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Kein Entgegenkommen in Sicht
Zwei Meldungen über Julia Timoschenko gingen kurz vor dem Gipfel durch die ukrainischen Zeitungen. Aber weder die eine, noch die andere wird die EU-Gesandten milder stimmen. Erstens: In Julia Timoschenkos Krankenzimmer wird die Kamera abgebaut, hat Präsident Janukowitsch verfügt. Zweitens: Julia Timoschenko braucht angeblich keine medizinische Behandlung mehr, sagt der ukrainische Gesundheitsminister, was bedeutet, die populäre Gefangene muss zurück in die Frauenhaftanstalt Charkow.Die Nachricht, die den Ausgang des Treffens hätte verändern, die zu einer Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der Ukraine in diesem November in der litauischen Hauptstadt Vilnius womöglich hätte führen können, wäre ihre Begnadigung oder vorzeitige Haftentlassung. Doch davon ist keine Rede. Nicht beim Präsidenten, nicht beim ukrainischen Botschafter in Deutschland, Pawlo Klimkin:"Gemäß der ukrainischen Gesetzgebung kann man so was nur machen, wenn ein Antrag auf Begnadigung gestellt wird. Und dieser Antrag ist – soviel ich weiß – nicht da."Statt die ehemalige Regierungschefin zu begnadigen, sieht Präsident Janukowitsch zu, wie gerade ein neues Verfahren eröffnet wird. Nach der ersten Anklage wegen Amtsmissbrauchs, der zweiten wegen Steuerhinterziehung lautet die dritte nun Mord."Es gibt den Verdacht im Falle des Mordes an einem Abgeordneten. Aber die Ermittlungen laufen und auf Spekulationen werde ich auf gar keinen Fall eingehen."Ein Verfahren, das jetzt noch einmal aufgerollt wird, das 2003 bereits eingestellt worden war, weil Timoschenko keine Beteiligung an dem mafiaähnlichen Überfall auf den Geschäftskonkurrenten nachgewiesen werden konnte.Polens Präsident Komorowski, traditionell ein Anwalt der Ukraine in der EU, erinnert seinen Amtskollegen in Kiew diplomatisch verklausuliert daran, dass er sich bewegen muss."Ich möchte meinen persönlichen Optimismus äußern, wenn es um die Gesten und Entscheidungen geht, die Präsident Janukowycz angekündigt hat. Sie sind mit zwei Namen verbunden – Tymoszenko und Lucenko."Letzterer ist der ehemalige Innenminister der Regierung Timoschenko, ebenfalls in Haft. Kiews Mann in Berlin hat die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen geleitet, es ist auch sein Abkommen, und erst dann ein wirklicher Erfolg, wenn die Tinte darunter trocken ist. Doch die Unterschriften wird es ohne Bewegung im Fall Timoschenko nicht geben, lautet die klare Ansage aus Brüssel, der Vorwurf: selektive Justiz. Kiew dagegen möchte die Dinge voneinander trennen. Erst das Abkommen unterschreiben, dann Reformen. Umgekehrt, sagt die EU, erst die Reformen, dann das Abkommen, denn sie hat zum Beispiel im Fall Bulgarien und Rumänien Schiffbruch erlitten.Timoschenko im In- und Ausland schlechtzumachen, ist nicht schwer. Die ukrainische Regierung verweist auf das von ihr mit Putin ausgehandelte Gasabkommen, unter dem die Ukraine ächzt. "Die Preise sind die höchsten in Europa. So eine Menge brauchen wird nicht. Aber auch wenn die Wirtschaft normal läuft. Deswegen verhandeln wir mit Russland, dass wir einen neuen, fairen Vertrag abschließen können."Sieben Jahre Haft hatte Timoschenko dieses Gasabkommen eingebracht. Begründung: Amtsmissbrauchs. Der Ukraine nimmt das teure Gas die Luft zum Atmen, zumal die veralteten Schwerindustriebetriebe Energiefresser sind. Seit 2009 wird Energie gespart, wo immer möglich. Effekt: Der Verbrauch sank auf die Hälfte, wozu auch die Krise beigetragen hat. Kiew nahm Russland nur die Hälfte der vertraglich vereinbarten Menge ab. Soll jetzt aber, getreu dem Motto "take or pay", die volle Summe zahlen.Noch ist offen, ob das ukrainische staatliche Naftogas-Unternehmen gerichtlich gegen die russischen Zahlungsforderungen für das nicht abgenommene Gas vorgeht.
Von Sabine Adler
Beim EU-Ukraine-Gipfel geht es um Reformen und Handel. Die EU bietet der Ukraine die Ratifizierung eines wichtigen gemeinsamen Handelsabkommens an. Im Gegenzug verlangt die EU Reformen vor allem im Justizsektor.
"2013-02-25T09:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:08:56.971000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kein-entgegenkommen-in-sicht-100.html
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Du alter Streber!
Mittags halb eins: Große Hofpause am Kant-Gymnasium in Leipzig. Die Schüler hier wissen ziemlich genau, was sie unter einem Streber verstehen, in jedem Fall nichts Gutes:Benjamin (11. Klasse): " Bei mir ist ein Streber jemand, der immer zuhause hockt, immer lernt und andauernd den Lehrern in den Arsch kriecht soweit es irgendwie geht. Die melden sich auch immer sobald der Lehrer was wissen will. "Jonas (9. Klasse): " Die mag halt keiner, weil die nur am Lernen sind und den ganzen Tag nix anderes machen. Klar, für die Noten ist es gut, aber wenn man sich nicht mit Freunden trifft, find ich das nicht so gut. "Alexandra (10. Klasse): " Jemand der sich bei den Lehrern total einschleimt, die anderen von oben herab anguckt als wäre er was Besseres und immer wirklich jede Aufgabe gemacht hat. Und der eben permanent nur Einsen hat. "Rahel (5. Klasse): " Wir haben so einen in unserer Klasse auch drin. Der hat zwar ein paar Freunde, aber die sind auch so komisch. Die hopsen beim Melden immer so hoch und sind alle ein bisschen komisch. "Kein Zweifel, das Phänomen "Streber" ist bekannt an deutschen Schulen. Aber: Jeder hat so seine eigene Interpretation des Begriffs. Eine objektive Definition gibt es nicht, oder doch? Katrin Rentzsch, Psychologie-Diplomandin TU Chemnitz: " Wie unsere Befunde zeigen, ist ein typischer Streber jemand, der sehr gute Noten und relativ wenig Freunde hat, vielleicht auch etwas unattraktiv ist, keinen anderen Aktivitäten wie Sport oder so nachgeht, sondern wirklich nur lernt. Aber das ist wirklich nur das Bild, was man von einem Streber hat, ein Stereotyp. Das entspricht nicht dem, wie die Schüler dann tatsächlich auch sind, die als Streber bezeichnet werden. "Katrin Rentzsch muss es wissen. Die 22-jährige Psychologie-Absolventin hat gerade an der TU Chemnitz eine Diplomarbeit geschrieben - über Streber. Ein bisher weltweit fast unberührtes Forschungsland. " Es gab zwar schon einmal eine Studie dazu in Deutschland, die sich aber mehr mit Noten und Leistung beschäftigte. Und wir versuchen nun, das ganze Phänomen zum ersten Mal abzudecken - also, mit welchen Merkmalen es einhergeht, welche Definition man finden und wie weit diese gefasst werden kann. "Rund 320 Chemnitzer Schüler hat Katrin Rentzsch dafür befragt. Ihre Ergebnisse liefern den Beweis, dass weit mehr Jugendliche mit dem Strebervorwurf leben, als vermutet." Allein 22 Prozent der Schüler wurden manchmal bis häufig als Streber bezeichnet. Und 33 Prozent aller Schüler nannten andere Streber, also waren in dem Sinne die Hänselnden. Und wir fanden auch, dass fast ein Viertel aller Schüler Angst hat, als Streber bezeichnet zu werden. Also es scheint doch bei den Betroffenen mit einem gewissen Leidensdruck einherzugehen. "Angst davor, als Lehrerliebling abgestempelt und von den anderen gemieden zu werden. Die Vorsitzende der GEW-Sachsen, Sabine Gerold, sieht das Problem zwar nicht als vordergründig im Schulalltag, weiß aber um dessen Existenz." In einer Leistungskultur, wo Einige es als gerecht oder ungerecht empfinden, entstehen natürlich auch Stigmatisierungen unter den Betroffenen, die Leistung erbringen sollen. Und in diesem Kontext entsteht auch die Bewertung derer, die im Besonderen Maße nach guten Leistung streben. Und das wird negativ besetzt und der Begriff Streber von Schülern auch als Schimpfwort benutzt. "Oder anders ausgedrückt, gute Leistungen erzeugen Neid und Missgunst. Warum das so ist, kann auch Katrin Rentzsch nicht sagen. Sie vermutet aber, dass es am deutschen Gesellschaftssystem liegt, welches eher auf Gleichheit abzielt." Und wenn dann eben Einer eine sehr gute Leistung zeigt, dann kann es vorkommen, dass derjenige abgewertet wird, weil er eben aus der Reihe springt, weil er nicht konform mit den anderen ist. Und deswegen wird er abgelehnt und deswegen könnten auch derartige Phänomene zustande kommen. "Kritisch wird es dann, wenn der Strebervorwurf als verbale Gewalt empfunden wird, eine Art Vorstufe von Mobbing also. Wenn aus der Angst als Streber zu gelten plötzlich eine Angst vor guten Noten wird." Natürlich kann man jetzt beim Strebervorwurf nicht direkt gleich von verbaler Gewalt sprechen, aber es scheint schon so zu sein, dass diejenigen mit sehr guten Noten versuchen, ihre Leistungen nach unten zu korrigieren, weil sie Angst vor dem Strebervorwurf haben. Sie zeigen schlechtere Leistungen, als sie eigentlich haben könnten. Und das ist schon relevant, insbesondere wenn unsere Gesellschaft nach guten Leistungen verlangt. "In diesem Punkt tragen Schüler, Eltern und natürlich auch Lehrer eine besondere Verantwortung, meint Sabine Gerold von der GEW." Unsere Kollegen haben die Aufgabe - und viele meistern das auch in dem gegliederten System sehr gut - die Anforderungsniveaus im Unterricht so zu gestalten, dass alle Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen Erfolgserlebnisse haben. "Denn wo das geschafft wird, entstünde auch kein Neid auf vermeintlich Leistungsstärkere. Und dann wäre das Thema "Streber" auch keines mehr unter den Schülern. Wer sich angesprochen fühlt, kann sich auf der Webseite: Ich war ein Streber näher über das Thema informieren. Hier gibt es nützliche Tipps, wie man sich als Schüler oder Student verhalten kann, wenn man von anderen nicht als Streber bezeichnet werden möchte. Außerdem hat Katrin Rentzsch hier in einem Gastartikel noch einmal Kernpunkte ihrer Diplomarbeit zusammengefasst.
Von Michael Naumann
Sie werden gehänselt, gemieden und als Außenseiter diffamiert - für so genannte Streber kann der Uni- oder Schulalltag schnell zur Qual werden. Als Professoren- oder Lehrerlieblinge beschimpft, erleben sie nicht selten einen sozialen Spießroutenlauf. Und dabei zeigen Streber doch eigentlich nur die Leistung und den Eifer, die in Deutschland immer wieder gefordert werden. Doch statt Anerkennung schlagen ihnen Neid und Missgunst entgegen.
"2007-01-27T14:05:00+01:00"
"2020-02-04T12:23:26.045000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/du-alter-streber-100.html
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"KZ-Gedenkstätten sind auch Zeitzeugen"
Ort des Verbrechens: Gedenkzeichen im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen (Deutschlandradio / Ann-Kathrin Büüsker ) 76 lange Jahre ist das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Europa mittlerweile her. Mehrere Generationen sind seitdem groß geworden und längst ist es an den sogenannten Kriegsenkeln oder sogar Kriegsurenkeln, die Erinnerungen an den Holocaust wach zu halten. Welche Rolle dabei den einstigen Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, den heutigen KZ-Gedenkstätten, zukommt – das ist in diesen Tagen das Thema einer internationalen Konferenz, zu der die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten eingeladen hat. "Digitalisierung ist notwendig" Stiftungsdirektor Axel Drecoll sagte im Dlf, die permanent hohen und teilweise sogar steigenden Besucherzahlen zeigten, dass KZ-Gedenkstätten nach wie vor ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur seien. Vieles spreche dafür, dass die "verräumlichte Erinnerung" umso wichtiger werde, wenn uns diejenigen, die die persönliche Erinnerung tragen, verlassen. Sieht "große Herausforderung von rechts": Axel Drecoll, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen (dpa / picture alliance / Ralf Hirschenberger) Der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen betonte außerdem, dass die Digitalisierung in der Gedenkstätten-Arbeit eine immer wichtigere Rolle spiele: "Die Digitalisierung ist notwendig, weil sich das Rezeptionsverhalten der Besucherinnen und Besucher erheblich verändert hat." Man wolle die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Außerdem finde Zivilgesellschaft zunehmend im Netz statt und die KZ-Gedenkstätten "wollen selbstverständlich Teil dieser Zivilgesellschaft sein." "Starke Herausforderung von rechts" Dennoch stehe die Arbeit am historischen Ort nach wie vor im Zentrum der Gedenkstätten-Tätigkeiten: "Unsere Bildung ist maßgeblich darauf ausgerichtet, am historischen Ort Geschichte zu analysieren und zu diskutieren." Das könne man auf Dauer nicht eins zu eins im virtuellen Raum ersetzen, so Drecoll im Dlf. Mit Blick auf die jüngsten antisemitischen Vorfälle in Deutschland sagte der Gedenkstättenleiter: "Es gibt eine starke Herausforderung von rechts. Was uns da besonders Sorge bereitet, ist der Umgang mit Sprache. Dass wir in den letzten Jahren zunehmend erleben müssen, dass im Alltagsgebrauch und auch in Parlamenten diskriminierende Äußerungen gegenüber Jüdinnen und Juden und anderen Minderheiten fallen, ist für uns ganz besorgniserregend."
Axel Drecoll im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Erinnerung wach halten, auch wenn kaum noch Zeitzeugen leben - vor dieser Aufgabe stehen KZ-Gedenkstätten in den kommenden Jahren. Umso wichtiger werde das "topografische Gedächtnis", sagte Gedenkstätten-Leiter Axel Drecoll im Dlf. Die Stätten seien "steinerne Zeugen" der NS-Verbrechen.
"2021-05-18T17:35:00+02:00"
"2021-05-19T15:59:08.101000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/holocaust-erinnerung-kz-gedenkstaetten-sind-auch-zeitzeugen-100.html
2
Der Marathon-Mann vom DOSB
Alfons Hörmann ist neuer Chef des deutschen Sports. Der 53 Jahre alte Unternehmer wurde am Samstag bei der 9. DOSB-Mitgliederversammlung in Wiesbaden mit überwältigender Mehrheit zum neuen Präsidenten und damit zum Nachfolger von Thomas Bach gewählt. "Mir ist klar, dass die vor uns liegenden Aufgaben nicht dem Format eines 100-Meter-Laufs entsprechen. Das Bild des Marathons ist stimmiger. Ich bin bereit, diesen Marathon anzugehen, sofern sich viele fleißige Helfer beteiligen", sagte Hörmann, der in seiner Vorstellung vor den Delegierten von einer "großen, großartigen Aufgabe" sprach. Er kann mit einem eindrucksvollen Vertrauensbeweis im Rücken sein Amt antreten: 434 Mitglieder stimmten für den einzigen Kandidaten, nur 25 gegen ihn - das entspricht einem Votum von 94,6 Prozent. "Mit diesem Vertrauensbeweis fühle ich mich gestärkt, den Marathon anzugehen", sagte Hörmann. Rückendeckung von Vorgänger Bach Der Allgäuer, der die Präsidentschaft von Bach zu Ende führen wird und sich deshalb schon in einem Jahr wieder zur Wahl stellen muss, hatte schon vor seiner Inthronisierung Rückendeckung von seinem Vorgänger erhalten. "Statten Sie Ihren neuen Präsidenten mit einem starken Mandat aus, das ihm erlaubt, unseren DOSB mit aller Kraft zu vertreten. Unterstützen Sie ihn, wie Sie mich in den letzten sieben Jahren unterstützt haben", sagte Bach, der das DOSB-Spitzenamt nach seiner Wahl zum IOC-Präsidenten am 10. September niedergelegt hatte. Bach selbst wurde ohne Gegenstimme zum DOSB-Ehrenpräsidenten gewählt - und kämpfte während seiner Dankesrede mit den Tränen: "Das ist ein weiterer emotionaler Moment für mich. Ich freue mich riesig über diese Wahl und diese große Zustimmung. Der DOSB ist und bleibt ein Teil meines sportlichen Lebens." Er dankte ausdrücklich Hans-Peter Krämer, der den DOSB nach seinem Rücktritt als Übergangspräsident geleitet hatte und nun bis Ende 2014 wieder als Vizepräsident Finanzen fungieren wird. Unternehmer aus Sulzbach und bislang Präsident des Deutschen Skiverbandes Hörmann, Unternehmer aus Sulzbach und bislang Präsident des Deutschen Skiverbandes (DSV), steht vor einem "Mammutprogramm", wie er selbst sagte. In zwei Monaten beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi, wo voraussichtlich 169 deutsche Athleten (82 Männer/87 Frauen) um Medaillen kämpfen werden. Doch vor allem die inhaltlichen Herausforderungen sind enorm. Finanzmangel macht dem deutschen Sport schwer zu schaffen, die Diskussionen über ein Anti-Doping-Gesetz sind im vollen Gange. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich machte Hörmann und dem kompletten DOSB Mut für die künftigen Aufgaben. Der CSU-Politiker setzte sich nach dem krachenden Scheitern der Münchner Bewerbung um die Winterspiele 2022 vehement für einen erneuten Vorstoß ein: "Olympische Spiele in Deutschland - das bleibt das Ziel. Olympische Spiele sind mehr als ein sportliches Großereignis, sie sind auch Gelegenheit für ein Land, sich zu präsentieren." Bundesinnenminister Friedrich erteilt Absage Friedrich sorgte aber auch für Ernüchterung. Der intensiven finanziellen Forderung des DOSB nach mehr Geld erteilte er eine klare Absage: "Ich glaube nicht, dass ein Zig-Millionen-Wunschzettel weiterhilft. Wir müssen uns im gesamten Bundeshaushalt fragen, wie wir die Gelder umschichten können. Diese Aufgabe kommt auch auf die Sportverbände zu."
null
Der Deutsche Olympische Sportbund hat einen neuen Chef: Alfons Hörmann folgt Thomas Bach, der inzwischen Chef des Internationalen Olympischen Komitees ist. Es gab viel Grund zur Freude, Bundesinnenminister Friedrich sorgte aber auch für etwas Ernüchterung.
"2013-12-07T18:25:00+01:00"
"2020-02-01T16:49:43.397000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-olympischer-sportbund-der-marathon-mann-vom-dosb-100.html
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"Beginn einer chinesischen Schaukelpolitik"
Der Direktor des Mercator Instituts für China-Studien (MERICS), Sebastian Heilmann, aufgenommen am 25.10.2013 in Berlin. (dpa/picture-alliance/Marco Urban) Jasper Barenberg: Aus Sicht Chinas war Deutschland bisher vor allem in einer Hinsicht wichtig und interessant: als Wirtschafts- und Handelspartner. Die Zahlen sprechen für sich: Wir exportieren so viele Waren in die Volksrepublik wie Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zusammen. In dieses Bild passt, dass mehr als 100 Wirtschaftsfachleute Chinas Staatschef Xi Jinping zu seinem Besuch heute begleiten. Auch diese Reise soll für Wirtschaftsabkommen und Geschäfte genutzt werden. Das Xi in Berlin aber auch eine Rede zu Chinas Rolle in der Welt halten wird, ist schon ein erster Hinweis darauf, dass es dieses Mal um mehr gehen könnte. Gerade erst hat Peking angekündigt, dass es sich als verantwortliche Großmacht betrachtet, die sich aktiver in die internationale Politik einbringen will. Der Konflikt um die Ukraine und um die Krim haben allerdings auch gezeigt, wie schwierig das auch sein kann. – Aus Berlin ist uns jetzt Sebastian Heilmann zugeschaltet, der Direktor des Mercator-Instituts für China-Studien. Schönen guten Morgen, Herr Heilmann. Sebastian Heilmann: Guten Morgen, Herr Barenberg. Barenberg: Kommt mit Xi Jinping ein Staatschef mit Ambitionen, auf der politischen Weltbühne stärker mitzumischen? Heilmann: Auf jeden Fall. Wir haben zum ersten Mal hier eine chinesische Administration vor Augen, die auch geostrategische Interessen formuliert, die wirklich eine aktivere Rolle in der Welt anstrebt und dazu auch steht, und dieser Xi Jinping verkörpert tatsächlich den Eintritt Chinas in die aktive Weltpolitik. Insofern hat dieser Besuch in Deutschland ein ganz neues Potenzial, eine neue Dimension. Bisher ging es fast immer ganz vornehmlich um Wirtschaftsbeziehungen, diesmal ist Sicherheitspolitik und Weltpolitik im Zentrum der Gespräche in Berlin. Barenberg: Und ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang wird natürlich die Ukraine sein, und da haben ja Beobachter sehr aufmerksam registriert, dass China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über das Krim-Referendum der Stimme enthalten hat und nicht an der Seite Russlands mit abgestimmt hat. Ein wie deutliches Zeichen für eine Distanzierung gegenüber Russland ist das denn? Heilmann: Das ist natürlich keine explizite Distanzierung, dass China sagt, was Russland gemacht hat ist falsch, sondern es geht hier darum, Spielraum zu gewinnen. Die chinesische Seite will natürlich nicht immer im Windschatten Russlands segeln in dieser internationalen Politik. Die Phase, denke ich, wird demnächst zu Ende gehen. Und insofern positioniert sich die chinesische Führung jetzt so, dass sie auch auf den Westen zugehen kann, jeweils abhängig von der Lage der Krise, die zu bearbeiten ist. Insofern würde ich jetzt damit rechnen, dass das nicht auf offener Bühne stattfindet, aber dass hinter den Kulissen auch heute in Berlin in den Gesprächen mit Angela Merkel tatsächlich sich neue Spielräume auftun. Wir haben also hier ein besonderes Zeitfenster, besondere Gelegenheiten, um China enger einzubinden in eine verantwortliche Bearbeitung von solchen Krisen wie in der Ukraine. Barenberg: Ein wichtiges Prinzip der chinesischen Außenpolitik war ja vor allem in der Vergangenheit dieses Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Nun hat ja das Moskau gerade verletzt. Insofern ist nachvollziehbar, dass China da ein bisschen auf Distanz geht. Aber anders herum gefragt: Wie weit sind denn dann die Spielräume, die Sie skizziert haben, gerade wenn es darum geht, sich der Haltung des Westens anzunähern? Heilmann: Das wird, denke ich, nicht so einfach sein. China wird natürlich versuchen, so eine Art Schaukelposition aufzubauen, wo die größten Vorteile jeweils zu finden sind in den Beziehungen zum Westen und in den Beziehungen zu Russland. Das heißt, Russland bleibt wertvoll für China natürlich als Partner, der notfalls beispringt, der dem Westen Paroli bieten kann, wenn die eigenen Interessen betroffen sind. Außerdem liefert Russland natürlich viele Rohstoffe, viel Energie. Da kann China durchaus jetzt auch mehr abbekommen, falls die Europäische Union ihre Bezugsquellen umsteuert für Energie und Rohstoffe. Dann kann China natürlich wahrscheinlich auf Energie aus Russland zurückgreifen. Das heißt, da ist ein großes Spiel im Gange, wo China versuchen wird, einerseits sehr gute Beziehungen zum Westen auch zu halten, die wirtschaftlich essenziell sind, unabdingbar sind, auf der anderen Seite aber auf keinen Fall einen offenen Bruch mit Russland herbeiführen wird. Wir sehen hier also den Beginn einer chinesischen Schaukelpolitik, die uns wahrscheinlich die nächsten Jahre begleiten wird. Barenberg: Sie sprechen von einer Schaukelpolitik. Man kann ja auch sagen, das ist ein Spagat, das ist ein Dilemma. Hat denn die Kanzlerin, hat Angela Merkel anders als andere vielleicht besondere Möglichkeiten, auch was den Ruf Deutschlands in China angeht, da etwas zu bewegen? Heilmann: Deutschland hat in der Tat in China den Ruf, ein ehrlicher Makler zu sein, und das beruht auch ganz einfach auf der Tatsache, dass wir keine geostrategischen Interessen in Ostasien haben. Das heißt, China fühlt sich keineswegs bedrückt wie etwa von Russland oder von den USA an den Grenzen. Das gibt es immer wieder, diese Ängste gegenüber gewissen anderen Mächten. Russland ist auch da kritisch. Deutschland gilt als ehrlicher Makler, der tatsächlich auch vermitteln kann, der Positionen vertritt, die nicht nur aufs eigene Konto gehen, nicht nur den eigenen nationalen Interessen dienen, und das ist ein Vorteil. Das ist tatsächlich jetzt heute in Berlin zu erwarten, dass man offener spricht, als das etwa zwischen Xi Jinping und dem amerikanischen Präsidenten Obama möglich wäre, weil Deutschland mehr Glaubwürdigkeit hat in dem Management solcher Krisen. Barenberg: Wie wichtig sind da denn persönliche Beziehungen und was kann man dazu überhaupt sagen, wenn wir über Angela Merkel reden, über Joachim Gauck und ihre Beziehungen zu dem neuen chinesischen Staatspräsidenten? Heilmann: Persönliche Beziehungen sind schon sehr wichtig. Wir haben eigentlich eine Geschichte von guten persönlichen Arbeitsbeziehungen auch zwischen den Bundeskanzlern in Deutschland seit den 90er-Jahren und den chinesischen Regierungschefs, zum Teil auch den Generalsekretären der Kommunistischen Partei, die ja auch als Staatspräsident Chinas dann fungieren. Das wird also eine erstrangige Aufgabe sein für Angela Merkel, wirklich gute, vertrauensvolle Beziehungen zu diesem Menschen Xi Jinping auch herzustellen, dass man offen reden kann, ohne dass man gleich einschnappt, wenn auch mal ein kritisches Wort fällt, und bisher hat Angela Merkel darin gegenüber chinesischen Führern ein großes Geschick bewiesen. Wir haben heute einen Test vor uns, das wird sehr interessant vom Ergebnis her zu sehen, wie das ausgeht. Barenberg: Und wenn wir diesen Test zum Schluss angucken, Herr Heilmann, müssen wir dann am Ende doch sagen, die Wirtschaftsbeziehungen, die Handelsbeziehungen sind für die chinesische Seite besonders wichtig und stehen an erster Stelle, beispielsweise wenn es um dieses Projekt „Neue Seidenstraße“ geht, ja ein offenbar wichtiges Handelsprojekt, was China gerade vorantreiben will? Heilmann: Das ist schon so, dass China natürlich sehr stark Außenpolitik auch in wirtschaftspolitischen Kategorien denkt, und beispielsweise dieses neue Seidenstraßen-Projekt ist ein Ausdruck davon, dass China eigentlich fest überzeugt ist, dass nur wirtschaftliche Entwicklung in Zentralasien, Westasien Stabilität auf Dauer schafft, also nicht Militäreinsätze, nicht Entwicklungshilfe, sondern wirtschaftliche Entwicklung. Die Gesellschaften müssen dort alle beteiligt werden am globalen Austausch, und dieses Interesse teilt China natürlich mit Deutschland und der Europäischen Union. Da gibt es wirklich viele neue Möglichkeiten der Kooperation. Barenberg: Ganz zum Schluss noch eine weitere Frage. Es heißt ja immer, der Staatspräsident ist sehr kritisch dem Westen gegenüber. Sie sind ziemlich optimistisch, was eine Öffnung des Herrschaftssystems angeht. Woher kommt dieser Optimismus? Heilmann: Eine Öffnung des Herrschaftssystems, da wäre ich nicht so optimistisch jetzt, dass das ausgelöst wird von der Führung, denn gegenwärtig haben wir innenpolitisch in China tatsächlich eher eine Rückwendung zum Zentralismus, zu stärker auch autoritären Steuerungsmechanismen. Aber was die Weltpolitik angeht, findet China momentan in eine neue Rolle hinein. Das ist insofern eine neue Phase unter diesem Xi Jinping. Und die werden zugehen müssen auf mehr Partner, sie werden sich einlassen müssen auch auf Krisenmanagement, müssen sich aktiv beteiligen, weil China überall in der Welt jetzt präsent ist. Das heißt, das ist ein ganz elementares Interesse, die eigenen Bürger zu schützen, die eigenen Unternehmen zu schützen, aber auch friedliches Umfeld zu haben, das diesen Aufstieg Chinas auch flankieren und unterstützen kann. Barenberg: Der Direktor des Mercator-Instituts für China-Studien heute Morgen live hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Sebastian Heilmann. Heilmann: Danke Ihnen, Herr Barenberg. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sebastian Heilmann im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Staatsbesuch des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping in Deutschland markiert nach Ansicht des Chinakenners Sebastian Heilmann den Beginn einer neuen Außenpolitik Chinas. Auf der Suche nach neuen Partnern glaube Peking, in Berlin einen "ehrlichen Makler" in der Weltpolitik zu finden.
