden, teilte ein Armeesprecher laut dpa mit. Wie zudem am Donnerstagabend bekannt wurde, ist der selbsterklärte Ministerpräsident der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Alexander Borodai, von seinem Posten zurückgetreten. Borodai kündigte an, seine Aufgaben dem Feldkommandeur Alexander Sachartschenko zu übergeben. Er werde aber den Posten eines "Vize-Regierungschefs" behalten und in der umkämpften Region bleiben. Borodaj gehört zu einem Trio russischer Staatsbürger, die in der selbsterklärten Volksrepublik Donezk das Kommando führen. Alle drei machten keinen Hehl daraus, früher für die russischen Streitkräfte oder den russischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Das hatte Mutmaßungen Auftrieb gegeben, dass sie im Auftrag Moskaus handeln. (tön/swe)
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Bei einem Besuch in Kiew hat Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der Ukraine im Konflikt mit Russland die Unterstützung des Militärbündnisses zugesichert. Er rief Russland zum Abzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze auf. In der Ostukraine gehen die Kämpfe unterdessen weiter.
"2014-08-07T18:36:00+02:00"
"2020-01-31T13:57:19.785000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rasmussen-in-kiew-nato-chef-wir-stehen-bereit-100.html
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EU will Steuerschlupflöcher schließen
EU-Steuerkommissar Pierre Moscovici. (picture alliance / dpa / Laurent Dubrule) "Nach Schätzungen des Europäischen Parlaments verlieren wir durch Steuervermeidung pro Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro. Das ist das Fünffache dessen, was wir in 2015 und 2016 für die Bewältigung der Flüchtlingskrise ausgeben", klagte Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici in Brüssel. Zudem gehe dadurch Geld verloren, das für öffentliche Dienste wie Schulen und Krankenhäuser genutzt werden könnte. Mit dem nun vorgestellten Gesetzespaket will die EU-Kommission "die am häufigsten genutzten Methoden, die Unternehmen zur Vermeidung des Steuernzahlens nutzen", blockieren. Dazu zählt nach früheren Analysen der Behörde zum Beispiel die Praxis, Profite von einem Mutterkonzern in einem Land mit hohen Steuern zu einer Tochtergesellschaft in einem Niedrigsteuerland zu verlagern, wo dieselben Gewinne dann niedriger besteuert werden. Der Unternehmens-Wettbewerb soll fairer werden Zugleich legte die Kommission einen Gesetzesplan vor, wonach die Behörden der EU-Staaten steuerrelevante Informationen zu multinationalen Konzernen austauschen. Mit ihren Maßnahmen werde nicht nur der Allgemeinheit gedient, sondern auch der Wettbewerb der Unternehmen untereinander fairer, hofft die EU-Kommission. Zuvor hatte Moscovici Vertretern von EU-Medien gesagt, es müsse dringend gehandelt werden. "Gewisse Unternehmen nutzen Schlupflöcher in 28 nationalen Systemen in der EU, um eine Besteuerung zu vermeiden." Der französische Sozialist fügte hinzu, dass kleinere Unternehmen, die nicht in mehreren Ländern tätig seien, im Schnitt eine um 30 Prozent höhere Steuerlast trügen als multinationale Konzerne. Opposition kritisiert Pläne Der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Peter Simon ist zwar prinzipiell zufrieden mit den Vorschlägen der Kommission: "Allerdings ist es unsere Aufgabe, hier auch noch mehr zu fordern, ehrgeiziger zu sein und die Kommission zu unterstützen, wenn sie hier weitergehen will. Die Mitgliedsstaaten müssen hier manchmal getrieben werden. Das betrachten wir als Parlament als unsere Aufgabe." Bei den Linken im Europaparlament stoßen die Kommissionsvorschläge auf wenig Gegenliebe, wie ARD-Korrespondent Thomas Otto berichtet: Das Prinzip, internationale Konzerne als eine Konzerneinheit zu besteuern werde aufgegeben. Die Steueroasen in der EU blühten weiter. Auch Sven Giegold von den Grünen meldet Verbesserungsbedarf an: "Es werden sehr viele Einzelmethoden begrenzt, die derzeit angewendet werden von Großunternehmen, um Steuern zu sparen. Aber natürlich führt das nur dazu, dass sich die Unternehmen neue Methoden ausdenken werden. Welche das genau sind, ist auch nicht leicht vorherzusagen. Deshalb wäre es so wichtig, dass wir in ganz Europa vereinbaren: Es muss eine effektive Mindeststeuerbelastung geben." Die LuxLeaks-Affäre brachte die Steuertricks ans Licht Die Steuerpolitik in der EU ist ein Minenfeld, denn die EU-Staaten müssen Pläne der Kommission einstimmig billigen. Moscovici strebt nach eigenen Worten an, bis Ende Juni zumindest eine Einigung über Grundlinien zu erzielen. "Das ist machbar", sagte er. Hintergrund der Initiative sind jahrelang bekannte Steuertricks sowie die sogenannte LuxLeaks-Affäre. Dabei hatte ein Recherchenetzwerk 2014 über hunderte Fälle berichtet, in denen multinationale Konzerne in Luxemburg auf Kosten anderer EU-Länder Steuerzahlungen vermeiden. (pg/stfr)
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Nach jüngsten Schätzungen entgehen öffentlichen Kassen in der EU im Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro durch Steuervermeidung. Die EU-Kommission will deshalb weitere Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne schließen. Der verantwortliche EU-Kommissar Pierre Moscovici stellte ein neues Gesetzespaket vor.
"2016-01-28T11:20:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:55.029000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/luxleaks-skandal-eu-will-steuerschlupfloecher-schliessen-100.html
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Die Risiken der Abnehmspritze
Das Diabetes-Medikament Ozempic macht Schlagzeilen - denn es hilft auch beim Abnehmen. (picture alliance / AP / Joe O'Connal) Abnehmen mit einer Spritze pro Woche? Ozempic mit dem Wirkstoff Semaglutid macht weltweit Schlagzeilen als Mittel, mit dem man sicher und einfach sein Gewicht reduzieren kann. Im Schnitt 10 bis 15 Prozent Körpergewicht verlieren Menschen mit starkem Übergewicht laut Studien mit dem Präparat des Pharmakonzerns Novo Nordisk innerhalb von etwa eineinhalb Jahren. Doch Mediziner warnen vor einem Missbrauch des Medikaments. Inhaltsverzeichnis Was genau ist Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Wie wirkt Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Welche Nebenwirkungen hat Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Warum gibt es Lieferengpässe? Wie beurteilen Medizinier die Lage? Was passiert, wenn man Ozempic absetzt? Welche weiteren Mittel werden getestet? Was genau ist Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Semaglutid ist ein Wirkstoff, der zur Behandlung von Diabetes-Typ-2 entwickelt wurde. Zugelassen ist das verschreibungspflichtige Ozempic deshalb in den USA und Europa als Mittel zur Behandlung der sogenannten Alters-Diabetes. Risiken werden ausgeblendet Abnehm-Spritze trendet auf Social Media Risiken werden ausgeblendet Abnehm-Spritze trendet auf Social Media Mit dem Wirkstoff Semaglutid werden eigentlich Diabetiker behandelt. Seit aber bekannt geworden ist, dass er allgemein zu Gewichtsverlust führt, ist unter dem Handelsnamen Ozempic auf Social Media ein kleiner Hype entstanden. Trotz möglicher Risiken. Semaglutid ist als Medikament aber auch freigegeben für Menschen, die eine "krankhafte Übergewichtigkeit" haben, berichtet Carsten Müssig, Chefarzt an der Klinik für Innere Medizin und Gastroenterologie am Franziskus-Hospital Harderberg in Münster. Als extrem übergewichtig oder adipös gelten Menschen mit einem Body Mass Index (BMI) über 30 oder mit einem BMI über 27, wenn Begleiterkrankungen dazukommen. Semaglutid-SpritzenDas Mittel der Wahl zum Abnehmen? 06:00 Minuten14.03.2023 Wie wirkt Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Der Wirkstoff fördert die Freisetzung von Insulin im Körper und sorgt dafür, dass man sich schnell richtig satt fühlt. Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes reagieren die Körperzellen nicht mehr gut auf das Hormon Insulin. Das ist ein Problem, denn Insulin ist ein Schlüssel-Botenstoff im Energiestoffwechsel. Er kommt ins Spiel, wenn die Nahrung verdaut wird und viel Zucker vom Darm ins Blut gelangt. Semaglutid hilft hier auf verschiedenen Wegen, und zwar indem es die Wirkung eines Darmhormons nachahmt (GLP-1). Das sorgt dafür, dass die Bauchspeicheldrüse mehr Insulin ausschüttet. Und zwar nur nach dem Essen, wenn der Blutzuckerspiegel hoch ist und Insulin tatsächlich gebraucht wird. Deshalb ist das Risiko gering, dass der Patient oder die Patientin unterzuckert, wie es bei manchen anderen Diabetes-Medikamenten passieren kann. Mode-Medikament OzempicDiabetes-Therapie als Schlankmacher 03:52 Minuten17.03.2023 Semaglutid wirkt aber noch auf ein zweites Hormon im Stoffwechsel: das Glucagon, der Gegenspieler vom Insulin. Semaglutid hemmt die Ausschüttung von Glucagon, das senkt den Blutzuckerspiegel zusätzlich. Dazu verlangsamt Semaglutid die Entleerung des Magens. Der Zucker wird aus dem Darm weniger schnell ins Blut aufgenommen, der Blutzuckerspiegel steigt langsamer an und die Bauchspeicheldrüse wird entlastet. Zuckerersatz in der Nahrung Wie gesund sind Süßstoffe wie Stevia, Erythrit und Co.? Zuckerersatz in der Nahrung Wie gesund sind Süßstoffe wie Stevia, Erythrit und Co.? Zucker gilt als ungesund. Weil viele Verbraucher sich gesünder ernähren wollen, greift die Nahrungsmittelindustrie zu Alternativen. Lebensmittel enthalten deshalb diverse Süßungsmittel als Zuckerersatz. Doch wie empfehlenswert sind sie? Den Kalorien auf der Spur Der unverstandene Stoffwechsel Etwas mehr Sport machen und bequem abnehmen? So einfach ist die Sache oft leider nicht. Denn der Stoffwechsel hat großen Anteil daran, wie effektiv der individuelle Kalorienverbrauch tatsächlich ist. Aber wie funktioniert dieses komplexe System? Medizin Übergewicht: Game-Changer für Diabetes-Kranke Ozempic und Wegovy sind recht neue Medikamente, die bei Diabetes gespritzt werden. Patienten können damit abnehmen. Beauty-Influencerinnen und Beauty-Influencer sind trotzdem aufgeregt. Das Medikament wirkt auch zentral im Gehirn, indem es als Hirnbotenstoff dort meldet, dass genug gegessen wurde. Die Patienten spüren weniger Appetit, essen weniger und nehmen dann eben auch deutlich ab. Wer Semaglutid nimmt, muss sich das Medikament einmal die Woche spritzen, zum Beispiel ins Bauchfett. Ganz neu ist das Medikament nicht. In der Diabetes-Therapie werden ähnliche Wirkstoffe schon länger angewandt - aber bisher war keiner so effektiv wie Semaglutid. Und die Zulassung des Wirkstoffs explizit zum Abnehmen ist neu. Welche Nebenwirkungen hat Ozempic beziehungsweise Semaglutid? Es gibt durchaus Nebenwirkungen, auch ziemlich starke, die bei manchen Menschen nur vorübergehend auftreten, bei anderen aber während der gesamten Behandlungsdauer anhalten: Verstopfung, Völlegefühl, Übelkeit, Müdigkeit, Durchfall, Bauchkrämpfe. Gallensteine scheinen bei längerer Einnahme ebenso desöfteren ein Problem zu sein. Auch Bauchspeicheldrüsen-Entzündungen sollen – wenn auch selten – vorkommen. Laut US-Arzneimittelbehörde FDA erhöht Ozempic das Risiko von Schilddrüsenkrebs. Die Nebenwirkungen kennt man aus Zulassungsstudien mit Menschen, die unter Diabetes und Übergewicht leiden. Was Semaglutid mit Normalgewichtigen macht, wenn sie es für die Strandfigur nutzen, ist derzeit noch nicht bekannt. Ozempic wurde als beliebtes Abnehmmittel von Hollywood-Stars und anderen Promis bekannt, die schnell ein paar Kilo loswerden wollen. Warum gibt es Lieferengpässe? Semaglutid ist in Europa seit 2018 unter dem Medikamentennamen Ozempic zugelassen. Seit 2022 gibt es in der EU auch eine Zulassung des Semaglutid-Medikaments Wegovy, das Menschen mit Adipositas und Übergewichtigen mit Begleiterkrankungen bei der Gewichtskontrolle helfen soll. Da Wegovy in Deutschland aber noch nicht auf dem Markt ist, wird Abnehmwilligen von Ärzten stattdessen offenbar häufig das Diabetesmedikament verschrieben. Wenn Ärzte Ozempic auch gesunden, also nicht stark adipösen Menschen zum Abnehmen verordnen, spricht man von sogenannten Off-Label-Verschreibungen. Das verschärft dann die Knappheit bei dem Medikament. Eine Monatsdosis für tausend Dollar Eine Monatsdosis kostet in den USA ohne Versicherung rund tausend Dollar. Der Run auf Ozempic war laut US-Medienberichten zwischenzeitlich so groß, dass Diabetiker Mühe hatten, das für sie entwickelte Präparat zu ergattern. Auch in Deutschland wurde über Lieferengpässe berichtet. Wenn Wegovy in Deutschland auf den Markt kommt, werden Interessenten es ziemlich sicher selbst bezahlen müssen. Das liegt nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft daran, dass Adipositas keine Erkrankung ist, die gemäß Sozialgesetzbuch in jedem Fall einen Anspruch auf eine medikamentöse Behandlung mit sich bringt. Wichtig dabei: Der laut Studien mögliche Gewichtsverlust von zehn bis 15 Prozent gilt wirklich nur für Menschen mit Adipositas - bei schlankeren Menschen wird es deutlich weniger sein. Wie beurteilen Mediziner die Lage? „Das ist eine Riesen-Schweinerei, was da im Moment passiert“, sagt Stephan Martin, Chefarzt Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums beim Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf. Er kritisiert, dass Menschen, die "nur" Adipositas haben, Patienten das Medikament wegnähmen, die es dringend für ihre Diabetesbehandlung bräuchten. Adipositas Warum Dicke nicht selbst schuld an ihrem Übergewicht sind Adipositas Warum Dicke nicht selbst schuld an ihrem Übergewicht sind Fettleibigkeit ist keine Frage von Willensschwäche, sagt die Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Martina de Zwaan. Sie fordert den Gesetzgeber auf, konsequent einzugreifen - Lebensmittelampeln reichten nicht aus. Ein weiterer Aspekt, der in der öffentlichen Debatte oft wegfällt: In den Studien wurde Semaglutid immer mit Sport und einer Ernährungsumstellung kombiniert. Das betont auch der Endokrinologe Matthias Blüher, er leitet am Universitätsklinikum Leipzig die Adipositas-Ambulanz: „Allein das Medikament kann es nicht richten.“ Mediziner warnen zudem vor ungeprüften und unsicheren Ozempic-Nachahmerprodukten, die im Internet verkauft werden - und vor einem Missbrauch als Lifestyle-Droge. Was passiert, wenn man Ozempic absetzt? Wenn man das Gewicht halten will, muss man das Medikament vermutlich sein gesamtes Leben lang nehmen. Dazu der Mediziner Stephan Martin: „Wir haben sehr gute Daten, dass, wenn man aufhört, diese Medikamente zu spritzen, dann innerhalb von ein bis anderthalb Jahren das Ausgangsgewicht wieder erreicht wird. Und auch die Blutdruckverbesserung, die durch die Gewichtsabnahme erzeugt wird, ist, wenn man das Medikament absetzt, nach anderthalb Jahren wieder dahin.“ Welche weiteren Medikamente werden getestet? Der Run auf Ozempic sorgt dafür, dass weitere Pharmafirmen Gewinne wittern. Das dänische Biotechunternehmen Zealand Pharma und sein deutscher Partner Boehringer Ingelheim arbeiten an der Entwicklung eines Abnehm-Medikaments. In einer klinischen Studie der Phase-2 führte die Behandlung mit dem Mittel nach 46 Wochen zu einem Gewichtsverlust von bis zu 14,9 Prozent, wie die Unternehmen im Mai 2023 mitteilten. Fast Food und Softdrinks Bessere Kennzeichnung von hochverarbeiteten Lebensmitteln Fast Food und Softdrinks Bessere Kennzeichnung von hochverarbeiteten Lebensmitteln Softdrinks, Snacks und Fertigmahlzeiten sind häufig ungesund. Oliver Huizinga von der Deutschen Adipositas Gesellschaft plädiert daher unter anderem für eine Zuckersteuer auf Softdrinks und eine Werbeeinschränkung für ungesunde Lebensmittel. Nach Einschätzung von Experten könnten Unternehmen bis zu zehn konkurrierende Produkte mit einem Jahresumsatz von bis zu 100 Milliarden Dollar innerhalb eines Jahrzehnts hervorbringen, vor allem in den USA. Sophie Stigler, Sophia Wagner, Christina Sartori, Julia Kastein, rtr, tei
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Im Schnitt 10 bis 15 Prozent des Körpergewichts lässt sich bei starkem Übergewicht mit dem Wirkstoff Semaglutid abnehmen. Ein Gamechanger, sagen Fachleute. Kann das Medikament halten, was der Hype verspricht?
"2023-07-19T10:00:00+02:00"
"2020-02-10T14:27:39.668000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ozempic-diabetes-adipositas-abnehmen-100.html
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"Strong and stable, my arse"
Der politische Künstler und Turner-Preisträger Jeremy Deller nimmt das Motto "Stark und Stabil" von Theresa May aufs Korn. (imago stock&people / Yui Mok / PA Wire General Election 2017 ) Susanne Luerweg: Banksy wollte gemalte Souvenirs verschenken , wenn man nicht die Tories wählt. Das wurde ihm allerdings verboten. Turner-Preisträger Jeremy Deller, der durfte allerdings ein Plakat gestalten, das mit deftigen Worten Teresa Mays Wahlkampf karikiert. "Strong and stable, my arse", was so viel übersetzt heißt wie : "stark und stabil, von wegen" – und das ist seit geraumer Zeit auf Litfaßsäulen, Bussen und Bahnen in England zu lesen. Künstler und Kreative mischen sich in den Wahlkampf ein und heute wird gewählt. Aber über den Wahlkampf und die Renaissance des Plakates, darüber wollen wir mit Louise Brown sprechen. Zunächst die Frage: Haben Sie den Eindruck, dass das Plakat im Rahmen des Wahlkampfs eine Renaissance gefeiert hat? Louise Brown: Also ich finde, das kann man schon sagen. Bei der letzten Wahl setzten die meisten irgendwie schon auf Social Media – und das ist schon, dieses Mal, schon aufgefallen: Man hat deutlich mehr Plakate in den Straßen gesehen. Und teilweise auch sehr witzige, teilweise sehr bunte, teilweise sehr schlichte – aber alle mit einer politischen Message und das ist schon aufgefallen. Luerweg: Turner-Preisträger Jeremy Deller – der ist ja schon ein ziemlicher Hochkaräter aus der Kunst- und Kulturszene. Gibt es noch andere, die sich in der Form eingemischt haben? Brown: Also, so hochkarätige Künstler weniger. Die meisten Plakate stammen eher von vielleicht unbekannteren Designern oder Künstlern. Aber das macht das alles, finde ich, auch ganz erfrischend. Also es gibt zum Beispiel von dem Designer Supermundane ein sehr schönes Plakat – mit so einem Riesenauge, so im Big-Brother-Look drauf. Es gibt aber auch sehr schöne Plakate von den beiden Künstlern Kennardphillipps: Darauf ist zum Beispiel Theresa May oder Cameron – aber gesichtslos – zu sehen auf einem Hintergrund, mit diesem lachsfarbenen Financial Times Papier, genau. "May als Wackelpudding" Luerweg: Und es trifft immer nur May? Also immer nur die Tories? Oder ist der Herausforderer von der Labour Partei, Herr Corbyn, auch mal irgendwie Zielscheibe gewesen? Brown: Zielscheibe nicht, nein. Eher, es gibt auch einige Plakate, aber da wird er eher von den Corbynistas ja eher sehr gefeiert. Sie kennen vielleicht dieses Plakat von Robert Indiana, dieses Love-Poster mit diesen Love-Buchstaben? Das hat man zum Beispiel umgewandelt in Corbyn. Also solche Sachen. Und er wird auf den Plakaten eher gefeiert, während May … Naja, da gibt es zum Beispiel ein sehr schönes Plakat von Theresa May als Wackelpudding. Also stark und stabil? Naja. Luerweg: Warum eigentlich gerade Plakate? Also man würde ja so ein bisschen denken, die sind definitiv out of time, out of fashion? Brown: Ja. Aber man kennt es ja, mit Twitter und Facebook erreicht man ja eher seine Bekannten oder Freunde, also Menschen, die man schon kennt. Mit so einem guten, alten Plakat, da hat man vielleicht die Chance, jemanden zu erreichen, den man eben nicht kennt: Ein Passant, der möglicherweise vielleicht mal kurz draufschaut und auch mal, kurz mal stehenbleibt und darüber nachdenkt. "Es begann mit dem Brexit" Luerweg: Die Kunst ist so ein bisschen irgendwie wieder in der Politik angekommen, hat man das Gefühl. So jahrelang hat man sich vielleicht nicht so eingemischt. Wolfgang Tillmanns, der deutsche Fotokünstler, hat letztes Jahr, als es um die Brexit-Abstimmung ging, ja eine Plakat-Kampagne gestartet, jetzt eben Jeremy Deller. Ist bei Ihnen auch das Gefühl, Frau Brown, dass sich die Künstler und Kreativen, ähnlich wie in Amerika, jetzt in England auch stark wieder ins politische Geschäft einmischen? Brown: Also ich habe schon das Gefühl, dass da wieder ein bisschen mobilisiert wird, jetzt unter der Tory-Regierung. Und ich sage auch bewusst: Tories. Also nicht nur May. Sie haben es ja auch schon erwähnt, die Kampagne von Wolfgang Tillmanns letztes Jahr, also mit Brexit, damit begann das schon. Und ein sehr schönes Beispiel ist jetzt in diesem Sommer, in der Serpentine-Gallery, die Ausstellung von Grayson Perry, der das Thema "Brexit und Populismus" auf seinen berühmten Vasen gebracht hat. Und er ist zum Beispiel auch jemand, der es sich sehr stark zur Aufgabe gemacht hat, mit seiner Kunst die breite Bevölkerung zu erreichen und nicht eben nur die Kunst-Elite. Luerweg: Jetzt ist es ja so, heute wird gewählt. Der Wahlkampf, der muss immer ruhen einen Tag vorher, also da war gestern Schluss. Glauben Sie, heute sind noch mal ein paar neue Plakate aufgetaucht? Irgendwie so Last-Minute-Aufforderungen? Brown: Nee, das glaube ich nicht. Also ich glaube, dass alle jetzt gebannt irgendwie zuhause sitzen und bei Twitter oder beim Fernsehen nachgucken, was nun heute passieren wird. Und, aber, naja … Viele Designer haben die Plakate ja auch zum Download bereitgestellt. Angesichts dessen, was vermutlich in Großbritannien passieren wird, mit dem Brexit, da kann man sich vielleicht zur Aufmunterung so ein Plakat mal runterladen und an die Wand hängen zuhause. "Die Wunderwaffe der Briten" Luerweg: Ich wollte gerade sagen, das analoge Plakat hat zwar eine Renaissance gefeiert, aber das ist natürlich doch auch dann wieder in den Social Media überall angekommen. Und es wurden dann ganz lustige neue Kreationen der verschiedenen Plakate dann entwickelt, auf Instagram gepostet, auf Facebook und so weiter und so fort. Also ganz ohne Social Media geht es zum Schluss dann vielleicht doch nicht? Brown: Was vor allem auffiel, ob bei Social Media oder bei den Plakaten: Also diese wunderbare Wunderwaffe der Briten, der Humor. Also der war einfach immer stark vertreten. Luerweg: Ja, es hat ja auch jemand kandidiert, der Mister Fischstäbchen heißt, glaube ich. Brown: Genau. Luerweg: Louise Brown über die Renaissance des Plakats im britischen Wahlkampf. Und da wird ja heute abgestimmt. Wie das Ergebnis sein wird, das erfahren wir dann heute abend. Frau Brown, vielen Dank für das Gespräch. Brown: Ja, vielen Dank.
Louise Brown im Gespräch mit Susanne Luerweg
Mit dem Votum für den Brexit hat es begonnen: Britische Künstler mischen sich wieder ein in laufende Debatten. Plakate eigneten sich dafür besonders, denn jeder komme daran vorbei, erläutert die Kulturjournalistin Louise Brown. Turner-Preisträger Jeremy Deller karikiert Theresa Mays Motto "Stark und stabil - von wegen".
"2017-06-08T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:31:31.474000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anti-may-plakat-strong-and-stable-my-arse-100.html
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Solarstrom für unterwegs
Es ist der Albtraum jedes Geschäftsreisenden: Man ist unterwegs und müsste dringend mal telefonieren. Doch der Handyakku ist leer und ein Netzanschluss nicht in Sicht. Wohl dem, der für solche Fälle eine Ersatzbatterie dabei hat oder ein Solarladegerät, das das Handy mit Sonnenstrom wieder belebt. Auf der Messe Intersolar in München zeigte die Firma Solarworld einen pfiffigen Notfallhelfer, der seit kurzem auf dem Markt ist: Den Suncharger, der von Design und Format einem iPhone mit rückseitig eingebautem Netzstecker ähnelt. "Das ist ein mobiles Solarladegerät, das vereinigt die Funktion eines Netzteils, eines Ersatzakkus und eines Solarladegerätes in einem", erklärt Michael Schmidt von der Solarworld AG."Das heißt, der Nutzer kann zu Hause das Gerät einfach in die Steckdose stecken und damit über USB seine Applikation laden, also ein Handy oder sogar ein Tablet, so ein iPad-Format. Gleichzeitig lädt er damit die interne Batterie, die in dem Suncharger verbaut ist. Und wenn er den Suncharger mitnimmt, kann er unterwegs immer aus der Batterie nachladen. Die dritte Funktion ist natürlich eine solare Funktion. Das heißt, ich habe auf der Oberseite Solarzellen, die Strom erzeugen. Dieser Strom wird permanent in die Batterie eingespeist oder aber direkt benutzt, um das Gerät zu laden." Die schwarz-glänzende Oberseite des Sunchargers besteht aus monokristallinen Solarzellen mit einem Wirkungsgrad von 17 Prozent. Durch einen Slider-Mechanismus lässt sich die lichtempfindliche Oberfläche auf etwa 10 mal 20 Zentimeter vergrößern – genug, um den Ersatzakku an einem sonnigen Tag in vier bis fünf Stunden aufzuladen. Ganz leer sollte er besser nie sein, denn für den reinen Solarbetrieb eines Smartphones sind die Solarzellen zu schwach auf der Brust."Wenn ich da ein Smartphone anschließe, was viel Strom braucht, wird der Ladestrom nicht reichen. Das heißt, ich muss immer auch Strom in der internen Batterie haben, dann funktioniert das zusammen. Man kann eigentlich sagen: Man macht seinen eigenen Strommix. Man mixt den grünen Strom aus der Zelle so ein Bisschen mit dem Strom aus der Wand so zusammen." Der elegante Notfallhelfer wurde mit einem Design-Award ausgezeichnet und ist für 89 Euro zu haben. Deutlich kostspieliger ist eine Neuentwicklung aus Italien. Dafür spielt die mobile Stromfabrik iKube in einer ganz anderen Liga. Sie wurde gebaut, um kleine Dieselgeneratoren zu ersetzen, erklärt Marco Sganga vom Turiner Unternehmen Pro D3. "Der iKube ist ein mobiler Solarstromgenerator in Würfelform. Seine Seitenwände bestehen aus Solarmodulen. Klappt man sie nach oben, bilden sie eine drei Mal drei Meter große Fläche mit 1,4 Kilowatt elektrischer Peakleistung. In dem kubikmetergroßen Würfel, der darunter am Boden steht, stecken Batterien und ein Wechselrichter, der Netzspannung erzeugt. Die maximale Ausgangsleistung beträgt drei Kilowatt. Unser Gerät ist sehr einfach, robust und in Minutenschnelle einsatzbereit." Dank eines Batteriespeichers mit elf Kilowattstunden gehen die Lichter nach einem sonnigen Tag auch nachts nicht aus. Rund 500 Kilogramm wiegt der iKube. Sein Listenpreis: 6900 Euro. Als Zielgruppe haben die Italiener Katastrophenhelfer im Visier. Doch auch in Entwicklungsländern könnten die Geräte anstelle von Dieselgeneratoren zum Einsatz kommen. Die Vorteile liegen für Marco Sganga auf der Hand: Keine Treibstoffkosten, kein Lärm, keine Luftverschmutzung.Eine in München erstmals präsentierte Ein-Kilowatt-Version des iKube ist kleiner als eine Waschmaschine, wiegt unter 100 Kilogramm und passt in den Kofferraum eines Autos. Gut möglich, dass man die mobilen Sonnenstromquellen bald auf ökologisch-korrekten Gartenparties und Open-Air-Events zu sehen bekommt.
Von Ralf Krauter
Die Idee, Solarstrom unterwegs zu ernten, ist nicht neu. Schon seit Jahren gibt es zum Beispiel Uhren mit kleinen Solarzellen. Zwei Entwicklungen könnten nun aber dazu beitragen, dass Solarstrom zum Mitnehmen kein grünes Nischenprodukt mehr bleibt.
"2012-06-18T16:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:13:44.619000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/solarstrom-fuer-unterwegs-100.html
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Großbritannien macht russischen Geheimdienst verantwortlich
Das am 5.9.2018 veröffentlichte Standbild einer Überwachungskamera zeigt die beiden russischen Verdächtigen des Giftanschlags von Salisbury am dortigen Bahnhof am 3.3.2018: Ruslan Boshirov and Alexander Petrov. (Metropolitan Police / ap) Zwei Fahndungsfotos zeigen die beiden Männer, die den Anschlag mit dem Nervengift auf die Skripals ausgeführt haben sollen. Ihre Namen werden mit Alexander Petrov und Ruslan Boshirow angegeben, vermutlich handelt es sich aber um Decknamen. Beide Männer sind um die 40 Jahre alt und waren zur fraglichen Zeit in Salisbury. Premierministerin Theresa May gab am Mittag im Unterhaus eine Erklärung ab: "Die kriminaltechnischen Untersuchungen haben ausreichend Beweise erbracht, um gegen zwei russische Staatsbürger Anklage zu erheben wegen Verschwörung zum Mord an Sergej Skripal, dreifachen Mordversuchs, des Besitzes von Novichok und gefährlicher Körperverletzung an Julia Skripal und Nick Bailey." 11.000 Stunden Überwachungsaufnahmen Nick Baley ist ein Polizeibeamter, der die Skripals als erster auf der Parkbank in Salisbury fand und dabei ebenfalls mit dem Gift in Berührung kam. Die britische Polizei hat, berichtete May weiter, in akribischer Arbeit 11.000 Stunden an Aufnahmen von Überwachungskameras durchsichtet. Einem Bericht zufolge wurde dann mit Hilfe einer Gesichtserkennungssoftware wurde dann ein Abgleich mit Fotos von aus Russland ankommenden Passagieren an Londoner Flughäfen vorgenommen. So kam Scotland Yard den beiden Männern auf die Spur. "Sie landeten aus Moskau kommend nachmittags um drei Uhr am Flughafen Gatwick. In ihrem Hotelzimmer in London wurden Spuren von Novichok gefunden." "Keine Tat von Verbrechern" May gab außerdem vor, dass die beiden gesuchten Männer Offiziere des russischen militärischen Auslandsgeheimdienstes GRU seien. Das schließe die Regierung aus eigenen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen. "Das war keine Tat von Verbrechern. Sie wurde fast mit Sicherheit von Stellen außerhalb des russischen militärischen Geheimdienstes gebilligt, durch höhere Stellen des russischen Staates." Die Täter beschmierten den Türgriff des Hauses mit dem Nervengift Novichok. Skripal und seine Tochter, die ihn gerade besuchte, wurden schwer verletzt, überlebten aber den Anschlag. Anders als Dawn Sturgess, eine Einwohnerin von Amesbury nahe Salisbury. Sie benutzte Monate später zufällig Parfüm aus einer im Park weggeworfenen Flasche. Erst in dieser Woche hat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen bestätigt, dass es sich bei dem angeblichen Parfüm um die gleiche Novichok-Probe handelte wie bei den Skripals. Die britische Regierung sieht sich durch die neuen Erkenntnisse darin bestätigt, dass sehr wohl Moskau hinter dem Anschlag mit einem verbotenen Nervengift stehe. Als Konsequenz will die britische Premierministerin Theresa May mit gezielten Sanktionen gegen den russischen Militärgeheimdienst vorgehen. Der Dienst stelle eine Bedrohung für alle Verbündeten dar.
Von Friedbert Meurer
Großbritannien macht nach den neuesten Ermittlungen zwei Agenten des russischen Militärgeheimdienstes für das Skripal-Attentat verantwortlich. Die britische Premierministerin Theresa May sieht nun gezielte Sanktionen gegen den Dienst vor.
"2018-09-05T18:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:34.947000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-fall-skripal-grossbritannien-macht-russischen-100.html
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Große Verwirrung um kleine Zellen
Katrin Zöfel: Stammzellforscher in den USA haben es nicht leicht. Seitdem es dem US-Forscher James Thomson 1998 gelungen war, erstmals menschliche embryonale Stammzellen herzustellen, ändern sich die Regeln für Stammzellforscher alle paar Jahre. Präsident George Bush setzte dieser Forschung enge Grenzen. Barack Obama hat eben diese Grenzen als eine seiner ersten Amtshandlungen wieder aufgehoben. Und jetzt hat ein Richter eine einstweilige Verfügung erlassen, die besagt: Die US-Bundesregierung darf die Forschung an embryonalen Stammzellen nicht länger finanzieren. Mein Kollege Volkart Wildermuth berichtet schon lange über dieses Thema. Herr Wildermuth, worum geht es in diesem Urteil? Volkart Wildermuth: Das ist einfach der letzte Schritt einer wirklich langen Auseinandersetzung. Die embryonalen Stammzellen werden ja von den einen als die Basis einer regenerativen Medizin der Zukunft bejubelt. Die soll mal Parkinson, die Zuckerkrankheit, Querschnittslähmung heilen. Die anderen verdammen genau die gleiche Forschung, weil diese ES-Zellen ja letztlich aus menschlichen Embryonen gewonnen werden, die dabei zerstört werden. Diese beiden Positionen - Forschungsoptimismus auf der einen Seite, moralische Bedenken auf der anderen - bestimmen in den USA wie auch hier in Deutschland die Debatte. Aber was sich wirklich grundsätzlich unterscheidet, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen. In Deutschland gibt es das Embryonenschutzgesetz. Das stellt die Stellt die Zerstörung von Embryonen schlicht und einfach unter Strafe. Das ist hier verboten. Die USA kennen das in dieser Form nicht. Dort geht es um die Finanzierung der Forschung, konkret um die Frage: Darf der Staat mit Steuergeldern die Forschung an diesen embryonalen Stammzellen bezahlen? Und da hat dieser Richter gesagt: Nein, ganz klar, das darf er nicht. Zöfel: Das heißt, privat geförderte Forschung mit Stammzellen wäre weiterhin möglich?Wildermuth: Ja, das ist in den USA völlig legal. Da gibt es mehrere Firmen, die auf dem Gebiet aktiv sind. Es gibt Stiftungen, die das finanzieren. Der Bundesstaat Kalifornien hat ein eigenes Förderprogramm zu den Stammzellen aufgelegt. Auch das wird einfach weiterlaufen. Es geht wirklich hier nur um die Gelder, die der Bundesstaat verteilt über die National Institutes of Health, diese Gesundheitsforschungsbürokratie NIH. Und die haben in ihren Förderrichtlinien argumentiert, dass sie zwar nicht die Herstellung von ES-Zellen, die die Zerstörung von Embryonen beinhaltet, fördern, wohl aber die Forschung, wenn diese dann hergestellt worden sind. Das ist also eine gewisse Spitzfindigkeit, die hier gemacht worden ist. Der US-Kongress hat einmal in einer Entscheidung gesagt, dass die Herstellung von ES-Zellen eben nicht gefördert werden darf. Aber das NIH sagt: Wir fördern nicht die Herstellung, sondern nur die Forschung. Wenn das dann mal passiert ist und der Richter hat jetzt schlicht und einfach gesagt, das ist mir zu spitzfindig, wenn der Kongress sagt, ich will nicht dafür bezahlen, dass Embryonen zerstört werden, dann gilt das nicht nur für den Akt der Zerstörung selbst, sondern auch für die Forschung an den ES-Zellen, die dann eben auf diesem Weg hergestellt worden sind. Zöfel: Und wer hatte jetzt geklagt? Wildermuth: Da war eine ganze Reihe von christlichen Organisationen. Unter anderem Nightlight, die vermittelt Adoptionen von Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung sozusagen übrig bleiben. Es hatten auch Paare geklagt, die solche Embryonen adoptieren wollten. Es haben zwei Forscher adulten Stammzellen geklagt und diese bunte Mischung hat im ersten Versuch keinen Erfolg gehabt. Da hat der Richter nämlich gesagt, die sind ja gar nicht betroffen von dieser Förderrichtlinie. Da gibt es keinen Grund für die, zu klagen. Die beiden Stammzellforscher, die an den erwachsenen Stammzellen arbeiten, sind dagegen in Berufung gegangen. Und dann hat das Berufungsgericht gesagt: Ja, die sind tatsächlich beeinträchtigt. Denn das Geld, das in die Richtung embryonale Stammzellforschung fließt, fließt ja nicht in Richtung adulte Stammzellforschung. Die haben also einen konkreten Nachteil. Das heißt, der Richter musste sich erneut mit dem Thema beschäftigen, diesmal tatsächlich in die Sache einsteigen. Und er hat dann in dieser einstweiligen Verfügung erklärt: Ja, es gibt gute Chancen, dass diese beiden Stammzellforscher auch in der Hauptverhandlung Recht bekommen, weil das eben so spitzfindig ist, wie die NIH da argumentieren. Auf der anderen Seite haben sie tatsächlich einen Nachteil: nämlich die nicht verwirklichten Forschungsvorhaben, und deshalb hat er diese einstweilige Verfügung erlassen. Zöfel: Eine einstweilige Verfügung - was heißt das genau? Wildermuth: Gute Frage. Also ich habe das Urteil vorhin noch einmal gelesen und ich habe es letztlich nicht verstanden. Wie mir geht es auch den Forschern in den USA, es geht den Politikern so. Da heißt es, der Status Quo soll wieder hergestellt werden. Aber welcher Status Quo? Also heißt es: Jetzt gilt die Regelung Bush wieder - Bestimmte Stammzellen sind erlaubt, die vor einem Stichtag hergestellt wurden? Oder ist jetzt generell das NIH nicht mehr in der Lage, solche Art von Forschung zu finanzieren? Was ist mit den Forschungsvorhaben, die bereits bewilligt worden? Die Gelder, die schon ausbezahlt worden sind - dürfen die weiter verwendet werden? Also ein Stammzellforscher aus Boston hat heute Morgen erstmal seinen Mitarbeitern gesagt: Bitte füttert mir meine embryonalen menschlichen Stammzellen nicht mehr mit Nährstoffen, die ich mit NIH-Mitteln gekauft habe. Also da gibt es eine große Verwirrung. Die Regierung will jetzt wohl gegen diese einstweilige Verfügung Berufung einlegen. Und bevor das nicht passiert ist, wird es wohl keine Klarheit geben. Man darf wirklich gespannt sein, wie das weitergeht. Zöfel: Gibt es schon weitere Reaktionen auf dieses Urteil? Wildermuth: Die christlichen Organisationen in den USA sind natürlich hoch befriedigt. Die sehen das als einen wichtigen ersten Schritt, um eben die Forschung an diesen embryonalen Stammzellen zurückzudrängen. Auf der anderen Seite sind Forscher und auch Patientenorganisationen sehr besorgt. Die meinen, dass hier wichtige Therapiemöglichkeiten nicht weiter erforscht werden können. Wie gesagt, das stimmt so ganz nicht, weil die privaten Forschungen gehen ja weiter. Und auch in Kalifornien wird es weitergehen. Aber das NIH vergibt eben doch einen großen Batzen Geld und das wird die amerikanische Forschung an den menschlichen embryonalen Stammzellen durchaus zurückwerfen - keine Frage. Zöfel: In letzter Zeit war viel von den iPS-Zellen die Rede, von sogenannten iPS-Zellen, die fast genauso vielseitig sein sollen wie embryonale Stemmzellen. Sind Stammzellen überhaupt noch wichtig? Wildermuth: Ja, also diese embryonalen Stammzellen sind nach wie vor wichtig, weil was diese iPS-Zellen taugen, das weiß letztlich keiner so genau. Diese Forschungen stehen wirklich noch am Anfang. Es ist ja noch nicht einmal zwölf Jahre her, dass man erstmals diese embryonalen menschlichen Stammzellen isoliert hat. Da kann noch keiner genau sagen, welcher Zelltyp für welche Krankheit welches Potenzial birgt. Das kann man letztlich nicht im Labor klären mit irgendwelchen Vorversuchen, die im Moment laufen, sondern nur in klinischen Studien an Patienten. Die haben begonnen auf einigen wenigen Feldern, zum Beispiel Zuckerkrankheit, Querschnittlähmung beginnt auch etwas. Solche Studien fangen an, aber das wird noch Jahre dauern, bis man das Potenzial wirklich abschätzen kann. Und solange das nicht so ist, kann man weder denen glauben, die sagen, das ist die Zukunft der Medizin, noch denen, die sagen, das bringt sowieso nichts, da muss man weitere Forschung betreiben, ohne geht's nicht.
Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth im Gespräch mit Katrin Zöfel
Die Forschung an embryonalen Stammzellen sorgt nicht nur in Europa für scharf geführte Debatten. In den USA hatte US-Präsident Obama 2009 die Richtlinien für staatliche Förderung der Stammzellenforschung gelockert. Nun hat ein Gericht Obama auf diesem Weg gestoppt.
"2010-08-24T16:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:03:14.554000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grosse-verwirrung-um-kleine-zellen-100.html
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Vertrag wird unterzeichnet
Auch CDU-Chefin Angela Merkel wird heute den Koalitionsvertrag unterschreiben. (picture-alliance / dpa / Maurizio Gambarini) Am Montagmittag kommen Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) zusammen, um die Große Koalition zu besiegeln. Der Vertrag war vor knapp drei Wochen nur vorläufig unterzeichnet worden, weil die Abstimmung der SPD-Basis über die Koalitionsvorhaben noch ausstand. Am Samstag hatten die Sozialdemokraten den Koalitionsvertrag mit großer Mehrheit gebilligt und damit den Weg für die Regierungsbildung freigemacht. Trittin: Bundesumweltministerin Hendricks "handlungsunfähig" Am Sonntagabend gaben nach der SPD auch CDU und CSU ihre Minister bekannt und vervollständigten damit das Kabinett. Darin sind gleich drei ehemalige Umweltminister vertreten. Kanzlerin Merkel sieht die Regierung damit für Herausforderungen wie die Umsetzung der Energiewende gerüstet. Für den Grünen-Politiker Jürgen Trittin ist die neue Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) allerdings deutlich geschwächt. Er kritisierte, dass der Themenbereich Energie an das Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Gabriel ausgelagert wurde und sagte im Deutschlandfunk, die weltweite Erwärmung des Klimas könne so nicht effektiv bekämpft werden. Hendricks sei "eigentlich handlungsunfähig". Kritik an der Verteilung der Ministerien in der schwarz-roten Bundesregierung kam auch von der mittelständischen Wirtschaft. Der Präsident des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, sagte Handelsblatt Online, es stelle sich die Frage, "wer in der Großen Koalition Koch und Kellner ist". Die SPD habe trotz ihrer Wahlniederlage mit dem Wirtschafts- bzw. Energieministerium und dem Arbeitsministerium gleich zwei Schlüsselressorts übernommen. "Das wird für die Wirtschaft teuer", sagte Ohoven. Zuspruch für künftige Bundesverteidigungsministerin Das Bundesverteidigungsministerium wird mit Ursula von der Leyen (CDU) erstmals von einer Frau übernommen. Der Deutsche Bundeswehrverband (DBWV) befürwortete diese Personalentscheidung. DBWV-Vorstandsmitglied Andreas Hubert sagte dem "Hamburger Abendblatt", "das Ministerium mit Frau von der Leyen an der Spitze hat Potenzial". Die frühere Familienministerin sei sensibilisiert für das Thema "Vereinbarkeit von Beruf und Familie". Das sei für die Bundeswehr als Freiwilligenarmee ein zentraler Punkt im Hinblick auf die Ausrichtung der Truppe für die Zukunft, hob Hubert hervor. Auch der scheidende Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus (FDP), erklärte, er setze in diesem Punkt große Hoffnungen auf von der Leyen. Ursula von der Leyen (CDU) wird die erste Bundesverteidigungsministerin. (AP) Der derzeitige und künftige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat vor, in den kommenden vier Jahren den Euro weiter zu stabilisieren. Man sei gut vorangekommen und stehe jetzt vor der Aufgabe, in Europa eine Bankenunion zu schaffen, sagte Schäuble im Deutschlandfunk. Außerdem betonte er, der Koalitionsvertrag enthalte keine großen finanziellen Versprechen. Die Finanzen der kommenden vier Jahre stünden auf einer soliden Basis. Oppermann bewirbt sich für SPD-Fraktionsvorsitz Die SPD-Bundestagsfraktion kürt am Nachmittag einen Nachfolger für ihren Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, der in der Großen Koalition erneut Außenminister wird. Zur Wahl stellt sich der bisherige Parlamentarische Geschäftsführer Thomas Oppermann. Seine Nachfolgerin soll die hessische SPD-Abgeordnete Christine Lambrecht werden. Morgen Vormittag kommt schließlich der Bundestag zusammen, um Angela Merkel (CDU) erneut zur Bundeskanzlerin zu wählen. Sie und die neuen Minister sollen dann auch ihre Ernennungsurkunden von Bundespräsident Joachim Gauck erhalten. Am Mittwoch reisen Merkel und der neue Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach Paris. Dort treffen sie sich mit Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande. Die gegenseitigen Antrittsbesuche beim engsten europäischen Partner gehören zwischen Deutschland und Frankreich zur Tradition.
null
In Berlin besiegeln CDU, CSU und SPD heute die dritte Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik. Die drei Parteivorsitzenden Merkel, Gabriel und Seehofer unterschreiben den Koalitionsvertrag mit den Vorhaben der neuen Regierung.
"2013-12-16T06:13:00+01:00"
"2020-02-01T16:51:13.432000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grosse-koalition-vertrag-wird-unterzeichnet-100.html
456
Mugabes Rücktritt bleibt aus
Ein Mann verfolgt in seiner Hütte in Harare Mugabes Ansprache. (AFP / ZINYANGE AUNTONY) "I thank you and good night" - so endete Mugabes Ansprache, ohne dass er seinen Rückzug vom Präsidentenamt erklärt hätte. Stattdessen gab er - flankiert von den Kommandeuren des Militärs - Ungefähres von sich: Er appellierte an die Bürger des Landes, sich nicht von Bitterkeit leiten zu lassen, und er äußerte Verständnis für Frustration in der Bevölkerung angesichts der wirtschaftlichen Lage und des Streits in seiner Partei. Mugabe bei seiner Fernsehansprache. (AFP) Der Chef der Veteranen des Befreiungskrieges in der Regierungspartei Zanu-PF, Chris Mutsvangwa, erklärte nach Mugabes Ansprche, dass der Plan zur Amtsenthebung des Staatschefs nun vorangetrieben werde. Zugleich kündigte er Massenproteste in der Hauptstadt Harare ab Mittwoch an. Die Vetranengruppe hat innerhalb der Partei großen Einfluss. Das Führungsgremium der Zanu-PF hatte Mugabe heute als Parteichef abgesetzt und seinen früheren Stellvertreter Mnangagwa zum Nachfolger bestimmt. Das Komitee folgte damit einem Beschluss der Regionalverbände und der Kriegsveteranen. Minister Chinamasa sagte bei einer Pressekonferenz, wenn Mugabe nicht bis Montagmittag als Präsident zurücktrete, werde ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Zugleich betonte er, Mugabes Frau Grace sei aus der Zanu-PF ausgeschlossen worden. Nach der Entscheidung kam es bei Mitgliedern des Komitees zu Jubel: Das Militär hatte den 93-jährigen Mugabe am Mittwoch entmachtet und unter Hausarrest gestellt. Damit sollte verhindert werden, dass Mugabe seine Frau als Nachfolgerin an der Spitze des Staates einsetzt. Berichten zufolge traf sich Mugabe heute mit Armeegenerälen. ARD-Korrespondent Jan-Philippe Schlüter bezeichnete das bei Twitter als seinen letzten Kampf um die Macht in Simbabwe. In der Hauptstadt Harare gingen am Samstag Zehntausende Menschen auf die Straße, um die Entmachtung von Präsident Robert Mugabe zu unterstützen. Die Demonstranten schwenkten Landesfahnen und umarmten Soldaten. Auf Plakaten war zu lesen: "Nein zu einer Mugabe-Dynastie". Das ehemalige Südrhodesien hat seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1980 keinen anderen Regierungschef als Mugabe erlebt. Der ehemalige Anführer des Guerilla-Kampfes gegen das weiße Minderheitsregime war zunächst als Premierminister im Amt. Später wurde er dann zum Staatspräsidenten. Bei seinem Amtsantritt rief er überraschend zur Versöhnung zwischen weißer Minderheit und der nun herrschenden schwarzen Bevölkerungsmerhrheit auf. Premierminister Mugabe 1982 in Bonn bei einer Pressekonferenz mit Kanzler Schmidt. (picture alliance / dpa / Peter Popp) Im Westen galt Mugabe für viele als Hoffnungsträger und wurde als ein wichtiger Ansprechpartner des südlichen Afrikas anerkannt. Seit den 90er-Jahren regierte Mugabe dann zunehmend diktatorisch. Politische Gegner beklagten Gewalt. Weiße Farmbesitzer wurden enteignet und ihr Eigentum an Parteimitglieder verteilt. Seit Jahren steckt die einstige "Kornkammer Afrikas" Simbabwe in einer Wirtschaftskrise. Trotz vieler Bodenschätze und einem günstigen Klima für die Landwirtschaft gehört Simbabwe heute den Vereinten Nationen zufolge zu den ärmsten Ländern der Welt. (mg/wes)
null
Als in Simbabwe eine Fernsehansprache des in die Enge getriebenen Präsidenten Mugabe angekündigt wurde, gingen nicht nur in dem afrikanischen Land alle davon aus, dass der 93-Jährige seinen Rücktritt erklärt. Doch es kam anders: Mugabe sprach über alles Mögliche, nur nicht über seine Demission. Dabei hatte seine Partei Zanu-PF zuvor bereits den Machtwechsel eingeleitet.
"2017-11-19T15:27:00+01:00"
"2020-01-28T11:01:35.897000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/simbabwe-mugabes-ruecktritt-bleibt-aus-100.html
457
Neue Regeln für Wirtschaftsprüfer überzeugen nicht
Der Finanzdienstleister erzielte angeblich exorbitante Gewinne, fragte jedoch stets nach frischem Geld. Misstrauisch machte das offenbar keinen. Warum prüften die Wirtschaftsprüfer von EY nicht ganz akribisch die Treuhandkonten von Wirecard? (www.imago-images.de) "Im Falle von EY stellt sich die Frage, warum die eigentlich diese Jahresabschlüsse testiert haben, aber nie überprüft haben, ob diese exorbitanten Gewinne, die Wirecard vorgegeben hat zu erzielen, um immer wieder an frisches Geld zu kommen, ob die überhaupt vorhanden sind." Nicht allein Fabio de Masi verwundert das. Der Bundestagsabgeordnete der Linken war maßgeblich daran beteiligt, einen Untersuchungsausschuss in der Wirecard-Affäre ins Leben zu rufen, zusammen mit dem Grünen-Abgeordneten Daniel Bayaz und dem FDP-Abgeordneten Florian Toncar. Auf seiner Homepage berichtet de Masi regelmäßig aus den Sitzungen des Ausschusses. Immer wieder geht es dabei um die Rolle der Wirtschaftsprüfer. Waren sie nicht neugierig genug und warum? Das Geld von Wirecard lag angeblich auf Treuhandkonten, für die sich die Wirtschaftsprüfer aber offenbar kaum interessierten: "Und die Frage stellt sich, warum EY sich nicht diese Konten hat näher zeigen lassen, das heißt, sie haben sich Belege zeigen lassen, die hätte aber ein 14-Jähriger mit einem Atari-Computer basteln können." Öffentliche Fahndung nach Ex-Wirecardvorstand Jan Marsalek (dpa) Zu wenige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, zuviel Macht? Der Ausschuss hat in dieser Woche seine Arbeit wiederaufgenommen. Das Versagen des Wirtschaftsprüfers EY bei Wirecard hat die Bedeutung der Branche in den Fokus gerückt und Zweifel genährt: Haben zu wenige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zu viel Macht? Was wird die Gesetzesänderung bringen, die gerade auf den Weg gebracht wurde? Können sich Anleger bald wieder auf die Arbeit von Wirtschaftsprüfern verlassen, anders als im Fall von Wirecard? Es lohne sich näher hinzuschauen, sagt Sven Giegold, Finanzexperte der Grünen im Europaparlament. Denn aus seiner Sicht geht es um volkswirtschaftlich Fundamentales: "Die Wirtschaftsprüfer sind für die Wirtschaft insgesamt sehr wichtig, nicht nur für die Kapitalmarktseite, sondern wenn sie mit einem Unternehmen in Geschäftsverkehr treten, ob nun als Lieferant oder als Kunde, dann wollen sie ja wissen, ist dieses Unternehmen solide aufgestellt? Und deshalb gibt es die Wirtschaftsprüfer, die die Bilanzen der Unternehmen prüfen und dafür sorgen, dass eben nur solche Akteure am Markt unterwegs sind idealerweise, die tatsächlich ihre Bilanzen wahr und richtig aufstellen und damit auch solide Geschäftspartner sind." Der Verantwortung nicht nachgekommen Wirtschaftsprüfer haben also eine große Verantwortung. Doch der kommen sie – wie sich am Fall Wirecard zeigt – nicht immer nach. Ein Grund dafür dürfte schon in der Struktur des Marktes liegen. Er wird von nur vier großen, weltweit agierenden Gesellschaften dominiert: Neben EY – früher Ernst & Young - sind das Pricewaterhouse Coopers, kurz PWC, KPMG und Deloitte. Giegold sieht da ein Hauptproblem: "Und das bedeutet, die großen, lukrativsten Aufträge teilen sich im wesentlich die vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auf. Und diese Vermachtung des Marktes ist eigentlich einer sozialen Marktwirtschaft fremd." Reform der Finanzkontrollen - Wie Fälle wie Wirecard künftig verhindert werden sollenDie Bilanzfälschungen des Zahlungsdienstleisters Wirecard sind einer der größten Finanzskandale Deutschlands. In der Kritik stehen auch die Finanzaufsichtsbehörde BaFin und die Wirtschaftsprüfer. Mit einem neuen Gesetz will die Bundesregierung nun für mehr Kontrolle und Regulierung sorgen. Prüfer werden von den zu Überprüfenden bezahlt Die auch "Big Four" genannten Gesellschaften sind es etwa, die die Bilanzen der großen DAX-Unternehmen prüfen. Dafür gebe es einige Gründe, erklärt Gerhard Schick, Vorsitzender der "Bürgerbewegung Finanzwende" und früher Abgeordneter der Grünen im Bundestag: "Das eine ist, dass die Prüfgesellschaften viel mehr eigentlich Beratungsgesellschaften mit angehängtem Prüfbetrieb sind und da hausintern diese Kultur überhaupt nicht entstehen kann, dass man für saubere Bilanzen zuständig ist. Das zweite ist, die Wirtschaftsprüfer werden bezahlt von den Unternehmen, die sie überprüfen müssen und wollen natürlich sich die Folgeaufträge nicht verscherzen. Und gegenüber einem Auftraggeber so dominant aufzutreten und zu sagen, nein, ich testiere das nicht, das braucht ganz viel Haltung oder eben ganz klare rechtliche Normen, damit so etwas funktionieren kann." Oft Berufsanfänger bei Sonderprüfungen In der Praxis ist das aber nicht das einzige Problem: "Ich habe ja bei KPMG in der forensischen Sonderprüfung gearbeitet, das heißt im Beratungsteil, und in dem Teil, wo eben nicht die standardmäßige Prüfung, sondern dann bei Anfangsverdacht eben Sonderprüfungen stattfinden." Sagt Christoph Trautvetter. Er ist inzwischen wissenschaftlicher Referent beim "Netzwerk Steuergerechtigkeit". Trautvetter beschreibt, wie gerade große Unternehmen die Wirtschaftsprüfung in ihrem täglichen Geschäft handhaben. Das sei ein Massengeschäft, mit dem häufig Berufsanfänger betraut würden: "Dann kriegen diese jungen Universitätsabsolventen einen Prüfungskatalog, den sie relativ automatisch ohne viel zu hinterfragen abarbeiten. Und dann gibt es zusätzlich eben zu diesen jungen Absolventen, die dann den Großteil der Arbeit machen und diese Prüfungskataloge abarbeiten, dann meistens noch die Management-, die Partnerebene, die die Mandate verhandelt, die am Ende den Bericht unterzeichnet und prüft. Auf der unteren Ebene kriegt man davon nicht sehr viel mit. Das wird dann immer im Abschlussgespräch verhandelt, auf Partnerebene meistens oder bei den Managern. Dieser Fragenkatalog, der dann abgearbeitet wird, der wird auf dieser Ebene verhandelt, festgelegt, entwickelt und dann relativ automatisch einfach abgearbeitet." Die SPD wirft dem Zeugen Karl-Theodor zu Guttenberg vor, im Wirecard-Untersuchungsausschuss gelogen zu haben. (Michele Tantussi/Reuters/Pool/dpa) "Definitiv eine politische Entscheidung auf höherer Ebene" Trotz dieser Standardabwicklung komme es natürlich vor, dass die meist jungen Wirtschaftsprüfer auf Ungereimtheiten stießen, erzählt Trautvetter. Dann berufe sich das Prüfungsunternehmen oft auf Beschränkungen seiner Arbeit: "Es wird sehr, sehr methodisch und sehr, sehr detailliert alles aufgeschrieben, was man nicht machen konnte, und was man nicht gemacht hat, um eben da das Haftungsrisiko zu minimieren. Und das passiert dann immer, wenn Verdachtsmomente aufkommen, dass man dann eben eher sagt, okay, wir versuchen jetzt eben in irgendeinem Rahmen abzuarbeiten und uns da auch mit unserer Methodik zu entlasten, anstatt da wirklich noch mal lange nachzurecherchieren." Ob das auch EY im Fall Wirecard so gehandhabt habe, das lasse sich von außen nicht sicher beurteilen, meint Trautvetter. Eines scheint ihm jedoch klar: "Die Entscheidung, diesen Verdachtsmomenten nicht bis zum Ende nachzugehen und trotzdem zu testieren, das war definitiv eine politische Entscheidung auf einer höheren Ebene." Bundesfinanzminister zum Wirecard-Skandal - Scholz (SPD) will BaFin mehr Kontrollmöglichkeiten gebenDas Bundeskabinett will nach dem Wirecard-Skandal schärfere Gesetze auf den Weg bringen. Im Zuge dessen solle die BaFin unangekündigt und unabhängiger prüfen, sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) im Dlf. Auch Wirtschaftsprüfer müssten häufiger wechseln und die Haftung von Prüfunternehmen solle erhöht werden. "Man agiert als Partner der Chefetage, bestens vernetzt" Warum aber können die großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sich das leisten? Eine wesentliche Antwort gibt schon die Wirtschaftsprüferkammer selbst in einem Werbevideo. Darin wird einem Abiturienten, hier Daniel genannt, erklärt, warum der Beruf des Wirtschaftsprüfers so interessant sei: "Außerdem kann er hinter die Kulissen der Wirtschaft blicken, da ein Wirtschaftsprüfer tiefe Einblicke in die Geschäfte und Aktivitäten eines Unternehmens erhält. Dadurch bekommt Daniel ein enormes Marktwissen, mit dem er bei seinen Mandanten auch als Ratgeber punkten kann. Denn als Wirtschaftsprüfer lernt man viele Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen mit verschiedenen Rechtsformen kennen und arbeitet mit deren Führungspersönlichkeiten zusammen. Durch die beratende Funktion agiert man als Partner der Chefetage und ist somit bestens vernetzt." Mit diesem Wissen und ihrer Vernetzung haben sich gerade die großen Vier inzwischen unverzichtbar gemacht. Sie seien nicht mehr Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, sie seien "professionelle Servicegesellschaften". So nennt sie Michael Gschrei. Er steht dem Verband für die mittelständische Wirtschaftsprüfung, kurz "wp-net" vor. Gschrei sagt, dass inzwischen nur noch etwa ein Fünftel der Umsätze der "Big Four" auf die eigentliche Wirtschaftsprüfung entfallen, der Rest ist Unternehmens- und Steuerberatung. Dabei seien diese beiden Bereiche kaum miteinander vereinbar: "Ein Wirtschaftsprüfer hat ein Misstrauensverhältnis zu seinem Mandanten, zu seinem geprüften Unternehmen, und ein Berater hat ein Vertrauensverhältnis. Der Schwenk bei den großen Gesellschaften ist dahingegangen, zu diesem Thema: der Wirtschaftsprüfer ist auch Berater." Interessenkonflikte bei der Arbeit für Staat und Unternehmen Diese beiden Aufgabenbereiche müsse man deshalb streng trennen, meint nicht nur Gschrei, jedenfalls stärker, als das bisher der Fall sei. Abhängig vom Know How der "Big Four" sind aber nicht nur Unternehmen, sondern auch viele andere, darunter öffentliche Auftraggeber. Der Staat bedient sich ihrer Dienste, ihm fehle es oft an qualifiziertem Personal, sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold: "Man braucht ja eine Kompetenz, die sowohl ökonomisch und juristisch aktuell ist. Und das ist häufig schwierig. Deshalb bedient sich der Staat immer mehr externer Beratung. Und diese externen Berater arbeiten häufig nicht nur für den Staat gemeinwohlorientiert, sondern auch im gleichen Sektor für die Unternehmen. Genau deshalb werden sie vom Staat auch beauftragt, weil sie diese Unternehmen gut kennen. Aber daraus folgt natürlich im Beratungsauftrag ein eklatanter Interessenskonflikt. " Klaus-Peter Naumann, Vorstandssprecher des IDW, des Verbands der Wirtschaftsprüfer, sieht das ganz anders: "Wir helfen der Politik zum Beispiel bei der Fortentwicklung der Rechnungslegungsnormen, so, dass eine Rechnungslegung zu aussagefähigen Informationen führt." Untersuchungsausschuss zur Finanzpleite - Ex-Wirecard-Chef Markus Braun schweigt eisernDer ehemalige Chef des Finanzdienstleisters Wirecard, Markus Braun, sollte vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen zur Pleite seines Unternehmens. Aber außer einer dürren Erklärung gab es keine Antwort von ihm. Es wird deshalb nicht die letzte Anhörung gewesen sein. "Wirtschaftsprüfer nehmen Einfluss auch auf die Gesetzgebung" Wie unabhängig aber sind diese Experten der "Big Four" wirklich, beraten sie die Politik vor allem, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen? Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit sieht darin zumindest eine Gefahr: "Wir sehen, dass die Wirtschaftsprüfer Einfluss auch auf die Gesetzgebung nehmen und dabei eben oft auch sich selbst regulieren und die Gesetzgebung selbst beeinflussen, weil sie Leute aus ihren Kreisen dann eben in die Regierung entsenden und umgekehrt." Die "Big Four", dominieren auch den Branchenverband IDW. Der habe an einer Änderung dieses Systems kein Interesse, meint Michael Gschrei, der kleinere Wirtschaftsprüfer in seinem Verband wp-net vertritt. Der IDW profitiere schließlich über die Beiträge an den Verband von den steigenden Umsätzen der so genannten "professionellen Servicegesellschaften": "Damit wächst auch die Macht vom IDW, weil sie natürlich in den letzten zehn Jahren, ihre Beiträge dadurch, ohne die Beiträge erhöhen zu müssen, verdoppelt hat. Und damit sind für uns diese Vorschläge aus dieser Ecke nicht gerade von Glaubwürdigkeit und von Unabhängigkeit geprägt." Oktober 2020 tagte der 3. Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode zu Thema Wirecard (AFP / Adam Berry) Auch die BaFin nimmt die Dienste der "Big Four" in Anspruch Die Dienste der "Big Four" werden sogar von der Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin in Anspruch genommen, weil auch die BaFin zu wenig Personal hat, um möglichen Ungereimtheiten bei Banken oder Versicherern immer selbst nachzugehen. Sie beschäftigt derzeit ganze fünf Wirtschaftsprüfer, das zeigt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten de Masi. Ein Unding, sagt Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende: "Deswegen muss eine wichtige Konsequenz sein, dass die BaFin als Finanzaufsichtsbehörde sich unabhängig macht von den Wirtschaftsprüfern, sonst läuft das alles ins Leere." Die BaFin soll nun tatsächlich mehr "Biss" bekommen. So sieht es der Entwurf des "Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes" vor, der Mitte Dezember vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht wurde. Mehr Biss – dazu müsste die Aufsichtsbehörde für Bewerber attraktiver werden. Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater zahlen nämlich weit besser als staatliche Behörden. "Die Wirtschaftsprüfer und die Berater können teilweise einfach Arbeitsumfeld und Arbeitskonditionen und auch flexible Modelle anbieten, die die Regierung nicht anbietet", ….sagt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit: "Deswegen gibt es in einigen Bereichen eben tatsächlich nicht genug Leute, die Beamte werden wollen und diesen Job übernehmen." Die Bankenaufsicht im Wirecard-Skandal - Was ist die BaFin?Im Skandal um den insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard ist auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in den Fokus geraten. Kritiker sagen, die Behörde hätte die Unregelmäßigkeiten bei Wirecard früher erkennen müssen. Was sind die Aufgaben der BaFin und was wird ihr vorgeworfen? Die "Big Four" haben im Wirtschaftsministerium ihre eigene Etage Und so schließt sich ein Kreis: "Und deswegen ist man in einigen Bereichen auf externe Beratung angewiesen. Aber man kann auf der anderen Seite natürlich die bestehenden Beamten auch noch sehr viel besser einsetzen für die Aufgaben, die jetzt externe Berater oft übernehmen." Ob das bald auch geschieht, bleibt offen. Durch Wirecard ist zweifellos etwas in Bewegung geraten, die "Big Four" dürften einflussreich bleiben. Derzeit beaufsichtigen sie sich quasi selbst in der weniger bekannten, dafür aber sehr interessanten "Aufsichtsprüferaufsichtsstelle": "Die sind im Wirtschaftsministerium angesiedelt, haben aber da eine abgetrennte, eigene Etage und sind auch hauptsächlich aus den Big Four da übernommen worden. Das heißt, die sind tatsächlich im Wirtschaftsministerium auf ihrer eigenen Etage mit ihren eigenen Leuten ein Staat im Staat." Prüfer kaufte mit Insiderwissen Wirecard-Aktien Kontrolleure, die sich selbst kontrollieren sollen und deren Kontrolle deshalb Lücken lässt: Der inzwischen zurückgetretene Chef dieser "Aufsichtsprüferaufsichtsstelle" Ralf Bose kaufte noch Ende April des vergangenen Jahres Wirecard-Aktien. Zu einem Zeitpunkt als längst Betrugsvorwürfe kursierten. Er verkaufte sie einen Monat später zwar wieder, aber erst kurz nachdem seine Aufsichtsbehörde ein Verfahren gegen die Wirecard-Wirtschaftsprüfer von EY eingeleitet hatte. "Die großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften haben es mit ihrem langjährigen Lobbyeinfluss geschafft, dass ihre Interessen vom Wirtschaftsministerium unter Peter Altmaier jetzt praktisch mit vertreten werden und daher auf der Bremse gestanden wird bei wirklicher Aufklärung und Reform", moniert auch Gerhard Schick von der "Bürgerbewegung Finanzwende". Wirecard-Skandal - "Scholz hätte die BaFin mehr kontrollieren müssen""Olaf Scholz hätte die BaFin mehr kontrollieren müssen und die BaFin hätte ihre Aufgaben besser wahrnehmen müssen", sagte die Vorsitzende des Finanzausschusses im Bundestag Katja Hessel (FDP) im Dlf. Dass man zehn Jahre lang nicht merke, dass die Bilanzen manipuliert seien, werfe kein gutes Licht auf das System der Wirtschaftsprüfung. "Lobbysturm" gegen eine Rotation der Wirtschaftsprüfer Schon vor dem Wirecard-Skandal machte die Politik immer mal wieder einen eher halbherzigen Ansatz, um die Macht der "Big Four" zu begrenzen. 2016 trat eine Reform in Kraft, die für eine häufigere Rotation der Prüfer sorgen sollte. Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold erinnert sich: "Da war was los! Der Lobbysturm der großen vier Wirtschaftsprüfungsgesellschaften war enorm. Und insbesondere ging es ihnen darum, kurze Rotationspflichten und Verpflichtungen zu verhindern, das heißt, dass ein Auftraggeber regelmäßig in andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften überführt wird. Damals stand auch die deutsche Bundesregierung auf der falschen Seite." Eigentlich sollen Unternehmen seit der EU-Reform 2016 alle zehn Jahre einen anderen Wirtschaftsprüfer berufen. In Deutschland wurde die Bestimmung abgeschwächt. Dabei sollte es auch bleiben, meint Klaus-Peter Naumann vom Institut der Wirtschaftsprüfer: "Wir haben heute Regeln, dass wir bei Banken und Versicherungen grundsätzlich alle zehn Jahre den Prüfer wechseln müssen, und dass wir ihn bei anderen kapitalmarktorientierten Unternehmen nach 20 Jahren wechseln müssen. Denn da das Gesetz jetzt gerade erst vier Jahre in Kraft ist, finden wir es ziemlich verfrüht, über eine Verkürzung dieser Fristen heute zu reden, zumal auch das wieder mit dem Fall Wirecard nichts zu tun hat." Eine schnellere Rotation verschlechtere die Qualität der Prüfung, so Naumann, und werde zudem zu noch mehr Konzentration im Markt führen: "Weil die Sorge, die wir geäußert haben, die war, dass mehr Unternehmen nach dem Ausscheiden des Prüfungsmandats und beim Wechseln des Prüfers von einer mittelständischen zu einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wechseln als umgekehrt. Und was wir beobachten konnten, ist, dass genau dieses eingetreten ist." Wirecard-Skandal als Krimi - Stoff für einen echten ThrillerMilliarden an Luftbuchungen, politische Verstrickungen, ein Ex-Vorstand auf der Flucht: Der Skandal um den Zahlungsdienstleister Wirecard hat viele Zutaten für einen Thriller. Der Krimi-Autor Horst Eckert hätte da ein paar Ideen. "Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz" - auch lückenhaft Einer weiteren Konzentration der Branche könnte man durch ein "Joint Audit" entgegentreten, also durch die Verpflichtung einer zweiten Prüfungsgesellschaft. Doch dieser Vorschlag fehlt im "Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz", das Bundesfinanzminister Olaf Scholz als Reaktion auf den Wirecard-Skandal vorgelegt hat. Gut für die "Big Four". Besonders schmerzhaft wäre es für sie hingegen, wenn eine andere Bestimmung der EU-Richtlinie greift: Die Trennung von Prüfung und Beratung. Noch gelten in Deutschland Ausnahmeregelungen, die aber nach dem Gesetzentwurf komplett gestrichen werden sollen. Für Sven Giegold ein Lichtblick: "Da muss man an den Interessensstrukturen der Wirtschaftsprüfer arbeiten, und das bedeutet eben ein Ende der Prüfung und Beratung von den gleichen Unternehmen und die Beauftragung der Wirtschaftsprüfer nicht mehr durch das Unternehmen selbst, sondern durch einen gemeinwirtschaftlichen Akteur." "Vier Millionen sind wahrlich kein Pappenstiel" Und schließlich sollen die Gesellschaften nach dem Gesetzentwurf von Bundesfinanzminister Olaf Scholz stärker in die Haftung genommen werden. IDW-Vorstandschef Naumann versteht das nicht: "Solange ein Wirtschaftsprüfer einen Fehler macht, der nicht als vorsätzlich zu beurteilen ist, sondern als fahrlässig, haftet er mit vier Millionen. Vier Millionen Haftung für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft bei einem DAX-Unternehmen hört sich jetzt nicht wirklich nach viel an. Wichtig ist aber zu wissen, dass mit diesen vier Millionen nicht nur die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft haftet, sondern daneben persönlich jeder Gehilfe, der an der Abschlussprüfung mitgewirkt hat. Vier Millionen sind wahrlich kein Pappenstiel." Der Gesetzentwurf sieht trotzdem eine Erhöhung des Haftungsrahmens von 4 Millionen auf 16 Millionen Euro für leichte Fahrlässigkeit und sogar die Aufhebung der Haftungsgrenze für grobe Fahrlässigkeit vor. Sinnvoller wäre womöglich der Mut zur Transparenz: Der Gesetzgeber könnte Aufsichtsgremien wie die "Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung" oder die "Abschlussprüferaufsichtsstelle" von der Verschwiegenheitspflicht befreien, wenn Regelverstöße einzelner Prüfer bekannt werden. Doch das sieht der Entwurf des "Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes" nicht vor. Der große Wurf sei es nicht, kritisiert Christoph Trautvetter vom "Netzwerk Steuergerechtigkeit". Wahrscheinlich müssten nach Wirecard andere Skandale kommen, damit sich die Lage grundlegend ändere: "Die Vorschläge zur Verbesserung liegen im Prinzip alle auf dem Tisch, und wir kommen ihnen mit jedem Skandal, mit jedem Aktionsplan und mit jedem Aktionismus immer ein Stückchen näher. Und ich denke, wir werden in Zukunft auch weiterhin einen regelmäßigen Fall von Skandalen und von Problemen haben, der hoffentlich dazu beiträgt, dass wir uns Schritt für Schritt dann am Ende doch in die Richtung bewegen, die eigentlich auch relativ klar ersichtlich ist, dass, wenn man vielleicht mit kleinen Schritten am Ende über die lange Frist doch zum Ziel kommt."