"2014-03-28T08:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:33:17.062000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/xi-jinping-in-berlin-beginn-einer-chinesischen-100.html
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RKI aktualisiert Liste der Coronavirus-Risikogebiete
Coronatest-Kontrollen am Flughafen (dpa / picture alliance / Christian Charisius) Seit Donnerstag, dem 3. März 2022, gelten keine Länder mehr als Hochrisikogebiete. Egal aus welchem Staat man nach Deutschland einreist, bestehen also keine Quarantänepflichten mehr. Grundsätzlich gilt bei einer Einreise nach Deutschland aber weiterhin die 3G-Regel. Ds heißt: Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss einen negativen Test vorweisen können. Diese Nachweispflicht gilt nun ab dem Alter von zwölf statt ab sechs Jahren. Künftig werden Länder nur noch dann als Hochrisikogebiete eingestuft, wenn dort Virusvarianten grassieren, die "besorgniserregendere Eigenschaften" besitzen als die hierzulande dominierende Omikron-Variante. Welcher ausländische Staat in die Liste der Virusvarianten- oder Hochrisikogebiete aufgenommen wird, entscheiden Experten aus dem Auswärtigem Amt sowie aus den Bundesministerien für Gesundheit und Inneres. Die vollständige Liste wird anschließend auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts veröffentlicht. HochrisikogebieteVirusvariantengebieteTest- und Nachweisregeln Hochrisikogebiete Als Hochrisikogebiete werden Länder oder Gebiete ausgewiesen, in denen nach Einschätzung der genannten Experten "ein besonders hohes" Risiko besteht, sich mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 anzustecken. Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden diese Kriterien näher erläutert. Dazu zählen zum Beispiel: eine regelmäßige 7-Tage-Inzidenz von deutlich über 100 eine hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit der Corona-Infektionen viele Krankenhausaufenthalte wegen COVID-19 und/oder eine hohe Rate an positiven Tests bei einer geringen Anzahl an Tests Zwischenzeitlich standen etwa drei Viertel der rund 200 Staaten weltweit auf der Liste der Hochrisikogebiete. Derzeit ist die Liste leer. Virusvariantengebiete Als Virusvariantengebiete werden Länder oder Regionen ausgewiesen, in denen verbreitet eine Variante (= Mutation) des Coronavirus SARS-CoV-2 auftritt, die nicht zum gleichen Zeitpunkt in Deutschland verbreitet ist und von der angenommen wird, dass von ihr ein besonderes Risiko ausgeht. Ein solches Risiko kann beispielsweise sein, dass die Virusvariante zu schweren Krankheitsverläufen führen kann und/oder dass die Immunität nach einer Impfung oder Genesung durch die Variante abgeschwächt ist. Zuletzt waren Großbritannien und mehrere afrikanische Staaten als Virusvariantengebiete eingestuft, weil dort die Omikron-Variante grassierte. Inzwischen hat sie sich jedoch auch in Deutschland stark ausgebreitet. Deshalb weist das Auswärtige Amt derzeit keine Virusvariantengebiete mehr aus. Test- und Nachweisregeln Personen müssen bei einer Einreise nach Deutschland grundsätzlich den Nachweis erbringen können, dass sie negativ auf das Coronavirus getestet, vollständig dagegen geimpft oder von einer Covid-19-Erkrankung genesen sind. Diese Nachweispflicht gilt für alle Personen ab zwölf Jahren - unabhängig davon mit welchem Verkehrsmittel sie nach Deutschland gekommen sind und aus welchem Land sie kommen. Die Nachweispflicht gilt also nicht nur dann, wenn man sich vor der Einreise in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet aufgehalten hat. Bei vorherigem Aufenthalt in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet werden allerdings zusätzlich spezielle Anmelde-, Nachweis- und Quarantänepflichten wirksam. Diese lassen sich auf der Webseite der Bundesregierung zur Digitalen Einreiseanmeldung nachlesen. Nach Eingabe des Reiseorts werden die jeweils geltenden Vorschriften angezeigt. Je nach Impfstatus gelten unterschiedliche Ausnahmen. Bei Einreise aus Virusvariantengebieten gilt – vorbehaltlich sehr eng begrenzter Ausnahmen – außerdem ein Beförderungsverbot für den Personenverkehr per Zug, Bus, Schiff und Flug direkt aus diesen Ländern.
null
Robert Koch-Institut und Auswärtiges Amt beobachten fortwährend das Infektionsgeschehen weltweit. Abhängig davon können Staaten als Hochrisiko- oder Virusvariantengebiete eingestuft werden - mit Konsequenzen für die Einreise nach Deutschland. Hier der aktuelle Stand.
"2022-03-04T14:57:00+01:00"
"2021-11-12T22:48:36.990000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rki-aktualisiert-liste-der-coronavirus-risikogebiete-1016.html
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Piloten dürfen ohne Mütze fliegen
Piloten der Lufthansa dürfen nach einem Gerichtsurteil auch ohne Mütze ihrem Job nachgehen. (picture alliance / dpa / Boris Roessler) Piloten der Lufthansa dürfen nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt auch ohne Mütze ihrem Job nachgehen. Die Mützenpflicht für Männer, die der Arbeitgeber fordere, verstoße gegen den Gleichhandlungsgrundsatz. Der Kläger war im Dezember 2009 wegen einer fehlenden Pilotenmütze von einem New-York-Flug abgezogen worden und erhielt einen Eintrag in seine Personalakte. Gericht: Kleidungsunterschiede müssen "sachlich gerechtfertigt" sein Vor dem Bundesarbeitsgericht wehrte er sich dagegen, dass die blaue Cockpit-Mütze für männliche Piloten verpflichtender Teil der vollständigen Uniform ist. Für Pilotinnen sei sie dagegen lediglich ein freiwilliges Accessoire. Dies begründet die Lufthansa damit, dass eine Pilotenmütze nicht mit jeder weiblichen Frisur getragen werden könne. Die Richter entschieden dagegen, dass unterschiedliche Kleidungsvorschriften "sachlich gerechtfertigt" sein müssen. Nicht nur Frauen mit Langhaarfrisur, auch Männern mit Gel im Haar könne die verpflichtend zu tragende Mütze Schwierigkeiten bereiten. Gerichtspräsidentin Ingrid Schmidt befürchtete durch die Regelung zudem eine möglicherweise subtile Benachteiligung der Pilotinnen: Wenn drei Flugzeugführer, darunter zwei Männer mit Mütze, auf einem Flughafen zusammenständen, "wen halte ich für den Piloten?". Am Frankfurter Flughafen haben die Lufthansa-Piloten wieder ihre Arbeit niedergelegt. Langstreckenflüge fielen aus. (dpa / picture-alliance / Boris Roessler) Chaos wegen Pilotenstreik in Frankfurt bleibt ausWährend der Mützenstreit damit entschieden ist, schwelt der Tarifstreit zwischen Piloten und der Lufthansa weiter. Allerdings haben die erneuten Streiks vergleichsweise zu geringen Problemen geführt. Am wichtigsten Lufthansa-Drehkreuz in Frankfurt wurden - die Rückflüge eingerechnet - fast 50 Flüge gestrichen, etwa nach Singapur, Bangkok und Chicago. 32 Flüge wurden nach Angaben eines Sprechers mit Ersatz-Crews oder veränderten Abflugzeiten bestritten.Demnach konnten zahlreiche Passagiere auf andere Fluggesellschaften und Flughäfen umgebucht werden. Insgesamt sollen etwa 20.000 Kunden von dem Streik betroffen gewesen sein. Die Pilotengewerkschaft Cockpit hatte ihre fünfte Streikwelle bereits im Vorhinein auf Interkontinentalflüge beschränkt. Dafür dauerte der Ausstand fast doppelt so lange wie bei vorherigen Aktionen.(tj/lob)
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Der Streik der Lufthansa-Piloten hat zu weniger Ausfällen geführt als befürchtet. Für Aufmerksamkeit sorgt zugleich ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Danach können Piloten künftig auch ohne Kopfbedeckung fliegen. Die Mützenpflicht diskriminiere Männer, heißt es.
"2014-09-30T18:41:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:16.307000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lufthansa-piloten-duerfen-ohne-muetze-fliegen-100.html
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Im Schatten der Ingenieure
Die Stanford Universität in Kalifornien. (picture alliance / dpa / Udo Bernhart) Sie seien in einer privilegierten Lage, sagt Debrah Satz, Philosophie-Professorin an der Uni Stanford, über sich und ihre geisteswissenschaftlichen Kollegen: In der Tat - mit überschaubaren 16.000 Studierenden, davon etwa die Hälfte Doktoranden, und einem Eigenkapital von 22 Milliarden Dollar geht es der Elite-Universität nicht schlecht. Die Hochschule ist auch so etwas wie die geistige Mutter des Silicon Valley, in dem sie liegt: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der Stanford-Professor Frederick Terman die Idee, seine Kollegen zum Gründen von Technik-Firmen zu ermutigen, die sich dann um die Uni herum ansiedelten - so entstand zum Beispiel Hewlett Packard - und später werkelten in Stanford die ersten Google-Server - die Suchmaschine entstand hier als Forschungsprojekt, und noch heute profitiert die Uni von den Google-Patenten. Doch wie sieht es mit den Geisteswissenschaften hier aus? Nur 13 bis 16 Prozent der Studierenden sind dafür eingeschrieben. "Wie wichtig die Geisteswissenschaften für Stanford sind und wie viele Studierende wir haben, das sind zwei verschiedene Fragen: Wir sind eine Hochschule der Freien Künste, und diese Idee halten wir hoch. Sie lernen hier in erster Linie nicht einen bestimmten Beruf, sondern Sie lernen fürs Leben. Aber gerade wegen unserer Lage im Silicon Valley denken wir viel natürlich darüber nach, wie wir mehr Studierende für die Geisteswissenschaften anziehen und so am Image der Uni arbeiten können.” Denn natürlich sind die Personalressourcen auch in Stanford endlich. "Wenn sich 60 Prozent der Studienanfänger für Informatik einschreiben, dann ist es schwer, für einen neue Professur in klassischer Philologie zu argumentieren, während die Informatik-Kollegen gleichzeitig von Erstsemestern überrannt werden.”# Hoher Druck für Studierende Für die Studierenden ist Stanford als private Universität nicht billig - fast 45.000 Dollar im Jahr. Mit Unterkunft und Lernmitteln kommen sogar mehr als 60.000 Dollar zusammen. Wobei die Uni sich zu Gute hält, dass niemand abgewiesen wird, nur weil die Eltern es sich nicht leisten können. Trotzdem, sagt Debra Satz, sei es nicht einfach für die Studierenden, ihren Eltern zu erklären, so viel Geld für ein geisteswissenschaftliches Studium auszugeben, während der Informatik-Kommilitone nebenan sich schon auf den hervorragend bezahlten Job bei Google freut. "Wir haben so viele Studierende wie nie zuvor in der ersten Generation - das also junge Leute, die die ersten in ihrer Familie sind, die an eine Uni gehen. Sie stehen unter einem extrem Druck ihrer Familien, nach dem Studium hier schnell ein gutes und sicheres Gehalt zu verdienen.” Doch wer sich wirklich für Facebook, Google und Co. als künftigen Arbeitgeber interessiert, der sollte vielleicht gerade die Geisteswissenschaften ins Auge fassen. Christopher Kark wurde in Stanford promoviert - in spanischer und portugiesischer Literaturwissenschaft. Danach fand er recht schnell einen Job. "Ich habe eine Weile bei Twitter gearbeitet - sie haben mich als Texter eingestellt, weil ich gut formulieren konnte. Ich war aber natürlich auch an Diskussion über Themen wie Datenschutz beteiligt - und da habe ich zum Beispiel gefragt: Was sagt diese oder jene Einstellung über unsere Firmenkultur aus? Die Kollegen betrachten die Dinge im neuen Licht, wenn Du Ihnen solche Fragen mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund stellst.” Mehr Geisteswissenschaften für Ingenieure Inzwischen arbeitet Kark wieder an der Uni. Die Geisteswissenschaften in Stanford haben einige Silicon-Valley-Größen hervorgebracht - so hat Yahoo-Chefin Marissa Mayer Symbolsysteme studiert, und Paypal-Gründer Peter Thiel hat einen B.A. in Philosophie. Außerdem wird den Ingenieursstudenten sehr ans Herz gelegt, auch über den Tellerrand zu schauen. Es sei sehr selten, dass ein Ingenieur seinen Abschluss macht, ohne jemals ein geisteswissenschaftliches Seminar besucht zu haben, sagt Dan Edelstein, Professor für französische Literatur. Die Chefin des US-Internetkonzerns Yahoo, Marissa Mayer, hat in Stanford unter anderem Symbolsysteme studiert. (ERIC PIERMONT / AFP) In diesem Jahr startet die Uni Stanford etwas, das es hier jahrzehntelang nicht gab: den sogenannten "Humanities Core”, eine Art geisteswissenschaftliche Grundausbildung, in Ansätzen vielleicht vergleichbar mit dem Studium generale früher in Deutschland. Das Programm startet in diesem Herbst, ist freiwillig und soll auch Ingenieursstudenten mit geisteswissenschaftlichen Themen in Berührung bringen. "Die Idee dahinter ist, dass wir den Studierenden aus dem Ingenieursbereich einen Weg in die Geisteswissenschaften öffnen. Viele von ihnen fühlen sich in der Fülle der geisteswissenschaftlichen Disziplinen sonst schnell verloren. Wir bieten einen großen Eingang mit blinkenden Neonlichtern, über dem nicht steht: 'Lasst alle Hoffnung fahren.' - Sondern 'Erkennt den Sinn und Zweck der Geisteswissenschaften.'” Doch natürlich wollen die Geisteswissenschaften auch in Stanford nicht nur Appetithäppchen für die Googler von Morgen sein - dafür ist ihre Tradition und ihr Ansehen zu groß - die Altphilologie hier ist zum Beispiel eine der größten und besten der USA, wenn nicht weltweit. Trotzdem bleibt Philosophie-Professorin Debra Satz bei ihren Zielen realistisch: Es gehe nicht so sehr darum, wie viele Studierende eine Geisteswissenschaft als Hauptfach wählen, sagt sie. Sondern eher, wie viele sich tief gehend mit geisteswissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen.
Von Wolfgang Stuflesser
Die Universität Stanford gilt als amerikanische Kaderschmiede für Ingenieure und Informatiker. In den Geisteswissenschaften sieht es dagegen mau aus. Mit einer neuen Grundausbildung will die Uni jetzt auch Ingenieursstudenten für Philologie und Philosphie begeistern.
"2016-10-14T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:26.229000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geisteswissenschaften-in-stanford-im-schatten-der-ingenieure-100.html
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Genialer Doppelmörder
Meister provokanter Inszenierungen: der Regisseur Calixto Bieito (picture alliance / dpa) Musik: Gesualdo, In monte Oliveti Eine fahle Leuchte, ansonsten ist es dunkel in Hamburgs "opera stabile", Nebel schwebt im Raum. Ein Keller, ein Gefängnis? Auf einem schmalen Streifen – zu beiden Seiten sitzt das Publikum – liegt am Boden zusammengekrümmt ein nackter Mann. "incurvatus in se" – der auf sich selbst verkrümmte Mensch – so formulierte es der Kirchenvater Augustinus. Der Mensch, nackt wie ihn Gott geschaffen hat, der sich jedoch von Gott abwendet. Ein starkes, archaisches Bild. Auch bei Luther heißt es, der Mensch komme als Sünder auf die Welt. Musik: Gesualdo, In monte Oliveti Sieben solistische Sängerinnen und Sänger, schwarz-weiß gekleidet, bewegen sich aus den Ecken des Raumes auf die arme Kreatur zu, aus schwarzen Plastikbeuteln holen sie Erde und bewerfen ihn. Einer scheint Mitleid zu empfinden und legt sich zu dem Mann. Dann erhebt sich der Nackte, er ist kahlköpfig. Wer einmal ein Bild von Carlo Gesualdo gesehen hat, kann Ähnlichkeit feststellen. Der italienische Fürst lebte in der Nähe von Neapel, er soll seine Frau und ihren Liebhaber ermordet haben lassen. Fortan soll ihn seine Schuld gequält haben, er litt an Depressionen. Musikwissenschaftler und Psychologen deuten seine dissonanzenreiche Musik als Ausdruck seines Seelenzustandes. Musik: Gesualdo, "O dolorosa gioia" Calixto Bieito interessierte es nicht, ob Gesualdo selbst den Ehrenmord an seiner Frau begangen hat. Auch szenische Aspekte kamen ihm bei Gesualdos Musik erst relativ spät in den Sinn. Er habe zuerst an den Sinn des Lebens gedacht und sich daran erinnert, wie er als Kind gebetet habe aus einem unbegründeten Schuldgefühl heraus. Mit nur 12 Jahren sagte Bieito zu seiner Mutter, dass er nicht an die Institution Katholische Kirche glauben würde. Gleichzeitig habe er natürlich die katholische Erziehung gewissermaßen im Blut, und dabei sowohl die positiven als auch die perversen, negativen Aspekte. Calixto Bieito wurde - wie Gesualdo - von Jesuiten erzogen, er hat im Internat viele Grausamkeiten erlebt. Immer wieder hat er in Interviews betont, dass seine Regie-Arbeiten jedoch keine Trauma-Verarbeitung seien. Für die Hamburger Produktion ist das auch nicht wichtig. Wer andere Inszenierungen Bieitos kennt, weiß, dass "¡Gesualdo" an der Hamburgischen Staatsoper seine Regie-Handschrift, seinen Blick auf die seelischen Motivationen der Menschen in äußerst konzentrierter Form zeigt. Es ist der Kontrast von extremer Schönheit – durch die Musik – und extremer Grausamkeit – durch Handlungen der Sänger. Grausamkeit gehöre zur menschlichen Genetik, aber sie habe natürlich auch einen geschichtlich-sozialen Kontext. Doch der Mensch könne immer korrigierend eingreifen und sich für das eine oder andere entscheiden. Das mache ihn – manchmal wenigstens –, so Bieito, optimistisch. Musik: Gesualdo, Già piansi nel dolore Calixto Bieito hat 14 Stücke aus Gesualdos geistlichen Responsorien und späten, weltlichen Madrigalen ausgewählt. Immer wieder treten einer, mehrere oder alle Sänger auf den nackten Mann im Raum zu. Erst scheint er getröstet zu werden, doch im nächsten Moment schlägt Mitleid in Brutalität um. Er wird gekratzt, geschlagen, gestoßen. Immer mehr Blut und Speichel vermischen sich mit der Erde an seinem Körper. Zuletzt strömt Wasser von oben, die Sänger singen nun von einer Empore, sie werfen ihre Notenblätter nach unten – es geht im Text um Leid und Schuld und Sühne -, gierig, masochistisch fängt der arme Mann sie auf, und steckt diese "Schuldscheine" wenn man so will, in den Mund. Ein hartes, ein krasses Bild, mit dem das Publikum entlassen wird. Musik: Gesualdo, Dolcissima mia vita Musikalisch wurden die Sänger von einer kleinen Orgel, einer Gambe und einer Laute begleitet. Dabei hatten die zum Teil doch stark opernhaft ausgerichteten Stimmen anfangs Mühe, sich zu einem guten Ensemble-Klang zu mischen, was aber im Verlauf immer besser gelang. Dieser Abend ist eindrücklich und bizarr. Die Spannung durch die grausamen Bilder im Kontrast mit der berührenden Musik macht nachdenklich. Und das ist viel!
Von Elisabeth Richter
Er war ein genialer Komponist und ein ruchloser Mörder: Carlo Gesualdo ließ seine untreue Ehefrau samt Liebhaber umbringen. Das Thema Gewalt, das für Calixto Bieito in seinen Regiearbeiten eine wichtige Rolle spielt, findet in seiner neuesten Hamburger Arbeit durchaus ein Pendant.