Von Brigitte Scholtes
Wie es um Wirecard stand, hätte der Wirtschaftsprüfer EY früher erkennen müssen - wenn er sorgfältiger die Bilanzen geprüft hätte. Der Skandal um den Zahlungsdienstleister lenkt den Blick auf die "Big Four" der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und deren enormen Einfluss in Wirtschaft und Politik.
"2021-01-16T18:40:00+01:00"
"2021-01-17T12:12:26.945000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-wirecard-skandal-neue-regeln-fuer-100.html
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"Ein Mensch kann nicht zum Verkauf stehen"
Der Kauf von Sex ist in Schweden seit 20 Jahren verboten. Die Einstellung der schwedischen Gesellschaft zur Prostitution hat sich in dieser Zeit deutlich gewandelt. (pa/dpa/Christians) Eine Hotelbar nahe des Stockholmer Hauptbahnhofs. Eine blonde Frau mit Kurzhaarschnitt sitzt auf einem Barhocker und gestikuliert wild mit ihren Händen. Sie hat viel zu erzählen und spricht schnell. "Ich bin Pye Jakobsson, und bin seit 30 Jahren Sexarbeiterin. Ich bin aus Stockholm, Schweden, und wohne leider wieder hier." Jakobsson ist Vorsitzende von Rose Alliance, einer Organisation, die sich als Sexarbeitergewerkschaft bezeichnet. Manche sagen, Pye Jakobsson ist Rose Alliance. Prostituierte an den Rand der Gesellschaft gedrängt Sie bekämpft das schwedische Gesetz zur Prostitution seit dessen Entstehung. Vor 20 Jahren entschieden die Abgeordneten im schwedischen Parlament, den Kauf von Sex zu verbieten, also Freier zu bestrafen. Zum 1. Januar 1999 trat die Regelung in Kraft. Prostituierte werden nicht bestraft. Aber an den Rand der Gesellschaft gedrängt, findet Pye Jakobsson: "Mit dem Sexkaufgesetz hat man ein sehr spezifisches Narrativ aufgebaut, was eine Sexarbeiterin ist, wie man über sie berichtet. Stereotyp sind die Frauen immer Opfer. Sie sind immer Übergriffen ausgesetzt, sind jung, haben kein Selbstwertgefühl, sie nehmen alle Drogen, sie werden immer in etwas reingelockt und machen nie etwas aktiv." Pye Jakobsson steht der Rose Alliance vor, einer Interessenvertretung für Sexarbeiter in Schweden (Deutschlandradio / Victoria Reith) Kvinnofrid - Frauenfrieden Die schwedische Regierung hat das Gesetz Mitte der 90er-Jahre ausgearbeitet, unter den Namen Kvinnofrid, Frauenfrieden, der in Schweden eine historische Verankerung hat. Schon im 13. Jahrhundert wurde als Frauenfriede der Brautraub verboten, und mit dem gleichen Arbeitstitel haben vor allem die Sozialdemokraten vorangetrieben, dass der Kauf von Sex in Schweden unter Strafe gestellt wurde. Aus einer feministischen Perspektive wollte man nicht diejenigen bestrafen, die potenziell Gewalt ausgesetzt sind. Stattdessen sollen mit dem Gesetz die meist weiblichen Prostituierten geschützt werden. Bestraft werden sollen diejenigen, die Macht und Zwang auf sie ausüben, die Freier. Doch die Sexarbeiterin Pye Jakobsson findet: Das Gesetz schütze die Frauen nicht, im Gegenteil. Dabei stützt sie sich auf eine Studie von der Universität Malmö, die feststellt, dass das Sexkaufgesetz unerwünschte negative Effekte habe: die Stigmatisierung und Marginalisierung der Menschen, die Sex verkaufen, insbesondere durch Behörden, Gesundheitsorganisationen und der Polizei. "Vor einigen Monaten wurde ich von einem Paar kontaktiert. Sie verkauft Sex und sie leben zusammen und sind verheiratet. Jetzt wird der Mann wegen Zuhälterei angeklagt. Natürlich sind die beiden sehr verunsichert. Sie hat Angst um ihren normalen Job, sie ist Akademikerin. Das kann das ganze Leben des Paares zerstören." Mehr ausländische Prostituierte Weil sie als Zeugin verhört werde, sei auch der Name der Frau nun öffentlich, sagt Pye Jakobsson. Das Stigma, das mit dem neuen Gesetz gekommen sei, habe zwar dazu geführt, dass weniger schwedische Frauen sich prostituieren, erzählt Pye Jakobsson, doch ausländische Prostituierte gebe es in Schweden sogar mehr als früher – und die seien besonders gefährdet. "Frauen aus dem Ausland werden oft ausgeraubt, mit Pistolen oder Messern bedroht, vergewaltigt und erpresst. Und ich höre oft, dass das mehr geworden ist." Die ausländischen Frauen würden sich nicht trauen, Straftaten gegen sie zur Anzeige zu bringen – aus Angst abgeschoben zu werden. Neben dem Sexkaufgesetz kritisiert Jakobsson unter anderem einen Paragrafen im Migrationsrecht. Er besagt, dass diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht auf ehrliche Weise verdienen, abgeschoben werden können, auch wenn sie EU-Bürger sind wie im Fall einer Frau aus Rumänien. Und in den Gesetzen zur Zuhälterei und zum Mietrecht ist verankert, dass Vermieter Prostitution in ihren Wohnungen nicht tolerieren dürfen. Sobald Prostituierte auffliegen, die sich in den eigenen vier Wänden prostituieren, verlieren sie in der Regel ihre Wohnung. Und die Polizei trage dazu bei. "Die machen einen grauenhaften Job. Ich habe ein Problem mit der Art und Weise, wie sie arbeiten, und mit ihrem Fokus." Frauen als Opfer abgestempelt? Laut Pye Jakobsson ist das Sexkaufgesetz anti-feministisch, weil es Frauen als schutzbedürftig und Opfer abstemple. Doch verbreiteter in Schweden ist die gegensätzliche Meinung: Die selbstbestimmten Sexarbeiterinnen sind demnach in der Minderheit, die überbordende Mehrheit der Frauen handle aus Zwang. "Die Menschen müssen ihre Augen öffnen und sehen, was Prostitution eigentlich ist – eine furchtbare, destruktive Illusion. Es ist eine vollkommen verlogene Welt. Eine Illusion für die Frau, die ihren Körper verkauft, weil es das gute Leben, das sie sich von der Prostitution erhofft, nicht gibt. Eine Illusion für den Mann, der den Sex kauft, weil es die Frau, die er trifft, nicht wirklich gibt. Sie stellt etwas dar und er entscheidet, an die Lüge zu glauben. Aber für die Zuhälter und alle, die an der Prostitution verdienen, ist es eine Goldgrube." Eine Prostituierte aus Südeuropa schildert diese Erfahrungen im Buch "Skuggans Lag". "Gesetz des Schattens" von Simon Häggström. Er leitet die Prostitutionseinheit der Stockholmer Polizei, die aus sechs Polizisten besteht. Die Straßenprostitution hat sich seit Einführung des Sexkauf-Verbots halbiert. (dpa / Oliver Dietze) Neben ihm arbeiten dort auch Peter Åström, Martina Hildebrand und Marie Arnberg. Sie sitzen im eigentlich herrschaftlichen Gebäude der Stockholmer Polizei in der weit weniger repräsentativen Kantine in Zivil auf grünen Stühlen, und trinken Cola und Kaffee - Hauptsache Koffein. Martina Hildebrand schildert ihre Erfahrung mit dem Gesetz zur Prostitution: "Wir sind wirklich dankbar, dass der Kauf von Sex in Schweden verboten ist. Und dass Frauen nicht kriminalisiert werden, das macht es uns so viel einfacher, diesen Frauen zu helfen." Schutz weiblicher Sexarbeiter Das Gesetz, das zwar Strafen für die Freier vorsieht, nicht aber für die Prostituierten, sehe auch vor, dass die Polizei die meist weiblichen Sexarbeiterinnen schütze, ergänzt Marie Arnberg. "Wir versuchen ihnen da rauszuhelfen, vermitteln Traumatherapie, Kontakt zu Hilfsorganisationen oder Frauenhäusern. Wir wollen zeigen, dass es Hilfsangebote gibt und die bieten wir jedes Mal an, wenn wir diese Frauen treffen." Die Arbeit der Polizisten besteht darin, Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen, auszuwerten und dann die Freier möglichst auf frischer Tat zu ertappen. Das passiere täglich, erklärt Peter Åström. "Mit der Menge an Tipps, die wir bekommen, könnten wir leicht 365 Tage im Jahr rund um die Uhr arbeiten, zehn Jahre in die Zukunft und wir wären immer noch zu wenige Polizisten." Dass die Polizisten dazu beitragen, dass Frauen aus ihren Wohnungen vertrieben werden, wie Pye Jakobsson von der Sexarbeiterorganisation Rose Alliance ihnen vorwirft, wollen die Polizisten nicht so stehen lassen. Marie Arnberg: "Klar trifft das die Frauen hart, das kann ich gut verstehen, aber wir sind auch da, um Ratschläge zu geben, Hilfe und Schutz zu bieten." Die Polizisten werden bei ihren Einsätzen von einer Sozialarbeiterin begleitet, die sich um die Frauen kümmern soll und ausländischen Prostituierten erklärt, wie was in Schweden funktioniert. Bis zu einem Jahr Gefängnis möglich Die Frauen schützen, die Freier bestrafen. Soweit die Theorie. Seit der Einführung des Sexkaufgesetzes werden die meist männlichen Kunden mit Bußgeldern belegt, auch Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr sind möglich. Allerdings musste in den fast zwei Jahrzehnten seit der Einführung des Gesetzes noch nie ein Freier ins Gefängnis. Peter Åström würde sich wünschen, dass sich das ändert. Denn der Knackpunkt sei, wie man die Nachfrage bekämpft. "Bei Männern, die entscheiden, eine Frau für Geld zu kaufen, besteht offenbar eine Nachfrage. Deshalb brauchen wir in Schweden Gefängnisstrafen. Ich spreche gar nicht von mehreren Monaten, sondern von ein paar Wochen, die diese Männer bloßstellen. Bisher kriegen sie die Rechnung für das Bußgeld per Post und keiner erfährt, dass sie bei einer Prostituierten waren." Die Polizisten sind überzeugt, dass Prostitution meist mit Zuhälterei und in vielen Fällen auch mit Menschenhandel einhergeht. Daher sind sie froh über das Sexkauf-Gesetz. Marie Arnberg ist sicher, dass die Polizisten mit ihrer Arbeit einen Unterschied machen. "Wir haben alle das begründete Gefühl, dass wir nützliche Arbeit machen. Auch wenn ich jetzt keine Zahlen vorlegen kann. Es gibt eine Veränderung in der Einstellung und das ist meine höchstpersönliche Erfahrung, jedenfalls in Stockholm, wo wir arbeiten." Weniger Menschenhandel Wie sich die Prostitution in Schweden seit der Einführung des Gesetzes verändert hat, darüber gibt es viele Meinungen. Die schwedische Polizeibehörde konstatiert, dass der Menschenhandel durch das Verbot, Sex zu kaufen, zurückgegangen sei. Schweden habe den Ruf, dass es dort schwierig sei, mit Prostitution Geschäfte zu machen – anders als zum Beispiel in Deutschland, wo der Kauf von Sex legal ist. Auch Studien bestätigen: In Ländern, in denen Prostitution ganz oder teilweise verboten ist, gibt es weniger Menschenhandel zu sexuellen Zwecken als in Ländern, in denen Prostitution legal ist. Schwierig zu beantworten ist die Frage, ob es in Schweden seit Einführung des Gesetzes weniger Prostituierte gibt. Die Straßenprostitution hat sich halbiert. Doch die Anzeigen auf Eskortseiten im Netz haben sich in den vergangenen Jahren vervielfacht – von rund 300 im Jahr 2006 auf knapp 7000 im Jahr 2014. Ähnliches berichten Sofie Lidbäck und Elisabeth Lundqvist von Mikamottagningen, einer städtischen Anlaufstelle für weibliche und männliche Prostituierte und deren Angehörige. Sie haben ihr Büro im hippen Stockholmer Stadtteil Södermalm. Helle Räume, die einladen, Zeit dort zu verbringen. Sofie Lidbäck: "Wir merken, dass die Straßenprostitution weniger wird. Das heißt aber nicht, dass es keine Bordelle gibt oder Internetseiten, und dass Sex nicht mehr außer Haus verkauft wird. Aber das läuft eben übers Internet. Es gibt unterschiedliche Seiten und Communities und so kommt man in Kontakt." Sofie Lidbäck (l.) und Elisabeth Lundqvist (r.) von Mikamottagningen, einer städtischen Anlaufstelle für weibliche und männliche Prostituierte und deren Angehörige in Stockholm (Deutschlandradio / Victoria Reith) Lidbäck sagt , dass die meisten Prostituierten eine Gemeinsamkeit haben: frühere Traumata, ob sexuelle Übergriffe, Inzest, Mobbing oder Armut in der Familie. Viele von ihnen wiesen selbstschädigendes Verhalten auf, betont die Sozialarbeiterin. Sie und ihre Kolleginnen kontaktieren die Prostituierten und schicken ihnen Informationen – auf Schwedisch, Englisch und Rumänisch. Und sie arbeiten mit einer Frauenärztin zusammen. Dem Narrativ von Pye Jakobsson von Rose Alliance, die das Bild der selbstbestimmten Sexarbeiterin bewirbt, folgt die Sozialarbeiterin der Stadt Stockholm nicht. "Noch nie jemanden getroffen, der freiwillig Sex verkauft" "Ich arbeite seit 20 Jahren im Sozialdienst. Und ich habe noch nie jemanden getroffen, der freiwillig Sex verkauft. Das heißt nicht, dass es die nicht gibt. Und Rose Alliance in Schweden ist ziemlich klein." Für sie ist Pye Jakobsson von Rose Alliance eine recht einsame Verfechterin der Freiwilligkeit. Sofie Lidbäck hingegen bezeichnet Prostitution als eine Form der Sklaverei. "Vielleicht leben nicht alle Prostituierten im Menschenhandel. Aber man macht es noch lange nicht freiwillig. Die meisten denken ja nicht: ‚Oh ich brauche Geld, also verkaufe ich Sex.‘ Viele sagen, Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt, aber ich würde eher sagen, es ist die älteste Unterdrückung der Welt." Daher ist sie froh, dass in Schweden der Kauf von Sex verboten ist. "Schweden hat die Nase vorne mit dem Sexkaufgesetz und mit dem Handlungsplan der Regierung zur Prostitution. Wenn man sich darauf konzentriert, dass es keine Nachfrage gibt, dann gibt es auch keine Prostitution." Prostitution ist Teil männlicher Gewalt gegenüber Frauen Im neuen Handlungsplan der schwedischen Regierung steht, dass Prostitution ein Teil männlicher Gewalt gegenüber Frauen ist. Auf 29 Seiten ist festgehalten, wie man in Zukunft mit dem Thema umgehen will. Unter anderem steht darin, dass Schweden international Vorbild sein will bei der Bekämpfung von Prostitution, dem Schutz von Frauen und der Verbrechensbekämpfung. Die Zusammenarbeit mit den anderen nordischen Ländern soll ausgebaut werden. Außerdem sind Abkommen mit Rumänien und Bulgarien, den Herkunftsländern vieler Prostituierter, geplant. Sie sollen den Wissensaustausch zu den Themen Kinderrechte, Gleichstellung und sozialer Wohlfahrt fördern. Sofie Lidbäcks jüngere Kollegin Elisabeth Lundqvist ergänzt, das Sexkaufgesetz wirke sich möglicherweise nicht auf die reinen Prostitutionszahlen aus. Aber, so Lundqvist: "Das Gesetz verändert die gesellschaftliche Sicht, wie man Prostitution betrachtet, dass Prostitution ein Teil männlicher Gewalt Frauen gegenüber ist, und es ist gut, dass die Gesellschaft das hat. Damit kann man auch ein bisschen Druck ausüben." Dass das Sexkaufgesetz eine normgebende Wirkung hat, zeigen auch die Zahlen. Drei Jahre vor der Einführung des Gesetzes waren laut einer repräsentativen Umfrage nur 32 Prozent der Schwedinnen und Schweden dafür, den Kauf sexueller Leistungen zu verbieten. Direkt nach der Einführung 1999 standen dann mehr als 70 Prozent hinter dem Verbot. Die hohe Zustimmung besteht bis heute, wobei mit 80 Prozent deutlich mehr Frauen das Gesetz befürworten – gerade einmal die Hälfte der Männer sind mit dem Verbot einverstanden. Und wie sieht es mit den Freiern aus? Vor der Einführung des Gesetzes haben 13 Prozent der männlichen Befragten in einer Umfrage angegeben, sexuelle Dienste gekauft zu haben. 2008 waren es nur noch rund acht Prozent. "Ein Mensch kann nicht zum Verkauf stehen" Carina Ohlsson war vor 20 Jahren dabei, als das Gesetz im schwedischen Parlament verabschiedet wurde. Sie ist heute noch Abgeordnete der Sozialdemokraten und noch immer stolz darauf, ein weitaus restriktiveres Gesetz zu haben als zum Beispiel Deutschland. "In Deutschland denkt man vielleicht nicht, dass es das beste Gesetz ist. Aber wir Schweden finden, dass es ein gutes Gesetz ist. Es geht um den Respekt für den Menschen. Man respektiert einen anderen Menschen und dessen Körper nicht, wenn man ihn kauft. Ein Mensch kann nicht zum Verkauf stehen." Die schwedische Sozialdemokratin Carina Olsson hat vor 20 Jahren im schwedischen Reichstag für das Sexkaufgesetz gestimmt. (Deutschlandradio / Victoria Reith) Vor 20 Jahren haben einige Fraktionen, die Moderaten und die damalige Volkspartei, die heutigen Liberalen, gegen das Gesetz gestimmt. Die Christdemokraten hätten sich gewünscht, dass nicht nur Freier, sondern auch Prostituierte bestraft werden, und enthielten sich der Stimme. Heute gibt es im schwedischen Parlament keine nennenswerte Opposition mehr gegen das Prostitutionsverbot. Schwedens Regierung ist offiziell feministisch, die Gleichstellung von Mann und Frau ist Staatsräson. Und so argumentiert die Sozialdemokratin Ohlsson: "Um eine gleichberechtigte Gesellschaft zu haben, müssen wir Prostitution bekämpfen. Davon bin ich fest überzeugt." Prostitution im Ausland Die schwedische Regierung arbeitet an einem Gesetzentwurf, der es schwedischen Freiern auch verbieten soll, Sex im Ausland zu kaufen. Ohlsson: "Wenn es in Schweden verboten ist, können die Menschen heute trotzdem ins Ausland fahren und dort Sex kaufen. Da haben wir gesagt, dagegen müssen wir etwas tun." Die Verfolgung schwedischer Freier im Ausland dürfte allerdings schwierig werden. Im April 2006 forderte der schwedische Beauftragte für die Gleichstellung von Mann und Frau, Claes Borgström, die schwedische Fußballnationalmannschaft zum Boykott der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland auf, da der deutsche Staat durch die legale Prostitution permanent die Menschenrechte von Frauen verletze. Die schwedische Regierung rühmt sich damit, dass das Gesetz Modell für viele andere Länder stand: Südkorea, Südafrika, Island, Norwegen, England, Wales, Nordirland, Kanada und Frankreich. Doch die Meinungen zur internationalen Strahlkraft des Gesetzes sind geteilt. Die Sexarbeiterin Pye Jakobsson ist skeptisch: "Schweden hat eine lange Historie, dem Rest der Welt zu erklären, wie man Dinge zu tun hat. Aber wir sind auch Vorreiter bei Problemen wie Drogenmissbrauch, Überdosen, und Hepatitis-C-Erkrankungen. Ein toller Erfolg! Trotzdem mögen es die Schweden, anderen Ländern die Welt zu erklären." "Ganz Europa sollte nach Schweden schauen" Der Polizist Peter Åström hingegen ist stolz auf die schwedische Gesetzgebung: "Ich finde, ganz Europa sollte nach Schweden schauen. Damit man versteht, dass wir ein Problem haben. Der Menschenhandel zu sexuellen Zwecken in Europa umfasst 23 Milliarden Kronen, mehr als zwei Milliarden Euro im Jahr. Das ist ein florierendes Geschäft, von dem wir hier sprechen." Vor 20 Jahren hat der Gesetzgeber den Kauf sexueller Dienste in Schweden unter Strafe gestellt. Doch noch längst sind nicht alle Probleme gelöst. Schweden, ein Vorreiter in Sachen Prostitutionsbekämpfung? Ein Umdenken in den Köpfen vieler Menschen haben die Skandinavier mit ihrem Gesetz zwar bewirkt, doch die Illusion, die Prostitution sei nur annähernd beseitigt, hat niemand in Schweden.
Von Victoria Reith
Vor 20 Jahren hat Schweden den Kauf von Sex verboten – als erstes Land der Welt. Freier werden seitdem bestraft, die Prostituierten nicht. Eine Maßnahme, die Menschenhandel und Gewalt eindämmen sollte. Das sogenannte Sexkaufgesetz ist auch heute noch umstritten.
"2018-08-12T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:50.173000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwedisches-prostitutionsgesetz-ein-mensch-kann-nicht-zum-100.html
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Spanische Medien unter Druck
Auch die spanische Tageszeitung "El País" steht unter wirtschaftlichem Druck (PA/dpa/RICARDO CEPPI) Als David Jiménez 2015 Chefredakteur der zweitgrößten spanischen Tageszeitung "El Mundo" wurde, war er zuvor lange Jahre ihr Asienkorrespondent. Ein kompletter Outsider in der Medienwelt der spanischen Hauptstadt also. Doch er erfuhr schnell, was von ihm erwartet wurde. "Vom ersten Tag an habe ich mich gewundert. Da sagte mir der damalige Innenminister bei einem Treffen. 'Es ist jetzt nicht die Zeit, sich neutral zu verhalten.' Er verlangte von mir, die Zeitung in den Dienst der Regierung zu stellen. Da wurde mir schnell klar, dass Pedro J. Ramírez, langjähriger Chefredakteur und Gründer der Zeitung, 2014 tatsächlich auf Druck der Regierung entlassen worden war. Da wurde eine Zeitung kaputt gemacht, die trotz aller Fehler die streitbarste in der spanischen Demokratie war", sagt Jiménez. Wirtschaftskrise traf Medien schwer Immerhin hatte "El Mundo" schon seit seiner Gründung 1989 mit den Recherchen über die Korruption erheblich zum Niedergang der damaligen Regierung des Sozialisten Felipe González beigetragen. Doch die jüngste tiefgreifende Krise, die in Spanien zwischen 2008 und 2015 gewütet hat, hat die spanischen Medien enorm geschwächt, sagt Jiménez. "Mit der Krise verloren wir die Leser, die verkaufte Auflage brach um 70 Prozent ein. Die Konzerne und die Politik haben unsere Schwäche förmlich gerochen. Die großen Unternehmen haben weiter in uns investiert, die Anzeigen aufrechterhalten, trotz der brutalen Einbrüche bei der verkauften Auflage. Aber wer macht Dir schon einen Gefallen in Höhe von mehreren Millionen von Euro ohne Gegenleistung?", sagt Jiménez. Er selbst verlor nach nur einem Jahr seinen Job als Chefredakteur von "El Mundo". Weil er Politikern und Wirtschaftsbossen zu unbequem war, ist er überzeugt. "Einmal wollte ich etwas über César Alierta bringen. Er war damals noch Präsident von Telefónica, einer der wichtigsten Wirtschaftskapitäne Spaniens. Da sagte mir der Verlagschef: 'Es gibt Entscheidungen, die Arbeitsplätze kosten.' Offenbar war ihm klar, dass ich unsere journalistische Unabhängigkeit nicht opfern würde, um meinen Sessel zu retten. Seine Botschaft bedeutete: 'Vielleicht ist Dir Dein eigener Arbeitsplatz egal. Aber der Deiner Kollegen auch?'" Viele Stellen gestrichen Aber auch ohne den streitbaren Journalisten sind die Arbeitsplätze bei "El Mundo" und den übrigen Veröffentlichungen des Verlags Unidad Editorial nicht sicherer geworden. Seit 2009 hat sich die Zahl der Arbeitsplätze dort auf knapp 1.300 halbiert. Doch nicht nur "El Mundo" steht im Fokus des Drucks von Politik und Wirtschaft. Íñigo Barón, Wirtschaftsredakteur von "El País", wurde sogar Opfer eines Lauschangriffs. Er hatte über den Machtkampf innerhalb der Führungsriege der Großbank BBVA berichtet. "Als Journalist fühlt man sich völlig angreifbar, wenn man erfährt, dass die Polizei auf illegale Weise die Verbindungsdaten des Telefons ermittelt haben soll, mutmaßlich im Auftrag einer Bank. Man fühlt sich den Mächtigen völlig ausgeliefert. Ich habe mich gefragt: Seit wann geht das schon so? Mich interessiert auch weniger, welcher Beamte da konkret involviert war. Mich interessiert vor allem: Wer hat den Auftrag erteilt?" Starker Einfluss von Unternehmen Was Barón tröstet: Der Skandal ist aufgeflogen, die Justiz ermittelt. Ein Untersuchungsgericht hat in dem Fall inzwischen acht ehemalige Führungskräfte der Großbank BBVA als Beschuldigte vorgeladen: Allerdings gab es bei "El Pais" immer wieder den Verdacht, dass die Wirtschaft auf ganz andere Weise Einfluss nimmt. Investmentfonds, Banken und auch der Telefónica-Konzern gehören zu den wichtigsten Aktionären. Doch Baron wehrt sich: "Es gab Medien, die sich pflegeleichter gezeigt haben und andere, die dem Druck auch etwas entgegengesetzt haben. Und es gab Journalisten, die sich manipulieren ließen. Nicht alle haben sich gleich verhalten. Ich informiere seit 20 Jahren über Banken. Nie habe ich eine bevorzugte Behandlung akzeptiert. Aber es stimmt, wir haben uns in eine zu große Nähe zu den Mächtigen begeben, auch zu Unternehmen und Banken." Journalisten sollten stattdessen um ihre Unabhängigkeit kämpfen, meint Barón. Darum vergibt die spanische Vereinigung der Wirtschaftsjournalisten, der er selbst vorsteht, jedes Jahr einen Preis. Damit werden Vertreter aus Wirtschaft und Politik ausgezeichnet, die sich kritischen Medien besonders heftig wiedersetzen. Zu den jüngsten Preisträgern gehören auch Vertreter der Bank, die im Verdacht steht, Auftraggeber der Überwachung von Journalisten wie Barón zu sein.
Von Hans-Günter Kellner
Die spanische Presse steckt in einer tiefen Krise. Während die Auflagen stetig sinken, ist der Einfluss von Wirtschaft und Politik umso größer geworden. Dabei scheinen manche Unternehmen vor wenig zurückzuschrecken.
"2019-07-08T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:01:02.895000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaftskrise-spanische-medien-unter-druck-100.html
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Auf die Mobilisierung kommt es an
Ein Wagen mit Werbung für Ted Cruz vor dessen Wahlkampf-Hauptquartier in Iowa. (AFP / Jim Watson) Donald Trump und Ted Cruz schenkten einander nichts in den letzten Tagen vor der Wahl. Trump versuchte erneut, die angeblich unklare Wahlqualifikation von Ted Cruz zum Thema zu machen. Cruz ist in Kanada geboren, hat aber von Geburt die amerikanische Staatsbürgerschaft, die weitaus meisten Verfassungsrechtler haben keinen Zweifel, dass Cruz damit als Präsidentschaftskandidat antreten kann. Trump liegt zwar laut der letzten Umfrage der örtlichen Zeitung "Des Moines Register" vorne, muss aber seine Zustimmung in Umfragen jetzt auch in reale Stimmen übertragen. "Wenn wir jetzt nicht rausgehen und tatsächlich wählen, dann hätten wir unsere Zeit verschwendet." Viel Aufmerksamkeit für Rubio Ted Cruz hat die letzten Tage immer wieder darauf hingewiesen, dass Trump zur letzten TV-Debatte der Republikaner nicht erschienen sei: "Wer den Staat Iowa gewinnen will, der schuldet es den Menschen in Iowa, sich Fragen zu stellen, auch wenn es unangenehm ist. Das ist ein Einstellungsgespräch, und wer zum Einstellungsgespräch nicht erscheint, muss damit rechnen, den Job nicht zu bekommen." Viel Aufmerksamkeit bekommt auch der republikanische Senator Marco Rubio, der sich im Feld der Republikaner auf den dritten Platz vorgearbeitet hat. Er gilt als derjenige, auf den sich gemäßigte und traditionelle Republikaner zu einem späteren Zeitpunkt einigen könnten, um Trump oder Cruz zu verhindern. Enges Rennen bei den Demokraten Auch bei den Demokraten ist der Ton in den letzten Wochen schärfer geworden. Hillary Clinton liegt vorne, aber im Bereich der statistischen Fehlermarge. Die ehemalige Außenministerin im Kabinett Obamas hatte sich in den letzten Wochen immer deutlicher hinter das Erbe der Obama-Regierung gestellt: "Ich glaube, Präsident Obama bekommt nicht die nötige Anerkennung. Aber er hat verhindert, dass wir in eine große wirtschaftliche Depression abgerutscht sind." Auf Obamas Errungenschaften müsse man aufbauen, statt sie in Frage zu stellen, so Clinton. Sanders verspricht kostenlose College-Ausbildung Ihr Konkurrent, der linke Senator Bernie Sanders, ist dagegen der Ansicht, Obama sei nicht links genug gewesen. Sanders will Obamacare, ein System, dass private Krankenversicherungen mit staatlichen Zuschüssen kombiniert, abschaffen. Stattdessen will er ein komplett staatlich finanziertes Gesundheitssystem nach britischem Vorbild. Zu seinen Unterstützern gehören vor allem junge Leute, denen er eine kostenlose College-Ausbildung verspricht. "Unsere Kampagne trifft auf viel Enthusiasmus, besonders bei Leuten die die Politik des Establishments nicht mehr wollen. Und bei Leuten, die dagegen sind, dass fast alle Einkommenszuwächse an die reichsten Ein-Prozent der Bevölkerung gehen." Es kommt für alle darauf an, möglichst viele Anhänger zu mobilisieren und tatsächlich zur Wahl zu bringen. Komplexes Verfahren bei den Demokraten Bei den Republikanern ist das Verfahren relativ einfach geregelt, dort werden Stimmzettel abgegeben und ausgezählt. Bei den Demokraten ist es komplizierter. Dort müssen die Wähler in einen Raum und werden nach ihren Kandidaten sortiert und abgezählt. Kandidaten, die weniger als 15 Prozent erreichen, fallen raus. Ihre Unterstützer müssen entweder die Wahl verlassen oder sich einem anderen Kandidaten anschließen. Während des Verfahrens wird verhandelt und geworben, so dass es sich über Stunden hinziehen kann. Mit den Ergebnissen wird am Dienstag Morgen mitteleuropäischer Zeit gerechnet.
Von Marcus Pindur
Als erster US-Bundesstaat entscheidet in der Nacht Iowa über die Kandidaten der beiden großen Parteien für die US-Präsidentenwahl. Sowohl bei den Republikanern als auch den Demokraten zeichnet sich ein knappes Ergebnis ab. Nun kommt es darauf an, wer die meisten seiner Anhänger mobilisieren kann.
"2016-02-01T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:26.685000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-vorwahlen-auf-die-mobilisierung-kommt-es-an-100.html
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Umstritten - der Gesetzentwurf für integrere Unternehmen
Das Gesetz soll präventiv wirken und die firmeninterne Aufklärung beschleunigen (picture alliance / Sven Simon) "Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau. Der Finanzdienstleister Wirecard kommt nicht aus den Schlagzeilen. Das Unternehmen musste heute die Veröffentlichung seiner Jahresbilanz erneut verschieben. Hintergrund sind Guthaben auf Treuhandkonten in Milliardenhöhe, für die es laut Wirtschaftsprüfern keine ausreichenden Belege gibt." Der Bilanzskandal beim Finanzdienstleister Wirecard, der Hygieneskandal bei der Schlachterei Tönnies, der Dieselskandal in der Autoindustrie – das sind nur die jüngsten Fälle, in denen etwas so richtig falsch lief. Künftig soll es dafür deutlich höhere Strafen geben und zwar für die Unternehmen selbst. So sieht es zumindest ein Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, SPD, vor. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht will Gesetzesverstöße von Unternehmen strenger ahnden (dpa-Bildfunk / Michael Kappeler) Er wurde im Juni vom Kabinett beschlossen und soll demnächst in den Bundestag kommen. Bei den Haushaltsberatungen vor zwei Wochen im Parlament warb die Ministerin nachdrücklich für ihren Vorstoß: "Wenn wir von Wirtschaftskriminalität sprechen, dann kommen wir nicht umhin, auch das Thema Unternehmenssanktionen anzusprechen. Ein ganz wichtiges Thema, im Koalitionsvertrag ausbuchstabiert wie kaum ein anderes Thema; es wurde en détail klar geregelt. Ich habe daraus einen Gesetzentwurf entwickelt; er liegt auf dem Tisch. Und ich kann nur sagen – auch da wieder an die Kolleginnen und Kollegen von der Union und auch an die Kollegen aus dem Kabinett: Pacta sunt servanda. Wir haben uns darauf verständigt, ich habe vorgelegt, und jetzt müssen wir das auch beschließen. Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein. Wer sich an Recht und Gesetz als Unternehmer hält, darf keinen Wettbewerbsnachteil haben gegen den anderen, die tricksen, täuschen und betrügen." Justizministerin plant härteres Vorgehen gegen kriminelle FirmenUnternehmen sollen bei Verstößen künftig härter bestraft werden, so der Plan von Bundesjustizministerin Lambrecht. Es gehe etwa um Firmen, die Gammelfleisch verkaufen. Es sei ungerecht, dass Unternehmen kaum verfolgt würden. Kritik an Gesetzentwurf durch den Koalitionspartner Nicht von ungefähr wandte sich die Ministerin so deutlich an den Koalitionspartner. Denn ausgerechnet von dort kommt Kritik. Zum Beispiel von dem sächsischen Abgeordneten Andreas Lämmel, CDU: "Wir brauchen auch kein Verbandssanktionsrecht. Wir brauchen mehr Freiheit für die Unternehmer und nicht mehr Gängelung." Zumindest Nachbesserungsbedarf sieht auch der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag Jan-Marco Luczak. "Klar ist für mich, wir haben das Gesetzesvorhaben im Koalitionsvertrag beschrieben, und auch ausführlich beschrieben. Es ist kein Geheimnis, dass das nicht das Lieblingsprojekt der Union ist, sondern dass das eine SPD-Forderung war. Dennoch gilt: wir sind vertragstreu, wir haben den Koalitionsvertrag gemeinsam so vereinbart. Jetzt kommt es aber dann schon darauf an, wie wird der Koalitionsvertrag auch umgesetzt. Und da muss man schon sagen, bei aller Detailtreue der Regelung im Koalitionsvertrag, das, was uns die Ministerin da vorgelegt hat, geht weit über das hinaus und wird vor allen Dingen den Anforderungen in der Praxis nicht gerecht." Das Unternehmensstrafrecht, das keines sein sollDie GroKo will Unternehmen für Missstände wie etwa VW beim Abgasskandal härter bestrafen können – das sieht der Koalitionsvertrag vor. Doch bei der Umsetzung der geplanten Sanktionen könnte es zur Kollision von Arbeits- und Strafrecht kommen. Geplant: Ermittlungen bereits bei Verdacht Im Wesentlichen geht es um drei Punkte bei der geplanten Neuregelung: Die Staatsanwaltschaften sollen künftig immer ermitteln, wenn der Verdacht besteht, dass in einem Unternehmen Straftaten begangen wurden. Bisher gab es hier ein Ermessen. Unternehmen sollen nur dann bestraft werden, wenn sie nichts getan haben, um Straftaten zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Und sie können ihre Strafe mildern, wenn sie zur Aufklärung der Straftat mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. Nach dem Willen der Bundesjustizministerin soll dazu ein ganz neues Gesetz geschaffen werden, das in diesem Bereich das Ordnungswidrigkeitsgesetz, das OWiG, ablöst. Begrifflich wird es dann keine Geldbußen mehr geben, sondern Sanktionen. Und die können deutlich höher werden, als die 10 Millionen nach dem bisherigen OWiG. Bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes könnten dann für große Unternehmen fällig werden. Und auch wenn mit dem neuen Gesetz die Verantwortlichkeit für Straftaten geahndet werden soll – ein echtes "Strafrecht" soll es nach dem Willen des Ministeriums ausdrücklich nicht sein. Denn mehr noch als das Bestrafen soll im Mittelpunkt das Vorbeugen von Straftaten stehen, erklärt der Augsburger Rechtsprofessor Michael Kubiciel die vom Ministerium gewählte Bezeichnung. "Wichtiger ist allerdings wohl der Grund, dass man das Wort Strafrecht aus politischen Gründen, wegen seiner ganzen Konnotationen und auch wegen des Schuldprinzips aus der Diskussion rausnehmen wollte und deswegen den neutralen Begriff des Sanktionenrechts verwandt hat." Kontroverse um ein Strafrecht für Unternehmen Dass sich nur Menschen, nicht aber Unternehmen "schuldig" machen können, ist in Deutschland eine Diskussion, die bereits seit Jahrzehnten gegen ein Unternehmensstrafrecht ins Feld geführt wird. Dabei gab es so etwas im Grunde schon vor Jahrhunderten. Auch hierzulande, erklärt Michael Kubiciel: "Die Idee, Kooperationen, das heißt Personenverbände zu bestrafen, ist uralt. Das war bis um die Wende zum 19. Jahrhundert, war das in Deutschland Standard. Damals gab es noch nicht Unternehmen in dem Sinne, wie wir sie heute kennen, aber es gab Gilden, Zünfte, Abteien, Städte." Zwischenzeitlich verloren die Regelungen dann an Bedeutung, wurden aber Ende des 19. Jahrhunderts, als Kartelle, Trusts und Unternehmen entstanden, wieder herangezogen. "Erst in den 1950er-Jahren setzte sich dann die Auffassung durch, dass es ein Unternehmensstrafrecht in Deutschland nicht geben dürfe. Da spielten einmal die Entschädigungszahlungen von Zwangsarbeitern eine Rolle, die man gegen Unternehmen wohl nicht haben wollte, vor allem allerdings aber auch das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber den amerikanischen Besatzungsmächten. Das kann man in der Strafrechtswissenschaft sehr schön nachlesen, da wird immer polemisiert, das Unternehmensstrafrecht, das entstamme fremden, angloamerikanischen Traditionen, während der moderne deutsche Schuldbegriff, sich eben nur auf natürliche Personen beziehe, und das ist historisch einfach falsch." Gesetz soll präventiv wirken und interne Aufklärung beschleunigen Ironischerweise sind es tatsächlich gerade die anglo-amerikanischen Einflüsse, die jetzt auch den Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht prägen: Seitdem die US-Behörden auch international agierende deutsche Unternehmen ins Visier nehmen, haben sich diese auf das dortige Verfahren eingestellt und das wirkt sich auch auf die hiesige Rechtsentwicklung aus. "Internal Investigations", also interne Ermittlungen, bei denen begangene Straftaten oder sonstige Rechtsverstöße vom Unternehmen selbst aufgeklärt werden und so genannte Compliance-Maßnahmen, die Straftaten von vorneherein verhindern sollen, sind auch für deutsche Unternehmen schon lange keine Fremdworte mehr. Wirtschaftsforscher: "Verantwortung in Unternehmen kann man nicht substituieren"Die Pläne der Justizministerin, kriminelle Unternehmen zu bestrafen, verlagere die Prinzipien des Rechtsstaates vom Einzelnen auf eine abstrakte Organisation, sagte der Wirtschaftsforscher Hüther im Dlf. Mit ihrem Gesetzentwurf will Bundesjustizministerin Lambrecht Anreize schaffen, damit Unternehmen von sich aus genau solche Strukturen schaffen, mit denen sichergestellt werden soll, dass es nicht zu Verstößen kommt. Oder wenn doch, diese dann zeitnah und schnell aufgeklärt werden. So wird ein Unternehmen, in dem eine Straftat begangen wurde, nicht sanktioniert, wenn es – so heißt es im Gesetzentwurf – "angemessene Vorkehrungen" getroffen hat, um Straftaten zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Das können eben auch die genannten Compliance-Maßnahmen sein. Was genau unter "Compliance zu verstehen ist, erläutert der Berliner Rechtsanwalt Rainer Frank. Er hat sich auf die Beratung von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen zu dieser Frage spezialisiert. "Compliance heißt Regeleinhaltung. Gemeint ist damit immer ein Compliance-Management-System, also ein Regelwerk und eine innerbetriebliche Organisation, deren Aufgabe es ist, Rechtsverstöße im Unternehmen, ausgehend von Unternehmen und externe Rechtsverstöße mit Auswirkungen auf das Unternehmen zu verhindern." Unternehmen sollen Compliance-System einrichten Das heißt, ein Unternehmen gibt sich selbst Regeln, damit Rechtsverstöße so weit wie möglich von vorneherein ausgeschlossen werden. Ein gutes Compliance-System beginnt mit einer Risikoanalyse, sagt Reiner Frank. "Also, Unternehmen sollen sich sagen: Wo kann bei uns etwas schiefgehen? Das soll identifiziert werden und es soll Vorsorge getroffen werden, durch Regeln, die man sich gibt, durch eine Gestaltung der Aufsichtspflichten. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel eine Unterschriftenrichtlinie hat, dann ist das nicht nur eine Betriebsorganisationsrichtlinie, sondern die hat ja auch einen Zweck, nämlich zu verhindern, dass einer, der dazu nicht befugt ist, über Vermögen verfügt. Dann haben Unternehmen in vielerlei Hinsicht Trennungsprinzipien, Vier-Augen-Prinzipien. Die dienen ja auch dazu, dass nicht einer dem Unternehmen Schaden zufügt, sondern dass eben zwei Leute sich eine Sache gemeinsam ansehen." Je nach Geschäftsfeld und Größe des Unternehmens können Compliance-Systeme unterschiedlich ausgestaltet werden. Bei kleinen und mittleren Unternehmen, mit geringem Risiko von Rechtsverletzungen, können auch wenige, einfache Maßnahmen ausreichend sein. Teure Compliance-Programme oder Zertifizierungen sind hier nicht nötig, betont das Bundesjustizministerium in der Gesetzesbegründung und reagiert damit auf Bedenken aus der Wirtschaft. Compliance wird Arbeitsalltag verändern Geht es nach den Vorstellungen von Bundesjustizministerin Lambrecht, so sollen noch mehr Unternehmen als bisher solche Systeme einrichten. Das Versprechen: Es droht dann keine Sanktion, wenn doch etwas passiert. Die Hoffnung ist, dass langfristig die Zahl von Rechtsverstößen sinkt, wenn mehr Unternehmen wirksame Compliance-Strukturen haben. Grundsätzlich ein guter Gedanke findet Peter Haberrecker, Leiter der Rechtsabteilung des Berliner Entsorgungs- und Recyclingunternehmens Alba. "Die dahinterstehende Ratio nämlich, wie es ja auch so schön heißt im Gesetz, `die Integrität der Wirtschaft zu fördern‘, die kann ich schon nachvollziehen. Insofern bin ich kein grundsätzlicher Gegner des Gesetzes. Ich habe eher in einigen Detail- oder auch vielleicht grundsätzlicheren Fragen Bedenken und Anregungen, was man besser machen könnte, aber wie gesagt, ich halte die Intention des Gesetzgebers für durchaus nachvollziehbar." Der Unternehmensjurist befasst sich intensiv mit der geplanten Neuregelung, wird sie doch seinen Arbeitsalltag künftig nachhaltig prägen. Aber schon jetzt, bevor das Gesetz überhaupt verabschiedet ist, sieht er Veränderungen in der Praxis. "Was ich schon merke, wenn ich mit Kollegen spreche, mit anderen Rechtsabteilungsleitern oder mit Compliance-Verantwortlichen in anderen Unternehmen, dann hat schon der Entwurf, der vorliegt und die Diskussion darum, dem ganzen Thema Compliance noch mal einen gewissen Bedeutungsschub gegeben. Ob das dann zwingend dazu führt, dass dann Unternehmen in dem Sinne auch integrer werden, also sich die Kulturen vielleicht noch ein wenig verändern, das ist, glaube ich, jetzt noch zu früh, um das abschließend beurteilen zu können. Aber man sieht zumindest ein bisschen Bewegung, das würde ich schon sagen." 3. Untersuchungsausschusses der 19. Wahlperiode ( Wirecard ) am Donnerstag den 8. Oktober 2020 u.a. mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) (AFP / Adam Berry) Strafmilderung bei Kooperation mit Rechtsbehörden umstritten Bauchschmerzen bereitet Peter Habarrecker eine ganz andere Neuregelung. Die Höhe einer Sanktion soll nämlich auch davon abhängen, ob das Unternehmen mit der Staatsanwaltschaft kooperiert. Nur noch die Hälfte muss ein Unternehmen zahlen, wenn es dazu beigetragen hat, dass die Tat aufgeklärt werden konnte. Nach dem Gesetzesentwurf muss ein Unternehmen natürlich nicht kooperieren, es kann die Zusammenarbeit auch verweigern. Tatsächlich aber dürfte das eher die Theorie sein, erklärt Habarrecker. Denn eigentlich kann es nur eine Begründung geben, dass sich ein Unternehmen entscheidet, nicht zu kooperieren, sagt er. Und die dürfte dann wohl auch die Staatsanwaltschaft ahnen. "Die kann nur so aussehen, wenn ich zusammenarbeite, wird es noch viel schlimmer. Dann kriege ich zwar den Strafrabatt, aber ich lege so viel offen, was den Strafrabatt wiederum konterkariert. Wenn also eine Geschäftsführung sich dann dafür entscheidet, nicht zu kooperieren, dann weiß die Staatsanwaltschaft ja auch genau, warum sie das nicht tut. Und was macht die Staatsanwaltschaft dann? Die bisher geleistete Ermittlungsarbeit des Unternehmens, auf der diese ganze Einschätzung beruht, die kann von der Staatsanwaltschaft dann beschlagnahmt werden." Faktisch hieße das, kritisiert Haberrecker, dass Unternehmen hier zu ihrer eigenen Bestrafung beitragen müssen. Das aber widerspricht dem Grundsatz in jedem Strafprozess: "nemo tenetur se ipsum accusare" – Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten. "Und das halte ich aus ökonomischer Sicht, aber auch aus rechtsdogmatischer Sicht, aus strafrechtlicher Sicht für sehr problematisch." Mitarbeiterbefragungen relevant für interne Ermittlungen Auch die Berliner Strafverteidigerin Margarete von Galen kritisiert die Regelungen, die der Gesetzentwurf für die Kooperation mit der Staatsanwaltschaft vorsieht. Sie stößt sich daran, dass eine Strafmilderung nur dann möglich sein soll, wenn bei den internen Untersuchungen, deren Ergebnisse dann der Strafverfolgungsbehörde übergeben werden, ganz bestimmte Vorgaben eingehalten worden sind. Eine davon: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Rahmen interner Ermittlungen befragt werden, müssen umfangreich belehrt werden. Unter anderem müssen sie darauf hingewiesen werden, dass sie die Beantwortung verweigern können, wenn sie sich anderenfalls selbst belasten könnten. An dieser Stelle soll die Regelung aus dem Strafprozessrecht gelten, die aber für die unternehmensinterne Aufarbeitung von Straftaten überhaupt nicht passt, sagt Rechtsanwältin von Galen: "Und insofern kann man nicht die staatsanwaltliche Sicht und das staatsanwaltliche Handeln, was eben auch mit solchen Belehrungspflichten und -rechten von Zeugen einhergeht, mal einfach so eins zu eins in das Unternehmen kippen." Einerseits gibt es einen Strafrabatt, wenn das Unternehmen wesentlich dazu beiträgt, dass Straftaten aufgeklärt werden, aber: "Ich kann den Sachverhalt nicht aufklären, wenn meine Mitarbeiter, die involviert waren, das Recht haben, zu schweigen." Wie wichtig die Mitarbeiterbefragungen für die internen Ermittlungen sind, weiß auch Henning Stuke. Er war früher Kriminalbeamter und schult jetzt Unternehmen und Rechtsanwaltskanzleien in der Technik, Befragungen beziehungsweise Interviews effizient zu führen. "Informationen aus Aussagen sind so der Treibstoff für die Ermittlungen. Am Ende einer Untersuchung stehen immer die Interviews an. Und das, was sich daraus ergibt, was sie daraus verwerten können, bildet den Kern der Ermittlungen. Insofern ist es wichtig, dass man am Ende diese Interviews möglichst professionell führt." Training für das Führen professioneller Mitarbeiterinterviews Möglichst viele und möglichst wahre Informationen zu bekommen, das ist das Ziel der Interviews. Das wichtigste dabei, so Henning Stuke, eine entspannte Situation zu schaffen, in der sich auch der zu Befragende wohl fühlt. "Oftmals wird eine solche Situation auch von den Interviewern als eine Art Zwangskommunikation wahrgenommen, wo der andere eigentlich nur verpflichtet ist diese Antworten dann zu geben. Aber ein gutes Interview, da geht es darum, dass man auch an manchen Stellen quasi gleichberechtigt die Rollen verteilt und sich dann gleichberechtigt an verschiedenen Stellen unterhält. Denn es geht im Prinzip darum, dass man ein gutes Verhältnis zu seinem Gesprächspartner findet, weil Menschen eigentlich nur geneigt sind, unangenehme Sachen zu sagen gegenüber jemandem, dem sie vertrauen." Henning Stuke geht davon aus, dass mit dem neuen Gesetz das Bewusstsein für die Bedeutung professioneller Mitarbeiterinterviews wachsen wird. Er rechnet allerdings auch damit, dass durch die gesetzlichen Vorgaben solche Gespräche künftig schwieriger werden. Anne Leidig, Oberstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft München I, zu Entwicklungen bei der Wirecard AG (Peter Kneffel/dpa) Staatsanwaltschaften sollen Unternehmensstraftaten aktiver verfolgen Inwieweit sich die Arbeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte durch das neue Gesetz ändern wird, dürfte je nach Ort sehr unterschiedlich sein. Denn bisher waren die Staatsanwaltschaften sehr unterschiedlich aktiv bei der Verfolgung von Unternehmensstraftaten. Das hat eine empirische Studie der Kölner Forschungsgruppe Verbandsstrafrecht ergeben, berichtet der Augsburger Rechtsprofessor Michael Kubiciel, der an der Untersuchung mitgearbeitet hat. Danach haben von den 49 befragten Staatsanwaltschaften 19 angegeben, sie hätten in den vergangenen fünf Jahren überhaupt keine entsprechenden Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz geführt. "Woran liegt das? Ressourcen, könnte man überlegen. Ich glaube, dass es eigentlich eher eine Frage ist, ob die einzelnen Staatsanwälte vor Ort mit dem Gesetz vertraut sind, ob es dort eine gewisse Tradition der Rechtsanwendung gibt oder ob das noch nie gemacht worden ist." Auf jeden Fall soll mit diesen Unterschieden Schluss sein. Staatsanwälte sollen künftig nicht mehr entscheiden, welchem Fall sie nachgehen und welchem nicht. Wenn der Verdacht auf eine Unternehmensstraftat besteht, muss ermittelt werden. Zweifel an der Praktikabilität des Gesetzentwurfs Der Richterbund befürchtet deshalb eine Überlastung der Justiz, wenn nicht personell erheblich aufgestockt wird. Und auch Unternehmensjurist Peter Habarrecker vom Berliner Recyclingunternehmen Alba sieht auf Staatsanwaltschaften und Unternehmen eine Verfahrenswelle zurollen. Denn die allermeisten Verfahren, die künftig dann obligatorisch geführt werden müssten, betreffen eben nicht die schweren Fälle von Wirtschaftskriminalität, sondern lediglich leichtere Verfehlungen. "Also, nach meinem Dafürhalten ist es eben so, dass die allermeisten Taten, die dann verfolgt werden, nachher in einer Einstellung des Verfahrens enden werden. Ich persönlich würde schätzen, das sind vermutlich 90, wenn nicht gar mehr als 90 Prozent. Das heißt, die Staatsanwaltschaften haben erstmal den ganzen Aufwand, müssen die Verfahren eröffnen, Akten anlegen, Ermittlungen anstoßen, die Polizei damit beschäftigen, andere Behörden beschäftigen usw. Und bei den Unternehmen natürlich auch. Denn als Unternehmen werden sie ja dann auch erstmal damit konfrontiert mit einer staatsanwaltlichen Untersuchung, die, wie ich schon sagte, im Zweifel ohnehin später eingestellt wird. Aber gleichwohl müssen sie ja erst einmal mit dieser Untersuchung umgehen." Sorge vor "Deal-Kultur" zwischen Firmen und Strafbehörden Der CDU-Rechtspolitiker Jan-Marco Luczak befürchtet wiederum, dass sich wegen der aus seiner Sicht praxisfernen Vorgaben zu den internen Ermittlungen weniger Unternehmen dafür entscheiden werden, überhaupt mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. "Und deswegen glaube ich, wird das Gesetz in der Praxis nicht funktionieren, weil dann am Ende es so ist, dass die Behörden, die ja ermitteln müssen, dass die am Ende die internen Untersuchungen durchführen müssten, es aber überhaupt keine ausreichende Personalausstattung gibt. Deswegen wird es am langen Ende dazu führen, dass Unternehmen und die Behörde sich an einen Tisch setzen werden und am Ende wird es einen Deal über die Höhe der Strafe geben. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen. Wir wollen keine Deal-Kultur und das genau ist das, was der Gesetzentwurf in der Praxis fördern wird." So wie der Gesetzentwurf vorgelegt wurde, kann er nicht bleiben, sagt Luczak. Vor allem müssten auch die Stellungnahmen aus den Verbänden mitberücksichtigt werden, sagt der Abgeordnete. Der CDU-Politiker Jan-Marco Luczak kritisert den Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Lambrecht (dpa / Matthias Balk) Verabschiedung noch in dieser Legislaturperiode? "Und das bedeutet für uns, dass wir all diese Kritikpunkte im parlamentarischen Verfahren jetzt noch einmal aufgreifen müssen, zur Sprache bringen müssen, diskutieren müssen und den Gesetzentwurf am Ende tatsächlich auch noch umgestalten müssen. Ich sehe noch fundamentale Dinge, die sich ändern müssen, damit dieses Gesetz tatsächlich auch unsere Zustimmung findet." Viel Zeit bleibt den Koalitionsfraktionen nicht mehr, um bei dieser komplexen Materie zu einer Einigung zu kommen. Immerhin beginnt im nächsten Jahr die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes. Sollte es nicht gelingen, das neue Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, würde zunächst erst einmal das bisherige Ordnungswidrigkeitenrecht auch zur Sanktionierung von Unternehmensstraftaten weitergelten. Und so mancher Wirtschaftsvertreter oder Rechtsanwalt meint, dass das nicht die schlechteste Lösung wäre.
Von Peggy Fiebig
Wirecard, Tönnies oder der Dieselskandal: Wenn Unternehmen Straftaten begehen, soll das drastischere Folgen haben als bisher. Das sieht der Gesetzentwurf für ein Verbandssanktionenrecht von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht vor. Vom Koalitionspartner kommt deutliche Kritik.
"2020-10-11T18:40:00+02:00"
"2020-10-12T11:37:53.153000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unternehmensstrafrecht-umstritten-der-gesetzentwurf-fuer-100.html
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Was der Brexit London kosten könnte
Ob der Brexit für Großbritanniens Premierministern Theresa May tatsächlich "the best Deal", der beste Deal war, hängt auch von der Frage ab, wie viel Großbritannien dafür zahlen muss. (AFP/ Hannah McKay) Ob es unmittelbar mit der Mahnung von EU-Kommissar Günter Oettinger zu tun hat, London müsse bis mindestens 2020 seine finanziellen Verpflichtungen in der Europäischen Union erfüllen, ist unklar. Klar ist aber: Es bewegt sich etwas im Brexit-Streit zwischen der EU und Großbritannien. Wenigstens bewegt sich etwas auf der britischen Seite. Mitten im Sommerloch werden erstmals konkrete Zahlen genannt, was London für den Brexit zu zahlen bereit sein könnte. 40 Milliarden Euro machen die Runde, 10 mehr als Theresa May angeblich zu zahlen bereit ist, aber doch viel weniger als die 60 bis 100 Milliarden, von denen Brüssel ausgeht. Theresa May hat zwar wissen lassen, dass sei weit mehr als sie zu geben bereit sei, und auch weit mehr als bislang besprochen wurde: Aber damit ist schon einmal geklärt, dass über die Schlussrechnung bereits verhandelt wird. "Das kann sich die EU in die Haare schmieren" Das Geschacher hat begonnen, mit einem sehr niedrigen Angebot aus London, analysieren in ersten Reaktionen Polit-Beobachter in der BBC - und machen einen Verlierer schon mal sehr klar aus. "Was klar ist: Wir werden bezahlen. Boris Johnsons Bemerkung, die EU könne sich das in die Haare schmieren, müssen wir also nicht mehr ernst nehmen." "Das kann sich die EU in die Haare schmieren, dass wir beim Austritt horrende Summen zahlen", hatte Boris Johnson im Parlament gesagt. Regierung ohne klare Linie? Der Außenminister tritt im britischen Polit-Schauspiel als einer der härtesten "Brexiteers" auf, härter noch als Theresa May, die nach der von ihr vergeigten Unterhauswahl im Juni zwischen allen Stühlen sitzt. Politisch geschwächt, wird sie ihren harten Brexit gegen Widerstände im eigenen Land und politischen Lager kaum durchsetzen können. Wird sie weicher, droht ihr der Dolchstoß ambitionierter Parteifreunde, die selbst in die Downing Street einziehen möchten. Boris Johnson gilt für dieses Szenario als williger Kandidat. Die Regierung hat keine klare Linie, deshalb verhandelt sie nicht konkret - und das schadet dem Land: Zu diesem Schluss kommt Sir Simon Fraser, bis vor zwei Jahren Chef des diplomatischen Dienstes in Großbritannien. "Die Verhandlungen haben gerade erst begonnen - und von unserer Seite aus nicht besonders vielversprechend. Wir haben wenig erreicht, weil die Regierung sich über den Brexit-Kurs streitet. Und so lange die sich nicht einigen, werden wir keine klare Haltung haben." Verhandlungen sollen konkreter werden Auch darauf hat die in den Schweizer Alpen urlaubende Theresa May schnell reagiert. In London ließ sie ihren Sprecher mitteilen, dass sie grundsätzlich anderer Meinung sei als Sir Simon Fraser. Die britische Regierung habe in den Verhandlungen einen konstruktiven Start hingelegt. Nicht nur in Brüssel, auch unter den Soft-Brexiteers denken allerdings viele, da gehe noch etwas mehr. Und tatsächlich kommt auch bald mehr: In Kürze, ist zu hören, will die Regierung konkrete Thesenpapiere zu den wichtigsten Verhandlungskapiteln veröffentlichen. Man darf gespannt sein, wie das in Brüssel und bei den zerstrittenen Torries in Großbritannien aufgenommen wird.
Von Christine Heuer
Großbritannien und die Europäische Union sind bei den Brexit-Verhandlungen noch nicht sehr weit gekommen. Mitten im Sommerloch gibt es nun Signale aus London, die Bewegung in die Sache bringen könnten. Es geht um die Frage, wie viele Milliarden Euro die britische Regierung für den Brexit zu zahlen bereit ist.
"2017-08-08T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:44:53.670000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-verhandlungen-was-der-brexit-london-kosten-koennte-100.html
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Netanjahu sagt Deutschlandbesuch ab
Ein israelischer Soldat in der Nähe des Tatorts in Jerusalem, wo eine 18-jährige Palästinenserin auf einen israelischen Mann einstach. (picture alliance / dpa / Abir Sultan) Am Wochenende war schon bekannt geworden, dass Netanjahu seinen Aufenthalt in Deutschland um einen Tag verkürzen wird. Nun ist die Reise ganz abgesagt, wie Vertreter beider Regierung bestätigten. Nach dem Willen des israelischen Außenamtssprechers sollen die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen aber möglichst im November nachgeholt werden. Wie Bundesregierung ließ über ihren Sprecher erklären, sie bedauere die Absage. Die regelmäßige Gesprächsreihe soll die Beziehungen beider Länder verbessern. Sie finden seit 2008 nahezu jährlich statt. Hintergrund der Absage sind die Anschlagsserie auf Israelis und Ausschreitungen im Westjordanland. In den vergangenen Tagen hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Palästinenser nach Angriff auf Soldaten getötet Auch heute kam es zu Zwischenfällen. Ein Palästinenser hatte nach Angaben der israelischen Polizei im Süden Israels an einer Bushaltestelle einen Soldaten mit einem Messer attackiert und ihm seine Waffe abgenommen. Er floh anschließend in ein nahe gelegenes Wohnhaus, das die Polizei später stürmte und den Angreifer erschoss. Der israelische Soldat wurde leicht verletzt. In Jerusalem stach zudem eine 18-jährige Palästinenserin auf einen israelischen Mann ein. Dieser verletzte die Frau anschließend mit einer Waffe, die er bei sich trug. Die Frau kam mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus. Bei Anschlägen und Angriffen von Palästinensern starben seit vergangenem Donnerstag vier Israelis. Auf palästinensischer Seite sind es drei Tote. In Israel fürchtet man einen neuen Palästinenseraufstand. Hintergrund der neuen Gewalt ist ein Streit um die Nutzung des Tempelbergs, den Juden und Muslime als Heiligtum ansehen. (pr/swe)
null
Wegen der angespannten Lage zwischen Israel und den Palästinensern hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinen Deutschlandbesuch abgesagt. In Israel wurde heute wieder ein Palästinenser getötet, nachdem er einen Soldaten angegriffen hatte.
"2015-10-07T14:59:00+02:00"
"2020-01-30T13:03:06.459000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-nahost-netanjahu-sagt-deutschlandbesuch-ab-100.html
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Snowden fürchtet Mordanschläge
"Es steht außer Frage, dass die USA Wirtschaftsspionage betreiben", sagte Snowden in dem ersten Fernsehinterview seit Beginn der NSA-Affäre. Der Whistleblower sprach mit dem ARD-Journalisten Hubert Seipel. Die ARD sendete das vollständige Interview am Sonntagabend. "Wenn es etwa bei Siemens Informationen gibt, die dem nationalen Interesse der Vereinigten Staaten nutzen, aber nichts mit der nationalen Sicherheit zu tun haben, dann nehmen sie sich diese Informationen trotzdem", sagte Snowden. Snowden spekuliert in dem Interview zudem darüber, dass nicht nur das Handy von Kanzlerin Merkel abgehört wurde. "Die Frage ist: Wie logisch ist es anzunehmen, dass sie das einzige Regierungsmitglied ist, das überwacht wurde?", sagte Snowden. "Ich würde sagen, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand, der sich um Absichten der deutschen Regierung sorgt, nur Merkel überwacht - und nicht ihre Berater, keine anderen bekannten Regierungsmitglieder, keine Minister oder sogar Angehörige kommunaler Regierungen." "Regierungsvertreter wollen mich töten" Der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter berichtet in dem Gespräch auch von deutlichen Drohungen: "Regierungsvertreter wollen mich töten", sagte der 30-Jährige. Als Beleg führte Snowden einen Artikel auf der Internet-Plattform "buzzfeed" an. Mitglieder des Pentagon und der NSA hätten dem Reporter erzählt, dass sie Snowden umbringen wollten. In einem Gespräch mit Deutschlandradio Kultur zeigte sich NDR-Journalist Seipel fasziniert von Snowden. Man merke zwar eine latente Anspannung, dennoch wirke Snowden bestimmt und furchtlos. Er sei angetrieben von einem klaren politischen Willen, so Seipel. "Man kann nur hoffen, dass es gut ausgeht, aber die Chancen dafür sind limitiert", sagte der TV-Journalist abschließend.
null
Der Whistleblower Edward Snowden berichtet in seinem weltweit ersten TV-Interview über gegen ihn gerichtete Todesdrohungen. Im Gespräch mit der ARD zeigt sich der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter zudem überzeugt, dass die NSA auch in Deutschland Unternehmen ausspioniere.
"2014-01-26T15:40:00+01:00"
"2020-01-31T13:23:21.572000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erstes-tv-interview-snowden-fuerchtet-mordanschlaege-100.html
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Poroschenko will an Friedensplan festhalten
Poroschenko: Waffenruhe noch bis Freitag (Bernd von Jutrczenka,dpa picture-alliance) Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat Bundeskanzlerin Angela Merkel versichert, sich trotz wiederholter Rückschläge weiter um eine politische Lösung der Krise zu bemühen. Vorrang habe sein Friedensplan. Der beinhalte auch eine noch bis Freitag andauernde Waffenruhe, sagte Poroschenko bei einem Telefonat einer in Kiew veröffentlichten Mitteilung zufolge. Demnach sagte Merkel dem Staatschef weitere Unterstützung zu. Poroschenko sprach auch mit US-Vizepräsident Joseph Biden. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief zur Fortsetzung der Friedensbemühungen auf. "Wir dürfen nichts unversucht lassen, die kleinsten Chancen zu nutzen", sagte er in Brüssel am Rande des NATO-Außenministertreffens. Steinmeier setzte sich erneut für eine erweiterte OSZE-Beobachtermission zur Überwachung der Waffenruhe und zur Kontrolle der Grenze zu Russland ein. "Es gibt kleine Chancen, aber wir sind weit davon entfernt, jetzt optimistisch sein zu dürfen." Rasmussen kritisiert Russland NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sprach in Brüssel von einer neuen Form der "zweideutigen Kriegsführung" durch Russland. Auf die müsse die NATO eine Antwort finden. Zudem kritisierte er das Verhalten Russlands: "Ich muss leider sagen, dass wir keinerlei Zeichen dafür sehen, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt", sagte er zu Beginn des Treffens der NATO-Außenminister. Die NATO werde deswegen über ihre künftigen Beziehungen zu Moskau nachdenken müssen. Der Friedensprozess in der Ukraine wird vom Abschuss eines Militärhubschraubers durch prorussische Separatisten schwer belastet. Neun Soldaten kamen bei dem Angriff ums Leben. Poroschenko drohte den Aufständischen deshalb zunächst mit einem Abbruch der Waffenruhe. Mit Vertretern aller Parlamentsparteien in Kiew beriet er über die schwierige Lage. Die Waffenruhe blieb weiter brüchig. Die Separatisten warfen der Armee vor, trotz der ausgerufenen Feuerpause Stellungen mit Artillerie zu beschießen. Eine Bestätigung gab es zunächst nicht. Armeesprecher Wladislaw Selesnjow beschuldigte seinerseits die militanten Gruppen, die Regierungseinheiten zu attackieren. Russisches Parlament hebt Erlaubnis für Intervention in der Ukraine auf Der russische Föderationsrat hat die Vollmacht für Präsident Wladimir Putin zum möglichen Einmarsch in der Ukraine aufgehoben. Das Oberhaus des Parlaments sei damit einem Antrag des Kremlchefs nachgekommen, meldete die Agentur Interfax in Moskau. Das wurde von Beobachtern als klares Signal zur Deeskalation gewertet. Der Föderationsrat hatte Putin die Erlaubnis zur Militärintervention auf dem Höhepunkt der Krim-Krise am 1. März erteilt. Der Präsident hatte das damals damit begründet, dass russische Bürger im krisengeschüttelten Nachbarland geschützt werden müssten. Vor der Entscheidung hatte der Abgeordnete Viktor Oserowsagte laut Agentur Interfax gesagt: "Falls wir das tun, ist es kein Beschluss für ewige Zeiten", sagte im Vorfeld der Entscheidung laut der Agentur Interfax. Wenn sich die Lage im krisengeschüttelten Nachbarland zuspitze und Putin erneut eine Erlaubnis zum Einmarsch beantrage, werde das Parlament tätig.Auch das Außenministerium in Moskau warnte die Konfliktparteien in der Ukraine davor, Putins Antrag als nachlassendes Engagement Russlands in dem Konflikt zu deuten. "Wir verstehen die Initiative im Gegenteil als Ansporn für die Führung in Kiew, Verhandlungen mit den Vertretern der Südostukraine aufzunehmen", sagte Vizeminister Grigori Karassin. (cc/kis)
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Auch nach dem Abschuss eines Hubschraubers während der Waffenruhe gibt der ukrainische Staatschef Poroschenko dem Friedensplan noch eine Chance. Kanzlerin Merkel soll ihm ihre Unterstützung im Ringen um eine politische Lösung der Krise zugesagt haben.
"2014-06-25T00:00:00+02:00"
"2020-01-31T13:49:01.543000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-poroschenko-will-an-friedensplan-festhalten-100.html
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Warum Modelle keine Vorhersagen sind
Der aufgerissene und ausgetrocknete Boden eines abgelassenen Fischteiches in Brandenburg. (picture alliance / ZB / Patrick Pleul) Die simple Lösung sei die folgende, sagt James Risbey vom CSIRO Forschungszentrum für Meeres- und Atmosphärenwissenschaften im australischen Hobart: Verwechseln sie eine Klimaprojektion nicht mit einer Klimavorhersage. "Denn Letztere versucht, die internen Kreisläufe des Klimasystems wie El Niño genau abzubilden, während Erstere darauf verzichtet. Die Leute haben also Äpfel mit Birnen verglichen, wenn sie Klimaprojektionen mit den Beobachtungen der vergangenen 15 Jahre abgleichen. Dafür braucht man eine Klimavorhersage." Klimaprojektionen seien dafür entwickelt worden, die Auswirkungen externer Faktoren auf das Klima zu prognostizieren. Sie zeigen also, welchen langfristigen Einfluss steigende Kohlendioxdemissionen, die wechselnde Intensität der Sonnenstrahlung, zunehmende Aerosolkonzentrationen in der Luft oder auch Vulkanausbrüche auf das Klima der nächsten 50 oder 100 Jahre haben. "Aber das Klimasystem verändert sich innerhalb von etwa 15 Jahre dauernden Zyklen auch aufgrund seiner internen Variabilität, die nichts mit äußeren Faktoren zu tun hat. Sie wird zum Beispiel von El Niño oder La Nina Perioden beeinflusst, denn die verändern den Wärmetransport in die Tiefen des Ozeans." Füttert man ein Klimamodell mit allen internen und externen Parametern, die heute über das Klimasystem bekannt sind, und lässt es dann laufen, bildet das Modell nach einiger Zeit auch eine interne Variabilität des Klimasystems ab. Aber irgendwann geraten die Modelle dabei aus dem Takt, da die wirkliche Variabilität viel zu chaotisch ist um sie über lange Zeiträume hinweg korrekt modellieren zu können. Das sei ähnlich wie mit Wettervorhersagen, die nur für einige Tage oder Wochen in die Zukunft hinein zuverlässige Ergebnisse lieferten, sagt James Risbey. "Wenn wir versuchen, einzelne El Niño Ereignisse vorherzusagen, stoßen wir irgendwann an eine Grenze. Das System ist zu chaotisch. Wir werden nie in der Lage sein, jede einzelne El Niño Phase unendlich weit in die Zukunft hinein vorherzusagen." Kein Grund zur Entwarnung in Sachen Klimawandel Betrachte man nur kurze Zeitabschnitte, wie die vergangenen 15 Jahre, könne es dadurch zu Unterschieden zwischen der Realität und den Aussagen der Klimamodelle kommen. Um trotzdem beurteilen zu können, wie zuverlässig die aktuellen Klimamodelle sind, schaute sich James Risbey 18 verschiedene Modelle an. Sie alle zeigten die Auswirkungen externer Faktoren, wie steigender Treibhausgasemission. Und sie alle wiesen eine interne Variabilität des Klimasystems auf. Die allerdings unterschied sich von Modell zu Modell: "Wir wählten dann nur die Modelle aus, deren interne Variabilität sich zufällig in der gleichen Phase befand, wie die internen Schwankungen des realen Klimasystems. So geeicht, schätzen die Modelle die Erwärmung der vergangenen 15 Jahre korrekt ein." Die Modelle neigten also mitnichten dazu, den Klimawandel zu überschätzen, folgert James Risbey und nimmt damit Klimaskeptikern, die an der Aussagekraft von Klimamodellen zweifeln, den Wind aus den Segeln. Ähnlich sieht es der an der Studie nicht beteiligte Klimawissenschaftler Robert Kaufmann von der Universität Boston: "Ich denke, das ist eine sehr interessante Studie, denn sie liefert eine Erklärung dafür, warum Klimamodelle manchmal die Temperaturen und das Klima anders darstellen, als die historischen Beobachtungen nahelegen." Sowohl Robert Kaufmann also auch James Risbey sind sich allerdings sicher, dass die kurzfristigen Differenzen zwischen Modell und Wirklichkeit keinen Einfluss auf die langfristigen Aussagen von Klimaprojektionen haben. Denn über lange Zeiträume hinweg glichen sich die internen Schwankungen des Klimasystems aus und die externen Faktoren gewännen zunehmend an Bedeutung.
Von Monika Seynsche
Seit Jahren zeigen fast alle Klimamodelle deutlich höhere Temperaturen, als in Wirklichkeit gemessen werden. Dies beweise, dass die Modelle falsch seien und sich das Klima gar nicht erwärme, sagen Skeptiker. Dem widersprechen australische Forscher. Sie haben eine sehr simple Erklärung für die Abweichungen gefunden.
"2014-07-21T16:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:53:53.470000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimawandel-warum-modelle-keine-vorhersagen-sind-100.html
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China und sein russisches Raumfahrtproblem
Sechs Personen im Himmelspalast: Besatzungswechsel auf Chinas Raumstation Tiangong (Xinhua) Vor einigen Jahren verkündete man die Errichtung einer „Internationalen Mond-Forschungsstation“ nahe dem Südpol unseres Trabanten. Doch viel mehr als die Erklärung gibt es immer noch nicht. China realisiert, dass Russland kaum technische Fähigkeiten in so eine Partnerschaft einbringt. Die letzte erfolgreiche russische Planeten- oder Mondmission liegt Jahrzehnte zurück. Russland hat sehr zuverlässige Raketen und Raumschiffe, kommt aber kaum über die Erdumlaufbahn hinaus. Die internationale Isolation Russlands infolge des Krieges gegen die Ukraine macht die Lage für China noch schwieriger. Eine zu enge Partnerschaft würde womöglich Länder in Europa abschrecken. China betont inzwischen sehr auffällig, dass es bei seinen künftigen Mond- und Planetenmissionen offen für internationale Zusammenarbeit sei. Russland wird dabei allenfalls am Rande erwähnt. China auf der Suche nach neuen Partnerschaften für das AllBesatzungswechsel auf der Raumstation Tiangong Auch künftig werden die USA sicher eine direkte Beteiligung am Artemis-Mond-Programm unterbinden. Aber bei einzelnen Missionen ist China durchaus begehrter Partner. Bei der Raumsonde Chang'e-6, die in zwei Jahren auf dem Mond landen und Material zur Erde bringen soll, sind Instrumente aus Schweden, Frankreich und Italien an Bord. Ob Mond, Mars, Jupiter oder gar Uranus: Bei seinen Missionen wirbt China oft um das himmlische Zusammenwirken mit anderen Ländern.
Von Dirk Lorenzen
Bei der Internationalen Raumstation ist China nicht dabei, ebenso beim Mondprogramm der westlichen Staaten. Chinas Pläne, gemeinsam mit Russland eine Mondstation aufzubauen, werden aber immer vager.
"2022-12-19T02:05:00+01:00"
"2022-12-19T00:05:00.192000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/china-und-sein-russisches-raumfahrtproblem-100.html
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"Es sind nicht nur Professoren und ältere Männer"
Tobias Armbrüster: Seit Jahren wurde darüber spekuliert, seit einigen Wochen gibt es sie nun, eine neue konservative Protestpartei, eine Partei, die die Abschaffung des Euro fordert und die Wiedereinführung der D-Mark. es ist die Alternative für Deutschland, seit dem Wochenende hat diese Partei nun auch ihren ersten Landtagsabgeordneten: In Hessen ist der bisherige FDP-Abgeordnete Jochen Paulus aus seiner Partei ausgetreten und zur Alternative für Deutschland, kurz AfD, übergetreten. Er ist jetzt hier bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Paulus!Jochen Paulus: Schönen guten Morgen!Armbrüster: Herr Paulus, ist das nicht etwas frech, aus der FDP austreten, aber trotzdem den Sitz im Landtag behalten?Paulus: Nun, als Abgeordneter ist man zunächst seinem Gewissen verpflichtet, und aus diesem Grund habe ich mein Abgeordnetenmandat behalten und bin aus der FDP ausgetreten und dann in die AfD eingetreten.Armbrüster: Was kriegen Sie denn von Ihrer alten Partei zu hören?Paulus: Es gibt sehr positive Nachrichten, es gibt Zustimmung, aber es gibt natürlich auch sehr, sehr negative Stimmen.Armbrüster: Wir lesen vor allem aus Ihrer Partei, aus Ihrer alten Partei, aus der FDP, Sie hätten seit Monaten an keiner Sitzung mehr teilgenommen und wären sowieso für die kommende Landtagswahl nicht mehr nominiert worden. Dieser Übertritt sei deshalb quasi für Sie der einzige Weg gewesen, den Arbeitsplatz als Abgeordneter noch zu retten. Was ist da dran?Paulus: Das ist nicht richtig, denn ich war in den letzten acht Wochen wirklich heftig erkrankt, habe dies auch der Fraktionsführung mitgeteilt, und das wurde auch durch ein ärztliches Attest bestätigt. Und ich war dann wieder so weit hergestellt in der vergangenen Woche, dass ich meiner Arbeit wieder nachgehen kann. Und ich hatte schon Ende vergangenen Jahres entschieden, eigentlich nicht wieder für den hessischen Landtag zu kandidieren, rein persönliche Gründe waren hierfür ausschlaggebend, aber dann kamen die Gespräche mit der Alternative für Deutschland, ich hatte mich mit deren Inhalten auseinandergesetzt, und so ist dann der Entschluss gefallen, es doch noch einmal politisch zu versuchen.Armbrüster: Ja, was war denn der genaue Grund für Sie, überzutreten?Paulus: Der genaue Grund für mich waren zum einen die Inhalte und zum anderen hat es auch persönlich gepasst. Ich nenne hier nur die wirkliche Euro-Kritik, die die Alternative für Deutschland anbringt, zum anderen auch aber einige andere konservative Punkte, für die ich mich jetzt einsetzen werde, und die mich inhaltlich eher ansprechen.Armbrüster: Das müssen Sie uns ein bisschen genauer erklären, weil wir kennen die Alternative für Deutschland tatsächlich bisher nur als Anti-Euro-Partei.Paulus: Nun, es gibt zum einen ein Familienbild, das etwas anders gestellt wird, es gibt aber auch Themen, die sich jetzt in Hessen – wir sind dabei, diese Themen aufzustellen, um uns zur Landtagswahl zu positionieren, und da werden wir natürlich inhaltlich uns auch anderweitig festlegen.Armbrüster: Das klingt immer noch ein bisschen leer. Paulus: Das ist in der Tat so, aber wir werden an die Arbeit gehen, und deswegen werden wir in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun haben, um den Parteimitgliedern in Hessen zusammen mit den Listen, die für die Landtagswahl aufgestellt werden sollen, ein Programm zu bieten, ein Parteiprogramm, das verabschiedet werden wird auf dem Parteitag, und das die Wählerinnen und Wähler ansprechen wird.Armbrüster: Das heißt, außer dem Anti-Euro-Kurs können sie uns nichts Näheres aus Ihrem Programm sagen, vier Monate vor der Landtagswahl.Paulus: Es ist gerade in Arbeit, der Vorstand wurde konstituiert, der hat sich gestern konstituiert, der Landesvorstand, und es wird jetzt an die Arbeit gehen, damit wir fertig werden bis dahin.Armbrüster: Kennen Sie denn, Herr Paulus, andere aktive FDP-Politiker, die mit der AfD sympathisieren? Paulus: Es gibt sicherlich den einen oder anderen Hinweis.Armbrüster: Und auch Willen, überzutreten?Paulus: Darüber werden sicherlich noch Gespräche geführt werden.Armbrüster: Nun gab es ja und gibt es in der FDP viele Politiker, die den Eurokurs ihrer Partei kritisieren. Da fällt immer der Name Frank Scheffler zum Beispiel ein, der ja sehr engagiert aufgetreten ist im Bundestag mit seiner Meinung zum Eurokurs der Regierung, aber sicher auch einige andere. Die Frage ist, wäre es da nicht sinnvoller für Sie gewesen, wenn Sie gegen den Euro sind und für die Wiedereinführung der D-Mark, Ihre alte Partei sozusagen von innen heraus zu verändern?Paulus: Nun, erstens ist die AfD nicht für die Wiedereinführung der D-Mark, sondern sieht die Wiedereinführung der D-Mark als eine der Möglichkeiten an, um diese wahnsinnige Schuldenpolitik zu beenden, auf der anderen Seite ist es so, Sie müssen sehen, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie inhaltlich nicht mehr weiterkommen in einer Partei, dann müssen Sie die Konsequenzen daraus ziehen. Und diesen Eindruck hatte ich, dass ich inhaltlich dort nicht mehr weiterkam.Armbrüster: Das heißt, ein sozusagen, ein Zusammengehen mit den Anti-Euro-Verfechtern in der FDP, das für Sie keine Alternative.Paulus: Es gab keine Möglichkeit. Armbrüster: Warum gab es die nicht?Paulus: Es gab keine Möglichkeit aus meiner Sicht, sich zu positionieren innerhalb der Landtagsfraktion.Armbrüster: Ihre neue Partei, die AfD, die wirkt ja immer so ein kleines bisschen wie eine Partei der alten Herren, da sieht man viele konservative Köpfe, viele pensionierte Professoren, die unbedingt den Euro wieder rückgängig machen wollen. Wie fühlen Sie sich da als 43-Jähriger?Paulus: Nun, es ist nicht unbedingt so, dass die AfD eine Partei älterer Professoren oder alter Männer ist. Das ist mitnichten so. Am Gründungsparteitag, am vergangenen Sonntag, haben sehr viele Menschen teilgenommen, die eben nicht diesem Klischee entsprechen, das so oft gestellt wird.Armbrüster: Das heißt, da sind auch junge Leute dabei?Paulus: Da sind auch junge Leute dabei, und es sind nicht nur Professoren und ältere Männer.Armbrüster: Solche Protestparteien wie die AfD, die ereilt ja häufig das Schicksal, dass sie sich entweder innerlich sehr schnell zerstreiten, so, wie man das zurzeit auch bei den Piraten erlebt, oder dass sie überrannt werden von Rechtskonservativen. Wie wollen Sie das verhindern?Paulus: Wenn Sie mir diese Frage stellen, dann kann ich nur sagen, ich habe bis jetzt keine rechtskonservativen Menschen in der AfD kennengelernt zum einen, und zum anderen muss inhaltlich gearbeitet werden, und es ist ja wirklich so, dass in der AfD bereits jetzt viele ehemalige Politikerinnen und Politiker, insbesondere aus CDU und FDP, Mitglied geworden sind, auch namhafte Leute wie den Stadtkämmerer zuletzt der Stadt Frankfurt am Main, Herr Glaser, der ja auch zum Sprecher gewählt worden ist, oder zu einem der drei Sprecher des hessischen Landesverbandes. Und da bin ich überzeugt davon, dass aufgrund dessen, dass eben eine gewisse Struktur schon vorhanden ist, die Partei das stemmen wird.Armbrüster: Aber wie genau überprüfen Sie das denn, wer da jetzt alles Mitglied wird?Paulus: Es wird nach vorherigen Parteizugehörigkeiten gefragt, das ist im Antragsformular so vorgesehen, und dann wird das auch entsprechend, wo es möglich ist, gecheckt werden.Armbrüster: Herr Paulus, in der Union und in der FDP wird diese neue Partei auch wegen der Wahlarithmetik gefürchtet. Die Logik dahinter, die geht immer ungefähr so, die AfD bindet bei einer Wahl viele Stimmen an sich, verhindert auf diese Art und Weise, dass Schwarz-Gelb eine Mehrheit bekommt, und hilft so möglicherweise Rot-Grün in den Sattel. Wäre das in Ihrem Sinne?Paulus: Das wäre nicht in meinem Sinne, aber das sehe ich nicht so.Armbrüster: Jochen Paulus war das, bis zum vergangenen Wochenende noch Mitglied der hessischen FDP-Landtagsfraktion und seitdem zur Alternative für Deutschland übergetreten. Damit ist er der erste AfD-Landtagsabgeordnete in Deutschland, heute Morgen hier bei uns live im Gespräch. Besten Dank, Herr Paulus!Paulus: Vielen Dank! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jochen Paulus im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Seinen Sitz im hessischen Landtag wird Jochen Paulus, der gerade von der FDP zur Alternative für Deutschland übergetreten ist, behalten. Was ihn an der AfD überzeugt hat? Die "wirkliche Eurokritik", und dass es persönlich gepasst habe. Konkrete politische Inhalte konnte er nicht nennen.
"2013-05-08T08:41:00+02:00"
"2020-02-01T16:17:23.433000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/es-sind-nicht-nur-professoren-und-aeltere-maenner-100.html
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Wie mit Nacktbildern von Kindern umzugehen ist
In der Debatte um Kinderpornografie verlangen viele Politiker härtere Gesetze. (dpa / picture alliance) Judith Dobbrow an ihrem Arbeitsplatz im Berliner Landeskriminalamt. An den Wänden Fotos ihrer beiden Kinder, auf dem Schreibtisch mehrere Rechner. Es ist 9.00 Uhr an einem Dienstagmorgen. Um diese Uhrzeit haben ihre Kollegen schon eine Hausdurchsuchung hinter sich, erzählt die Kriminalhauptkommissarin: "Wir hatten eine bereits, und eine läuft gerade. Es gibt mehr als eine pro Tag." Ein Teil der beschlagnahmten Gegenstände lagert in Judith Dobbrows Büro. Pappkartons mit Videokassetten, Laptops, Festplatten, DVDs. Die Ermittler werten das Material aus, recherchieren nach Hinweisen der Staatsanwaltschaft auch selber in einschlägigen Internetforen. Das von der 46-Jährigen geleitete Kommissariat Kinderpornografie beschäftigt 21 Mitarbeiter, mehr als die Hälfte sind Frauen. "Wir sind alle freiwillig auf der Dienststelle, und wenn jemand merkt, er kann das nicht mehr, dann geht das sehr schnell, dass der woanders hingesetzt wird, das ist nicht unbedingt ein Karriereknick, das wissen auch alle Kollegen, dass das nicht bedeutet, dass man nicht hart genug war." Eine professionelle Distanz aufbauen – ganz wichtig für Ermittler im Bereich Kinderpornografie. Denn das, was die Kriminalbeamten tagtäglich sehen, lesen und hören müssen, ist ungeheuerlich. Bei schweren Fällen werten mehrere Ermittler gemeinsam das beschlagnahmte Material aus; das entlastet, erläutert Judith Dobbrow. In gewisser Weise gewöhne man sich auch an die Bilder. Aber: "Wenn die chatten und sich im Chat beschreiben, was sie möglicherweise mit einem Kind tun würden, und man dann die Person selber eben auch kennt, dann ist das wirklich belastend. Für mich sind Verfahren belastender, wenn die Mutter aktiv als Täterin beteiligt ist, das ist noch viel ungeheuerlicher als alles andere." Die Leiterin des Berliner Kommissariats für Kinderpornografie zeigt ihren Arbeitsbereich. "Vernehmungsraum" steht an einer Tür. Ein anderes Zimmer ist speziell für Kinder hergerichtet. Farbige Wände, kleine Tische und Stühle, Spielzeug. Hier können sexuell missbrauchte Kinder befragt werden – in einer für sie angenehmen Umgebung. Auch Videovernehmungen für Gerichtsverhandlungen sind von hier aus möglich. So bleibt den Opfern vor Gericht eine womöglich qualvolle Aussage in Anwesenheit des mutmaßlichen Peinigers erspart. Der Opferschutz wird immer wichtiger, und das ist auch gut so, kommentiert Judith Dobbrow. Sie zeigt den Technikraum. Das bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmte Material wird hier automatisch eingelesen und mit verschiedenen Datenbanken abgeglichen. Ergeben sich keine Hinweise auf die Herkunft der beschlagnahmten Fotos und Filme, werten die Ermittler diese selber aus. "Also ein Großteil des kinderpornografischen Materials, also dieses dokumentierten Missbrauchs, wird halt nicht gegen Bezahlung angeboten, sondern getauscht. Es wird auch nicht alles in Ostasien oder in osteuropäischen Ländern produziert, sondern ein Großteil des Materials, was wir zu sehen bekommen, ist tatsächlich Missbrauchsmaterial, was jetzt nicht professionell produziert wird, sondern eben im Rahmen des tatsächlichen Missbrauchs. Der geschieht durch Personen häufig aus dem sozialen Nahfeld der Kinder." Die weitverbreitete Meinung, der Kinderpornografie-Markt werde durch international agierende Banden dominiert, deckt sich also nicht mit den Erkenntnissen der Berliner Ermittler. Sie haben es vielmehr mit Foren und Tauschringen im Internet zu tun, in denen Pädophile ihre oft selber produzierten Fotos und Filme anbieten. Das Löschen von Internetseiten helfe dabei nicht viel, erklärt die Kriminalhauptkommissarin. Denn: "Sobald so ein Bild irgendwo verbreitet wird, haben das halt mehrere Leute auf dem Rechner, und in diesem Moment ist das Bild vielfach im Netz unterwegs. Das heißt, so eine Abbildung kriegen wir nie wieder raus. Das ist ja auch das, was für die Opfer das Dramatische ist. Sie werden dieses Missbrauchsgeschehen nie wieder los. Also wir finden jetzt noch 70er Jahre Bilder, die früher als Heftchen verbreitet wurden oder eben auf Super-8-Film, die sind jetzt digitalisiert und werden nach wie vor auch im Internet ausgetauscht." Wer solche Bilder oder Filme im Internet mit anderen tauscht, macht sich strafbar und muss mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen. Wer professionell mit solchen Bildern oder Filmen handelt, muss sich auf eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren einstellen. Kaum eine Vorschrift im deutschen Strafgesetzbuch wurde in den letzten Jahren so oft verändert und verschärft wie die Strafbarkeit von Kinderpornografie. Verschärfte Gesetzgebung seit 2003 Früher gab es nur sehr allgemeine Pornografie-Straftatbestände. Erst seit 2003 gibt es einen eigenen Paragraphen für Kinderpornografie: 184 b des Strafgesetzbuches. Danach macht sich jeder strafbar, der kinderpornografische Schriften verbreitet, erwirbt oder besitzt. 2008 wurde diese Vorschrift ausgedehnt: Seitdem sind sexuelle Handlungen „von, an oder vor Kindern“ strafbar. Marco Gercke ist Direktor des Instituts für Medienstrafrecht in Köln. Er erläutert, was darunter zu verstehen ist. "Handlungen von Kindern wäre sowohl der sexuelle Missbrauch von Kindern als auch Handlungen, die das Kind selber an sich vornimmt. Dann gibt es Handlungen, die das Kind an einem Dritten vornimmt. Und dann kommen wir auch schon zu der Breite des Tatbestandes: Selbst sexuelle Handlungen zweier Erwachsener, bei der ein Kind nur passiv als Zuschauer teilnimmt, würde man unter die Norm fassen können und wird als Kinderpornografie bezeichnet." Reine Nacktbilder von Kindern, bei denen der sexuelle Bezug fehlt, fallen nicht unter den Begriff der Kinderpornografie. Wer sich solche Bilder besorgt, macht sich nicht strafbar. Doch es gibt Grenzfälle, bei denen nicht immer eindeutig klar ist, ob ein sexueller Bezug auf den Bildern vorhanden ist oder nicht. Dabei geht es um sogenannte "Posing-Bilder". "Dieser Begriff 'Posing-Bilder' wird sowohl für reine Nacktbilder verwendet, wo ein Kind unschuldig am Strand entlang läuft und ein Bild davon gemacht wird. Unter 'Posing-Bilder' werden aber auch gestellte Bilder verstanden, wo einem Kind gesagt wird: Setzt dich hier hin, spreize deine Beine, und ich mache ein Foto davon." Wenn ein Kind also bestimmte Körperhaltungen einnimmt, die die Genitalien betonen, und das Kind dabei fotografiert oder gefilmt wird, fällt das unter den Tatbestand der Kinderpornografie. Ob es sich um eine solche Körperhaltung handelt oder nicht, muss in jedem Einzelfall geprüft und bewertet werden. Diese Bewertung sei aufgrund des heutigen sehr weit gefassten Straftatbestandes manchmal schwierig, meint Strafrechtsexperte Gercke. "Man wird bei diesen reinen Nacktbildern, wo Kinder in natürlicher Bewegung oder natürlicher Umgebung einfach spielen, und jemand macht ein Foto davon, die wird man nicht als Kinderpornografie bezeichnen können, die wird man nicht von der aktuellen Gesetzesfassung nicht fassen können. Wohingegen solche gestellten Bilder selbstverständlich darunter gefasst werden könnten. Aber wie grenzen wir ab? Je weiter wir den Tatbestand aufweichen, desto schwieriger werden die Abgrenzungsfälle." Nicht nur Fotos oder Filme, auch pornografische Zeichnungen von Kindern können strafrechtlich verfolgt werden: "Hintergrund ist, dass es bei dem Paragraphen 184 b nicht nur um den unmittelbaren Schutz der Kinder geht. Sondern es geht auch um einen mittelbaren Schutz. Man möchte verhindern, dass ein Auslöseeffekt eintritt; dass sich jemand diese kinderpornografischen Zeichnungen, die ja sehr realistisch sein können, anschaut, und dann sagt: Ich möchte eigentlich auch einmal ganz gerne ein Kind sexuell missbrauchen. Und aus diesem Grund kriminalisiert der Gesetzgeber bereits die Weitergabe von solchen Zeichnungen. Besitz hingegen ist nicht strafbar." Ansonsten gilt: Schon wer gezielt nach kinderpornografischem Material sucht – egal wie oder wo - , muss mit Strafverfolgung rechnen. Schon der Versuch, sich kinderpornografische Bilder oder Filme zu verschaffen, wird bestraft. "Die Intention des Gesetzgebers ist es, bereits Vorbereitungshandlungen unter Strafe zu stellen. Jemand, der versucht, sich Kinderpornografie zu verschaffen, macht sich bereits in dem Moment strafbar, und zwar wegen eines vollendeten Deliktes." Das Internet wirft neue Rechtsfragen auf Die meisten Täter suchen heutzutage pornografisches Material im Internet. Im World Wide Web stellen sich allerdings schwierige Rechtsfragen. Ist es schon strafbar, wenn man den Begriff "Kinderpornografie" bei der Suchmaschine Google eingibt? Wann fängt jemand an, im Internet gezielt nach Bildern und Filmen zu suchen? Der Gesetzgeber, meint der Medien-Strafrechtler Marco Gercke, habe es noch nicht geschafft, das Pornografie-Strafrecht in das Zeitalter des Internets zu versetzen. "Die Suche nach Kinderpornografie im Internet ist schwer durch die bestehenden Normen zu erfassen. Es kann sein, dass einzelne Gerichte sagen: Ich kann diese Norm gerade noch so auslegen. Aber sie eignet sich faktisch nicht, sodass es schwierig sein wird für die Ermittlungsbehörden, tatsächlich die Täter zu greifen. Aber ich würde trotzdem davor warnen – auch Journalisten – das jetzt auszureizen und zu sagen: Ich probiere mal, wie weit ich gehen kann. Denn da schwebt das Damoklesschwert der Strafbarkeit über einem. Der Grundsatz ist wirklich, dass der Gesetzgeber eine weitgehende Kriminalisierung erreichen wollte." Justiz- und Verbraucherschutzminister Heiko Maas (SPD) (dpa/picture alliance/Hannibal Hanschke) Vieles spricht im Moment dafür, dass die Gesetze weiter verschärft werden. Die Bundesregierung denkt darüber nach, den Handel mit Nacktbildern von Kindern generell unter Strafe zu stellen. Das heißt auch den Handel mit Nacktbildern, die bislang nicht als pornografisch eingestuft werden. Bundesjustizminister Heiko Maas kündigte in der vergangenen Woche an, bis Ostern einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Kinder besser vor sexueller Ausbeutung schützen soll. Dies müsse allerdings sorgfältig vorbereitet werden. "Es ist nicht so ganz einfach, weil viele Alltagsbilder nicht in den Bereich der Strafbarkeit gebracht werden sollen, etwa Urlaubsbilder, die dann auch innerhalb einer Familie verschickt werden. Darum kann es nicht gehen, das hilft auch niemandem. Die Frage ist allerdings, ob jemand, der gewerbsmäßig mit solchen Bildern handelt oder auch jemand der sie kauft, nicht mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt werden kann. Und das überprüfen wir jetzt." Warnung vor gesetzgeberischen Schnellschüssen Der Kinderschutzbund unterstützt die Initiative des SPD-Ministers und fordert, dass der Handel mit Nacktbildern von Kindern generell unter Strafe gestellt wird. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) will einen Antrag des Bundesrates auf den Weg bringen, der die Bundesregierung auffordert, schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei müsse allerdings darauf geachtet werden, dass es am Ende nicht die Falschen trifft, mein Marco Gercke, Direktor des Instituts für Medienstrafrecht in Köln. Er warnt vor Schnellschüssen. "Denken Sie mal an den Hersteller von Fotobüchern. Eltern schicken Nacktbilder ihrer Kinder dorthin, wie sie am Strand spielen. Und dieser Fotobuchhersteller wird gewerblich diesen Eltern diese Bücher dann geben. Damit handelt er gewerblich mit Nacktbildern, ohne dass er das will oder dass das seine Intention ist. Ich kann nur davor warnen die Edathy-Affäre zu nutzen, um jetzt eine Sexualstrafrechtsreform oder Pornografie-Strafrechtsreform durchzupeitschen. Das sind gute Intentionen, die da im Moment diskutiert werden. Aber die Frage ist, ob sich das wirklich so umsetzen lässt." Es gibt auch andere Strafrechts-Experten, die eine Strafbarkeit des gewerbsmäßigen Handels mit Nacktbildern kritisch sehen. Sinnvoller sei es, die Verbreitung von Nacktbildern als Persönlichkeitsverletzung zu bestrafen; unabhängig davon, ob die Weitergabe der Bilder gewerbsmäßig geschieht oder nicht. Strafrechts-Experte Marco Gercke hält jedenfalls nichts davon, sich voreilig auf bestimmte Vorschläge festzulegen. Notwendig sei vielmehr eine ruhige, sachliche Debatte, in die auch Sexualtherapeuten mit eingebunden werden. "Wir müssen eine Diskussion führen, dass es Pädophile gibt, dass das eine sexuelle Störung ist, und wie gehen wir mit dem um. Wir können jetzt natürlich den Handel mit diesen Bildern kriminalisieren. Aber die zugrunde liegenden Handlungen, nämlich sich ein Kind nackt anzugucken, ist als solches nicht strafbar. Und da sollten wir vielleicht wirklich eher Therapeuten noch mit einbeziehen, und diese Diskussion auch nicht nur Juristen überlassen. Denn selbstverständlich können wir Juristen wunderschöne Normen schaffen, aber es wäre vielleicht wichtig, da noch mal genau zu bestimmen, wo legen wir den Fokus hin." Natürlich ist die angedachte Gesetzesverschärfung im Bereich der Kinderpornografie ein wichtiges Thema auch für die 21 Mitarbeiter des Berliner Kommissariats. Mit einer Bewertung hält sich dessen Leiterin allerdings zurück. Ein Aspekt, den Judith Dobbrow anmerkt: Werden Nacktbilder von Kindern generell strafbar, führt dies zu mehr Ermittlungsverfahren, also zu mehr Arbeit für das ohnehin schon ausgelastete Kommissariat Kinderpornografie. Minderjährige müssen stärker vor sexueller Ausbeutung geschützt werden, meint sie, deshalb plädiert die 46-jährige Mutter von zwei Kindern für Strafen beim Verkauf von Nacktbildern. "Auf der anderen Seite werden ja auch diese Nacktbilder frei zugänglich von unbedarften Eltern im Internet verbreitet, wenn man sich so Facebook-Einträge anguckt. Also ich denke, da muss man schon ziemlich aufpassen, wer nachher in diesen Bereich der Strafrechtsverfolgung geraten kann." Auch Herstellung und Konsum der Bilder sollen strafbar werden "Deswegen sage ich den Eltern: Die Fotos, die ihr am Ostseestrand oder am Nordseestrand von euren Kindern gemacht habt, stellt die bitte nicht bei Facebook ein, nicht in Sozialen Medien. Da besteht die ganz große Gefahr, dass Pädosexuelle diese Fotos zur sexuellen Befriedigung nutzen. Und sind nicht aus dem Netz rauszuholen. Hier ist eine erhebliche Steigerung der Sensibilisierung der Eltern und der Verantwortlichen notwendig." Johannes-Wilhelm Röhrig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Er hat sich bei der Debatte über eine Verschärfung des Kinderpornografie-Gesetzes eindeutig positioniert – nicht nur der Verkauf der Nacktfotos müsse unter Strafe gestellt werden. "Die dienen als Vorlage zur sexuellen Befriedigung von Erwachsenen. Bei der Herstellung dieser Posing-Fotos findet Missbrauch, sexuelle Ausbeutung an Kindern statt. Und deswegen ist es erforderlich, dass die Herstellung und der Konsum dieser Bilder strafbar sind." Eine Forderung, die von Betroffenen und Opfer-Initiativen geteilt wird. Die Brandenburgerin Maren Ruden hat die Frauen-Selbsthilfe-Initiative "Die Rose" gegründet, saß mit am Runden Tisch Kindesmissbrauch der Bundesregierung: "Der Grund war mein eigenes Missbrauchserleben als Kind. Als ich 14 Jahre alt war. Der zweite Grund ist, dass meine Töchter ebenfalls betroffen sind." Für das Internet wurde bereits mit Stopp-Schildern und Ampelsystem experimentiert, um Kinderpornografie zu kennzeichnen. (picture alliance / dpa) Halbwegs stabil sei sie nach einer jahrelangen Therapie, erzählt die 51-Jährige. Andere sind daran zerbrochen: Sind psychisch krank, nicht in der Lage, Partnerschaften aufzubauen oder einen Beruf auszuüben. Maren Ruden engagiert sich politisch für die Rechte von Betroffenen, sie kann und will darüber reden. Darüber, dass ihr Vater erst sie missbraucht hat, 30 Jahre später dann ihre beiden Töchter. Ihrer Erfahrung nach ist Kinderpornografie eine Art Einstiegsdroge für die Täter. "Bei mir waren es Missbrauchs-Übergriffe, die im engsten Familienkreis passiert sind. Das waren Berührungen. Aber ich weiß auch, dass der Täter sehr viel von Nacktfotos von Geschlechtsteilen hielt." Maren Ruden hat ihren Vater nicht angezeigt, aber mit ihren Eltern gebrochen. Der Alltag sei nicht immer einfach, alle leben in derselben Brandenburger Kleinstadt südlich von Berlin. Dass Maren Rudens Mutter ihren Ehemann, der zum Täter wurde, zeitlebens deckte, will und kann ihr die Tochter nicht verzeihen. Pädophilie als lebenslange sexuelle Präferenz Sexualwissenschaftler gehen davon aus, dass einer von Hundert Männern pädophil ist. Es handelt sich dabei nicht um eine – heilbare - Krankheit, sondern um eine lebenslang anhaltende sexuelle Präferenz, deren Ursache bis heute nicht bekannt ist. Ein Trieb, der allerdings kontrollierbar ist. Seit zehn Jahren therapiert Dr. Christoph Ahlers Sexualstraftäter und Männer, die von ihren pädophilen Neigungen wissen, aber nicht zu Tätern werden wollen. Der wissenschaftliche Leiter des Instituts für Sexualpsychologie hat für sie einen Verhaltensleitfaden entwickelt, ein einfaches Ampelsystem: "Wie kann ich einen verantwortlichen Umgang mit sexuell erregenden Bildern lernen. Sodass durch meinen Konsum weder Personen mittelbar geschädigt werden noch ich mich durch mein Verhalten strafbar mache." Bei FKK-Bildern, Strandfotos, Unterwäschekatalogen blinkt die Ampel grün – keine Gefahr für die Kinder und für potenzielle Täter. Bei Posing-Bildern – nackte Kinder in besonderen, gestellten Positionen – ist die Ampel gelb. Das bedeutet: Diese Fotos und Videos stellen eine potenzielle Gefahr für Pädophile dar. Und: Kinder wurden für diese Aufnahmen benutzt, wenn nicht ausgebeutet. Die rote Ampel bedeutet Stopp: Pornografische Darstellungen sind verboten. Der Sexualtherapeut Dr. Christoph Ahlers versucht seinen Patienten klarzumachen: "Sobald ich in geschützten Bereichen nach Bildern suche, in speziellen anmeldungsbedürftigen Bereichen des Internets, Newsgroups, Foren, dann ist eigentlich programmatisch klar, dass selbst grüne Bilder, die ich da finde, nur ein Auftakt sind zu Bilderserien, die rot enden." Würde das Gesetz zur Kinderpornografie soweit verschärft, dass auch der Besitz und das In-den-Verkehr-bringen von Nacktbildern generell strafbar wäre, würden mehr pädophile Männer zu Straftätern als bislang. Ob diese Strafverschärfung abschreckend wirkt, lässt sich schwer vorhersagen. Der klinische Sexualpsychologe Dr. Ahlers trifft in Gesprächen mit Pädophilen oft auf folgende Haltung: "Das ist ja eh im Internet, ob ich das angucke oder nicht, ändert gar nichts. Also was will man mir da schon anhaben. Ich mach ja nichts. Das ist so die Geisteshaltung, mit der die meisten Personen kommen, wenn wir sie dann im klinischen Kontext sehen." Mit der Löschung von kinderpornografischen Internetseiten befasste sich in dieser Woche auch das Bundeskabinett. Danach hieß es, es funktioniere gut: Die allermeisten inländischen und ausländischen Webseiten seien in spätestens vier Wochen gelöscht. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: bei mehr als einem Zehntel der rund 6.200 gemeldeten Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten waren die deutschen Sicherheitsbehörden machtlos. Entweder, weil die Verbindungsdaten anonymisiert waren oder weil sich die Server in Staaten befanden, die nicht mit Deutschland kooperieren.
Von Claudia van Laak und Klaus Hempel
Kaum eine Vorschrift im deutschen Strafgesetzbuch wurde in den letzten Jahren so oft verändert und verschärft wie die gegen Kinderpornografie. Und doch tut sich der Gesetzgeber weiterhin schwer, das Strafrecht ins Internet-Zeitalter zu versetzen. Zugleich warnen Kritiker vor Schnellschüssen unter dem Eindruck der Edathy-Affäre.
"2014-02-28T18:40:00+01:00"
"2020-01-31T13:28:33.230000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-fall-edathy-wie-mit-nacktbildern-von-kindern-100.html
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Litauens Regierung warnt vor einer russischen Taxi-App
Sammelt die App "Yandex" Daten von Nutzern? (imago/Westend61) Natürlich sind die Wagen neu und schick, der Service selbst ist ziemlich "hip", gerade in einem Land wie Litauen, eher am Ende als am Rand der EU, dafür aber sehr nah an Russland. Und von dort kommt "Yandex", eigentlich eine in Russland sehr erfolgreiche Suchmaschine, die jetzt aber mit 300 Autos und einer App auf den Taximarkt unter anderem in der Hauptstadt Vilnius drängt und dabei auf eine Menge Skepsis stößt. Der Verdacht: Spionage. Versucht da ein Unternehmen, dem man eine große Nähe zu den Mächtigen in Moskau nachsagt, über die App an Daten litauischer Bürger und vor allem Funktionsträger zu kommen? Jetzt hat sich sogar Regierungschef Sauli Skvernelis eingeschaltet. "Ob man da mitfährt, muss jeder für sich entscheiden. Die Bedrohung ist bekannt: Exzessives Sammeln von Daten. Ich empfehle, diese App nichts zu nutzen. "Einrichtungen", die für unsere Cybersicherheit verantwortlich sind, sollten jetzt klar sagen, ob diese App komplett unsicher ist oder zumindest nicht sicher genug. Das wäre dann zumindest für den öffentlichen Dienst bindend." Genau das ist inzwischen passiert. Noch laufen nach offiziellen Angaben Tests unter anderem des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit, aber dessen Leiter, Rytis Rainis, ist sich schon jetzt sicher, dass bei "Yandex" größte Vorsicht geboten ist: "Noch liegen uns keine Fälle vor, bei denen sicher über die App spioniert worden wäre. Aber wir machen uns schon Sorgen, weil die App auf sehr viele Nutzerdaten zugreifen kann und die dann auf Server in Drittländer spielt. Deshalb empfehlen wir Mitarbeitern unseres öffentlichen Dienstes, aber auch anderen Repräsentanten des Staates und Leuten, die für wichtige Infrastruktur hier in Litauen verantwortlich sind, diese App auf gar keinen Fall zu nutzen." Die IT-Leute sitzen in Moskau Aram Sargsyan hat sich fürs Interview im litauischen Fernsehen in Szene gesetzt. Genauer: Auf den ledernen Rücksitz eines der luxuriösen "Yandex"-Taxis. Er ist für die Unternehmensstrategie zuständig, also auch für die Expansion ins europäische Ausland. Und er weist alle Verdächtigungen zurück: "Wir nehmen die Sicherheit der Daten unserer Nutzer sehr ernst. Daten aus der EU werden in der EU gespeichert, hier in Finnland. Wir teilen sie niemals mit irgendeiner Regierung. Es sei denn, es gibt örtliche Regeln, die dann für Unternehmen aus allen Ländern gelten." Tja, aber genau das ist die Frage: Welche Regeln gelten für den Taxidienst von Yandex. Die Zentrale ist in Amsterdam, Daten werden angeblich in Finnland gespeichert, aber die IT-Leute sitzen in Moskau. Das litauische Verteidigungsministerium fürchtet deshalb, dass über diesen Weg Nutzerdaten an russische Behörden, Gerichte oder nicht an näher bezeichnete "Dritte" weitergeleitet werden könnten. Was Skeptiker wie den Bürgermeister von Vilnius, Remigijus Simasius, in ihrer Überzeugung bestätigt: Verhindern können wir den Dienst wohl nicht, aber wir müssen ihn ja nicht nutzen. "Auch wenn Vilnius und ganz Litauen offen ist für alle Unternehmen, wir können unsere Freiheit und Sicherheit nicht aufs Spiel setzen."
Von Carsten Schmiester
Die litauischen Behörden haben vor einer populären Taxi-App aus Russland gewarnt, weil sie vermuten, dass die App illegal Daten litauischer Bürger sammelt. Der Mutterkonzern Yandex dementiert die Vorwürfe.
"2018-08-02T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:04:23.032000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spionageverdacht-litauens-regierung-warnt-vor-einer-100.html
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Gemeinsam gegen Antisemitismus
Demonstrationen gegen Antisemitismus in Paris (dpa/ picture alliance/ Samuel Boivin) "Ca suffit - es reicht!" – viele Transparente mit dieser Aufschrift wurden am Abend bei Demonstrationszügen gegen den Antisemitismus durch Städte in ganz Frankreich getragen. An der zentralen Veranstaltung in Paris versammelten sich Tausende Menschen an der Place de la République, darunter Vertreter von über 20 Parteien und vielen Vereinen, Verbänden, Organisationen, Gewerkschaften. Die Regierung war durch Premierminister Edouard Philippe sowie 23 Minister und Staatssekretäre vertreten; Staatspräsident Emmanuel Macron indes fehlte – wohl um Konfrontationen mit Vertretern der Gelbwesten zu vermeiden. Stattdessen besuchte er in Paris die Erinnerungsstätte Mémorial de la Shoah, zusammen mit den Vorsitzenden der beiden Kammern des Parlaments – auch das ein Zeichen. Der Präsident äußerte sich nicht, wohl aber Senatspräsident Gerard Larcher von den konservativen "Republikanern": "Das ist ein Symbol: der Präsident der Republik als Exekutive und die Vertreter beider Parlamentskammern stehen hier vereint: wollen ein Zeichen setzen, wollen unseren jüdischen Mitbürgern sagen: Frankreich ist Ihr Land!" Der Präsident der Nationalversammlung, Richard Ferrand von "La République en marche": "Wir sind gemeinsam hier, um zu demonstrieren, dass die gesamte Staatsführung zusammensteht - um die schmerzlichen Erinnerungen zu teilen, und um auf die Gefahren, aufmerksam zu machen, die uns bedrohen, diese unerträgliche Gewalt. Dieser widerliche Irrsinn des Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Republik!" Auch der frühere Staatspräsident Francois Hollande äußerte sich kurz: "Der Antisemitismus ist eine Plage, ist ein Angriff auf die Republik. Er ist keine Angelegenheit der Juden, er ist eine Angelegenheit aller Franzosen." Eine Stunde des stillen Gedenkens Es war eine überwiegend stille Stunde des Gedenkens - ohne offizielle Reden. Jugendliche lasen kurze Texte jüdischer Autorinnen und Autoren, gemeinsam wurde die Marseillaise gesungen – dann war die Zeremonie zu Ende, doch lösten sich die Menschenmengen erst sehr langsam auf. Einzig Marine Le Pen vom Rassemblement National war nicht eingeladen worden, die Partei organisierte eine eigene Gedenkstunde; Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei La France Insoumise nahm an einer ähnlichen Veranstaltung in Marseille teil. Nahezu alle anderen Parteien waren in Paris vertreten – was reihum als starkes Signal gewertet wurde: so viele und so unterschiedliche Parteien traten in Frankreich schon lange nicht mehr für eine gemeinsame Sache ein.
Von Jürgen König
Tausende Menschen haben in Frankreich gegen Antisemitismus demonstriert. Die Zahl der antisemitischen Straftaten war zuletzt stark gestiegen. Bei der zentralen Kundgebung in Paris nahmen auch Premierminister Edouard Philippe und mehr als die Hälfte der Kabinettsmitglieder teil.
"2019-02-20T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:37.190000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/demonstrationen-in-frankreich-gemeinsam-gegen-antisemitismus-100.html
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Der Rundfunkbeitrag in Karlsruhe auf dem Prüfstand
Auch wer keinen Fernseher oder nur ein Radio besitzt, muss den vollen Rundfunkbeitrag von 17,50 Euro monatlich zahlen. (Bernd von Jutrczenka,dpa picture-alliance) Wer in Deutschland lebt, kommt an öffentlich-rechtlichen Medien kaum vorbei: ARD, ZDF und Deutschlandradio betreiben mehr als 20 Fernsehsender und über 60 Radiowellen, dazu kommen unzählige Online-Angebote. Um all das finanzieren zu können, ist für jede Wohnung ein Rundfunkbeitrag fällig. Pro Monat sind das 17,50 Euro. Egal, wie viele Personen in der Wohnung leben. Das ist ein ungerechtes Modell, findet Bernhard Wietschorke, der Besitzer einer Zweitwohnung ist. Und nicht hinnehmen will, für beide Wohnungen jeweils einen Rundfunkbeitrag bezahlen zu müssen. "Ein Ein-Personen-Haushalt oder auch ein Zwei-Personen-Haushalt kann nur 24 Stunden Fernsehen konsumieren in seiner Erstwohnung. Wenn er eine Zweitwohnung hat, erhöht das nicht den Vorteil. Er kann nicht mehr konsumieren, er kann nicht mehr Sender konsumieren. Insofern ist auch der Zweitwohnungs-Beitrag für mich nicht nachvollziehbar." Klage wird am 16. und 17. Mai verhandelt Deshalb lässt Wietschorke den Rundfunkbeitrag nun von höchster Instanz prüfen: Am 16. und 17. Mai befasst sich das Bundesverfassungsgericht unter anderem mit seiner Klage. Dabei geht es Wietschorke nicht nur um seinen eigenen Fall. "Ich bin auch mit der Tatsache nicht einverstanden, dass Mehrpersonenhaushalte den gleichen Beitrag bezahlen wie Ein-Personen-Haushalte. Davon sind ja insbesondere auch Alleinerziehende benachteiligt. Das heißt, dieses Verteilungsmodell, das ist eigentlich mein wesentlicher Punkt, mit dem ich nicht einverstanden bin. Ich bin nicht einverstanden, dass es eine Zwangsabgabe ist, aus der man nicht rauskommen kann. Was diese Verteilungsfrage anbelangt, wird immer argumentiert, dass ein Wohnungsbeitrag einfacher zu verwalten sei. Und ich bin der festen Überzeugung, dass ein personenbezogener Beitrag die einfachere Möglichkeit wäre angesichts der vielen Verwaltungsschwierigkeiten, die auch jetzt wieder einen Meldedatenabgleich haben nötig werden lassen." Der Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradio zieht den Rundfunkbeitrag ein. Er gleicht in diesen Wochen seine Bestandsdaten mit den Daten der Einwohnermeldeämter ab. So soll geklärt werden, für welche Wohnungen bislang kein Rundfunkbeitrag gezahlt wird. Der wohnungsbezogene Beitrag wird seit dem 1. Januar 2013 erhoben. Der Rundfunkbeitrag für ARD, ZDF und Deutschlandradio beträgt 17,50 Euro pro Wohnung (dpa / Arno Burgi) Entschieden haben das die Bundesländer, denn sie sind in Deutschland für die Rundfunkpolitik zuständig. Deswegen müssen sie sich auch vor dem Bundesverfassungsgericht rechtfertigen. Diese Aufgabe übernimmt der Medienrechtler Dieter Dörr, Senior-Forschungsprofessor an der Universität Mainz. Er hält das bisherige Verfahren für angemessen. Schließlich beteiligten sich Bürger, Unternehmen und Institutionen gemeinsam an der Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen und sorgten so dafür, dass auch diejenigen Zugang zu unabhängigen Informationen bekommen, die sich nicht oder nicht in vollem Umfang an der Finanzierung beteiligen können. Solch ein Solidarmodell hat laut Dörr zwangsläufig gewisse Unschärfen. "Bei solchen pauschalierten Massenverfahren geht es immer darum, wie weit kann man pauschalieren und typisieren und wie weit muss man Einzelfallgerechtigkeit herstellen. Wenn Sie also anknüpfen würden, wie viel Insassen jeweils in einer Wohnung gemeldet sind, wie viele also wirklich in der Wohnung wohnen, dann wäre das ein ungeheurer Verwaltungsaufwand. Das wäre überhaupt nicht zu leisten." Auch ein Schritt zurück, zum vorherigen System, bei dem bis Ende 2012 nicht die Wohnung das entscheidende Kriterium war, sondern das Vorhandensein von Empfangsgeräten, ist für Dörr keine Option. Das liege auch an der weiten Verbreitung von Smartphones, an der Möglichkeit, jederzeit und überall auf die Angebote der Öffentlich-Rechtlichen zuzugreifen. Medienrechtler Dörr verweist außerdem darauf, dass das alte System an seine Grenzen gestoßen sei. Die Gebührenpflicht sei schwer, zu kontrollieren gewesen. Damit seien die ehrlichen Zahler benachteiligt worden. Radioprogramme können auch unterwegs empfangen werden. (dpa / Daniel Bockwoldt ) "Das hatte zur Folge, dass ganz viele und zwar eine zunehmende Zahl sich der Gebührenpflicht entzogen haben, indem sie einfach nicht mehr bezahlt haben. Und man musste einen großen Aufwand mit Beauftragten betreiben, um möglichst viele dann doch heranzuziehen. Der Beitrag mit der Anknüpfung Wohnung hat den Charme, dass er leicht vollziehbar ist. Weil die Wohnung eben mit einer Meldepflicht verbunden ist. Deshalb ist die Zahl der Pflichtigen verbreitert worden. Die waren zwar vorher auf pflichtig, haben sich aber ihrer Zahlungspflicht häufig entzogen." Insgesamt liegen vier Verfassungsbeschwerden vor Dörr begrüßt, dass sich die Verfassungsrichter ausführlich mit dem Rundfunkbeitrag befassen. Angesetzt sind zunächst zwei Verhandlungstage. Neben Zweit-Wohnungen und Single-Haushalten geht es auch noch um andere Punkte. Den Richtern liegen insgesamt vier Verfassungsbeschwerden vor. Zum Beispiel die Frage, ob Unternehmen den Rundfunkbeitrag für ihre Niederlassungen bezahlen müssen. Fast jeder zweite Autofahrer hört regelmäßig Radio. (picture alliance / Arne Dedert / dpa) Außerdem will das Mietwagen-Unternehmen Sixt klären lassen, ob es für jeden einzelnen Mietwagen einen Beitrag zahlen muss. Das Unternehmen argumentiert, das sei eine unzulässige Mehrfachbelastung. Zudem würden die Mieter der Autos bereits privat ihre Beiträge zahlen. Dem entgegnet Dieter Dörr, Vertreter der Bundesländer: "Nirgends wird so viel Rundfunk genutzt wie in Kfz. Und Kfzs, und gerade übrigens die vermieteten Kfzs, sind zu nahezu 100 Prozent mit Rundfunk-Empfangsgeräten ausgestattet. Deshalb spricht alles dafür, dass gerade das gewerblich genutzte Kfz ein Ort typischen Rundfunkempfangs ist und deshalb halte ich es für überaus sachgerecht, dass diese Kfzs eben herangezogen werden, dass das ein Anknüpfungspunkt ist für den Rundfunkbeitrag." Vor dem Bundesverfassungsgericht geht es neben diesen Einzelthemen aber auch um das große Ganze: Also darum, ob der Rundfunkbeitrag überhaupt zulässig ist. Denn die Kläger argumentieren, dass der Rundfunkbeitrag in Wirklichkeit eine Steuer und keine Abgabe sei. Die Orientierung an der Wohnung sei unzulässig, meint Rechtsanwalt Thomas Koblenzer. Er vertritt Bernhard Wietschorke und einen weiteren Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht. "Die öffentlich-rechtliche Leistung wird ja wahrscheinlich vielfach woanders wahrgenommen und in Anspruch genommen als in den eigenen vier Wänden. Der nächste Punkt, der dort eine Rolle spielt, ist, dass dort eben das Anknüpfen an die vier Wände eben die Grenze zu einer Allgemeinfinanzierung sehr schnell überschreitet. Denn bis auf die Gruppe der Obdachlosen leben ja alle in vier Wänden. Und man tut sich jedenfalls schwer, eine Differenzierung zu der allgemeinen Finanzierungsform der Steuern festzustellen, wenn hier als Tatbestand ein Tatbestand gewählt wird, den quasi jeder Bürger erfüllt." Rundfunkbeitrag und der Vorwurf der Verfassungswiedrigkeit Außerdem stehe im Gesetz, das den Rundfunkbeitrag regelt, nicht unmittelbar, wofür der Gesetzgeber den Beitrag erheben will. Das wäre aber nötig, meint Koblenzer und hält den Rundfunkbeitrag schon alleine aus diesen formalen Gründen für verfassungswidrig. Sollte auch das Gericht in Karlsruhe der Meinung sein, dass der Rundfunkbeitrag in Wirklichkeit eine Steuer ist, wäre das bisherige Finanzierungsmodell am Ende. Denn eine solche Steuer dürften die Bundesländer gar nicht festlegen. Bisher läuft die Frage, wie hoch der Rundfunkbeitrag in den nächsten Jahren sein wird, über die Länder und deren Parlamente, unter Einbeziehung einer unabhängigen Expertenkommission, der "Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten", kurz KEF. Die prüft regelmäßig die Budgets der Öffentlich-Rechtlichen und macht alle vier Jahre einen neuen Vorschlag für die zukünftige Höhe des Rundfunkbeitrags. Von diesem Vorschlag dürfen die Länder nur in seltenen Fällen abweichen. Das Bundesverwaltungsgericht und andere Gerichte haben das bisherige Finanzierungssystem als zulässig eingestuft. Auch deswegen geht der Vertreter der Bundesländer, Dieter Dörr, davon aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht dieser Ansicht anschließt. "Es ist deshalb keine verkappte Steuer, weil noch ein genügend enger Bezug zwischen Beitragspflicht und Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht. Ein Beitrag darf ja auch verlangt werden, wenn eine besondere Leistung zur Verfügung gestellt wird. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird allen Beitragspflichtigen als Möglichkeit zur Verfügung gestellt. Sie können diesen nutzen." Deutschlandradio-Intendant über Alternativen zum Rundfunkbeitrag Besser sei eine ausreichende Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen, bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Unabhängigkeit, kaum hinzubekommen, meint der Intendant des Deutschlandradios, Stefan Raue. "Die Alternative wäre entweder ein System, was über Spenden und über Sponsoren läuft. Da sind Sie abhängig von den Sponsoren, von ökonomischen Interessen. Sie können eine mittelfristige Planung gar nicht machen. Die andere Alternative wäre ein staatsfinanziertes System, also über eine Steuerfinanzierung. Da bin ich sehr skeptisch, weil die Steuerfinanzierung immer nahelegt, dass der Staat dann natürlich sich Gedanken macht, was finanziert er eigentlich. Also die Staatsferne, die zu den Essentials, zu den Grundüberzeugungen unseres öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems gehört, wäre da nicht so gewahrt, wie ich mir das vorstelle. Deswegen glaube ich, dass der Rundfunkbeitrag, dass das das beste System ist." Der Intendant des Deutschlandradios, Stefan Raue. (Marius Becker/dpa) Dennoch sei es gut, immer wieder über die Öffentlich-Rechtlichen zu diskutieren. Alleine schon, weil ihnen die Bürger pro Jahr mehrere Milliarden Euro zur Verfügung stellten. Über einen Mangel an Diskussionen können sich ARD, ZDF und Deutschlandradio tatsächlich nicht beklagen, und zwar auch vonseiten der Bundesländer, die im Bereich der Medienpolitik die wichtigsten Entscheidungen treffen können. Die Länder haben sich von den Öffentlich-Rechtlichen schon vor etlichen Monaten eine Strukturreform gewünscht. Die zielt vor allem darauf ab, Geld zu sparen – damit der Rundfunkbeitrag in den nächsten Jahren nicht oder nur unwesentlich angehoben werden muss. Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue: "Ich finde diese Diskussion über den Rundfunkbeitrag, aber auch über das Grundsätzliche, wie werden wir finanziert, wofür geben wir das Geld aus, wie sehen unsere Perspektiven aus, wie heißt eigentlich unser Auftrag, diese Diskussion ist notwendig und die darf auch niemals aufhören. Die muss permanent geführt werden. Wir verlangen von den Menschen eine Menge an Vertrauen und Geld und Interesse. Und wir sind eine öffentliche Körperschaft. Wir sind ein öffentliches Rundfunksystem. Insofern muss man in der Öffentlichkeit auch zu allen Diskussionen bereit sein. Und da müssen wir auch gar keiner Diskussion aus dem Weg gehen. Da können wir uns mit den Dingen, die wir anbieten, auch durchaus sehen lassen." Dass die Öffentlich-Rechtlichen ein wichtiger Bestandteil des deutschen Mediensystems sind und dass sie eine ausreichende Finanzierung brauchen, das sehen auch viele private Marktteilnehmer so. Der Verband Privater Rundfunk und Telemedien, kurz VPRT, setzt jedoch ein klares "Aber" hinter sein Bekenntnis zum dualen Mediensystem. Hans Demmel, Geschäftsführer des privaten Nachrichtensenders n-tv und Vorstandsvorsitzender des VPRT. "Man muss aber schon einfach letztlich dazu sagen, dass mittlerweile über 20 Fernsehstationen, über 60 Radiostationen, eine mittlere dreistellige Zahl von Internetangeboten einfach überdimensioniert ist. Und dass die Kollegen von den Öffentlich-Rechtlichen Anstalten nicht vergessen, sie sind Anstalten und wir auf der privaten Seite sind Unternehmen. Unternehmen agieren anders. Und ich glaube, dass man mit einer Zwangsabgabe, jetzt muss ich das böse Wort auch mal sagen, schon nur Dinge belegen sollte, die anders nicht finanziert werden könnten." Das sind nach Ansicht von Demmel vor allem die Bereiche Kultur, Bildung und Information – darauf sollten sich die öffentlich-rechtlichen Sender konzentrieren. Und zwar in deutlich kleinerem Rahmen. "Ob es unterschiedliche Klassikradios in diesem Land mit jeweils eigenständigen Redaktionen brauchen, ich glaube, da kann man eine ganze Menge zusammenlegen. Ob es jede Popmusikwelle braucht, die regional unterschiedlich sind. Natürlich kann man die diversen Spartenkanäle, die ja zum Teil auch identisch sind oder ähnlich sind wie die privaten Programme, kann man sich nochmal genauer ansehen. Also eine deutliche Reduzierung in dem Bereich gehört schon zu dem, was aus meiner Sicht und aus Sicht unseres Verbandes auch Sinn machen würde." ARD im Fokus der Kritik Der Chef des Privatsender-Verbands meint damit vor allem die ARD. Die steht bei den Reformdiskussionen ohnehin im Mittelpunkt; und wird neben den Privatsendern gerade auch von den Zeitungsverlegern immer wieder scharf kritisiert. Weil die Verleger meinen, dass die Öffentlich-Rechtlichen zunehmend das Geschäftsmodell der Verlage gefährden. Dass dabei die ARD im Fokus steht, liegt insbesondere an ihrer Größe. Der Vorsitzende der ARD und Intendant des BR Ulrich Wilhelm (dpa / Sven Hoppe/) Schließlich gehören zur ARD neun Landesrundfunkanstalten, die wiederum jeweils eigene Radiosender, Fernsehkanäle und Online-Seiten betreiben - vom NDR im Norden bis zum Bayerischen Rundfunk im Süden. Der BR-Intendant und derzeitige ARD-Vorsitzende, Ulrich Wilhelm, wehrt sich dagegen, die Spar-Axt am Programm anzulegen. "Wenn Sie sagen: Braucht es diese Eigenständigkeit der Inhalte überhaupt und genügt es nicht, dass man zum Beispiel nur an einer Stelle ein Gesundheitsmagazin macht, das alle anderen dann übernehmen, oder genügt es nicht eine Kulturwelle zu machen und die anderen übernehmen die einfach, dann kommt man natürlich zu einem schlankeren System. Das erklärt aber nicht hinreichend, was Föderalismus ist. Föderalismus ist nicht nur ein Thema von Kostenbilanzen, sondern hat zutiefst zu tun mit der deutschen Geschichte, mit dem, was unser Land ausmacht. Wir sind ein Land der regionalen Vielfalt. Und die publizistische Vielfalt, die zu unserem Land passt, die die Regionalität der Bundesrepublik ausmacht, dieses ist zutiefst in unseren Programmen verankert. Also das ist eine verkürzte Betrachtung, die föderale Vielfalt unter Kostenaspekten allein zu bewerten." Wilhelm verweist auf Sparvorschläge, die ARD, ZDF und Deutschlandradio schon im vergangenen Herbst gemacht haben. Die Vorschläge, die die Intendanten den Bundesländern überreicht haben, beziehen sich vor allem auf Technik, Verwaltung und Organisation. Dort sollen Abläufe vereinheitlicht werden, die Anstalten wollen stärker kooperieren. Dadurch sollen viele Millionen Euro eingespart werden. Doch schon im vergangenen Herbst war aus den Statements der Landespolitiker herauszuhören, dass sie gerne noch deutlich weitergehende Vorschläge bekommen würden. Heike Raab, SPD-Politikerin und rheinland-pfälzische Staatssekretärin: "Mir scheint aber, dass wir deutlich sehen, dass ein wichtiger Reformprozess angestoßen ist, der aber wahrscheinlich erst so eine Art Zwischenetappe darstellen kann. Und noch weitere Reformbemühungen folgen müssen." Heinz Fischer-Heidlberger ist Vorsitzender der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) (dpa/ Maurizio Gambarini) Im Frühjahr 2018 kam dann auch die Expertenkommission KEF zu dem Schluss, dass die Vorschläge wenig weitreichend seien. Bei ARD, ZDF und Deutschlandradio gebe es noch deutlich mehr Einsparpotenzial. Der KEF-Vorsitzende Heinz Fischer-Heidlberger meint, dass sonst in den nächsten Jahren ein deutlicher Anstieg des Rundfunkbeitrags zu erwarten sei. "Wir haben eine Digitalisierung, die eigentlich ein erhebliches Potenzial auch in diesem Stellenbereich erbringen müsste. Und wenn ich strategisch rangehe, was die Länder ja eigentlich als Vorgabe gemacht haben: Strukturoptimierung zu betreiben, dann muss ich doch mich fragen, wie viel Programm mache ich und mit wie viel Mitarbeitern mache ich das. Und wenn alles gleich bleibt und immer behauptet wird, neue Aufgaben würden hinzukommen, aber in allen anderen Organisationen ist es einfach so, wenn neue Aufgaben hinzukommen, dann müssen auch alte mal wegfallen. Das ist aber, ja, noch ein unterentwickelter Grundsatz." Die Öffentlich-Rechtlichen weisen diese Kritik erbost zurück. Ihre Sparvorschläge seien weitreichend, mehr sei nicht zu machen, ohne dass das Programm darunter leide. Die Bundesländer bleiben dennoch bei ihrem Wunsch, dass der Beitrag in den nächsten Jahren nicht oder nur unwesentlich steigen soll. Die Sender stünden aber jetzt schon sehr unter Druck, meint Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue. "Insgesamt merken wir sehr deutlich, dass durch die Kostensteigerung im Sachkostenbereich, aber auch im Personalkostenbereich wir jetzt an die Grenzen stoßen. Wenn man jedes Jahr zwei bis drei Prozent Kostensteigerung hat im Personal- und Sachkostenbereich, das kann man bei einem gedeckelten Rundfunkbeitrag nicht mehr ausgleichen. Meine Position dazu ist, dass eigentlich jeder Rundfunk-Beitragszahler durchaus einsehen kann, wenn wir es ihnen klar und deutlich genug machen, dass eine Orientierung an der Kostensteigerung als eine Teuerungsrate durchaus angemessen wäre. Das setzt uns immer noch unter enormen Einspardruck. Aber es wäre eine Perspektive, mit der man auch arbeiten kann." Öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Demokratie Wie die Diskussion zwischen Medienpolitikern und Öffentlich-Rechtlichen weitergeht, hängt entscheidend von dem Verfahren in Karlsruhe ab. Denn sollten die Richter zu dem Schluss kommen, dass der Rundfunkbeitrag gegen die Verfassung verstößt, müsste sich die Politik sehr grundsätzliche Gedanken über das deutsche Mediensystem machen. Bei allem, was Politik und Justiz in den kommenden Wochen und Monaten zu entscheiden haben, sollten sie dringend berücksichtigen, welche große Relevanz die öffentlich-rechtlichen Medien für die Demokratie in Deutschland haben, meint Medienrechtler Dieter Dörr. "Niemals war der öffentlich-rechtliche Rundfunk so wichtig wie gerade jetzt und in Zukunft. Das haben ja die neuesten großen Meldungen, die viel Aufsehen erregt haben, ja mehr als deutlich gemacht. Wir leben in einem Zeitalter, wo wir verlässliche Informationsmedien brauchen. Deshalb ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Demokratie unverzichtbarer denn je und deshalb muss er staatsfern und verlässlich finanziert werden." Ob das die Verfassungsrichter auch so sehen, ob sie die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als verfassungskonform ansehen, das werden alle Beteiligten - die Zweitwohnungs-Besitzer, die Beitragsverweigerer, die Bundesländer und nicht zuletzt ARD, ZDF und Deutschlandradio - mit Spannung verfolgen. Mit einem Urteil der Verfassungsrichter ist vermutlich im Herbst zu rechnen.