"2017-01-16T20:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:29:04.698000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/calixto-bieito-inszeniert-gesualdo-madrigale-genialer-100.html
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Erinnerungen an SARS-Epidemie
Alltag während der SARS-Epidemie 2003: Der Mundschutz sollte vor einer Infektion schützen (PETER PARKS / AFP) "Ich war damals ein Krankenhausarzt im Notdienst. Ich kann mich noch gut erinnern. Am Nachmittag des 10. März 2003 schickte mich mein Chef auf den Flur 8A. Dort hätten mehrere Patienten Fieber. Angeblich fühlten sich auch einige Pflegekräfte krank." Nelson Lee sitzt in einem Büro im Hongkonger Prince of Wales-Krankenhaus, während er von damals erzählt. Hier lehrt er heute als Medizinprofessor. Hier ist er im Jahr 2003 als erster Arzt in der Stadt mit SARS-Patienten konfrontiert. Der Flur 8A ist bis heute in Hongkong berüchtigt. Der Ort des ersten Ausbruchs. Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, was los ist. Die Patienten und mehrere Kollegen haben schwere Lungenentzündungen. Nelson Lee setzt eine Gesichtsmaske auf, macht sich an die Arbeit, kämpft gegen einen unbekannten Feind. "Wir versuchten, die Infektion einzudämmen. Doch das Erschreckende war, dass binnen weniger Tage die Fälle immer mehr wurden. Wir waren Zeugen eines super-spreading event, einer Pandemie. Den Patienten ging es immer schlechter. Manche mussten künstlich beatmet werden. Vor allem während der ersten Woche war es ein Gefühl von Katastrophe." Das SARS-Virus hatte Hongkong schon einige Zeit früher erreicht. Das ist heute alles rekonstruiert. Die Schlüsselfigur ist ein infizierter Arzt aus der südchinesischen Provinz Guangdong. Dort treten schon seit November ungewöhnliche Fälle von Lungenentzündung auf. Chinas Behörden vertuschen die Infektionen aber, verhindern damit eine frühzeitige Eindämmung. Der Arzt mietet sich am 21. Februar im Hongkonger Hotel Metropole ein. Dort infiziert er mehrere Gäste und Besucher. Diese tragen das Virus weiter in die Stadt hinein, etwa ins Prince of Wales-Krankenhaus, und in die ganze Welt. Das Drehkreuz Hongkong ist der perfekte globale Infektionsverteiler. Die Angst hat sich tief eingegraben Angst erfasst die Stadt. In der Wohnanlage Amoy Gardens infizieren sich mehr als 300 Menschen, eventuell über das Abwassersystem. Die Hongkonger tragen Gesichtsmasken, waschen sich oft die Hände, gehen nicht mehr in Restaurants, fahren keine U-Bahn, Kinos sind leer. Die Wirtschaft verzeichnet Einbrüche. Die Immobilienpreise sacken ab. Der Schweizer Finanzjournalist Ernst Herb ist seit zwei Monaten in Hongkong, als die SARS-Krise beginnt. "Man konnte niemanden mehr treffen. Das war eine sehr einsame Zeit für mich. Selbst übers Telefon. Man hat nur jemanden angerufen, wollte etwas wissen. Überhaupt keine Verbindlichkeit. Die hatten Angst schon gehabt, man steckt sich übers Telefon an. Es war eine richtige Panik in der Stadt." Im April wird ein bis dahin unbekanntes Coronavirus als Ursache für SARS identifiziert. Im Laufe des Frühjahrs ebbt die Pandemie ab. Im Sommer gilt sie als nahezu überwunden. Die Bilanz zwischen März und Juli: weltweit mehr als 8000 Infizierte in 30 Ländern, 744 Todesfälle, davon 350 in Festlandchina, knapp 300 in Hongkong und über 40 in Kanada. Einige der Überlebenden leiden noch heute unter einer Knochendegeneration - eine Folge der damals verabreichten Medikamente. In Hongkong normalisierte sich die Lage schnell wieder. Der Irakkrieg und der Sturz Saddam Husseins verdrängten SARS damals aus den Medien. Doch die Angst hat sich tief eingegraben ins Gedächtnis. Das zeigt sich auch jetzt in der Reaktion auf MERS: Die Hongkonger Regierung hat als erste eine Reisewarnung für Südkorea ausgegeben - mit Alarmstufe Rot. Auch Chinas Behörden warnen vor deutlich gestiegenen Risiken durch MERS. Sie haben aus der Krise 2003 gelernt. Sie vertuschen nicht mehr, sondern tun das Notwendige. In Südchina ist ein koreanischer MERS-Patient in Behandlung. 75 Menschen, die Kontakt zu ihm hatten, seien in Quarantäne, heißt es.
Von Markus Rimmele
Südkorea ergreift drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Atemwegserkrankung MERS. Im nahe gelegenen China weckt das Erinnerungen an die SARS-Krise vor zwölf Jahren. Die Angst vor einer erneuten Epidemie ist deshalb groß. Die Stadt Hongkong stand damals im Zentrum - sie wurde zum globalen Infektionsverteiler.
"2015-06-11T05:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:31.541000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mers-coronavirus-erinnerungen-an-sars-epidemie-100.html
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Trump verspricht Tausende neue Jobs
Donald Trump nach einer Rede in Washington DC im Juni 2016 (AFP / Molly Riley) "Im Ergebnis sind wir abhängiger vom Ausland als jemals zuvor. Es ist an der Zeit, wieder unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erklären." Allerdings muss der künftige Präsidentschaftskandidat der Republikaner ganz schnell zu Beginn seiner Rede einräumen, dass er als erfolgreicher Geschäftsmann bisher von der Entwicklung profitiert hatte: "Die Globalisierung hat die finanzielle Elite, die der Politik Geld spendet, sehr, sehr reich gemacht. Ich muss gestehen, ich war einer von denen. Aber Millionen Arbeitern blieb nichts als Armut und Schmerzen." Der Politiker Trump – nicht der Geschäftsmann – hält seine Rede zur Wirtschaftspolitik, als richte er sich an diese Millionen Arbeiter, an die Verlierer der Globalisierung. Der 70-Jährige steht vor einer Mauer aus Recycling-Müll in einer Fabrikhalle im US-Bundesstaat Pennsylvania. Er verspricht einen Kurswechsel und Tausende neue Jobs: "Amerikanischer Stahl und Aluminium werden wieder Teil des Rückgrats unserer Wirtschaft. Das allein schafft unheimlich viele neue Jobs. Gut bezahlte Jobs. Nicht das, was wir heute haben - keine schlechten Jobs." Auch die Mittelschicht ist zutiefst verunsichert Tatsächlich sind in den vergangenen 20 Jahren Millionen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe der Vereinigten Staaten verloren gegangen. Zudem warnen Organisationen wie der Internationale Währungsfonds vor der großen Zahl armer Menschen in den USA. Armut bremse die wirtschaftliche Entwicklung, so IWF-Chefin Lagarde vergangene Woche in Washington: "Die jüngsten Zahlen zeigen, dass beinahe 15 Prozent der amerikanischen Bevölkerung - 46,7 Millionen Menschen - in Armut leben." Das alles trägt zu einem Gefühl von großer Unsicherheit in der amerikanischen Mittelschicht bei. Vor allem auch bei denen, die noch einen Job haben. Und Trump bedient diese Stimmung: Der Republikaner wirft seiner künftigen Kontrahentin Clinton vor, als Politikerin im eigenen Interesse, aber nie im Interesse der US-Wirtschaft gehandelt zu haben: "Als Außenministerin blieb Hillary Clinton stumm, als China seine Währung manipulierte, als China eine weitere Billion zu unserem Handelsdefizit addierte und Patente im Wert von einigen hundert Milliarden US-Dollar klaute." Trump lobt an einer Stelle sogar den Protektionismus der Gründungsväter der USA. Er verspricht, das nordamerikanische Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada neu verhandeln zu wollen: "Und wenn sie den Neuverhandlungen nicht zustimmen, was passieren kann, dann werde ich nach Artikel 22-05 des Nafta-Abkommens vorschlagen, dass Amerika aus dem Vertrag aussteigen will." Trump richtet sich in seiner Rede an Arbeiter in für ihn wichtigen Bundesstaaten, sogenannten Swing States, wie Ohio und eben Pennsylvania. Wie das Silicon Valley in Kalifornien, Forschung und Wissenschaft oder Investitionen in Bildung helfen können, neue Jobs zu schaffen, war deshalb nicht sein Thema.
Von Torsten Teichmann
In einer Grundsatzrede zur Wirtschaftspolitik hat der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump der Bevölkerung Versprechungen gemacht. Um die Mittelschicht im Land wieder zu stärken, will er notfalls internationale Freihandelsabkommen aufkündigen. Seiner Konkurrentin von den Demokraten, Hillary Clinton, sprach er jegliche Kompetenz in Wirtschaftsfragen ab.
"2016-06-29T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:38:06.892000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-praesidentschaftswahlkampf-trump-verspricht-tausende-100.html
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"Ich musste meinen Sinn für Ironie mäßigen"
In Boyles Welt sind die Menschen meist einsam und isoliert. (dpa/picture alliance/Horst Galuschka) "Ich denke, ein Schriftsteller sollte seine Grenzen ausdehnen und fähig sein, ganz unterschiedliche Dinge zu erkunden. Man erwartet doch von einem Schriftsteller, dass er sich nicht ständig wiederholt. Also wollte ich ausprobieren, aus der Sicht von Frauen ein Buch zu schreiben, das ohne Komik auskommt. Außerdem wollte ich mich im Stil zurücknehmen, ihn gefühlvoll machen. Er sollte nicht so wild und komplex wie mein übliches Schreiben aussehen. Das war schwierig, wirklich schwer, denn ich musste viele meiner spontanen Regungen unterdrücken." Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle hat diesmal tatsächlich einen zumindest für ihn sehr ungewöhnlichen Roman vorgelegt. Es gibt keinen großen Plot, kein dramatisches Showdown, die Katastrophen sind zumindest für Boyle überschaubar und eher alltäglich. Geblieben ist die aus seinem letzten Roman bereits bekannte Szenerie - eine karge, nur mit niedrigem Gestrüpp und Gräser bewachsenen Insel im Pazifik vor der Küste Kaliforniens. San Miguel ohne Bäume nur mit Felsen, Gestrüpp und Gräsern überzogen taugt allein zur Schafzucht. Von ihr versprechen sich die beiden Familien ihren Lebensunterhalt, die auf die Insel ziehen und deren Geschichte T.C. Boyle erzählt. Die erste, die Waters kommen dort 1888 an, verlassen die Insel nach fünf Monaten und kehren dann für einige Zeit wieder zurück. Nachdem die Insel eine Weile unbewohnt geblieben ist, ziehen 1930 die Lesters nach San Miguel und bleiben dort 12 Jahre. "Diese Menschen haben tatsächlich gelebt. Die Waters-Familie aus dem ersten Teil des Buches weilt natürlich nicht mehr unter uns. Ich habe ein Tagebuchfragment von weniger als 50 Seiten benutzt, erfinde also im Prinzip die Figuren. Die zweite Familie, die Lesters hinterließen zwei ziemlich wunderbare Memoiren. Da habe ich also eine umfangreichere Geschichte vorgefunden. Eine der beiden Töchter, mit denen sie auf der Insel wohnten, ist immer noch am Leben und ich habe sie ein paar Mal getroffen. Sie hat ihre eigenen Erinnerungen aufgeschrieben. Als sie die Insel verließ, war sie erst neun Jahre alt. Sie stützte sich also auf das, was ihre Mutter ihr erzählt hat." "Die Situation durch die Augen der Figuren anschauen" Der Schriftsteller konnte sich also auf mehr oder weniger harte Fakten stützen, als er die Geschichte dieser beiden Familien aufschrieb. Marantha hat zum Beispiel in ihrem Tagebuch den Alltag auf der Insel aufgezeichnet und den hat Boyle übernommen: Was man gegessen hat, welche Arbeiten im Haushalt und auf den Schafweiden anfielen, wie man abends versucht hat, sich die Zeit zu vertreiben, denn es gab weder Zeitungen noch Radio noch Fernsehen, nichts dergleichen. Das gilt auch noch für die Familie Lesters. Das Festland war viel zu weit entfernt für Ausflüge. Man blieb unter sich, völlig isoliert von der Gesellschaft, eine Pionierfamilie wie aus der Zeit des Wilden Westens. Das machte sie zu einem willkommenen Objekt für die Medien. In Zeitungen, im Radio, in Kinowochenschauen wurden sie einer faszinierten Öffentlichkeit vorgeführt. "Die Lester-Familie wurde während der Depression überall in Amerika sehr bekannt. Das Look Magazin, das Life Magazin kamen auf die Insel und fotografierten die Familie. Während der Depression, als die Leute nichts zu essen und keine Jobs hatten, hielten die Lesters es für eine reizvolle Aufgabe, als Selbstversorger auf der Insel zu leben. Da gab es nun die Lesters mit ihren zwei kleinen hübschen blonden Töchtern und das ergab ein ziemlich idealistisches Porträt. Es stimmt: Beide Töchter haben erstmals mit fünf und sieben das Festland betreten. Sie hatten nie zuvor einen Baum gesehen, kein Auto, kein Gebäude. Die Presse folgte ihnen die ganze Zeit. Das war wunderbar: Ihr erstes Eis, das sie aßen, wurde fotografiert. Das stimmt also alles und ich habe es den Memoiren der Lesters entnommen. So wie bei der ersten Geschichte besteht meine Aufgabe darin, diese Geschichte zu dramatisieren. Wie fühlt man sich auf der Insel? Was sagt man zu seinem Ehemann, wenn er einen aus dem Leben herausreißt und auf diese abgelegene Insel bringt? Das genau macht das Vergnügen des Schreibens aus, die Situation durch die Augen der Figuren anzuschauen. Man bekommt den Rahmen der Geschichte. Indem man solche historischen Erzählungen aufgreift und sie dramatisiert, leuchtet man sie gewissermaßen aus und versucht sich vorzustellen, wie sie sich gefühlt haben." T.C. Boyles Roman erinnert an ein Bühnenstück mit kleiner Besetzung, das vor der Naturkulisse der Insel spielt. Wir sehen das Ehepaar Waters, ihre 15-jährige Tochter Edith, den Angestellten Adolph, das Hausmädchen Ida und den 15-jährigen Knaben Jimmie. Das größte Ereignis im Leben dieser kleinen Schar ist die Ankunft der Schafscherer. Die Isolation ist bewusst von den beiden Familienvätern gewählt, von dem Bürgerkriegsveteran Will und Herbie, dem Erste-Weltkrieg-Offizier, beide von ihren Kriegserlebnissen körperlich und psychisch geschädigt: "Beide Männer zogen auf die Insel, sowohl um wieder zu genesen, als auch, um die Natur zu beherrschen und von ihr zu leben und um sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Sie wollten keine Handelsvertreter sein oder für irgendjemand anderen arbeiten. Sie wollten unabhängig sein. Es gibt in der amerikanischen Seele diesen antiautoritären Zug. In der amerikanischen Kultur ist diese Art von Grenzlandeinfachheit und die Sehnsucht danach ziemlich wichtig: Komm mir bloß nicht zu nahe, Vorschriften akzeptiere ich nicht. Ich suche mir meinen eigenen Weg. Je kleiner die Welt wird, desto weniger ist es möglich, irgendetwas dergleichen zu unternehmen." "Aus dem Blickwinkel der Frauen geschrieben" Das Verhalten dieser verstörten Männer sehen wir Leser allerdings aus dem Blickwinkel der Frauen. Marantha, obwohl schwindsüchtig, versucht geradezu heroisch, ihre Krankheit zu ignorieren. Und doch muss sie ihrem Mädchen Ida vieles überlassen. Dass ihr Mann sie mit der Bediensteten dann betrügt, kränkt sie besonders schwer. Das unwirtliche, kalt-nasse Klima verschlimmert ihren Zustand so dramatisch, dass sie todkrank aufs Festland zurückkehren muss und kurz danach stirbt. Ihre Tochter Edith, die sich gerade überaus glücklich auf einer Schule für Musik und Schauspiel eingeschrieben hat, wird von ihrem Stiefvater gezwungen, die Ausbildung abzubrechen und wieder auf die Insel zurückzukehren. Sie ist jetzt für den Haushalt zuständig, sucht allerdings verzweifelt nach einer Möglichkeit zu entkommen. Das gelingt ihr schließlich auch. Die zweite Familie Lester hat weniger Konflikte auszustehen. Ziemlich erfolgreich betreiben sie die Schafzucht. Doch Herbie leidet heftig unter den Folgen seiner Kriegsverletzung, ist psychisch instabil, mal ein vergnügter Vater, voller Witz und Charme, denn wieder tief betrübt. "Wir kehren doch alle zu unseren Müttern zurück, nicht wahr? Meine Mutter war, wie ich vermute eine starke Frau, die die Familie beherrschte, als ich aufwuchs. Ich habe also diesmal versucht, etwas zu tun, was ich noch nie zuvor gemacht habe. Ich habe aus dem Blickwinkel der Frauen geschrieben. Aber dies ist ein sehr postmoderner Roman, der viele spielerische Aspekte und verschiedene Erzählebenen besitzt. Es ist meine erste längere Erzählung, in der ich meinen Sinn für Ironie mäßigen musste. Es gibt in ihm keine Ironie. Ich wollte die Geschichte so erzählen, wie sie sich ereignet hat. Mich hat fasziniert, dass diese Frauen wegen ihrer Männer leiden. Anfangs wollte ich den Roman aus zwei Perspektiven schreiben, und zwar aus der Sicht des Ehemanns und der Ehefrau. Aber als ich dann anfing zu schreiben, begriff ich, dass es für mich viel interessanter sein würde und auch für die Qualität des Buches, ausschließlich aus Sicht der drei beteiligten Frauen zu erzählen." Ein T.C. Boyle, wie er leibt und lebt Es sind einfühlsame Bilder, die T.C. Boyle ausmalt. Man spürt geradezu, wie sich die Frauen gegen die widrigen klimatischen Verhältnisse wehren, gegen Stürme, Regen, Schlamm und Staub, Hitze und Kälte ankämpfen. Sie haben einen Haushalt zu bewältigen, in dem es immer wieder an vielen fehlt, wie dem großstädtischen Komfort von Badezimmer und Toilette im Haus. Es mangelt an frischen Lebensmitteln, an Obst und Gemüse zum Beispiel. Die Frauen spenden den Männern Trost, erziehen und unterrichten die Kinder, halten die Angestellten bei Laune, kümmern sich um die Schafscherer. Es ist ein hartes Leben, entbehrungsreich und mühselig. Und der Lohn ist Unglück. "Was uns an einem Roman oder einem Film so fasziniert, insbesondere wenn schreckliche Dinge passieren und natürlich müssen schreckliche Dinge passieren, wo wäre sonst das Drama, ist doch die Vorzustellung, wie das wäre, wenn man in der selben Situation steckte. Das hat Voodoo-Charme. Wir hoffen, dass es uns nicht zustößt. Wenn Sie 'San Miguel' lesen und das Leiden von Marantha miterleben, Sie sitzen dabei möglicherweise am Feuer mit dem Buch in der Hand und ein bisschen Brahms spielt im Hintergrund im Radio und neben Ihnen liegt die Katze, dann denken Sie: Mein Gott, was für entsetzliche Dinge erlebt nur diese Frau. Ist das nicht was Schönes? Wenn Sie ein Shakespeare-Drama sehen und Sie gehen da raus, dann sind nicht Sie derjenige, der da mit dem Schwert umgebracht wurde." Das ist wieder ein T.C. Boyle, wie er leibt und lebt. Auch wenn seine Katastrophen diesmal eher auf häuslicher Ebene stattfinden, ohne sie wird er nie auskommen. Dazu hat er eine viel zu blühende Fantasie. Sie möge ihm erhalten bleiben. Jedenfalls hat er uns diesmal drei beeindruckende Frauengestalten geschaffen. T. Coraghessan Boyle: San Miguel, Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk von Gunsteren, Hanser Verlag München 2013, 444 Seiten, 22,90 Euro.
Von Johannes Kaiser
In seinem Roman "San Miguel" beschreibt T.C. Boyle das Leben zweier Familien Ende des 19. Jahrhunderts und in den 1930er-Jahren auf einer einsamen Insel vor der Küste Kaliforniens und weicht damit von seinem üblichen Stil ab. Boyle wollte ein Buch aus der Sicht von Frauen schreiben, "das ohne Komik auskommt".
"2014-04-30T16:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:38:26.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/roman-von-t-c-boyle-ich-musste-meinen-sinn-fuer-ironie-100.html
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Lage in Saudi-Arabien für Journalisten katastrophal
Der UNO-Berichterstatterin Agnes Callamard zufolge gibt es glaubwürdige Hinweise auf eine mögliche persönliche Verantwortung von Kronprinz Mohammed bin Salman für den Mordfall Khashoggi (MARVIN RECINOS / AFP) Bettina Köster: Der Fall Khashoggi begleitet uns ja schon seit Herbst vergangenen Jahres. Sie erinnern sich sicher, das war der saudische Journalist, der von einem saudischen Spezialkommando in Istanbul ermordet wurde. Gestern nun hat die UNO-Menschenrechtsexpertin Callamard einen 101 Seiten langen Bericht vorgelegt, in dem sie eine mögliche persönliche Verantwortung des saudischen Prinzen bin Salman vermutet und fordert weitere Untersuchungen. Gleichzeitig läuft in Saudi-Arabien seit Anfang des Jahres ein Prozess gegen elf Verdächtige im Fall Khashoggi. Und die Regierung in Riad wies den Bericht der UNO-Berichterstatterin als unglaubwürdig zurück. Wir haben also eine Pattsituation. Die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen beschäftigt sich natürlich auch mit dem Mord an dem Journalisten Khashoggi und mit der mangelnden Pressefreiheit in Saudi-Arabien. Und mit dem Pressesprecher Christoph Dreyer bin ich jetzt in Berlin verbunden. Herr Dreyer, was passiert denn jetzt mit dieser Empfehlung der UNO-Menschenrechtsexpertin Callamard, Untersuchungen gegen den Kronprinzen einzuleiten? Christoph Dreyer: Ja, guten Tag. Zunächst mal liegt das natürlich an den Staaten, an den UNO-Mitgliedsstaaten, was sie mit diesen Empfehlungen machen. Die Sonderberichterstatterin hat ja an den UNO-Menschenrechtsrat berichtet, also werden dort vielleicht auch Beschlüsse gefasst. Aber letztlich liegt es an den Staaten auch Konsequenzen daraus zu ziehen und sich zu überlegen, wie sie politisch damit umgehen. "Die politische Verantwortung liegt klar bei Saudi-Arabien" Köster: Gibt es denn tatsächlich die Möglichkeit, so konkret auch gegen den Kronprinzen vorzugehen? Dreyer: Also im Moment sicher nicht. Also die Schlussfolgerung ist ja zunächst mal, dass sie die Verantwortung, die politische Verantwortung, klar bei Saudi-Arabien sieht, und es auch für gerechtfertigt hält, da jetzt nach der individuellen Verantwortung zu fragen. Allerdings deutet sie auch an, dass man das vielleicht gar nicht so letztgültig klären kann, wer jetzt da den definitiven Befehl gegeben hat, sondern dass es auch um die politische Verantwortung geht. Und die liegt klar bei Saudi-Arabien. Daraus, denke ich, muss man auf jeden Fall Konsequenzen ziehen. Wie die aussehen können, das ist allerdings noch ziemlich unklar. Köster: Weil die weisen ja alles zurück, wie ich eben auch gesagt habe. Dreyer: Ja, gut. Dass Saudi-Arabien da einen anderen Standpunkt vertritt, ist nicht so erstaunlich. Saudi-Arabien sagt natürlich, ja, wir haben ja Verdächtige, wir führen einen Prozess gegen die. Allerdings ist das eigentlich eher Teil des Problems als der Lösung, denn das ist vollkommen intransparent. Man weiß im Grunde nichts über den Prozess. Man weiß zum Teil nicht einmal, wer die Leute sind. Denen droht die Todesstrafe Das ist aus menschenrechtlicher Sicht jetzt kein so richtiger Gewinn, wenn da unter völlig obskuren Umständen Leute zum Tode verurteilt werden. Damit würde eigentlich die Frage nach der politischen Verantwortung eher unter den Teppich gekehrt. "Die Lage in Saudi-Arabien ist katastrophal" Köster: Callamard geht es ja nicht nur um den besonders viel Aufsehen erregenden Fall Khashoggi, sondern auch generell um die Situation, die prekäre Situation, für kritische Journalisten in Saudi-Arabien. Wird der Bericht Auswirkungen auf den Umgang mit kritischen Journalisten haben? Wie ist Ihre Einschätzung? Dreyer: Ob der Bericht in Saudi-Arabien Auswirkungen hat – also, ich hoffe nicht, dass er zu neuen Repressalien führt. Aber die Lage in Saudi-Arabien ist natürlich katastrophal. Es sind dort 30 Journalistinnen und Journalisten und Bloggerinnen und Blogger im Gefängnis zur Zeit, nach unserer Zählung. Wegen ihrer journalistischen Arbeit, zum Teil unter sehr, sehr schlechten Bedingungen. Da ist von Folter die Rede; in einem Fall glauben wir, dass derjenige wahrscheinlich sogar schon tot ist. Einem droht die Todesstrafe. Also die Bedingungen sind wirklich katastrophal. Und wenn dieser Bericht etwas erreichen kann, dann hoffentlich dass man da hinschaut und das zum Beispiel nächste Woche beim G20-Gipfel Saudi-Arabien vielleicht wieder ähnlich isoliert dasteht wie beim letzten G20-Gipfel im vergangenen Herbst. Ich glaube, über längere Zeit produziert so etwas schon eine Wirkung und merkt eine Regierung dann, dass sie da etwas tun muss. Köster: Das heißt, der Bericht kam in gewisser Weise zur rechten Zeit? Dreyer: Ja, er ist bestimmt nicht verkehrt. Ja, auch deshalb, weil natürlich die ganz große öffentliche Aufregung um den Mord an Jamal Khashoggi schon wieder abklingt. Und es ist wichtig, das im Gespräch zu halten, denn sonst geht man im Laufe der Zeit dann doch irgendwie zur Tagesordnung über, diskutiert zwar noch hier und dort, in Deutschland vielleicht, in Großbritannien, darüber, ob man jetzt eigentlich dann doch wieder Waffen ganz normal exportieren sollte nach Saudi-Arabien. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass sich das dann irgendwann abschleift und das Ganze letztlich doch in Vergessenheit gerät. Und das nicht zu tun, ist schon mal ein sehr wichtiger Schritt, und einfach zu signalisieren: Nein, dieses Thema ist auf dem Tisch – tut was! "Ein UNO-Sonderbeauftragter wäre ein Versuch, die vielen hehren Beschlüsse in die Praxis umzusetzen" Köster: Sie fordern ja als Journalistenorganisation einen Sonderbeauftragten bei der UNO. Was soll der leisten? Dreyer: Ja, das ist eine Forderung, die wir schon seit einigen Jahren inzwischen erheben und eine diplomatische Dauerkampagne betreiben und auch Unterstützung sammeln so nach und nach. Ein Sonderbeauftragter gegen Straflosigkeit für Gewalt an Journalisten hätte den Vorzug zum Beispiel gegenüber einen Sonderberichterstatterin, wie wir sie jetzt gerade hier in Aktion sehen, dass er schneller, permanenter, also schneller agieren könnte, permanent, nach Möglichkeit sehr nah am Machtzentrum der Vereinten Nationen beim Generalsekretär eingebunden wäre – das ist zumindest unsere Forderung – und dort sehr schnell Alarm schlagen könnte, zum Beispiel dann, wenn Journalistinnen und Journalisten akut bedroht sind. Nach Möglichkeit nicht erst dann, wenn sie schon ermordet sind. Und dass er zum Beispiel auch selbstständig ermitteln könnte, nicht erst, wie das jetzt bei diesen Sonderbericherstattern meist der Fall ist, warten muss, bis ihn eine Regierung einlädt und das dauert dann Monate und dann ist es im Grunde schon zu spät. Also das wäre ein Versuch, die vielen hehren Beschlüsse, die es da gibt, mehr in die Praxis umzusetzen und mit etwas politischem Zug zu verleihen Köster: Danke für diese Hintergrundinformationen. Christoph Dreyer war das, Pressesprecher der internationalen Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen in Berlin. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Dreyer im Gespräch mit Bettina Köster
Den Mord an Jamal Khashoggi soll laut UNO-Bericht der saudische Kronprinz verantwortet haben. Mit einem Sonderbeauftragten gegen Straflosigkeit gegen Gewalt an Journalisten hätte die UNO schneller Ergebnisse liefern können, sagte Christoph Dreyer, Pressesprecher von Reporter ohne Grenzen, im Dlf.