Von Christoph Sterz
In Deutschland wird für jede Wohnung monatlich 17,50 Euro Rundfunkbeitrag fällig. Das steht in der Kritik und dem Bundesverfassungsgericht liegen vier Verfassungsbeschwerden vor. Deshalb befasst sich ab dem 16. Mai das höchste deutsche Gericht mit dem Rundfunkbeitrag.
"2018-05-15T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:52:27.055000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesverfassungsgericht-der-rundfunkbeitrag-in-karlsruhe-100.html
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Mehr Zuzüge als Abwanderung
Leipzig wächst immer mehr. (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt) Rund 1,8 Millionen Menschen haben zwischen 1991 und 2013 dem Osten Deutschlands den Rücken gekehrt. Einzelne strukturschwache Regionen verloren in diesem Zeitraum bis zu 40 Prozent ihrer Einwohnerschaft. Ein demografischer Trend, der nun gestoppt wurde - das zeigen Zahlen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Demnach gibt es inzwischen wieder mehr Zu- als Abwanderung in den Osten. Institutsleiter Reiner Klingholz spricht von einer Trendwende, auch wenn es - regional gesehen - weiterhin mehr Verlierer als Gewinner gibt: "Insgesamt profitieren nur 15 Prozent der ostdeutschen Gemeinden von diesem Wanderungsplus. Dort leben allerdings 40 Prozent der Bevölkerung. Aber: Das heißt natürlich gleichzeitig, dass 85 Prozent der Kommunen in Ostdeutschland nach wie vor Bevölkerung verlieren." Ostdeutsche Großstädte im Aufwind Die heute vorgestellten Daten betreffen die fünf ostdeutschen Flächenländer, das derzeit stark wachsende Berlin als Stadtstaat wurde nicht berücksichtigt. Grundlage für die Untersuchung ist das Umzugsverhalten der Bevölkerung in den vergangenen sieben Jahren. Das Plus beim Wanderungssaldo sei vor allem ostdeutschen Großstädten geschuldet, so Reiner Klingholz. "Leipzig, Dresden, Erfurt oder auch Weimar - das sind Perlen geworden, wie wir sie im Westen Deutschlands kaum haben. Diese Städte bieten nicht nur eine schöne Fassade, sondern mittlerweile auch attraktive Arbeitsplätze. Sie bieten sehr attraktive Universitäten, die auch Studierende aus Westdeutschland anziehen. Weil hier auch das Studentenleben recht günstig ist, im Vergleich zu Frankfurt am Main oder München. Doch gilt auch weiterhin: Je kleiner eine Gemeinde, desto größer die Abwanderung. Eine Beobachtung, die längst auch aus westdeutschen Kommunen bekannt ist. Senioren gehen gen Osten Die Zahlen zeigen, dass junge, sogenannte Berufswanderer im Schnitt immer noch mehr in den Westen gehen, aber auch dieser Trend hat sich abgeschwächt. Interessant: Vor allem bei der Generation 65-plus liegt der Osten im Trend. "Das sind die, die an die Ostsee oder nach Görlitz oder Weimar wollten. Das waren dann Menschen aus Westdeutschland. Die sagen: Warum muss ich in Frankfurt oder München bleiben? Da ist es teuer und eng. Es ist viel schöner im Osten Deutschlands. Also gehen wir dahin." Die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wurde heute der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke übergeben. Die SPD-Politikerin wollte nicht von einer allumfassenden Trendwende sprechen, sie will künftig vermehrt ländliche Gebiete fördern. Mit Zuwanderung demografischen Wandel stoppen Vor Ort müssten Angebote für Familien und Ältere erhalten und ausgebaut werden. Iris Gleicke sieht zudem Flüchtlinge als Chance für viele schrumpfende Gemeinden. "Wer das Schrumpfen abmildern will, wer den Alterungsprozess aufhalten will - der muss auf Zuwanderung setzen. Und das entscheidet letztlich auch ein Stück weit darüber, ob Gemeinden schrumpfen, sich stabilisieren oder eben auch wachsen." Die gegenwärtig massive Zuwanderung von Flüchtlingen konnte in der Studie nicht mehr berücksichtigt werden. In einer aktualisierten Zusammenfassung weisen die Autoren aber darauf hin, dass Flüchtlinge, die ein vorübergehendes Bleiberecht erhalten haben, in der Regel aus kleineren Gemeinden in größere Städte ziehen. Womit sie sich - zumindest vom allgemeinen Trend her - nicht groß von den Deutschen unterscheiden.
Von Dieter Nürnberger
Jahrelang verließen die Menschen scharenweise Ostdeutschland, um im Westen neu anzufangen. Doch dieser Trend scheint gestoppt: Zu diesem Schluss kommt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer aktuellen Studie. Außerdem kamen die Forscher zu dem Ergebnis: Vor allem bei westdeutschen Rentnern erfreut sich der Osten zunehmender Beliebtheit.
"2016-01-26T17:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:41.632000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trendwende-in-ostdeutschland-mehr-zuzuege-als-abwanderung-100.html
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Fussball und Politik
Capellan: Aus der Traum. Die Wunder von Bern gibt es eben nicht immer wieder, jedenfalls nicht in Yokohama. Kopf hoch, Jungs!, hat der Kanzler gesagt. Ganz Deutschland ist stolz auf die Nationalmannschaft. Ganz Deutschland? Am Telefon Kabarettist Dieter Hildebrand. Sind Sie auch stolz? Hildebrandt: Na ja, ich bin aufgefordert worden. Ich war gestern während des Spiels im Zug, und da wurden ja immer wieder die Ergebnisse mitgeteilt. Das hat ja auch fortschreitende Wirkung. Und die Dame, die das Ergebnis mitteilte - Deutschland verlor also mit 2:0 -, sagte gleich anschließend, pädagogisch, wie man bei uns geworden ist, über die Zugansage, wir sollten aber stolz sein auf unsere Mannschaft, sie hätte viel geleistet. Es ist schön, dass man mir das auch gesagt hat. Ich bin natürlich auch stolz. Wer ist denn nicht stolz? Capellan: Aber Sie haben das Spiel nicht am Fernsehen miterlebt. Kann man sich das als guter Deutscher erlauben? Hildebrandt: Ich habe die erste halbe Stunde miterlebt, und dann musste ich das Spiel verlassen, und fuhr mit dem Gefühl weg, dass die eigentlich sehr gut gespielt haben, und dass es möglich gewesen wäre, ein Tor zu schießen, aber dann muss sich das gedreht haben. Capellan: Eigentlich wären wir wieder wer gewesen, so wie damals 1954, als alles wieder bergauf ging, wenn der Olli Kahn beim ersten Tor richtig zugepackt hätte. Hat er uns den Aufschwung vermasselt? Hildebrandt: Also ich weiß es nicht. Der Volksauftrag, den er hatte, durch die Bild-Zeitung übermittelt, war ja auch sehr groß. Die hatten Masken vorgeschlagen; man musste ihn ausschneiden, und dann: Wir wollen alle Olli sein. Das stand dahinter. Das war natürlich schon ein bisschen stark. Und dann der nie daneben greifende Kahn mit diesem Gesicht, das auf die Stürmer abschreckend ist, und der immer größer wird im Tor und so, das musste zu einem Fehler führen. Das war also pädagogisch ganz falsch, was wir mit ihm gemacht haben. Jetzt hat er uns ein Tor reingelassen, und jetzt ist er natürlich erschüttert. Ich bin eigentlich gar nicht so erschüttert, weil ich seit Paraguay der Meinung gewesen bin, dass diese Mannschaft sehr weit gekommen ist. Also ich bin, wie die Dame im Zug gesagt hat, doch sehr stolz auf diese Mannschaft. Capellan: Nun hat ja Fußball überhaupt nichts mit Politik zu tun, das wissen wir alle. Und trotzdem hat unser Wirtschaftsminister Werner Müller gesagt: Wenn wir gewonnen hätten, dann wäre das gut gewesen für den Aufschwung. Das hat er vor dem Spiel gesagt. Hildebrandt: Jetzt haben wir einen Abschwung, oder? Capellan: Ja, und Herr Schröder verliert jetzt die Wahl? Hildebrandt: Also ich weiß nicht, wessen Mannschaft gestern verloren hat, weil der Stoiber ja auch da war. Jetzt hat die Mannschaft für beide verloren, und vielleicht ist es für beide ganz schlecht, dass sie verloren hat. Vielleicht wird jetzt der Stoiber noch vorher umbesetzt. Capellan: Vielleicht wird der Stoiber jetzt nur Kanzler, weil die Deutschen nur Vizeweltmeister geworden sind. Hildebrandt: Wer hat eigentlich die Reise bezahlt? Das ist mir immer noch nicht ganz klar. Der Schröder wurde mitgenommen von seinem japanischen Freund? Capellan: Ich kann Ihnen das sagen. Edmund Stoiber hat selbst gesagt, er ist nicht als Kanzlerkandidat und nicht als CSU-Vorsitzender nach Japan geflogen, sondern als großer Freund des deutschen Fußballs und als Verwaltungsratvorsitzender des FC Bayern München, und dann hat ihn der DFP eingeladen und den Flug spendiert. Also da sage noch einer, Fußball habe etwas mit Politik zu tun. Hildebrandt: Ich dachte, er hätte einen Kredit von der Bayrischen Landesbank aufgenommen. Na ja, also irgendjemand hat es ihn bezahlt, er hat es nicht aus eigener Tasche bezahlt, das finde ich auch... Ich finde es schön, dass er da gewesen ist. Die Jungs haben natürlich dadurch viel besser gespielt. Die sollen ja sehr gut gewesen sein. Also in der ersten halben Stunde fand ich das hervorragend. Übrigens, von wegen mit Politik nichts zu tun haben, sie haben schon alle gesagt: Es wäre eigentlich gut für die Weltwirtschaft, wenn Südkorea oder Japan gewinnt. Und da habe ich schon gedacht, es wird jetzt über die Schiedsrichter so gelenkt, dass das passiert. Und Südkorea kam ja auch sehr weit nach vorne, und die Linienrichter müssen vielleicht irgendwie... Also ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Capellan: Sie haben den Olli Kahn mehrfach angesprochen. Aber die Überschrift "Kahn macht Stoiber zum Kanzler" würden Sie nicht unterschreiben wollen? Hildebrandt: Nein, dann hätte er den Fehler nicht gemacht. Dann müsste der Kahn, wenn er diesen Fehler bewusst gemacht hätte, umgesprungen sein, und irgendjemand hat ihm gesagt: Mach den Stoiber nicht zum Kanzler. Und da hat er den Ball reingelassen, oder ich weiß nicht, wie das zusammenhängt. Capellan: Also Oliver Kahn muss nicht befürchten, dass er jetzt vielleicht CSU-Ehrenmitglied wird? Hildebrandt: Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird, nachdem dieses Spiel verloren worden ist. Aber gestern waren sie alle so laut und so stolz und so betrunken, und wir hatten hier in Bamberg ein Open-Air Konzert. Es war wirklich grauenhaft. Die fuhren mit ihren Autos vorbei und hupten. Sie dürfen ja sonst nicht hupen. Also haben sie dieses zum Anlass genommen. Ich weiß nicht, sie haben diese Niederlage gestern wie einen Sieg gefeiert. Also wird es wahrscheinlich doch zugunsten von Stoiber ausgehen. Capellan: Schröder war, so hatte man den Anschein, doch ein bisschen sauer, dass das mit der Wahlkampfunterstützung nicht so geklappt hat. Beim Festbankett der deutschen Nationalmannschaft hat Gerhard Schröder gesagt: Ich spreche heute auch im Namen von Edmund Stoiber, damit es mit dem Reden nicht zu lange wird. Das war aber das einzige Mal, dass ich auch in seinen Namen rede. Darf sich eigentlich ein Kanzlerkandidat so etwas gefallen lassen? Hildebrandt: Ich weiß nicht, was im Hintergrund passiert ist, aber es muss noch alles entwirrt werden, weil der Wahlkampf jetzt weitergeht. Wahrscheinlich bis zum September werden wir alle mit den Fahnen herumlaufen, denn die müssen ja irgendwie bewegt werden. Der Vergleich ist so schön: Wenn der Stoiber gewinnt, fahren sie dann auch mit den Autos durch die Stadt und hupen? Oder nehmen sie vielleicht auch die bayrische Fahne? Das könnte ja auch sein. Capellan: Sie haben gerade über das Spiel gesprochen. Es war ja gestern gar nicht so schlecht. Vorher haben alle geschimpft über Rudis Rumpeltruppe, die sich da so ins Finale geschummelt haben, und da haben die anderen ganz stolz gesagt: Hier zeigen sich wieder die deutschen Tugenden: Pflichtbewusstsein, Kampfgeist, Arbeitseinsatz. Das war ja auch dem Oliver Kahn in der Zeitlupe immer ins Gesicht geschrieben. Aber ausgerechnet im Endspiel haben sie kräftig gezaubert. Muss man jetzt sagen: Selbst Schuld? Wären sie bei ihren Tugenden geblieben? Hildebrandt: Ich nehme an, dass die Spielweise der Deutschen die Brasilianer so aufgestachelt hat, dass sie noch besser gespielt haben, als sie sonst gespielt hätten. Das könnte der Fehler gewesen sein. Wenn sie weiter so gespielt hätten wie gegen Paraguay, dann wären die Brasilianer langsam eingeschlafen, und dann hätte man ein Tor schießen können, aber so, ich weiß es nicht. Der Bode war gestern zwei oder dreimal vor dem Tor, und ich dachte, ich fahre jetzt weg, und fahre mit einer beruhigenden 1:0 - Führung nach Bamberg. Aber sie haben über ihre Verhältnisse gespielt, das stimmt schon. Erstaunlich. Capellan: Sie sind auf Tournee in Bamberg. Wenn jetzt durch diese Weltmeisterschaft diese Wahl entschieden sein sollte, ist es für Sie als Kabarettist auch ein bisschen blöd, oder? Hildebrandt: Das habe ich jetzt nicht verstanden. Capellan: Wenn die Bundestagswahl schon entschieden sein sollte durch diese Fußballweltmeisterschaft und Stoiber Kanzler werden sollte, dann geht Ihnen vielleicht der Stoff aus. Hildebrandt: Aber hören Sie mal, die Vorstellung, dass man durch ein verlorenes Endspiel eine Wahl gewinnt, ist doch sehr merkwürdig. Wer soll denn durch ein verlorenes Spiel gegen Brasilien in Deutschland die Wahl gewinnen? Können Sie mir dann ein Tipp geben? Ach so, Sie meinen, eventuell der Möllemann. Das könnte natürlich sein, dass er jetzt eventuell 38 Prozent statt 18 Prozent bekommt. Davon abgesehen, haben wir immer genügend Stoff. Capellan: Wo geht es heute hin? Hildebrandt: Ich fahre weiter nach Wiesbaden. Wir haben dort im Kurhaus ein Konzert. Capellan: Viel Spaß. Danke Ihnen.
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"2002-07-01T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T13:24:44.202000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-und-politik-100.html
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Lauschangriff auf spanische Fußball-Fans
Fans von Real Madrid beim Champions-League-Finale gegen Atletico Madrid. (dpa/picture alliance/ Christian Charisius) Die App aktiviert das Mikrofon des Smartphones, wenn Liga-Spiele laufen. Sie erkennt also anhand des Audio-Signals, ob der Nutzer gerade ein Spiel schaut. Da die App auch den Standort lokalisiert, weiß sie, wo der Nutzer sich befindet - ob er zum Beispiel in einer Fußball-Kneipe ist und dort das Spiel über einen Fernseher den Gästen gezeigt wird. Die Liga kann nun kontrollieren, ob diese Kneipe auch die Gebühren dafür zahlt. Weil viele Bars das nicht tun, entsteht dem spanischen Fußball nach Liga-Angaben ein Schaden von 150 Millionen Euro pro Jahr. Kritiker sagen, die Liga setze Fans als verdeckte Informanten, als Spitzel ein, um Kneipen-Besitzer zu verraten. Die Liga verteidigt sich: Sie habe Verantwortung den Vereinen gegenüber - und deshalb die App mit dieser Funktion ausgestattet. Seit wann das der Fall ist, ist nicht bekannt. Die Liga stellt aber klar, dass die App nicht das reine Audio-Signal der Smartphones abgreift, nur den sogenannten Binär-Code. Deshalb sei die Privatsphäre der Nutzer nicht in Gefahr. Etwa 10 Millionen Spanier haben die Liga-App auf ihrem Handy. Wenn sie die Nutzungsbedingungen bestätigen, akzeptieren sie automatisch, dass die App auf das Mikrofon zugreifen darf. Wollen die Nutzer das nicht, müssen sie die Einstellungen des Smartphones entsprechend ändern.
Von Oliver Neuroth
Die spanische Fußball-Liga nutzt die Smartphones von Millionen Fans, um Pay-TV-Betrug aufzudecken. Die Liga hat nun zugegeben, dass die App Daten vom Mikrofon des Handys abgreift. Kritiker befürchten, dass die Liga auf diese Weise Fans als verdeckte Informanten einsetzen könnte.
"2018-06-11T22:55:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:34.076000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/liga-app-lauschangriff-auf-spanische-fussball-fans-100.html
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Wie sicher sind Europas Banken?
Die EZB sorgt sich um die nach wie vor schwache Ertragslage der europäischen Banken. (dpa / Daniel Kalker) Es ist vor allem die politische Unsicherheit, die die Europäische Zentralbank wieder wachsamer sein lässt. Mit großer Aufmerksamkeit hat sie die Veränderungen in den Markteinschätzungen beobachtet, vor allem die Tatsache, dass die Investoren sich vermehrt wieder Aktien zuwenden und die Renditen der Staatsanleihen deshalb gestiegen sind. EZB-Vizepräsident Vitor Constancio erklärt, was dahinter steckt: "Das ist eine Bewegung, die begann, seitdem die Märkte über die mögliche künftige Politik in den USA nachdenken. Vor allem mögliche Fiskalimpulse, die dann kurzfristig zu mehr Wachstum und mittelfristig zu etwas höherer Inflation führen könnten. Das würde dann begleitet von Zinsanhebungen durch die amerikanische Zentralbank." Einfluss der US-Wahl Diese Verschiebungen beobachtet die Notenbank aufmerksam, aber noch bleibt sie relativ gelassen: "Ich glaube, dass wir nicht einen direkten Ansteckungseffekt sehen werden von dem, was in den USA geschieht, weil sie sich in einer anderen Phase des Konjunkturzyklus befinden. Unsere Geldpolitik ist vorbereitet, sie wird die Finanzbedingungen in Europa stabilisieren. Deshalb bleiben wir bei unserem Basisszenario, was das Wachstum und die anziehende Inflation betrifft." Doch die Auswirkungen einer möglicherweise protektionistischeren Politik des designierten Präsidenten Donald Trump könnten sich auch im Handel zeigen. Der Welthandel sei ohnehin schon schwach. Sorgenvoll beobachtet die EZB aber auch das Anfang Dezember anstehende Referendum in Italien, bei dem über Verfassungsänderungen abgestimmt wird, wenn diese abgelehnt werden, könnte das Italien in eine Krise stürzen, fürchtet auch EZB-Vizepräsident Constancio: "Es besteht das Risiko, dass dies zu mehr Unsicherheit in Europa führen würde, etwa im Hinblick auf die künftige Politik, die Regierung, das könnte die Renditen der italienischen Staatsanleihen noch weiter steigen lassen. Das müssen wir abwarten. Es ist wenig sinnvoll zu versuchen, das zu antizipieren. Wir können vorher ohnehin nichts tun. Außerdem ist das Ergebnis noch unsicher. Meinungsumfragen zeigen, dass sich viele Menschen noch nicht entschieden haben." Schwache Ertragslage der europäischen Banken Nicht nur die Renditen italienischer Staatsanleihen waren in den vergangenen Wochen gestiegen, sie hatten auch die der spanischen und portugiesischen Titel mitgezogen. Neben diesen politischen Unsicherheiten sorgen sich die Währungshüter aber auch um die nach wie vor schwache Ertragslage der europäischen Banken. Bei einigen seien es die immer noch zahlreichen faulen Kredite, sagt Constancio, aber es gebe weitere Risiken: "In anderen Ländern gibt es schlicht zu viele Banken. Und insgesamt haben die Banken ihre Geschäftsmodelle noch nicht soweit angepasst, dass sie die Kosten unter Kontrolle haben." Vorbild seien da etwa die Banken in Schweden, die seien profitabel und hätten ihre Kosten im Griff
Von Brigitte Scholtes
Mit Sorge beobachtet die EZB das Anfang Dezember anstehende Referendum in Italien. Wird es abgelehnt, könnte Italien in eine Krise stürzen. Zusätzlich sitzen viele Banken dort auf faulen Krediten. Aber es gibt noch weitere Risiken bei Europas Banken, heißt es im aktuellen Finanzstabilitätsbericht.
"2016-11-24T13:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:43.334000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ezb-veroeffentlicht-finanzstabilitaetsbericht-wie-sicher-100.html
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Demonstration auf der Wall Street
Hier liegen überall Schlafsäcke, Matratzen und Plakate herum – Das Lager der Demonstranten auf einem Platz unweit der New Yorker Börse hält sich seit Tagen. "Occupy Wall Street" – "Besetzt die Wall Street" nennt sich die Bewegung. Es sind mehrere Dutzend, meist junge Leute, jeden Tag kommen weitere hinzu. So wie Katie. Sie ist neu und malt gerade ein Plakat. Wir wollen die Welt zurück haben, so wie sie sein sollte, sagt sie. Geld regiere die Welt, sollte es aber nicht. 'Wir sind die 99 Prozent' – steht auf vielen der bunten Plakate. Student Christopher:"Wir sind die 99 Prozent, die in dieser Nation ungehört bleibt. Das eine Prozent, die Elite dort oben scheint alles zu kontrollieren. Mit ihrem Geld beeinflussen sie die Politik zu ihren Gunsten, statt zu Gunsten des Volkes."Viel Aufmerksamkeit haben die Belagerer in den ersten Tagen nicht erregen können. Zu unübersichtlich waren ihre Forderungen, so die Kritiker: Sie demonstrierten gegen Korruption, Kriege, Arbeitslosigkeit oder auch die Todesstrafe. Aber ein Kern hat sich herauskristallisiert: Sie sind frustriert aufgrund der wachsenden sozialen Ungleichheit. Demonstrant Hero:"Es gibt keine Mittelklasse mehr, nur arm oder reich. Meine Familie gehörte einmal zur Mittelklasse und hat es nicht geschafft, wieder auf dieses Niveau zu kommen." Die Schere zwischen Arm und Reich geht in den USA immer weiter auf. Schuld sei nicht die Idee der freien Märkte und des Kapitalismus – aber dieser funktioniere inzwischen nicht mehr. Der American Dream, dass jeder der arbeitet gut leben kann, existiere nicht mehr. Student Christopher:"Der Reichtum sollte nicht einfach oben bleiben und die Armen bekommen nichts ab. Kapitalismus heutzutage bedeutet es kommt kein Wohlstand zu den unteren Schichten."40 Millionen Arbeitslose gibt es in den USA, das sind so viele Menschen wie Kanada Einwohner hat. Aber auch viele die Arbeit haben kommen kaum über die Runden. Von den acht Millionen Einwohnern in New York City, beispielsweise, lebt fast ein Viertel unterhalb der Armutsgrenze.Am vergangenen Samstag kam es zu medienwirksamen Verhaftungen als mehrere hundert Demonstranten die Brooklyn Bridge blockierten. Ökonomen und Sozialforscher beobachten die steigenden Kriminalitätsraten in den USA bereits Beunruhigung. Sollte sich der Klassenkampf weiter verstärken könne es zu schwerwiegenden sozialen Unruhen kommen. Demonstrant Kyle:"”Die Menschen sind frustriert und verzweifelt. Wenn das Fass irgendwann überläuft könnte es chaotisch werden. Hoffentlich sind wir dann hier um den Ausbruch zu kanalisieren, dass es nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt.""Der New Yorker Protest findet bereits landesweite Nachahmer. Auch in Städten wie Chicago, San Francisco oder Pittsburgh ist es bereits zu "Besetzt die Wall Street"-Demonstrationen gekommen.
Von Miriam Braun
Seit über zwei Wochen heißt es in New York "Occupy Wall Street" und die Protestbewegung erhält immer mehr Unterstützer. Die Aktivisten zählen sich selber zu den Verlierern der letzten Jahre und sind aufgrund der wachsenden sozialen Ungleichheit frustriert.
"2011-10-04T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T01:48:39.081000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/demonstration-auf-der-wall-street-100.html
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In der (Un)ruhe liegt die Kraft
Jürgen Vogel als Ötzi bei den Dreharbeiten von "Der Mann aus dem Eis" (Felix Hörhager/dpa) "Der Mann aus dem Eis" von Felix Randau In der rauen Wildnis der Berge macht sich ein Mann auf, die Mörder seiner Familie zu jagen, um sich an ihnen zu rächen. Die Synopsis von "Der Mann aus dem Eis" ähnelt der des Films "The Revenant". Nur dass diese Geschichte nicht vor 200 Jahren spielt, sondern vor rund 5.300 Jahren. Jürgen Vogel spielt den als Ötzi bekannten Mann aus dem Eis. In der Geschichte von Regisseur Felix Randau trägt er den Namen Kelab, der Vergeltung für den Mord an seiner Frau und seinem kleinen Sohn üben will. So wie die Legenden, die sich um die Lebensgeschichte des Trappers Hugh Glass ranken, das Drehbuch von "The Revenant" geprägt haben, verhält es sich auch mit "Der Mann aus dem Eis". Hier sind es die von den Wissenschaftlern am Körper der Gletschermumie festgestellten Verletzungen, die als Grundlage dienen für die spekulative Handlung über die letzten Tage in Ötzis Leben. Felix Randau hat diese archaische Geschichte in opulenten Bildern und fast ohne Worte verfilmt. Allerdings auch ohne eine eigene Handschrift erkennen zu lassen. "Der Mann aus dem Eis": akzeptabel "Mountain" von Jennifer Peedom und "Zeit für Stille" von Patrick Shen Atemberaubende Bilder in der Dokumentation "Mountain" von Jennifer Peedom (DCM) Unsere Ehrfurcht nehme seltsame Formen an und unsere Darbietungen, die wir aufführen, während uns die Berge als Bühne dienen, seien kurios. Der Schauspieler Willem Dafoe gibt den Erzähler und Vivaldi sowie noch weitere Komponisten liefern den Soundtrack zum Bilderrausch, den die australische Regisseurin Jennifer Peedom in ihrem Dokumentarfilm "Mountain" serviert. Wir bleiben in der Welt der Berge und ihrer Faszination, die sie auf immer mehr Menschen auszuüben scheint. Während Willem Dafoe von denen spricht, die die Berge in ihren Bann gezogen haben, und von jenen, für die diese Faszination an Wahnsinn grenzt, sehen wir einen Kletterer, der ohne Sicherung in einer Steilwand hängt. Sein Gesicht, in dem sich Glückseligkeit und völliger Irrsinn spiegeln, spricht Bände. "Mountain" zeigt viele Bilder von solchen Menschen, die sich dann am lebendigsten fühlen, wenn sie dem Tod direkt ins Auge blicken. "Mountain" fängt all das ein in atemberaubenden Bildern, die ein ambivalentes Gefühl hinterlassen über die Beziehung von Mensch und Natur. "Über allen Gipfeln ist Ruh" hat Goethe gedichtet. Und der Ruhe widmet sich ein weiterer Dokumentarfilm. In "Zeit für Stille" unternimmt der US-Amerikaner Patrick Shen den Versuch, sich dem abstrakten Begriff von der Stille anzunähern. Durch Zen spüre man die Stille körperlich. Berichtet ein japanischer Priester. Man erlebe sie jeden Tag, bis sie zu einem Teil von einem selbst werde. Shen ist ein leiser Film über Entschleunigung in einer lauten, hektischen Zeit geglückt. "Zeit für Stille" und "Mountain": beide empfehlenswert "120 BPM" von Robin Campillo Nahuel Pérez Biscayart als Sean im Film "120 BPM" (Salzgeber & Co. Medien GmbH) Ganz und gar nicht still ist der Pariser Ableger der 1987 in New York gegründeten Aktivistengruppe Act Up. Denn Stille heißt Tod. So steht es auf ihren Plakaten geschrieben. Es sind die frühen 1990er-Jahre. Die Mitglieder von Act Up, viele von ihnen -wie Sean - sind HIV-positiv, protestieren gegen die Untätigkeit der französischen Regierung und gegen die Pharmaindustrie, die ihrer Meinung nach die Entwicklung neuer Medikamente verzögert. Act Up ist dabei wörtlich zu nehmen: Die Gruppe macht Ärger. Sie stört Konferenzen, wirft Beutel mit Kunstblut und besetzt die Räume eines Arzneimittelherstellers. Ob sie verrückt seien, wird Sean gefragt. Er antwortet: "Ja, weil wir krank sind und alle vier Stunden AZT schlucken müssen." Auf den Vorschlag von einem Mitarbeiter des Pharmaunternehmens, dass man sich doch zusammensetzen und miteinander reden könne, entgegnet er: "Wir haben keine Zeit mehr. Wir verrecken." "120 BPM" - der Titel bezieht sich auf die in den 90ern populäre Housemusik - steht auch für den erhöhten Pulsschlag, der als Motor dient in diesem energiegeladenen Film. Das erinnert vor allem dann, wenn die Aktivistengruppe über ihre nächsten Aktionen und ihre strategische Ausrichtung diskutiert, an das kämpferische Politkino des Briten Ken Loach. Regisseur Robin Campillo zeigt diese Treffen in aller Ausführlichkeit. Damit die Hauptfiguren wie Sean aber nicht zu austauschbaren Stichwortgebern werden, hat ihnen Campillo auch eine Geschichte gegeben. Die erzählt sehr bewegend von der Liebe und vom Sterben. "120 BPM": empfehlenswert
Von Jörg Albrecht
Wie die letzten Stunden im Leben des Ötzi ausgesehen haben könnten, zeigt der Spielfilm "Der Mann aus dem Eis". Die Beziehung der Menschen zu den Bergen und zum Lärm ist Thema der Dokumentarfilme "Mountain" und "Zeit für Stille". Und das französische Drama "120 BPM" schildert den Kampf einer Aktivistengruppe gegen AIDS.
"2017-11-29T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:55.796000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-filme-in-der-un-ruhe-liegt-die-kraft-100.html
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Spanien unter Spardruck
Wie ein Raumschiff liegt die Stadt der Künste und Wissenschaften im alten Bett des Flusses Turia in Valencia: das Opernhaus, ein enormes Kino und ein Wasserzoo. Die Konstruktionen aus Beton, Stahl und Glas sind ein Touristenmagnet. Aber auch ein Musterbeispiel für Verschwendung. 1,3 Milliarden Euro haben die Prestigebauten gekostet. Fünf Mal so viel wie geplant. Das kurioseste Projekt in der Region liegt aber bei Castellón, etwa 60 Kilometer von Valencia entfernt. Ein neu gebauter Flughafen, auf dem noch nie eine Maschine gelandet ist, weil in unmittelbarer Nähe zur Metropole Valencia einfach kein Bedarf für einen weiteren Airport besteht. Luis de Velasco vertritt die Partei Union für Fortschritt und Demokratie im Parlament in Madrid. Valencia ist für ihn ein Paradebeispiel dafür, wie die Regionalpolitiker das Land in die Pleite gefahren haben: "Alle haben immer geglaubt, die Ausgaben könnten immer weiter steigen, und die Einnahmen würden hinterher kommen. Die autonomen Regionen haben ineffizient gewirtschaftet, das Geld zum Fenster raus geworfen und waren auch noch korrupt. In Valencia reicht doch ein Gang durch die Stadt, um das zu sehen. Und dann bitten sie den Staat um drei Milliarden Euro Hilfe. Ein paar Wochen später sind es vier Milliarden. Wie viel gibst Du mir? Das ist doch alles nicht mehr seriös."Für Luis de Velasco liegt hier eine der wesentlichen Ursachen für den wirtschaftlichen Niedergang Spaniens. Denn der Zentralstaat regiert schon lange nicht mehr allein. Neben ihm verwalten 17 sogenannte autonome Regionen das Land. Von Galicien und Asturien im Nordosten bis hinunter in die Extremadura und nach Andalusien im Süden. Diese Dezentralisierung Spaniens gibt es seit 1978, seit Inkrafttreten der demokratischen Verfassung. Seitdem hat der spanische Staat den Regionen immer mehr Kompetenzen übertragen, vom Gesundheitssystem über die Bildung bis hin zur Justiz. Heute sind die Regionalregierungen für mehr als die Hälfte der Ausgaben des Staates verantwortlich, vor allem für die Schulen, Hochschulen und das Gesundheitswesen. Das Ergebnis ist ein chaotisches Verwaltungssystem, meint Luis de Velasco:"Das funktioniert aus mehreren Gründen nicht mehr. Wir haben doppelte und sogar dreifache Strukturen. Die autonomen Regionen haben unerhört viele öffentliche Unternehmen geschaffen. Wir haben praktisch 17 Staaten mit aufgeblähten Strukturen und mit zu vielen Behörden und Beamten. Das System funktioniert nicht mehr. So stehen die Autonomen Gemeinschaften jetzt bei der spanischen Regierung Schlange, um an Geld zu kommen. Dieses System ist am Ende." Diese Kritik ist populär, prangert sie doch die ganz offensichtliche Misswirtschaft und Korruption an. Doch für Juan Rubio-Ramírez stimmt diese Analyse nicht. Der Wirtschaftsprofessor untersucht, wie sich die Haushaltslage der spanischen Regionen entwickelt. Das Fazit seiner jüngsten Studie: Nicht die unsinnigen Ausgaben in den Zeiten des Booms hätten die Regionen in Schwierigkeiten gebracht, sondern die hohen Ausgaben für Bildung und Gesundheit, auf deren Höhe die regionalen Behörden kaum Einfluss haben:"Alle spanischen Politiker haben das Geld verschwendet. Ein Flughafen ohne Flugzeuge wie in Valencia ist natürlich ein sehr starkes Bild. Da wird Geld für so etwas ausgegeben und auf der anderen Seite ist nichts mehr für die Medikamente da. Aber das Problem ist leider komplizierter: Die Regionen müssen Bildung und Erziehung finanzieren. Und diese Kosten steigen auf der ganzen Welt. Die Leute werden ja immer älter. Wie kann man das finanzieren? Das ist das große Dilemma, nicht nur in Spanien. Das Grundproblem ist also nicht diese Verschwendungssucht. Dieses Problem wäre schnell gelöst. Man steckt die Verantwortlichen einfach ins Gefängnis. Das muss man auch machen. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige Finanzierung für das Gesundheitssystem."Denn die Ausgaben für das Gesundheits- und Erziehungswesen schlagen im Haushalt der spanischen Regionen am stärksten zu Buche. Mit 110 Milliarden Euro pro Jahr. Im europäischen Vergleich ist das nicht einmal viel. Spanien liegt damit gemessen am Bruttoinlandsprodukt am Ende der Skala.Trotzdem muss Spanien sparen. Auf dem Kapitalmarkt bekommt das Land kein Geld mehr, die Europäischen Partner drängen auf eine schnelle Sanierung der öffentlichen Haushalte. Diesen Spardruck gibt die Zentralregierung in Madrid an die Regionen weiter. Doch das Sparen gehe an der Ursache für die hohe regionale Neuverschuldung vorbei, sagt Wirtschaftswissenschaftler Rubio Ramírez:"Das Problem Spaniens sind nicht die Ausgaben. Das Problem sind die Einnahmen. Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt nehmen wir weniger ein als Griechenland und Portugal. Vor allem dieses Gesundheitssystem müssen wir irgendwie finanzieren. Bisher haben sich alle Regierungen geweigert, die Patienten an der Finanzierung zu beteiligen. Das würde auf der einen Seite die Zahl der Arztbesuche reduzieren. Die Spanier gehen häufiger zum Arzt als andere Europäer. Und man hätte Einnahmen für ein Gesundheitssystem, das sich bisher nur aus den Steuern finanziert. Ich wiederhole: Wir haben ein Problem bei den Einnahmen, nicht bei den Ausgaben."Und zwar nicht nur im Gesundheitswesen. Denn die Regionen haben keinen Einfluss auf die Höhe der Steuern und Abgaben. Diese bestimmt zum größten Teil die Zentralregierung in Madrid. Sie allein ist zuständig für die Finanzämter, sie verteilt die Einnahmen auf die Regionen nach einem zuletzt 2009 festgelegten Schlüssel. Demnach sollten die Regionen die Hälfte der Mehrwertsteuer und der Lohn- und Einkommenssteuern bekommen. Allerdings unter einer Maßgabe: Reiche Regionen sollen den ärmeren helfen. Ein System, das auf Solidarität baut, das im Zuge der Krise aber zu immer heftigeren Spannungen führt – ganz besonders in Katalonien im Nordosten Spaniens. Bei einer Umfrage im Auftrag der Regionalregierung hat sich im Juni erstmals eine Mehrheit für ein unabhängiges Katalonien ausgesprochen. Und am katalanischen Nationalfeiertag am 11. September wollen wieder Zehntausende Separatisten in Barcelona demonstrieren. Mit der Verteilung der Steuergelder würde der spanische Staat ihre Heimat plündern, sagen sie. Auch die bürgerlichen Nationalisten fordern inzwischen wenigstens eine steuerliche Unabhängigkeit. Andreu Mas-Colell ist der Finanzminister der Region: "Wir akzeptieren das Prinzip, dass wir mit dem Rest Spaniens solidarisch sein müssen, zumindest solange unsere Einnahmen über dem Schnitt liegen. Wir wollen unsere Steuern kontrollieren und einnehmen, aber wir wollen auch dem Staat für die Leistungen zahlen, die er bei uns erbringt, und wir sind auch für einen Solidaritäts- und Kohäsionsfonds."Oft wird der deutsche Bundesstaat als Modell für Spanien bei der Aufgabenverteilung zwischen der Zentrale und den Autonomen Regionen herangezogen. Und tatsächlich sind in Deutschland ja die Bundesländer mit ihren Finanzämtern für den Einzug von Steuern zuständig. Noch viel weiter geht die Steuerautonomie im Baskenland und Navarra. Sie haben eigene Finanzämter und bezahlen der spanischen Regierung nur jene Leistungen, die sie für diese Regionen erbringt: die Außenpolitik, das Militär, das überregionale Schienennetz. Genau dieses System fordern die Katalanen jetzt ein. Denn weil es so viel an den Rest Spaniens abführen muss, sind die Finanzprobleme so groß – so zumindest nach der Argumentation des katalanischen Finanzministers: "Katalonien ist schon immer chronisch unterfinanziert. Das erkennt man am Niveau unserer Verschuldung und an den Spannungen mit Madrid, die sich in einer Rezession wie dieser verstärken. Außerdem, wie hat der Staat das Defizit denn aufgeteilt? Das entscheidet die Zentralverwaltung, da gibt es keine Verhandlungen. Wenn am Ende des Jahres die Regionen ihr Defizitziel leicht verfehlen, die Zentralverwaltung es aber erfüllt, bestätigt das nur die Redensart, dass wer die Torte verteilt, sich selbst das beste Stück aufhebt."Tatsächlich: Während die Zentralverwaltung ihr Haushaltsdefizit in diesem Jahr um 0,6 Punkte abbauen soll, wird von den Autonomen Gemeinschaften ein drei Mal höherer Rückgang, also um 1,8 Prozent abverlangt. Am Ende des Jahres sollen sie mit einem Defizit von 1,5 Prozent da stehen. Zu schaffen ist das nur unter großen Sparanstrengungen. So wie beispielsweise im Gesundheitssystem: Operationssäle werden geschlossen, Gehälter gekürzt. Und daran ist nach Ansicht der meisten Katalanen die spanische Zentralregierung schuld. Die Krise beschleunigt also die so oft beschriebenen Zentrifugalkräfte im spanischen Föderalismus. Alfred Bosch ist Sprecher der separatistischen Partei Esquerra Republicana. Er sieht seine Region kurz vor der Unabhängigkeit:"Sprechen wir doch direkt mit unseren Steuerzahlern. Schlagen wir ihnen eine Vereinbarung vor, dass sie ihre Steuern direkt der katalanischen Regierung zahlen. Damit würden wir uns diese ganzen Kredite sparen, die Bitte in Madrid um mehr Geld, das Steuerdefizit würde verschwinden und in zwei Jahren hätten wir unsere Schulden abbezahlt. Statt dessen zahlen wir unglaublich viel Geld an Madrid, das nicht zurückkommt, während wir unsere Krankenhäuser, Polizisten und Lehrer nicht mehr bezahlen können. Gleichzeitig müssen wir die spanische Regierung um einen Kredit bitten, die uns doch betrügt. Das verstehen die Leute hier nicht."Denn Katalonien bekommt wie viele andere Autonome Gemeinschaften auf dem Kapitalmarkt keine Kredite mehr, weil Zweifel an ihrer Finanzkraft bestehen. Daher müssen sie die Zentralregierung um Geld bitten. Das empfinden die selbstbewussten Katalanen als schwere Demütigung.Noch schwerer zu ertragen ist für sie, dass es ausgerechnet der autonomen Region Madrid besser geht. Der Finanzminister der Region Madrid, Percival Manglano ist sichtbar stolz. Seit 2008 habe die Region ihre Ausgaben um 3,2 Milliarden Euro reduziert, in diesem Jahr soll es noch einmal eine Milliarde werden:"Wir haben bei allen Ausgaben extrem gekürzt, die nicht zu unseren sozialen Kernkompetenzen gehören. In diesem Jahr verwenden wir dadurch 90 Prozent unserer Gesamtausgaben für Bildung und Gesundheit, Sozialhilfe und den öffentlichen Nahverkehr. Wir haben auch innerhalb dieser Bereiche für mehr Effizienz gesorgt. Wir haben die Arbeitszeiten verlängert. Die Lehrer müssen nun mehr Unterricht geben. Wir unternehmen große Anstrengungen, effizienter zu werden und die Arbeit mit weniger Mitteln zu erledigen."Kürzungen bei den Gesundheitsleistungen oder bei den Nachhilfekursen in den Schulen: Dagegen gibt es heftige Proteste auf der Straße. Die Madrider Regionalregierung gilt als die wirtschaftsliberalste in ganz Spanien. So muss zum Beispiel der Einzelhandel dort an Sonn- und Feiertagen nicht mehr schließen. Den Unternehmen alle Freiheiten lassen, das sei der Grundgedanke hinter der Wirtschaftspolitik in Madrid. So könne sich die Region eine niedrigere Steuerlast leisten als andere, habe eine geringere Arbeitslosenquote und immerhin noch ein bescheidenes Wachstum, was auch ausländische Investoren anziehe, wirbt Finanzminister Percival Manglano für seine Region.Ob der Madrider Reichtum tatsächlich an der regionalen Wirtschaftspolitik oder doch nur daran liegt, dass fast alle börsennotierten Konzerne in Madrid ihren Sitz haben, wie etwa die Katalanen behaupten, sei dahingestellt. Aber die Klagen über eine angeblich übertriebene Solidarität mit den ärmeren Regionen sind nicht nur in Katalonien, sondern auch in Madrid zu hören. Mit der Umschichtung von Steuergeldern von Reichen zu Armen verliert Katalonien pro Einwohner fünf Euro, Madrid hingegen mehr als dreihundert Euro. "Madrid ist mit Abstand die solidarischste Region von allen in Spanien. Uns stört das nicht, wir tragen gerne zur Finanzierung der ärmeren Regionen bei. Aber wir sehen, dass wir langsam die einzige solidarische Region sind. Im nächsten Jahr werden unsere Beiträge 75 Prozent des Solidaritätsfonds ausmachen. Es gibt aber doch auch noch andere Regionen. Wir sind gerne solidarisch. Aber sicher wäre da ein größeres Gleichgewicht möglich."Manglano verspricht, Madrid werde die von der Regierung gemachte Defizitvorgabe von 1,5 Prozent erfüllen. Andere Regionen sind da zurückhaltender. Neben Katalonien haben auch Valencia, Murcia und Andalusien schon angemeldet, einen Kredit bei der spanischen Regierung beantragen zu müssen. Insgesamt 18 Milliarden Euro hat die spanische Regierung für die Autonomen Gemeinschaften zur Verfügung gestellt, die auf den Kapitalmärkten kein Geld mehr bekommen. Aber auch diese Summe dürfte nicht ausreichen, wenn schon vier von 17 Regionen die Hälfte des Fonds beanspruchen. Kaum zu kontrollierende Ausgaben, einbrechende Einnahmen, Defizitziele, die schwer einzuhalten sind. Es mehren sich die Stimmen, die das spanische Föderalsystem für überzogen halten, nach mehr als 30 Jahren der Dezentralisierung eine Rezentralisierung fordern. Niemand spricht es so deutlich aus, wie Luis de Velasco von der Partei Union für Fortschritt und Demokratie:"Wir können keine 17 unterschiedlichen Bildungssysteme haben. In manchen Regionen wird gar keine spanische Geschichte mehr unterrichtet. Der zweite Bereich wäre das Gesundheitssystem. Jetzt haben wir Regionen, die die Zuzahlung zu den Arzneimitteln nicht umsetzen wollen. Und dann ist da noch die Justizverwaltung. Wir sind dafür, Gesundheit und Bildung zu zentralisieren, Justiz und Teile der Umweltpolitik sollten wieder zu den Kompetenzen des Zentralstaats gehören."Dann wäre vom föderalen System der Autonomen Gemeinschaften jedoch nicht mehr viel übrig. Auch Wirtschaftsprofessor Juan Rubio-Ramírez meint, dass die Regionen ihr Defizitziel von 1,5 Prozent nicht einhalten können und damit auch der Glaubwürdigkeit Spaniens gegenüber der Europäischen Union und den Kapitalmärkten schaden. Doch das sei nicht ihre Schuld. Trotz der Angst der Zentralregierung vor den Sezessionstendenzen in manchen Regionen empfiehlt er, den Föderalismus auch bei den Steuern mutiger voranzutreiben:"Die Autonomen Regionen sind steuerpolitisch einfach nicht unabhängig. Sie brauchen den Staat. Mehr Steuerautonomie würde ihnen sehr helfen, einen großen Teil ihrer Ausgaben mit eigenen Einnahmen zu decken und sie zwingen, auch verantwortungsbewusster mit dem Geld umzugehen. Das ist ja auch das Ziel der Vorschläge aus Katalonien. Und das ist eine gute Idee."
Von Hans-Günter Kellner
Operationssäle werden geschlossen, Gehälter gekürzt. Und daran ist nach Ansicht vieler autonomer Regionen wie Katalonien oder Navarra die spanische Zentralregierung schuld. Die Krise beschleunigt landesweit die Rufe auch nach steuerlicher Autonomie.
"2012-09-05T18:40:00+02:00"
"2020-02-02T14:21:58.851000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spanien-unter-spardruck-100.html
481
Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen
Glenn Greenwald erklärt, mit welchen technischen Tricks die US-Geheimdienste praktisch jeden Erdenbewohner immer und überall abhören und ausspionieren können. Er verdeutlicht, welches Eigenleben die staatliche Überwachungsmaschinerie in den Vereinigten Staaten entwickelt hat und wie die politisch Verantwortlichen das wahre Ausmaß der Kontrolle systematisch verschleiert haben. Und er schildert eindrücklich, warum diese Entwicklung ein massiver Angriff auf die Grundfesten aller demokratischen Gesellschaften ist, den aufgeklärte Bürger keinesfalls hinnehmen dürfen. Glenn Greenwald: Die globale Überwachung (Droemer Verlag) Glenn Greenwalds Schreibstil ist stellenweise arg nüchtern und mitunter reichlich selbstgefällig. Doch die Fülle an Fakten und persönlichen Schilderungen macht die Lektüre zum Augenöffner. "Beobachtet zu werden, macht unfrei", ist Greenwald überzeugt. Seine Mission verdient Unterstützung – und sein Buch viele Leser.
Rezension: Ralf Krauter
Auch wenn man vieles von dem, worüber der Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald schreibt, schon mal gehört hat: Lesen sollte man sein Buch über die NSA-Spähaffäre dennoch. Denn der Mann, den der Whistleblower Edward Snowden ins Vertrauen zog, um ihm brisante NSA-Geheimdokumente zu übergeben, liefert die Hintergründe zu den Schlagzeilen des vergangenen Jahres.
"2014-07-13T16:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:52:21.019000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/datenschutz-die-globale-ueberwachung-der-fall-snowden-die-100.html
483
Tiefer Fall eines Spitzenmanagers
Carlos Ghosn, Ex-Vorstandsvorsitzender von Renault-Nissan-Mitsubishi (dpa/Paul Sancya) Automanager Carlos Ghosn wird konkret vorgeworfen, sein Einkommen jahrelang zu niedrig angegeben zu haben. Dadurch seien insgesamt 40 Millionen Euro nicht versteuert worden, erläutert König. Zudem soll Ghosn Firmengelder für private Zwecke veruntreut haben. Ihm drohten Geldstrafen von rund 150.000 Euro und bis zu 20 Jahre Haft. Details gab der Nissan-Vorstand noch nicht bekannt. Es soll Durchsuchungen bei Nissan gegeben haben. Auch der Nissan-Manager Greg Kelly wurde festgenommen, er soll an den Verfehlungen Ghosns beteiligt gewesen sein. Beide sollen am Donnerstag offiziell abgewählt werden. Ungewöhnliche Umstände der Verhaftung Erste Hinweise seien aus dem eigenen Unternehmen gekommen, führt Jürgen König weiter aus. Ein Whistleblower habe demnach der Verwaltungsetage vertrauliche Hinweise gegeben, denen man im Unternehmen monatelang nachgegangen sei. Dabei fand man offenbar Belege und hat die Behörden informiert. Mit rund zehn Millionen verkauften Fahrzeugen im Jahr ist die Renault-Nissan-Mitsubishi-Gruppe eine der größten Auto-Allianzen der Welt. Entsprechend groß war die Reaktion auf die Festnahme, Jürgen König beschreibt es so: "Die Nachricht schlug am Mittag wie eine Bombe in Paris, und ich vermute auch überall an den entsprechenden Orten, ein. Carlos Ghosn, eine schillernde Figur, charismatisch, erfolgreich." Jahrelang hatte Nissan nur Verluste gemacht, Ghosn baute das Unternehmen wieder auf und "galt in Japan schnell schon als Held". Auch die Franzosen verdankten ihm sehr viel, nachdem er aus dem Zusammenschluss von Nissan und Mitsubishi mit Renault einen der weltgrößten Autohersteller machte. Von Renault gab es bisher keine Stellungnahme, aber von Frankreichs Präsident Emmanuelle Macron. Der Staat hält 15 Prozent der Renault-Aktien und ist damit größter Einzelaktionär. Macron sagte, der Staat werde als Aktionär "über die Stabilität der Allianz und der Gruppe wachen". Er habe damit eine Art Sicherheitsgarantie für Renault und das ganze Bündnis abgegeben. Dies sei nach Einschätzung von Jürgen König auch nötig, denn die Aktienkurse brachen direkt ein: Der Renault-Wert verlor an der Pariser Börse bis zu 14 Prozent, die Titel von Nissan gar bis zu 15 Prozent. Folgen der Verhaftung für Renault Schon seit Monaten hatte es zwischen französischen Staatsvertretern und Carlos Ghosn Streit gegeben, wegen dessen hohen Gehaltsforderungen. Eine Ablösung war schon vorbereitet worden, dann aber hatte Ghosn auf 30 Prozent seines Gehalts verzichtet und durfte bleiben. Aber mit Vorstandsmitglied Thierry Bolloré, zuständig für Wettbewerb, hatte man sich schon damals einen Nachfolger für Carlos Ghosn ausgeguckt. Nun könnte Bolloré schon sehr viel früher an die Renault-Spitze kommen. Bei Nissan wird Carlos Ghosn ganz sicher entlassen, auch Vorstandschef von Mitsubishi wird er nicht bleiben können. Jürgen König schlussfolgert: "Also das ist schon ein tiefer Fall eines Spitzenmanagers".
Jürgen König im Gespräch mit Birgid Becker
Wegen mutmaßlichen Steuerbetrugs und Veruntreuung ist der Chef von Renault-Nissan, Carlos Ghosn, in Japan festgenommen worden. Was seine Verhaftung für den maßgeblich von ihm geformten französisch-japanischen Auto-Riesen bedeutet, erklärt Dlf-Frankreich-Korrespondent Jürgen König.
"2018-11-19T17:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:21:20.908000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/carlos-ghosn-tiefer-fall-eines-spitzenmanagers-100.html
484
Juristisch dasselbe - aber trotzdem ein Unterschied
Für die Flüchtlinge auf Chios macht es juristisch keinen Unterschied, ob sie abgeschoben oder zurückgeführt werden. (AFP / Louisa Gouliamaki) Seit Wochen ist der Begriff "Rückführungen" in vielen Medien zu finden - auch im Deutschlandfunk. Er wird besonders im Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Pakt in der Flüchtlingspolitik verwendet. Das sei kein Zufall, sagt der Jurist Daniel Thym, Kodirektor des Forschungszentrums Ausländer- & Asylrecht an der Universität Konstanz, dem Deutschlandfunk. "Das Europarecht verwendet den Begriff seit zehn Jahren." Die EU benutze "Rückführung" also normalerweise statt "Abschiebungen". Juristisch gesehen meinten beide Wörter aber das Gleiche. Weil der EU-Türkei-Pakt auf europäischer Ebene ausgehandelt und das Papier dann ins Deutsche übersetzt worden sei, sei "Rückführung" das übliche Wort in dem Zusammenhang. "Abschiebung" dagegen sei altmodischer, werde aber noch im deutschen Recht verwendet. Im deutschen Recht ist der Begriff "Abschiebung" geläufig, im EU-Recht ist es dagegen die "Rückführung". (dpa / picture alliance / Sebastian Willnow) Der Jurist betont aber, zwischen den beiden Begriffen gebe es durchaus eine semantische Unterscheidung. "Abschiebung hat natürlich negative Konnotationen." Der Begriff beinhalte, dass man jemanden loswerden wolle. Bei "Rückführung" schwinge dagegen mit, dass jemand "nicht ins Nichts" geschickt werde. Ähnlich sieht es der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Ludwig M. Eichinger. Mit "Rückführung" versuchten Politiker, negative Emotionen zu unterdrücken. Man könne deshalb - wenn man die rechtliche Betrachtung außen vor lasse - von einem Euphemismus sprechen. Aus Sicht von Eichinger muss man die Verwendung des Worts aber nicht nur im Textkontext, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext sehen. Denn inzwischen habe sich die Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf Flüchtlinge geändert. Vor einem halben Jahr wäre der Transport von Menschen von Griechenland in die Türkei negativer gesehen worden - um dies deutlicher zu machen, hätten die Deutschen vermutlich öfter den negativen Begriff "Abschiebung" benutzt, so die Einschätzung des Sprachwissenschaftlers. Da inzwischen aber mehr Menschen dafür seien, Flüchtlinge in die Türkei zu bringen, verwendeten mehr Menschen heute den positiveren Begriff "Rückführungen". "Rückführung" oder "Abschiebung" - es macht einen Unterschied Nach Ansicht der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl soll der Begriff "Rückführung" eindeutig das Vorgehen der EU beschönigen. "Es wird von Rückführungen geredet, um zu verdecken, wie brutal das Ganze vor sich geht", sagt Geschäftsführer Günter Burkhardt. Er beklagt, immer wieder werde versucht, bestimmte Begriffe in die Flüchtlingsdebatte einzubringen. Es sei beispielsweise auffällig, wie vonseiten der Politik das Wort "illegale" verwendet werde. Von Flüchtlingen werde dann gesprochen, wenn Menschen beispielsweise aus Syrien oder Afghanistan geflohen seien. "Aber wenn sie Europas Grenze überschreiten, ist es der Begriff 'illegale Migranten'." "Rückführung" oder "Abschiebung" - auch wenn die Begriffe juristisch identisch sind, macht es also sehr wohl einen Unterschied, welcher Begriff verwendet wird. Journalisten wie Konstantina Vassiliou-Enz vom Netzwerk Neue Deutsche Medienmacher mahnen deshalb: "Wenn die Politik von 'Rückführung' spricht, dann machen es Berichterstatter ganz oft so, dass sie die Begriffe einfach übernehmen und eben in derselben Sprache auch in der Berichterstattung die Sachen beschreiben", sagte sie in Deutschlandradio Kultur. Dies geschehe zwar meist ohne Absicht, habe aber dennoch großen Einfluss auf die Wahrnehmung.
Von Helena Baers
Im Zusammenhang mit dem Transport von Flüchtlingen von Griechenland in die Türkei sprechen Politiker und Journalisten häufig von "Rückführungen" und weniger von "Abschiebungen". Warum ist das so und wie wird dadurch die Wahrnehmung verändert? Wir haben einen Sprachwissenschaftler, einen Juristen und Pro Asyl gefragt.
"2016-04-05T14:32:00+02:00"
"2020-01-29T18:22:17.670000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abschiebung-oder-rueckfuehrung-juristisch-dasselbe-aber-100.html
485
Kohlendioxid für chemische Synthesen
Das Logo der Bayer Tochter Covestro leuchtet am 28.10.2015 in Leverkusen (Nordrhein-Westfalen) auf dem Gelände des Chemieparks. (dpa / picture alliance / Oliver Berg) "Ich warte jetzt auf den stationären Zustand der Anlage. Sobald der erreicht ist, läuft der Prozess vollautomatisch." Ein Versuchstechnikum des Leverkusener Chemie-Konzerns Bayer. "Was Sie gehört haben, ist das Öffnen der Ventile. Und das Anfahren des Motors mit hoher Frequenz, um eben die Produkte in den Kessel zu fördern." "Das ist ein Spezialreaktor, Teil dieser Pilotanlage, wo eben die Reaktion rund um CO2 drin stattfindet." In der Versuchsanlage wurde ein neues Verfahren getestet, um das Treibhausgas Kohlendioxid als Rohstoff für chemische Synthesen zu nutzen. Jetzt ist die Technologie marktreif. In Dormagen bei Köln weihte der Polymer-Hersteller Covestro heute eine Produktionsanlage ein, in der CO2 demnächst in sogenannte Polyole eingebaut wird. Das sind Grundkomponenten von Schaumstoffen in Matratzen und Polstermöbeln. Bisher werden sie auf reiner Erdöl-Basis hergestellt, aus Epoxiden. Doch unter der Projektleitung des Chemikers Christoph Gürtler gelang es, neue Prozess-Katalysatoren zu entwickeln. Dadurch lässt sich nun auch CO2 als Grundbaustein für die langen Kohlenstoff-Ketten der Kunststoffe einsetzen. "Man kann bis zu 43 Prozent physikalisch einbauen. Diese Produkte sind dann aber glasig, haben einen hohen Schmelzpunkt. Damit heißt das dann auch, dass wir nicht beliebige Mengen CO2 einbauen können. Das ist einfach nicht sinnvoll." Am Ende bestehen die Polyole noch zu 80 Prozent aus den Erdöl-Epoxiden. Und zu 20 Prozent aus Kohlendioxid. Wobei das Treibhausgas aus einem benachbarten Chemiebetrieb stammt. Dort fällt es bei der Herstellung von Ammoniak an. Größere Ressourceneffizienz "Wir machen das unter dem Gesichtspunkt Ressourceneffizienz. Wenn wir es hier schaffen, CO2 einzubauen, sparen wir ein. Und zwar die fossile Komponente anteilmäßig. Damit ist das Ganze nachhaltiger, weil das Produkt letztlich weniger Rohstoffe benötigt." Ausgelegt ist die neue Anlage in Dormagen zunächst einmal für eine Jahreskapazität von 5.000 Tonnen. Das ist vergleichsweise wenig und für das Unternehmen wie auch für Christoph Gürtler vielleicht nur der Anfang. Bei Bedarf könne man die Produktion deutlich steigern, hieß es heute bei der Einweihung. "Wir reden hier über Weichschaum, und da sind wir im Bereich von ein paar Millionen Tonnen weltweit." 15 Millionen Euro hat Covestro nach eigenen Angaben in die neue Polyol-Anlage gesteckt. In der Entwicklungsphase flossen auch Fördergelder des Bundesforschungsministeriums, im Rahmen eines Verbundprojektes zur stofflichen Nutzung von Kohlendioxid. Klimawandel kann dadurch nicht gebremst werden Covestro ist dabei nicht das erste Unternehmen, das ein Produkt der sogenannten Grünen Chemie auf den Markt bringt. BASF zum Beispiel stellt bereits Ameisensäure mit CO2-Zusatz her, eine wichtige Grundchemikalie. Und längst wird an weiteren Verwendungen des Treibhausgases bei chemischen Synthesen getüftelt. Die abgezweigten CO2-Mengen werden aber nie so groß sein, dass sich der Klimawandel dadurch bremsen ließe. Das sagt auch Walter Leitner, Professor für Technische Chemie an der RWTH Aachen: "Wir wollen also nicht alles CO2, das die Menschheit produziert, in chemische Produkte umwandeln. Das wäre utopisch und auch nicht machbar. Aber umgekehrt ist CO2 eben deshalb auch ein attraktiver Rohstoff, weil schon geringe Mengen dieser Abfallströme ausreichen würden, um wertvolle Produkte in der Chemie zu erzeugen." "Jetzt ist die Anlage eigentlich da, wo sie sein soll."
Von Volker Mrasek
Nicht nur die Energiewirtschaft verbraucht fossile Energieträger in riesigen Mengen - auch die chemische Industrie ist stark darauf angewiesen. Deshalb gibt es schon seit Jahren Forschungsprojekte für eine nachhaltigere "Grüne Chemie". Mit einer jetzt marktreifen Technologie kann das Treibhausgas Kohlendioxid als Rohstoff für die chemische Synthesen genutzt werden.
"2016-06-17T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:36:02.023000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/forschungserfolg-kohlendioxid-fuer-chemische-synthesen-100.html
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Trump, die Rohrbomben und die Medien
das Verhältnis von Donald Trump zu den Medien bleibt gespannt (dpa / AP Photo / Pablo Martinez Monsivais) Erst sah es so aus, als hätte der Präsident Kreide gefressen – sein Appell an die Einheit des Landes klang geradezu leidenschaftlich. Gewalt hätte keinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft, sagte Trump. Doch kaum hatte die Führung der Demokraten diese Erklärung Donald Trumps als leere Worthülse gegeißelt, vollzog Trump die erwartete Kehrtwende und fiel wieder in die konfrontative Wortwahl zurück: Im erkennbaren Bemühen, von der lauter werdenden Kritik abzulenken, er selbst habe mit seinem provozierenden Politikstil den Weg in den Bombenterror geebnet, griff er einmal mehr die Medien an: "Ein sehr großer Anteil des Zorns, den wir heute sehen", schrieb Trump in einem Tweet, "wird durch die absichtlich falschen und inkorrekten Berichte der etablierten Medien hervorgerufen, die ich als Fake News bezeichne". Zitat Ende. Das Diktum von den "Fake News", den bewusst verfälschten Nachrichten, steht mittlerweile für das zum Reißen gespannte Verhältnis des Präsidenten zu den Medien – und hat längst international Schule unter Autokraten und populistischen Bewegungen gemacht. Schlagabtausch mit den liberalen Medien Trump, selbst ein Medienmann und erfahrener TV-Showmaster, steht mit den Medien auf Kriegsfuß, seit er den Schritt in die Politik wagte und sich in den Wahlkampf stürzte. Mit Hilfe der Medien, die ihm ob seiner steilen Thesen und seines damit angeblich verbundenen politischen Unterhaltungswertes über Gebühr Sendezeit einräumten, gewann er zunächst den innerparteilichen Kampf um die Spitzenkandidatur, anschließend die Wahlen. Seither stilisiert sich der Präsident als Opfer der liberalen Medien, die nichts unversucht gelassen hätten, um ihm den Weg ins Oval Office zu versperren, wie er - wie hier in einer Rede vor der konservativen CPAC-Konferenz im Jahr 2017 – immer wieder betont. Im Schlagabtausch mit den liberalen Medien geht der Präsident keiner Zuspitzung aus dem Weg: Mal unterbindet er Fragen von unliebsamen Reportern. Mal attackiert er aggressiv Moderatoren oder Kommentatoren. Abgesehen von den ihm wohlgesonnenen Sendern wie Fox-News sieht Trump in Journalisten nur noch "Volksfeinde". Dabei scheut Trump auch nicht davor zurück, Assoziationen an gewalttätige Auseinandersetzungen zu wecken. So war es Trump selbst, der über Twitter ein Video verbreitete, in dem er während einer Wrestling-Veranstaltung auf einen Gegner losging, in dessen Gesicht ein CNN-Logo montiert war. Erst in der vergangenen Woche lobte Trump den rechtskräftig verurteilten Kongressabgeordneten der Republikaner, Gregg Gianforte, weil er einen Korrespondenten nach einer unliebsamen Frage zu Boden gestreckt hatte. CNN-Reporter, die mittlerweile unter Personenschutz arbeiten, berichten von immer aggressiveren Attacken bei Trump-Veranstaltungen. Trumps Rhetorik als Hintergrund für den Bombenterror Trumps hasserfüllte Rhetorik gegenüber dem politischen Gegner, gegenüber Minderheiten, gegenüber den Medien wird in der öffentlichen Debatte folgerichtig als Hintergrund für den Bombenterror gesehen. Selbst in den eigenen Reihen wird hin und wieder Kritik laut – zum Beispiel von dem republikanischen Senator aus Nebraska, Ben Sasse, der wegen Trumps polarisierendem Politikstil immer wieder mal einen Parteiaustritt erwog, aber nie vollzog. Ben Sasse forderte Trump auf, den Nonsens zu unterlassen, die Medien als Volksfeinde zu bezeichnen. Doch weder Ben Sasse, noch Medienvertreter wie der Herausgeber der New York Times, Arthur Gregg Sulzberger, oder der Chef von CNN, Jeff Zucker, haben sich beim Präsidenten bislang Gehör verschaffen können. Zucker stellte unter dem Eindruck der Bombendrohung nüchtern fest, dass der Präsident bis heute nicht den einfachen Sachverhalt verstanden habe, dass Worte Folgen haben.
Von Thilo Kößler
Die versuchten Anschläge auf demokratische Politiker sind für US-Präsident Donald Trump allein auf die Berichterstattung in den Medien zurückzuführen. Schuld seien ihre absichtlichen falschen Berichte. Kritiker machen dagegen gerade diese Hass-Rhetorik Trumps für den Bombenterror verantwortlich.
"2018-10-26T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:17:24.542000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlagsversuche-in-den-usa-trump-die-rohrbomben-und-die-100.html
487
FIFA schreibt Millionenverluste
Der Fußball-Weltverband hat aktuell ein Ausgabenproblem (picture alliance / dpa / Steffen Schmidt) 369 Millionen US-Dollar. So hoch liegt der Verlust, den die FIFA im vorigen Jahr eingefahren hat. Die Bilanz, die der Weltfußballverband in Zürich vorgelegte, liefert die Gründe gleich mit: Die Umstellung auf ein neues Buchungssystem und die Altlasten der Skandal-Ära unter Joseph Blatter. Allein die Rechtskosten hätten rund 50 Millionen Dollar betragen. Trotz der großen Verluste, die auch für das laufende Jahr erwartet werden - die neue Führung der FIFA hält die Lage nicht für bedrohlich. Infantino nur mit Basisgehalt Für 2018 werden neue Rekordzahlen versprochen - das neue WM-Jahr. Die Bilanz für 2016 nutzt Präsident Infantino auch, um sich selbst und seinen Verband zu loben: Ein erster wichtiger Schritt sei getan, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Die Reformen würden auch ein transparentes und sorgsames Management der Einnahmen und Ausgaben beinhalten. In der Tat. Die Bilanz macht zum ersten Mal auch das Gehalt von Präsident Infantino transparent: 1,5 Millionen Dollar. Sein Basisgehalt. Zusätzliche Boni habe es den Angaben zufolge nicht gegeben. Im Vergleich zu Vorgänger Blatter relativ bescheiden. Der hatte noch deutlich mehr als das Doppelte verdient.
Von Ingo Bötig
Einen dreistelligen Millionenverlust hat die FIFA im Jahr 2016 gemacht. Grund vor allem die Verfehlungen von Ex-Chef Blatter, heißt es vom Fußball-Weltverband. Bedrohlich sei die Lage nicht, meint die neue Führung und operiert mit Rekordzahlen für 2018.
"2017-04-07T22:52:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:38.517000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-fifa-schreibt-millionenverluste-100.html
488
Union und Linke lehnen Wahlrechtsreform ab
Günter Krings, CDU-Rechtspolitiker (picture alliance/dpa/Michael Kappeler) Wörtlich sprach Krings von einem "Wahlrecht des betrogenen Wählers". Sein Parteikollege Frei betonte, der Entwurf sei verfassungsrechtlich problematisch. Im Bundestag werde die Union die Pläne darum ablehnen. Der CSU-Vorsitzende Söder und die Linken-Vorsitzende Wissler drohten jeweils mit Verfassungsklagen. Grünen-Fraktionschefin Haßelmann verteidigte die Reform dagegen als überfällig. Sie betonte, damit werde der Grundcharakter des Wahlsystems - das Verhältniswahlrecht - konsequent umgesetzt. Die Ampelkoalition will ihre Pläne am Freitag im Bundestag beschließen. Vorgesehen ist eine Verkleinerung des Parlaments von derzeit 736 auf dauerhaft 630 Abgeordnete - und zwar nach der nächsten Wahl 2025. Überhang- und Ausgleichsmandate sollen entfallen. Zudem soll eine Klausel gestrichen werden, die es Parteien ermöglicht hat, mit drei gewonnenen Direktmandaten eine Fraktion im Bundestag zu bilden. Das gesamte Interview mit Herrn Krings zur Wahlrechtsreform können Sie hier nachhören. Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieser Meldung haben wir den Namen der Linken-Vorsitzenden falsch wiedergegeben. Wir bitten um Entschuldigung. Diese Nachricht wurde am 13.03.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Die Unionsfraktion im Bundestag hat grundsätzliche Bedenken gegen die geplante Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition. Der CDU-Rechtspolitiker Krings sagte im Deutschlandfunk, der Entwurf verletze fundamentale Fairnessregeln. So könne es passieren, dass ein Kandidat seinen Wahlkreis gewinne, aber trotzdem nicht in den Bundestag einziehe.
"2023-03-13T22:58:11+01:00"
"2023-03-13T12:40:15.710000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/union-und-linke-lehnen-wahlrechtsreform-ab-100.html
489
Politik neu denken
Mögen die staatlichen Organe mit drakonischen Maßnahmen den Einwandererstrom einzudämmen versuchen, gegen die "sans-papier" oder eingewanderten Sinti und Roma vorgehen: Für ihn ist das nicht das Entscheidende. Denn der französische Philosoph Jacques Rancière sucht nach den gemeinsamen Strukturen, die hinter dieser Politik von rechten und linken Regierungen stecken. Erst wenn man die Muster von Ausgrenzung und latenten Rassismus erkenne, könne man auch tatsächlich dagegen arbeiten. Deshalb misstraut er – neben Politikern - mindestens genauso jenen Intellektuellen, die "altmodischen Gutmenschentum" bezeugen und dabei die "harte politische Realität" ignorieren. Mit vereinzeltem Engagement verrenne man sich.Es bedeutet im Gegenteil, gegenüber der Illusion des Verwaltungsrealismus und seinen kriminellen Folgen die Dimension einer politischen Aktion wiederherzustellen, die fähig ist, die Spaltungen der Gesellschaft zu ertragen und mit Andersheiten umzugehen.Die Ausländergesetzgebung der konservativen französischen Regierung Anfang der 1990er-Jahre ist eines der konkreten "politischen Momente", von denen Rancières in "Moments politiques" gesammelten Texte ausgeht. Es können auch die Sozialpolitik, das Tragen des Kopftuchs oder der 11. September sein. Der kämpferische Philosoph zieht seinen realen Ausgangspunkten immer wieder wie einer Zwiebel die Pelle ab, um auf seine Grundfragen zu kommen: Was ist Politik und welche Rolle haben Intellektuelle dabei?Ich setze "Das Politische" als die Bühne einer Konfrontation von zwei Logiken: einerseits die Logik dessen, was ich Polizei nenne, das heißt die Logik, die die Gemeinschaft durch Verteilung der Funktionen und der Plätze, der Kompetenzen und der Anteile strukturiert; andererseits die eigentliche Politik, das heißt die Aktivität, die dieser Ordnung das "hinzufügt", was sie auflöst, nämlich die Macht der Gleichheit jedes Beliebigen mit jedem Beliebigen.Erst auf den zweiten Blick öffnen sich solche zunächst sehr abstrakten Sätze zu einer radikalen Politik, bei der es letztlich darum geht, mit Dissens umzugehen, Konflikte auszutragen und Interessen zu klären. Das ist nach Rancières Auffassung der eigentliche Sinn von Politik. Damit räumt er mit dem Missverständnis der Aufklärung auf, alle Menschen müssten "gleich" im Sinne von identisch und unverwechselbar sein. Politik sei vielmehr, permanent den Dissens zu formulieren. Dahinter verbirgt sich eine Vorstellung radikaler Basisdemokratie, bei der sich nicht nur die Grenzen zwischen Politik und Alltag auflösen, sondern auch zwischen Intellektuellen und "gemeinem" Volk. Alle diese Aufteilungen bedeuten letztlich, dass es die einen gibt, die die Fähigkeit besitzen, sich um die gemeinsamen Angelegenheiten zu kümmern, und die anderen, die sie nicht haben. Die Aufgabe des politischen Denkens ist es, diese Schranken zu durchbrechen und umgekehrt das aufzuweisen, was es an Politischem in jeder sogenannten sozialen Bewegung gibt … Das bedeutet nicht, dass alles politisch ist, sondern dass es überall Politik geben kann.Zusammen etwa mit Michel Foucault, Jacques Derrida oder Bernard-Henri Lévy gehörte Jacques Rancière in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zum Kreis des seinerzeit einflussreichen Philosophen Louis Althusser. Er beteiligte in "Das Kapital lesen" an einer neuen Lektüre von Karl Marx' Schriften, die zwar den französischen Strukturalismus begründete, aber weiterhin an der Vorstellung festhielt, die wichtigste Aufgabe von Intellektuellen sei es, die Gesellschaft "für andere" zu interpretieren. Gegen diese Vorstellungen - und vielleicht immer noch gegen seinen mächtigen Lehrer Althusser - entwickelte Rancière seit den 70er-Jahren verstärkt Überlegungen zu einer Politik des Dissenses. Seitdem interessiert er sich für die Diskontinuitäten, für die Brüche und Widersprüche. Sie sieht er gebündelt und in Frankreich zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg massiv im Mai 1968. Diese Revolte war für ihn mehr als eine Manifestation von Ungehorsam oder der Forderung nach sexueller Befreiung.Der Mai 68 bietet die Wiederaneignung einer starken Idee der Politik an, die Schaffung eines eigenen Raums, der nicht auf das institutionelle Spiel, aber auch nicht auf die bloße Manifestation der darunter liegenden sozialen Konflikte reduziert ist.In dieser Tradition gründete er zusammen mit anderen unabhängigen Intellektuellen seiner Generation – Historiker, Soziologen, Philosophen – die Zeitschrift "Révoltes logiques", in der die Autoren – gegen den Zeitgeist versucht haben eine Brücke zu finden zwischen Wissenschaft und Politik. Oder anders ausgedrückt als Suche nach der gesellschaftlichen Verantwortung für das, was wir - an welcher Stelle auch immer - konkret tun. Damit beschäftigen sich in den letzten Jahrzehnten die meisten Arbeiten des Philosophen, der bis 2000 an der Universität von Vincennes/Saint Denis in Paris unterrichtet hat. Seit einiger Zeit kreisen seine Werke um ästhetische Themen und es sind besonders diese Bücher, die zunächst ins Deutsche übersetzt worden sind. Aber das bedeutet nur scheinbar einen Themenwechsel. Denn auch bei der Kunst, der medialen Ästhetik des Spektakels oder des Öffentlichen geht es darum, Politik neu zu denken."Alles hängt davon ab, was man unter Ästhetik versteht. Ich verstehe unter "Ästhetik der Politik" den Bruch mit dem System der konstituierten Identitäten, die Öffnung neuer Räume. Es handelt sich nicht darum, das Prinzip der Organisation zugunsten einer ausschließlichen Wertschätzung explosiver Szenen zu diskreditieren. Ich versuche mitzuhelfen, neu zu denken, was 'Politik' heißt. Politik gedacht in ihrem Abstand zu institutionellen Spiel."Aus der Sicht Rancières braucht man dafür durchaus die Bühne der Inszenierung oder des Spektakels, es komme aber darauf an, sie immer wieder zu brechen und gegenseitig zu spiegeln. Aus deutscher Sicht fällt einem dabei eher Bertolt Brecht oder das experimentelle Theater ein. Rancière dagegen beruft sich überraschender Weise auf Joseph Jacotot. Jener französische Reformpädagoge des 19. Jahrhunderts hat vor allem das Verhältnis von Lehrer und Schüler problematisiert und das Wissen des Mächtigen in Frage gestellt. Die in "Moments politiques" jetzt auch in Deutsch zugänglichen Texte und Interviews von Jacques Rancière sind zwischen 1977 bis 2009 geschrieben worden. Manche heftige Polemiken gegen fast jeden bei uns bekannten französischen Denker mögen deutsche Leser zunächst irritieren und für sie nicht immer nachvollziehbar sein. Vor allem weil sie von konkreten Ereignissen oder politischen Konflikten ausgehen, bieten sie jedoch einen guten Einstieg in das Denken des bei uns zu Unrecht noch weit gehend unbekannten französischen Philosophen. Der Band könnte motivieren auch auf spezielle andere Studien zurückzugreifen, die übersetzt allerdings nur sehr verstreut in kleineren engagierten Verlagen zu haben sind.Jacques Rancière: Moments politiques. Interventionen 1977 - 2009Zürich, diaphanes Verlag, 2011, Preis: 24,80 Euro
Von Thomas Kleinspehn
Was Politik eigentlich ist, mit dieser Frage beschäftigt sich Jacques Rancière. Dabei interessieren ihn vor allem die Diskontinuitäten und Brüche. In dem Band "Moments politiques" sind jetzt auch in Deutsch Texte und Interviews des französischen Philosophen aus den Jahren 1977 bis 2009 zugänglich.
"2012-02-17T16:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:45:17.774000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/politik-neu-denken-100.html
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Die Wahrheit über Fake News
Präsident Trump mag diesen Sender - aus Gründen (picture alliance / dpa / Justin Lane) Ein Toter, der plötzlich zu sprechen beginnt, … Roger Ailes: "I know what people gonna say about me." … weil er selbst im Tod nicht aufhören kann, zu berichten ... "I can pretty much pick the words for you." ... und, viel wichtiger, nicht die Deutungshoheit über seine Person verlieren will. "Right-winged, paranoid, fat." "Fox News"-Gründer Roger Ailes, ein patriotischer Republikaner, seine Gegner nannten ihn "rechts, paranoid und fett". Sie hatten nicht Unrecht. Er hat ein ganzes Land geteilt, gesteuert, getäuscht. Vom Newsdesk aus. Einseitige US-amerikanische Weltsicht "Right now in America, 60 percent of the people think that the media is negative, full of lies, full of bias, full of crab. We just gonna give the people what they want: positive message, an American message, wrapped up in a conservative viewpoint." Bis heute verbreitet "Fox News" diese amerikanische Weltsicht: konservativ, einseitig, oft an der Wahrheit, an den Fakten vorbei - und die Hälfte der USA sieht zu. "People, don’t wanna be informed, they wanna feel informed." Die Serie "The Loudest Voice" erzählt die Geschichte eines Mannes und seines Fernsehsenders: Roger Ailes und "Fox News". Dabei zeigt sie ebenso viel über die amerikanische Gesellschaft, Politik und jüngste Vergangenheit. Gegründet auf Unterhaltung und Falschmeldungen Von der Gründung des Senders in den 90er-Jahren, über 9/11, die Obama-Präsidentschaft bis hin zum Trump-Wahlkampf: In Schlaglichtern beleuchtet die siebenteilige Serie, wie ein auf Unterhaltung und Falschmeldungen aufgebauter Nachrichtensender zum politischen Schwergewicht, zur vierten großen Macht wird und seine eigene erzkonservative Agenda in die Welt posaunt. "We gonna tell people what they need to hear, we gonna bring them the truth and we gonna win!" Allen voran: Roger Ailes. Er steigt zu einem der mächtigsten Menschen der USA auf, macht nicht nur Fernsehen, sondern Politik, Propaganda, phasenweise Staatsfernsehen. "Go on air, wear the flag!" Er schreibt an Bushs "War on Terror" mit, macht Obama zum Staatsfeind Nummer Eins und nimmt sogar Trumps späteren Wahlkampf-Slogan vorweg: "Together we can make America great again!" Informativ und schockierend Das alles erscheint wie eine verrückte, zynische, egozentrische, größenwahnsinnige, unglaubliche Geschichte - Stranger than Fiction! - beruht aber auf harten Fakten und den langjährigen Recherchen des Journalisten Gabriel Sherman, der auch an der Serie als Schreiber und Produzent mitgearbeitet hat. Sein Buch "The Loudest Voice in the Room" war in den USA ein Bestseller. Die Serie ist kaum weniger informativ, spannend und schockierend. "You gonna stop acting like you have any authority in this room, because you do not!" Hollywood-Schauspieler Russell Crowe ahmt den cholerischen Machtmenschen Ailes exzellent nach wie ein Doppelgänger - mit Fatsuit (Golden Globe-Alarm). Drehbuch und Dialoge sind präzise und auf den Punkt geschrieben. Der Schnitt schnell und hart. Die Serie gibt so ein zügiges Tempo vor und führt wichtige Figuren wie Medienmogul Rupert Murdoch, Journalistin Gretchen Carlson oder Ailes’ späteren Stellvertreter Brian Lewis mit kurzen Infoblenden unmittelbar ein. Einzig der immerfort bedrohlich tönende Soundtrack ist nicht wirklich gelungen. Leider die Wirklichkeit Wir deutschen Zuschauer, denen das Hintergrundwissen stellenweise fehlen könnte, müssen manches vielleicht zweimal gucken oder später im Netz nachlesen. Und was man da sieht, wird man oft oft nicht glauben. Aber doch, das ist alles (ungefähr) so passiert. Bis hin zu - Achtung, Spoiler! - den Missbrauchsgeschichten und der tragischen Hirnblutung, die Ailes schließlich zu Fall bringen. "The Loudest Voice": Im Amerika des Jahres 2019 ist das relevant und brandaktuell; und für alle, die nicht nur die amerikanische Medienlandschaft, sondern insgesamt ein zutiefst gespaltenes Land mit Fake News-Präsident Trump verstehen wollen - ein Muss!
Von Julian Ignatowitsch
Die US-Serie "The Loudest Voice" erzählt die Geschichte von Roger Ailes und seinem konservativen Fernsehsender "Fox News", der auch vor Scheinwahrheiten nicht Halt macht. Die Serie porträtiert dabei auch ein gespaltenes Land, eine aufgeheizte Medienlandschaft und eine dekadente politische Kultur.
"2019-09-16T15:24:00+02:00"
"2020-01-26T23:10:47.317000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tv-serie-the-loudest-voice-die-wahrheit-ueber-fake-news-100.html
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"Ich muss dazu mal eben aufstehen..."
In New York aufgewachsen, lebt in Schweden: Eric Bibb (Peter Bernsmann ) Mitten aus der Corono-Krise betrachtet ist dieser Auftritt von Eric Bibb noch mal höher einzuschätzen, denn seine für dieses Frühjahr geplante Europa-Tournee, die ihn auch nach Deutschland geführt hätte, musste er absagen. Auch das Bluesfestival Schöppingen muss in diesem Jahr pausieren. Umso schöner also, diesen wunderbaren Auftritt des intelektuellen Bluesmusikers zu hören, der auch im Interview die Gelassenheit und Würde zeigt, die er auf der Bühne ausstrahlt. Eric Bibb, Gitarre/GesangStaffan Astner, GitarreNeville Malcom, BassPaul Robinson, Schlagzeug Aufnahme vom 9.6.2019 beim Bluesfestival Schöppingen. Das gesamte Konzert hören Sie hier: Eric Bibb und Band beim Bluesfestival Schöppingen 2019 (74:43)
Am Mikrofon: Tim Schauen
Für seinen Song "Refugee Moan" stand Eric Bibb auf und ging nach vorne an den Bühnenrand, denn "die Zustände der Flüchtlinge auf der ganzen Welt lassen sich nicht im Sitzen darstellen." So wurde sein Auftritt zum emotionalen Höhepunkt des Bluesfestivals Schöppingen 2019.
"2020-04-10T21:05:00+02:00"
"2020-04-10T09:28:49.025000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eric-bibb-band-ich-muss-dazu-mal-eben-aufstehen-100.html
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Bäume pflanzen gegen Klimawandel
Der Ökologe Jean-François Bastin sitzt in der Technischen Hochschule ETH Zürich vor seinem Computer und erklärt eine Landkarte auf dem Bildschirm. Auf der Karte sind die Flächen mit unterschiedlich grünen Schattierungen angezeigt - ganz ähnlich wie bei einer Karte, mit der beim Wetterbericht die Temperaturen dargestellt werden, nur viel detaillierter: "Also hier sehen sie lauter farbige Pixel - von weiß bis grün. Das stellt die Dichte des Baumbestands dar. Wenn es also hier etwas heller ist, bedeutet das, dass Sie hier die Anzahl der Bäume ein wenig erhöhen könnten, um zehn oder zwanzig Prozent." Die Karte ist das Ergebnis einer Studie, die nun im renommierten Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlicht wurde. Der 33-jährige Belgier Jean-François Bastin ist einer der Autoren. Grundlage ist, was jeder im Biologieunterricht lernt. Bäume nehmen Wasser und das für den Klimawandel verantwortliche Kohlendioxid auf und wandeln es in der Photosynthese in Zucker und Sauerstoff um. "Wir können etwas weniger als eine Milliarde Hektar bepflanzen" In ihrer Studie haben die Forscher nun genau berechnet, welche Flächen weltweit im Kampf gegen den Klimawandel für die Aufforstung zur Verfügung stehen würden. Jean-François Bastin: "Wir können etwas weniger als eine Milliarde Hektar bepflanzen, das entspricht etwa der Fläche der USA und würde etwa 205 Milliarden Tonnen Kohlenstoff binden. Das ist etwa ein Viertel von dem, was wir heute in der Atmosphäre haben." Gemeinsam mit den derzeit rund um den Globus existierenden Waldflächen von 2,8 Milliarden Hektar bestünde das Potential, zwei Drittel der von Menschen verursachten Kohlendioxid-Emissionen aufzunehmen. Durch Aufforstung könne man das vom Weltklimarat beschlossene Ziel erreichen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Bäume pflanzen sei damit das wirksamste Mittel im Kampf gegen den Klimawandel, so Jean-François Bastin: "In Sachen negativer Emissionen, also des Abbaus von Kohlenstoff aus der Atmosphäre, ist das wirklich die unglaublichste Waffe, die wir in unseren Händen halten, und es ist eine Technologie, die für jedermann zugänglich ist, aber natürlich können wir dennoch nicht einfach weiterhin fossile Brennstoffe so verwenden und uns so ernähren, wie wir es bislang tun. Wir müssen die Art und Weise, wie wir leben, in Frage stellen." Potentiale in flächenreichen Länder Das größte Potential zur zusätzlichen Bewaldung haben der Studie zu Folge die flächenreichen Länder Russland, Kanada, die USA, Brasilien, Australien und China. Bei ihren Berechnungen haben die Forscher nicht einfach die Landkarten genommen. Sie haben verschiedenste topografische Merkmale - wie Steigungen - berücksichtigt, erklärt der Ökologe Jean-François Bastin und: "Wir haben eine quantitative Bewertung durchgeführt. Und das erstmals weltweit. Für unsere Berechnung der potenziellen Flächen haben wir natürlich bestehende Waldgebiete abgezogen, aber auch Gebiete, in denen wir Ackerland haben, denn wir wollen keine Konkurrenz zur Produktion von Lebensmitten. Und dann haben wir natürlich auch Städte ausgelassen." Bei der Aufforstung im Kampf gegen den Klimawandel müsse man jedoch schnell vorgehen, sagt Jean-François Bastin, denn es dauere Jahrzehnte, bis die Wälder ihr volles Potential als CO2-Speicher entwickelt haben.
Dietrich Karl Mäurer
Bäume könnten eine mächtige Waffe im Kampf gegen den Klimawandel sein. Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass eine weltweite Aufforstung von knapp einer Milliarde Hektar die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen könnte – wenn schnell gehandelt wird.
"2019-07-05T11:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:38.128000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-erderwaermung-baeume-pflanzen-gegen-klimawandel-100.html
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Ex-Wirecard-Chef Markus Braun schweigt eisern
Braun im Wirecard-Untersuchungsausschuss (dpa / Michael Kappeler) Die mit großer Spannung erwartete Befragung des früheren Wirecard-Chefs Markus Braun fiel schon nach wenigen Minuten in sich zusammen. Braun, ganz in Schwarz mit Rollpulli gekleidet, verlas in Gegenwart seines Anwalts eine Erklärung. Er berufe sich gegenüber dem Untersuchungsausschuss auf sein Aussageverweigerungsrecht und werde über diese Erklärung hinaus keine weiteren Fragen beantworten. Daran hielt Markus Braun dann eisern fest, egal, ob die Abgeordneten ihn nach einem Treffen mit Finanzstaatssekretär Jörg Kukies befragten, danach, ob er überhaupt jemals irgendwelche Gespräche mit Landes- oder Bundespolitikern geführt habe oder wie viel vom früheren Wirecard-Umsatz nur vorgetäuscht war. Immer die gleiche Antwort: Er, Markus Braun, werde sich hier über die Erklärung hinaus nicht äußern und keine weiteren Fragen beantworten. Beendet ist die Vernehmung des bisherigen Wirecard-Chefs Braun deshalb aber nicht. Nach der ersten Befragung ist vor der zweiten Befragung "Das ist nicht irgendein Zeuge, das ist die zentrale Figur bei Wirecard, fast 20 Jahre der Chef. Der, der wirklich über alles Bescheid wusste, der den Laden kontrolliert hat. Markus Braun war Wirecard. Und deswegen ist Markus Braun auch ein zentraler Zeuge für den Untersuchungsausschuss", hatte der FDP-Abgeordnete Florian Toncar schon vor Beginn der Sitzung erklärt. Deshalb ließen er und seine Kollegen auch nach der Sitzung an einem keinen Zweifel: Nach der ersten Befragung ist vor der zweiten Befragung. Enttäuscht waren sie dennoch. Denn noch am Montag hatte Braun schriftlich angedeutet, sich zu den Fragen, die den Ausschuss interessieren, zu äußern, also dazu, wie es zu dem Aufsichtsversagen bei Wirecard kommen konnte. Nun aber erklärte Braun den verblüfften Abgeordneten, auch diese Antworten wären Teil eines mosaikartigen Gesamtbildes. Deshalb könne er den Aussagen vor der Staatsanwaltschaft nicht vorweggreifen. Nur so viel, er habe zu keiner Zeit die Feststellung getroffen oder auch nur Hinweise darauf erhalten, dass sich Behörden oder Aufsichtsstellen nicht korrekt, pflichtwidrig oder unlauter verhalten hätten. Gleiches gelte für den Aufsichtsrat und die Wirtschaftsprüfer, die offenbar massivst getäuscht worden seien. Am Ende muss ein Gericht über jede Frage entscheiden Wann und unter welchen Vorzeichen nun eine weitere Befragung Brauns stattfindet, ist offen. Ginge es nach Braun, ist erst die Staatsanwaltschaft an der Reihe. Die Abgeordneten hingegen sehen sich mit dieser auf gleicher Stufe. Deshalb könne Braun im Bundestag nur Antworten verweigern, die seine persönliche Schuld beträfen, nicht aber auf Fragen nach Kontakten zu Politikern und Behörden, die die Abgeordneten interessieren. Und so nahm das Spektakel im Ausschuss seinen Lauf. Die Abgeordneten verlasen Frage auf Frage. Braun erklärte jedesmal, er werde nicht antworten. Nun muss Braun bei jeder Frage glaubhaft machen, dass er sich mit einer Antwort vor Gericht selbst belasten würde. Das wiederum dürften die Abgeordneten ihm nicht abnehmen. Entscheiden muss deshalb am Ende wohl ein Gericht und zwar zu jeder einzelnen Frage, die Markus Braun heute offen ließ.
Von Theo Geers
Der ehemalige Chef des Finanzdienstleisters Wirecard, Markus Braun, sollte vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen zur Pleite seines Unternehmens. Aber außer einer dürren Erklärung gab es keine Antwort von ihm. Es wird deshalb nicht die letzte Anhörung gewesen sein.
"2020-11-19T17:05:00+01:00"
"2020-11-20T11:42:28.487000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/untersuchungsausschuss-zur-finanzpleite-ex-wirecard-chef-100.html
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Viele Produkte sind weiterhin belastet
In vielen Kosmetikprodukten ist weiterhin Mikroplastik enthalten. (dpa/ picture alliance/ Daniel Naupold) Das Plastik ist klein, die Wirkung groß. In der heute vom BUND und dem Startup-Unternehmen Codecheck vorgelegten Studie werden gute Gründe aufgezeigt, warum das Thema Mikroplastik vermehrt in den Focus der Verbraucher rücken sollte: Nur eine Änderung im Konsumverhalten kann derzeit verhindern, dass immer mehr kleine Plastikstoffe in die Weltmeere gelangen. Die Hersteller jedenfalls - als Ganzes – verhindern es nicht: Sie versprechen Dinge im Rahmen einer Selbstverpflichtungserklärung, die kaum einer überprüfen kann und auf deren Einhaltung sich die Politik hierzulande anscheinend verlässt. Hersteller halten sich nicht an Selbstverpflichtung Und das Schlimme dabei: Die Hersteller – wir sprechen jetzt ausschließlich von Kosmetika – halten sich offensichtlich nicht an diese Selbstverpflichtung. Der bekannteste Mikroplastik-Stoff ist Polyethylen. Viele große Produzenten hatten für Ende 2014 zugesagt auf diesen Stoff zu verzichten. 2016 – bis August – hat Franziska Grammes von der Firma Codecheck dann das Naheliegende getan und Datenwerte aus dem Jahr 2014 mit jenen dieses Sommers verglichen – aus einem Datenbestand von zuletzt mehr als 58.000 Produkten: "Wir haben uns auf 19 Kategorien beschränkt, das sind unter anderem Gesichtspeelings, Körperpeelings, aber auch Sonnencremes, Gesichtscremes, dekorative Kosmetik, Duschgele, etc." Das Ergebnis: Was Gesichtspeelings angeht, sank der Polyethylen-Anteil gerade einmal von 34 auf 30 Prozent, in den meisten anderen Kategorien war sogar eine leichte Zunahme dieses Stoffes zu verzeichnen. Die BUND-Meeresexpertin Nadja Ziebarth zeigte gestern Abend im ZDF einen schlichten Kaffeefilter mit einer weißen wässrigen Creme: "Das ist aus einem Kosmetikprodukt rausgefiltert worden. Die Hersteller haben schon seit Jahren gesagt, dass sie Mikroplastik aus ihren Produkten rausnehmen wollen. Wir sehen hier, das hat nicht stattgefunden, Mikroplastik ist weiterhin drin. Es werden immer wieder neue Jahreszahlen genannt, wann sie aussteigen wollen, aber wie wir hier sehen, es bleibt drin und zwar in einer großen Menge." Bis zu 20 Prozent Polyethylen in Körperpeelings Die Untersuchung hat gerade in Körperpeelings bis zu 20% Polyethylen gefunden, wir stehen in einem solchen Fall quasi unter der Plastikdusche. Das Kuriose: Zahnpasten mussten nicht untersucht werden, sie gelten seit langem als Beweis dafür, dass die Industrie bei der abrasiven, also glättenden Wirkung ihrer Produkte, durchaus auf Alternativen zugreifen kann, traditionell sind es hier vor allem Silikate, die im Mund zum Einsatz kommen. Aber auch außen im Körpereinsatz, bei dekorativen Kosmetika an Augen, Lippen und Make ups, beim Sonnenschutz, bei Badezusätzen und Haarpflegemitteln: Plastik überall. Bereits 2013 hatte der BUND auf die Gefahren für die Weltmeere aufmerksam gemacht und Mikroplastik als "unsichtbare Gefahr" beschrieben schließlich auch für uns Menschen am Ende der Nahrungskette, 12.000 Konsumenten schlossen sich einem Online-Boykottaufruf an. Es passierte wenig. Und: Der Branchenverband IKW war zu keinem Interview bereit, als die aktuellen Testergebnisse bekannt wurden. Natürliche Alternativen werden nur selten genutzt Dabei gäbe es natürliche Alternativen zu Mikroplastik: Sand, Salze, geschrotete Kerne. Es ist wohl eine Frage des Preises und so bestätigt Franziska Grammes dann auch, dass alle untersuchten Bioprodukte tatsächlich unauffällig sind: "Ja. Wir haben kein einziges Naturkosmetikprodukt gefunden, wo Mikroplastik drin ist." In den USA ist der Einsatz von Mikroplastik schlicht verboten, es geht also auch anders, wenn der Gesetzgeber konsequent eingreift. Hierzulande dagegen verunsichern die Hersteller durch kaum lesbare und vollkommen unverständliche Zutatenlisten und wenn ein unbeliebter Stoff in Untersuchungen ans Licht kommt, dann ersetzt man ein Mikroplastik durch das andere, denn zu allem Übel dürfen die Hersteller auch noch selbst entscheiden, was Mikroplastik ist. "Was die Sorge von vielen Organisationen ist, ist, dass das bekannte Polyethylen durch andere Mikroplastikstoffe ersetzt wird, die heißen dann acrylates Copolymer oder Polyurethan oder acrylates Crosspolymer, es gibt dutzende von Bezeichnungen und die sind sehr verwirrend." Das Team um Franziska Grammes von der Verbraucher-Plattform Codecheck hat daher als Orientierungshilfe eine App entwickelt inclusive Scanner, der Barcodes oder 2 D Codes erfassen kann. Das Smartphone wird auf den entsprechenden Teil der Produkt-Verpackung gerichtet und … "….innerhalb von Sekunden erscheint dann eine Einschätzung, es steht dann zum Beispiel enthält Mikroplastik, auf dieses Wort können Sie raufklicken, dann sehen sie genau, welcher Mikroplastikstoff enthalten ist und warum und von wem dieser Stoff als gefährlich eingestuft wurde."
Von Thomas Weinert
Ob in Peelings, Sonnencremes oder Haarpflegemitteln: Mikroplastik-Partikel sind mittlerweile in unzähligen Kosmetikprodukten zu finden. Eigentlich hatten viele Unternehmen mit freiwilligen Selbstverpflichtungserklärungen zugesagt, bis Ende 2014 auf Plastikstoffe in ihren Produkten zu verzichten. Eine Untersuchung hat jetzt gezeigt: Nur die wenigsten halten sich daran.
"2016-10-18T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:09.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mikroplastik-in-kosmetika-viele-produkte-sind-weiterhin-100.html
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ESC stellt "ein moralisches Dilemma für die Sänger" dar
Anne Raith: Demonstrationen und Festnahmen haben den diesjährigen Eurovision Songcontest begleitet ebenso wie eine in großen Teilen kritische Berichterstattung. Über Menschenrechtsverletzungen, über Zwangsumsiedlungen, undemokratische Strukturen. Nicht erst seit den Vorbereitungen für das große, Milliarden teure Spektakel Eurovision Songcontest hat Emin Milli auf die prekäre Lage in seinem Heimatland hingewiesen. Der Blogger stammt aus Baku, er hat in Deutschland studiert und 2009 hat er gemeinsam mit einem Freund ein satirisches Video über korrupte Politiker veröffentlicht, woraufhin die beiden verhaftet und zu 17 Monaten Haft verurteilt wurden. Im November 2010 kam er frei. Derzeit wohnt Emin Milli in London, wo er an seiner Magisterarbeit schreibt. Ich hab ihn vor der Sendung via Skype erreicht und wollte zuerst von ihm wissen, ob er heute Abend das Finale des Eurovision Songcontest verfolgen wird.Emin Milli: Ja, ich werde es machen, unbedingt.Raith: Warum?Milli: Ich hab seit einiger Zeit versucht, diese Message rauszubringen, dass die Sänger beim Eurovision eigentlich sollten sich für Menschenrechte aussprechen. Und ich hoffe, dass einer von Sängern oder einige oder mehrere einfach sagen, dass sie Freilassung von allen politischen Gefangenen Aserbaidschans verlangen. Ich weiß, es klingt auch ein bisschen naiv, aber ich hoffe, es gibt ein Prozent Möglichkeit und es kann doch klappen, weil ich finde, es ist ein moralisches Dilemma für die Sänger, weil meiner Meinung nach es ist nicht okay, einfach nach Aserbaidschan kommen, in so einer Situation, und eine Party zu haben genau da, wo die Leute gezwungen waren, ihre Häuser zu verlieren, illegalerweise, und auch nicht die entsprechende Kompensation bekommen haben. Und dann einfach dahin zu kommen und Party zu haben, wo wir über 70 politische Gefangene haben, die sind im Hungerstreik. Die Leute außerhalb, gestern und auch vorher, können nicht sich einfach frei sammeln und friedlich protestieren. Es geht nicht. Und in dieser ganzen Situation einfach zu sagen, wir haben damit nichts zu tun – ich glaube, das wäre dann moralische Disqualifizierung.Raith: Auf wen hoffen Sie denn da? Auf diejenigen, die für Aserbaidschan antreten, oder auf ausländische Teilnehmer?Milli: Das ist gute Frage. Also eigentlich ich hab gesehen, dass schwedische Sängerin hat unabhängige Journalisten besucht, sie hat auch Menschenrechtler besucht und hat auch ein paar kritische Bemerkungen schon zur Situation in Aserbaidschan gemacht. Und das finde ich sehr gut. Ich weiß nicht, warum Roman Lob, deutscher Vertreter, das nicht gemacht hat. Ich meine, die ganze Zeit Berichte, die ganze deutsche Medien wird seit einem, zwei Monaten, und dann einfach zu kommen und sagen, ist alles super. Natürlich ist doch alles super, wenn man in einem Palast ist, was von Präsidentenfamilie aufgebaut wird. Wenn Sie vom Flughafen zum Crystal Palace sehen, ja, einige Strecken sind von Mauern gebaut, ja? Die wollen nicht mal, dass Sie sehen, was hinter den Mauern sind.Raith: Herr Milli, versuchen Sie uns einen Einblick zu geben sozusagen, was hinter den Mauern ist. Wie würden Sie die Lage schildern?Milli: Aserbaidschan in den 90ern, natürlich es war sehr schwierige Situation. Wir hatten Krieg mit Armenien, wir hatten 100.000 Flüchtlinge. Unsere Gebiete verloren. Also diese traumatische Situation. Und allen diesen Jahren haben geendet mit einem Parlament in 2010, wo es keinen einzigen Oppositionellen gibt. Weil oft höre ich in Medien, wenn die Regierungsvertreter reden, die sagen, wir sind junge Demokratie, ja. Wir brauchen Zeit für Entwicklung. Ich bin verstanden, ich bin kein Radikaler, ich weiß auch, man braucht eine Zeit für Entwicklung. Aber wenn wir gucken, wo wir waren und wohin wir gehen, dann können wir sehen, wir bewegen uns nicht in Richtung einer Demokratie, sondern genau umgekehrt. Das kann man auch so am Beispiel vom Parlament sehen, wo es keinen Oppositionellen heute gibt. Es gab zum Beispiel in den 90ern hunderte politische Gefangene. Aserbaidschan ist 2001 in Europarat beigetreten. Ich war selbst bei dieser Zeremonie und ich hatte so viele Hoffnungen, ja. Aber nach zehn Jahren, was ist? Ich bin ein Bürger, ich habe Gefängnis hinter mir, nur weil ich diese Regierung kritisiert habe. Ich habe meine Hoffnungen für diese Regierung, dass sie sich reformieren kann, was ich damals gedacht hätte, diese Hoffnungen habe ich verloren. Die haben so viele Repressionen gemacht, ja, also irgendwann in Nordkorea protestiert auch jetzt niemand, ja. Das heißt nicht, in Nordkorea ist alles super.Raith: Was glauben Sie denn, Herr Milli, was der Songcontest jetzt daran ändern kann, wenn Sie sagen, Sie haben Ihre Hoffnung eigentlich schon verloren?Milli: Also ich habe nicht meine Hoffnung verloren. Ich habe meine Hoffnung für diese Regierung verloren, dass sie sich reformieren kann, einerseits. Andererseits als ein Bürger ich hab keine andere Wahl, als meine Gedanken frei auszusprechen, diese Situation zu kritisieren und hoffen, dass andere Bürger das auch machen werden und wir dann eine bürgerliche Bewegung haben. Weil Aserbaidschan, wir haben auch eine stolze Tradition von Demokratie. Seit 1918 das war allererste demokratische Republik in der islamischen Welt. 1919 hatten wir Wahlrechte für Frauen gegeben, wo Frankreich 1944 dieses Recht gegeben hat. Und ich bin sicher, dass wir haben eine neue Generation, und was in den letzten Zeiten auch gesehen haben: Es gibt immer noch Proteste, ja. Die Regierung sagt, wir haben Öl, wir haben doch Geld, warum, alle sind glücklich. Alle sind nicht glücklich.Raith: Wie groß ist der Rückhalt in der Bevölkerung für die oppositionelle Bewegung?Milli: Man muss so sagen: Also es gibt eine große, würde ich sagen, Armee von Unzufriedenen, weil die Öleinnahmen haben nur eine sehr kleine Schicht profitiert. Die Mehrheit hat natürlich etwas mehr, was sie in 90ern hatten, ja, das will ich nicht bestreiten, aber das ändert nicht viel, ja, und die Leute haben Angst, weil wenn sie etwas sagen, was Regierung nicht gefällt, dann können sie im Gefängnis landen, sie können auch Arbeit verlieren. Die Verwandten können Arbeit verlieren. Deswegen die Leute haben Angst und die Tatsache, dass die meisten heute nicht auf die Straße gehen, heißt nicht, dass die diese Regierung unterstützen. Und ich fand sehr gut, dass zum ersten Mal, ich glaube, Europäisches Parlament hat ganz starke Resolution über Menschenrechte in Aserbaidschan aufgenommen. Es ist einfach nichts, was nur Aserbaidschan angeht. Es geht um europäische Werte. Ich finde auch als falsch, immer zu sagen, na, es gibt da Öl und Gas, wir können nicht zu viel Kritik ausüben. Ich verstehe die Logik überhaupt nicht.Raith: Herr Milli, Pardon, Sie sagen es, die EU unterhält ja ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Aserbaidschan. Das Land ist besonders wegen Öl und Erdgas strategisch wichtig. Sehen Sie, dass sich an dieser Politik etwas ändert in der EU?Milli: Es ändert sich schon. Ich glaube, Eurovision hat geholfen wirklich, die Stimmung im Europäischen Parlament zu ändern. Es gab zwei Resolutionen, die sehr gut waren, weil die haben verlangt die Befreiung von besetzten aserbaidschanischen Gebieten von Armenien. Und sie haben auch Konditionalitätsprinzip für diese Verhandlungen in Assoziationsabkommen da gestellt, sie haben auch die Freiheit für politische Gefangene, mehr politische Rechte in Armenien und Aserbaidschan verlangt vom Europäischen Parlament, das war sehr gut. Und endlich sogar Konservative haben aufgehört, aserbaidschanische Regierung zu unterstützen und wir haben eine starke Resolution unterstützt. Es ist schon peinlich geworden, diese Autokratie zu unterstützen, und ich finde, dass ist eine ganz wichtige Entwicklung.Raith: Aber Herr Milli, noch scheint sich die aserbaidschanische Regierung nicht beeindrucken zu lassen. Sie geht ja sehr hart im Moment noch gegen Demonstranten vor und sieht sich ja selber auch als Opfer eines Informationskrieges.Milli: Die machen so eine Propaganda wie in Sowjetzeiten ja daraus, und ich finde es gut, weil bringen diese Lügen zum Absurditätslevel und zeigen im Fernsehen und das hat eine Gegenreaktion, ja? Im Internet haben alle nur darüber gelacht. Da kann man das nicht mehr seriös angucken und das ist sehr gut. Natürlich es hilft, und Änderung kommt nicht in einem Tag, verstehen Sie, aber was ganz wichtig, die Wahrheit zu sagen, alles so zu zeigen, wie es ist, und dann wird für diese Regierung wird Macht verlieren vor allem auf Softpower-Level.Raith: Wie groß, Herr Milli, ist denn die Gefahr, dass das Ausland Aserbaidschan nach dem Eurovision Songcontest wieder gänzlich aus den Augen verliert und sich nichts ändert, sogar vielleicht im Gegenteil, dass die Regierung dann erst recht hart durchgreift, wenn eben niemand mehr guckt.Milli: Ja, die Leute können verhaftet werden. Die sich jetzt aussprechen und protestieren. Die können verhaftet werden und die werden nicht sagen, wir schicken dich ins Gefängnis, weil du während Eurovision protestiert hast. Aber weil du Deutschlandfunk Interview gegeben hast. Nein, dann hören Sie irgendwann in einem Jahr, ach, Emin Milli ist im Gefängnis, weil er drogenabhängig ist, weil man hat Drogen in seinen Taschen gefunden, ja? Werden Sie es glauben? Hoffentlich nicht. Das gleiche kann mit jedem passieren, der heute aktiv ist.Raith: Herr Milli, Sie gehen davon aus, dass die Repressionen nach dem Eurovision Songcontest genauso hart oder noch härter weitergehen?Milli: Auf jeden Fall. Ich meine, es ist nicht zum ersten Mal. Die Leute, die das machen, wissen ganz genau, mit wem sie zu tun haben, das ist ein autoritärer Staat. Aber wir wären sehr dankbar, wenn europäische Medien, wenn europäische Politiker, Stiftungen, viel mehr Aufmerksamkeit Aserbaidschan schenken. Zum Beispiel Weißrusslands Opposition hat unabhängiges Fernsehen in Polen. Aserbaidschanische Zivilgesellschaft hat es nicht. Ich hab das vor Kurzem mit einigen europäischen Politikern gesprochen und Medienvertretern. Und die sagten, ja, aber wir haben jetzt Fernsehen in Weißrussland und da ändert sich nichts, ja? Wir haben dieses Fernsehen in Polen, da ändert sich nichts. Und ich habe gesagt, na ja, man kann nicht erwarten, dass etwas sich in einem Tag ändert. Al Dschasira ist in arabische Welt 1996 gekommen und erst 2011 hat sich anders geändert. Wie wir jetzt am Beispiel von Ägypten sehen. Das ist ein Prozess.Raith: Herr Milli, auch deswegen werden Sie im September wieder zurückgehen nach Aserbaidschan, wenn Sie Ihre Magisterarbeit in London vollendet haben. Haben Sie keine Angst, wieder verhaftet zu werden? Sie haben es vorhin angesprochen, Haft könnte Ihnen drohen auch nach diesem Interview. Warum gehen Sie trotzdem zurück?Milli: Also ich bin ein Mensch. Ich hab eine Würde, ich habe auch Ängste und ich bin kein Held. Ich sage und tue das, was ich für richtig halte. Ich war nicht immer so. Ich wollte mich aus der Politik irgendwo raushalten, ganz ruhig, weil ich hatte Angst. Dann bin ich kritischer und kritischer geworden, dann war ich bestraft auf verschiedene Art und Weise, Gefängnis, dann komme ich raus, ja mein Vater ist gestorben, als ich im Gefängnis war. Meine erste Ehe ist kaputt gegangen, weil es ganz schwierig war, in meinem Leben einfach ein guter Mann zu sein. Das alles hat Einfluss. Und wenn du guckst, okay, was machst du im Leben, willst du die Situation ändern in deinem Land, wo du geboren bist? Oder willst du einfach wegrennen. Und ich will nicht irgendjemanden beurteilen, der Aserbaidschan verlässt. Ich verstehe, ein Freund von mir, Musiker, der gefoltert war, ja, Jamal Ali, er hat Aserbaidschan verlassen. Aber andererseits will ich, so viel ich Kraft habe, will ich in Aserbaidschan bleiben, weil ich glaube, das ist auch wichtig, dass irgendjemand da bleibt. Dass jemand diesen Kampf einfach in Aserbaidschan auch weiterführt. Und ich fühle eine bestimmte Verantwortung. Und ich einfach überwinde meine Angst, ich muss ganz ehrlich sagen.Raith: Der aserbaidschanische Blogger Emin Milli über Menschenrechte und Meinungsfreiheit in Aserbaidschan am Tag des Eurovision Songcontest. Das Gespräch haben wir vor der Sendung via Skype aufgezeichnet und Sie finden es in Bälde auch im Internet unter dradio.de.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Emin Milli im Gespräch mit Anne Raith
Den Eurovision Songcontest in Baku werde sich der aserbaidschanischer Blogger Emin Milli anschauen, da er hoffe, dass Sänger währenddessen Proteste aussprechen. Er befürchtet, dass die Repressionen gegen Oppositionelle nach dem ESC weitergehen werden.
"2012-05-26T08:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:11:13.414000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/esc-stellt-ein-moralisches-dilemma-fuer-die-saenger-dar-100.html
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Humorvoller Umgang mit dem Tod
Oliver Ottitschs Umsetzung eines Cartoons über einen Friedhof: Ausstellung des Kasseler Museums für Sepulkralkultur (dpa/picture alliance/Uwe Zucchi) Das Museum hat auch immer wieder den sich verändernden Umgang mit der Endlichkeit dokumentiert, etwa die Verbreitung der Hospize oder der Trend zum hochindividualisierten Begräbnis. Die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Caricatura Kassel ist Sörries' Abschiedsgeschenk an das Museum und zugleich eine Remniszenz an die Anfänge, denn auch zu seinem Amtsantritt gab es eine solche Cartoon-Ausstellung. Das gesamte Gespräch mit Reiner Sörries können Sie mindestens sechs Monate lang in unserer Mediathek nachhören.
Reiner Sörries im Gespräch mit Thekla Jahn
Im Museum für Sepulkralkultur in Kassel ist derzeit die Ausstellung "Einer geht noch" zu sehen. 33 Cartoonisten widmen sich darin dem Sterben und dem Tod, denn: Sobald man über etwas lachen kann, verliert es Stück für Stück seinen Schrecken. Das ist auch eine Erkenntnis, die Professor Reiner Sörries in mehr als 20 Jahren Tätigkeit als Leiter des Museums gewonnen hat. Ein Gespräch.
"2016-02-04T15:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:12.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kasseler-museum-fuer-sepulkralkultur-humorvoller-umgang-mit-100.html
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Die grünen Juwelen des Tessins
Die Brissago-Inseln (Joachim Dresdner) Dieser Motorkahn tuckert immer morgens um 10 los. Hinüber zur Insel. Eben noch hatte ich in Brissago Giuliano Branca gegenüber gesessen, auf der Terrasse des "Rivabella"-Hotels, oberhalb eines bis zum Lago Maggiore reichenden Palmengartens. Branca war bei der Eröffnung des botanischen Inselgartens dabei und Jahrzehnte in Tourismus für Brissago und die Brissago-Inseln im Amt. Er erinnert sich an die Eröffnung Anfang April 1950: "Ein Tag, es hat sooo geregnet, so stark geregnet, aber es war so voll, das muss man auch sagen und in dieser Zeit wurden viele tausende Postkarten verkauft, jetzt kauft niemand mehr eine Karte. Ich habe immer gesagt, die Brissago-Inseln sind das kleinste Dorf der Schweiz." Diese Gedanken schwinden, weil das Schiff nun nach einem knappen Kilometer auf der größeren Brissago-Insel anlegt, im nördlichen Teil des Lago Maggiore, in Sichtweite von Ascona. Vom Anlegesteg aus scheint es mir, als verstecke die Insel San Pancrazio ihre Schönheiten hinter Baumgrün. Aus dem lugt eine opulente Villa hervor.Seit Jahren kümmert sich die in Ascona geborene Brigitte Bianda um die jährlich weniger werdenden Besucher. Wohl wegen der hohen Preise fürs Übersetzen und weil die italienische Schifffahrt, die für den gesamten See zuständig ist, die Schweizer Ermäßigungen nicht akzeptiert, oder einfach nur weil's mal regnet. Der Weg führt anfangs unter schattigen Bäumen vorbei an Tafeln, auf denen die Geschichte der Besiedelung geschildert wird, die Römer, ein Kloster, lange nichts, dann eine seltsame Gräfin, die 1885 anlandete: "Mit ihrem dritten Mann, das war der Herr Richard Fleming-Saint Leger, haben sie zusammen entschieden den botanischen Garten zu gründen." Im warmen Wind des Lago Maggiore Sie legte den botanischen Garten an, eröffnete eine Poststation und stellte Puppen her. Als die Dame pleite war, griff der deutsch-jüdische Kaufmann Max Emden aus Hamburg zu. Er lebte wild und toll bis zu seinem Ende und am Ende verkaufte sein Sohn die Inseln dem umliegenden Kanton Tessin, Kommunen und den Naturschützern. Seit 1950 ist sie, immer von März bis Oktober, für Besucher erreichbar. Doch das wären, wenn ich ein Bild malte von dieser Insel, Randmotive. Die natürlichen Farben der Inselflora sind: leuchtendes Gelb, Blau, ins Violette übergehend und Rot! "Es gibt verschiedene Töne von Grün, das ist auch sehr attraktiv. Natürlich, wir haben die Farben der Blüten, der Blumen, die sehr schön sind. Wir haben auch eine Ausstellung über versteckte Farben der Pflanzen. Diese Pflanzen kann man nutzen Textilien zu färben." Brigitte Bianda, hat ihr blondes Haar zurückgesteckt, trägt ein rotes T-Shirt zur hellen Hose, der Botaniker Guido Maspoli, mit kurzen, dunklen Haaren und dunkelblauem Poloshirt. Beide führen mich in eine Welt mit Pflanzen, die in diesen Breiten selten sind. Unerwartet schnell schlagen mir die Probleme dieser Insel entgegen: Der letzte Direktor ging, weil er mehr Verwaltung als Botanik machen musste, wie er sagt, und weil er nicht verhindern konnte, dass Besucher wegblieben. Doch von der Natur her liegen die Inseln gut im warmen Wind am nördlichen Ende des Lago Maggiore. "Ich liebe diese Insel und ich werde sicher als Besucher mehr Mal pro Jahr hier sein." Weil es noch keinen neuen Direktor gibt, begleitet Brigitte und mich der Demissionierte durch die blühende Landschaft. Einmal rund um die Insel! Vom Mittelmeer über Südafrika, nach Neuseeland und Chile. Ein Hauch von Südhalbkugel in Sichtweite verschneiter Alpengipfel. Und in Sichtweite der kleinen, naturbelassenen Nachbarinsel. Sie ist nicht öffentlich zugänglich und nur mit einem Privatboot erreichbar. Prächtige Laubbäume und kuglige Kakteen Im Frühling blühen die meisten Pflanzen auf der Insel früher als auf dem Festland. Das wollen die Besucher sehen, unter fachkundiger Führung.Der Botaniker Maspoli ist gern inmitten exotischer Pflanzen: "Das ist eine Zistrose, das heißt, eine Art, die speziell aus Montpellier in Frankreich kommt, aber sehr häufig auch in anderen Gebieten des Mittelmeerraumes, diese schöne, weiße Blumen, weiß-gelb, creme." Dahinter breite, hellgraue Kissen, Stachel statt Blätter. So schützt sich die aus Kreta stammende Pflanze gegen Ziegenbiss und sichert ihre Fortpflanzung: "Die Samen fallen nach innen und so haben die Keimlinge immer gute Bedingungen zu wachsen. Sie sind geschützt gegen die Winde und es gibt immer ein wenig mehr Feuchtigkeit innen, das ist sehr angepasst an das Klima." Vor prächtigen Laubbäumen ragen zwischen kugligen Kakteen bläulich-grüne Pflanzensäulen aus dem steinigen Boden. Natterköpfe, deren Griffel, oben am Stempel des Fruchtblattes der Blüten, sind wie Schlangenzungen gespalten. Natterköpfe wachsen eigentlich auf den Kanarischen Inseln. In der Nähe füllt die Angestellte des Restaurants in der Villa ein eckiges Alu-Töpfchen mit frischen hellroten und gelben Essblüten, dazu etwas Rosmarin und Thymian. Wir kommen zu einer Pflanze, die Büschel bildet, die wie gelbe Peperoni aussehen, aber es sind Zitrusfrüchte aus Nord-Ost Indien. Buddhas Hände! Genau besehen, tatsächlich, wie eine Hand mit langen, schmalen Fingern! "Die Statue hier repräsentiert Venus und heutzutage ist es eine Ecke von Heil- und Nutzpflanzen." Das römische Bad: mit Marmorbassin, 33 Meter lang, und dem Bronzestandbild der Badenden, die der Hamburger Künstler Georg Wrba 1928 aufstellte, eine der Frauen wie sie Kaufmann Emden gern hatte: "Und die Legende sagt, dass er hier eine goldene Münze rein geworfen hat, in das römische Bad und die Dame, die sie als erste geholt hatte, konnte dann mit ihm das ganze Wochenende hier auf der Insel bleiben. Und da vorne, da wurde ganz ein berühmtes Foto gemacht mit den drei Damen, die mit nacktem Busen da vorne stehen." Da wird Emden wohl gleich drei Münzen ins Bassin geworfen und die Freizügigkeit der sechziger Jahre vorweg genommen haben. Der älteste Eukalyptus von Europa Heute, die Damen mögen älter geworden sein, heute ist das ein Heil- und Pflanzengarten, den Familien für eine Hochzeit buchen können, erklärt mir Brigitte: "Für zwei, oder drei Stunden macht man einfach da die Tür zu und das dann für eine Privatgesellschaft. Wir hatten auch schon Paare, die hier geheiratet haben mit eigenem Priester." Die Hecke und ein kurzer Mauerzug schützen bis heute vor neugierigen Blicken. Im Mauerwerk, am Ufer, ist eine Gittertür eingesetzt, durch sie geht der Blick zu den Häusern an der Uferpromenade von Ascona. Der deutsche Bundeskanzler Adenauer bezeichnete Anfang April 1956 dieses Mauerfenster als einen der schönsten Aussichtspunkte, die er in Europa je ausfindig gemacht habe. Auf der Südhälfte der Insel wird das Blattgrün der Sträucher und Bäume dichter: "Das ist der älteste Eukalyptus von Nordeuropa, eine von den Pflanzen, die wir haben, die die Baronin (circa 1885) noch gepflanzt hat, 130 Jahre alt. Eucalyptus viminalis und 30 Meter hoch." In seiner Ursprungsheimat, Südaustralien, wächst der Riese mit breiten auseinandergehenden Ästen noch höher! Unter diesem Eukalyptusbaum hat sich eine Kindergruppe mit ihren Begleiterinnen zum Picknick niedergelassen. Vielfarbige T-Shirts, Basecaps. Rucksäcke und Beutel, abgelegt am mächtigen Stamm des Baumes auf rasengrünem Grund. Die Äste werfen bizarre Schatten. Der Fußweg dahinter schlängelt sich an Sträuchern und Fächerpalmen vorbei. Wir bleiben in Australien und schauen uns einen Strauch an, der Bürsten als Blüten trägt: "Ja, hier wir sehen zum Beispiel diese "Flaschenputzer", Callistemon, das ist eine Gattung der Familie von Myrtus und Eucalyptus mit diesen sehr schönen Blüten, rot, sehr attraktiv das ist ein wenig ein Star." Wegen seiner zylinderförmigen, leuchtend roten Blüten. Nebenan hat ein Laubbaum herrlich nach Zitrusseife riechende Schalenblüten geöffnet, auch ein "Star": "Aber der kommt aus Nordamerika: "Magnolia grandiflora", großblütige Magnolie. Die Blumen sind wirklich sehr, sehr groß, weiß, sehr schön." Diese immergrüne Baumart lieben die Tessiner, sie ist eine Zierde in größeren Gärten und ein leuchtender Kontrast vor den bewaldeten Uferbergen. Auf das Südostufer zugehend, gelangen wir zu einer Palme aus Südamerika mit einem auffallend mächtigen Stamm: "In Chile brauchen sie die Pflanzen, um eine Sorte Ahornsirup zu machen, sie heißt "Miel de Palma", aber man muss die Pflanze schneiden. So eine Palme brächte bis zu 100 Liter Honig, doch nach der Ernte würde sie absterben: "Die macht auch Früchte, Orangen, so groß wie Aprikosen, man kann Konfitüre oder Chutney machen und die Samen sind essbar und schmecken wie Kokosnüsse, aber das sind ganz kleine und feine." Ein kleines Paradies mit starker Natur Wär' doch schön, denke ich, könnte dieser einzigartige Garten mit einem Partner, wie dem künftigen Nationalpark, überleben. "Interessant ist, dass dieser Park von 200 Meter mit einem subtropischen Klima bis in die hohen Berge mit einem arktischen Klima geht, in wenigen Kilometern. Die exotische Isola di Brissago kann helfen zu verstehen was in den Hügeln für ein Klima ist und das ist auch wichtig. Der (National-)Park, die Inseln sind wichtig, das ist etwas Spezielles, um den "Parco Locarnese" zu vermarkten." Wie auf einer 25 Kilometer langen Schnur ziehen sich die grünen Perlen des Tessins von der tiefsten Stelle der Schweiz, den Brissago-Inseln am Lago Maggiore, bis zum arktischen Klima der Alpengipfel hinauf. Damit diese Perlen nicht vergessen werden, sollen sie gemeinsam vermarktet werden. Einigkeit vorausgesetzt, könnte der "Parco Nazionale Locarnese" mit Locarno als Zugbegriff für die Insel und die Natur der abgeschiedenen Bergtäler ein Segen sein. Nur müsste das jeder begreifen. Für diesen Nationalpark kämpft Samantha Bourgoin, eine Macherin mit glatten, brünetten Haaren, wachen Augen und weicher, eindringlicher Stimme. Winters organisiert sie "Locarno on Ice", sommers "Jazz Ascona". Für sie ist diese Gegend ein kleines Paradies mit starker Natur: "Man weiß nicht wirklich warum, aber Lago Maggiore schenkt uns eine Ferienstimmung. Nicht nur wegen Natur, ich glaube die Stimmung ist... Ja, Natur und die Berge..." Samantha und ich biegen am Ortseingang von Locarno in das Onsernonetal ein, erklimmen kurz darauf eine Anhöhe und schauen von dort auf den See mit den beiden Brissago-Inseln: "Da unten, Inseln liegen auf 193 Meter und dann Gridone, oberhalb von Brissago, es ist 2.200 Meter. Wir können einen besonderen Nationalpark haben mit zwei Inseln, sehr schönen Inseln, und diesem besonderen Klima." Bis 2017 braucht die Projektmanagerin die Zustimmung der mitmachenden Gemeinden. Danach sollte der Bund grünes Licht geben, für einen neuen Nationalpark mit wenigen Anwohnern, ein paar Ziegen, ein bisschen Regen, aber wilder Natur und noch einigen Dörfern: "Vor drei bis vier Jahrhunderten hatte es sehr viele Einwohner. Sie mussten essen. Mit diesen steilen Bergen war es nicht möglich, es anders zu machen, man musste künstliche Terrassierungen mit diesen Mauern schaffen." Dichter wie Hermann Hesse oder Max Frisch schwärmten von dieser grünen Perle "in Fels und Ginster". Das üppige Grün mag beide getäuscht haben; die Bergtäler nahe des Lago waren trotz Kinderreichtums eine ärmliche Gegend. Mit karger Landwirtschaft auf den schmalen Hangterrassen. "Sie gehen ins Bett und sie hören den Fluss, die Vögel und einfach nichts" Vor 200 Jahren, erzählt Samantha Bourgoin, wurden Kartoffeln und Mais angepflanzt und Roggen, zum Strohflechten. Vom Fluss bis zum Monti hinauf leuchtete es Gelb. Wir halten an einem winzigen Holzkiosk, drinnen, hinter Kühlschrankglas wird Käse angeboten, frisch, von hier und in Selbstbedienung. Der nächste Stopp vor einer Brücke. Von hier geht der Blick zu den Orten am oberen Talhang, die sogenannte "Seufzerbrücke": "Die Leute haben geschaut, letzte Moment, wo ich meine Dörfer sehe, Il Ponte Isospiri."Auf halber Strecke im Onsernonetal bereitet uns Mareile Kromus Wälti aus Stade bei Hamburg einen Kaffee: Sie betreibt den Info-Point, während ihr Mann den Postbus chauffiert. Die beiden haben sich vor 10 Jahren hier niedergelassen. Auf 1.085 m, im hintersten Teil des Onsernonetals liegt Comologno. In der rustikalen Dorfkneipe treffen sie sich mittags ein paar Straßenbauarbeiter. Rita Studer kümmert sich um den "Palazzo della Barca", eines der prächtigen, von reich gewordenen Auswanderern erbauten Herrschaftshäuser. Im Winter, wenn keine Gäste darin übernachten, webt sie, oft im Kundenauftrag, mit Wolle und Filz warme bunte Hausschuhe zum Beispiel. "Langweilig ist es nicht, aber ruhig. Sie gehen ins Bett und sie hören den Fluss, die Vögel und einfach nichts. Zurechtkommen mit dem Alleinsein, können viele nicht mehr!" Das Gelände sei schwierig, habe Platz für alle und der Nationalpark sei die einzige Chance für das Tal, dass es bevölkert bleibt, fügt Frau Studer hinzu. Mit am Tisch sitzt Johannes Studer, die beiden sind nicht verwandt. Er bietet vier Ferienhäuser zum Mieten an und lockt seine Gäste mit einem merkwürdigen Angebot: "Man kann gratis bei uns leben, essen und Unterkunft, wenn man einen halben Tag mitarbeitet: Mauern bauen, Unterhaltsarbeiten an Häusern wie Türen richten, Leisten ersetzen." Unermüdlich wirbt Samantha Bourgoin Freiwillige, die bei dem Nationalprojekt mitmachen wollen. Sie weiß, ein "Parco Nazionale Locarnese" würde die Vermarktung der Region von den Brissago-Inseln bis zu den Bergdörfern bündeln und er könnte die Stimmen der wenigen Landwirte gegenüber dem Kanton Tessin und der Gesamtschweiz zusammenfassen. Angeboten wird schon mal eine Fünf-Tage-Tour durch das Parkgebiet, die auf den Brissago-Inseln beginnt: "Trekking die fiori" (Mehrtagestouren durch das Parkgebiet). Das Blumen-Trekking fängt mit einer Inselbesichtigung, Blumenbesichtigung (an den Brissago-Inseln) an. Das ist die erste Erfahrung zwischen dem niedrigsten Punkt der Schweiz bis 2.200 Meter." Bis hoch in die Berge wäre es mit dem Nationalpark besser möglich, für diese Region zu werben. Noch sind sie da, alte Steinhäuser, altes Handwerk, die alte Mühle, Ziegen und die wenigen Menschen, die das Onsernonetal am Laufen halten. Hinweis: Die Anreise des Autors wurde unterstützt durch "SWISS" und die "SBB". Der Aufenthalt wurde selbst bezahlt, einschließlich der Kurtaxe.