"2019-06-20T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:58:15.880000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-fall-khashoggi-lage-in-saudi-arabien-fuer-journalisten-100.html
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Staatsanwaltschaft ermittelt wegen sexueller Übergriffe
Pferd und Reiter beim Springreiten (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen) Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat Ermittlungen[*] gegen einen 20 Jahre alten Nachwuchs-Springreiter eingeleitet. Der Mann stamme aus dem Landkreis Neuwied in Rheinland-Pfalz, teilte die Behörde mit. Gegen ihn bestehe der vorerst pauschal erhobene Verdacht, dass er gegen junge Frauen sexuell übergriffig geworden sei. Auf Reitturnieren im In- und Ausland soll er allein oder mit weiteren Beteiligten die Frauen angegangen haben. Vorfälle bei der EM Grund für die Ermittlungen sind die Angaben eines Anzeigenerstatters, der sich wiederum auf Aussagen eines anderen Zeugen beruft. Nun soll die Polizei diesen Mann vernehmen. Der Spiegel hatte bereits darüber berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz Hinweisen nachgehe. Ein junges Mädchen soll bei den Europameisterschaften im slowakischen Samorin Opfer einer Vergewaltigung oder sexueller Nötigung geworden sein. Zudem sollen bei dieser EM zwei Nachwuchsreiter im Alkoholrausch ein Hotelbett zerlegt haben. Ob es sich bei den Ermittlungen um diesen Fall handelt, blieb zunächst offen. Einzelheiten noch unklar Es gebe nur ein Verfahren, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Ob und wo dieser Beschuldigte gegebenenfalls Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen haben könne, sei allerdings noch nicht geklärt und müsse im Laufe des Verfahrens erst noch ermittelt werden. Der Deutschen Reiterlichen Vereinigung liegt nach eigenen Angaben ein weiterer Fall aus dem Umfeld junger Springreiter vor, "in dem es um Vorwürfe aus dem Bereich sexualisierter Gewalt ging". Die Disziplinarkommission sprach eine 18-monatige Wettkampfsperre gegen den betroffenen Reiter aus. Die Entscheidung sei jedoch noch nicht rechtskräftig. [*] Anmerkung der Redaktion vom 21.9.2018: Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat das Ermittlungsverfahren eingestellt und teilt in einer Presseerklärung mit: "Nach den geführten Ermittlungen sind ... keine Handlungen des Beschuldigten erkennbar, die auf ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten hindeuten. Das Verfahren war deshalb mangels eines gegen den Beschuldigten gerichteten hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen."
Von Sebastian Trepper
Der deutsche Reitsport ist in Aufruhr. Das Magazin "Der Spiegel" berichtet über sexuelle Übergriffe und Alkoholexzesse. Dabei geht es um eine Gruppe hochkarätiger Nachwuchs-Springreiter. Nun wurde bekannt, dass gegen einen von ihnen auch offiziell ermittelt wird.
"2018-09-03T22:57:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:14.887000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nachwuchs-reiter-staatsanwaltschaft-ermittelt-wegen-100.html
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Lissabon - ein modernes Babylon
Eine Illusion: Der Traum von einem besseren Leben in Lissabon. (picture alliance / dpa / Jan Woitas) Die Geschichte, die Luiz Ruffato in seinem neuen Roman erzählt, ist in ihren Grundzügen sehr alt, und sie kann an vielen Orten der Erde stattfinden. Bei Ruffato spielt sie in unserer Zeit, sie beginnt in Brasilien und endet vorläufig in Portugal. Der Held des Buchs und Ich-Erzähler Sérgio, Jahrgang 1969, ist unzufrieden mit seinem Leben in einer brasilianischen Kleinstadt. Die Leute haben kaum Geld, leben auf Pump, betrügen sich gegenseitig. Man wohnt auf engstem Raum nebeneinander, streitet ständig. Zu den harmloseren Vorfällen gehört es, dass eine Nachbarin die Hühner der anderen mit heißem Wasser begießt. Sérgio schwängert seine Freundin und muss heiraten. Die Hochzeit ist ein lausiges Ereignis: Lauter meckerndes Gesindel, das die Braut schäbig und den Bräutigam einen Idioten nennt. Die Ehe läuft nicht gut; Sérgios Frau wird gewalttätig, verrückt; sie muss in die Psychiatrie. Ihre Verwandtschaft übernimmt das Sorgerecht für den Säugling Pierre. Sergio selbst verliert seine Arbeit – es ist Zeit für einen Neuanfang. Ein Bekannter rät ihm, sein Glück in Portugal zu versuchen. Dort müsse er nur ein, zwei Jahre hart arbeiten, um zurück in der Heimat sorgenfrei mit seiner Familie leben zu können. Sérgios Reiseplan spricht sich herum. Neidische Nachbarn und Verwandte streiten, wer in der Zwischenzeit sein Motorrad fahren darf. Bei einem rauschenden Abschiedsfest wird er als mutiger Mann gefeiert. Mit weichen Knien besteigt er das erste Flugzeug seines Lebens, das ihn nach Lissabon bringen wird. Neuanfang in Portugal wird anders als gedacht Es ist vorhersehbar, dass in Portugal vieles ganz anderes abläuft, als erhofft – aber das Buch läuft keinesfalls mechanisch ab. Man liest diesen nuancenreich angelegten Roman voll Spannung; das vorbehaltlose Interesse von Ruffato an seinem sympathischen Helden überträgt sich auf den Leser. Luiz Ruffato, der 1961 geboren wurde, wird in Brasilien hoch geachtet; und seine Bücher verdienen auch hierzulande größte Aufmerksamkeit. Denn Ruffato greift die Ästhetik der klassischen Moderne auf und schreibt sie radikal fort. Dabei hat er eine eigenwillige, springlebendige, eine wilde und virtuose Sprache entwickelt. Der fünfteilige Romanzyklus "Vorläufige Hölle", von dem bereits zwei Bände übersetzt wurden, schildert das Leben in Brasilien aus dem Blickwinkel von Landarbeitern, Proletariern und Eingewanderten: Nicht paternalistisch, sondern solidarisch; dabei unpathetisch und ohne jede Sozialromantik zeichnet der Autor präzise, düster leuchtende Bilder, die unter die Haut gehen. Der "Höllen"-Zyklus ist polyphon angelegt, die Sprecher wechseln oft mitten im Satz. Eine dissonante, produktiv verstörende Partitur, die dem Leser einiges abverlangt. Wer einen einfachen Zugang zu Ruffato finden und dabei doch einen Eindruck von der Schönheit und Komplexität des Werks bekommen will, findet ihn jenseits vom Höllen-Zyklus in dem neuen Roman über Migranten in Lissabon. Lissabon als modernes Babylon "Ich war in Lissabon und dachte an dich": In diesem neuen Buch von Ruffato ist die portugiesische Hauptstadt ein modernes Babylon, in dem sich alle Sprachen und Nationalitäten mischen. Man sieht hier ganz unterschiedliche, schillernde Existenzen: Ein durchtriebener ukrainischer Kellner umgarnt deutsche Touristen mit einem Englisch, das aufhorchen lässt. Portugiesische Dichter lungern in den Cafés herum und hoffen darauf, eines Tages als Genies entdeckt zu werden. In Lissabon ernährt eine Angolanerin die Familie als Prostituierte, nachdem ihr Mann in Angola von einer Mine verkrüppelt wurde. Manche der hier aus aller Welt Gestrandeten verlieren den Kontakt zu ihren Angehörigen. Andere versuchen verzweifelt, die Verbindung zu halten, sie klammern sich in einer stickigen Telefonzelle an den Hörer – und als eine Frau während ihres Gespräch in Ohnmacht fällt, ahnen die Umstehenden, dass das nicht nur an der schlechten Luft liegt. Ruffatos Held Sérgio begegnet lauter entwurzelten Leuten, die aus Leibeskräften schuften und doch scheitern. Die Idee, mit harter Arbeit Geld zu verdienen, erweist sich bei den meisten als Illusion, als Naivität. Sérgio jobbt in einem Restaurant, er verliebt sich in die Prostituierte Sheila, die gern Lehrerin oder wenigstens Verkäuferin geworden wäre. Bei dem Versuch, ihr aus einer bedrohlichen Lage herauszuhelfen, verschwinden seine Papiere. Er verliert den Job, wird illegaler Handlanger auf Baustellen; er bleibt in Lissabon hängen. Schonungslose Darstellung der Realität Immer schon verließen Menschen aus Not ihre Heimat, aber unter neoliberalen Bedingungen nehmen die globalen Wanderungsbewegungen oft absurde, kafkaeske Formen an. Den ökonomischen Imperativen folgend, werden die Leute zu Objekten, die von da nach dort geschoben oder gelockt werden. Ruffatos große Kunst besteht darin, diese Realität schonungslos darzustellen - und gleichzeitig seine Helden als handelnde Subjekte zu zeigen. Er schildert ihre Not und ihre Wendigkeit; ihre Wut, ihren Witz, ihre Wärme. Kurz: Er zeigt die Würde der Verdammten dieser Erde.
Von Sabine Peters
Luiz Ruffatos jüngster Roman "Ich war in Lissabon und dachte an dich" ist in Zeiten von Flucht und Migration aktuell wie nie. Die Geschichte erzählt von Migranten, die aus aller Welt nach Lissabon kommen und dort ihr Glück suchen. Viele der entwurzelten Menschen arbeiten hart, scheitern aber trotzdem - so auch Ruffatos Held Sérgio.
"2016-03-21T16:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:19:44.272000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schriftsteller-luiz-ruffato-lissabon-ein-modernes-babylon-100.html
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Endlager gesucht
Der grelle Lichtkegel eines Polizeihubschraubers sucht den Wald ab, Lagerfeuer spenden Wärme. Junge und alte Menschen sitzen auf Gleisen. Es ist dunkel, bei Temperaturen knapp unter null Grad. Im November 2011 blockierten 4000 Protestierer in einem Waldstück im Wendland die Gleise, über die zwölf Castorbehälter beladen mit radioaktivem Müll das Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben erreichen sollten. 2000 Polizisten standen bereit, um die Blockierer wegzutragen. Erst behutsam, später ruppig:Szenen wie diese haben sich tief eingeprägt ins kollektive Gedächtnis: Seit 1996 gab es elf Castor-Transporte ins Zwischenlager nach Gorleben. Insgesamt waren rund 200.000 Polizisten im Einsatz.Rückblende: Widerstand im Wendland gibt es seit mittlerweile fast vier Jahrzehnten. Es begann mit den heute wahnwitzig anmutenden Atompläne der niedersächsischen Landeregierung unter Ernst Albrecht: Im Landkreis Lüchow-Dannenberg sollte ein nukleares Entsorgungszentrum entstehen: eine Wiederaufbereitungsanlage, eine Brennelementefabrik, dazu ein Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe, eine passende Verpackungsanlage für Atommüll und – als Lösung für die massiven Entsorgungsprobleme Ende der 70er-Jahre – ein unterirdisches Endlager. Ministerpräsident Albrecht versprach der strukturschwachen, östlichsten Region Niedersachsen 3000 Arbeitsplätze. Doch schon 1978 versammelten sich rund 100.000 Demonstranten in Hannover, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. "Mein lieber Herr Albrecht! Überlegen sie sich gut, ob sie das riskieren wollen! Wenn wir uns mal alle hier so auf unsere Straßen setzen, wenn sie bei uns anrücken – glaubt ihr, dass sie uns wegkriegen? – [Nein]"Die Idee eines nuklearen Entsorgungszentrums wurde aufgegeben, weil sie politisch nicht durchsetzbar war. An den Plänen für ein Zwischen- und Endlager aber hielt man fest: Bautrupps rückten nahe der Gemeinde Gorleben an, es gab erste Tiefbohrungen, Waldstücke wurden gerodet. Heute zieht sich ein sieben Kilometer langes Stollensystem durch den Salzstock Gorleben. In 840 Meter Tiefe ist einer von neun geplanten Bereichen zur Lagerung radioaktiver Abfälle bereits erkundet. Diese Erkundungs-Arbeiten ruhen seit vier Monaten - auf unabsehbare Zeit. Über Tage ragt ein Förderturm in die Höhe. Ein paar Hundert Meter entfernt stehen – streng bewacht – in einer oberirdischen Halle bereits 113 Stahlbehälter mit radioaktivem Müll. Daneben wurde für rund 500 Millionen Euro eine sogenannte Konditionierungsanlage gebaut, in der strahlende Inhalt der Castoren endlagergerecht verpackt werden soll. Doch bis zum heutigen Tag gibt es Zweifel daran, ob sich der Salzstock wirklich als Endlagerstätte eignet. Denn radioaktiver Müll muss für eine Million Jahre sicher eingeschlossen werden. Geologen haben jedoch Gesteinsschichten im Salzstock gefunden, durch die Wasser eindringen könnte. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Castoren durchs Wendland rollten. Es sollen – vorläufig jedenfalls - die Letzten gewesen sein, die ins Zwischenlager Gorleben gebraucht worden sind. Morgen befasst sich das Bundeskabinett mit dem Entwurf für das sogenannte Endlagersuchgesetz, mit dessen Hilfe nach Alternativen zum Salzstock gesucht werden soll. Noch sind die Menschen im Wendland skeptisch, denn noch ist Gorleben nicht aus dem Rennen. Darauf weist Rebecca Harms hin. Die Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament hat den Widerstand von Anfang an mitgeprägt:"Es ist völlig klar, dass für die Lüchow-Dannenberger dieses Gesetz noch nicht der Beginn eines neuen Vertrauens sein kann. Die Enttäuschung darüber, dass Gorleben weiter im Verfahren bleibt, die Enttäuschung darüber ist riesig. Wenn es Vertrauen geben soll, dann ist es noch ein weiter Weg dorthin."Immerhin – eine erste Etappe ist geschafft. Am 09. April steht der Kompromiss: Nach anderthalb Jahren Verhandlungen - zunächst flüssig, dann stockend - einigen sich Bund, Länder, Union, FDP, SPD und Grüne darauf, dass die Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll von vorne beginnen soll.Gabriel: "Wenn uns jemand vor 20 Jahren gesagt hätte, da stimmt auch die CDU zu, das hätten wir ins Reich der Fantasie und der Illusionen verwiesen."Altmaier: "Es bietet die Chance, dass wir das letzte große strittige Thema im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie in einem parteiübergreifenden Konsens lösen."Trittin: "Wir machen mit diesem Gesetz den Ausstieg aus der Atomenergie vollständig, und wir sorgen auch dafür, dass die falsche Festlegung, die nicht nach sachlichen Kriterien erfolgt ist, in Gorleben überwunden wird."Sigmar Gabriel, Jürgen Trittin und Peter Altmaier, zwei ehemalige und der aktuelle Bundesumweltmister, sind äußerst zufrieden. Bis 2031 soll ein Standort gefunden sein. Gesucht wird bundesweit und ergebnisoffen. Jede Region, jede Gesteinsart soll mit einbezogen werden. Ausnahmslos, so der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann: Kretschmann: "Der Kompromiss war, dass Gorleben im Suchverfahren bleibt, aber dass entschieden darauf geachtet werden muss, dass Gorleben kein Referenzstandort ist, sondern dass wir eine weiße Landkarte haben, dass wir den Prozess so angehen, als ob es Gorleben überhaupt nicht gäbe."Daran wäre der Kompromiss am Ende fast noch gescheitert. Denn SPD und Grüne in Niedersachsen hatten im Wahlkampf versprochen, sich gegen Gorleben als Teil der Suche auszusprechen. Doch Union und FDP hätten das nicht mitgemacht. Der Preis für die Zustimmung von Rot-Grün in Hannover ist nun ein unvollständiges Gesetz. Wenn es, wie geplant vor der Sommerpause im Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird, werden wesentliche Details fehlen. Eine Bund-Länder-Kommission soll diese Detailfragen erst in den kommenden zwei Jahren ausarbeiten. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, SPD:Weil: "Aufgabe dieser Kommission sind die Beratung und Klärung grundlegender Fragen, die mit der Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe verbunden ist."Wie wird gelagert: Soll der Müll jederzeit wieder aus dem Endlager herausgeholt werden können oder nicht? Wo wird gelagert: in Salz, Granit, Ton oder gar über der Erde? Welche sicherheitstechnischen Anforderungen müssen beachtet werden? Wie viele Standorte werden überirdisch verglichen, wie viele unterirdisch? Und welche? All diese Fragen soll die Kommission klären. Besetzt werden soll sie mit 24 Persönlichkeiten, so Bundesumweltminister Peter Altmaier, CDU:"Zwölf davon Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Vertreter von Landesregierungen. Im übrigen Wissenschaftler, Umweltverbände, Arbeitgeber, Gewerkschaften und auch die Kirchen. Wir werden in dieser Kommission ein breites Mandat haben."Allerdings kein Verbindliches. Die endgültige Entscheidung trifft das Parlament. Der ehemalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin ist zuversichtlich, dass die Abgeordneten in zwei Jahren die Vorschläge des Gremiums übernehmen werden. Zuversichtlich, obwohl er in seiner Amtszeit auch schon einmal von einer Kommission Kriterien für eine Endlagersuche hatte erarbeiten lassen; Vorschläge, die nach dem Regierungswechsel 2005 allerdings wieder in der Schublade verschwanden: Trittin: "Wir holen mit diesem Gesetz die Endlagersuche aus den Hinterzimmern und den kleinen Verabredungen raus, die beispielsweise die Geschichte Gorlebens seit 35 Jahren geprägt hat. Alle wesentlichen Entscheidungen dieses Gesetzes, die werden künftig auf der offenen Bühne, nämlich der Bühne des Deutschen Bundestages und des Bundesrates durch den gewählten Souverän dieses Landes entschieden werden."Mit diesem Verfahren werde der zweite Schritt vor dem Ersten gemacht, kritisieren dagegen Umweltverbände. Das Gesetz dürfe erst verabschiedet werden, wenn die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hat, lautet die Forderung. Dass der Souverän die Vorschläge, die in der Kommission mit zwei Drittel Mehrheit beschlossen werden sollen, ignorieren könnte, glaubt wie Trittin auch Umweltminister Peter Altmaier nicht:"Es ist so, dass diese Enquete-Kommission durch ihre politische Autorität wirken wird. Und wenn sie zu guten Ergebnissen kommt, nach guter Beratung, dann wird es ganz schwer sein, davon abzuweichen."Es soll ein transparentes Verfahren sein. Die Kommission wird öffentlich tagen. Und auch die Klagemöglichkeiten der Bevölkerung sollen nicht eingeschränkt werden. Man werde, versichert der CDU-Minister, den Wunsch Niedersachsens aufgreifen.Altmaier: "Dafür Sorge zu tragen, dass ab Beginn der untertägigen Erkundung, die verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten sichergestellt sind."Unklar ist, wie die neue Endlagersuche finanziert werden wird. Laut Atomgesetz müssen die Betreiber der Atomkraftwerke die Kosten für den notwendigen Aufwand tragen - also RWE, Eon, Vattenfall und EnBW. Darauf verlässt sich die Politik. Doch das deutsche Atomforum, der Lobbyverband der Branche, weist darauf hin, dass schon 1,6 Milliarden Euro für Gorleben investiert wurden, und erklärt:"Für die Übernahme zusätzlicher Kosten durch die Betreiber infolge alternativer Standorterkundungen vor einer abschließenden Bewertung zur Eignung Gorlebens gibt es nach unserer rechtlichen Auffassung keine Grundlage."Es geht möglicherweise um weitere zwei Milliarden Euro. Am Mittwoch will der Bundesumweltminister mit den Betreibern darüber verhandeln.Zwei Jahre ist es her, dass Bewegung in die Endlagersuche kam. Kurz vor seiner Wahl zum ersten grünen Ministerpräsidenten erklärte sich Winfried Kretschmann bereit, auch in Baden-Württemberg nach einem Endlager für deutschen Atommüll suchen zu lassen. Für ihn eine logische Folge aus der Auseinandersetzung um Stuttgart 21:"Wenn schon ein unterirdischer Bahnhof solche Konflikte hervorruft, war mit klar, ein atomares Endlager zu suchen, zu finden und irgendwann auch zu bauen ist nicht möglich ohne einen nationalen Konsens."Hintergrund für Kretschmanns Mahnung ist: Der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen hatte einige Monate zuvor den von Rot-Grün im Jahr 2000 verhängten Erkundungsstopp für Gorleben wieder aufgehoben. Was zu neuen Protesten im Wendland führte. Nun nimmt der CDU-Politiker den Ball des Grünen auf und organisiert gemeinsam mit Kretschmann den Neustart der Endlagersuche. Am 11. November 2011 lädt Röttgen Vertreter aller Bundesländer zu einem Gespräch ins Bundesumweltministerium ein. Und alle kommen:"Allein diese Tatsache ist etwas besonders, weil es zur Frage der nationalen Verantwortung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle seit 35 Jahren ein solches Bund-Länder-Gespräch nicht gegeben hat."Auch das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bund und Länder setzen eine Arbeitsgruppe ein, die ein Gesetz für den Neustart der Endlagersuche ausarbeiten soll. Damals war noch David McAllister Ministerpräsident in Niedersachsen:"Unser gemeinsames Ziel ist, ein Endlagersuchgesetz im Entwurf bis zum Sommer 2012 auf den Weg zu bringen."Zunächst liegen die Verhandlungen im Zeitplan. Die Arbeitsgruppe kommt gut voran. Am 24. April 2012 - inzwischen sind auch die Bundesfraktionen von SPD und Grünen in Gestalt der beiden ehemaligen Umweltmister Gabriel und Trittin an den Gesprächen beteiligt - sieht alles nach einem baldigen Abschluss aus. Vor allem vier Punkte müssen zu diesem Zeitpunkt noch geklärt werden: Wie geht es weiter mit Gorleben, werden die Kriterien für die Suche ins Gesetz geschrieben oder erst später entwickelt, wie viele Standorte sollen unterirdisch erkundet werden und wer organisiert die Suche? Der Konsens ist zu greifen, sagt Röttgen an diesem Tag wörtlich und auch Trittin ist zuversichtlich:"Wir werden einen nächsten Termin machen und bei diesem Termin sehen wie eine Chance für eine Einigung."Doch diesen Termin gibt es zunächst nicht. Im Mai 2012 verliert Norbert Röttgen als Spitzenkandidat der CDU die vorgezogene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und muss den Posten als Bundesumweltminister räumen. Sein Nachfolger Peter Altmaier glaubt an ein Gesetz noch im laufenden Jahr und führt Gespräche mit allen Beteiligten. Im Juni lädt er Gabriel und Trittin sogar in seine Berliner Altbauwohnung ein, um die Verhandlungen voranzutreiben. Doch Gespräche in großer Runde gibt es nicht mehr, stattdessen Streit: SPD und Grüne werfen dem CDU-Minister vor, eine Lösung zu verzögern. Vor allem um die Frage, wer soll für die Suche zuständig sein, gibt es Zwist. Altmaiers Vorgänger Röttgen wollte ein wissenschaftliches Institut dafür schaffen; die Opposition das BfS, das Bundesamt für Strahlenschutz, damit beauftragen. Am Ende wird es nun zwei Behörden geben: Das BfS sucht und erkundet potenzielle Standorte. Und eine neue Regulierungsbehörde überwacht das Ganze.Auch Trittin und Gabriel bläst zeitweilig ein scharfer Wind entgegen. Parteifreunde fühlen sich übergangen. Die SPD hatte auf einem Parteitag beschlossen: Eine neue Suche darf es nur ohne Gorleben geben, was ihr Vorsitzender Gabriel schlicht ignoriert. Die Grünen in Niedersachsen beklagen intransparente Verhandlungen. Stefan Wenzel, damals Chef der grünen Fraktion in Hannover, schreibt in einem Brief an die Parteispitze:"Vor diesem Hintergrund sehen wir mit großer Sorge, dass Bundesvorstand und Bundestagsfraktion (…) nun eine Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses betreiben, ohne dass glaubwürdige und substanzielle Vorschläge zur Beteiligung der Zivilgesellschaft vorliegen oder geplant sind."Als dann die Landtagswahl in Niedersachsen Ende Januar näher rückt, liegen die Verhandlungen endgültig auf Eis. SPD und Grüne wollen das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten, Altmaier lässt sich darauf ein. Die abschließende Verhandlungsrunde wird auf das Frühjahr vertagt. Im Salzstock Gorleben wird derweil nicht weiter gearbeitet. Ende November des vergangenen Jahres hat Altmaier erklärt:"Diese Erkundungsarbeiten werden von jetzt an im Vorgriff auf eine Konsenslösung ruhen. Jedenfalls bis zur Bundestagswahl, und ich hoffe, darüber hinaus."Die Landtagswahl führt zum Regierungswechsel in Niedersachsen. SPD und Grüne in Hannover fordern noch einmal den Ausschluss Gorlebens und scheitern damit. Stattdessen wird die Bund-Länder-Kommission ersonnen, und es soll keine Castortransporte mehr ins Wendland geben, um Niedersachsen zu entlasten. Als Erster erklärt sich Robert Habeck, der grüne Umweltminister in Schleswig-Holstein, dazu bereit, einige der 26 Behälter mit deutschem Atommüll, die ab 2015 aus Frankreich und Großbritannien zurück erwartet werden, in seinem Bundesland zwischenzulagern. Vor der abschließenden Verhandlung am 9. April hofft der Minister noch, dass auch andere Länder sich solidarisch zeigen:"Es wäre sozusagen ein Kuhhandel, wenn man sagt, mit dem Atomklo Gorleben hören wir auf und machen daraus das Atomklo Schleswig-Holstein oder Brunsbüttel."Doch außer Winfried Kretschmann bewegt sich kein Ministerpräsident. Außer Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg scheint kein Bundesland bereit zu sein, Castoren auf dem Gelände seiner Atomkraftwerke zwischenzulagern. Habeck zeigt sich gegenüber dem NDR enttäuscht:"Ich fahr auch mit einer gewissen Verbitterung nach Hause wie hart die Länderegoismen doch durchgehen. Eigentlich fasse ich’s nicht."Eigentlich lebt Philippsburg - 30 Kilometer nördlich von Karlsruhe - seit 1979 gut mit der Atomkraft. Die EnBW verdiente jahrzehntelang gutes Geld mit den beiden Reaktoren am Ort – wovon über die Gewerbesteuer auch die Gemeinde profitierte. Das sieht man dem Städtchen auch an: Hinter dem historischen Rathaus schließt sich ein großzügiger Neubau an, die Sportvereine trainieren in modernen Hallen und der Marktplatz vor der Kirche ist gepflegt. "Ja sind die Befürchtungen halt da, dass noch mehr Castoren kommen von England oder von Frankreich und dass das Ding irgendwann voll ist und es nicht mehr reicht für den eigenen Dreck","sagt ein Herr, der im Eiscafé am Marktplatz sitzt. Von Kretschmanns Vorschlag, fünf Castoren aus La Hague, die ursprünglich nach Gorleben sollten, in Philippsburg zu parken, haben die meisten Menschen hier gehört. Verständnis dafür haben sie nicht: ""Ich bin ganz dagegen, weil wir schon überfordert sind, mit dem, was jetzt schon ist. Das wär‘ zu viel. ...Das darf nicht sein. Den eigenen Dreck behalten wir, aber den fremden nicht!"So sieht es auch Bürgermeister Stefan Martus. Das Zwischenlager am Standort habe man vor zehn Jahren zähneknirschend hingenommen. Und zwar, das betont der CDU-Politiker, weil die Politik den Bürgern damals eine begrenzte Lagerung nur von Atommüll aus Philippsburg zugesichert habe. Gegen die neuen Pläne der Landesregierung kündigt er zivilen Ungehorsam an. "Ich gehe mal davon aus, dass sowohl das antragsbedingte Genehmigungsverfahren mit Demonstrationen begleitet wird, als auch der Transport."Seine Parteifreunde im Stuttgarter Landtag weiß der Bürgermeister wohl hinter sich. Auch CDU-Fraktionschef Peter Hauk lehnt eine erweiterte Zwischenlagerung am Kernkraftwerk Philippsburg ab. Wie Bundesumweltminister Peter Altmaier auf die Haltung seiner baden-württembergischen Parteifreunde reagieren wird, bleibt abzuwarten. Landesumweltminister Franz Untersteller von den Grünen jedenfalls schüttelt nur den Kopf: "Wir reden über fünf Behälter mit mittelradioaktiven Abfällen. Und ich würde doch darum bitten, dass man da ein wenig abrüstet und wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückfindet. Es gibt die Riesenchance, einen Konsens in der Endlagerfrage hinzukriegen. Und die Frage der zurückkehrenden Castoren aus Sellafield und La Hague ein Teil. Und es wäre wirklich leichtfertig, sich der Lösung hier zu verweigern."