Von Joachim Dresdner
Die Borromäischen Inseln im italienischen Süden des Lago Maggiore sind bekannt für ihre kunstvollen Gartenanlagen. Doch auch der nördliche, Schweizer Teil des Sees, bei Ascona oder Locarno, bietet farbenfrohe Natur: auf den Brissago-Inseln. Naturschützer und Tourismusverbände wollen aus Region einen Nationalpark machen.
"2016-01-31T11:30:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:20.666000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brissago-inseln-im-lago-maggiore-die-gruenen-juwelen-des-100.html
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Der Mörder ist immer der Klempner
Die britische Autorin Hilary Mantel, hier bei der Verleihung der London Evening Standard Theatre Awards 2014 im Palladium. (imago/Matrix) Hilary Mantel wurde 1952 in England geboren. Sie studierte Jura und war als Sozialarbeiterin tätig. Fünf Jahre lang lebte sie in Botswana, vier in Dschidda in Saudi-Arabien. Für ihren Roman "Wölfe" erhielt sie 2009 den Booker Preis; vier Jahre später noch einmal für die Fortsetzung "Falken". Kritiker haben sie dafür als die "Großmeisterin des ausufernden historischen Romans" bezeichnet. Im Jahr 2014 ernannte Königin Elisabeth II sie zur Dame Commander des Most Excellent Order of the British Empire; ihr Bild hängt in der British Library. Staatstragender ist kaum denkbar. Die Titelgeschichte ihrer Sammlung von Erzählungen aber klingt weniger nach Erhalt als nach Umsturz: "Die Ermordung von Margaret Thatcher" Margaret Thatcher wird demnach am 6. August 1983 erschossen. Die Ich-Erzählerin berichtet, welchen Anteil sie an diesem Attentat hat - einen zunächst ganz unfreiwilligen Anteil nämlich: Sie wohnt in Windsor, und zwar in einer "Straße mit hohen Häusern, die Fassaden wie mit weißem Zuckerguss bestrichen, das Mauerwerk honigfarben. [...] Im Sommer weht Musik aus offenen Fenstern: Vivaldi, Mozart, Bach. [...] Aus einem hochgelegenen Fenster über die Stadt sehend (wie ich es am Tag der Ermordung getan habe), spürt man die Nähe von Festung und Burg." Eigentlich wartet die Ich-Erzählerin in ihrer Wohnung auf den Installateur, einen Handwerker, der ihr von einer Zufallsbekanntschaft empfohlen worden ist. Er soll den Boiler reparieren. Doch der Mann, den die Erzählerin für den Installateur hält, ist in Wirklichkeit ein Attentäter. Drei Tage zuvor hat sich die Premierministerin in das gegenüberliegende Krankenhaus begeben, um sich einer Augenoperation zu unterziehen. Vom Fenster der Ich-Erzählerin hat man einen guten Blick auf die Klinik.Und freies Schussfeld. Warum will er Thatcher töten? Nur allmählich wird der Bewohnerin klar, welches Ziel dieser Mann tatsächlich verfolgt. Zunächst hält sie ihn noch für einen Fotografen auf der Suche nach einem Schnappschuss von der Premierministerin - Gelegenheit für eine schwarze Komödie in Miniatur: "'Wie viel bekommen Sie dafür?''Lebenslänglich ohne Bewährung', sagte er.Ich lachte: 'Es ist kein Verbrechen.''Das finde ich auch.'" Dann wird ihr die mörderische Absicht klar. Warum er Thatcher töten will? "'Drei Millionen Arbeitslose', sagte er." Mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt lässt sich die Ich-Erzählerin auf die Vorstellung ein, welche Wirkung wohl der Anschlag, wenn er denn gelänge, auf ihr Land hätte: "Ich dachte an die Touristentrauben, die sich gegenseitig von den Bürgersteigen drängten und um Andenkenblech und aufziehbare Beefeater kämpften. Es könnte ein anderes Land sein." Für die Premierministerien bringt sie kein Mitgefühl auf: "Ich dachte, sie hat keine Träne in sich. Nicht für die Mutter im Regen an der Bushaltestelle oder für den Seemann, der auf dem Meer verbrennt. Sie schläft vier Stunden pro Nacht und lebt von Whiskydämpfen und dem Eisen im Blut ihrer Beute." Die Ich-Erzählerin lässt nicht nur alles geschehen, sie kommt dem Attentäter zu Hilfe, indem sie ihm eine Tür öffnet, durch die er fliehen kann. Dann legt der Schütze an und wird Margaret Thatcher erschießen. Makellos und unverbraucht Mantels Geschichte frappiert. Ihre Sprache geht ins feinste Detail und erfasst Windsor, seine Mitbringsel-Buden und die Gegebenheiten vor Ort mit einer fotorealistischen Präzision. Ihr Stil ist makellos; jeder Satz klingt unerhört und unverbraucht. Doch die Welt, von der sie in dieser Sprache erzählt, ist eigenartig fragil. Einem Teil der Ich-Erzählerin bleibt durchaus bewusst, dass es in Wirklichkeit keinen solchen Anschlag auf Margaret Thatcher gegeben hat. Aber was heißt das schon für die Wirklichkeit? "Die Geschichte hätte immer auch anders sein können. Denn es gibt die Zeit, den Ort, die schwarze Gelegenheit: den Tag, die Stunde, die Neigung des Lichts". Mantels Erzählungen tragen Titel wie "Endstation", "Das Herz versagt ohne Vorwarnung" oder "Wie soll ich Sie erkennen?" Das klingt wie einfach aus dem Leben gegriffen und bereitet nicht wirklich auf die Doppelbödigkeit vor, auf die Abgründigkeit, die sich in den Geschichten auftut. Mantel erzählt mit der größten Selbstverständlichkeit von den ungeheuerlichsten Ereignissen. Von Ereignissen allerdings, die, trügen sie sich wirklich zu, das Radar der öffentlichen Wahrnehmung meist unterlaufen würden: Eine Ehe endet auf makabre Art tödlich; ein Gast nistet sich ungerufen ein im Leben der Gastgeberin; eine Frau sieht an einem verregneten Januarmorgen ihren toten Vater in einem Zug aus dem Bahnhof Clapham Junction fahren, Richtung Waterloo, und klagt: "Ich hatte nicht gewusst [...], dass die Toten losgelassen worden waren." Tatsächlich erwecken Mantels Erzählungen den Eindruck, als würde sich hier die Welt Schraubendrehung um Schraubendrehung entstellen. "Es könnte ein anderes Land sein." Ja, und eine andere Welt. Zu der die Autorin die Tür einen Spalt breit öffnet. Hilary Mantel: "Die Ermordung Margaret Thatchers"158 Seiten, DuMont Buchverlag Köln 2014, 18,00 Euro
Von Hartmut Kasper
Hilary Mantel, die "Großmeisterin des ausufernden historischen Romans", kann auch kurz. Ihr neues Buch "Die Ermordung von Margaret Thatcher" ist eine Sammlung von Erzählungen, die mit der größten Selbstverständlichkeit und stilistisch makellos die ungeheuerlichsten Ereignisse ausbreitet.
"2015-07-07T16:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:46:47.268000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hilary-mantel-der-moerder-ist-immer-der-klempner-100.html
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Dänemark gedenkt der Terroropfer von 2015
Erinnerung an die Anschläge vor einem Jahr in Kopenhagen. (dpa / picture alliance / Claus Bech) François Zimeray hat den Terror überlebt. Der französische Botschafter war vor einem Jahr Gast im Kopenhagener Kulturcafé, als der Attentäter schoss, und er war gestern Gast der Gedenkfeier im dänischen Parlament. "Dänemark und Frankreich sind im vergangenen Jahr von den gleichen Feinden angegriffen worden, weil wir die gleichen Werte haben und die gleiche Art, zu leben." Unter den Rednern war auch Parlamentspräsidentin Pia Kjærsgaard von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, sie schloss sich dem Gedanken des Botschafters an. "Demokratie ist eine Lebensweise, unsere Art, zusammenzuleben. An diesem Jahrestag werden wir daran erinnert, wie verletzlich sie sein kann. Deswegen müssen wir jeden Tag für die Demokratie kämpfen, damit wir sie an die nächste Generation weitergeben können. Wir wissen, dass der Preis der Freiheit hoch sein kann. Manche zahlen den höchsten Preis, das taten Finn Nørgaard und Dan Uzan." "Es passiert etwas, wenn Menschen sich treffen" Die beiden Opfer des Attentäters Omar El-Hussein, der erst den Filmemacher Nørgaard vor einem Kulturcafé und später dann den jüdischen Wachmann Uzan vor einer Synagoge getötet hatte, bevor er selbst von der Polizei gestellt und in einem Feuergefecht erschossen worden war. Dänemark ist nach den Worten von Ministerpräsident Lars Lökke Rasmussen weiter vom Terror bedroht. Umso wichtiger sei es, der Anschläge von 2015 zu gedenken, sie auf diese Weise immer weiter zu verarbeiten: "Es passiert etwas, wenn Menschen sich treffen, wie sie das heute tun. Sie bringen Dinge in Gang, handeln, wecken Hoffnung und bleiben nicht stecken in Wut und Verzweiflung über das, was sie im vergangenen Jahr erlebt hat. Sie entzünden ein Licht." Genauer: tausende Lichter. Kerzen, die am Abend den Weg vom Kulturcafé zur Synagoge säumten. Jede für sich gedacht auch als Zeichen für ein unerschrockenes Dänemark, dass sich unter der Terrorgefahr nicht "einigelt". "Wir haben uns gerade darüber unterhalten. Nein, ich denke, wir haben unsere Gewohnheiten nicht verändert. Das haben die meisten nicht getan. Aber so ganz kurz nach dem Attentat hatte es mich schon mitgenommen, vor allem die vielen schwer bewaffneten Polizisten zu sehen, das waren wir hier in Dänemark einfach nicht gewohnt." Auch wenn die meisten der vielen Teilnehmer des Gedenkmarsches gestern Abend seine Meinung teilen. Ihr Leben hat sich vielleicht nicht wirklich verändert, aber ihr Land schon. Im vergangenen Sommer hat es einen Regierungswechsel gegeben. Die Sozialdemokraten wurden abgelöst. Seither ist eine von den offen fremdenfeindlichen Rechtspopulisten der Dänischen Volkspartei unterstützte liberal-konservative Minderheitsregierung im Amt. Sie hat bereits mehrfach das dänische Asyl- und Ausländerrecht verschärft und in den Augen ihrer Kritiker ein "Klima der Kälte" geschaffen.
Von Carsten Schmiester
Am 14. Februar 2015 tötete ein junger Däne mit palästinensischen Wurzeln in Kopenhagen zwei Menschen. Ein Jahr nach dem Anschlag haben nun Tausende Dänen der beiden Opfern gedacht - mit einem Schweigemarsch und einem Kulturcafé.
"2016-02-15T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:13:50.435000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kopenhagen-daenemark-gedenkt-der-terroropfer-von-100.html
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Schwerpunktthema: Tumore von Gebärmutter und Eierstöcken
Experten schätzen, dass etwa jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens Myome entwickelt. Rieten Ärzte früher häufig zu einer vollständigen Entfernung der Gebärmutter, so sind sie heute vorsichtiger. Inzwischen gibt es auch schonende Behandlungsmethoden. Martin Winkelheide im Gespräch mit Prof. Dr. Walter Kuhn und Brigitte Eggebrecht über gutartige und bösartige Tumore von Gebärmutter und Eierstöcken: Warum wird Eierstockkrebs oft sehr spät entdeckt? Was können frühe Warnzeichen sein? Warum muss in der Regel sehr eingreifend operiert werden? Welche Rolle spielt eine Chemotherapie bei der Behandlung? Wie häufig sollten Nachsorgeuntersuchungen stattfinden? Welche Informationen und Hilfen bekommen Patientinnen in Selbsthilfegruppen? Studiogäste: - Brigitte Eggebrecht von der Selbsthilfegruppe Eierstock- und Gebärmutterkrebs in Berlin - Prof. Dr. Walter Kuhn, Direktor der Universitäts-Frauenklinik BonnAdresse:Selbsthilfegruppe Eierstock- und Gebärmutterkrebs im Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. Holsteinische Strasse 30 12161 Berlin Tel.: 030 - 85 99 51 30 Internet: Frauenselbsthilfe nach Krebs e.V.Deutsche Krebshilfe e.V.Krebsinformationsdienst am Deutschen Krebsforschungszentrum DKFZ, HeidelbergDeutsche Krebsgesellschaft e.V.Inka - das Informationsnetz für Krebspatienten und AngehörigeInformationen aus der Medizin:Gefährliche Unterversorgung:Die Folgen einer schlechten Vitamin - D - Versorgung werden häufig unterschätztInterview mit Prof. Hans Konrad Biesalski, Direktor des Instituts für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität HohenheimNeue Herzklappe ohne Vollnarkose:Auch ältere Patienten mit Vorerkrankungen können einen Herzklappenersatz bekommenBeitrag Michael EngelWenn der Kopfschmerz sich verändert:Im Alter nehmen Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen zuInterview mit Dr.Veronika Reinisch, Neurologische Klinik Bad AiblingRadiolexikon: BallaststoffeAutorin: Renate Rutta
Moderation: Martin Winkelheide
Blutungen und Krämpfe können Zeichen sein für einen gutartigen Tumor der Gebärmutter: ein so genanntes "Myom". Rieten Ärzte früher häufig zu einer vollständigen Entfernung der Gebärmutter, so sind sie heute vorsichtiger. Inzwischen gibt es auch schonende Behandlungsmethoden.
"2009-04-07T10:10:00+02:00"
"2020-02-03T10:07:24.013000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwerpunktthema-tumore-von-gebaermutter-und-eierstoecken-100.html
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Im Anfang war der Zweifel
Ist er es oder ist er es nicht? Der Netflix-Messias (Netflix / Hiba Judeh) Der Messias spricht – und zwar Arabisch. Keine Geschichte wurde wohl so oft erzählt wie die des Jesus von Nazareth – doch gleich zu Beginn überrascht die Netflix-Serie "Messiah": denn dass der Erlöser heute ausgerechnet in Syrien erscheint, das hätten wohl die wenigsten erwartet - zumindest im westlichen Publikum. Und der Heilsbringer legt auch gleich richtig los: Er scheint den Islamischen Staat im Alleingang zu besiegen – mit einem Sandsturm. Die Massen jubeln, nennen ihn "al-Masih", das arabische Wort für Messias, und er führt sie in die Wüste. Und dann zum heiligen Land, nach Israel. Eine wahre Sintflut biblischer Bilder und Anspielungen. Die Serie trägt richtig dick auf, aber das weiß sie auch selbst, spielt damit: "Wandelt auf diesem scheiß Wasser." / "Ist ein bisschen klischeehaft." / "Schon, aber hat uns trotzdem alle ziemlich überrascht." Wunder oder Zaubertricks? Und der Messias sieht natürlich nicht nur so aus, wie Jesus eben meistens aussieht - nahöstlicher Typ Anfang 30, lange Haare, Vollbart. Er redet auch wie Jesus in der Bibel, nennt sich selbst "das Wort" oder "die Botschaft", und seinen Vater nennt er Gott. "Wenn er wirklich Gott wäre, brauchte er keine Zaubertricks." / "Jesus hat doch genauso gehandelt, oder? Er lief rum und zeigte Tricks. So findet man Fans." Der Serien-Jesus wird ausgerechnet von einer Jüdin verfolgt, einer Agentin der CIA. "I'm what you might call a follower of yours. As in, I have been following you: Syria, Jordan, Israel, Mexico." / "You are CIA." Antijüdische Stereotype? Eine Jüdin gegen Jesus: eine Anspielung auf den innerjüdischen Widerstand gegen Jesus im Neuen Testament – und nah dran an antijüdischen Stereotypen: die "verstockten Juden", die nicht an den Heiland glauben. Doch auch das wissen die Serienmacher offenbar selbst: "Was war Jesus letztlich? Bloß ein populistischer Politiker, der ein Ding mit dem Römischen Reich laufen hatte." / "Wow. Gesprochen wie eine echte Jüdin." Aber die Serie spielt eben nicht nur mit dem Jesus des Christentums und mit dem Messias des Judentums. Sondern auch mit dem Islam, und das ist eine der großen Stärken von "Messiah": ein interreligiöser Coup, der die ganze Handlung trägt. Denn auch im Islam gibt es die Vorstellung, dass Jesus am Ende der Zeit zurückkehren wird. Auf Arabisch heißt er "Isa", oder eben "Al-Masih". Der Messias weckt neue Hoffnungen Der spricht in der Serie nicht nur Arabisch. Er spricht auch Hebräisch und Englisch – oder Deutsch, wenn man die Tonspur umstellt. Und auf einmal ist er in Texas und betet in einer Baptistenkirche. "Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war." / "Und der da kommt." Die Menschen wissen nicht, wo al-Masih herkommt und was er vorhat. Doch sie folgen ihm: Christinnen, Muslime, Jüdinnen, Atheisten. Al-Masih überwindet Grenzen, und er weckt neue Hoffnungen. "Es ist nicht wichtig, ob er echt ist. Er ist gut." "Er ist nicht der scheiß Messias" Aber er spaltet die Menschen auch, wie es auch Jesus getan hat – und wie es wohl das Los aller charismatischen religiösen Persönlichkeiten ist. Sie spalten – in Anhänger und Gegnerinnen. "Ich weiß nicht, wer er ist oder was er will. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Er ist nicht der scheiß Messias." Und dann sind da noch die Zweifelnden – vom Flüchtling bis zum Präsidenten. Die ganze Serie ist voller Zweifel, das ist vielleicht ihr eigentliches Thema. Menschen werden von Ungläubigen zu Al-Masih-Anhängern. Andere fallen vom neuen Glauben schon bald wieder ab. Ihre Hoffnungen werden enttäuscht, sie verzweifeln. Und die Serie sät den Zweifel nicht nur in den Figuren. Auch mit Worten und Bildern: Sind die Wunder "echt", oder bloß Zufälle und Tricks? Ode an den Zweifel "Al-Masih", das kann im Islam auch bedeuten: der "falsche Messias", "al-Masih ad-daddschal". Der soll vor dem echten Messias kommen, um die Menschen zu verführen. Ähnlich wie der Antichrist im Christentum, oder Armilus im Judentum. Ist der Serien-Messias als der Auserwählte oder ein Betrüger? Oder ist er psychisch krank? Oder eine neue Art von Terrorist? "Gibt es einen besseren Erfüllungsgehilfen des Chaos als einen neuen Messias?" Als Zuschauer zweifelt man mit. Und man grübelt über die Messias-Figur im Allgemeinen. Wie entstehen Propheten, Heilsbringer, Religionsstifter? Manche würden sagen: Gott schickt sie. Aber entscheiden nicht letztlich die Menschen über Erfolg oder Misserfolg eines möglichen Messias? Durch ihren Glauben oder ihren Unglauben. Wer Messias sein will, der muss ausreichend Menschen von sich überzeugen. Sein wahrer Gegner ist der Zweifel. Und "Messiah" lobpreist genau diesen Zweifel.
Von Christian Röther
Was wäre, wenn Jesus heute wiederkommen würde? Diese Frage stellt die Netflix-Serie "Messiah". Ein Wundertäter schart die Menschen um sich und zieht zugleich die Zweifel auf sich. Ist er wirklich der Erlöser, oder will er Chaos stiften? Das Publikum muss mitzweifeln.
"2020-01-23T09:35:00+01:00"
"2020-02-12T14:48:30.602000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/netflix-serie-messiah-im-anfang-war-der-zweifel-100.html
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"Da laufen die Fahrgäste der Deutschen Bahn in Scharen weg"
Sören Brinkmann: Die Probleme verschärfen sich, denn bisher gab es vor allem abends und nachts Zugausfälle und Umleitungen, betroffen vor allem die Fernzüge, die den Mainzer Hauptbahnhof zu den Tageszeiten nicht mehr angefahren haben. Inzwischen gelten die Einschränkungen ganztägig und treffen auch die Pendler im Rhein-Main-Gebiet. Immerhin wird der Bahnhof von Tausenden Fahrgästen zum Beispiel auf dem Weg von und nach Frankfurt, Wiesbaden oder Darmstadt genutzt. – Vor der Sendung habe ich mit Heidi Tischmann vom Verkehrsclub Deutschland gesprochen, sie ist dort die Bahnexpertin, und ich habe sie gefragt, was die Kunden jetzt beachten sollten.Heidi Tischmann: Mainz ist ja sowieso schon schlecht angebunden, zumindest im Fernverkehr, und dieses aktuelle Problem betrifft jetzt ja auch den Nahverkehr. Das ist eine Situation, die wirklich nicht tragbar ist. Die Kunden haben wenig Möglichkeiten, die Fahrgäste. Sie können Fahrgemeinschaften bilden, um im Nahverkehr zu ihrer Arbeitsstätte gelangen zu können, und von der Deutschen Bahn erwarten wir, dass sie zumindest Schienenersatzverkehr aktuell anbietet, dass die Leute zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein können.Brinkmann: Wie ist es mit Schadenersatzansprüchen?Tischmann: In diesem Fall haben die Fahrgäste leider keinen Anspruch auf Erstattung. Natürlich werden sie ihre Monatskarte, die sie jetzt nicht nutzen können im Nahverkehr, zurückgeben können und das Geld zurück verlangen können, das auf jeden Fall. Aber sie können nicht irgendwelche Erstattungen verlangen dafür, dass der Zug nicht fährt.Brinkmann: Nun wird es durch die Berichterstattung wohl inzwischen kaum noch Menschen geben, die zum Mainzer Hauptbahnhof kommen und überrascht sind von den Zugausfällen. Sollten die Leute überhaupt noch wie gewohnt und ohne Vorplanung zum Hauptbahnhof dort kommen?Tischmann: Inzwischen hat die Deutsche Bahn gelernt, das muss man ihr lassen. Ihre Informationspolitik ist ja schon besser geworden. Man kann im Internet gucken, ob ein Zug verspätet ankommt oder überhaupt fährt. Ich denke schon, Sie haben recht mit Ihrer Frage. Die Leute können sich wahrscheinlich über die Medien besser informieren zurzeit, dann müssen sie gar nicht zum Bahnhof gehen. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dieser Zustand, der jetzt in Mainz herrscht, noch lange vorhält, weil das kann sich ein Unternehmen Deutsche Bahn eigentlich überhaupt nicht leisten. Das Image der Deutschen Bahn ist sowieso schon schlecht, gerade auch mit den Zugausfällen durch das Hochwasser, und jetzt dieses noch durch den Personalmangel in Mainz. Das ist wirklich ein ganz, ganz schlechtes Image für die Deutsche Bahn.Brinkmann: Sie haben jetzt das Image mehrfach angesprochen. Abgesehen davon und vom Schaden für das Image, könnte so ein Fall die Bahn auch langfristig Kunden kosten?Tischmann: Auf jeden Fall. Man sieht das jetzt ja auch auf der Strecke zwischen Berlin und Hannover, die gesperrt ist wegen des Hochwassers. Da laufen die Fahrgäste der Deutschen Bahn in Scharen weg, weil sie eine längere Fahrzeit haben, weil sie nach Wolfsburg ja überhaupt nicht mehr kommen mit dem Fernverkehr. Das ist für die Deutsche Bahn ein ganz schlechtes Zeichen. Unsere Kritik geht aber auch an die Eigentümerin der Deutschen Bahn. Das ist ja die Bundesregierung. Die Deutsche Bahn, das Unternehmen, ist ja zu 100 Prozent im Eigentum der öffentlichen Hand. Die öffentliche Hand, also die Bundesregierung, muss sich viel mehr um ihr Unternehmen Deutsche Bahn kümmern, dass sie wieder ein leistungsfähiges Unternehmen ist und wird.Brinkmann: Es ist auffällig, dass es aktuell jetzt mehrere Baustellen gibt. Sie haben die Eisenbahnbrücke angesprochen zwischen Hannover und Berlin, jetzt dieser Problemfall in Mainz. Sie meinen, das ist hausgemacht?Tischmann: Es ist schon so. Was die Deutsche Bahn ja schon lange zugibt, dass sie nicht genügend Züge hat. Das ist auch ein Problem, dass zum Beispiel die Reservierungen nicht mehr funktionieren, dass die Züge anders gereiht sind als angekündigt. Es gibt so viele Probleme gerade bei der Deutschen Bahn, weil die Züge fehlen, durch das Hochwasser, dadurch, dass sie eine schlechte Personalplanung haben. Das ist insgesamt ein ganz, ganz schlechtes Angebot, was die Deutsche Bahn AG ihren Fahrgästen gerade bietet, und da möchte ich gerne noch mal sagen: Es ist ja demnächst Fahrplanwechsel im Dezember und Herr Grube hat ja schon angekündigt, dass die Fahrpreise erhöht werden wegen der gestiegenen Energiekosten, und das kann die Deutsche Bahn sich in diesem Jahr wirklich überhaupt nicht leisten, in diesem Fall auch noch die Fahrpreise anzuheben.Brinkmann: Die Bahn ist zu 100 Prozent im Besitz des Bundes. Was muss der Eigentümer machen?Tischmann: Die Bundesregierung interessiert sich ja für den Bahnverkehr eigentlich überhaupt nicht. Sie hat vor 20 Jahren im Zuge der Bahnreform diesem Unternehmen Deutsche Bahn diese Aufgabe erteilt, den Fernverkehr zu organisieren und das zur Zufriedenheit der Fahrgäste zu machen, und dann hat sie sich überhaupt nicht mehr darum gekümmert, und das sollte sie viel mehr in die Hand nehmen. Die Vorstellung des VCD ist auch, im Nahverkehr wird ja der Nahverkehr auf der Schiene auch von den Bundesländern bestellt, und das gleiche wünschen wir uns im Fernverkehr auf der Bundesebene, dass die Bundesebene organisiert, der Fernverkehr findet dort und dort statt. Zum Beispiel Mainz ist ja fast abgehängt vom Fernverkehr. Dass solche "Randgebiete" auch weiterhin vom Fernverkehr angefahren werden, dafür hat der Bund zum Beispiel zu sorgen.Brinkmann: Der Verkehrsclub Deutschland fordert mehr Engagement des Bundes beim Betrieb der Eisenbahn und als Eigentümer der Deutschen Bahn AG – ein Gespräch mit Heidi Tischmann vom Verkehrsclub Deutschland.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heidi Tischmann im Gespräch mit Sören Brinkmann
Die Zugausfälle in Mainz schaden dem ohnehin schlechten Image der Deutschen Bahn, meint Heidi Tischmann von Verkehrsclub Deutschland. Sie glaubt, dass der Staatskonzern langfristig Kunden verliert. Kunden blieben kaum Möglichkeiten, wegen der Zugausfälle Ansprüche zu erheben.
"2013-08-12T11:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:30:30.301000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/da-laufen-die-fahrgaeste-der-deutschen-bahn-in-scharen-weg-100.html
503
"Standards exportieren, nicht senken "
Aktivisten protestieren vor dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel gegen das geplante Freihandelsabkommen. (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet) Das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada werde zeigen, dass es gelungen sei, europäische Standards auch auf die kanadische Produktion zu übertragen. "Es steht drin, was wir wollen", versicherte Caspary mit Blick auf den zwischen der EU und Kanada ausgehandelten Vertragstext, der morgen veröffentlicht werden soll . Gleichzeitig räumte Caspary ein: Man wolle das Abkommen nicht um jeden Preis. Wenn die genauen Inhalte vorlägen, beginne das Ratifizierungsverfahren. Es bleibe dann genügend Zeit, um mit Bürgern, der Industrie, Gewerkschaften und im Parlament zu diskutieren. "Ob ich dem Abkommen am Ende zustimme, wird davon abhängen, ob wir das bekommen, was wir bestellt haben oder ob sich ein trojanisches Pferd darin versteckt." Dasselbe gelte für das Abkommen TTIP mit den USA. Man wolle Arbeitsplätze sichern, nicht die Bürger verärgern. Auch hier würden keine Verbraucherschutzkriterien gesenkt. Das Interview in voller Länge: Sandra Schulz: Ohne das Chlorhühnchen kommen wir heute Morgen hier im Deutschlandfunk auch nicht aus, denn in der Diskussion um das umstrittene Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA war und ist das Chlorhühnchen omnipräsent als eines von zahlreichen Argumenten gegen ein Abkommen, das kurz TTIP genannt wird - das steht kurz für Transatlantic Trade and Investment Partnership -, an dem es viel Kritik und gegen das es viele Vorbehalte gibt und bei dem viele Verbraucher fürchten, die Verhandler, die sich konsequent hinter verschlossenen Türen treffen, könnten möglicherweise ihre Interessen nicht ganz so wichtig nehmen wie die Interessen der Industrie. Mitgehört hat der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary, Sprecher der EVP-Fraktion im Ausschuss für internationalen Handel. Guten Morgen! Daniel Caspary: Guten Morgen, Frau Schulz! Schulz: Herr Caspary, warum ist das Chlorhühnchen zur Chiffre für TTIP geworden? Caspary: Weil es die Gegner eines solchen Abkommens wunderbar geschafft haben, aus meiner Sicht weitestgehend unbegründete Ängste zu schüren. Man kann, glaube ich, mit diesem Thema Chlorhühnchen oder mit dem Thema Hormonfleisch oder genveränderte Lebensmittel unglaublich schlechte Bauchgefühle bei den Bürgerinnen und Bürgern wecken. Aber klar ist: Ich kenne keine ernst zu nehmende Kraft im Europäischen Parlament, die eine Absenkung von Verbraucherschutzstandards akzeptieren würde. Schulz: Schuld sind in dem Fall die Kritiker und nicht etwa die Befürworter, weil ihre Überzeugungsarbeit nicht gut genug war? Caspary: Wissen Sie, das Erste ist: Schlechte Nachrichten sind ja oft die besseren Nachrichten. Ich glaube, dass wir schon versuchen, für dieses Abkommen zu werben, und gerade bei den Themen, über die wir gerade gesprochen haben. Wir haben das Abkommen mit Kanada, das jetzt morgen vorgestellt werden soll, und wir haben in diesem Abkommen bewiesen, dass wir genau die Sorgen aufgreifen. Nehmen wir das Thema Hormonfleisch: Die Kanadier züchten Rinder, indem sie denen Hormone spritzen, damit die schneller wachsen. Wir wollen das nicht, vor allem aus Tierschutzgründen. Und wir haben es jetzt geschafft in diesem Abkommen, dass uns die Kanadier zwar in Zukunft Rindfleisch verkaufen dürfen, aber sie müssen sicherstellen und wir dürfen das dann auch kontrollieren, dass dieses Rindfleisch, das uns die Kanadier schicken, nur aus Betrieben stammen darf, wo die Tiere eben nicht mit Hormonen behandelt werden. Das ist doch genau das, was wir versprechen. Wir wollen unsere Standards exportieren und nicht die Standards senken. "Verhandlungen können nicht immer transparent ablaufen" Schulz: Aber die Frage zum Verfahren: Warum laufen die Verhandlungen, wenn das angeblich alles so transparent läuft, hinter verschlossenen Türen? Caspary: Die Verhandlungen laufen viel, viel transparenter, als das, glaube ich, weitgehend angenommen wird. Sie können sich, glaube ich, zu jeder wesentlichen Frage umfassend informieren, wenn Sie sich zum Beispiel die Homepage der Europäischen Kommission anschauen. Da gibt es zu jeder Frage eine Antwort, eine gute Antwort. Aber das Problem ist bei Verhandlungen: Verhandlungen können nicht immer transparent stattfinden. Wenn wir alles transparent hinlegen, dann würden wir ja zum Beispiel in allen Bereichen hinlegen, wie weit sind wir als Europäische Union bereit zu gehen, wie weit sind die Amerikaner bereit zu gehen. Da kann man nicht verhandeln und deswegen läuft das eben so, dass wir auf der europäischen Seite unseren Verhandlern Vorgaben gemacht haben, das sogenannte Verhandlungsmandat. Da stehen unsere roten Linien drin. Und dann müssen die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden, wie das überall üblich ist. Nehmen wir zum Beispiel Tarifverhandlungen, wo ja auch die Arbeitgeberseite ihren Verhandlern Vorgaben macht, die Arbeitnehmerseite macht ihren Verhandlern Vorgaben, und dann finden natürlich die Tarifverhandlungen auch hinter verschlossenen Türen statt. Anders kann man ja gar nicht verhandeln. Und am Ende - und das ist ganz wichtig ... Schulz: Die Dokumente, die Sie ansprechen, die einsehbar sind, das sind ja alles schon Interpretationen. Sogar der Vertragstext von CETA, das jetzt vor dem Abschluss steht, das ist bisher offiziell nicht zu bekommen. Wie können Verbraucher dann überprüfen, dass Verbraucherschutzvorschriften nicht aufgeweicht werden? "Noch ausreichend Zeit zur Diskussion" Caspary: Genau, es ist so, wie Sie sagen. Der Text von CETA ist formal noch nicht veröffentlicht. Aber jetzt werden die Verhandlungen abgeschlossen sein. Dann muss der Text auch schnellstmöglich veröffentlicht werden. Und ganz wichtig ist: Der Text tritt dann ja noch nicht in Kraft, sondern jetzt beginnt das Ratifizierungsverfahren. Das heißt, jetzt, wenn der Text da ist, der Text wird relevant für die Bürgerinnen und Bürger sein. Da haben wir ausreichend Zeit, mit den Bürgern, mit Verbraucherschutzorganisationen, mit der Industrie, mit Gewerkschaften, mit allen Interessierten darüber zu diskutieren. Wir werden Anhörungen im Europäischen Parlament haben, in den nationalen Parlamenten, die aus meiner Sicht diesem Abkommen auch zustimmen müssen, und dann werden wir prüfen, stimmt dieses Kanada-Abkommen mit dem überein, was wir bestellt haben, oder stehen da Dinge drin, die wir nicht wollen. Und deswegen: Ich bin zwar grundsätzlich für dieses Abkommen, aber ob ich dem Abkommen am Ende zustimmen werde und ob auch die Mehrheit im Europäischen Parlament zustimmen wird, wird ja auch davon abhängen, ob wir das bekommen, was wir bestellt haben, oder ob da doch irgendwo ein trojanisches Pferd versteckt ist. Schulz: Sie haben uns gerade gesagt, dass die Verbraucherschutzrechte auf keinen Fall aufgeweicht werden, dass alle Schutzstandards so hoch bleiben, wie sie bisher sind. Wie gesagt, man kann es im Moment noch nicht offiziell überprüfen. Es gibt aber zumindest Anhaltspunkte. Wir hören mal einen kurzen Auszug aus einem Gespräch, das der Kollege Stephan Stuchlik vom WDR für eine ARD-Dokumentation geführt hat: O-Ton ARD-Doku:##"Frage: Von welcher Organisation sind Sie?Antwort: Ich bin von der europäischen Chemieindustrie.Frage: Sind Sie mit dem Verlauf der Verhandlungen zufrieden?Antwort: Der Verlauf sieht gut aus. Ja!Frage: Haben Sie genügend Kontakt mit den Leuten in der Kommission, die die Verhandlungen führen?Antwort: Das ist ein sehr offener Prozess. Nein, wir haben keine Beschwerden.Frage: Fühlen Sie sich von der europäischen Kommission gut genug informiert?Antwort: Ja! Wirklich!Frage: Gibt es genügend Kontakt zwischen Ihnen und den Unterhändlern, also den amerikanischen und der europäischen Kommission?Antwort: Das ist ein ziemlich offener Austausch, ganz allgemein."## "Keine Senkung von Verbraucherschutzstandards" Schulz: Der Chemielobbyist, den wir gerade gehört haben, der hat überhaupt keinen Grund zur Klage. Und die europäischen Bürger laufen Sturm gegen ein Abkommen. Was ist da schief gelaufen? Caspary: Ich glaube, der Chemielobbyist, der kümmert sich regelmäßig um dieses Thema. Er wird dafür bezahlt, es ist seine Aufgabe. Und ich habe den Eindruck, die allermeisten Bürger wollen doch gar nicht den Kontakt zu Verhandlern oder den Kontakt zu amerikanischen Verhandlern, sondern die allermeisten Bürger wollen sich informieren. Und auch bei dem Kanada-Abkommen gilt: Wer sich über das Kanada-Abkommen informieren möchte, der kann sich, glaube ich, sehr gut informieren. Und die Frage ist: Was ist denn Transparenz? Transparenz ist doch nicht, dass 500 Millionen Europäer alle eine Europalette voll Papier vors Haus geladen bekommen, mit der sie gar nichts anfangen können, sondern Transparenz bedeutet doch, dass Informationen so dargestellt werden, dass es auch der Laie verstehen kann. Und bei dem Kanada-Abkommen gilt auch: Es wird keine Senkung von Verbraucherschutzstandards geben. Wir haben es erreicht in den Verhandlungen, dass wie am Beispiel Hormonfleisch die Kanadier unsere Standards übernehmen, und deswegen ist einfach meine Bitte, wir sollten jetzt die nächsten zwei Jahre nutzen, so lang wird der Ratifizierungsprozess aus meiner Sicht gehen, um wirklich zu prüfen mit der Öffentlichkeit, mit allen interessierten Kräften, steht in dem Abkommen das drin, was wir wollen. Auch wir als EVP-Fraktion wollen das Abkommen nicht um jeden Preis. Wir wollen keine Senkung von Verbraucherschutzstandards. Wir wollen keine Zwangsprivatisierung der Wasserversorgung. Wir wollen aber Marktzugang in Kanada, wir wollen, dass unsere Unternehmen Arbeitsplätze schaffen können, weil sie besseren Marktzugang haben, weil sie billigere Vorprodukte erreichen können. Wir wollen hier Arbeitsplätze sichern und das Angebot vergrößern für die Bürgerinnen und Bürger und nicht die Bürger verärgern. Schulz: Das heißt, eine ganz kurze Frage, die Sie mit einem Ja oder Nein beantworten können: Wenn doch was schlecht läuft bei TTIP oder CETA, dann wird das von Europa gestoppt, ja oder nein? Caspary: Dann wird es gestoppt und muss nachgebessert werden. Schulz: ... , sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Daniel Caspary, heute hier in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Vielen Dank Ihnen. Caspary: Vielen Dank Ihnen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Caspary im Gespräch mit Sandra Schulz
Die Widerstände gegen die Abkommen CETA und TTIP seien deshalb so stark, weil es den Kritikern gelungen sei, unbegründete Ängste zu schüren, beklagte der CDU-Europaparlamentarier Daniel Caspary im Deutschlandfunk. Es werde keine Absenkung von Verbraucherschutzkriterien geben - sonst werde man nicht zustimmen.
"2014-09-25T06:50:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:18.623000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/handelsabkommen-ttip-und-ceta-standards-exportieren-nicht-100.html
504
"An der Effektivität der Werke liegt es nicht"
Stefan Heinlein: Der Job beim Daimler, jahrzehntelang die Garantie für einen sicheren Arbeitsplatz mit guter Bezahlung. Doch der Stern glänzt lange nicht mehr so hell, die Krise hat auch Daimler voll erwischt, es muss gespart werden. Seit Wochen machen Gerüchte die Runde, der Daimler-Vorstand plane die Verlagerung der C-Klassen-Produktion vom Stammwerk in Sindelfingen in Richtung USA. Es droht der Verlust Tausender Arbeitsplätze. Anfang der Woche soll die Entscheidung fallen, heute am Vormittag dazu eine Betriebsversammlung in Sindelfingen.Bei mir am Telefon ist nun der Daimler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm. Guten Morgen, Herr Klemm.Erich Klemm: Guten Morgen, Herr Heinlein.Heinlein: Was wird Ihren Kollegen heute Vormittag auf der Betriebsversammlung mitgeteilt werden?Klemm: Wir haben noch keine Entscheidung des Vorstands und deswegen wollen wir natürlich die Chance nutzen, noch mal deutlich zu machen, dass diese Belegschaft geschlossen steht und für ihre Arbeitsplätze kämpfen will, auch wenn es um eine etwas fernere Zukunft geht - wir reden ja über das Jahr 2014/15 -, wollen wir jetzt eine Entscheidung zugunsten des Standorts Sindelfingen und zugunsten des Standorts Deutschland.Heinlein: Für morgen, Herr Klemm, haben Sie bereits eine Protestaktion in Sindelfingen geplant. Heißt das, Sie rechnen mit dem Schlimmsten?Klemm: Wir wollen auf jeden Fall vor einer Entscheidung des Vorstands alles tun, um deutlich zu machen, wo wir stehen. Wenn die Entscheidung mal gefallen ist, wird es ja viel schwieriger, das noch mal zu ändern, und deswegen ist es, glaube ich, vernünftiger, vorher anzutreten.Heinlein: Herr Klemm, Sie sind als Arbeitnehmervertreter auch Mitglied des Daimler-Aufsichtsrates, also Sie kennen unmittelbar die Debatte der Konzern-Bosse. Wie konkret sind denn die Pläne von Vorstandschef Zetsche die C-Klassen-Produktion zu verlagern in Richtung USA?Klemm: Wenn wir nicht konkrete Befürchtungen hätten, würden wir heute nicht so trommeln. Ich glaube schon, dass es ein großes Risiko gibt, dass morgen der Vorstand gegen uns entscheidet.Heinlein: Wie viele Arbeitsplätze wären denn bei einer Verlagerung in Gefahr?Klemm: Es wären zwei Standorte im Wesentlichen betroffen. Das ist Sindelfingen mit circa 3000 Arbeitsplätzen, die unmittelbar durch diese Entscheidung betroffen wären. Und wir hätten eine weitere Verlagerung von Bremen nach Sindelfingen, um das teilweise auszugleichen. Dort wären ungefähr 1000 betroffen.Heinlein: Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, nun diese mögliche Verlagerung, diesen möglichen Verlust von Arbeitsplätzen doch noch in letzter Minute quasi zu verhindern?Klemm: Wie sagt man, "die Hoffnung stirbt zuletzt" und wenn man sich nicht bemüht, dann versäumt man etwas. Deswegen sind wir heute hoffentlich alle geschlossen da und morgen und das hat sicherlich auch Einfluss auf den Vorstand.Heinlein: Mit welchen Argumenten wollen Sie denn den Vorstand überzeugen, die Produktion in Sindelfingen zu belassen?Klemm: Ein Gegenargument des Vorstands, warum die Produktion nach Tuscaloosa soll, ist, man will einen Global Foot Print, der globale Fußabdruck, wo das Verhältnis zwischen Produktionsstandort und Verkaufsstandort ausgeglichen sein soll. Wir sagen, wenn das das Argument ist, dass künftig Produktion in die Länder soll, in die wir als Mercedes verkaufen, aber auch die ganze Exportindustrie verkaufen würde, dann müsste Deutschland zum Agrarstaat degradieren. Stellen Sie sich vor, unser ganzer Wohlstand kommt vom Export und wenn jedes Unternehmen sagen würde, wir gehen dorthin, wo wir verkaufen, dann könnten wir in Deutschland die Lichter ausmachen.Heinlein: Das sind die Gegenargumente des Vorstandes. Mit welchen Argumenten wollen Sie denn den Vorstand überzeugen, die Produktion in Sindelfingen zu belassen?Klemm: Wir sagen, niemand weiß, wie der Dollar-Kurs im Jahr 2014 oder 15 ist. Das ist Spekulation. Es gibt keine Bank, es gibt keinen Finanzexperten, der uns da eine verlässliche Auskunft geben kann, und deshalb glauben wir, dass man genauso auch umgekehrt spekulieren kann und die Produktion in Deutschland halten kann. An der Produktivität und an der Effektivität der Werke liegt es nicht. Das Werk Sindelfingen hat die höchsten Qualitätspreise bekommen, die die Automobilindustrie vergeben kann, und insofern sind wir sicher, dass wir wettbewerbsfähig sind.Heinlein: Sind die Arbeitnehmer, sind Sie als Betriebsrat, Herr Klemm, denn bereit, Zugeständnisse zu machen, um die Produktion in Sindelfingen zu halten?Klemm: Das ist kein Thema mehr. Wir haben schon zweimal harte Verhandlungen um die C-Klasse geführt. Beim letzten Modellwechsel in der Debatte im Jahr 2004 gab es erhebliche Zugeständnisse vonseiten der Belegschaft, um das Fahrzeug, die jetzt aktuelle Baureihe, bei uns zu halten. Wir haben schon Jahre vorher, im Jahr 96, eine Standortsicherungsrunde gemacht, da ging es auch um die C-Klasse, mit erheblichen Zugeständnissen und mit dem Ergebnis, dass unsere Arbeitszeit flexibilisiert wurde und wir heute hochflexibel auf Marktschwankungen reagieren können. Deshalb sagen wir, weitere Zugeständnisse halten wir für ausgeschlossen und stehen auch nicht an.Heinlein: Aber die Zeiten, Herr Klemm, haben sich geändert. Wir haben die Wirtschafts- und Finanzkrise und denken Sie an Opel, dort sind die Mitarbeiter auch gezwungen, Zugeständnisse, Lohnverzicht zu üben, um ihre Arbeitsplätze zu sichern.Klemm: Das ist richtig. Wir reden aber nicht über eine Kostendifferenz zwischen Sindelfingen und Tuscaloosa, sondern wir reden über Währungsschwankungen und wir reden über eine ideologische Haltung, die sagt, näher an den Markt heran, und wir reden nicht über die Frage, wie effizient die Fabrik ist oder welche Lohnkosten dahinter stecken.Heinlein: Hoffen Sie wie im Fall Opel auf politische Rückendeckung und vielleicht sogar mögliche Staatshilfen, um den Standort Sindelfingen zu retten?Klemm: Das halte ich für ausgeschlossen. Staatshilfen halte ich für ausgeschlossen. Das ist kein Thema. Auf politische Rückendeckung hoffen wir natürlich zunächst einmal von unseren Kolleginnen und Kollegen aus den Zulieferbetrieben, weil sie ja auch damit rechnen müssen, dass bei ihnen Arbeitsplätze verloren gehen, wenn die Endmontage wegwandert. Wir haben schon breite Unterstützung in der Region. Der Landrat, die Bürgermeister haben uns unterstützt. Ich hoffe, dass die Landesregierung noch Laut gibt. Das wäre jetzt mal an der Zeit, dass auch von dieser Seite man ein deutliches Wort hört, noch vor einer Entscheidung, und ich denke schon, dass dieses Argument, Produktion aus Deutschland abzuziehen, weil man näher an die Märkte heran muss, in der Politik alle Alarmglocken läuten lassen sollte.Heinlein: Vermissen Sie bisher die Unterstützung von Günther Oettinger beziehungsweise Stefan Mappus?Klemm: Herr Oettinger hat mir gesagt, er würde noch Laut geben; bisher habe ich nichts gehört.Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der Daimler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.Klemm: Vielen Dank.
Erich Klemm im Gespräch mit Stefan Heinlein
Kurz vor der Entscheidung des Daimler-Konzerns über eine mögliche Verlagerung der C-Klasse-Produktion in die USA hat Gesamtbetriebsrat Erich Klemm vor einem solchen Schritt gewarnt. Die Standorte in Deutschland seien effizient. Näher am Verkaufsstandort zu sein, könne für ein Exportland wie Deutschland kein Argument sein.
"2009-11-30T00:00:00+01:00"
"2020-02-03T10:04:57.533000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/an-der-effektivitaet-der-werke-liegt-es-nicht-100.html
505
"Geist von Olympischen Spielen nach München holen"
Die European Championships finden dieses Jahr in München statt. (imago images/Sven Simon) Vom 11. bis zum 21. August finden in München die European Championships statt. Dann kämpfen Europas beste Athletinnen und Athleten in den Sportarten Beachvolleyball, Kanu-Rennsport, Klettern, Leichtathletik, Radsport, Rudern, Tischtennis, Triathlon und Turnen um Europameister-Titel. "Es läuft alles auf Hochtouren, wir sind richtig gespannt", sagte Münchens dritte Bürgermeisterin Verena Dietl im Deutschlandfunk. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Der Ticketverkauf lief bislang jedoch eher schleppend. "Man muss natürlich auch erst einmal werben für sein Event. Nichtsdestotrotz dass viele Europameisterschaften da sind, ist es trotzdem so, dass man erst einmal irgendwie erzählen muss, was dieses Event überhaupt beinhaltet. Aber ich glaube, mittlerweile haben wir da wirklich gut kommuniziert. Aber man merkt ja auch, dass jetzt langsam wieder Veranstaltungen möglich sind. Und ich glaube, auch dadurch können sich die Menschen oft besser vorstellen, jetzt wieder Tickets zu kaufen." "Geist von Olympischen Spielen nach München holen" Die Veranstaltung selbst sei "schon Wahnsinn", sagte Dietl und meinte das positiv. "Wir als Stadt München haben natürlich schon viele große Sportveranstaltungen ausgerichtet. Besonders gut passt es natürlich in diesem Jahr, weil wir vor genau 50 Jahren Ausrichter der Olympischen Spiele waren. Und meine Generation und die jüngeren Generationen kennen Olympische Spiele ja gar nicht. Und deswegen versuchen wir auch genau diesen Geist von Olympischen Spielen wieder nach München zu holen." European Championships "Noch kein Olympia, aber ein Riesenschritt nach vorne" European Championships "Noch kein Olympia, aber ein Riesenschritt nach vorne" Die ersten European Championships waren "eine sehr gute Idee", sagte Wolfgang Maennig im Dlf: Die kleineren Sportarten hätten so viel Medienpräsenz wie lange nicht, so der Sportökonom und ehemalige Ruderer - womit ein erster Schritt in die richtige Richtung getan sei. An möglichen Bewerbungen für Olympische Spiele hatte es aufgrund der hohen Anforderungen an die Städte zuletzt viel Kritik gegeben. "Und ich denke schon, dass man jetzt über eine Veranstaltung wie die European Championships zusätzlich für den Sport wieder werben kann. Olympische Spiele und European Championships sind die wichtigsten Spiele für die Sportlerinnen und Sportler. Und darum soll es ja auch gehen, dass der Teamgeist geweckt wird, dass es wirklich wichtig ist, den Sport nach vorne zu stellen. Und ich denke schon, dass man über so eine Veranstaltung das auch wieder besser rüberbringen kann." Dietl wünscht sich Olympia-Bewerbung Ginge es nach Dietl würde sich München auch wieder um Olympische Spiele bewerben. "Ich habe die Bewerbungen als Stadträtin noch begleitet. Und natürlich wünscht man sich für seine Heimatstadt, dass man so eine große Veranstaltung mal nach München holt und der Traum bleibt weiterhin bestehen." Sportgroßveranstaltungen "Olympische Spiele würden Deutschland gut stehen" Sportgroßveranstaltungen "Olympische Spiele würden Deutschland gut stehen" Eine nationale Strategie für Sportgroßveranstaltungen, wie sie die Bundesregierung erarbeitet, ergebe auch ohne Olympia-Bewerbung Sinn, sagte der CSU-Politiker Stephan Mayer im Dlf. Solche Veranstaltungen seien auch für die Gesellschaft wichtig. Doch wie will man skeptische Bürger überzeugen? Sportgroßveranstaltungen Deutschland sucht eine Strategie Olympia, Weltmeister- oder Europameisterschaften - Deutschland will in Zukunft auf Großveranstaltungen im Sport setzen. Das Bundesinnenministerium und der Deutsche Olympische Sportbund veröffentlichten nun ein Grobkonzept für eine Strategie. Vom Nutzen solcher Veranstaltungen scheint man überzeugt. Olympia "Vernünftiges Kalkül hat deutsche Bewerber nie angetrieben" Olympia macht wieder von sich reden – und die jüngsten Ereignisse zeigen, wie umstritten das Ringe-Spektakel politisch ist - Thomas Kistner kommentiert die mögliche Olympia-Kandidatur von Deutschland und den umstrittenen Sponsorenvertrag des IOC. Über eine mögliche Olympia-Bewerbung könne man laut Dietl "immer wieder diskutieren". "Ich glaube, München hat immer gezeigt, dass wir stark sind in Großveranstaltungen und deswegen lehnen wir das sicherlich auch nicht ab." Von den European Championships erhoffe sich Dietl nun, "dass die Münchnerinnen und Münchner in Bewegung kommen. Und deswegen sollen sie sich natürlich für die Sportarten interessieren, vielleicht auch mal eine Sportart anschauen, mit der sie noch nicht so viel Kontakt hatten und gerade jetzt auch nach Corona", so Dietl. "Also da ist auch schon immer ein Mitnahmeeffekt. Wir sagen ja immer, dass der Spitzensport ganz intensiv mit dem Breitensport zusammenhängt und diese Verbindung wollen wir dann auch darstellen."
Verena Dietl im Gespräch mit Matthias Friebe
In München finden im August die European Championships statt. Mehrere Sportarten tragen dabei gleichzeitig ihre Europameisterschaften aus. Verena Dietl, Münchens dritte Bürgermeisterin, erhofft sich durch das Event einen Schub für eine mögliche Olympia-Bewerbung - doch der Kartenverkauf läuft schleppend.
"2022-05-01T19:10:00+02:00"
"2022-05-01T12:00:00.009000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/european-championships-verena-dietl-100.html
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Hören wie in der Jugend
Patientin: " Ja, guten Tag, mein Name ist Maria Irmen. Ich trage das "Esteem" jetzt seit drei Monaten. "Frage: " Was war für Sie das Interessanteste, seitdem Sie das "Esteem" Gerät tragen?"Patientin: " Ach, das ist alles ein Traum. Was mich am meisten fasziniert hat, waren die ersten Tage die Vögel..."Maria Irmen stellt ihre Erfahrungen der US-amerikanischen Firma Envoy Medical Corperation zur Verfügung, die seit einiger Zeit das Hörimplantat "Esteem" in Europa vermarktet. Multiplikatoren wie Frau Irmen zahlen für die aufwändige Operation nicht die obligatorischen 24.000 Euro, sie bekommen einen Rabatt. " Dieses neue Gerät ist zum einen komplett implantierbar, das heißt, man hat dort die Einschränkungen in der Lebensqualität nicht mehr... "... meint Prof. Steffen Maune, Chefarzt der HNO-Klinik der Kliniken der Stadt Köln, ... "... es ist so, dass die Batterie des derzeitigen Modells, die hält ungefähr drei Jahre, geplant ist in den Nachfolgemodellen, dass die Batterie fünf bis acht Jahre hält, das heißt..."Sie muss deshalb nicht mehr so häufig gewechselt werden. Zudem benötigt das Gerät kein Mikrophon, sondern der Schall kommt natürlich von außen in den Gehörgang. So ist es ist möglich, ... ".... dass die Schwingungen natürlich vom Trommelfell übertragen auf die Gehörknöchelchenkette abgenommen werden, "Das geschieht mit dem Sensor, der dann dieses Signal in den kleinen Computer führt, der wiederum das Signal verstärkt und an den Treiber bringt. "... . der dann direkt an dem Steigbügel, dem Gehörknöchelchen, was den Übergang zum Innenohr darstellt, angekoppelt wird. "Der kleine Computer misst etwa drei mal vier Zentimeter und wird hinter dem Ohr implantiert,.... "....und die kleinen Geräte, die dann letztlich das Hören ermöglichen, die werden über den Warzenfortsatz, also dem Belüftungsraum hinter dem Ohr eingebracht und reichen bis an das Mittelohr, an die Gehörknöchelchenkette, so dass dort die Übertragung stattfinden kann."Natürlich birgt jede Operation Risiken, meint Steffen Maune. Spezielle Probleme sieht er bei der Hörimplantat-OP aber nicht:" Da das nur in der Hand wirklich sehr erfahrener Chirurgen durchgeführt wird, die zudem auch noch in dieser speziellen Technik auch noch trainiert werden, sind die tatsächlich eintretenden Risiken eher gering. Die größte Einschränkung, denke ich, dass man Geduld haben muss, denn das kann dann schon mal sechs Monate dauern, bis der Erfolg eintritt. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Anbindung dieser kleinen Geräte an das Mittelohr im Prinzip sich auch mal lösen kann. Da kann man dann über einen kleineren Eingriff Abhilfe schaffen. "Genau hier setzt die Kritik von Fachkollegen an: Sensor und Treiber werden an die Gehörknöchelchen geklebt, was keine Lösung von Dauer sei. Auch an der Hals-Nasen-Ohren Universitätsklinik Köln führen Mediziner ähnliche Operationen durch. Allerdings - so ihr Direktor Prof. Karl Bernd Hüttenbrink, wird dabei nur der Treiber implantiert, Mikrophon und Stromversorgung befestigen sie außen. Nachteil dieses Verfahrens: Die Geräte verschwinden nicht unter der Kopfhaut. Vorteil: das System ist erweiterbar. Auch bei Erkrankungen wie einer chronischen Mittelohrentzündung führt es zu guten Ergebnissen, selbst wenn die Gehörknöchelchen irreversibel zerstört sind. " Und der riesen Vorteil ist, wir machen im Mittelohr nichts kaputt, denn da haben wir ethische Probleme, jemandem, der ein normales Mittelohr hat, normale Schalleitungen hat, dem um so ein Gerät zu implantieren, ihm künstlich das Mittelohr kaputt zu machen, das heißt, wenn mal irgendwas passiert, man muss sich nur vorstellen, die ersten Autos wie gut die liefen, man weiß nicht, wie lang die Geräte funktionieren, dann ist dieser Patient, der ja vorher schon eine Innenohrschwerhörigkeit hat, dadurch dass er zusätzlich noch eine künstliche vom Arzt geschaffene Mittelohrschwerhörigkeit hat ist er praktisch taub. Der ist mit einem normalen Hörgerät fast nicht mehr zu versorgen. Und das tun wir nicht! "
Von Barbara Weber
Wie alle anderen Zellen im Körper auch, unterliegen die Hörzellen im Innenohr der Alterung. Mit fortschreitendem Alter, verschlechtert sich das Gehör immer mehr. Diese Altersschwerhörigkeit oder auch Innenohrschwerhörigkeit kann durch Hörgeräte verbessert werden. Aber fast nie erreichen die Betroffenen eine Hörfähigkeit wie in der Jugend. Ein neuartiges Hörimplantat soll da jetzt Abhilfe schaffen.