Von Christel Blanke, Michael Brandt und Axel Schröder
Vor zweieinhalb Jahren rollten die vorerst letzten Castoren durchs Wendland zum Zwischenlager Gorleben. Am Mittwoch befasst sich das Bundeskabinett mit dem Entwurf für das sogenannte Endlagersuchgesetz, mit dessen Hilfe nach Alternativen zum Salzstock gesucht werden soll.
"2013-04-23T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:15:28.718000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlager-gesucht-100.html
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Keines dieser Ismus-Ensembles
Das Londoner Riot Ensemble bei der Einspielung zu „Song Offerings“ im Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Deutschlandradio/Moritz Bergfeld) Das Riot Ensemble ist ein musikalisches Chamäleon. Es tritt in verschiedensten Besetzungen und Ensemblegrößen auf. Auch die Auswahl der Programme gestaltet sich denkbar facettenreich: "Wir wollen uns auf keine einzelne Strömung in der neuen Musik beschränken", sagt Aaron Holloway-Nahum, "weder auf Minimalismus, Spektralismus oder Konzeptualismus. Wir sind keines dieser Ismus-Ensembles." Über die Konzertprogramme entscheidet bei Riot ein "artistic board" von 18 Musikern. Die Mitglieder des Ensemble betrachten Flexibilität nicht als zufälliges Nebenprodukt, sondern als Kern ihrer Arbeit. Für ihre neue CD haben sie Liedzyklen junger britischer Komponisten zusammengestellt: Kompositionen von Samantha Fernando, Aaron Holloway-Nahum, Laurence Osborn sowie Tagore-Lieder von Jonathan Harvey. Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung 30 Tage lang anhören.
Am Mikrofon: Leonie Reineke
"An unserem Ensemble liebe ich, dass wir auch Musik spielen, die ich ablehne", sagt Aaron Holloway-Nahum. Der musikalische Leiter des Riot Ensembles beschreibt damit die Vielfalt und die Flexibilität der jungen britischen Formation. Ihre neue CD produzierte sie im Deutschlandfunk Kammermusiksaal.
"2020-08-08T22:05:00+02:00"
"2020-08-06T09:54:47.006000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-dlf-produktion-keines-dieser-ismus-ensembles-100.html
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Finnland - ein starker Partner für die Allianz
Finnland kann im Ernstfall 280.000 Soldaten sowie 900.000 Reservistinnen und Reservisten mobilisieren – bei nur fünfeinhalb Millionen Einwohnern (dpa/picture-alliance/Kaisa Siren)
Köhne, Gunnar
Der NATO-Beitritt stand für Finnland aus historischen Gründen lange nicht zur Debatte – bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die geplante Norderweiterung der Allianz läuft den Interessen Russlands zuwider. Moskau zeigt sich zur Überraschung mancher vorerst aber betont gelassen.
"2022-06-28T18:40:00+02:00"
"2022-06-28T18:40:00.007000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schnelle-zeitenwende-im-norden-finnland-und-der-nato-beitritt-dlf-f9dbf36e-100.html
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"Wir sind in der Minderheit"
Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi (picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler) Der Islamismus sei eine Richtung im Islam, die zwar nicht viele Anhänger habe, aber auch bei ihm Angst auslöse, sagte Tibi. "Islamisten sind Muslime. Ich habe viele Fundamentalisten interviewt, das sind gläubige Muslime. Sie verstehen ihre Taten nicht als Verbrechen, sondern als Vollzug eines religiösen Aktes." Islamismus sei jedoch nicht mit Bomben oder der Polizei zu bekämpfen, sondern mit Aufklärung. Europäisierte Muslime - "Wir sind in der Minderheit" Den Islam nannte Tibi eine "tolerante Religion". Verse aus dem Koran, die zum Kampf gegen und zur Tötung von Andersgläubigen aufrufen, könnte heute nicht mehr gelten. "Es gibt eine Reihe von Koranversen, die man heute nicht vertreten kann. Das sind Texte aus dem siebten Jahrhundert, die muss man im historischen Zusammenhang sehen." Sein Konzept vom europäischen Islam sei immer noch keine Realität, bedauert Tibi. Es gebe in Europa drei Arten von Muslimen: Solche, die Parallelgesellschaften leben, aber auch integrierte Muslime, die sich jedoch fremd und ausgegrenzt fühlen. Und es gebe europäisierte Muslime, die das Wertesystem Europas in Einklang mit dem Islam bringen wollen. "Wie ich - aber wir sind in der Minderheit. Da bin ich Realist." Die Pegida-Bewegung schade der Integrierung von Muslimen "auf allen Ebenen", sagte Tibi. Der größte Schaden sei die Ausgrenzung. "Dadurch unterstützt Pegida Islamisten, weil Muslime so eher anfällig für Islamismus werden." Das Interview in voller Länge: Christine Heuer: Paris ist heute die Hauptstadt der Welt. Das hat Präsident Francois Hollande gestern beim republikanischen Marsch in der französischen Hauptstadt gesagt. Und in der Tat hat es solche Bilder wie die, die auch die allermeisten von Ihnen gesehen haben werden, noch nie gegeben: Untergehakte Regierungschefs, allein in Paris bis zu anderthalb Millionen Demonstranten für Freiheit und Demokratie, "Je suis Charlie Hebdo" wohin das Auge blickt. Der Islamforscher Bassam Tibi ist gläubiger Muslim. Er wurde 1944 in Damaskus geboren, kam 1962 nach Deutschland und ist seit 1976 deutscher Staatsbürger. Seine wissenschaftliche Karriere ist gewaltig. Unter anderem ist er es, der die Begriffe "europäische Leitkultur" und "Euro-Islam" erfunden und geprägt hat. Bassam Tibi setzt sich seit Jahrzehnten für einen Islam ein, der Demokratie, Pluralismus und andere westliche Werte integriert. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Tibi. "Einen einheitlichen Islam gibt es nicht" Bassam Tibi: Guten Morgen! Ich grüße Sie. Heuer: Thomas de Maizière hat in Reaktion auf die Anschläge in Paris relativ rasch gesagt, die hätten nichts mit dem Islam zu tun. Stimmt das? Tibi: Das Problem, dass die Politiker das wirklich gut meinen, also nicht nur Herr de Maizière, sondern vor ihm Herr Cameron. Der britische Premier hat gesagt, das sind keine Muslime, das sind Monster. Und Herr Hollande, der französische Präsident, hat dasselbe jetzt vor ein paar Tagen wiederholt. Ich arbeite seit 30 Jahren über den Islamismus. Einen einheitlichen Islam gibt es nicht. Es gibt innerhalb der islamischen Zivilisation verschiedene Richtungen und der Islamismus ist eine davon. Es ist eine Minderheit, je nach Land, zwischen fünf und zehn Prozent, maximal zehn Prozent. Aber die Islamisten sind Muslime. Ich bin ein Moslem, ich bin kein Islamist, ich bin Islamismus-Kritiker. Aber ich habe 2.500 islamische Fundamentalisten oder Islamisten interviewt in 20 verschiedenen Ländern, in den zehn Jahren vor meiner Pensionierung interviewt, und ich bin zum Ergebnis gekommen, das sind gläubige Muslime und sie verstehen das, was sie tun, nicht als ein Verbrechen, sondern als eine Vollziehung eines religiösen Akts. Man kann diese Islamisten nicht bekämpfen mit Bomben und mit Polizei, sondern mit Aufklärung. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam. Heuer: Herr Tibi, 47 Prozent der Deutschen - das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Bertelsmann-Studie - haben Angst vor dem Islam. Was am gelebten Islam in Deutschland ist denn gefährlich? Tibi: Ja, das ist der Unterschied zwischen Islam und Islamismus. Ich habe auch Angst vor Islamismus und ich kann Ihnen verraten, weil das jetzt länger zurückliegt, ich stand fünf Jahre lang unter dem Schutz des Bundeskriminalamtes, weil Islamisten versucht haben, in den 90er-Jahren mich zu ermorden. Ich habe Angst vor dem Islamismus als Moslem und die Angst ist nicht die richtige Antwort, sondern wir brauchen eine Sicherheitspolitik. Wir brauchen eine Sicherheitspolitik und wir brauchen Aufklärung. Die Aufklärung würde dazu führen, dass die Mehrheit der Deutschen und der Europäer verstehen, Islam ist eine Religion und eine tolerante Religion und vor dem Islam braucht man keine Angst zu haben. Heuer: Aber das ist er ja nicht nur. Es gibt im Koran Passagen, in denen die Ermordung Andersgläubiger bejaht wird. Tibi: Ja. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam und wir aufgeklärte Muslime treten für die Historisierung des Koran-Textes ein. Es gibt eine Reihe von Koran-Versen, die man heute nicht vertreten kann, unter anderem die Verse, die Sie angeführt haben, die aufrufen zum Kampf gegen Ungläubige und auch zur Tötung der Ungläubigen. Wir sagen, wir aufgeklärte Muslime, wir sagen, das sind Texte aus dem 7. Jahrhundert und man muss diesen Text im historischen Zusammenhang des 7. Jahrhunderts verstehen. Für das 20. Jahrhundert, für die Muslime im Allgemeinen, vor allem auch die Muslime in Europa gelten diese Koran-Texte nur im historischen Kontext. Sie können für Europa nicht gelten. "Europäisierte Muslime sind eine kleine Minderheit" Heuer: Herr Tibi, wie beliebt ist denn dieser aufgeklärte Euro-Islam, für den Sie sich so stark einsetzen, unter den Muslimen in Deutschland - und ich spreche über die Mehrheit der Muslime? Tibi: Ich bin ein ehrlicher Aufklärer, ein ehrlicher Moslem und sage, mein Konzept vom europäischen Islam ist übrigens in Paris entstanden. Ich bin 92 nach Paris eingeladen worden von der französischen Regierung, um ein Konzept für die Integration vorzulegen, und ich habe ein Papier in Paris vorgelegt, Institut du monde arabe, dieses Papier hieß "Die Rahmenbedingungen des Euro-Islam", und ich habe gesagt, eine europäische Deutung des Islam ist die Leitkultur der Muslime. Das ist eine Vision und leider ist es immer noch eine Vision. Eine Realität eines europäischen Islam gibt es nicht. Es gibt drei Richtungen in Europa für den Islam. Es gibt Muslime, die in Parallelgesellschaften leben. Gehen Sie nach Berlin, nach Neukölln, Kreuzberg, in bestimmten Teilen können Sie das sehen, Parallelgesellschaften. Dann gibt es Muslime, die integriert sind im Sinne, dass sie europäischen Gesetzen folgen, aber sie fühlen sich fremd, sie stehen draußen. Und es gibt europäisierte Muslime, die versuchen, das islamische Wertesystem mit dem europäischen Wertesystem in Einklang zu bringen. Dazu gehöre ich und ich bin ehrlich, wir sind eine kleine Minderheit. Heuer: Birgt denn der Terror in Frankreich jetzt die Chance, dass sich die gemäßigten Muslime zu Wortführern machen? Beginnt da eine Debatte in der islamischen Gesellschaft in Deutschland? Tibi: Es gibt zwei Verbände für liberale Muslime in Deutschland. Es geht nicht um einzelne Individuen, und das ist schon ein Fortschritt. Ein Verband wird vorwiegend von Frauen vertreten und ein Verband von Männern. Leider gibt es diese Trennung zwischen Männern und Frauen im Islam auch. Es gibt liberale Muslima-Verbände, Frauenverbände, und es gibt einen männlichen Verband. Aber in Frankreich, die Zentralmoschee in Paris, das ist die größte liberale islamische Einrichtung in ganz Europa. Der ehemalige Imam dieser Moschee, Dalil Boubakeur, ist Anhänger meines Konzepts vom Euro-Islam. Wir haben beide zusammengearbeitet. Heuer: Aber, Herr Tibi, wie groß schätzen Sie denn die Chancen ein, dass Sie sich jetzt mit dem Euro-Islam, mit dieser Idee bei der Mehrheit der Muslime durchsetzen? Tibi: Das hängt ab von zwei Gruppen. Eine Gruppe sind deutsche Politiker, denn Euro-Islam setzt sich nur durch im Rahmen der Bildung. Wir brauchen also Unterstützung der deutschen Politiker und wir brauchen auch eine Zustimmung des organisierten Islam. Einer der Vertreter dieses aufgeklärten Islam ist Professor in Münster, Professor Khorchide. Er wird leider bekämpft vom Zentralrat der Muslime. Weil er einen aufgeklärten Islam vertritt, haben die ihn aufgefordert, eine Reue zu bekennen. Reue wofür? "Der Euro-Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus" Heuer: Herr Tibi, hoffnungsvoll klingen Sie da nicht. Tibi: Ich bin nicht hoffnungslos. Ich bin nicht hoffnungslos, aber auch nicht hoffnungsvoll, weil ich Realist bin. Wir werden nicht unterstützt. Ohne Unterstützung kann europäischer Islam nicht verbreitet werden. Der europäische Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus. Sie können die Terroristen bekämpfen, die Islamisten, nicht alle Islamisten sind Terroristen, aber die dschihadistischen Islamisten sind Terroristen. Die können Sie bekämpfen am besten durch Aufklärung und Bildung und dazu brauchen wir die Unterstützung der Medien, der deutschen Politiker, und ich hoffe, dass auch die Vertreter des organisierten Islam nicht nur verbal verurteilen, was in Paris war, sondern dass sie mitarbeiten. "Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten" Heuer: Herr Tibi, Sie kommen selbst aus Damaskus. Wie erleben Sie denn die Pegida-Proteste gegen Zuwanderer und Flüchtlinge, die wir im Moment erleben? Tibi: Die Pegida-Bewegung tut Schaden auf allen Ebenen. Der größte Schaden dieser Pegida-Bewegung ist Ausgrenzung der Muslime und durch Ausgrenzung der Muslime unterstützt Pegida die Islamisten, denn die Islamisten sind gegen Integration. Integration der Muslime immunisiert die Muslime gegen die Verführung des Islamismus. Und wenn Muslime ausgegrenzt werden, dann werden sie anfällig für den Islamismus. Pegida trägt zur Anfeindung des Islams generell bei der deutschen Bevölkerung bei. Das ist ein großer Schaden. Für mich der größere Schaden ist die Ausgrenzung: Denn Muslime, die ausgegrenzt werden, sind anfällig für den Islamismus und da muss man Pegida dafür verurteilen. Pegida will Sicherheit, aber Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten. Eine größere Unterstützung der Islamisten kann nicht erfolgen ohne das, was Pegida tut. Heuer: Bassam Tibi, Islamforscher, Buchautor. Herr Tibi, ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen heute Früh. Tibi: Ich danke Ihnen auch für das Gespräch. Heuer: Einen guten Tag. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bassam Tibi im Gespräch mit Christine Heuer
Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi sieht seine Idee vom "Euro-Islam" weit von einer Umsetzung entfernt. "Das ist eine Vision, leider ist sie das immer noch", sagte Tibi im Deutschlandfunk. Terror und Fundamentalismus könnten nur mit Bildung und Aufklärung bekämpft werden, die Pegida-Bewegung unterstütze Islamisten dagegen indirekt.
"2015-01-12T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:30.023000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/islamismus-debatte-wir-sind-in-der-minderheit-100.html
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Was die Symbole der US-Rechtsextremen bedeuten
Mit Südstaatenflaggen und Schulzschilden: Rechtsextreme Demonstranten in der US-Stadt Charlottesville (imago / Pacific Press Agency) Man sieht Anhänger des Ku Klux Klan auf der Straße marschieren, Menschen, die die Südstaaten-Flagge schwenken, andere heben die Hand zum Hitlergruß. Der Kampf der Rechten ist ein Kampf um Symbole. Die USA seien eine multiethnische Einwanderernation, man könne sich schwer auf eine gemeinsame Geschichte berufen – "also muss man sich auf Symbole berufen", sagte Michael Hochgeschwender, Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte. Neben der Fahne seien es Erinnerungen an historische Ereignisse, wie den Unabhängigkeitskrieg, die Verfassung, den Bürgerkrieg. Unter Trump verschärfte sich der Streit "Diese Symbole werden permanent umgedeutet", meint Hochgeschwender. General Robert E. Lee, dessen Statue in Charlottesville entfernt werden sollte, was der Stein des Anstoßes für die Proteste war, habe über 100 Jahre als Symbol der Einheit der Nation gegolten – auf Kosten der schwarzen Minderheit. "In dem Moment, wo man die schwarze Minderheit über die Bürgerrechtsbewegung stärker einbezieht, verliert eine Person wie Robert E. Lee ihren Status.", sagte Hochgeschwender. "Aber dann gibt es immer wieder Personen, die daran festhalten, dass er diesen Status behält." Unter Trump habe dieser Streit besonderen Zündstoff bekommen. Das Gespräch können Sie nach der Sendung mindestens sechs Monate lang als Audio-on-demand abrufen.
Michael Hochgeschwender im Interview mit Adalbert Siniawski
Ob in Nachrichten oder sozialen Netzwerken: Nach den Zusammenstößen in Charlottesville erreichen uns ideologisch aufgeladene Fotos mit historischen Bezügen wie der Südstaatenflagge. "Symbole und Bilder sind zentral identitätsstiftend für die USA", erklärte Historiker Michael Hochgeschwender im Dlf.
"2017-08-14T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:52.518000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gewaltsame-proteste-in-charlottesville-was-die-symbole-der-100.html
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Fundament einer Fußballtradition?
Die katarische Fußball-Nationalmannschaft feiert ihren Sieg beim Asien Cup. (imago sportfotodienst) Der spanische Trainer Félix Sánchez Bas betreut die katarische Nationalmannschaft seit 2017. Er gilt als prägender Kopf des sportlichen Aufstiegs: "Ich arbeite nun schon lange in Katar. Für mich sind die Leistungen unseres Teams keine Überraschung. Wir haben eine gute Gemeinschaft, und die Spieler haben sich in den vergangenen Monaten sehr gut entwickelt. Sie haben noch Zeit, weiter zu wachsen." Félix Sánchez begann als Jugendtrainer beim FC Barcelona. 2006 wechselte er in die "Aspire Academy" in Doha, eines der größten Trainingszentren für Spitzensport der Welt. Die 2004 eröffnete Akademie ist das Zentrum für die wohl intensivste Talentsichtung der Fußballgeschichte. Hunderttausende Jugendliche wurden für Katar auf drei Kontinenten beobachtet. Die Vergabe der WM 2022 im Jahr 2010 habe das System auf ein neues Niveau gehoben, berichtet Florian Bauer, der für die ARD mehrfach in Katar recherchiert hat: "Mit unfassbar viel Geld, mehreren hundert Millionen Euro. Und vor allem mit externem Know-how. Und seitdem arbeiten dort Trainer von Manchester City, aus der Bundesliga, da kommen jede Woche Jugendmannschaften, vom VfB Stuttgart über Real Madrid über den FC Everton, Liverpool et cetera, und spielen gegen katarische Jugendmannschaften." Vier Spieler wurden nicht in Katar geboren Felix Sánchez führte 2014 die U19-Auswahl zum Gewinn der Asienmeisterschaft. Er lernte in der "Aspire Academy" jene Spieler kennen, die nun das Gerüst der A-Nationalmannschaft bilden. Ihr Durchschnittsalter aktuell: 24 Jahre. Etliche Nationalspieler haben Vorfahren in anderen Ländern, doch nur vier wurden nicht in Katar geboren. Darunter Almoez Ali mit Wurzeln im Sudan und Bassam Al Rawi, geboren im Irak. Beide seien nicht spielberechtigt, behauptete der Fußballverband der Emirate am Donnerstag, doch der Asiatische Verband AFC wies den Protest zurück. Die Richtlinien für Einbürgerungen sind im Fußball strenger als in anderen Sportarten. Und doch spielen Einbürgerungen in der katarischen Sportpolitik eine große Rolle, sagt der Politikwissenschaftler Danyel Reiche von der Amerikanischen Universität Beirut: "Die Anzahl der Menschen, die Sport treiben, ist sehr niedrig. Trotz aller Bemühungen in den letzten Jahren, gerade auch was den Schulsport angeht. Und insofern dienen die Einbürgerungen dazu, zu kaschieren, dass es vor Ort wenige wettbewerbsfähige Athleten gibt. Und halt um schneller Erfolge zu erzielen auf internationaler Ebene. Denn am Ende beispielsweise der Asienmeisterschaft guckt immer jeder auf das Medaillenranking und da ist Katar von allen Golf-Ländern das erfolgreichste Land, obwohl es ja so viel kleiner ist als zum Beispiel Saudi-Arabien." Ausbildungsstätte in Belgien Die traditionellen Fußballländer schauen wegen der Einbürgerungen kritisch auf Katar. Daher möchte der Verband die Aufmerksamkeit auf seine Langzeitplanung richten, zum Beispiel auf den KAS Eupen. 2012 hatten katarische Investoren den belgischen Verein gekauft. Die "Aspire Academy" schickte 19 Spieler nach Eupen, um Erfahrungen zu sammeln, darunter sieben aktuelle Nationalspieler. Und so ähnlich soll es weitergehen, sagt Ali Al Salat, Sprecher des katarischen Fußballverbandes: "Es ist unser Plan, dass unsere Spieler weiter in Europa spielen, um die großen Teams in den wichtigen Wettbewerben kennenzulernen. Wir möchten das Beste für unsere Spieler, damit sie für die WM 2022 in guter Form sind." Nach anderthalb Jahrzehnten produzieren die Spitzensportstrukturen die ersten sichtbaren Ergebnisse. Katar wird im Sommer als Gastmannschaft an der Copa América in Brasilien teilnehmen. Aber reicht das? Das Nationalteam repräsentiert die katarische Gesellschaft kaum. Von den 2,5 Millionen Einwohnern haben nur etwa zehn Prozent einen katarischen Pass, bei der Mehrheit handelt es sich um Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan oder Nepal. Sie bauen die WM-Stadien, sind aber für den geplanten Boom sonst kaum von Interesse. Nur 15 Prozent der Frauen sind sportlich aktiv Wenn Katar langfristig Erfolg haben wolle, brauche das Land eine Sportkultur, sagt der Wissenschaftler Danyel Reiche. Lokale Vereine, Breitensportgruppen und ungezwungene Straßenspiele gibt es bislang selten: "Allerdings wird insgesamt in Katar schon versucht, Sport aufzuwerten. Es ist eines der wenigen Länder, wo es einen nationalen Sporttag gibt. Ein Tag im Jahr ist ein Feiertag, der dem Sport gewidmet ist. Aber speziell bei Frauen ist das Problem groß: Laut der nationalen Sportstrategie machen nur 15 Prozent der Frauen regelmäßig Sport und gefragt danach, welchen Sport sie betreiben, haben 58 Prozent dieser 15 Prozent gesagt: Walking." Im März 1970 bestritt die katarische Fußball-Nationalmannschaft ihr erstes Länderspiel. Fast 50 Jahre später hat sie nun beim Asien Cup erstmals ihre Statistenrolle abgelegt. Ob das der Beginn einer Tradition ist, wird sich erst zeigen, wenn die heimische Liga im Schnitt mehr als ein paar Tausend Zuschauer anlockt.
Von Ronny Blaschke
Die Nationalmannschaft Katars hat zum ersten Mail die Asienmeisterschaft gewonnen. Zuvor hat sie bei neun Teilnahmen an dem Turnier insgesamt nur sechs Spiele gewonnen. Hinter dem Aufstieg steht unter anderem eine intensive Nachwuchsförderung. Bei der WM 2022 im eigenen Land wollen die jungen Spieler ihren Zenit erreichen.
"2019-02-02T00:00:00+01:00"
"2020-01-26T22:36:08.369000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katars-sieg-bei-der-asienmeisterschaft-fundament-einer-100.html
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Weckruf für die Bevölkerung
Die schwedische Regierung hat eine Broschüre an alle Haushalte in Schweden verschickt, um die Bevölkerung auf den Fall eines Kriegs oder einer Krise vorzubereiten (AFP / Pontus Lundahl / Arvid Steen) "Ein paar Tage würden wir mit unseren Vorräten wohl überleben können. Wir haben drei Dosen Fischbulletten, Tomaten und Champignons in der Dose, Bohnen. Und da hinten sehe ich noch Gulasch. Das sollte reichen. Aber wir könnten uns noch ein paar Trinkwasserkanister anschaffen. Die könnte man dann im Krisenfall auffüllen." Und so ein Krisenfall könnte schneller eintreten, als sich Christina Falck lange vorstellen konnte. Die Stockholmer Rentnerin geht von ihrer Küche auf den Balkon ihrer Drei-Zimmer-Neubauwohnung und zeigt auf eine Broschüre, die sie in ihrem Briefkasten fand: "Wichtige Information an alle schwedischen Haushalte: "Für den Fall eines Krieges oder Krise" steht auf dem Umschlag zu lesen. Dazu zwei Zeichnungen. Die eine zeigt Soldaten im Gefechtseinsatz, die andere eine Familie vor Transistorradio und gestapelten Lebensmittelvorräten. An alle 4,8 Millionen Haushalte des Landes ging das 20-seitige Heft. Nachdenklich blättert Falck darin: "Das war an der Zeit. Schweden hat allzulange geglaubt, sich auf einen Krieg oder andere Krisen nicht vorbereiten zu müssen. Klar, vor einem Jahr hat sich das noch niemand vorstellen können. Aber seitdem ist doch soviel passiert auf der Welt! Man redet jetzt viel mehr über die Bedrohungen, wenn auch eher in Form von Terror als Krieg." Bevölkerung in Bereitschaft Sie rückt ihre Brille zurecht und blättert weiter. Ihr Balkon zeigt auf einen Golfplatz. Ein paar Spieler ziehen mit ihren schweren Taschen über das satte Grün. In der Ferne blitzt das Wasser um die Schäreninseln auf. Ein friedliches Bild. 210 Jahre sind seit Schwedens letztem Krieg vergangen. Damals verlor das Königreich seine Provinz Finnland an die Russen. Doch auf einmal liegt sie schwarz auf weiß auf Christina Falcks Balkontisch: die Kriegsgefahr."Das hier ist ein guter Tipp: Dass man sich ein batteriebetriebenes Radio anschaffen sollte, für den Fall, dass die Stromversorgung zusammenbricht. Und auf dieser Seite werden die Sirenentöne des Katastrophenschutzes erklärt." Zehn Kilometer weiter westlich sitzt Niklas Granholm und zieht die Augenbrauen zusammen zu einem Gesichtsausdruck zwischen Zufriedenheit und Sorge. Für den stellvertretenden Leiter des Stockholmer Forschungsinstituts für Verteidigungsfragen – so etwas wie dem Think-Tank der Regierung in Sachen Krieg und Frieden - ist die Lage ernst. Aber die Regierung habe die Zeichen der Zeit glücklicherweise erkannt:"Wir haben das erste Mal seit langem unser Verteidigungsbudget erhöht, auch wenn es immer noch rund ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Wir haben eine neue Generation von U-Booten bestellt und neue Kampfjets der schwedischen Gripen-Serie. Und nicht zu vergessen: Wir haben die Wehrpflicht wieder eingeführt." Die schwedische Luftwaffe bekommt neue Gripen-Kampfjets und neue U-Boote, berichtet Niklas Granholm vom Stockholmer Forschungsinstitut für Verteidigungsfragen (AFP/ Jonathan Nackstrand) Russische Raketen in der Nachbarschaft Und die Liste, die Granholm an den Fingern seiner Hand abzählt, wird länger: Beistandsabkommen mit den Nachbarn Finnland und Dänemark, Gespräche mit Norwegen und Großbritannien über Abkommen gleicher Art, außerdem mehr gemeinsame Manöver mit der NATO. Während des Kalten Krieges galt in Schweden das strikte außenpolitische Credo: Blockfreiheit in Friedenszeiten und Neutralität in Kriegszeiten. Letzteres jedenfalls gilt nicht mehr: Schweden will sich nicht heraushalten, wenn es in seiner Nachbarschaft knallt. Granholm beugt sich nach vorne und schlägt mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis: "Die nordische und baltische Regionen und ihr Meer müssen als ein strategisches Gebiet begriffen werden. Denn die Reichweiten der Waffensysteme, denen wir gegenüber stehen, betreffen uns alle gleichermaßen." Eine Iskander-Rakete bei einer Militärparade in Kaliningrad: Russland stationiert die Flugkörper seit Anfang des Jahres in seiner Exklave an der Ostsee (picture alliance / Igor Zarembo/Sputnik/dpa) Warum nicht gleich der NATO beitreten? Gemeint sind die russischen Raketensysteme, unter anderem installiert in der Ostsee-Enklave Kaliningrad. Aber warum dann nicht gleich der NATO beitreten? Granholm hebt ratlos die Hände: "Dazu braucht es eine breite politische Zustimmung. Ohne die schwedischen Sozialdemokraten geht eine solche tiefgreifende Entscheidung nicht. Aber die Partei scheint noch immer nicht ihre Niederlage um die EU-Mitgliedschaft von 1995 überwunden zu haben, die viele von ihnen als Verrat an der Neutralität des Landes und ihren Idealen angesehen haben. Die Konservativen und die Zentrumsparteien dagegen haben sich in den vergangenen Jahren hin zu einer Pro-NATO-Haltung entwickelt. Klar ist: Im Falle eines offenen Konflikts in dieser Region würden wir ziemlich schnell die NATO-Mitgliedschaft beantragen." Aber so weit ist es noch nicht. Die Rentnerin Christina Falck, die auf ihrem Balkon vor der Bürgerbroschüre für den Ernstfall sitzt, würde eine NATO-Mitgliedschaft begrüßen. Wo doch selbst nach Ansicht der Regierung die Kriegsgefahr schon so groß ist, dass sie Informationsmaterial versenden muss. Die 65-Jährige klappt das Heft zu, setzt ihre Brille ab und schaut unschlüssig auf den Golfplatz hinaus: "Man wird sehen, ob dieses Heft dazu führt, dass die Menschen nun Hamsterkäufe tätigen und Wasser im Keller bunkern. Das glaube ich ja nicht. Aber es ist in jedem Fall ein Weckruf."
Von Gunnar Köhne
Batterien für das Radio, Wassertanks für den Keller, das Einmaleins der Sirenenklänge: Die Bevölkerung Schwedens wurde kürzlich mit einer Broschüre auf Kriegsszenarien eingestimmt. Die Sicherheitslage hat sich verändert, nicht erst seit Russland Raketen in Kaliningrad stationiert.
"2018-07-11T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:00:39.478000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schweden-und-der-ernstfall-3-5-weckruf-fuer-die-bevoelkerung-100.html
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Die EU-Kommission und die Netzneutralität
Nach dem Wunsch des EU-Rats düften Provider für einen Videodienst beispielsweise einen Service anbieten, der ruckelfreie Bilder garantiert - realisiert durch eine Art Überholspur für Datenpäckchen. (picture alliance / ZB / Jan Woitas) Zur Streitschlichtung zwischen EU-Parlament und EU-Rat hat die EU-Kommission einen Kompromiss vorgeschlagen. "Diesen halten viele Parlamentarier aber für unakzeptabel", sagte IT-Journalist Peter Welchering. Inhaltlich sei die EU-Kommission mit diesem Kompromissvorschlag "erstaunlich nah bei den Vorstellungen des EU-Rates", so Welchering. Demnach dürfte das Netzwerkmanagement in die Verteilung der Datenpäckchen eingreifen, etwa um unerwünschte Inhalte wie Spam herauszufiltern, aber auch, um rechtlichen Verpflichtungen zu genügen. Ländern wie Großbritannien werde so letztendlich ein "Freibrief für deren Filterpolitik" ausgestellt. Im Vorfeld hatte das EU-Parlament sehr strikte Grenzen für die Zulassung von Spezialdiensten gefordert. Mit ihrem Kompromissvorschlag habe die EU-Kommission diese Grenzen ebenfalls stark aufgeweicht, sagte Welchering. Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate in unserem Audio-Archiv nachhören.
IT-Journalist Peter Welchering im Gespräch mit Manfred Kloiber
Während die meisten EU-Parlamentarier das Prinzip der Netzneutralität in den Mitgliedsstaaten durchsetzen wollen, haben die Regierungen im EU-Rat für die Einführung eines Zweiklassen-Internets gestimmt - inklusive Überholspuren für bestimmte Zusatzdienste. Einen nun von der EU-Kommission vorgelegten Kompromissvorschlag halten die Parlamentarier für unakzeptabel.
"2015-05-02T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:34:51.016000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ungleiches-internet-die-eu-kommission-und-die-100.html
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Polizeichef von Dallas beklagt "Krieg gegen Cops"
Der Polizeichef von Dallas, David Brown, am Freitag bei einem Gedenkgottesdienst für die fünf getöteten Polizisten. (picture alliance / dpa / Erik S. Lesser) Das war eine schwere Woche für die USA – so begründete Präsident Obama im fernen Madrid seinen Entschluss, den Spanien-Besuch vorzeitig zu beenden und bereits am Sonntagabend abzureisen. Wie schwer diese Woche war und wie ihre blutigen Ereignisse nachwirken, das ist unter anderem auch an den zahllosen Demonstrationen in vielen Städten der USA abzulesen: In Louisiana und Minnesota, wo zwei Afroamerikaner kurz hintereinander von Polizisten erschossen wurden, kam es zu gewalttätigen Auseinandereinsetzungen - mit zwei Dutzend Verletzten und 100 Festnahmen. Dabei wurden Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen. In dieser äußerst angespannten Atmosphäre ist eine Debatte darüber entbrannt, wer in dieser Spirale der Gewalt die größeren Opfer bringen muss: die Afroamerikaner, die sich im Zeichen eines kollektiv verdrängten Rassismus verfolgt und diskriminiert sehen, oder die Polizeibeamten, die unter großem gesellschaftlichen Druck stehen und das Gefühl haben, dass ihre gefährliche Arbeit nicht gewürdigt wird. Gegeneinander der Bürgerbewegungen "Blue Lives Matter" setzen sie der Bürgerrechtsbewegung "Black Lives Matter" entgegen. Der Chef des nationalen Verbandes der Polizeiorganisationen spricht von einem "Krieg gegen Cops" und wirft Präsident Obama vor, für eine Kampfstimmung gegen Polizeibeamte gesorgt und damit den Boden für Dallas bereitet zu haben. Auch der Polizeichef von Dallas, David Brown, beklagt, dass die Polizeikräfte gewissermaßen unter rassistischem Generalverdacht stehen. Brown wurde nach den Todesschüssen von Dallas auf fünf seiner Mitarbeiter wegen seiner besonnenen und empathischen Art über Nacht zu einer Integrationsfigur in dieser Debatte wurde. Auch er beklagt die tiefen Gräben zwischen Polizei und Bürgern. Dabei machten 99 Prozent aller Polizisten einen großartigen Job und riskierten dabei ihr Leben. Dass sie jetzt so in der Kritik stünden, sei einfach nicht tragbar. Gefragt, was er den Demonstranten gegen die Polizeigewalt mit auf den Weg geben wolle, antwortete Brown: Wir sind darauf eingeschworen, Euch zu schützen und euer Recht auf Demonstrationen. Dafür sind wir auch bereit, unser Leben einzusetzen – wir würden aber gerne auch einmal hören, dass ihr das zu schätzen wisst. Das kann doch nicht so schwer sein. Obama wirbt erneut für schärferes Waffenrecht Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Debatte ist Präsident Obama darum bemüht, Brücken zu bauen und Gemeinsamkeiten zu betonen. Noch in Madrid sagte er, das ganze Land sei bei Weitem nicht so gespalten, wie das viele behaupteten. Das Land sei sich einig in der Ablehnung jeglicher Gewalt, sagte Obama. Eindringlich appellierte er an seine Landsleute, die Nöte beider Seiten zu sehen und sich gegenseitig besser zuzuhören. Im Übrigen sieht Obama nun auch in den Schüssen von Dallas einen weiteren Beleg für seine Forderung, endlich das laxe Waffenrecht zu verschärfen. "Wenn man für die Sicherheit der Polizisten sorgen will, kann man dieses Thema nicht beiseiteschieben und behaupten, das habe nichts damit zu tun." Am kommenden Dienstag wird der amerikanische Präsident ein zweites Mal binnen eines Monats an den Särgen von Gewaltopfern stehen: Nach dem Attentat von Orlando, das Besuchern eines Schwulenclubs galt, nun in Dallas, wo er an der Trauerfeier für die fünf getöteten Polizisten teilnehmen wird.
Von Thilo Kößler
Nach den tödlichen Schüssen auf Polizisten wird in den USA debattiert, wer die größeren Opfer bringen muss: Afroamerikaner oder Polizisten. Den "Black Lives Matter" wird ein "Blue Lives Matter" gegenübergestellt. Präsident Barack Obama sieht sein Land nicht so gespalten wie viele behaupten.
"2016-07-11T05:05:00+02:00"
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https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-den-usa-polizeichef-von-dallas-beklagt-krieg-100.html
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"Es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben"
Der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht (Bodo Marks / dpa) Thielko Grieß: Ich begrüße Jan Philipp Albrecht am Telefon, Mitglied des Europäischen Parlaments, ein grünes Mitglied. Guten Tag, Herr Albrecht. Jan Philipp Albrecht: Ja guten Tag. Albrecht: Ich bin in meinem Abgeordnetenbüro im Europäischen Parlament, das ja wenige hundert Meter nur von dieser Metro-Station Malbeck entfernt ist, und wir sind auch alle gehalten, in unseren Büros oder in den Gebäuden zu bleiben, oder ganz zuhause zu bleiben für die, die noch nicht da sind. Grieß: Das Parlament hatte heute eigentlich einen normalen Arbeitstag vor sich? Albrecht: Wir hatten nicht nur einen normalen Arbeitstag, sondern mit einer sehr vollen Ausschusswoche, die ja auch sehr kurz ist wegen der Osterferien, viel auf dem Programm. Viele Termine werden jetzt kurzfristig abgesagt. Auch wir stehen natürlich jetzt vor der Herausforderung zu gucken, was können wir überhaupt noch leisten. Aber ich glaube, es ist auch richtig, nicht ganz in Untätigkeit zu verfallen, gerade für uns, die in dem Bereich Innen- und Sicherheitspolitik jetzt gerade arbeiten. "In dem Moment ändert sich das Stadtbild sofort" Grieß: Noch eine Frage zu Ihnen auch als womöglichen Augenzeugen. Was haben Sie heute Morgen auf dem Weg ins Parlament gesehen, beobachten können? Albrecht: Ich bin heute relativ früh schon hier zum Platz Luxemburg. Das ist der Platz direkt vor dem Europäischen Parlament. Wir hatten ein Frühstück mit unserer Parteichefin Frau Peter und da ist uns die Nachricht sozusagen direkt nach acht Uhr zu Ohren gekommen von den Anschlägen in Brüssel. Dann sind wir zu Fuß rübergegangen zum Parlament und in genau dem Moment muss es tatsächlich auch in dieser Metro-Station zu diesem Anschlag gekommen sein, und in dem Moment ändert sich natürlich das Stadtbild sofort. Die Menschen ziehen sich alle zurück und versuchen, ihre Angehörigen zu erreichen, das geht uns natürlich nicht anders, und versuchen, letztendlich allen Gefahrensituationen aus dem Weg zu gehen. "Wir sind in einer Europäischen Union, die im Fokus dieser Angriffe steht" Grieß: Wir bekommen hier, Herr Albrecht, gerade Eilmeldungen mit einem Statement des belgischen Premierministers Charles Michel, der in einer Pressekonferenz davon spricht, dass es sich bei diesen Anschlägen um Terroranschläge gehandelt habe. Richten sich diese Terroranschläge auf Belgien oder auf die Europäische Union? Albrecht: Ganz sicher lässt sich das nicht mehr trennen. Wir sind in einer Gemeinschaft europäischer Staaten, wir sind in einer Europäischen Union, die im Fokus dieser Angriffe steht. Unsere liberalen demokratischen Grundstrukturen, der Rechtstaat, die Grundrechte, die werden hier angegriffen, und ich glaube, das wäre falsch, wenn wir immer darin zurückfallen würden zu sagen, oh, hier ist in Frankreich was passiert, hier ist in Belgien was passiert und vielleicht auch mal woanders in Europa. Nein, es ist mitten in Europa. Wir sind zusammen in dieser Situation und wir müssen auch zusammenhalten, und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass jetzt die Behörden der EU-Länder ganz eng zusammenarbeiten und wir auch die Konsequenz daraus ziehen, dass wir uns nicht mehr nebeneinander her um diese Fragen kümmern können. Grieß: Ist dieses Nebeneinander denn nicht längst vorbei, spätestens seit dem 13., 14. November und Paris? Albrecht: Das ist ganz sicher der Fall. Wir haben zwischen den Behörden in Frankreich und Belgien insbesondere schon sehr gute Zusammenarbeit jetzt gesehen. Aber wir haben keine wirklich organisierte umfangreiche Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zwischen den Sicherheitsbehörden, noch immer nicht. Das kann sich auch nicht von heute auf morgen ändern. Das ist ein Prozess. Aber es ist wichtig, dass in diesem Prozess der politische Wille ganz deutlich geäußert wird, dass es in diese Richtung gehen muss und dass wir uns nicht zurückziehen in den Nationalstaat und sagen, wir machen die Grenzen dicht. Dieser international agierende Terrorismus, der hier auch nach Europa kommt, der zeigt mehr als deutlich, dass diese Grenzen uns nicht schützen. Keine ausreichende Ausstattung der Polizeibehörden Grieß: Und solange sich Europa im Prozess befindet, können Terroristen (mutmaßlich, fügen wir hinzu zu diesem Zeitpunkt) all dies ausnutzen? Albrecht: Es ist jedenfalls so, dass wir derzeit verwundbar sind. Das liegt auch daran, dass wir über Jahre in Systeme und Datenbanken investiert haben, die viel Geld und Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, ohne gleichermaßen oder auch stattdessen in die bessere Ausstattung von Polizeibehörden und die bessere Zusammenarbeit, den besseren Austausch von Informationen in Europa zu kümmern. Das muss jetzt zügig schnellstens nachgeholt werden und daran müssen wir jetzt arbeiten. Grieß: Und Belgien ist überfordert? Albrecht: Das glaube ich nicht. Ich glaube, Belgien hat gezeigt, auch der belgische Premier, dass sie hier mit dieser Situation umgehen konnten. Sie haben natürlich sehr deutlich nach dem 13. November auch reagiert mit der höchsten Terrorstufe, die ja auch jetzt wieder ausgerufen ist, so dass klar ist, hier versucht man alles, um dem Herr zu werden. Aber ich glaube auch, dass Belgien alleine das nicht wird lösen können. Wir brauchen die Unterstützung dort. "Es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben" Grieß: Aber da muss ich doch noch einmal nachfragen. Sie haben gerade gesagt, Belgien zeige, dass es mit der Situation umgehen kann. Heute Morgen hat es Anschläge gegeben, bei denen Menschen gestorben sind. Albrecht: Das ist absolut richtig. Aber der belgische Premier hat eben auch am Anfang gesagt - und das gehört mit zur Wahrheit dazu -, dass diese Bedrohung da ist, und er hat selbst im November letzten Jahres, als die Paris-Anschläge stattgefunden haben, deutlich gemacht, es wird auch in Belgien solche Anschläge geben. Wir können das nicht hundertprozentig ausschließen, es kann nie hundertprozentige Sicherheit geben. Wichtig ist, dass man angesichts der Tatsache, dass wir diesen Terroranschlägen nicht hundertprozentig aus dem Weg gehen können, alles daran setzt, die Ursachen und die Rahmenbedingungen deutlich zu verbessern, und zwar gemeinsam in Europa. Daran müssen wir arbeiten, ohne gegenseitige Schuldzuweisungen jetzt neu anfachen zu lassen, oder auf einfache, vermeintlich einfache Lösungen zu setzen. Es wird eine harte Arbeit sein, die Sicherheit zu verbessern in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie, die wir ja gemeinsam verteidigen wollen gegen diese Angriffe. Grieß: Jan Philipp Albrecht, Mitglied des Europäischen Parlaments, grünes Mitglied dieses Parlaments, jetzt zugeschaltet aus Brüssel. Herr Albrecht, herzlichen Dank für Ihre Eindrücke und Ihre Analysen und Ihre Zeit heute Mittag. Albrecht: Gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jan Philipp Albrecht im Gespräch mit Thielko Grieß
Jan Philipp Albrecht, Mitglied der Grünen im Europäischen Parlament, war zum Zeitpunkt der Anschläge nur wenige hundert Meter von der betroffenen Metro-Station entfernt. Angesichts der Tatsache, dass man Anschlägen nicht hundertprozentig aus dem Weg gehen könne, müsse man in der EU jetzt alles daran setzen, den Terror gemeinsam zu bekämpfen, sagte er im DLF.