"2007-08-07T10:10:00+02:00"
"2020-02-04T14:03:18.831000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoeren-wie-in-der-jugend-100.html
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Dialog durch pragmatische Theologie
Blick in den Konferenzraum in der Sommerresidenz des Deutschen Botschafters am Bosporus (Sebastian Engelbrecht) In der Türkei sind die Rahmenbedingungen für ein interreligiöses Gespräch ideal. Das Land ist vom Islam geprägt, aber es hat eine säkulare Verfassung. Und es hat islamisch-theologische Fakultäten nach europäischem Vorbild. In der Sommerresidenz des deutschen Botschafters am Bosporus, fernab vom Flüchtlingselend und vom Syrien-Krieg, fiel das interreligiöse Gespräch leicht. Rabbiner Walter Homolka vom Abraham-Geiger-Kolleg aus Potsdam war der einzige jüdische Teilnehmer. Er erklärte, warum sich der jüdische Wahrheitsanspruch und gesellschaftliche Pluralität nicht ausschließen. "Es ist das große Glück des Judentums, dass wir es geschafft haben, eine Position zu formulieren, die zwar Wahrheit im Judentum beschreiben will, aber sie nicht absolut setzt. Die sagt: Am Sinai ist eben in mehreren Sprachen, in bis zu 70 Sprachen offenbart worden. Es ist sozusagen der Nichtjude, die Nichtjüdin mit hineingedacht worden. Und es ist vor allem nicht so, als gäbe es eine Ausschließlichkeit des Gottesverhältnisses mit diesem seinem Volk, im Bund, den Gott am Sinai geschlossen hat, sondern es gibt eben auch die Möglichkeit, dass Gott sich für andere anders offenbart." Das Judentum kennt keine Mission Juden werden in ihre Religion hineingeboren. Das Judentum kennt keine Mission. Auch deshalb sei es für Juden kein Problem, anderen Religionen ihre Wahrheitsansprüche zu lassen. Dennoch macht das Alte Testament im 9. Kapitel des Buches Genesis und in der rabbinischen Überlieferung den Nichtjuden das Angebot einer Mindest-Ethik für alle – die sieben Noachidischen Gebote. Sie verbieten Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Ehebruch, Brutalität gegen Tiere, Gotteslästerung, und sie fordern das Rechtsprinzip. "Es ist, glaube ich, eine tiefe Einsicht des Judentums, zu sagen: Es muss auch eine Definition geben, wie Nichtjuden zum Heil gelangen. Diese Überlegung macht sich eben fest an einem Kanon von sittlichen Werten und von Werten, wie eine Gesellschaft aufgebaut werden soll, die sich also mit dem Bild verbindet des Bundes, den Gott mit Noah geschlossen hat, dass er nämlich der Freund der Menschen sein möchte, aller Menschen. Und diese Noachidischen Gebote sind also stark diskutiert worden. Man hat sich dann letztlich auf sieben geeinigt." Pragmatische Theologie Ein anderes Argument für Pluralität trotz Wahrheitsanspruchs führte Professor Jürgen Werbick an. Der katholische Theologe aus Münster vertrat in Istanbul eine pragmatische Theologie: "Religiöse Überzeugung heißt: Ich sage ja zu bestimmten Glaubensgehalten, ich bejahe einen bestimmten religiösen Weg, ich bejahe die Gottesbeziehung, die auf diesem religiösen Weg gelebt wird, und alles, was mit diesem Weg nicht vereinbar ist, davon versuche ich mich abzugrenzen. Aber es ist sehr klärungsbedürftig, wieviel Abgrenzung, wieviel Nein ich für mein Ja jeweils in Anspruch nehme." Wie aber sollen Christen dann mit absoluten Sätzen Jesu umgehen? Etwa dem aus dem Johannes-Evangelium: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich"? [Joh 14,6] Jürgen Werbick entschärft den Störfaktor solcher Aussagen durch den Blick auf die historische Situation. "Die damalige Situation zwingt uns nicht, heute zum Beispiel zu sagen: Alle anderen Wege führen ins Unheil. Das Zweite Vatikanische Konzil hat für die katholische Kirche ja sehr deutlich gemacht, dass Menschen, die Jesus Christus nicht kennen oder die zu dieser Gestalt keinen Zugang gefunden haben, dass die deshalb nicht im Unheil sein müssen. Von daher darf man Schriftstellen nicht für Zusammenhänge in Anspruch nehmen, in die hinein sie gar nicht gesagt worden sind, in die hinein sie gar nicht intervenieren wollten." Ist der plurale Staat im Koran angelegt? Nach demselben Muster argumentierte bei der interreligiösen Konferenz in Istanbul Özcan Tasci, Professor für islamische Theologie an der Universität Canakkale in der Türkei. "Der Koran lehnt Götzendienst strikt ab. Der Koran legt auf die Einheit Gottes Wert. Er lehnt die Götzendienerschaft ab, aber das heißt nicht, dass er auf die Götzendiener keinen Wert legt." Tascis Plädoyer gipfelte in dem Satz, der "Endzweck" des Korans sei es, "eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Rahmenbedingungen für einen pluralen Staat erfüllt" seien. "Wenn man den Koran als gesamten Text annimmt und betrachtet, sieht man auch, dass der Endzweck von innen ganz Mensch-orientiert ist. Das heißt: Der Koran wurde herabgesandt, um die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen. Das ist der Kernpunkt. Aber: Ich bete zu Allah. Wofür bete ich? Allah braucht das Gebet nicht. Ich muss an die Einheit Gottes glauben, um mich den Menschen widmen zu können." Pragmatische Theologie – unter dieser Überschrift ließen sich die Beiträge der dialogwilligen Theologen aller drei monotheistischen Religionen in Istanbul zusammenfassen. Auf der theologischen Ebene herrschte Einigkeit: Pluralismus und Wahrheitsansprüche schließen sich nicht aus. Gestritten wurde auf einem ganz anderen Feld: Muslimische Theologiestudenten beschwerten sich, dass vor der Konferenz bei einem Empfang im deutschen Generalkonsulat Wein angeboten wurde. Die Tischgemeinschaft herzustellen, war am Ende schwieriger als die theologische Eintracht. – Und grundsätzlich stellt sich auch die Frage, ob am Tisch und im Hörsaal nicht die Pluralismus-Kritiker fehlten: muslimische Gelehrte aus Kairo, Gaza oder Abu Dhabi.
Von Sebastian Engelbrecht
Ist Religion ein Hindernis bei der so dringend notwendigen politischen Verständigung? Oder kann sie auch eine konstruktive Rolle spielen? Darüber diskutierten muslimische, christliche und jüdische Theologen auf einer Konferenz in Istanbul.
"2015-10-23T09:35:00+02:00"
"2020-01-30T13:05:41.377000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interreligioese-konferenz-in-istanbul-dialog-durch-100.html
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Institutionen können nur so gut sein "wie ihre Bürger"
Beatrix Novy: Fotografie und das in ihr Aufbewahrte, darum ging es gestern hier auch. Da war nämlich Thomas Oberender Gesprächsgast unserer Neujahrsreihe "Wir schenken Ihnen Zeit" – nämlich zu sagen, was zum Jahresbeginn auf den Nägeln brennt. Für heute haben wir Gesine Schwan gebeten, die frühere Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, heute steht sie der Humboldt-Viadrina School of Governance vor. Mit ihrer derzeit größten Sorge steht Gesine Schwan nach diesem Jahr 2011 nicht mehr allein: die Sorge um die Demokratie.Gesine Schwan: Meine Hauptsorge ist, dass die Demokratie als politische Form und als Lebensform sehr viele Voraussetzungen fordert, nicht nur bei den Institutionen, eine gute Verfassung zum Beispiel, ein gutes Institutionengefüge in einer repräsentativen Demokratie, sondern auch im Verhalten der Bürgerinnen und Bürger, und das findet sich dann besonders verwoben gleichsam in den Institutionen, die zwischen Gesellschaft und staatlicher Politik vermitteln – das sind insbesondere die Parteien, zum Teil aber auch die Gewerkschaften.Nach dem Zweiten Weltkrieg, als ich meine Sozialisation bekam, standen wir unter dem Schock des Nationalsozialismus, sodass wir alle dachten, wir müssen jetzt sehr genau aufpassen, dass diese Demokratie, die wir langsam wieder aufbauen, auch gepflegt wird, und es war uns bewusst, dass das kein Selbstläufer ist. Es ist ja auch nicht von Ungefähr, dass viele Personen, die ins Exil gegangen sind aus Deutschland – in die Vereinigten Staaten, dort zum Beispiel in der Politikwissenschaft die Forschung zur sogenannten politischen Kultur initiiert und auch weiterentwickelt haben -, dass die alle ja unter dem Trauma standen, wie verhindern wir einen erneuten Zusammenbruch unserer, einer Demokratie.Und wenn ich das jetzt in Deutschland und überhaupt in den sogenannten etablierten Demokratien betrachte, dann beobachten wir einen kontinuierlichen Vertrauensverlust von tragenden Institutionen. Das hat aber zur Folge, dass immer mehr an Vertrauensnotwendigkeit auf die Bürger und auf die Kultur verlagert wird, und die können das auch nicht bringen. Mit anderen Worten: Das Vertrauenspotenzial, das eine Demokratie braucht, was nie heißt Blauäugigkeit, was durchaus Realismus einschließt und auch den Realismus, dass Menschen verführbar sind und dass sie das Potenzial für Positives, aber auch für Negatives enthalten, aber dennoch: so ein Überschuss, ein kleiner Überschuss wenigstens an Vertrauenswürdigkeit, an Verantwortungsfähigkeit besteht nicht mehr, ist mein Eindruck. Und es ist nicht mehr das Bewusstsein, dass wir keineswegs in einer selbstverständlichen politischen Form leben und dass Freiheit nicht selbstverständlich ist, auch nicht eben Rechtsstaat und so weiter.Novy: Sie würden also Leuten, die die Ursache dieses Vertrauensverlustes in den Institutionen selber sehen, denen würden Sie einfach sagen, gebt mal wieder ein bisschen Vertrauensvorschuss?Schwan: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde sagen, ich würde zurückfragen, seid ihr denn selbst vertrauenswürdig in eurem Verhalten. Das, was in der Politik erscheint, findet sich ja in der Gesellschaft wieder. Es ist ja keineswegs so, dass die Gesellschaft sich vertrauenswürdig verhält und die gewählten Politikerinnen und Politiker nicht, sondern im Gegenteil: In der Gesellschaft findet sich ja dieser Mangel an Vertrauenswürdigkeit wieder. Und mein Problem ist eben gerade, dass Institutionen nur so gut sein können wie ihre Bürger und dass Bürger, wenn Institutionen Vertrauen verlieren, sich umso mehr darum bemühen müssen, das Vertrauen wieder herzustellen, nicht einfach Vertrauen zu schenken, sondern sich selbst vertrauenswürdig zu verhalten und zum Beispiel, wenn gewählte repräsentative Politikerinnen und Politiker ihren Aufgaben nicht gerecht werden – und das beobachten wir zur Zeit -, ihrerseits nicht zu maulen, zu jammern oder sich zu verschließen, sondern ihrerseits mit Beiträgen, mit Vorschlägen, mit Eigeninitiative aus der Gesellschaft aus der Misere herauszuhelfen. Was mich bewegt und bedrückt ist, dass Erosionserscheinungen, die nicht an der Oberfläche sozusagen ausbrechen, von vielen unbemerkt bleiben, und das ist gefährlich, weil es dann auch zu einer Implosion kommen kann, wie die DDR implodiert ist. Das ist die eine Sorge und das bezieht sich auch, dieses Problem, dass die Unterminierung der Grundlagen, der kulturellen wie der institutionellen Grundlagen, nicht auf Anhieb erkennbar sind, das bezieht sich auch auf das, was gegenwärtig in Europa passiert, und da bin ich ganz besonders unglücklich über die deutsche Regierungspolitik, weil ihr eine unglaublich große Verantwortung zukommt.Novy: Wie würden Sie sich die deutsche Politik gegenüber Europa beziehungsweise innerhalb Europas wünschen? So wie es jetzt in den letzten Monaten gelaufen ist ja offenbar nicht.Schwan: Nein. Ich glaube, es war von Anfang an ein kardinaler Fehler, dass die Bundesregierung und auch die Bundeskanzlerin zu Beginn der erkennbaren Verschuldungskrise der Staaten geradezu apodiktisch gesagt hat, eine solidarische Haftung dagegen kommt nicht in frage, jeder Staat muss es für sich tun. Vorabzustellen, bevor alles genau geklärt war, und dann geradezu auch nationale Vorurteile zu bekräftigen mit diesen Äußerungen über die Griechen, alles das hat stattgefunden mit dem Ausrufungszeichen, wir werden nicht für euch haften. Am Anfang Europas aber stand die Bereitschaft zur Solidarität. Und dieses Wechselspiel von regierungsverantwortlicher Bekundung, dass wir nicht solidarisch haften wollen, und einer Bevölkerung, die natürlich reflexartig sagt, warum sollen wir denn für faule Nachbarn haften, diese Dialektik wird in meiner Sicht immer gefährlich, weil Europa und Deutschland auch nur einigermaßen ihre Freiheits- und Menschenrechts- und auch Gerechtigkeitsideen weiter verwirklichen können, wenn wir ein gutes gemeinsames Europa haben, und das erodiert eben zurzeit auch, also nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gemeinsamkeit in Europa, und das betrübt mich sehr.Novy: Das hat natürlich auch etwas mit der Rolle der Ökonomie zu tun, die einen gewissen Primat erreicht hat in den letzten Jahren. Wie würden Sie sich das vorstellen? Kann man wieder etwas zurückdrehen, das die Politik selbst stärker wird?Schwan: Zurückdrehen kann man, glaube ich, nie etwas, aber man muss es versuchen, vernünftig nach vorne zu drehen. Das eine wäre ein Versuch, weiterhin über Regierungszusammenschlüsse oder eben Verhandlungen auch nicht nur im europäischen Rat, sondern auch in der Kommission und im Europäischen Parlament, aber auch darüber hinaus global, etwa G-8 und G-20, in solchen gemeinsamen Entscheidungen von verantwortlicher Politik zu mehr Solidarität zu kommen und damit auch zu einer vernünftigen Regulierung etwa der Finanzmärkte.Das Zweite aber ist, glaube ich, dass auch gewählte Politiken, die ja alle immer nur national legitimiert sind und nicht transnational und nicht europäisch und nicht global, dass die die Hilfe bekommen von transnationalen Initiativen, Organisationen etwa aus der organisierten Zivilgesellschaft. Ich glaube, ohne das geht es gar nicht. Wir brauchen also transnationale Initiativen, so wie etwa die Finanzmarktkommission des Europaparlaments, das im Sommer 2010 schon in einem offenen Brief gefordert hat, wo sie gesagt haben, da ihnen keine nennenswerte wissenschaftliche Unterstützung im Europaparlament zur Verfügung steht, werden sie geradezu erdrückt von Lobbys, sowohl Text- und Formulierungslobby, als auch Geldlobby, als auch personaler Lobby, die ihnen gleichsam vernünftige Regelungen der Finanzmärkte entwinden wollen. Und dann ist es kein Wunder, wenn gleichsam die Politik es nicht schafft gegenüber den Partikularinteressen der Wirtschaft. Deswegen brauchen wir also nicht nur entschiedenere repräsentative Politik – und die haben wir eben in Deutschland zurzeit nicht in Richtung europäische Solidarität oder gar globale Solidarität -, sondern wir brauchen auch eine Erweiterung des Lobbyfeldes, wenn Sie so wollen - das ist ja ganz systemisch okay in der Demokratie – zu Gunsten solcher transnationaler gemeinwohlorientierter Politik, damit auch diejenigen in der gewählten Politik, die das wollen, Unterstützung finden.Novy: Was wünschen Sie den jungen Leuten, den Studenten, mit denen Sie doch seit Jahren zu tun haben?Schwan: Ich wünsche allen, dass sie den Mut finden, mit Kant sich ihres Verstandes zu bedienen und nicht einfach den vorgegebenen Regeln zu folgen, dass sie den Mut finden, in den Seminaren sich nicht kanalisieren zu lassen unter Leistungsdruck und Wettbewerbsdruck, um irgendwelche Tests zu bestehen, sondern wirklich zu fragen, wie sieht die Welt aus. Und übrigens: den fangen sie bereits ganz intensiv an, zu bezeugen. Ich erlebe das, ich werde eingeladen von solchen studentischen Initiativen, und da bin ich auch sehr zuversichtlich, denn nur wenn wir alle alleine denken und wenn wir an der Stelle der anderen denken und wenn wir jederzeit mit uns einstimmig denken – das sind die drei Maximen von Kant für den Gemeinsinn -, dann kommen wir weiter.Novy: Das Schlusswort heißt Vernunft. Das war Gesine Schwan, Aktivistin der wissenschaftlichen und politischen Sphäre, deren Biografie auch einige Erfahrungen als Präsidentin enthält, Hochschule, und als Kandidatin zu Präsidentschaften. Gesine Schwan wurde 2009 nicht Bundespräsidentin, sie hätte damit auch einer sehr seltenen Art angehört. Gäbe es nicht Werner Schwabs abgedrehtes Bühnenstück "Die Präsidentinnen", dann käme die Präsidentin im Plural ja gar nicht vor.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen GesellschaftenTeil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein
Das Gespräch führte Beatrix Novy
In unserer Reihe "Wir schenken Ihnen Zeit" hält Gesine Schwan den Bürgern den Spiegel vor: "Das, was in der Politik erscheint, findet sich ja in der Gesellschaft wieder", sagt die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance.
"2012-01-03T17:35:00+01:00"
"2020-02-02T14:41:53.498000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/institutionen-koennen-nur-so-gut-sein-wie-ihre-buerger-100.html
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Einblick in die Berichterstattung aus der Ukraine
Ukrainische Soldaten richten einen Weg unter einer zerstörten Brücke in Irpin ein, um der Bevölkerung die Evakuierung von der Frontlinie zu ermöglichen. (IMAGO/ZUMA Wire/xKaoruxNgx) Am Sonntag wurde der Videojournalist Brent Renaud in der Nähe von Kiew erschossen. Der Fotograf und Filmemacher Juan Arredondo wurde verletzt. In einem Video aus einem Krankenhaus in Kiew berichtet er, dass Renaud, ein Fahrer und er auf einen Kontrollpunkt in der Ortschaft Irpin zufuhren als auf sie geschossen wurde. In einer Erklärung der Kiewer Regionalpolizei heißt es, russische Truppen hätten das Feuer auf das Auto eröffnet. Renaud und Arredondo waren in Irpin unterwegs, um über Geflüchtete zu berichten. Der stellvertretende "Bild"-Chefredakteur Paul Ronzheimer war zum Zeitpunkt des Beschusses auf die Journalisten ebenfalls in Irpin - nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Renaud getötet wurde. "Ich kann nicht sagen, wer geschossen hat. Den ersten Sichtkontakt hatte ich erst, ab dem Moment als der schwerverletzte Kollege auf der Trage über die Brücke evakuiert wurde", so Ronzheimer, der die Evakuierung des verletzten Arredondos gefilmt hat. Etwa eine Stunde später habe er auch die Leiche von Brent Renaud gesehen. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Die Lage in Irpin sei sehr unübersichtlich, erklärt Ronzheimer: "In dem gesamten Teil tobt der Krieg. Da kann es jederzeit zu Kampfhandlungen kommen." Zwei Journalisten getötet, mehrere verletzt Renaud ist der zweite Journalist, der im Krieg in der Ukraine ums Leben gekommen ist. Der ukrainische Kameramann Ewgeni Sakun wurde bei einem russischen Angriff auf einen TV- und Radiosender in Kiew getötet. Weitere Journalisten in der Ukraine wurden verletzt. Ob der Beschuss ein gezielter Angriff auf die beiden US-amerikanischen Reporter war, weiß Ronzheimer nicht. Wahrscheinlich sei das Auto nicht als Pressefahrzeug gekennzeichnet gewesen. Arredondo habe erzählt, dass ein Zivilist die Journalisten in die Stadt mitgenommen habe. "Deswegen gehe ich davon aus, dass das Auto nicht wie üblich mit einem großem Presseschild ausgestattet war", so der "Bild"-Korrespondent. Autos von Pressevertretern in der Ukraine seien entweder mit "TV" oder "Press" gekennzeichnet. Er ist sich unsicher, ob eine Kennzeichnung den Beschuss auf Renaud und Arredondo aufgehalten hätte. "Wenn es stimmt, dass es russische Soldaten waren - was ich selbst nicht sagen kann, aber das sind die Vorwürfe - dann ist es ja das Ziel von Putin und der russischen Armee hier für Panik zu sorgen. Nicht nur bei Zivilisten, sondern auch bei internationalen Berichterstattern. Von daher glaube ich, nimmt man es billigend in Kauf, dass hier auch Reporter sterben." Ronzheimer: "Wenn wir nicht mehr hier sind, wer dokumentiert dann objektiv?" Paul Ronzheimer sagte im Deutschlandfunk, er habe selbst bisher noch keine Behinderung seiner Berichterstattung erlebt. "Wir können uns insbesondere in Kiew relativ frei bewegen, dadurch, dass wir eine Akkreditierung haben." Irpin sei seit dem Beschuss auf die Journalisten allerdings für die Presse gesperrt. Durch die Anwesenheit anderer internationaler Medien fühlt sich Ronzheimer in Kiew sicherer. "Man wägt natürlich das eigene persönliche Risiko, aber auch das des gesamten Teams ab." Auch, ob die Infrastruktur für die Berichterstattung funktioniert, spielt für ihn eine Rolle. In Irpin waren beispielsweise keine Live-Schalten möglich, weil es kein Handynetz mehr gebe. Es geht Ronzheimer aber auch um die Dokumentation des Krieges: "Wenn wir nicht mehr hier sind, wer ist dann noch hier? Und wer dokumentiert objektiv das, was passiert?" Der Journalist Brent Renaud war im Auftrag von TIME Studios in der Ukraine und arbeitete laut TIME an einem Projekt, das sich auf die globale Flüchtlingskrise konzentriert. Der 50-Jährige war in der Vergangenheit für Video- und Filmprojekte unter anderem in Afghanistan und Irak. Zudem berichtete er über die Folgen des Erdbebens in Haiti, die Gewalt der Drogenkartelle in Mexiko und über die Lage junger Geflüchteter in Zentralamerika. Mit seinem Bruder Craig produzierte Brent Renaud Filme für Sender wie HBO und Vice News und arbeitete unter anderem für die New York Times.
Text: Pia Behme | Paul Ronzheimer im Gespräch mit Annika Schneider |
Am Sonntag wurde ein US-amerikanischer Journalist in der Ukraine getötet. Ein weiterer wurde verletzt. Der Bild-Reporter Paul Ronzheimer war in der Nähe und hat die Evakuierung des verletzten Kollegen gefilmt. Wie gefährlich ist die Berichterstattung vor Ort?
"2022-03-14T15:35:00+01:00"
"2022-03-14T17:05:59.428000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/journalist-bei-kiew-getoetet-100.html
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Wenn Bildung schon am Schulweg scheitert
Ein Haltestellenschild für den Schulbus (picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert) "Also ich heiße Laura Eckhart. Und ich gehe auf die GSS in Tübingen, Geschwister-Scholl-Schule, in die Klasse 7b." Und das heißt: Busfahren – jeden Tag. Denn Laura Eckhart wohnt in der Landgemeinde Waldenbuch. "Die Schule ist 27 Kilometer und so weit weg. Hin 20 Minuten, zurück eine halbe Stunde." Das an sich wäre ja durchaus machbar, aber: Fahren mit dem Schulbus – das geht ganz schön ins Geld. "Zwei fahrende Kinder – jetzt zahlen wir pro Jahr so um die 2.500 Euro, was eigentlich unser Budget eh' überschreitet", so Mutter Wiebke Eckhardt. Für sie ist auch klar: Alle vier Kinder auf die Geschwister-Scholl-Schule schicken, ein Gymnasium mit gutem Ruf – unmöglich. "Weil die Kosten zu hoch wären. Man hat eindeutig Nachteile, wenn man auf dem Land wohnt. Dann ist es keine Bildungsgerechtigkeit." Genauso sieht das auch Stephan Ertle, Vorstandsmitglied im Landeselternbeirat Baden-Württemberg und Vorsitzender der Initiative "Eltern für Elternrechte": "Diese Kostenbelastung – das hat mit Bildungsgerechtigkeit überhaupt nichts zu tun." Kein Einzelfall Denn: Das Beispiel der Familie Eckart aus Waldenbuch ist kein Einzelfall. "Es gibt sicherlich auch Eltern, die über 3.000 Euro zahlen." Damit wird für viele Kinder, die auf dem flachen Land wohnen, der Besuch eines Gymnasiums zur kostspieligen Angelegenheit. Und das können sich nicht alle Eltern leisten. Zwar überweist das Land Baden-Württemberg pro Jahr rund 195 Millionen Euro für die Finanzierung der Schülerbeförderung an die Städte und Landkreise. Zusätzlich bezahlen die Eltern weitere 200 Millionen Euro für Schulbustickets. "Da fragt man sich natürlich: Wo bleibt das Geld? Die Transparenz ist nicht gegeben." Unterschiedliche Regelungen Denn, so Stephan Ertle: Im größeren Nachbarland Bayern bezahlt das Kultusministerium 320 Millionen Euro für die Schülerbeförderung. Allerdings: Für Schüler der Klassen eins bis zehn werden dort noch keine Elternbeiträge erhoben. Erst danach wird ein Eigenbeitrag von maximal 430 Euro pro Familie und Jahr fällig. Letztlich also fließt im kleineren Baden-Württemberg durch den Eigenbeitrag der Eltern erheblich mehr Geld in die Schülerbeförderung als in Bayern – bei weniger Schülern. Die Erklärung: "Die Landkreise sind nicht verpflichtet, das Geld für die Schülerbeförderung auszugeben. Und dann können Sie sich vorstellen: Wenn ein Landkreis einige defizitäre Kliniken finanzieren muss, dass dann schnell mal einige Millionen aus dem Topf der Schülerbeförderung dahin fließen." Kampf gegen die Ungerechtigkeit Das wollen Elternvertreter Stephan Ertle und seine Mitstreiter nicht mehr länger hinnehmen: Mit einem Musterprozess, den ein betroffener Schüler mit Unterstützung der Elterninitiative gegen den Landkreis Tübingen anstrengt, sollen die Eigenbeiträge der Eltern an der Schülerbeförderung auch in Baden-Württemberg gekippt werden. De Landkreis Tübingen selbst hält sich derzeit mit Stellungnahmen dazu zurück: schließlich stehe ein Verwaltungsgerichtsverfahren an. Ohnehin hält es die Initiative "Eltern für Elternrechte" auf lange Frist für wichtig, eine bundesweit einheitliche Regelung durchzusetzen, auf dem Weg zu einem bundesweiten "Mehr" an Bildungsgerechtigkeit: "Wir haben es in den Bundeselternrat getragen." So Brigitte Reuther, ebenfalls im Vorstand von "Eltern für Elternrechte" mit dabei. Dort arbeiten die Mitglieder erst einmal an einer Bestandsaufnahme: Hessen, Bayern, Rheinlandpfalz und Nordrhein-Westfalen gelten als Musterländer, die den Eltern bei der Schülerbeförderung finanziell deutlich besser unter die Arme greifen als beispielsweise Baden-Württemberg. Dort erklärt sich im Übrigen das Kultusministerium auf Anfrage schlichtweg nicht zuständig: Die Schülerbeförderung sei Sache der Städte und Gemeinden. Das ist für Stephan Ertle zusätzlicher Ansporn, gegen die hohen Eigenanteile der Eltern vorzugehen. Neben dem Musterprozess hat er dazu noch eine andere Idee: "Im südlichen Baden – da haben wir überlegt, ob die Eltern alle ihre Kinder zuhause lassen. Um dann über die Schulleitung feststellen zu lassen, dass die Eltern der Schulpflicht nicht nachkommen, damit die Kinder eine Beförderung zur Schule kriegen – und zwar durch die Polizei. Und da können Sie überlegen, mit welchem schwarzen Humor mittlerweile diese Verzweiflung der Eltern angegangen wird."
Von Thomas Wagner
Gleich mehrere Kinder auf eine weiter entfernte Schule zu schicken, ist für viele Eltern zu teuer. Der Grund: Die Kosten für den Schulbus übersteigen ihre finanziellen Möglichkeiten. Eine Elterninitiative in Baden-Württemberg will das jetzt ändern. Mit einem Musterprozess klagt sie gegen die bundesweit uneinheitlichen Schulbuskosten.
"2016-05-09T14:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:28:28.936000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schulbus-streit-wenn-bildung-schon-am-schulweg-scheitert-100.html
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Von der Espressokanne bis zur Trinkflasche
Auf dem Deutschen Lebensmittelchemikertag wurde jetzt die bisher umfassendste Studie zur Freisetzung von Aluminium in Lebensmittel aus Flaschen, Verpackungen oder Campinggeschirr vorgestellt. (dpa/picture-alliance/Jens Kalaene) Wie viel Aluminium kann aus Geschirr und Behältern - zum Beispiel Aus Campinggeschirr, Grillschalen, Trinkflaschen und Espressokochern - in Lebensmittel übergehen, die wir zu uns nehmen? Das Hessische Landeslabor legt jetzt die bisher aufwendigste Studie dazu vor, geleitet von dem Chemiker Thorsten Stahl. Und der kann Kaffee-Liebhaber schon mal beruhigen. Die beliebten Espresso-Kocher aus Aluminium bilden offenbar eine schützende Patina, die verhindert, dass das Leichtmetall ins Getränk übergeht. So zeigte sich bei den Labortests, "dass der Übergang sehr gering ist. Der ist sogar vernachlässigbar." Weit verbreitetet sind auch Trinkflaschen aus Aluminium. Hier überprüften Stahl und seine Mitarbeiter, wie stark das Metall in Apfelschorle und Früchtetee übergeht. Und ob die Mengen, die man im Getränk findet, gesundheitsschädlich sein könnten. Dabei orientierten sie sich an einem existierenden Vorsorgewert. Danach sollten Verbraucher pro Woche nicht mehr als ein Milligramm Aluminium pro Kilogramm Körpergewicht aufnehmen. Apfelschorle und Früchtetee aus Aluflaschen Dieser sogenannte TWI-Wert wird nach den Messresultaten fast ausgeschöpft, wenn ein 15 Kilogramm schweres Kind täglich Apfelschorle aus einer Aluflasche trinkt. Beim Früchtetee wird er sogar überschritten. "Tee per se, wenn er aufgebrüht ist, enthält Säure. Diese Säure wiederum ist in der Lage, Aluminium aus den Aluminium-Trinkflaschen zu lösen." Allerdings gibt es auch Flaschen, die innen beschichtet sind, was sich für Thorsten Stahl erst bei den Analysen herausstellte. "Wir haben festgestellt, dass die innen beschichteten Flaschen auch bei säurehaltigen Lebensmitteln deutlich weniger Aluminium abgeben als innen nicht beschichtete Flaschen. Die Hersteller gehen meines Wissens nicht offensiv damit um und sagen, die sind innen beschichtet. Allerdings gab's bis jetzt auch keine Studien darüber, ob Aluminium aus den Trinkflaschen in die Getränke übergeht. Deswegen vielleicht auch nicht diese offensive Werbung: Die Flaschen sind innen beschichtet." Höchstwert um 880 Prozent überschritten Zu massiven Übergängen von Aluminium in ein säurehaltiges Lebensmittel und hohen Überschreitungen des TWI-Wertes kam es beim Campinggeschirr. In einer Alu-Pfanne brieten die Tester einen Fischburger, der mit Olivenöl und Zitrone mariniert war: "Also, wenn ein 15 Kilogramm schweres Kind jeden Tag 250 Gramm Fisch-Patty essen würde, würde der TWI um etwa 880 Prozent überschritten, also das Neunfache. Nun ist es aber tatsächlich so, dass ein Kind nicht jeden Tag einen Fisch-Patty von 250 Gramm konsumiert. Aber es ist tatsächlich so: Sollte das Kind diesen Fisch-Patty nur einmal pro Woche aufnehmen, läge die Überschreitung immer noch über hundert Prozent." Fehlen noch Aluminiumschalen, wie sie gerne auf dem Grill oder im Backofen verwendet werden. Die Laboranalytiker befüllten sie vor dem Erhitzen mit 0,5-prozentiger Zitronensäure - ein Standard im Lebensmittel-Labor. "Und da haben wir tatsächlich sehr, sehr große Mengen Aluminium-Freisetzung, die auch nachher in der Zitronensäure nachweisbar waren." Vorsorgliche Verhaltensregeln Für Verbraucher gebe es aber keinen Grund, jetzt in Panik zu geraten, betont Thorsten Stahl. Zwar sei aus Tierversuchen bekannt, dass Aluminium zum Beispiel die Blut- und Knochenbildung beeinträchtigen könne. Doch dafür seien sehr hohe Konzentrationen des Metalls nötig. Mit möglichen Gesundheitseffekten müsse höchstens rechnen, wer ständig Mariniertes in Alu-Geschirr brate oder grille. Allerdings wird empfohlen, dass wir unsere Aluminium-Aufnahme vorsorglich verringern sollten, etwa vom Bundesinstitut für Risikobewertung. Deshalb legt auch Thorsten Stahl Verbrauchern gewisse Verhaltensregeln ans Herz: "Bei Trinkflaschen keine säurehaltigen Lebensmittel einfüllen, sprich: Getränke. Keine Apfelschorlen, also Saftschorlen insgesamt, aber nach Möglichkeit auch keinen Tee. Bei Campinggeschirr ist es genauso: Möglichst auf säurehaltige Marinaden verzichten. Gleiches gilt für Aluschalen. Auch bei marinierten Käsen, fertig mariniertem Fleisch sollte man nach Möglichkeit darauf verzichten, das in Aluschalen zu packen." Wer möchte, kann auch ganz auf Produkte aus Aluminium verzichten. So bieten Camping-Ausrüster inzwischen immer öfter Geschirr aus Titan an. Und Grillschalen oder Trinkflaschen gibt es auch aus Edelstahl.
Von Volker Mrasek
Wie schädlich sind Grillschalen, Trinkflaschen oder Espressomaschinen aus Aluminium? Eine neue Studie hat untersucht, wie viel Aluminium von Lebensmitteln und Getränken aufgenommen wird. Die maximal empfohlene Menge wird zum Teil um ein Vielfaches überschritten. Ein Grund zur Panik?
"2017-10-06T15:16:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:39.310000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aluminium-in-lebensmitteln-von-der-espressokanne-bis-zur-100.html
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Künast (Grüne): Der Hass hat sich vervielfältigt
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast sieht eine Verrohung des öffentlichen Diskurses (Imago/photothek) Philipp May: Hate Speech, Hasskommentare im Internet – vor zehn Jahren war dieses Phänomen noch unbekannt. Es wird mächtig ausgeteilt und die beliebteste Zielscheibe sind wie so oft Politiker. Aber nicht alle Politiker lassen sich alles gefallen. 2019 ist das Jahr, in dem die Grünen-Politikerin Renate Künast in die Schlagzeilen geriet, beziehungsweise ein Urteil des Berliner Landgerichts zu Ungunsten von Renate Künast: Sie wollte gegen Hasskommentare vorgehen, Beleidigungen der schlimmsten Sorte, so bodenlos, dass wir sie hier nicht noch einmal wiedergeben. Zivilcourage - Wie man mit dem Hass umgehen kannZivilcourage könne man lernen – und es sei wichtig, über eigene Unsicherheiten mit anderen zu kommunizieren, sagt Yvonne Bonfert von der Aktion Zivilcourage im Dlf. Schüler hätten im Umgang mit Hass ihre eigenen Strategien. Doch die Richter entschieden, das müsse man als Politikerin aushalten. Diese Beleidigungen stünden in einem Sachbezug und seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Also reden wir zum Abschluss des Jahres über Meinungsfreiheit, über Hate Speech und die Verrohung der Sitten. Guten Morgen, Renate Künast! Renate Künast: Guten Morgen! "Aus einer Stammtischrunde heraus verzehntausendfacht" May: Verrohung der Sitten, zugegeben, das klingt jetzt erst mal so ein bisschen wie meine Großmutter. Aber im Ernst: Ist der Diskurs verroht? Künast: Ja, massiv. Sie haben das selbst angesprochen, AfD - kannten wir vorher gar nicht. Man kann schon sagen, seit der Entstehung von Pegida, AfD und einer neuen Ausrichtung des Rechtsextremismus hat sich der Hass vervielfältigt. Ich weiß gar nicht, ob es so viel mehr Menschen sind, aber er hat sich über die Stammtische und die geschlossenen Räume hinaus gezeigt. Und es gibt jetzt mittlerweile ein Riesen-Netzwerk von Menschen, die da miteinander kommunizieren, den Anschein erwecken, sie seien noch mehr, als sie wirklich sind. Und: Es gibt eben eine durchgehende Verbindung hin zu denen, die gewaltbereit sind, und leider geht das bis in die Bundeswehr. Hasskommentare im Internet - Ermittler: Hetze kommt überwiegend von rechtsDie überwiegende Anzahl der Fälle von politisch motivierter Hassrede komme von rechts, sagte Staatsanwalt Christoph Hebbecker im Dlf. Dabei gebe es tendenziell mehr ältere männliche Tatverdächtige. May: Wenn Sie sagen, der Hass war schon immer da - jetzt bricht er sich aber Bahn beziehungsweise jetzt kommt er erst an die Oberfläche? Künast: Ja, Professor Heitmeyer hatte mal Studien gemacht über zehn Jahre deutsche Zustände, wo er seziert hat, was alles dazugehört: Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit. Und die Einstellungen waren immer schon in Deutschland da zu 10, 15, teilweise 20 Prozent, aber sie haben sich jetzt organisiert. Also jetzt hat was stattgefunden über Pegida, AfD, Identitäre Bewegung, und dann mithilfe des Digitalen, des Netzes, das ja plötzlich aus kleinen Gruppen oder aus einer Stammtischrunde heraus das Ganze verzehntausendfacht, verhundertfacht, und es vergisst auch nicht. Es können so Hassgeschichten immer wieder aufgelegt werden, und sie haben sich auch organisiert und setzen das Medium ein. Insofern ist es mehr auch in der Wirkung und im Druck geworden. Denken wir daran, dass in dem zu Ende gehenden Jahr ja auch zum Beispiel die Bürgermeisterin von Arnsdorf gesagt hat: Den ganzen Hass, digital und analog, halte ich nicht mehr aus, ich bitte um Amtsenthebung. Klima des Hasses - Terror von rechts in Hessen"Blood and Honour", "Combat 18", "Kameradschaft Kassel": Die rechtsextreme Szene in Hessen ist gewaltbereit und gut vernetzt. Spätestens seit dem Mordfall Lübcke und dem Anschlag von Wächtersbach sind die Behörden wachgerüttelt. May: Frau Künast, wenn Sie sagen, es ist mehr geworden, dann können wir ja mal 20 Jahre zurückschauen. Damals waren Sie Verbraucherschutzministerin zu Zeiten von Rot-Grün. Also Sie waren in deutlich höherer, exponierterer Position als heute, als, in Anführungsstrichen, normale Bundestagsabgeordnete. Wie war das damals? Künast: Ja, man sah das nur begrenzt, bekam hier und da Briefe geschrieben, in denen das war. Aber das wirkte halt in der analogen Welt anders, und da habe ich auch manches nicht erfahren. Dafür habe ich dann Bauerntage erlebt, die schlimm schimpften und aufgehetzt waren, aber es hatte ein anderes Kaliber. Das, was jetzt … "Es geht darum, dass sie diese Gesellschaft zersetzen wollen" May: Damals wurden Sie bedroht? Künast: Doch, es gab auch schon mal den einen oder anderen Fall, den die Polizei entdeckt hatte, wo sie sagten, da müssen wir aufpassen, und man bekam auch Personenschutz für Veranstaltungen. Aber diese Massivität und, ich sage mal, diese Abwertung, also jetzt philosophieren sie über, sie würden gerne sexuelle Gewalt an mir sehen oder so, und es geht ja vielen Frauen so, die politisch aktiv sind, also derartig rüde war das damals nicht. May: Was macht das mit Ihnen? Künast: Na ja, ein Kollege von mir hat mal gesagt, man kriegt bei solchen Sachen Hornhaut auf der Seele, ist vielleicht ein bisschen hart, aber man muss sich schon dazu stark machen, um dem entgegenzustehen. Für mich ist aber eins wichtig, ich habe gesagt: Ich weiß, dass es gar nicht um mich persönlich geht - das sage ich auch gerade jungen Frauen immer, wenn die darüber philosophieren, was dir angetan werden soll -, es geht darum, dass sie diese Gesellschaft zersetzen wollen. Hass im Netz - Es muss Grenzen geben im demokratischen DiskursWer hetzt, muss die Verantwortung tragen, meint Stephan-Andreas Casdorff. Die Verantwortung der Gesellschaft sei es, darauf zu reagieren, um das Gemeinwesen zu schützen. Sie wollen nicht, dass Menschen sich engagieren in der Zivilgesellschaft, in Initiativen, in deiner Stadt, irgendein Projekt. Sie wollen nicht, dass Leute wie Bundestagsabgeordnete, Bürgermeister, Kommunalleute sich sicher fühlen. Sie wollen ein autoritäres Regime, und deshalb fangen sie an, alle systematisch anzugreifen. Die Antwort ist darauf, dass ich vermehrt gegen Rechtsextremismus kämpfe. Also ich muss es umdrehen und sagen, schaut mal, was die sagen und wie die reden. Und zum Beispiel gerade in diesem Jahr, wo ja die AfD versucht hat, sich ein bürgerliches Bild zu geben, muss man ganz klar sagen, was da passiert und wie die mit Rechtsextremen vernetzt sind, sie sogar mit ihrer Wortwahl emotional noch unterstützen. May: Wenn ich noch mal das Beispiel um Amtsenthebung bitten aufgreifen darf, das kommt dann also für Sie gerade nicht infrage? Künast: Nein, bei mir wird ein umso stärkerer Kampf daraus. Das Internet muss reguliert werden May: Wenn wir in andere Länder schauen, an denen wir uns orientieren, da fällt mir natürlich sofort die USA ein, dann müssen wir feststellen: Die sind teilweise schon weiter, Stichwort Donald Trump, der Hater in Chief, Präsident mit guten Chancen auf Wiederwahlen nächstes Jahr. Müssen wir uns hier langfristig auf ähnliche Verhältnisse, zumindest, was die Härte der Auseinandersetzung angeht, einstellen? Künast: Ja, es ist ja sogar noch viel näher als Donald Trump: Der Brexit hat ja mit ähnlichen Methoden stattgefunden. Da steckte beides Mal Cambridge Analytica hinter, die viele Daten von Facebook hatten, es steckte das sogenannte Mikrotargeting dahinter, also dass sie Werbung verkaufen und Kommunikationsstrategien verkaufen, die ganz gezielt überhaupt losgehen und an bestimmte Leute. Also dass man das Flüchtlingsproblem zum Beispiel zu einem richtigen Problem macht und aufbauscht und sich darauf konzentriert, dass man Leute gezielt mit Werbung versieht in einem Ausmaß, auch mit negativen Gefühlen, wie die politische Werbung analog es gar nicht konnte. Und der Brexit ist ja so ein Ding voller Lügen, für die man das Netz genutzt hat, und dann noch unter Verletzung von finanziellen Regeln. Also es ist sehr nah. Und deswegen finde ich es ja gut, dass sich schon vor einiger Zeit bei der Europäischen Union diese East StratCom, so eine Kommission gegründet hat und gegründet wurde, die gegen diese Einflussnahme übers Netz auch auf Wahlkämpfe und Abstimmungen vorgeht. Die hatten mal angefangen als Gegenstück zu den russischen Interventionen, und jetzt wissen wir, es gibt auch noch viele andere mehr. Und wir werden uns auch im kommenden Jahr noch darauf konzentrieren müssen, wie Werbung im Netz überhaupt geschaltet werden darf, wenn überhaupt, wie sie kenntlich gemacht ist, wie wirklich live kenntlich gemacht werden muss, wer die finanziert hat. Also das steht uns noch bevor, damit wir tatsächlich nicht in die Irre geführt werden und emotionalisiert werden. Da mache ich mir Sorgen. May: Also wir brauchen stärkere Regulierungen fürs Netz, sagen Sie? Künast: Das Netz, natürlich, das muss reguliert werden, so wie es uns selbstverständlich ist, auf jeder Straße Streifen zu ziehen, damit man weiß, wo man fährt, Leitplanken zu haben, Geschwindigkeitsbegrenzungen zu machen. Es kann nicht sein, dass die Netzanbieter unter dem Deckmäntelchen, sie würden Kommunikation anbieten, ein Wahnsinnsgeld verdienen, aber doch am Ende Plattformen sind für viel Missbrauch, für die Organisationen von Rechtsextremismus, für Beeinflussung von Wahlen und Abstimmungen. Es muss reguliert werden und das, was in der analogen Welt selbstverständlich gilt, muss da auch gelten. Hate Speech unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit May: Jetzt erleben wir eben die Diskussion, die wir jetzt auch gerade führen, über Hasskommentare, über Hate Speech, und auf der anderen Seite erleben wir auch die Diskussion darüber, dass die Meinungsfreiheit in Gefahr sei - angeblich. Wie passt das zusammen? Künast: Die Behauptung, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr, man dürfe in diesem Land Dinge nicht sagen, ist ja ein Trick gewesen, auch aus Pegida- und AfD-Kreisen, indem sie als erstes immer, man dürfe hier nicht sagen, was man meint, zum Besten gegeben haben, um dahinter aber in Wahrheit Hate Speech anzubieten, also Hass. Da ging es gar nicht um Meinungsfreiheit und Einschätzungen. Und es war sozusagen einer der Anfänge, um die, sage ich mal, Betriebstemperatur der Diskussion bei manchen zu erhöhen. Und dahinter kamen dann – und da ist ja vieles leider gar nicht strafbar, sage ich mal, emotional - ganz viel rassistische und abwertende Äußerungen, sexualisierte Gewalt, und, und, und. Daran erkennt man, dass die Meinungsfreiheit bei uns doch extrem groß ist. Und gerade die, die den Mangel angeblich beklagen, haben ja selber ihr Handbuch für Medienguerilla, wie sie Leute fertigmachen wollen, also Leute, die sich engagieren. Da steht am Ende: "Wenn du nichts Politisches hast, greife die Familie an." May: Andererseits haben dann Studenten der Uni Hamburg ein Seminar des VWL-Professors und AfD-Gründers Bernd Lucke, der sich mittlerweile von der AfD distanziert, mit viel Rabatz verhindert. Das haben viele dann eben auch als Beleg für die Verengung des Meinungskorridors hergenommen. Künast: Na ja, das kann schon deshalb nicht Beleg sein, weil das schon jahrelang so geht. Also es hat ja mit der Meinungsfreiheitsdebatte schon vor 2015 angefangen, dass die rechtsextremen Kreise behauptet haben, Meinungsfreiheit sei eingeschränkt. Aber das halte ich für eine sehr alberne Geschichte. Man kann in diesem Land alles Mögliche sagen, bis überhaupt das Strafrecht eingreift. Und mittlerweile gibt es ja Fälle, da wundern wir uns, warum Staatsanwälte keine Anklage erheben oder ein Landgericht meint, was sich Politikerinnen alles gefallen lassen müssen. Absurd! So wird sich in diesem Land niemand mehr engagieren, wenn er so allein gelassen wird. Aber - und das ist eine Systematik, die Rechtsextreme, die Donald Trump, Brexit und andere systematisch machen, auch Le Pen macht das - lassen wir uns davon nicht in die Irre führen. Vollkommen unabhängig davon und nicht vergleichbar mit dem, was an rechtsextremen Netzwerken, die bis zu NSU, bis zu Bewaffneten gehen, die bei der Bundeswehr an der Waffe ausgebildet sind und Munition klauen oder so, das müssen wir wissen. Das ist das. Mit dem ist gar nicht zu vergleichen, was jetzt in Hamburg passierte, wo der AStA eine Demonstration machen wollte und einige haben diese Veranstaltung gestört. Fand ich politisch unklug, war auch nicht richtig. Aber lassen Sie uns das nicht vergleichen, das wäre eine Naivität. Wir reden über einen Rechtsextremismus, der auch im Netz Leute anheizt, und da kommt so was raus wie Breivik, der viele junge Menschen umgebracht hat in Utøya, da kommt so was raus wie der Angriff auf die Synagoge in Halle, wo dann zwei Passanten noch ermordet wurden, da kommt so was raus wie die Ermordung des Regierungspräsidenten von Kassel, Lübcke, und an die 200 Mordtaten und viele, viele Körperverletzungen von Rechtsextremen in den letzten Jahren bei uns im Land. Endlich handeln Regierung und Behörden May: Wir wissen von Morddrohungen gegen zwei Ihrer Parteikollegen, Cem Özdemir und Claudia Roth, auch von rechts. Haben Sie keine Angst? Künast: Nö, Angst isst die Seele auf. Das führt bei mir eher dazu, dass ich auf einer anderen Art eine Sorge habe. Wenn ich das gesamte Netzwerk sehe, weiß ich, wir müssen uns wirklich Sorgen machen in Deutschland. Deshalb ist das Mindeste, dass endlich nach Jahren Leugnung jetzt auch der Bundesinnenminister und die entsprechenden Behörden sehen, was da im rechtsextremen Bereich los ist, und schade, dass man das nicht schon vor vielen Jahren gesehen hat. So manches Opfer wäre vielleicht verhindert worden. Und auf der anderen Seite: Endlich! Und jetzt kämpfen wir darum, dass Polizei und Staatsanwaltschaften besser ausgestattet werden, genauer hinsehen, dass wirklich die Leute merken, du kannst hier nicht einfach so agieren: Und zeitgleich kämpfen wir dafür, dass die zivilgesellschaftlichen Projekte besser finanziert werden und die Beratungsstellen, weil das brauchen wir auch. Die Staatsanwälte und das BKA alleine werden dem nicht Herr werden. May: Frau Künast, jetzt wollte ich Sie zum Abschluss eigentlich noch nach Ihren Wünschen fürs neue Jahr fragen, möglicherweise haben Sie die Frage gerade schon beantwortet? Künast: Ja, das ist der eine Teil, der andere ist natürlich, dass wir alle ein friedvolles Land haben und wir uns dafür engagieren, jede und jeder an seiner Stelle. May: Da kann ich mit Fug und Recht sagen, das wünsche ich mir auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Renate Künast mit Philipp May
Die Grünen-Politikerin Renate Künast beklagt eine Verrohung des öffentlichen Diskurses, die in Verbindung stehe mit Pegida und der AfD. Mit der Behauptung, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr, würde Hass verbreitet, sagte Künast im Dlf. Letztlich gehe es darum, die Gesellschaft zu zersetzen.
"2019-12-31T06:50:00+01:00"
"2020-01-26T23:25:55.799000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-rechtsextremismus-kuenast-gruene-der-hass-hat-100.html
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"ACTA schafft da kein neues Recht in Deutschland"
Jasper Barenberg: Es war ein Etappensieg für die mehreren zehntausend meist jungen Leute, die am vergangenen Wochenende überall in Deutschland protestiert haben und auch in Europa. Die Bundesregierung wird das ausgehandelte internationale Abkommen zum Schutz von Urheberrechten erst einmal nicht unterzeichnen. ACTA verpflichtet die Staaten dazu, Regeln gegen Markenpiraten und Raubkopierer zu erlassen - nicht nur, aber auch im Internet. Die Netzgemeinde sieht dadurch Bürgerrechte in Gefahr, fürchtet eine Art Zensur im Internet. Das bestreitet die Regierung und doch sehen sich inzwischen Politiker aller Parteien genötigt, auf die Kritiker zuzugehen. Über diese Kehrtwende geärgert hat sich der Bundesverband der deutschen Industrie, dort beschäftigt sich Holger Lösch in der Hauptgeschäftsführung mit dem Thema, er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!Holger Lösch: Guten Morgen, Herr Barenberg.Barenberg: Herr Lösch, an dem Ziel, geistiges Eigentum wirksam zu schützen, hält die Bundesregierung ausdrücklich fest, bezeichnet auch das ACTA-Abkommen weiter für notwendig und für richtig. Die Bundesregierung will nur sicherstellen, dass damit nicht Informationsfreiheiten von uns allen im Netz eingeschränkt werden. Was ist an dieser Haltung falsch?Lösch: Das Problem ist, dass dieser Vertrag über Jahre ausgehandelt wurde. Es handelt sich um ein völkerrechtliches Abkommen und bislang haben 22 EU-Staaten unterzeichnet und die EU selbst auch, und übrig geblieben sind jetzt Polen, Tschechien, Lettland und die Slowakei und eben Deutschland. Und da es bei diesem Abkommen ja darum geht zu demonstrieren, wie wichtig Innovation und der Schutz von Innovation und der Schutz von geistigem Eigentum ist - ein Thema, was für Deutschland immens wichtig ist in seiner Rolle als vielfacher Weltmarktführer -, da befinden wir uns in einer schwierigen Gesellschaft und dieses deutsche Vorgehen ist kein gutes Signal für das eigentliche Ziel, nämlich genau dieses zu schützen, geistiges Eigentum und eben auch Innovationen.Barenberg: Aber wenn, wie Sie selber sagen, es ja eine ganze Reihe von Staaten gibt, wo sich Bedenken inzwischen angesammelt haben, Vorbehalte gegen dieses Projekt, muss man dann nicht einfach noch mal den Reset-Knopf drücken und neu anfangen?Lösch: Dieses Gesetz ist in fast fünf Jahren verhandelt worden, es gab elf Verhandlungsrunden, es waren zwei deutsche Ministerien beteiligt, die bei zehn von diesen elf Verhandlungsrunden dabei waren, es wurde der Bundestagsunterausschuss Europarecht damit befasst - also es ist ja nicht so, dass hier ein geheimes Abkommen entstanden ist und dieses geheime Abkommen nun plötzlich das Licht der Welt erblickt hat. Das ist ein ganz intensiver Verhandlungsprozess gewesen. Das Problem, das wir als Industrie haben, die in hohem Maße von Produktpiraterie betroffen ist - wir reden hier über Schäden von geschätzten 500 Milliarden Euro, die jährlich entstehen, nicht nur in Deutschland, aber generell durch Produktpiraterie: Wir können eigentlich nicht verstehen, warum ein so lange verhandeltes Abkommen nun plötzlich - und ich will das nicht unterstellen, aber angesichts einiger tausend Demonstranten - nicht mehr sorgfältig verhandelt gewesen sein soll.Barenberg: Nun gibt es ja offenbar innerhalb der Bundesregierung und auch, was die Demonstranten auf der Straße angeht, keine Einwände dort, wo es um gefälschte Produkte geht, also um Medikamente, Spielzeug, Elektronik und einiges andere mehr. Wohl aber, wenn es um die Rechte, die Gewohnheiten, die Freiheitsmöglichkeiten im Netz geht. Da ist die Kritik massiv. Muss man nicht gerade in diesem Punkt dann auf solche berechtigten Vorbehalte eingehen?Lösch: Es ist sicher richtig, dass wir eine in den letzten Monaten und vielleicht auch Jahren verstärkte Debatte über die Frage, wie funktioniert Urheberrecht im Netz, wie funktionieren Geschäftsmodelle in der neuen digitalen Welt, haben. Ich sehe da allerdings ein Problem, wenn in dieser Debatte eine für uns völlig klare rote Linie verwischt wird, und das ist die rote Linie von Kriminalität. Die Frage von meins und deins kann durch noch so viel Netzromantik nicht neu gestellt werden.Barenberg: Wo wird die verwischt, diese rote Linie?Lösch: Wenn Sie sich die Äußerungen und Kommentare anschauen, da wird doch sehr, sehr lax mit der Frage umgegangen, was ist denn nun ein Eigentumsrecht, was ist denn nun Urheberrecht. Es gibt Debatten, die dahin gehen, dass eigentlich Urheberrecht der Bremser für Kreativität im Netz ist. Das sind natürlich Dinge, die ein Land wie Deutschland - und wir haben in diesem Land allein in der Industrie 1500 Unternehmen, klein und groß, die in irgendeinem Gebiet Weltmarktführer sind. Diese Unternehmen geben enorm viel Geld und sehr viel Mühe wenden sie auf, um diese Position, ihre Innovation, ihre Patente, ihre Urheberrechte zu schützen. Und da kann man nicht sagen, das Urheberrecht behindert so ein bisschen die Kreativität im Netz.Barenberg: Der Standpunkt der Kritiker ist ja, Informationen und Daten sollten im Netz frei ausgetauscht werden können, jedenfalls solange die Nutzer damit keine kommerziellen Ziele verfolgen. Ist das ein richtiger Grundsatz?Lösch: Das ist ja auch von ACTA überhaupt nicht berührt. Man muss vielleicht ganz klar sagen: Die deutsche Urheberrechtsgesetzgebung ist bei weitem rigider, das angewandte Recht, als das, was in ACTA nun niedergeschrieben ist. Wozu ist ACTA da? ACTA ist dazu da, um auf völkerrechtlicher Ebene, ich will es mal flapsig formulieren, den moralischen Grundwasserspiegel für das Thema Urheberrechte und Produktpiraterie zu heben. Ursprünglich wollte man China und auch Indien und andere Länder in dieses Abkommen mit reinnehmen, Länder, wo wir wissen, dass es ein enormes Produktfälschungs- und Piraterieproblem gibt. Die haben dann nicht mitgemacht. Aber es ist aus unserer Sicht ein Fortschritt, dass inzwischen nun 39 Länder sich quasi gewissen Mindeststandards für die Frage, wie gehen wir mit Produktpiraterie um, anschließen wollen, und diese Chance wird aus unserer Sicht mit der Rolle rückwärts der Bundesregierung nun natürlich zumindest verzögert, aber auch in der Diskussion natürlich in hohem Maße in Frage gestellt.Barenberg: Um es mal auf den Punkt zu bringen, oder den Versuch zu machen, das praktisch zu machen: Internet-Provider sollen dazu gebracht werden, die Online-Nutzung ihrer Kunden zu überwachen, zum Beispiel auf Urheberrechtsverletzungen. Sind Sie dafür?Lösch: Internet-Provider sind heute an der Stelle; sie haben Haftungsbeschränkungen. Das heißt, sie sind nicht - weder heute, noch mit ACTA; ACTA schafft da kein neues Recht in Deutschland - verpflichtet, allgemeine Überwachungspflichten zu machen, sondern sie müssen erst, wenn sie Kenntnis erlangen von rechtswidrigen Inhalten, von Vertrieb von gefälschten Produkten etc., Maßnahmen gegen Nutzer vornehmen. Das ist heute gelebte Praxis. Und ACTA ist an dieser Stelle wesentlich unspezifischer, auch eben aus diesem Grund, weil es zwischen so vielen Ländern verhandelt wurde, dass ist an manchen Stellen dann wirklich schwammig. Das deutsche Recht ist da wesentlich spezifischer. Aber es ist an keiner Stelle in ACTA zu lesen, dass nun die Internet-Provider Hilfssheriffs werden müssen. Ich frage mich allerdings auch: Eine Bank muss auch sich mit der Frage befassen, was ist denn nun, ist hier möglicherweise ein Geldwäschevorgang im Gange. Es gibt auch für andere Branchen, Dienstleister, klare Regeln, wie sie mit Verdächten und mit Ansatzpunkten für kriminelle Handlungen umgehen müssen, und nur hierum geht es. Und alles, was privat ist, die private Kopie, das private Nutzen von Internet, ist von all diesen Gesetzen im Rahmen unseres Urheberrechts überhaupt nicht berührt. Es geht schlicht und ergreifend um Kriminalität und um quasi gewerblichen Missbrauch von bestehenden Eigentumsrechten.Barenberg: Aagt Holger Lösch, in der Hauptgeschäftsführung beim Bundesverband der deutschen Industrie zuständig unter anderem für das Thema ACTA. Vielen Dank für das Gespräch.Lösch: Vielen Dank.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Holger Lösch im Gespräch mit Jasper Barenberg
Internet-Provider müssten bereits heute gegen rechtswidrige Inhalte und den Vertrieb gefälschter Produkte vorgehen, sagt Holger Lösch, Mitglied der Hauptgeschäftsführung beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). ACTA unterstütze dies auf völkerrechtlicher Ebene.
"2012-02-15T06:50:00+01:00"
"2020-02-02T14:43:33.391000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/acta-schafft-da-kein-neues-recht-in-deutschland-100.html
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"Wir dürfen die Menschen nicht am Sterben hindern"
Der Pflegekritiker Claus Fussek. (Imago / Horst Galuschka) Grundsätzlich seien die Pläne, die heute im Bundestag zur Abstimmung stehen, zwar eine Verbesserung, räumte Fussek ein. Es sei aber beschämend, dass in Deutschland schon seit Jahren darüber diskutiert werde und sich die Lage bis heute nicht entscheidend gebessert habe. "Wer die Situation in Pflegeheimen kennt, dem wird angst und bange." Die zusätzlichen 200 Millionen Euro, die Gesundheitsminister Gröhe für den Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung vorsehe, seien unzureichend. "Manchmal habe ich den Eindruck, man versucht hier, mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen." Pflegekräfte seien regelmäßig traumatisiert, weil es ihnen angesichts ungenügender Personalausstattung nicht gelinge, sterbende Menschen angemessen zu betreuen. Die Menschen bräuchten die Sicherheit, dass sie am Ende ihres Lebens von gut geschultem Personal ohne Zeitdruck palliativ versorgt würden, betonte Fussek. "Wenn wir es aber - möglicherweise aus finanziellen Gründen - nicht schaffen wollen oder können, dass wir jedem Menschen garantieren, dass er am letzten Lebensabschnitt würdevoll und schmerzfrei begleitet wird, dann dürfen wir nicht gegen aktive Sterbehilfe sein." Deshalb sei die Diskussion "scheinheilig und zum Teil verlogen". Das vollständige Interview können sie hier lesen: Dirk Müller: Viele Mediziner und Experten sind sich sicher: Eine gute Versorgung Sterbenskranker könnte den Ruf nach Suizid oder auch aktiver Sterbehilfe nahezu überflüssig machen. Der Bundestag wird in wenigen Stunden grünes Licht wohl dafür geben, die Palliativmedizin und das Hospizwesen besser zu fördern und weiter zu stärken. Das geschieht nur einen Tag, bevor das Parlament auch über die Beihilfe zum Suizid entscheidet. So hoffen viele Abgeordnete darauf, dass mit einem dichteren Netz an Hospizdiensten und Palliativversorgung der Wunsch nach einem Freitod oder aktiver Sterbehilfe gar nicht erst aufkommt. Eine bessere Palliativversorgung für todkranke Menschen. 200 Millionen Euro vom Bund sind vorgesehen, wenn der Bundestag heute zustimmt, wovon alle ausgehen. - Am Telefon ist nun der Pflege- und Systemkritiker Claus Fussek. Guten Morgen! Claus Fussek: Guten Morgen. Müller: Herr Fussek, wird jetzt alles ein bisschen besser? Fussek: Na ja. Den Satz, den kenne ich jetzt: Der Weg in die richtige Richtung, es wird besser. Natürlich ist es jede kleine Verbesserung. Aber die Tatsache, dass wir das ja seit Jahren diskutieren, ist eigentlich beschämend. Und wer die Pflege- und Lebensrealität zum Beispiel in Pflegeheimen oder in den meisten Pflegeheimen kennt, dem wird Angst und Bange, und mit 200 Millionen Euro wird man... Manchmal habe ich den Eindruck, man versucht hier, mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen. "Jeder wird mal betroffen sein" Müller: 200 Millionen Euro, sagen Sie, ist so gut wie nichts, ein Tropfen auf den heißen Stein. Was soll man sonst machen? Fussek: Na ja. Es ist ja die gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum man da so lange diskutiert. Alle, die heute zuhören, wissen, das: Jeder wird irgendwann mal betroffen sein. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit sich vorstellen kann, irgendwo in einem Pflegeheim nachts allein, ohne Pflegekraft, die überfordert ist, vielleicht in einem Doppelzimmer, fixiert möglicherweise mit Schmerzen seinen Lebensabschnitt beenden zu wollen. Die Realität ist eine andere. Wir wissen, dass Menschen, wenn sie wissen oder wüssten, dass sie am Lebensende die Garantie hätten, von gut geschultem Personal nicht unter Zeitdruck in einer Lebensatmosphäre wie auf einer Palliativstation, wie in einem Hospiz am Ende sein zu dürfen, das würde die Sicherheit geben. Nur die hat kaum jemand. Müller: Hört sich an wie eine Mammut-, eine Herkulesaufgabe, die die Politik nicht bereit ist zu leisten. Fussek: Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft nicht. Wir verdrängen dieses Thema kollektiv. Es kann doch nicht wahr sein, dass wir immer noch nicht die Garantie haben, dass auch jeder Hausarzt palliative Kenntnisse hat. Es kann doch nicht sein, dass es in Deutschland, in einem der reichsten Länder der Welt, wie bei jeder Gelegenheit betont wird, es Pflegeheime gibt, die nicht Hospizkultur haben, dass man sterbende Menschen in ein Hospiz fahren muss oder gar in ein Krankenhaus fahren muss, weil man vor Ort in dem Heim, wo man eigentlich seinen Lebensabschnitt beenden wollte, dass da das Personal überfordert ist. Wir wissen: Eine Nachtwache für 60, 70, manchmal noch mehr Menschen, da brauche ich doch nicht über Sterbebegleitung reden. Das ist grauenhaft, und zwar auch für Pflegekräfte. Sterbehilfe ist eine "kollektive Verdrängung" Müller: Sie sagen, das ist ja insgesamt gesellschaftlich vom Konzept her nicht umstritten, aber keiner traut sich, das irgendwie nach vorne zu bringen, darüber zu reden. Woran liegt das denn, Herr Fussek? Fussek: Ich weiß es nicht. Es scheint immer wieder Satz einer kollektiven Verdrängung. Man beschäftigt sich mit dem Thema erst, wenn man selber betroffen ist. Und der Wahnsinn ist ja: Jeder weiß es ja. Jeder, der einen Angehörigen in einem Pflegeheim, in einem durchschnittlichen Pflegeheim besucht, oder der jemand im Krankenhaus besucht, kennt die Situation. Ich denke, dass wir da Angst haben müssen, darüber zu reden. Jeder Rettungssanitäter, jeder Notarzt weiß das. Ich werde jeden Tag von Pflegekräften kontaktiert. Die rufen mich an, die sind zum Teil verzweifelt, traumatisiert, weil sie etwas nicht geschafft haben, dass sie einem sterbenden Menschen die Hand halten dürfen, ein Gebet sprechen. Wir reden ja über Minimalstversorgung. Und ich denke mir immer, wir schimpfen über Sterbehilfe, über die Schweiz und empören uns hier scheinheilig. Aber die Chance wäre, dafür zu sorgen, dass es kein Pflegeheim mehr geben darf, wo nicht Hospizkultur, palliative Pflege garantiert wird. In jedem Pflegeheim wird gestorben. Auch heute Nacht sind wieder Menschen in deutschen Pflegeheimen einsam, würdelos gestorben und wir haben auch heute wieder Pflegekräfte erleben müssen, die wahrscheinlich völlig traumatisiert in der Früh sind, dass sie wieder ihre ureigenste Tätigkeit, nämlich Hilfe am letzten Lebensabschnitt, nicht leisten konnten, weil sie wieder allein und überfordert und überlastet waren. Aber das wissen wir seit Jahren. Müller: Das sagen Sie. Es wird ja bezweifelt, dass das alle wissen, was ein Hospiz leisten kann, was Palliativmedizin leisten kann. Schauen wir mal auf zwei, drei Zahlen. 75 Prozent nach einer jüngsten Umfrage der Menschen, 75 Prozent wollen zuhause sterben. Tatsächlich stirbt jeder Zweite im Krankenhaus, viele Krankenhäuser davon ohne Begleitung, wie Sie sie fordern. Nur 30 Prozent der Verstorbenen haben eine Palliativbehandlung bekommen und 90.000 Menschen nehmen die Leistungen im Jahr in Anspruch. Wenn Sie jetzt sagen, das ist alles noch nicht in den Köpfen und der politische Wille, der gesellschaftliche Wille ist nicht da. Wenn wir uns in kleinen Schritten nähern, 200 Millionen, 400 Millionen werden im Moment insgesamt jedenfalls an Förderung dafür ausgegeben, sind das Milliarden-Investitionen, die da auf uns zukommen? "Scheinheilige Diskussion" Fussek: Na ja, was heißt Milliarden? Das andere kostet ja auch Geld. Allein die Vorstellung, wer am Lebensende verdient. Einfach die Situation: Jemand ist im Pflegeheim, liegt im Sterben, das Personal ist überfordert, traut sich nichts zu, holt einen Notarzt, der Notarzt fährt ins Krankenhaus, unbegleitet häufig, man liegt dann auf der Notfallstation in Krankenhäusern. Wer in München lebt, der kann sich das einfach mal vorstellen, was das zum Teil bedeutet. Dann liegt der Mensch in einem Krankenhausbett, das kostet ja auch alles Geld. Ich denke, wir führen hier eine scheinheilige und zum Teil auch verlogene Diskussion. Oder wir sollten dann einfach sagen, wenn wir es möglicherweise aus finanziellen Gründen nicht schaffen, oder nicht schaffen wollen, oder nicht schaffen können, dass wir jedem Menschen garantieren, dass er im letzten Lebensabschnitt palliativ, würdevoll, schmerzfrei versorgt und begleitet wird, ja dann dürfen wir nicht gegen aktive Sterbehilfe sein. Und wenn wir zuschauen, dass immer weniger Menschen in der Pflege so arbeiten können, wie sie es gelernt haben, das heißt, wir haben hier einen gigantischen Personalmangel, das heißt, viele Pflegekräfte fehlen oder sind völlig überfordert, sprechen kaum Deutsch - das ist ja auch notwendig, um Sterbebegleitung durchzuführen, dass man das versteht -, ja dann dürfen wir die Menschen nicht am Sterben hindern. Müller: Herr Fussek, ist das für Sie denn ganz klare Sache, dieser Zusammenhang, den viele ja herstellen, andere wiederum bestreiten, der Zusammenhang, je mehr Palliativmedizin, je größer das Hospiznetz, desto weniger das Bedürfnis, in aktive Sterbehilfe zu gehen? Fussek: Ich glaube, das sagt der gesunde Menschenverstand. Das muss sich jeder ja selber fragen. Und das, was wir seit Jahren oder Jahrzehnten erleben, die Hilferufe von Pflegekräften oder auch von Angehörigen, wir haben traumatisierte Angehörige, die mir gesagt haben: Dass meine Mutter mit 80, mit 90 mal sterben musste, das ist ja klar. Aber doch nicht so!Umgekehrt haben wir ja gelungene Beispiele. Auf einer Palliativstation in einem Hospiz oder auf einer Palliativstation in einem Krankenhaus wird doch niemand nach aktiver Sterbehilfe verlangen. Das, denke ich, ist der Grundsatz. Das heißt, wir müssen ehrlicher diskutieren, wir müssen offener diskutieren, und jeder, der es wissen will, kann sich ja persönlich überzeugen. Das ist ja kein Szenario, was ich hier mache, sondern jeder weiß es. Die Pflegeheime, wo häufig grausam gestorben wird, gibt es ja in Deutschland. Umgekehrt kann ich sagen, es gibt die positiven Beispiele. Es gibt die Hospize. Es gibt auch Pflegeheime, die in gemeinsamer Verantwortung mit Ehrenamtlichen - - Ich kenne Pflegeheime, da werden sogar die Reinigungskräfte, der Hausmeister, der Koch palliativ geschult. Müller: Herr Fussek, da kommt die Musik. Die Nachrichten warten auf uns. Fussek: Ja. Wir müssen uns kümmern! Müller: Vielen Dank für das Gespräch. - Der Pflege- und Systemkritiker Claus Fussek bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke! Ihnen noch einen guten Tag. Fussek: Danke! Ihnen auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Claus Fussek im Gespräch mit Dirk Müller
Aus Sicht des Sozialarbeiters und Buchautors Claus Fussek geht das Hospiz- und Palliativgesetz von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nicht weit genug. Zum Ausbau der Palliativversorgung zusätzlich 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, sei der Versuch, "mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen", sagte Fussek im DLF.