"2016-03-22T11:48:00+01:00"
"2020-01-29T18:20:00.450000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-in-bruessel-es-kann-nie-hundertprozentige-100.html
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Hoffen auf den harten Brexit
Barry Legg, der Vorsitzende der Bruges Group, will, dass Großbritannien die EU ohne Vertrag verlässt (Imago) Ein hoher Festsaal mitten im Regierungsviertel. 100 vorwiegend ältere Herrschaften nehmen in den aufgestellten Stuhlreihen Platz. Auf dem Podium zwei Tory-Abgeordnete, die gleich flammende Reden für den Brexit ohne Deal halten werden. Und Barry Legg, der Vorsitzende der Bruges Group. Seit 1989 setzt sich die Denkfabrik für ein weniger zentralistisches Europa ein – so steht es auf ihrer Website. Fast genauso lange kämpft die Bruges Group für den Brexit. Übermorgen, am 29. März, sollte es endlich so weit sein. Aber Theresa May hat versagt. Nun soll sie wenigstens den nächsten Termin einhalten. "Unser neuer Tag der Befreiung ist der 12. April," verspricht Barry Legg. "Wir müssen die Europäische Union ohne Verzögerung verlassen," fordert er. Schräg neben ihm haben sie ein offizielles Porträt von Margaret Thatcher aufgestellt. Selbstsicher, zuversichtlich und entschlossen schaut die Premierministerin seligen Angedenkens ins applaudierende Publikum. Einst hat Thatcher selbst vor der Bruges Group gesprochen. May soll einfach mal gar nichts zu tun Jüngst war Jacob Rees-Mogg zu Besuch. Heute redet sich Sir Christopher Chope über seine eigene Parteichefin in Rage. Die andere Premierministerin – Theresa May. Und das fällt ihm zu ihr ein: Betrug, Verrat, Doppelzüngigkeit, Unredlichkeit, Inkompetenz und sein augenblicklicher Lieblingsvorwurf: Trickserei. Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen) Im Zorn sind sie vereinigt: Die Redner und ihr Publikum. Ihr Brexit steht auf dem Spiel, sie nennen ihn nicht No-Deal-Brexit, sondern WTO-Brexit. Schließlich geht es ihnen um Freiheit. Beim Empfang nach den Politiker-Reden gibt es nur ein Gesprächsthema. Die Gäste der Bruges Group wollen ihr Land wieder ganz allein für sich haben: "Ich kann es nicht leiden, dass unsere Gerichtsentscheidungen vom EuGH gekippt werden können.""Wir müssen die Kontrolle zurückgewinnen.""Wir wollen unser Land wieder selbst regieren. Wir sind keine Provinz oder Region der EU." Und im Parlament spielen sie Spielchen. Da sitzen die Remainer und versuchen den Brexit aufzuhalten. So sehen sie das hier. Und hoffen auf einen Kurzschluss. Darauf, dass der Brexit am 12. April ganz automatisch kommt, wenn Theresa May sich nur entschließen könnte, einfach mal gar nichts zu tun. Eine Regierungschefin, von der sie überhaupt nichts halten. Im Publikum heißt es: "Noch schlimmer als Merkel.""Sie ist feige und hat nur Schaden angerichtet.""Sie ist der schlechteste Premier in der britischen Geschichte."
Von Christine Heuer
Aus Sicht der Brexit-Hardliner besteht noch Hoffnung: Sie wollen, dass Großbritannien ohne Vertrag die EU verlässt. Das könnte gelingen, wenn es bis zum 12. April keine Einigung über den Brexit gibt. Premierministerin Theresa May sollte jetzt einfach mal gar nichts mehr machen, finden die No-Deal-Befürworter.
"2019-03-27T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:44:14.974000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/may-gegner-in-london-hoffen-auf-den-harten-brexit-100.html
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Passt Gott ins Büro?
Ein blitzblanker Arbeitsplatz. Religiöse Symbole stören, finden Politiker wie Nicolas Sarkozy. (Imago / Westend61) Staat und Kirche sind in Frankreich strikt getrennt. Das hat auch Folgen in der Arbeitswelt. Lehrer, Polizisten, Sekretärinnen in Behörden, Busfahrer in städtischen Transportunternehmen ... Wer für den öffentlichen Dienst arbeitet, ist zu Neutralität verpflichtet - auffällige Kreuz, jüdische Kippa und vor allem das Kopftuch sind dort verboten. Anders in der Privatwirtschaft: Dort gilt prinzipiell Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aber in einer Zeit, in der sich die Franzosen vor neuen Attentaten fürchten und schon ein Burkini am Meeresstrand als islamistische Aggression interpretiert wird, sind "les faits religieux", wie es in Frankreich heißt, die "religiösen Fakten" also, auch dort ein hoch sensibles Thema geworden. Lionel Honoré, Direktor der Beobachtungsstelle für religiöse Fakten in Unternehmen, hat für seine Studie 1.400 Manager und Führungskräfte befragt. Ihre Antworten bestätigten, dass Religiöses am Arbeitsplatz heute deutlich mehr Raum einnimmt als in den Vorjahren, sagt der Wissenschaftler. "65 Prozent aller Manager, die wir befragt haben, sind heute mit dieser Thematik konfrontiert. Vergangenes Jahr waren es erst 50 Prozent. Für zwei Drittel aller Manager ist es inzwischen ganz normal, dass sie Fragen, die mit Religion zu tun haben, regeln müssen." Religion kann zu ernsthaften Problemen führen Konkret handelt es sich dabei vor allem um das Tragen des islamischen Kopftuchs, danach kommt der Wunsch, an religiösen Feiertagen Urlaub zu nehmen oder aber die Arbeitszeiten anzupassen. Gelegentlich müssen die Manager auch entscheiden, ob ein Angestellter in seiner Arbeitspause beten darf. "Es sind also in erster Linie rein persönliche Anliegen, die nur geringen Einfluss auf die Arbeitsorganisation haben. Die Manager haben es gelernt, damit umzugehen." Oft gelinge es, einvernehmliche Lösungen zu finden, sagt Honoré. Die Führungskräfte müssen aber auch häufiger als zuvor Forderungen bewältigen, die das Arbeitsklima belasten oder gar gesetzeswidrig sind. Dazu gehören laut Lionel Honoré "die Stigmatisierung eines Kollegen aus religiösen Gründen, Bekehrungseifer, die Weigerung, bestimmte Tätigkeiten auszuführen, die Weigerung, mit einer Frau zusammen zu arbeiten." In neun Prozent aller Fälle sind die Manager mit Situationen konfrontiert, bei denen die Religion zu ernsthaften Problemen führt. So gibt es Angestellte, die ihre Firma wegen religiöser Diskriminierung anprangern wollen. Manche weigern sich, die Legitimität ihres Vorgesetzten anzuerkennen, mit Argumenten wie: Du hast mir nichts zu sagen, göttliche Vorschriften gehen vor. Arbeitgeber wollen Rechtssicherheit Die meisten Führungskräfte seien inzwischen so gut geschult, dass sie einen Großteil der Konflikte bewältigen könnten. Sie wollten daher auch keine staatliche Einmischung: Ein Gesetz, dass den Angestellten religiöse Neutralität vorschreibt, lehnen zwei Drittel aller Manager ab, sagt Lionel Honoré. Aber genau das sei nötig, um die Arbeitgeber endlich aus einer rechtliche Grauzone zu befreien, meint der Arbeitsrechtler Eric Manca. Als Rechtsanwalt berät er Unternehmer, bei denen religiös motivierte Forderungen der Angestellten mit den kommerziellen Interessen der Firma in Konflikt geraten – und kann ihnen da nicht immer weiter helfen. Eric Manca: "Die Frage lautet: Muss sich die Firma den religiösen Fakten anpassen? Muss sie ihre wirtschaftlichen Interessen hintan stellen? Unsere Mandanten wollen wissen, wo die Grenze liegt – und die ist völlig unklar, vor allem bei religiöser Kleidung. Religiöse Freiheit ist in Frankreich verfassungsrechtlich geschützt. Es gibt keinen Gesetzestext, der dem Arbeitgeber eindeutig erklärt, wie er sich verhalten kann." Wie brenzlig das Thema ist – und wie unterschiedlich die Gerichte entscheiden, zeigt der Fall Asma Bougnaoui. Als Software-Expertin in einer IT-Beratungsfirma hatte die Ingenieurin bei einem großen Kunden gearbeitet, einer Versicherung. Mit Kopftuch. Nach einem ersten Einsatz hatte sich der Kunde darüber beschwert. Aber die Muslimin weigerte sich, fortan ohne Kopftuch zu arbeiten. Sie wurde entlassen, worauf sie klagte. Europäischen Juristen sind sich auch nicht einig Zwei juristische Instanzen gaben ihrem Arbeitgeber Recht. Beim Berufungsverfahren jedoch weigerte sich der Oberste Gerichtshof, Stellung zu beziehen. Die Richter wandten sich stattdessen an den Europäischen Gerichtshof, baten um Klärung, wie die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU auszulegen sei. Aber die europäischen Juristen sind sich auch nicht einig. Im Gutachten über den Fall Asma Bougnaoui hat die Generalanwältin das Kopftuchverbot zu einer "rechtswidrigen unmittelbaren Diskriminierung" erklärt. Diese Position steht im krassen Gegensatz zum Gutachten in einem ähnlichen Fall, der Belgien betrifft: Da hatte eine andere Generalanwältin kürzlich die Ansicht vertreten, das Kopftuchverbot der Firma könne zulässig sein. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs soll vor Jahresende fallen, sie könnte auch für Deutschland Konsequenzen haben. Rechtsanwalt Eric Manca will mit seiner Lobbyarbeit erreichen, dass Frankreich ein Gesetz erlässt, welches den Arbeitnehmern freie Hand gibt, sofern Kunden im Spiel sind: "Sonst wäre es das Ende der unternehmerischen Freiheit. Eine Firma ist weder laizistisch, noch religiös – sie will schlicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handeln."
Von Bettina Kaps
Viele französische Unternehmen haben Leitfäden für den "Umgang mit religiösen Fragen in privaten Unternehmen". Politiker fordern einheitliche Regelungen, etwa ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz. Eine neue Umfrage unter Managern zeigt: Es gibt zwar Probleme mit Gläubigen, aber es gibt auch Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen.
"2016-10-13T09:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:54.737000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-passt-gott-ins-buero-100.html
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Was tun bei PIP-Brustimplantanten?
Peter Vogt ist Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen.Carsten Schroeder: Sie kennen sich ja nun in der Szene der ästhetischen Chirurgie aus. Waren Sie von dem Skandal um die französische Firma PIP überrascht. Oder gab es schon vorher Hinweise auf die mangelhafte Qualität?Das Interview ist bis zum 27. Juni 2012 abrufbar: Audio mit dem vollständigen Interview
Peter Vogt im Gespräch mit Carsten Schroeder
Peter Vogt, Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirugen, über die Frage, ob betroffene Frauen die Implantate der Firma PIP entfernen lassen sollten.
"2011-12-27T10:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:25:13.144000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-tun-bei-pip-brustimplantanten-100.html
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Mihalic: Ankerzentren der völlig falsche Weg
Erfahrene Polizeibeamte müssten sich zurückziehen, wenn die Umstände es nicht anders zuließen, so Irene Mihalic, selber ausgebildetete Polizeibeamtin (dpa/picture alliance/Bernd von Jutrczenka) Stefan Heinlein: Über die Vorfälle von Ellwangen und die neuerliche Debatte um die Asyl- und Flüchtlingspolitik möchte ich jetzt sprechen mit der Innenexpertin Irene Mihalic von den Grünen. Guten Abend, Frau Mihalic. Irene Mihalic: Guten Abend. Heinlein: Sie sind selber ausgebildete Polizeibeamtin, haben lange Jahre in Ihrem Beruf auch gearbeitet. Können Sie uns aus Ihrer Erfahrung berichten: Was geht in Polizisten vor, wenn sie wie gestern in Ellwangen von einem Mob bedroht werden und sich dann zurückziehen müssen? Mihalic: Ja, das ist natürlich kein Idealzustand. Das wünscht sich kein Polizist, wenn er zu so einem Einsatz gerufen wird und dann eine Maßnahme treffen möchte, dass er die dann am Ende auch nicht treffen kann, weil die Umstände es einfach nicht zulassen. Ich kann natürlich jetzt diesen Polizeieinsatz nicht im Detail bewerten, weil ich nicht dabei war und weil mir auch schlicht diese Detailkenntnisse über den Ablauf fehlen. Aber nach allem, was ich so mitbekommen habe, war der Rückzug, wenn man ihn so nennen will, absolut richtig und die Kolleginnen und Kollegen haben da wirklich sehr besonnen gehandelt, dass sie sich zunächst einmal zurückgezogen haben, um sich und andere auch nicht noch zusätzlich in Gefahr zu bringen. "Das sehe ich nicht als Kapitulation an" Heinlein: War es ein Fehler, dass Ihre Kollegen, diese Streifenwagen zunächst nicht in ausreichender Zahl offenbar vor Ort waren und ohne Spezialausrüstung versucht haben, diese Abschiebung durchzusetzen? Mihalic: Na ja, solche Abschiebungen finden ja regelmäßig statt und man kann auch nicht im Vorfeld damit rechnen, dass es am Ende so eskaliert, wie das jetzt in Ellwangen der Fall gewesen ist. Insofern gehe ich jetzt erst mal davon aus, dass die Beamtinnen und Beamten im Vorfeld alles dafür getan haben, dass der Einsatz auch gelingen kann. Dass es am Ende so eskalieren musste, das hat sicherlich so niemand vorhergesehen, und dieser Einsatz hat ja dann noch weitere Maßnahmen nach sich gezogen. Heinlein: Wie gefährlich, Frau Mihalic, ist es, wenn der Rechtsstaat vor einem Mob, egal ob das Neonazis sind, Hooligans oder jetzt Flüchtlinge, in die Knie geht? Mihalic: Ich würde das gar nicht so bezeichnen. Ich sehe nicht, dass hier der Rechtsstaat irgendwie in die Knie gegangen ist. Ganz im Gegenteil! Ein Polizeieinsatz muss natürlich immer von vornherein so geplant und auch angesetzt werden, dass alle Umstände, die zu diesem Einsatz gehören, auch berücksichtigt werden, dass er am Ende auch gut durchgeführt werden kann, auf der Basis unserer Gesetze. Das kann natürlich auch im Einzelfall erfordern, dass man sich zunächst einmal zurückzieht, wenn die Bedingungen andere sind, als man sie erwartet hat. Das sehe ich nicht als Kapitulation an, ganz im Gegenteil. Das erwarte ich von erfahrenen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten auch, dass sie sich dann auch zurückziehen, wenn es die Umstände nicht anders zulassen, um auch deeskalierend zu wirken, weil die Alternative wäre wahrscheinlich gewesen, dass Polizeibeamte verletzt worden wären, dass vielleicht auch Geflüchtete verletzt worden wären, dass es am Ende vielleicht zu einer größeren Eskalation geführt hätte, und wenn man sich dann zurückgezogen hat, kann man die Lage neu bewerten und dann auch mit verstärkten Kräften dort noch mal vor Ort tätig werden, und das ist ja dann am Ende auch gelungen. Insofern sehe ich nicht, dass hier der Rechtsstaat in irgendeiner Art und Weise in die Knie gegangen ist oder, wie andere gesagt haben, sogar kapituliert hätte. Das würde ich überhaupt nicht so sehen. Geplante Ankerzentren "scharf zu kritisieren" Heinlein: Innenminister Seehofer hat die Vorfälle von Ellwangen als Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung bezeichnet. Haben Sie eine Schlagzeile für die Bewertung von Ellwangen? Mihalic: Ich verstehe erst mal nicht, was Herr Seehofer damit sagen will. Wenn sich Menschen nicht gesetzestreu verhalten, dann ist das natürlich immer ein Schlag ins Gesicht gegenüber denjenigen, die sich rechtstreu verhalten. Aber Kriminalität ist jetzt nicht etwas, was sich jetzt auf diesen Vorfall in Ellwangen beschränkt, sondern das findet tagtäglich an vielen Orten in Deutschland statt. Das ist natürlich jetzt ein Ereignis, das hat viele aufgewühlt, da wird natürlich noch mal die Frage aufgeworfen, wie kann so etwas sein. Ich persönlich würde da eine andere Schlussfolgerung daraus ziehen. Ich würde vielleicht eher überdenken, wie man Geflüchtete unterbringt, ob man sie in solchen großen Sammelunterkünften unterbringt, weil das natürlich immer die Gefahr birgt, dass sich da organisierte Strukturen bilden, dass es da eine ungute Dynamik gibt und dass da auch ein hohes Gewaltpotenzial sich anreichert und dann auch zu solchen Auswüchsen führt. Deswegen sind aus meiner Sicht die geplanten Ankerzentren, wie sie von Herrn Seehofer ja jetzt favorisiert werden und auch durchgeführt werden sollen oder eingerichtet werden sollen, scharf zu kritisieren. Heinlein: In Ellwangen, Frau Mihalic, sind etwa 500 Menschen untergebracht. Was ist denn für Sie eine noch akzeptable Größenordnung für Asylunterkünfte? Mihalic: Das hängt natürlich von der jeweiligen Einrichtung ab. Aber ich glaube, es geht in erster Linie auch um die Dauer. So eine Sammelunterkunft kann ja wirklich nur ein erster Schritt sein bei der Aufnahme von Geflüchteten. Dann muss natürlich das Ziel sein, dass die Geflüchteten so schnell wie möglich dezentral auch in eigenem Wohnraum untergebracht werden, damit man nicht diese Dauerlösung mit großen Sammelunterkünften hat, wo dann auch die Probleme, so wie wir sie jetzt in Ellwangen erleben mussten, entstehen können. Das sollte, finde ich, auch der Maßstab sein, dass dort nicht solche großen Einrichtungen zum Standard werden, wo sich dann die Probleme, die es ohnehin schon gibt, auch noch verschärfen können. Ich befürchte, dass mit den Ankerzentren genau das geschieht, dass sich vorhandene Probleme, die in Sammelunterkünften sowieso an der Tagesordnung sind, auch noch verstetigen, auch noch verschärfen können, und ausbaden müssen es dann am Ende die Einsatzkräfte der Polizei, die dann mit entsprechenden Kräften Maßnahmen vor Ort treffen müssen, und das kann nicht Sinn der Sache sein. Deswegen, finde ich, kritisiert die Gewerkschaft der Polizei diese Ankerzentren auch völlig zurecht, weil das ist einfach eine unausgegorene Politik auf dem Rücken der Einsatzkräfte und auch auf dem Rücken von geflüchteten Menschen. "Sammelunterkünfte ein ganz großes Problem" Heinlein: Viele argumentieren genau umgekehrt. Sie sagen, gerade in diesen großen Sammelunterkünften lassen sich die Menschen besser betreuen, besser versorgen, aber auch besser unter Kontrolle halten, als wenn diese 500 Menschen dann an 50 unterschiedlichen Stellen untergebracht sind. Mihalic: Das kann ich so nicht bestätigen, weil auch das Bundeskriminalamt legt uns ja in regelmäßigen Abständen Zahlen vor, wie es zum Beispiel mit der Kriminalität im Kontext von Zuwanderung bestellt ist. Da stellen wir immer wieder fest, dass wenn Kriminalität festgestellt wird von geflüchteten Menschen, dass sie sich zu einem großen Teil in solchen großen Sammelunterkünften abspielt. Wenn es um Gewaltkriminalität geht, aber auch wenn es um Diebstahl geht oder andere Dinge, dann sind gerade auch diese Sammelunterkünfte da ein ganz, ganz großes Problem. Wenn wir uns jetzt dieses Beispiel in Ellwangen anschauen, oder andere Widerstandshandlungen, wenn ein Geflüchteter abgeschoben werden soll, dann ist das natürlich aus meiner Sicht ein weiterer Beleg dafür, dass in solchen Sammelunterkünften, wenn Menschen dort auf Dauer untergebracht sind und auch in großer Zahl, es zu solchen Problemen kommt, die sich dann natürlich mit der Dauer des Aufenthalts auch noch verschärfen können. Das kann ja nicht in unserem Interesse sein. Auch im Interesse derjenigen, die dort untergebracht sind, aber auch im Interesse der Einsatzkräfte sollte eine dezentrale Unterbringung auf jeden Fall das Ziel sein. Heinlein: Besteht sogar die Gefahr von rechtsfreien Räumen in diesen Asylunterkünften, wenn die Menschen auf Dauer dort untergebracht sind? Mihalic: Ich finde diese Rhetorik nicht richtig, immer von rechtsfreien Räumen zu sprechen. Mir ist in Deutschland kein Ort bekannt, der in irgendeiner Art und Weise rechtsfrei ist, weil letzten Endes wird das Recht überall durchgesetzt, von staatlichen Einrichtungen, von Institutionen, von Polizei und Justiz. Es gibt also keinen Raum, wo die Polizei oder auch die Justiz nicht in der Lage wäre, durchzugreifen und Gesetze zur Anwendung zu bringen. Rechtsfreie Räume, diese Rhetorik finde ich da auch völlig fehl am Platz in diesem Zusammenhang. Aber es gibt natürlich Probleme, die in solchen Einrichtungen auftreten, und deswegen sollten wir doch alles daran setzen, eine Politik umzusetzen, die diesen Problemen entgegenwirkt, und da sind die Ankerzentren aus meiner Sicht der völlig falsche Weg. Heinlein: Soweit die grüne Innenexpertin Irene Mihalic. Wir haben das Gespräch kurz vor dieser Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Irene Mihalic im Gespräch mit Stefan Heinlein
"Ich sehe nicht, dass der Rechtsstaat in die Knie gegangen ist", sagte die Grünen-Politikerin Irene Mihalic im Dlf zu den Vorfällen in Ellwangen. Zu überdenken sei aber die Unterbringung von Geflüchteten in Sammelunterkünften, weil dies die Ausbildung von Kriminalität begünstige.