"2015-11-05T06:50:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:36.434000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hospiz-und-palliativgesetz-wir-duerfen-die-menschen-nicht-100.html
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Podcast-Empfehlung: Deep Doku
Panknin, Anna
Deep Doku erzählt jede Woche eine Geschichte aus Berlin und der Welt. Persönliche Audiostorys und Reportagen über das Stadtleben, Kultur, Clubs, Politik, Diversität und Lifestyle. Johannes Nichelmann führt euch jede Woche durch eine andere Szene. Deep Doku findet ihr überall da, wo es Podcasts gibt.
"2023-07-09T13:38:13+02:00"
"2023-07-09T13:38:13.007000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deep-doku-cross-promo-dlf-81ff5ea5-100.html
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Genetische Kettenreaktion gegen Stechmücken
Durch Genmanipulation unschädlich machen: Larven der Asiatischen Tigermücke. (picture alliance / dpa / Ahmad Yusni) Immer wieder versuchen Wissenschaftler, mit Gentechnik Stechmücken zu bekämpfen. Vorrübergehend können sie dabei Erfolge vorweisen. Aber letztlich werden sich die natürlichen Wildtypmücken immer durchsetzen, erklärt der Insekten-Spezialist Mark Hoddle. Er leitet das Zentrum für angewandte biologische Kontrolle an der Universität von Kalifornien in Riverside. "Genmanipulierte Mücken verdrängen zunächst die einheimischen Populationen. Bald leben kaum noch wilde Stechmücken in dieser Region, aber dann wandern bald wieder Wildtyp-Mücken von außen ein. Die genmanipulierten Tiere sind den natürlichen im Konkurrenzkampf unterlegen und schließlich verschwinden sie wieder aus dem Ökosystem." Nur ein paar Straßen weiter auf dem gleichen Campus leben Stechmücken, die das ändern sollen. Der Insektenforscher Omar Akbari hat für sie ein besonders sicheres Insektarium eingerichtet: "Wie Sie sehen, haben wir zwei selbstschließende Türen eingebaut. Sie sind absolut dicht, so dass keine Insekten heraus oder hinein kommen." 27 Grad Celsius, hohe Luftfeuchtigkeit. Die Bedingungen sind ideal für die Ägyptische Tigermücke Aedes Aegypti. Leicht zu erkennen an den hellen Streifen. Diese Stechmücken übertragen Zika, Gelbfieber, Dengue- und andere Krankheiten. Akbari "Ich puste nur ein wenig CO2 in diesen Kasten hinein. Und schon kommen die Stechmücken in Fahrt. Sehen Sie? Sie reagieren auf das CO2 in der Atemluft. Sie wollen mein Blut." Der Einsatz von Insektiziden könnte sich erübrigen, wenn Gene Drive in der freien Natur zum Einsatz kommt. (picture alliance / EPA / Oscar Rivera) Omar Akbari experimentiert mit einer besonderen Form der Genmanipulation, genannt Gene Drive. Damit lassen sich nicht nur einzelne Individuen manipulieren, sondern Populationen oder sogar ganze Arten. Möglich wurde Gene Drive durch das Gentechnik-Verfahren CRISPR/Cas9. Damit konstruierten die Forscher eine Art Gen-Kopierer im Innern der Zellen. Er kopiert sich selbst bei jeder geschlechtlichen Fortpflanzung: "Mit dieser Technologie können wir die Mendelschen Regeln austricksen. Normalerweise findet sich ein Gen nach der Fortpflanzung bei der Hälfte der Nachkommen. Gene Drive sorgt dafür, dass alle Nachkommen ein bestimmtes Gen erhalten. Gene können sich damit explosionsartig in einer Population ausbreiten. Und wir können jede gewünschte Eigenschaft verbreiten." Zusammen mit Gene Drive könnten die Forscher Gene in das Erbgut der Mücken einschleusen, die den Zika-Erreger bekämpfen. Die Tiere könnten fortan den Erreger nicht mehr übertragen. Durch Gene Drive würden sich die Anti-Zika-Gene immer weiter ausbreiten. Die Forscher könnten aber auch dafür sorgen, dass alle Nachkommen der Mücken Männchen sind. Die Weibchen sterben schließlich aus und mit ihnen die gesamte Art. Bestimmte Stechmücken ließen sich so für immer ausrotten, erklärt Omar Akbari: "Wenn Sie eine biologische Art weltweit vernichten wollen, zum Beispiel Aedes aegypti, den Zika-Überträger, dann ist das jetzt möglich. Die neue Technik verbreitet sich selbst in einer Art Kettenreaktion. Irgendwann bricht die ganze Population zusammen - und schließlich haben Sie die Art ausgerottet." Krankheiten wie Zika, Gelbfieber oder Dengue lassen sich mit Gene Drive weit effektiver bekämpfen als mit allen bisherigen Methoden. Davon ist Omar Akbari überzeugt. Aber es gibt auch Risiken. Ganze Ökosysteme könnten sich durch den Start einer genetischen Kettenreaktion für immer verändern. Mehr dazu in Wissenschaft im Brennpunkt am Sonntag, 28. August 2016 um 16:30 Uhr. Titel: "Die Gen-Bombe - Kettenreaktion gegen Zika, Malaria und Co."
Von Michael Lange
Sie werden nur fünf Millimeter groß, aber Stechmücken sind die gefährlichsten Tiere der Welt. Mückenstiche töten jährlich etwa eine halbe Million Menschen durch Übertragung von Malaria, Gelbfieber, Zika und anderen Krankheiten. In Zukunft könnten die gefährlichen Stechmücken durch eine neue Form der Genmanipulation, genannt Gene Drive, ausgerottet werden.
"2016-08-26T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:49:46.499000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nie-mehr-zika-oder-gelbfieber-genetische-kettenreaktion-100.html
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Hoffnung, Chance oder Enttäuschung für Italien?
Bauarbeiten im Februar am italienischen Pavillon für die Expo 2015 (dpa / picture alliance / Stefano Porta) Am 1. Mai öffnet die Expo 2015 in Mailand ihre Tore. Eine ganz andere Weltausstellung als alle Bisherigen soll es werden. Keine reine Ausstellung, sondern ein Austausch von Ideen rund um die Themen Ernährung, Nachhaltigkeit, Ressourcenschutz. "Feed the planet, energy for life" lautet das Motto. Workshops und Debatten für das Publikum, gezieltes Zusammenführen von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern – so das Konzept. "Die Vision war ein Weltereignis mit sozialem Anspruch nach Mailand zu holen", sagt der Architekt Andreas Kippar. "Mailands damalige Bürgermeisterin wollte alles allein entscheiden, so wie eine Gräfin in der Renaissance das getan hätte", sagt der Journalist Gianni Barbacetto. "Das eigentliche Thema: Mailand, wohin? Sie hat es als Einzige so verinnerlicht, dass sie gemerkt hat: Wir brauchen einen großen Event, um Mailand zu positionieren." Mailand: wohin? Italien: wohin? Das Land sucht nach Wegen aus der Wirtschaftskrise, die nun schon sieben Jahre andauert und die das Selbstbewusstsein der Italiener massiv erschüttert hat. Von der einstmals sechst-stärksten Industrienation der Welt ist Italien auf einen Platz irgendwo knapp vor oder schon neben Griechenland geschlittert. Ein Schock, ein Wendepunkt in der historischen Entwicklung des Landes. Statt weiter aufwärts, ging es mit einem Mal rasant abwärts, wirtschaftlich und moralisch. Viele Unternehmen mussten schließen, und die Politiker stritten um ihre Bezüge und Privilegien. Die Bürger verloren das Vertrauen und die Arbeiter ihre Jobs. Dann kam Matteo Renzi, der einen radikalen Wandel versprach, eine Revolution. Seit einem Jahr regiert der 40-Jährige nun mit seiner jungen Mannschaft das Land - und der Eindruck drängt sich auf, dass die versprochene Revolution sich, wenn überhaupt, dann schleichend vollzieht. Italien hängt in der Schwebe und sucht nach seiner Identität, nach seiner Zukunft. Und die Expo spaltet die Italiener in Befürworter und Gegner einer bestimmten Vorstellung von der Zukunft. Der Landschaftsarchitekt Andreas Kippar, seit fast 30 Jahren in Mailand tätig, ist ein engagierter Befürworter. "Für die Stadt hat es schon geklappt. Mailand hat einen Termin, es wird gearbeitet. Es ist Leben, weil man weiß, es kommen viele Menschen und weil man weiß, wir sind in einem Prozess, wir sind noch nirgendwo angekommen. Mailand gibt sich nicht als die Stadt, die schon irgendwo angekommen ist, sondern als eine Stadt, die sucht." Schwierige wirtschaftliche Lage Kippar verbreitet genau die Begeisterung und den Optimismus, den sich Italiens Regierungschef Matteo Renzi wünscht, ja, den er dem Land verschrieben hat, als Rezept gegen die Krise. Renzi hängt einem Teil der Italiener inzwischen zum Hals heraus. Einen Sprücheklopfer, nennt ihn der Mailänder Journalist Gianni Barbacetto. "Renzi hat eine große Tat vollbracht: Er hat Italien von Berlusconi befreit, das muss man ihm zugestehen. Aber er ist Berlusconi leider sehr ähnlich. Ich erinnere mich, dass er eine Reform pro Monat versprach. Gesehen habe ich davon bisher wenig. Kleine Veränderungen, meines Erachtens nach vor allem Verschlechterungen, mehr nicht." Gianni Barbacetto ist ein Gegner der Expo. Seiner Meinung nach hätte man angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der Italien ist, besser daran getan, auf das Großevent zu verzichten. "2008, als Mailand den Zuschlag für die Expo bekam, waren alle begeistert. Aber die Ernüchterung kam mit der Erkenntnis, dass wir dafür Schulden aufgenommen haben, die noch lange auf uns lasten werden." 160 Millionen Euro, um genau zu sein. Für diese Summe haben die Stadt Mailand und die Region Lombardei das Expo-Gelände an der nördlichen Peripherie gekauft. "Statt die Expo auf einem brachliegenden Gelände der Stadt Mailand zu veranstalten, das den Steuerzahler nichts gekostet hätte, wurde ein Grundstück ausgewählt, das man kaufen musste. Und was für eins. Mehr als eine Million Quadratmeter eingezwängt zwischen zwei Autobahnen, einer Bahntrasse, einem Friedhof und einem Gefängnis. Der Wert lag damals bei maximal 20 bis 25 Millionen Euro." Warum mehr als das Sechsfache bezahlt wurde? In seinem Buch über die Hintergründe der Expo-Vorbereitungen beschreibt Gianni Barbacetto, wie der damalige Präsident der Region Lombardei Roberto Formigoni die Kassen der verschuldeten Messegesellschaft, der er vorsaß, sanieren wollte und in der Expo die richtige Gelegenheit dazu fand. Denn ein nicht unerheblicher Teil des Geländes, das er für die Weltausstellung auswählte, gehörte der Messegesellschaft. "Stadtrat und Regionalregierung verstecken sich hinter der Bewertung durch eine ebenfalls öffentliche Agentur und sagen, sie hätten den Preis nicht bestimmt, sondern das bezahlt, was die Agentur als Marktwert angab. Sie hätten das Gelände wesentlich günstiger haben können, indem sie es im Interesse der Allgemeinheit verstaatlichten; die italienischen Gesetze erlauben das. Stattdessen haben sie entschieden, 160 Millionen Euro zu bezahlen." Finanza allegra Roberto Formigonis vierte Amtszeit als Präsident der Region Lombardei wurde von Korruptionsskandalen überschattet. Mehrere Mitglieder seiner Regierung kamen in Untersuchungshaft, auch gegen ihn selbst wurde Anklage erhoben, wegen Korruption und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Und was in Mailand geschah, wurde in Rom kopiert. In noch größerem Stil. Der dortige rechte Bürgermeister Gianni Alemanno hatte die öffentliche Verwaltung mit Günstlingen besetzt, befreundete Unternehmer mit Aufträgen versorgt, den Staatsapparat aufgebläht und die römische Stadtkasse schwer belastet. "Finanza allegra" hieß das zu Andreòttis Zeiten, was so viel bedeutet wie: "fröhliches Schuldenmachen". Aber "Finanza allegra" kann sich Italien nicht mehr leisten, seitdem die EU wie eine strenge Gouvernante die Haushaltsführung überprüft. Gianni Alemanno hinterließ einen wirtschaftlichen Scherbenhaufen, den der auf ihn folgende Bürgermeister aus dem linken Spektrum immer noch aufkehrt. Auch in Mailand regiert inzwischen ein linker Bürgermeister: Giuliano Pisapia. Als der Anwalt und Intellektuelle die Stadt nach fast 20 Jahren den Berlusconi-treuen Politikern entriss, dachten viele, er würde die Expo absagen. Zum Glück hat er das nicht getan, meint Landschaftsarchitekt Andreas Kippar. "Vielleicht ist es heute noch schwierig, die Gesamtlage zusammenzufassen, aber das wird schön rauskommen und viele der Besucher werden mit einem ganz anderen Bild von Mailand zurückfahren." Und auch von Italien? Bisher legte die Expo eigentlich genau den Finger in die Wunde, warf ein Schlaglicht auf die typischen Probleme Italiens und sorgte für negative Schlagzeilen im In- und Ausland. Verschwendung öffentlicher Gelder, Korruption, Mafia. Verhaftungswellen, Razzien im großen Stil. Die Mailänder Staatsanwältin Ilda Boccassini ist den Bossen auf der Spur. Sie hat Jahre lang in Palermo gegen Cosa Nostra ermittelt und eine ganze Reihe von Festnahmen in Zusammenhang mit der Expo 2015 veranlasst. Aber nicht nur Mafiosi landeten hinter Gittern, auch Politiker und hohe Angestellte der Region Lombardei, die die Bauaufträge vergaben. Ohne Verbindungen in die Politik könnten die Kriminellen nicht so agieren wie sie es in der Lombardei tun, erklärt Ilda Boccassini. "Im Unterschied zur Cosa Nostra, die linke Parteien hasst, ist die Ndrangheta politisch neutral. Sie unterstützt jeden Politiker, der ihr bei ihren Geschäften hilft." Eine große Hilfe für die Organisierte Kriminalität war auch die Dringlichkeit, mit der die Bauten für die Expo zum Schluss vorangetrieben werden mussten. Denn unter dem Vorbehalt der Dringlichkeit lassen sich eine Reihe von Gesetzen und Normen umgehen. Der Mailänder Journalist Gianni Barbacetto. "Du hast einen Wust von Regeln vor dir, die viel zu kompliziert sind und geändert gehören, aber statt die Regeln zu vereinfachen, setzt du dich mithilfe von Dekreten einfach über sie hinweg. Das Schöne an der Dringlichkeit ist, dass du plötzlich eine unglaubliche Entscheidungsgewalt bekommst. So brauchst du keine regulären Ausschreibungen machen und kannst der Korruption Tür und Tor öffnen. Und auch noch Mafiaunternehmen mit Aufträgen versorgen." Blamage vorprogrammiert? Doch damit war Schluss, als Matteo Renzi vor einem Jahr den Chef der Anti-Korruptions-Behörde Raffaele Cantone nach Mailand schickte. 60 Firmen wurden von der Riesenbaustelle im Norden der Stadt ausgeschlossen, weil sie nicht sauber waren. Die Arbeiten haben sich dadurch natürlich weiter verzögert. Mailand war damals schon spät dran, und ist es heute umso mehr. Weniger als einen Monat vor Eröffnung ist das Expo-Gelände keineswegs fertig. 3.500 Arbeiter sind auf der Baustelle im Einsatz. Gearbeitet wird sieben Tage die Woche, Tag und Nacht, aber es ist zu spät. Der italienische Pavillon, einer der größten, wird am 1. Mai nur etwa zur Hälfte fertig sein. Statt fünf Stockwerke werden nur zwei öffentlich zugänglich sein. Staatspräsident Sergio Mattarella hat die Einladung nach Mailand wohlweislich ausgeschlagen, eine Blamage scheint vorprogrammiert. Der Expo-Verantwortliche Giuseppe Sala: "Die Frage, die mir sowohl mein Obsthändler als auch der Ministerpräsident stellen ist: Werden wir fertig? Sagen wir so: Der Teil der Arbeiten, den wir betreuen, also die Plattform und die Infrastruktur, ist an einem guten Punkt. Die Pavillons sind natürlich ein anderes Thema." Italien hat bereits eine Firma beauftragt, Unfertiges geschickt, zu verbergen, und lässt sich die Camouflage eine Million Euro kosten. Wichtiger als die Äußerlichkeiten sind für die Befürworter der Expo die Inhalte. Es gehe darum, der Welt zu zeigen, wie innovativ und vorne mit dabei Italien ist und das Thema Ernährung sei dafür gut gewählt, sagt Paolo Zanetti Vizepräsident des Verbandes der Italienischen Lebensmittelindustrie. "Im Lebensmittelbereich sind wir Spitze. Wir dürfen uns der Welt erhobenen Hauptes zeigen, das können wir uns erlauben. Wir haben kaum Rohstoffe, aber viele geniale Ideen. So sind wir beispielsweise Weltmarktführer beim Kaffee, weil wir den Espresso erfunden haben. Wir haben auch weltbekannte Unternehmen, die Kakao verarbeiten. Das Verarbeiten und Veredeln liegt uns, darin sind wir gut. Das ist 'Made in Italy'." Hoffnung in die Expo Paolo Zanetti setzt große Hoffnungen in die Expo. Sein Verband hat einen eigenen Pavillon, wo Delegationen aus dem Ausland bewirtet und Geschäftsbeziehungen geknüpft und intensiviert werden sollen. "Die Lebensmittelindustrie ist der zweitwichtigste Wirtschaftszweig in Italien, nach Maschinenbau und Feinmechanik. Mit 127 Milliarden Euro Umsatz ist sie ein Schlüsselsektor für die gesamte italienische Wirtschaft. Aber unsere Unternehmen konnten nur dank des gestiegenen Exports überleben. 20 Prozent der Produktion gehen mittlerweile ins Ausland und unser Ziel ist, das weiter zu steigern und der größte Lebensmittelexporteur Europas zu werden." Italien als post-industrielles Agrarland. Mit High-end-Lebensmitteln, die im Land weiterverarbeitet und dann exportiert werden. Kann das funktionieren? Umgekehrt fragt der Landschaftsarchitekt Andreas Kippar: "Wo wollen denn die Italiener 2030 stehen? Wollen wir zu dem Agrarstaat der Nachmoderne werden, was Kultur, Boden, Nachhaltigkeit, Energie fürs Leben verbindet oder wollen wir so weiterwurschteln, von allem etwas? Das wird in Zukunft nicht mehr gehen." Andreas Kippar sieht Italiens Zukunft in der Vergangenheit. "Dieses 'back to the future' im paradoxen Sinne wäre ja genau das, was man in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts verpasst hat. Mit einer forcierten Industrialisierung: im Golf von Neapel! Da gab es damals auch Gegenstimmen, doch bitte kein Stahlwerk! Da hat sich aber diese industrielle, fortschrittsorientierte Fraktion durchgesetzt." Und aus Italien ein Industrieland gemacht. Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, Konsumboom, Autoindustrie, Chemieindustrie, Schwerindustrie. Regionen wie die Lombardei, das Piemont und später Venetien legten eine wirtschaftliche Blitzkarriere hin und katapultierten Italien in die erste Riege der europäischen Staaten. Der Süden blieb zurück, und die wunderschöne italienische Landschaft vielerorts auf der Strecke. "Und dann kam Piombino, Mestre, Taranto. Und das sind alles Inseln, die wir heute abbauen. Und so wie früher wird's auch nicht mehr. Der Gedanke war ja immer noch: Vielleicht haben wir doch noch mal Glück gehabt und wenn wir heute sagen, dass wird nicht mehr so wie früher und wenn Ihr den Entwicklungen nicht immer nur hinterher laufen wollt, dann bitte setzt euch mal selber Ziele." Nettoeinkommen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken Welche Zukunft für Italien? Das Thema beschäftigt Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politiker. Dabei hat die Zukunft schon begonnen und die jungen Italiener stellen sich auf sie ein. Die Pessimisten wandern aus, am liebsten nach Deutschland. Aber anders als in den 50er- und 60er-Jahren, als Bauern aus dem Veneto und Schafhirten von der Insel Sardinien nach Dortmund, Gelsenkirchen und Essen auswanderten, um Kohle zu fördern und Stahl zu kochen, sind es diesmal die Hochqualifizierten aus den Ballungszentren, die gehen. Sie wollen arbeiten und von ihrer Arbeit leben können. In Italien ist das nicht mehr selbstverständlich. Die Nettoeinkommen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken. Die Optimisten bleiben - und erfinden sich neu. Statt auf eine Festanstellung zu warten, machen sie sich selbstständig. Ein Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe in Italien hat heute Besitzer unter 40 Jahren. Statt in die Fabrik geht es neuerdings wieder auf den Acker. Chiara Tschavolic vom italienischen Bauernverband begrüßt diesen Trend. "Die jungen Leute spielen dabei eine Schlüssel- und Vorreiterrolle. So haben wir das Projekt einer rein italienischen Produktionskette vom Hersteller bis zum Konsumenten vor allem mit Unterstützung unserer jungen Mitglieder lancieren können. Sie sind eher bereit, sich aus der passiven Rolle des Produzenten in einen aktiven Unternehmertypus weiterzuentwickeln." Denn ein Problem der italienischen Bauern ist ihre Abhängigkeit von ausländischen Multikonzernen, vor allem französischen und spanischen, die ihnen die Preise diktieren und sich um Weiterverarbeitung, Vertrieb und Verkauf kümmern. Direktverkauf ab Hof, Bauernmärkte und Konsumentengruppen im Internet sollen gegensteuern. Der ehemalige Webdesigner Emanuele Pocci hat mit seinem "Orto online", einem virtuellen Gemüsegarten, großen Erfolg. "Ich schicke einen wöchentlichen Newsletter an meine Kunden, die sich auf meiner Internetseite registriert haben und informiere sie, welche Gemüsesorten ich in der Woche ernte. Die können sie dann mit ein paar Clicks bestellen." Ein kleines, aber wegweisendes Beispiel. Das Internet hat neue Möglichkeiten und neue Märkte auch für klein- und mittelständische Unternehmen geschaffen, erklärt Paolo Zanetti Vizepräsident des Verbandes der italienischen Lebensmittelindustrie. "Unsere Produkte sind von bester Qualität und auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht teuer erscheinen, sind sie ihr Geld wert. In ihnen steckt schließlich das Wissen von Generationen, das wir in die Welt exportieren wollen." Ab dem 1. Mai soll die Welt nach Mailand kommen, das wünschen sich die Italiener. Und zwar Befürworter und Gegner der Expo gleichermaßen. "Comunque vada, sarà un successo" ist ein italienisches Sprichwort. "Wie auch immer es läuft, es wird ein Erfolg" heißt es übersetzt und es besagt, man ist zum Erfolg verdammt, denn die Würfel sind ja längst gefallen. 20 Millionen Besucher werden offiziell erwartet, bisher sind acht Millionen Eintrittskarten verkauft worden. Die Hotels haben noch genügend Zimmer frei, man hofft auf eine gelungene Eröffnung, die dann massenhaft Besucher anzieht. Was nach der Expo mit dem Gelände geschehen soll, ist ungewiss. Bisher hat sich noch kein Investor, kein potenzieller Käufer gemeldet.
Von Kirstin Hansen
Am 1. Mai wird in Mailand die Expo eröffnet. Bis zum 31. Oktober soll unter dem Motto "Feed the planet, energy for life" neben der Ausstellung auch ein Austausch von Ideen rund um Ernährung, Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz stattfinden. Doch das Expo-Gelände ist noch an vielen Stellen eine Baustelle und das Gastgeberland steckt in der Wirtschaftskrise.
"2015-04-25T18:40:00+02:00"
"2020-01-30T12:33:54.997000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/expo-in-mailand-hoffnung-chance-oder-enttaeuschung-fuer-100.html
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Saubere Mädchen bekommen mehr Allergien
Ein bisschen Dreck ist gesund. Zumindest in den ersten Lebensjahren. Davon sind die Anhänger der Hygiene-Hypothese überzeugt. Wenn kleine Kinder regelmäßig im Stall spielen oder im Matsch graben, dann trainieren sie ihr Immunsystem. Zu viel Sauberkeit kann zu Allergien und Asthma führen, und möglicherweise auch zu Autoimmunerkrankungen wie Rheuma. Sharyn Clough ist von der Hygiene-Hypothese fasziniert. Die Philosophin von der Oregon State University hat diverse Studien darüber gelesen."Was mich richtig schockiert hat: In keiner Studie wird erwähnt, dass Frauen mit Abstand am häufigsten an Allergien leiden - und auch öfter an Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Multipler Sklerose."In den USA zum Beispiel leiden sechs Prozent aller Männer an Asthma. Bei den Frauen sind es neun Prozent, und Frauen sterben auch häufiger daran. Außerdem erkranken Frauen doppelt so oft an Multipler Sklerose, und dreimal so oft an Rheuma. Warum das so ist, weiß keiner. "Es gibt eine bekannte Studie zur Hygiene-Hypothese, die besagt, dass Kinder, die von Anfang an mit Haustieren aufwachsen, besser vor Allergien und Asthma geschützt sind. Die Forscher haben auch geschrieben, dass dieser Effekt bei Jungen viel größer war als bei Mädchen, aber dass sie keine Ahnung hätten, warum." Die Erklärung dafür liege doch auf der Hand, sagt Sharyn Clough. Es sei die Art und Weise, wie kleine Kinder sozialisiert werden. Vielleicht hätten sich die Jungen von ihren Haustieren ablecken lassen dürfen oder seien öfter mit ihnen draußen herumgetobt. Denn Jungs dürften sich schmutzig machen, Mädchen nicht. Das habe sich in den letzten 50 Jahren kaum geändert. Sharyn Clough hat dafür extra ganze Reihe soziologischer Studien ausgewertet, aus den USA, Kanada und Großbritannien. "Kleine Mädchen werden öfter in Klamotten gesteckt, in denen sie schlecht herumtollen können, in Kleidchen zum Beispiel. Sie spielen viel weniger an der frischen Luft, sie machen auch weniger Sport draußen als Jungen. Sie bekommen eher selten Spielsachen geschenkt, mit denen man im Dreck graben kann - Schaufeln und Bagger und solche Dinge. Außerdem werden Mädchen beim Spielen öfter von Erwachsenen überwacht." Auf diese Weise würden Mädchen systematisch vom Dreck ferngehalten, und damit auch von Keimen, die wichtig fürs Immunsystem sind. "Wenn wir davon ausgehen, dass Hygiene etwas mit Autoimmunerkrankungen und Allergien zu tun haben könnte, dann scheint es doch ziemlich offensichtlich, dass die Erziehung eine große Rolle spielt. Ich finde, das sollten sich die Epidemiologen genauer anschauen." Erika von Mutius ist Epidemiologin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, sie erforscht Allergien und Asthma bei Kindern. Sharyn Cloughs Ansatz findet sie nicht uninteressant. Aber bestätigen kann sie ihn nicht. "Im Kindesalter ist das anders als im Erwachsenenalter, im Kindesalter haben mehr Buben Asthma als Mädchen, und deswegen ist diese Idee, dass Mädchen, weil sie sauberer aufwachsen als Buben, mehr allergische Erkrankungen haben, mehr Asthma haben, nicht haltbar, es ist genau andersherum. Im Kindesalter haben die Buben mehr Asthma, mehr Heuschnupfen, mehr allergische Reaktionen." Das ändert sich dann plötzlich in der Pubertät. "Ja das ist ein ulkiges Phänomen. Das Geschlechterverhältnis kehrt sich in der Pubertät um. Diejenigen, die in der Pubertät neu Asthma bekommen, sind mehr die Mädchen, und auch später im Erwachsenenalter sind es in der Tat mehr die Frauen, warum das so ist, hat bislang wirklich noch keiner verstanden,"Es gibt dazu nur wenig Daten, aber immerhin ein paar Hinweise. Und die haben auch mit Sauberkeit zu tun. Frauen, die viel mit Putzmitteln hantieren, haben offenbar ein höheres Asthma-Risiko als andere."Allerdings ist unklar, ob diese Putzmittel von sich aus Chemikalien erhalten, die dieses Risiko erhöhen, was ja auch sehr gut denkbar ist, oder ob es tatsächlich ein indirekter Effekt ist, nämlich dadurch, dass da viel geputzt wird, dass da im Sinne der Hygienehypothese einfach weniger Dreck ist und dass das Asthmarisiko erhöht. Das hat aber keiner geklärt." Dafür müssten noch viel mehr Studien gemacht werden.
Von Marieke Degen
Ein bisschen Schmutz ist gut fürs Immunsystem, sagen die Anhänger der Hygiene-Hypothese, die zu viel Sauberkeit im Kindesalter für schädlich halten. Da Jungs sich immer noch eher dreckig machen dürfen, als Mädchen, müssten erwachsene Frauen auch anfälliger für Krankheiten sein als Männer.
"2011-05-11T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:12:49.798000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/saubere-maedchen-bekommen-mehr-allergien-100.html
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Auch Bahrain kappt Beziehungen zum Iran
Proteste in Bahrain gegen die Hinrichtung des Geistlichen Sheikh Nimr al-Nimr (dpa / picture alliance / Ahmed Alfardan) Nach Protesten im Iran gegen die Hinrichtung des bekannten schiitischen Geistlichen Nimr Al-Nimr in Saudi-Arabien bricht auch Bahrain die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab, wie die staatliche Nachrichtenagentur des Landes meldete. Ähnliche Schritte hatte Bahrains Verbündeter Saudi-Arabien kurz zuvor angekündigt: Die Politiker müssten innerhalb von 48 Stunden gehen, teilte der saudische Außenminister Adel al-Dschubeir mit. Riads Diplomaten haben das Land bereits verlassen. Al-Dschubeir erklärte, der Angriff auf die Botschaft seines Landes sei ein "schwerwiegender Bruch internationaler Konventionen", und warf dem Iran vor, die Führer des Terror-Netzwerks Al Kaida zu schützen. "Wir lehnen es ab, mit einem Staat zu tun zu haben, der Terrorismus unterstützt und Chaos und sektiererische Spannungen in der islamischen Welt verbreitet." Der Iran reagierte in einer ersten Stellungnahme mit Unverständnis. Vizeaußenminister Hussein Amirabdullahian sagte im staatlichen Fernsehen, es sei kein saudi-arabischer Diplomat zu Schaden gekommen. Sein Land sei für Diplomaten eines der sichersten in der Region. "Die Saudis haben schon in der Vergangenheit mit solchen voreiligen und irrationalen Entscheidungen Instabilität in der Regionverursacht", kritisierte Amirabdullahian. Riad könne aber nicht von der Ermordung des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr ablenken. Todesurteil fiel 2014 Al-Nimr war im Oktober 2014 in Saudi-Arabien wegen Aufwiegelung, Ungehorsams und Waffenbesitzes zum Tode verurteilt worden. Im schiitsch geprägten Iran fielen die Proteste gegen die Exekution des Geistlichen an diesem Samstag besonders heftig aus. Irans geistliches Oberhaupt Ayatollah Ali Chamenei warnte Riad am Sonntag vor der "Rache Gottes". Saudi-Arabien und der Iran ringen um die Vormachtstellung in der Region. Während sich das Königreich als Schutzmacht der Sunniten sieht, betrachtet sich der Iran als Interessenvertreter der Schiiten. Diplomatische Bemühungen Die USA riefen die beiden Staaten angesichts der verschärften Spannungen dazu auf, die Lage zu beruhigen. Außenamtssprecher John Kirby erklärte, seinem Land sei bekannt, dass das Königreich Saudi-Arabien die Schließung der diplomatischen Vertretungen des Irans im Königreich angeordnet habe. "Wir glauben aber, dass diplomatisches Engagement und direkte Gespräche bei der Überwindung von Schwierigkeiten äußerst wichtig sind." Am Nachmittag hatte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz noch über den Online-Kurznachrichtendienst Twitter mitgeteilt, er habe mit Mohammad Javad Zarif und Adel al-Dschubeir, den Außenministern des Iran und Saudi-Arabiens, gesprochen. Beide hätten unterstrichen, dass es nun um gegenseitige Zurückhaltung und Dialog gehen müsse. Irans Präsident Hassan Ruhani verurteilte den Sturm auf die saudische Botschaft durch Demonstranten in Teheran als "durch nichts zu rechtfertigen". Die Gebäude der diplomatischen Mission stünden "gesetzlich und religiös" unter Schutz, sagte Ruhani laut der Nachrichtenagentur IRNA. Debatte in Deutschland Saudi-Arabien hatte am Samstag insgesamt 47 Menschen wegen Terrorvorwürfen hingerichtet. Das Königreich gehört zu den wichtigsten Exportländern für die deutsche Rüstungsindustrie. In Deutschland forderten Politiker von Grünen und Linken den sofortigen Stopp aller deutschen Rüstungsexporte nach Riad. Auch Vertreter von CDU und SPD sprachen sich für einen Kurswechsel im Umgang mit Saudi-Arabien aus. (jasi/bor/rei/hba)
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Dominoeffekt im Mittleren Osten: Nachdem Saudi-Arabien die diplomatischen Beziehungen mit dem Iran beendet hat, kündigte auch der Inselstaat Bahrain an, dass iranische Diplomaten das Land innerhalb von 48 Stunden verlassen müssten. Hintergrund ist der Angriff von Demonstranten auf die saudische Botschaft in Teheran.
"2016-01-03T21:47:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:57.339000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spannungen-nach-hinrichtungen-auch-bahrain-kappt-100.html
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Schlesinger-Affäre: Wie sinnvoll sind Bonuszahlungen?
Wellendorf, Sebastian
Die Geschäftsleitung des RBB hat der Öffentlichkeit Prämienzahlungen verschwiegen und so das tatsächliche Gehalt mehrerer Führungskräfte verschleiert. Das komplexe Boni-System war 2018 von der ehemaligen Intendantin Patricia Schlesinger eingeführt worden. Damit ist der RBB die einzige ARD-Anstalt mit einem solchen System. Können Prämien auch sinnvoll und im Sinne der Beitragszahlenden sein?
"2022-08-17T15:36:59+02:00"
"2022-08-17T16:27:07.348000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bonuszahlungen-beim-rbb-unlauterer-oder-noetiger-weg-wolfgang-schulz-im-gesp-dlf-0a2e5701-100.html
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Lehre in einer Atmosphäre des Verdachts
Die Marmara-Universität in Istanbul: Über die Situation der Lehrenden und Universitäten in der Türkei sprach Turkistik-Expertin Kader Konuk im DLF. (imago / Westend61) Mit dem Ausnahmezustand sind in der Türkei wesentliche Rechte und Freiheiten faktisch aufgehoben worden oder gelten nur eingeschränkt. Neben dem islamischen Prediger Fetullah Gülen und seinem Netzwerk, denen der gescheiterte Putsch vom Juli zur Last gelegt wird, werden auch ganze Gruppen der türkischen Gesellschaft verdächtigt, kriminalisiert, mit Berufsverbot belegt oder vor Gericht angeklagt. Dabei wurde bislang vor allem über die verfolgten Journalisten und Medienmacher sowie Parlamentarier berichtet, weniger über das Schicksal der türkischen Akademiker. Vor knapp einem Jahr hatten über tausend von ihnen einen Aufruf für Demokratie und zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts unterzeichnet. Bereits damals wurden Dozenten wie Universitäten zur Zielscheibe von Sanktionen. Mittlerweile bemühen sich immer mehr türkische Wissenschaftler um akademisches Asyl im Ausland, so auch in der Bundesrepublik. Kader Konuk gehört zu den Unterzeichnern des Aufrufs "Akademiker für Frieden" vom Januar 2016. Sie lehrt neuere türkische, deutsche und englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist Direktorin des Institut für Turkistik dort. Martin Gerner hat Kader Konuk zur Situation der Lehrenden und der Universitäten in der Türkei befragt.
Kader Konuk im Gespräch mit Martin Gerner
Mit dem Ausnahmezustand sind in der Türkei wesentliche Rechte faktisch aufgehoben worden oder gelten nur eingeschränkt. Bislang wurde vor allem über verfolgte Journalisten und Parlamentarier berichtet. Kader Konuk vom Institut für Turkistik in Duisburg-Essen sprach im DLF über die Situation der Universitäten in der Türkei.
"2016-12-18T17:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:07.894000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gleichschaltung-tuerkischer-universitaeten-lehre-in-einer-100.html
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Die soziale Frage mit der ökologischen verbinden
Lay: "Der Streit um Nochten 2, der geht um die Fläche in diese Richtung." Grosser: "Ja." Ein Aussichtshäuschen am Rande des Tagebaus Nochten – ganz im Osten von Sachsen. Mitte August. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken, die Bundestagsabgeordnete Caren Lay, ist in ihrem Wahlkreis Bautzen unterwegs auf Sommertour. Abwechselnd blickt die blonde Frau im roten Blazer auf den Lageplan in ihrer Hand - und in die Mondlandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Um sie herum: Mitarbeiter von Vattenfall. Grosser: "Da können wir uns ja mal direkt hinwenden."Lay: "Ich hab‘s ja hier direkt vor Augen, ich hab‘s ihnen ja jetzt schon hingehalten."Uwe Grosser, Bergbau-Chef des Energiekonzerns in der Lausitz, müht sich redlich, die 40-Jährige zu einer großen Schautafel samt Plan des Tagebaus zu lotsen. Doch Caren Lay schaut unbeirrt weiter auf ihren eigenen:Grosser: "Genau." Lay: "Wir stehen jetzt, wenn ich es richtig sehe, hier irgendwo, ja?" Grosser: "Jaja, genau."Lay: "Ja, wir stehen genau hier, wo der Bergbau im Grunde gerade aktiv ist."Der Bergbauchef lächelt höflich, nickt. Er muss für die Braunkohle werben. Die Erweiterung des Tagebaus Nochten soll Ende des Jahres vom Sächsischen Landtag beschlossen werden. Ein umstrittenes Projekt. In Zeiten der Energiewende mehren sich auch in der Lausitz – dem ehemaligen Energiebezirk der DDR - die Stimmen, die hinterfragen, ob die Zukunft der Region wirklich noch in der Braunkohle liegen kann. Die Linke macht sich auf Bundesebene für den Ausstieg aus Kohle- und Atomkraft stark. Und Caren Lay ist im Spitzenteam zur Bundestagswahl das politische Gesicht zur Energiewende: Ökologisch und bezahlbar auch für Geringverdiener soll diese sein.Lay: "Sie machen doch im eigenen Unternehmen auch nen Energiemix, oder?"Grosser: "Ist richtig, dass neben der Braunkohle auch andere Energieformen notwendig sind. Aber das Einzige, wo richtig Geld verdient werden kann, um eine Region auch nach vorne zu bringen, ist die Braunkohle, alles andere müssen sie draufzahlen. Und das ist das Spannungsfeld, was die Politik in den nächsten Jahren aushalten muss."Caren Lay kennt in ihrem Wahlkreis die Positionen von Kohlegegnern und Kohlebefürwortern. Beide finden sich auch in ihrer Partei wieder. Sie zeigt zur Förderbrücke F60, die schon zu DDR-Zeiten Schutt und Sand abtransportierte. Darunter liegt das Kohleflöz:"Da sehen sie schon, was in unserer Organisation, welche unterschiedlichen Perspektiven da zusammenkommen. Also der Chef der F60 ist da ebenso organisiert wie einer, der sagt, mein Dorf soll abgebaggert werden. Diesen Prozess müssen wir natürlich auch irgendwie begleiten, und da Kompromisse finden."Kompromisse vor Ort: mit der Parteibasis, aber auch mit Vattenfall, dem größten Arbeitgeber der Region. Lay, die auch verbraucherpolitische Sprecherin ihrer Bundestagsfraktion ist, steht in der heißen Phase des Wahlkampfes vor einer Herausforderung: Einerseits darf sie den Dialog vor Ort mit dem Energieunternehmen nicht abbrechen lassen, andererseits fordert sie für ihre Partei, das "Strompreismonopol der Konzerne" zu brechen und mehr noch: die Energieversorger zu verstaatlichen. Rubich: "Unser Wahlergebnis haben wir halbiert, und deshalb bin ich dafür, dass das Wahlprogramm deutlicher unsere Sprache spricht. Es ist Klassenkampf. Und dann treten wir an."Rückblende. Berlin, Mitte März. Auf vier Regionalkonferenzen diskutieren die Genossen bundesweit einen ersten Entwurf des Wahlprogramms. Das Kalkül der Parteispitze: Wer mitreden darf, trägt auch Entscheidungen mit. Das Publikum in Berlin: Genossen aus den Ostverbänden - bunt gemischt: Gewerkschafter, Altkader, Studenten und Globalisierungskritiker. Caren Lay sitzt in der ersten Reihe und notiert mit, was der Rentner aus Marzahn seiner Parteispitze zu sagen hat: Während die Linke im Osten immer noch als Volkspartei gilt, in Brandenburg sogar in der Regierung sitzt, flog sie im Westen in den letzten zwei Jahren aus drei Landtagen raus: aus den Parlamenten von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Bei der Bundestagswahl am 22. September geht es für die Linke nun um viel, nämlich um ihr gesamtdeutsches Profil. Vom guten Ergebnis der vergangenen Wahl – 2009 errang die Linke fast zwölf Prozent der Stimmen - hat man sich im Frühling schon lange verabschiedet. Die Parteibasis ist unzufrieden. "Wir haben in der Öffentlichkeit kein Profil im Gesundheitsbereich, wir haben kein Profil im Familienbereich, wir haben tolle Forderungen, aber wir sind kein Öffentlichkeitsfaktor."In Berlin sind die Nachwehen von Göttingen noch deutlich zu spüren. In Göttingen fand ein Jahr zuvor ein "Gewitterparteitag" statt. Denn dort verabschiedeten sich Gesine Lötzsch und Klaus Ernst von der Parteispitze. Und der Machtkampf um deren Nachfolge offenbarte den tiefen Bruch zwischen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, zwischen Ost und West, zwischen Realos und Fundis innerhalb der Linken. Um die politische Ausrichtung wird zwar seit der Fusion von WASG und PDS im Jahr 2007 gerungen; in Göttingen aber drohte der Partei sogar die Spaltung. Doch das will die Basis nicht, auf der Regionalkonferenz in Berlin wird das gesamtdeutsche Profil beschworen. Das neue Duo an der Spitze, die 35-jährige Katja Kipping aus Sachsen und der 59-jährige Schwabe Bernd Riexinger, lädt alle zur Diskussion über das Wahlprogramm ein. Caren Lay unterstützt sie dabei:"Nichts ist in Stein gemeißelt. Das, was jetzt als Vorschlag der Vorsitzenden auf dem Tisch liegt, das soll und darf diskutiert werden, das soll und darf kritisiert werden und vor allem soll und darf es ergänzt werden."Ergänzt um Nuancen, denn im Programm sind die wichtigsten Punkte vom Parteivorstand längst gesetzt: Den Hartz-IV-Regelsatz will die Linke auf 500 Euro erhöhen. Beim gesetzlichen Mindestlohn fordert sie zehn Euro pro Stunde und eine Mindestrente von 1050 Euro. Das Renteneintrittsalter soll zudem wieder auf 65 Jahre gesenkt und die Ost- an die Westrente angeglichen werden. Zudem will die Linke mittlere und niedrige Einkommen steuerlich entlasten und das Familiensplitting abschaffen. Finanzieren will sie die Mehrausgaben u. a. mit einer Millionärssteuer und einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent. Umverteilen von oben nach unten. Das ist das Ziel der Linken.Caren Lay nutzt den Tag auf der Regionalkonferenz, um in einem kleinen Raum für ihr persönliches Anliegen zu werben: "Mir wäre es wichtig, wenn wir das Thema Ökologie – auch wenn es nicht unser Kernthema ist – prominent in unserem Wahlprogramm verankern. Anders als die Grünen wollen wir ja die soziale Frage mit der ökologischen miteinander verbinden. Wir machen in unserer Ökologiepolitik auch eine ganz klare Kritik an den Konzernen auf. Wer profitiert eigentlich von den hohen Strompreisen? Also insofern haben wir als Linke auch einen spezifischen Zugang zu ökologischen Fragen."Lay will jedem Haushalt 300 Kilowattstunden Strom kostenlos zur Verfügung stellen, zudem soll es eine Abwrackprämie für energieintensive Haushaltsgeräte geben. Bislang verbinden Wähler die Linke nicht mit Ökologie. Selbst viele Genossen halten das "für grünes Zeug", kritisiert sie. Doch "dieses grüne Zeug" soll der Linkspartei helfen, ihr Profil zu erweitern, um auch für bislang grüne Wähler interessant zu sein. Die gebürtige Rheinlandpfälzerin ist selbst das beste Beispiel dafür: Caren Lay ging schon als Schülerin gegen Atomkraft und für Frieden auf die Straße. Nach ihrem Studium in den USA und Berlin und ihrem Abschluss in Soziologie arbeitete sie kurz als Referentin in der sächsischen PDS-Fraktion, bevor sie Redenschreiberin im Verbraucherschutzministerium der Grünen Renate Künast wurde. 2004 zog es sie dann selbst in die Politik – aber nicht für die Grünen: "Für mich war es so, dass mir die Grünen in einigen Punkten zu angepasst waren, gerade bei den Entscheidungen für Kriegseinsätze. Aber es war schon auch so, dass die Agenda 2010 den entscheidenden Wendepunkt bedeutet hat. Wo ich es auch nicht verstehen konnte, wie eine Partei, die für sich beansprucht, eigentlich aus der 68er-Bewegung zu kommen, die soziale Frage plötzlich links liegen lässt."Caren Lay entschied sich für die PDS. Für die saß sie ab 2004 im sächsischen Landtag und wurde 2009 für die Linke erstmals in den Bundestag gewählt – mit 25,2 Prozent der Erststimmen. Caren Lay – eine Wossi, also Wessi und Ossi in einer Person. Ein Vorbild für die ganze Partei. Die Kipping-Vertraute steht für den pragmatischen Flügel. Eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene aber ist für sie eine eher langfristige Option. Sie findet es gut, dass die Linke wieder anfängt, über diese Konstellation nachzudenken. Als Oskar Lafontaine noch an der Parteispitze stand, war dieses Nachdenken über eine Regierungsbeteiligung nicht möglich. Im Bundestag hat Lay sich anfangs auch im rot-rot-grünen Gesprächskreis engagiert, im sogenannten R-Zwo-G. Weil Rot-Grün kein großes Interesse zeigt, dümpelt dieser Gesprächskreis derzeit vor sich hin, doch nach Lays Ansicht könnte man ihn in der neuen Legislaturperiode wieder reaktivieren. Im Wahlkampf aber muss die stellvertretende Vorsitzende zur politischen Konkurrenz Distanz wahren. Zumal sie zum achtköpfigen Team rund um Spitzenkandidat Gregor Gysi zählt. "Faktisch ist es ja so etwas wie Gysis bunte Truppe. Weil, es ist ja auch unstrittig, dass Gregor Gysi unser prominentester Politiker, unser bester Rhetoriker ist. Und das wird sich natürlich auch im Wahlkampf so niederschlagen. Er ist umgeben aber von vielen anderen Leuten, vielleicht auch von vielen Jüngeren, die ihre Kompetenzen auf diesem Fachgebiet mitbringen. Ich finde es eigentlich eine sehr schöne Lösung."Das Spitzenteam war ein Kompromiss; denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Gysi sich im Vorfeld geweigert hatte, alleine mit Lafontaines Lebensgefährtin, und seiner eigenen Stellvertreterin, Sarah Wagenknecht, in den Wahlkampf zu ziehen. Weil Gysi seinem Widersacher Lafontaine diesen Triumph nicht gönnen wollte, hat der Fraktionschef noch junge Leute aus der zweiten Reihe um sich geschart, die sämtliche Flügel in der Partei abdecken. Dadurch erhofft sich die Linke einen moderneren Touch, was bitter nötig ist, denn wie andere Parteien auch hat sie Nachwuchssorgen: Das Durchschnittsalter der knapp 64.000 Mitglieder liegt bei 60 Jahren. Für die Jüngeren wie Caren Lay ist der Wechsel ins Rampenlicht gar nicht so einfach: "Es ist natürlich auch ein Druck. Das ist ja gar keine Frage, weil man natürlich auch mit der ganzen Person zur Wahl steht.""Damit der Mindestlohn wirklich kommt, damit es wirklich eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine Mindestrente von 1050 Euro gibt, damit die Rente wieder mit 65 beginnen kann, damit Wohnen und Strom bezahlbar bleiben, damit Millionäre und Konzerne couragiert zur Kasse gebeten werden, zum Beispiel für Kitas und Barrierefreiheit, für all das und noch viel mehr braucht es weiter eine starke Linke im Bundestag. Also ziehen wir in den Wahlkampf. 100 Prozent sozial! Danke."15. Juni, Parteitag in Dresden. Selbstbewusst und kämpferisch schwört die junge Vorsitzende Katja Kipping ihre Partei auf den Wahlkampf ein. "100 Prozent sozial" ist das Wahlprogramm überschrieben. In der folgenden Nacht wird es mit großer Mehrheit angenommen werden. Ein Erfolg für die Parteispitze, die sich mit ihrem Entwurf weitestgehend durchsetzen konnte. Auch ihr Plan ist aufgegangen: Harmonie pur. Selbst beim einzig heiklen Thema – der Stellung der Linken zum Euro. Im Vorfeld des Parteitags hatte Ex-Parteichef Lafontaine mit provokanten Thesen zum Euro quergeschossen, die europäische Gemeinschaftswährung als Fehlkonstruktion bezeichnet, die abgeschafft werden müsse. In Dresden aber schweigt der Saarländer, es herrscht Einigkeit – und im Programm bekennt sich die Linke nun zum Euro. Fraktionschef Gregor Gysi zeigt sich sichtlich zufrieden: "Und zwar liegt das daran, dass wir seitdem, wie ich finde, eine gute Entwicklung genommen haben. Unterschiedliche Teile unserer Partei haben endlich begriffen, dass sie aufeinander angewiesen sind."Auch Caren Lay wirkt in Dresden sehr entspannt. In Sachsen wurde sie zuvor auf den fünften Platz der Landesliste gewählt, ein sicherer Platz. Auf dem Bundesparteitag ist also Muse zum kuscheln. Denn auch in den Umfragen geht es aufwärts; aktuell scheint der Linken mit acht bis neun Prozent der Wählerstimmen der Wiedereinzug in den Bundestag sicher. Lay hat Zeit, alte Wegbegleiter vor der Parteitagshalle zu treffen. Rainer Harbarth zum Beispiel. Der 69-Jährige sitzt im Zittauer Stadtrat. Als Offizier bei der Nationalen Volksarmee war er schon in der SED. Lay: "So. Oh Gott, oh Gott was hast Du gesagt."Habarth: "Prinzipiell habe ich nur Gutes gesagt."Lay: "Die Kritik willst Du jetzt in meiner Anwesenheit loslassen."Habarth: "Nein, nein nein, ich habe gesagt, dass Du am Anfang immer einen sehr unnahbaren Eindruck machst - so ein bisschen wie: Kommt mir ja nicht zu nahe - aber wenn man mit Dir näher in Kontakt ist, dass man in Dir einen guten Kameraden und einen exakten Arbeiter findet. Punkt."Lay: "Dankeschön."Caren Lay kneift in der Sonne die Augen zusammen. Die Elbe glitzert. Als Westlinke, friedens- und Anti-Atomkraft-bewegte, in den Osten zu wechseln, wo viele Genossen schon Mitglieder der SED waren, sei nicht so einfach gewesen, erinnert sie sich: Deren Misstrauen und Ablehnung hätte sie anfangs fast körperlich gespürt. "Ich komm ja eher so aus diesen Bewegungen heraus, da hat es dann manchmal natürlich auch Reibungspunkte gegeben. Wie macht man Politik? Und die Westlinke war natürlich auch aufgrund ihrer oder unserer Marginalisierung, weil wir nicht so eine große Rolle gespielt haben, hatte man natürlich schnell auch einen etwas aggressiveren Politikstil."Diesen aggressiveren Politikstil der Westlinken erlebe man oft auch heute noch auf Parteitagen, sagt sie. Rainer Harbarth nickt. Und trotzdem: "Wir sind alles linke Suchende. Ich war ja schon mal in einem angeblichen Sozialismus oder Kommunismus oder wie auch immer. Der hat den Bürgern nicht gefallen, also muss irgendetwas falsch gewesen sein. Also kann ich doch nicht sagen, ich will dahin zurück. Sie war da noch nicht, sie hat vielleicht davon mal geträumt, hat sich aber die DDR auch nicht vorgestellt. Also eigentlich stehen wir auf dem gleichen Punkt und suchen."Suchende? Wonach? Lay und Harbarth schauen sich an:Lay: "Na, da bin ich ganz klassisch bei Rosa Luxemburg nach einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, nach einer Gesellschaft der Freien und Gleichen."Harbarth: "Und da schwingen wir gleich."Caren Lay habe vieles bei der Ostlinken gelernt. Pragmatismus etwa. Deshalb habe sie sich als Bundestagsabgeordnete auch in einem Ost-Wahlkreis engagiert. Ihren politischen Stil hat das verändert: "Nämlich dahin gehend, dass außerparlamentarischer Protest das eine ist, dass wir aber gleichzeitig auch eine parlamentarische Verankerung brauchen und natürlich auch in der Pflicht sind, ganz konkrete Sachen zu sagen, wie wir es anders machen wollen. Nicht nur zu sagen, wo sind wir dagegen, sondern auch, wofür stehen wir auch."Protestpartei oder Regierungsverantwortung: Die Linke hat dieses Dilemma für sich noch nicht gelöst. Denn wenn sie in der Verantwortung steht – wie in Berlin bis 2011 in einer rot-roten Koalition oder in NRW bis 2012 als Dulder einer rot-grünen Minderheitsregierung – wandten sich ihre Wähler wieder ab. Weil die Partei viele ihrer Versprechen nicht einlösen konnte, etwa ein vergünstigtes Sozialticket für Bus und Bahn. Trotzdem sei für die Linke die Rückkehr zu einer Regionalpartei Ost keine Option, unterstreicht Caren Lay: Nur als gesamtdeutsche Linke wird die Partei wahrgenommen."Zwei Cappuccino bitte, zum Hiertrinken."Berlin. Ende Juni. Der Bundestagsausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz tagt zum letzten Mal. Ein bisschen wehmütig ist Caren Lay, als sie sich danach an einen Barhocker in der Cafeteria lehnt. Viele in der Partei hätten ihr anfangs gesagt, wenn sie Karriere machen will, dann habe sie mit der Spezialisierung auf Verbraucherpolitik keine Chance. Das Thema wurde lange von den Parteien nicht ernst genommen, schon gar nicht von ihrer eigenen: "Es gibt Vorbehalte, ideologischer Art, gegenüber dem Begriff Verbraucherinnen und Verbraucher, weil man sagt, das ist ja die böse Konsumwelt, das ist doch der Kapitalismus in seiner ganzen illusionären Erscheinungsform. Aber wenn man sich am Anfang so schwer damit getan hat, darf man sich natürlich auch nicht wundern, dass einen dort andere überholen."Mittlerweile ist der Verbraucherschutz für die Linke zur festen Größe geworden: Die Begrenzung von Dispozinsen oder die gerade im Ausschuss abgeschlossene Diskussion um das Anti-Abzocke-Gesetz – sind für die linke Wählerklientel wichtige Themen. Nach vier Jahren im Bundestag wundert sich die Abgeordnete über nichts mehr: Seit Kurzem, klagt sie, klaut sogar der CDU ihre politischen Positionen. Bestes Beispiel: die Strompreisbremse. "Das gehört dann zu den frustrierenden Erfahrungen, die man macht, unsere Anträge wurden dann im Dunkeln der Nacht um 19 Uhr diskutiert. Dann sind nur noch die Fachpolitiker da, die dann sagen, was für ein Unsinn die Linken wollen, diese staatssozialistischen Ansätze, und es bedarf dann leider prominenteren Akteuren, wie beispielsweise dem Bundesumweltminister Altmaier, ein Thema zu dem wir seit vielen Jahren fachpolitisch arbeiten, um das wirklich auch dann zu einem wahlkampfrelevanten Thema zu machen. Dazu reicht dann meine Macht und Prominenz nicht aus."Ideenklau, Caren Lay trägt es mit Fassung. Doch die Linke kämpft mit einem zusätzlichen Problem: Auf vielen Themengebieten trauen ihr die Wähler wenig zu; und wenn sie links wählen, dann oft lieber SPD oder Grüne. Noch immer kämpft Lays Partei mit dem Schmuddel-Image, mit dem Vorurteil, dass viele Mitglieder wenig übrig haben für den demokratischen Verfassungsstaat. Die Abgeordnete hebt etwas genervt die Schultern. Das brauche eben Zeit, sagt sie. "Ich bin gerne auch in meiner Freizeit in der Lausitz unterwegs."Zurück in die Lausitz. An den Rand des Tagebaus Nochten. Dort, wo die Kohle ausgebaggert worden ist, entstehen langsam wieder Landschaften. Eine kurze Verschnaufpause für Caren Lay. Nach den kontroversen Diskussionen um den Tagebau ist die Stimmung wieder versöhnlich. Bergbauchef Uwe Grosser wagt einen Flirt:Grosser: "Nymphenbaum: Der hat so eine Rotfärbung, wie sie die Jacke anhaben. Das wäre für die Linke der richtige Baum."Lay: "Das werde ich mir jetzt gleich mal merken."In den letzten Tagen des Wahlkampfs wird sich Caren Lay noch viel merken müssen. Gespräche mit Bürgerinitiativen, Talkrunden mit Polit-Prominenz, Wahlkampfreden in der ganzen Republik. Auf Dauer, da ist Caren Lay optimistisch, werden SPD und Grüne an der Linken nicht vorbeikommen. Vor allem die Sozialdemokraten nicht: "Wir haben auch Differenzen, aber wir haben auch Schnittmengen, über die man sich verständigen könnte."Eine rot-grüne Minderheitsregierung unter linker Tolerierung – wie in Nordrhein-Westfalen - ist für sie aber kein Thema. Ein Koalitionspartner zweiter Klasse will die Linke nicht sein. Caren Lay kann warten. Spätestens zur Bundestagswahl 2017 werden die Karten neu gemischt.
Von Melanie Longerich
Die Linke macht sich auf Bundesebene für den Ausstieg aus Kohle- und Atomkraft stark. Und Caren Lay ist im Spitzenteam zur Bundestagswahl das politische Gesicht zur Energiewende: Ökologisch und bezahlbar auch für Geringverdiener soll diese sein.
"2013-08-28T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:32:58.666000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-soziale-frage-mit-der-oekologischen-verbinden-100.html
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Wissenschaft im Brennpunkt
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Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt einen Sturm auslösen? "Wissenschaft im Brennpunkt" zieht es zumindest in Erwägung. In aufwendig produzierten Features, Reportagen und Interviews nehmen wir uns die Zeit, tiefer zu schürfen. Wir fragen nach Ursache und Wirkung, beleuchten Durchbrüche und schleichende Entwicklungen, erzählen Erfolgsgeschichten und solche von Niederlagen. Fortschritt ist für uns nie die ganze Geschichte.
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"2020-01-27T14:21:56.372000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wissenschaft-im-brennpunkt-102.html
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Designierte Kommissare stellen sich Parlament
Die 27 designierten Kommissare werden ins Kreuzverhör genommen. (AFP/Emmanuel Dunand) Schon bei der Präsentation der 27 Kandidaten für die neue EU-Kommission Anfang September signalisierte Jean-Claude Juncker Gesprächsbereitschaft gegenüber dem EU-Parlament. Wohl wissend, dass alle Kandidaten erst noch die mündliche Befragung durch die Parlamentsausschüsse überstehen müssen, bevor sie dann ihr neues Amt auch antreten können. "Es gibt Bedenken gegen einige Kommissare und wahrscheinlich gegen manche Zuständigkeiten, die ich einigen Kollegen zugeordnet habe. Ich werde in allen Fällen respektieren, was das Europäische Parlament als Beschluss vorlegen wird." Bei den Abgeordneten wurde das Signal aufmerksam registriert. Ohnehin ist die Bindung zwischen dem neuen Kommissionspräsidenten und dem Parlament deutlich enger als zuvor – schließlich war es das Parlament, das sich mit dem Modell der Spitzenkandidaten bei der Europawahl am Ende gegen die Staats- und Regierungschefs durchsetzen konnte. Was aber nichts daran ändert, dass sich die 27 Kandidaten auf unangenehme Fragen einstellen müssten, ist in allen Fraktionen zu hören: "Wir nehmen die Anhörungen sehr, sehr ernst. Wir werden kritisch in die Befragungen hereingehen. Das ist ja auch Sinn und Zweck der Befragungen, sonst könnten wir das ganz bleiben lassen. Jeder Kommissar hat sein Portfolio zugeteilt bekommen, jeder Kommissar muss aufzeigen, was er plant in den nächsten fünf Jahren auch in Europa eben von seiner Aufgabe umzusetzen, wie er das machen will", sagt die Chefin der CSU im Europäischen Parlament, Angelika Niebler. Doch so einfach ist die Sache nicht. Schließlich geht es auch um die Einhaltung der Frauenquote - gerade einmal neun weibliche Kandidaten haben die Mitgliedsländer nach Brüssel geschickt und damit Junckers Mindestforderung gerade so erfüllt - aber auch um die Parteifarbe, räumt der Chef der deutschen Sozialdemokraten im Parlament, Udo Bullmann ein: "Die politischen Familien haben natürlich nicht unmittelbar ein Interesse daran, ihre eigenen Kandidaten zu versenken, und das mag man nachvollziehen können. Trotzdem muss auch gegenüber den sogenannten eigenen Kandidaten, die aus der eigenen Parteifamilie kommen, so viel kritische Distanz bewahren können, dass, wenn sie entweder fachlich oder persönlich nicht geeignet sind, dass man Konsequenzen ziehen kann." Mehrere Wackelkandidaten Wackelkandidaten gibt es einige. Da ist etwa die Sozialliberale Alenka Bratusek. Die ehemalige Ministerpräsidentin Sloweniens, gesetzt für das Ressort Energie als Vizekommissarin, hat sich quasi selbst nominiert, was im EU-Parlament für große Empörung sorgt. Doch auch andere, so Bullmann, sind umstritten: Frankreichs ehemaliger Finanzminister und designierter EU-Kommissar Pierre Moscovici. (dpa/picture alliance/Yannis Kolesidis) "Ob wir Jonathan Hill akzeptieren werden, der aus der Finanzmarktindustrie Londons kommt, um ausgerechnet dann die Finanzmarktregulierung zu übernehmen in Brüssel, wird sich nach dem Hearing zeigen. Natürlich werden wir dem auf dem Zahn gehen. Ob ein spanischer Kommissar von der spanischen konservativen Partei unmittelbar geeignet sein muss, für Energie und Klima, wenn er seine Hände gestern noch fett im Ölgeschäft hatte, ist auch eine Frage, die sich stellt." Auf Ablehnung gerade bei den Sozialdemokraten und Grünen stößt auch Tibor Navrracsics von der ungarischen Fidez-Partei, die wiederum im EU-Parlament zur Fraktion der Christdemokraten gehört. Als ehemaliger Justizminister, maßgeblich für die Beschneidung der Medienfreiheit in Ungarn verantwortlich, soll er ausgerechnet das Ressort Bildung und Kultur übernehmen. Während wiederum die Christdemokraten mit dem designierten Wirtschafts- und Währungskommissar ihre Probleme haben: "Es ist der französische Vorschlag, Pierre Moscovici, da geht es ja auch um Weichenstellungen. Also, wie schaffen wir mehr Wachstum, mehr Wettbewerb, mehr Arbeitsplätze in Europa? Da gibt es unterschiedliche Ausrichtungen, das wird die Gretchenfrage sein. Und da wird es politisch zugehen", betont CSU-Chefin Niebler. Ist aber ein Kandidat partout nicht mehrheitsfähig, kann Juncker den Ressortzuschnitt oder die Ressortverantwortlichkeit eines Kommissars verändern; im Zweifel sogar das Mitgliedsland um einen neuen Kandidaten bitten. Es gilt also, noch im Laufe des Verfahrens nach möglichen Kompromissen zu suchen. Denn klar ist: das EU-Parlament kann die Kommission nur als Ganzes annehmen oder ablehnen. Letztlich aber wollen auch die meisten Abgeordneten einen Fehlstart der neuen Kommission unbedingt verhindern.
Von Jörg Münchenberg
Die Mitglieder der neuen EU-Kommission müssen ab heute den Ausschüssen des EU-Parlaments Rede und Antwort stehen. Mit besonders kritischen Fragen müssen unter anderem die umstrittenen Kandidaten aus Frankreich, Großbritannien und Spanien rechnen. Die Abgeordneten können die Kommission nur als Ganzes annehmen oder ablehnen.
"2014-09-29T05:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:55+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-eu-kommission-designierte-kommissare-stellen-sich-100.html
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