"2018-05-03T23:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:49.738000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ellwangen-mihalic-ankerzentren-der-voellig-falsche-weg-100.html
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"Der Euro ist nicht für alle gleich gut"
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (Imago) Tobias Armbrüster: Als Emmanuel Macron vor über einem Jahr in den Elysee-Palast eingezogen ist, da lag ihm als neuem französischen Präsidenten vor allem ein Thema am Herzen: eine Erneuerung der Europäischen Union, vor allem eine Erneuerung der Währungsunion. Er hat dazu mehrere Vorschläge vorgelegt, unter anderem für einen Europäischen Währungsfonds und größere Investitionen in den krisengeschüttelten Mitgliedsländern. Und danach hat er erst mal gewartet, wochenlang, monatelang. Und dann vorgestern, am Sonntag, da hat zum ersten Mal Angela Merkel so richtig geantwortet – nicht im Bundestag, nicht bei einer öffentlichen Rede, sondern im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Am Telefon ist jetzt Günter Verheugen. Er war von 1999 bis 2010 in verschiedenen Funktionen für die EU-Kommission tätig, unter anderem als Erweiterungskommissar. Schönen guten Morgen! Günter Verheugen: Guten Morgen! Armbrüster: Herr Verheugen, wie müssen wir uns das vorstellen? Hat diese Antwort von Angela Merkel Jubel und Begeisterungsströme ausgelöst im Elysee-Palast? Was schätzen Sie? Verheugen: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Die Reaktion aus dem Elysee war zwar positiv, aber doch sehr verhalten. Das Ganze wirkt ja wie eine Pflichtübung. Man hat das Gefühl, die Bundeskanzlerin habe gesagt, na ja, damit der Macron endlich Ruhe gibt, muss man jetzt endlich was machen. Aber es ist kein Konzept. Es ist keine, in die Zukunft weisende Orientierung, die mit diesem Interview gegeben wird, sondern eine ganze Reihe von Versatzstücken werden da angeboten und jedes einzelne dieser Versatzstücke, das die Kanzlerin anbietet, wirft eine ganze Menge von Fragen auf, die sie nicht beantwortet hat. "Es geht nicht nur um einen neuen Haushalt" Armbrüster: Können Sie uns da ein Beispiel nennen? Verheugen: Zum Beispiel: Sie haben ja eben schon hingewiesen auf die Idee eines Europäischen Währungsfonds und auf die Idee eines zusätzlichen Investitionshaushaltes. Wenn wir einen Europäischen Währungsfonds machen, was ist der Unterschied zum IWF? Werden wir dann aus dem IWF rausgehen, oder wie wird unsere Rolle im IWF sein? Und warum wollen wir einen Europäischen Währungsfonds in einem Projekt, bei dem es darum geht, die europäische Gemeinschaft zu stärken, der nicht innerhalb der Gemeinschaft organisiert wird, sondern zwischen den Staaten? Hier halte ich die Kritik der Grünen für absolut berechtigt zu sagen, das muss selbstverständlich, wenn überhaupt, eine Gemeinschaftseinrichtung sein. Was den zusätzlichen Haushalt angeht: Die Kommission gibt im Jahr zwischen 50 und 60 Milliarden Euro aus für die verschiedenen Strukturfonds. Und jedes Jahr wird verkündet, das sei ein großer Erfolg. Die Wahrheit ist völlig anders. Mit dem vielen, vielen Geld, was wir aus dem Gemeinschaftshaushalt ausgeben für die Strukturfonds, wird ein nur sehr geringer ökonomischer Effekt erzielt. Es geht nicht um einen neuen Haushalt. Worum es wirklich geht ist, die Mittel, die zur Verfügung stehen, sinnvoll und effektiv einzusetzen und zum Beispiel zu konzentrieren auf die Dinge, die die Kanzlerin genannt hat. Aber dazu brauchen wir gar keine neuen Mittel. Es sind genug da. "Ein fundamentales deutsches Missverständnis" Armbrüster: Wenn ich jetzt noch mal auf Ihre Einschätzungen zu sprechen komme. Müssen wir nicht, wenn wir sehen, was zum Beispiel in Italien derzeit passiert, Verständnis für all diejenigen haben, die sagen, lasst uns da mal mit solchen weitreichenden Plänen für weiteres Geld für Europa, möglicherweise für diese ganzen neuen Pläne, lasst uns mal einen Gang zurückschalten und auf Sparflamme fahren, weil so besonders ausgeprägt ist ja zurzeit die Solidarität innerhalb dieser Europäischen Union gar nicht? Verheugen: Ich würde es nicht so ausdrücken, aber im Grundsatz halte ich es für richtig zu sagen, das europäische Problem oder das Problem der Europäischen Union besteht nicht darin, wie wir Geld mobilisieren können für verschiedene Projekte. Wenn man sich die Europäische Investitionsbank ansieht: Die hat so viel Geld; sie weiß überhaupt nicht wohin damit. Es fehlt an brauchbaren Projekten. Es fehlt nicht am Geld. Insofern stimme ich zu zu sagen, die Diskussion geht in die falsche Richtung, wenn nur darüber geredet wird, wieviel Geld wir brauchen. Dahinter steckt ein grundlegendes fundamentales Missverständnis, gerade ein deutsches Missverständnis. Wir gucken immer auf den Haushalt und nichts sonst. Uns interessiert die schwarze Null und was weiß ich, dass ganz genau eingehalten werden die Vorschriften des Stabilitätspaktes. Aber wir verweigern den Blick auf die Lage der Realwirtschaft. Was ist wirklich in den Ökonomien der einzelnen Mitgliedsländer los. Da führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der Euro ist nicht für alle gleich gut. Und das ist nicht eine Folge der Politik, die diese Länder betreiben, sondern das ist ein Strukturproblem, das wir von Anfang an hatten, und wir tragen dazu bei als Deutsche, dieses Strukturproblem zu vergrößern, indem wir nichts, aber auch gar nichts tun, um unsere gewaltigen Exportüberschüsse abzubauen. Im Interview der Kanzlerin war auch davon mit keinem Wort die Rede, welchen Beitrag Deutschland leistet zur Destabilisierung der Wirtschaft in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern. Das fehlt hier. "Instrumente für gemeinsame Außenpolitik haben wir" Armbrüster: Was raten Sie dann Emmanuel Macron? Was sollte er zurückantworten? Verheugen: Wir befinden uns hier auf der Ebene der allerhöchsten Diplomatie. Da geht man höflich und freundlich miteinander um, normalerweise jedenfalls. Aber er konnte ja nicht viel anderes sagen als das, was er im Elysee-Palast jetzt gesagt hat: Wir sind zufrieden. Aber ich denke, dass im vertraulichen Gespräch er sagen muss, dass die einzelnen Punkte deutlich konkretisiert werden müssen. Es gibt ja noch einen anderen, der Macron sehr am Herzen liegt und wo die Kanzlerin erstaunlich vage geblieben ist. Das ist dieser ganze Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Es fällt ja auf, dieses Interview hat zwei wirkliche Schwerpunkte. Das eine ist die Zukunft der Währungsunion, das andere ist die Frage der Selbstbehauptung Europas, was die Kanzlerin interpretiert als die Fähigkeit zur gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, oder sie sagt Sicherheitspolitik. Interessanterweise sagt sie aber nicht, dass wir dahin nur kommen können, wenn wir in der Außenpolitik die Mehrheitsentscheidung einführen. Denn Instrumente für eine gemeinsame Außenpolitik, die haben wir ja in großer Zahl. "Nachsitzen und Nachbessern!" Armbrüster: Herr Verheugen, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Aber muss an dieser Stelle nicht spätestens dem französischen Präsidenten klar sein, dass er mit einer sehr zurückhaltenden Antwort rechnen muss, gerade von Deutschland, gerade von einem Deutschland, wo Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer extrem auf dem Prüfstand steht? Verheugen: Ja. Das ist nicht nur in Deutschland so. Das ist überall so. Ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass wir zu einer wirklich gemeinschaftlichen Außen- und Sicherheitspolitik kommen werden, bevor nicht eine Endphase in der Entwicklung der europäischen Integration erreicht wird. Aber einzelne Schritte kann man schon tun. Zum Beispiel ist es ganz vernünftig zu sagen, wir schauen uns mal an, was in den einzelnen Mitgliedsländern im militärischen Bereich gemacht wird, ob man hier nicht Synergieeffekte erzielen kann. Es ist allerdings vor 15 Jahren schon beschlossen worden, das zu machen. Die Ergebnisse sind zu besichtigen in Brüssel und sie sind sehr ernüchternd. Armbrüster: Wie lässt uns das jetzt alles zurück? Was heißt das für die deutsch-französischen Beziehungen, auch für diesen immer wieder beschworenen deutsch-französischen Motor in der Europäischen Union? Verheugen: Für mich heißt das Nachsitzen in Berlin. Dieses Interview, das kann nicht alles sein. Das bleibt auch unter dem Anspruch dieser Regierung zurück, unter dem Anspruch, den der Koalitionsvertrag erhebt, in dem ja die Europapolitik – und da waren die Akteure ja sehr stolz darauf – an erster Stelle steht. Die Europapolitik sollte das Markenzeichen dieser Großen Koalition sein. Da kann ich nur sagen: Nachsitzen und Nachbessern. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Günter Verheugen im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Zukunft der EU kritisiert. Deutschland verweigere den Blick auf die Lage der Realwirtschaft in den Mitgliedsländern und trage zu deren Destabilisierung bei, sagte Verheugen im Dlf.
"2018-06-05T08:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:55:27.403000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/guenter-verheugen-der-euro-ist-nicht-fuer-alle-gleich-gut-100.html
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Psychiater: "Arbeitsatmosphäre spielt eine große Rolle"
"Die Arbeitsatmosphäre oder der Führungsstil am Arbeitsplatz spielt eine große Rolle und da stehen die Dinge in vielen Arbeitsstätten in Deutschland nicht zum Besten", sagte der Psychiater Joachim Bauer (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg) Der Internist und Psychiater Joachim Bauer beschäftigt sich mit depressiven Erkrankungsformen und Angststörungen. Im Dlf wies er darauf hin, dass der Burn-out eine Vorstufe für eine depressive Erkrankung sein könne. Beides - sowohl Burn-out als auch depressive Erkrankungen - seien Folgen von psychischen Stressbelastungen. Bauer nannte drei wichtige Punkte, die kritisch seien für den Erhalt oder die Bewahrung der Gesundheit am Arbeitsplatz: 1. Anerkennung und Wertschätzung "Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass die Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung eine ganz kritische Balance ist, weil das menschliche Gehirn sehr sensibel reagiert, wenn wir Verausgabung zwar leisten müssen, aber keine Wertschätzung zurückbekommen. Das heißt: Die Arbeitsatmosphäre oder der Führungsstil am Arbeitplatz spielt eine große Rolle und da stehe die Dinge in vielen Arbeitsstätten in Deutschland nicht zum Besten." 2. Zeit und Leistungsdruck verdichten sich Nach Angaben des Psychiaters fühlen sich etwa die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland permanent gehetzt. 3. Ständige Erreichbarkeit Joachim Bauer wies auf die fehlende Trennung zwischen Berufswelt und Privatleben hin. "Das hat natürlich mit den digitalen Endgeräten und dem Internet zu tun, die uns ständig erreichbar machen, auch wenn wir zu Hause sind", sagte Bauer im Dlf. Das versetze in Stress und habe auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Nach Angaben des Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse sind Arbeitnehmer noch nie so häufig wegen psychischer Leiden krankgeschrieben worden wie im vergangenen Jahr. Psychische Erkrankung sind für rund 19 Prozent aller Fehlzeiten verantwortlich, so ein Sprecher der Techniker Krankenkasse. Betroffenen Berufsgruppen Während früher die körperliche Arbeit und damit der Verschleiß im Vordergrund gestanden hätten, würde sich die Belastungen heute vor allem im psychischen und mentalen Bereich abspielen. Für Burn-out und Depression besonders gefährdet seien Berufe, in denen Menschen anderen Menschen helfen. Bauer nannte Pflegekräfte in Kliniken und Seniorenheimen, Lehrkräfte in Schulen. "Wir haben hohe Belastungen aber auch mittlerweile bei den Erzieherinnen und Erziehern", unterstrich der Mediziner. Abschalten von der Arbeit zur Regeneration Es sei wichtig, das man abends abschalten könne. Studien hätten gezeigt, dass Menschen, die sich einerseits voll engagierten, aber abends abschalten können weniger betroffen wären. Ein deutlich höheres Risiko wiesen Menschen auf, die sich sehr stark engagierten, aber dann nicht abschalten könnten. "Die quasi im Kopf die Arbeit überall hin mitnehmen, in den Feierabend, ins Wochenende und manchmal sogar in die Ferien. Diese Überidentifikation, also diese Unfähigkeit zur Distanzierung von der Arbeit, die ist mit einem deutlichen Risiko für psychisch beziehungsweise mentale Störungen verbunden", sagte Bauer. Selbstfürsorge zur Stressvermeidung Zur Vermeidung von arbeitsbedingtem Stress seien eine angenehme Arbeitsatmosphäre und ein guter Führungsstil bedeutend. Auf Seiten der Beschäftigten sei eine gute Selbstfürsorge wichtig.
Joachim Bauer im Gespräch mit Britta Fecke
Permanent erreichbar, Leistungsdruck und keine Anerkennung - hohe Arbeitsbelastung kann krank machen. Viele Beschäftigte in Deutschland fühlten sich im Job permanent gehetzt, sagte der Psychiater Joachim Bauer im Dlf. Besonders hoch sei der Druck in Pflege- und Erzieherberufen.
"2020-02-02T07:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:50:15.304000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/depressiv-und-krankgeschrieben-psychiater-100.html
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Ethisch heikel oder unbedenklich?
Entnahme von Zellkernen aus embryonalen Stammzellen. (picture alliance / Westend61 / Andrew Brookes)
Schmude, Magdalena
Stammzell-basierte Embryonenmodelle können der Forschung dienlich sein. Doch ethisch wirft das Fragen auf. Die Laborphilosophin Jeantine Lunshof hält die meisten für unbegründet - solange bestimmte Grenzen nicht überschritten werden.
"2023-07-03T16:41:42+02:00"
"2023-07-03T17:26:44.238000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/embryo-organoide-ethische-debatte-um-wissenschaftlichen-einsatz-dlf-5856f9f7-100.html
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Honigbienen können anderen Arten das Leben schwer machen
Für Imker eine Freude, für die weniger effizienten Wildbienen eine ernstzunehmende Konkurrenz: Honigbienen apis mellifera (imago / blickwinkel) Wer an Blümchen und Bestäubung denkt, denkt auch an Bienchen. Und zwar in den allermeisten Fällen an Honigbienen, also jene Bienenart, die in der Obhut von Imkern große Völker bildet. Doch wenn es um Artenschutz geht, greife das zu kurz, sagt Jonas Geldmann: "Es ist nichts daran auszusetzen, sich um Bienen Sorgen zu machen. Es ist aber falsch, sich nur um die Honigbiene zu sorgen. Die ist wichtig für die Landwirtschaft. Für die Natur aber spielt sie keine so große Rolle. Honigbienen sind vielmehr Nutztiere, die nur auf landwirtschaftlichen Flächen Sinn ergeben." Der Biologe von der Universität im englischen Cambridge weist darauf hin, dass intensive Landwirtschaft mit großen Monokulturen und Pestizid-Einsatz zwar auch Honigbienen zusetzen. Doch weil Imker sie umsorgen, geht es Honigbienen grundsätzlich gut. In Deutschland zum Beispiel wächst die Zahl der Bienenvölker seit ein paar Jahren kontinuierlich, weil wieder mehr Menschen imkern. Wildbienen oft viel weniger effizient Der Honigbiene gehe es sogar so gut, dass sie unter Umständen anderen Bestäubern Schwierigkeiten bereiten kann, findet Jonas Geldmann: "Honigbienen sind sehr effizient. Darum können sie so große Kolonien bilden. Sie fliegen bis zu zehn Kilometer aus, wenn sie Nahrung suchen. Und sie können ihren Nestgenossinnen sehr effektiv mitteilen, wo gute Nahrungsquellen zu finden sind. Dort treffen dann sehr rasch sehr viele Honigbienen ein. In natürlichen Lebensräumen treten sie auf diese Weise in direkte Konkurrenz mit wilden Bestäubern." Anders als die Honigbiene sind viele Wildbienen auf Pollen von Pflanzen einer bestimmten Gattung oder sogar einer einzigen Art angewiesen, um ihre Nachkommen aufzuziehen. Die Honigbienen fressen ihren wilden Verwandten aber Nektar und Pollen weg. Außerdem könnten Honigbienen Krankheitserreger auf ihre wilden Verwandten übertragen und die Populationen zusätzlich schwächen. "Honigbienen sind nah mit Wildbienenarten verwandt. Wenn sie dieselben Blüten anfliegen, können sie Krankheitserreger übertragen. " "In natürlichen Biotopen haben Honigbienen nichts zu suchen" Wenn Feldfrüchte wie der Raps blühen und Imker mit ihren Völkern dorthin wandern, um den Raps zu bestäuben und Honig zu produzieren, dann sei das natürlich in Ordnung. Im Sommer aber, wenn die großen Trachten verblüht sind, sollten Imker bei der Platzierung ihrer Völker Rücksicht auf wilde Bestäuber nehmen, sagt Jonas Geldmann: "In natürlichen Biotopen – also auf geschützten Flächen, aber auch auf manchen ungeschützten Flächen mit hohem ökologischen Wert und ohne Landwirtschaft – haben Honigbienen nichts zu suchen." Ähnlich sieht es Otto Boecking. Der Biologe vom Institut für Bienenkunde in Celle ist Experte für Wildbienen. Allerdings hält er die Forderung wegen der zerstückelten Landschaft in Deutschland für schwer umsetzbar: "Wir haben so eine Kleingliedrigkeit, dass eben auch die praktische Frage relevant wird: Wie kann ich es überhaupt verhindern, dass Honigbienen irgendwo hinkommen. Für uns ist es selbstverständlich, dass in einem Naturschutzgebiet, in denen zum Beispiel seltene Wildbienen vorkommen, Honigbienen überhaupt nichts zu suchen haben, und da erinnern wir auch die Imker immer wieder dran. " Kaum Mangel an Trachtquellen für Honigbienen Viele besonders artenreiche Biotope wie zum Beispiel Trockenmagerrasen bieten für Honigbienen gar nicht genügend Nahrung: "Ein Imker hat halt eben den großen Vorteil – und das kann man auch von ihm verlangen –, dass seine Völker mobil sind. Das gilt für die Wildbienen überhaupt nicht, die kann man nicht irgendwie woandershin transferieren. Die sind lokal, wenn sie vorhanden sind, auf ihre Umgebung angewiesen. Wir haben hier in Deutschland keinen Mangel an Trachtquellen für die Honigbienen, es sei denn, wir sind in einer Region, wo die intensive Landwirtschaft schon so weit ausgedehnt ist, dass dann in manchen Jahreszeiten nur noch der Raps blüht, aber da ist insgesamt die Bienenhaltung schwer. " Doch dort ist auch für Wildbienen längst kein Platz mehr.
Von Joachim Budde
Bei Bestäubung dürfe man nicht nur an Honigbienen denken, warnen Biologen der Universität Cambridge im Fachmagazin "Science". Denn es gebe viele andere wilde Bestäuber, die unter den Honigbienen mit ihren riesigen Staaten leiden könnten.
"2018-02-05T16:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:38:03.162000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konkurrenz-der-bestaeuber-honigbienen-koennen-anderen-arten-100.html
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Generation Franziskus
Papst Franziskus durchschreitet zusammen mit jugendlichen Repräsentanten die Heilige Tür auf dem Campus Misericordiae in Brzegi. (AFP / Filippo Monteforte) Nuestra Señora del Carmen - eine katholische Kirchengemeinde im Zentrum von Buenos Aires, der Heimatstadt von Papst Franziskus. Während der Messe am Samstagabend ist die Kirche gut besucht. Der junge, bärtige Vikar hinter dem Altar heißt Patricio Etchepareborda. 2011 wurde er vom damaligen Erzbischof und Kardinal Jorge Bergoglio zum Priester geweiht. Fühlt er sich als Teil einer 'Generation Franziskus' in Argentiniens katholischer Kirche? "In gewisser Weise ja. Das sind wir Priester aus Buenos Aires, die vom heutigen Papst ordiniert wurden, und die wir das Seminar besucht haben, als er Erzbischof war. Das sind aber auch die von Franziskus ernannten Bischöfe aus verschiedenen Diözesen Argentiniens, die auf seiner pastoralen Linie liegen." Priester Patricio Etchepareborda bei seiner Ordination durch den damaligen Kardinal Bergoglio (Deutschlandradio/Victoria Eglau) Patricio Etchepareborda, heute 34, spürte seine religiöse Berufung schon sehr früh: mit zwölf Jahren. Er besuchte in Buenos Aires eine Schule des Maristen-Ordens, und die Teilnahme an Missions-Einsätzen in armen Regionen Argentiniens bestärkte ihn in seinem Wunsch, Priester zu werden. Er erzählt: "Der größte Schritt war dann der Eintritt ins Seminar, und dort die Festigung meiner Berufung, das Theologie-Studium und meine ersten seelsorgerischen Erfahrungen in benachteiligten Vierteln, im Gefängnis, in Krankenhäusern. Das ist üblich im Seminar von Buenos Aires und hat auch etwas mit dem Einfluss des damaligen Erzbischofs Bergoglio zu tun. Mein Weg zum Priestertum war auch ein Weg des Erforschens, ob diese Seelsorge für die Ärmsten und Bedürftigsten das Richtige für mich war." Das Konzept von Kirche, das Franziskus nicht müde wird zu predigen, von Seelsorgern, die rausgehen und wie Hirten den Geruch ihrer Schafe annehmen, hat Pater Patricio verinnerlicht. "In seiner Enzyklika Evangelii Gaudium, Freude des Evangeliums, schreibt der Papst doch, die Kirche müsse sich wie ein Feldlazarett um die Verwundeten kümmern. Franziskus' Ideen stammen direkt aus dem Evangelium. Ein Seelsorger dieser Art will ich sein." Patricio Etchepareborda steht kurz davor, als Missionar nach Angola zu gehen, und hat sich in den vergangenen sechs Jahren als Vikar in zwei Innenstadt-Gemeinden von Buenos Aires intensiv um die Schwächsten der Gesellschaft gekümmert – auch um viele Menschen, die nicht unbedingt regelmäßige Besucher der katholischen Messe sind. Die Gemeinde Nuestra Señora del Carmen hilft Männern und Frauen, die auf der Straße leben, versorgt sie einmal pro Woche mit Frühstück, Kleidung und einer warmen Dusche. Die Kirche unterhält auch einen Hort für Kinder mit familiären Problemen, in dem diese ihre Freizeit verbringen und schulische Unterstützung bekommen. "Suppenküche in seinem Sinne" Buenos Aires, August 2009: Jorge Bergoglio prangert in der Wallfahrtskirche San Cayetano an, immer mehr Menschen schliefen auf der Straße. Der heilige Kajetan wird in Argentinien vor allem von den sozial schwachen Schichten verehrt. Jedes Jahr am 7. August pilgern Zehntausende von Gläubigen in den Stadtteil Liniers, um San Cayetano um Brot und Arbeit zu bitten. Erzbischof Bergoglio war in dieser Kirche ein häufiger Gast. Und oft schalt er die Regierenden für die Armut, von der in Argentinien – egal, wer an der Regierung war – mehr oder weniger ein Drittel der Gesellschaft betroffen ist. Eduardo Drabble, Priester in San Cayetano: "Manche Leute danken hier für Brot und Arbeit, und andere bitten darum. Leute, die keine Arbeit finden, fallen nach einer Zeit aus dem System. Das ist das, was Franziskus verurteilt: ein Wirtschaftssystem, das viele Menschen ausschließt. Am Anfang baten Pilger hier um etwas Essen und Kleidung, und heute hat diese Wallfahrtskirche einen riesigen Sozialdienst: Lebensmittelspenden, Sozialarbeiter, eine Jobbörse, Berufsbildungskurse, Rechtsanwälte, und eine Suppenküche für zweihundert Bedürftige. Ganz im Sinne von Franziskus!" Auch Eduardo Drabble ist vom heutigen Papst zum Priester geweiht worden. Wenn er nicht gerade die Messe feiert, trägt der Argentinier Jeans und Pulli. In der Wallfahrtskirche San Cayetano packen die Pfarrer mit an, wenn Lebensmittel gesammelt und Suppenportionen ausgeteilt werden. Die meisten von ihnen sind noch jung. "Was Franziskus der Welt vermittelt, ist für uns nichts Neues. Diese Auffassung von Kirche hat er uns hier in Argentinien vermittelt und wir haben sie aufgesogen. In ihr liegt unsere Leidenschaft für das Priesteramt begründet. Dass wir hier sind, liegt größtenteils daran, dass Franziskus uns mit seinem Lebensstil begeistert hat." Elendsviertel statt Bischofsitz Im Erzbistum Buenos Aires gibt es seit vergangenem Dezember einen neuen Bischof: Der 44-jährige Gustavo Carrara erhielt vom heutigen Papst vor zwanzig Jahren die Priesterweihe und ist jetzt von ihm zum Weihbischof ernannt worden. Bischof Carrara, ein schmaler, ernster Mann mit Bart, empfängt Besucher nicht am Sitz des Erzbistums in der Innenstadt, sondern weiterhin im Elendsviertel Bajo Flores, wo er seit vielen Jahren Seelsorger ist. Seine Gemeinde Santa Maria Madre del Pueblo befindet sich am Rande der wildwuchernden Siedlung mit ihren verwinkelten, staubigen Gassen und den ärmlichen Behausungen aus Ziegelstein und Wellblech. Als Weihbischof ist Gustavo Carrara nun für die katholischen Gemeinden in allen Elends-Enklaven von Buenos Aires zuständig. In den Armenvierteln leben rund 250.000 Menschen, fast ein Zehntel der Stadtbevölkerung. Die Zahl der Priester, die dort leben und arbeiten, wurde von Erzbischof Jorge Bergoglio deutlich aufgestockt. Er selbst war ein häufiger Besucher der Elendsviertel. Dort, wo der Staat nicht genug Präsenz zeigt, kümmern sich die Gemeinden mit Hilfe von Laien und Freiwilligen um Drogenabhängige und bemühen sich, Jugendliche vor Sucht zu bewahren. In Bajo Flores etwa unterhält die Kirche eine Oberschule und eine Berufsschule, und organisiert diverse Freizeitangebote für die jungen Bewohner der Siedlung. Gustavo Carrara erklärt: "Ganz klar hat Jorge Bergoglio meine Arbeit als Priester geprägt. Einerseits durch seine väterliche, barmherzige Nähe, und andererseits durch seine Einfachheit und seine ganz konkrete Liebe zu den Ärmsten der Armen. Weil er seinen Glauben im Sinne des heiligen Paulus durch Nächstenliebe lebte. Als der Papst noch hier bei uns in Buenos Aires war, hat er uns Priester dazu ermuntert, so zu handeln wie Hirten, die ihr Leben für ihre Herde geben." Gustavo Carrara hat Jorge Bergoglio nicht wiedergesehen, seit dieser im März 2013 zum Konklave nach Rom flog und Papst wurde. Er kommuniziert mit Franziskus per E-Mail und manchmal ruft dieser ihn an. Der Armenpriester ist selbst noch nie im Vatikan gewesen, aber im September wird er dort an einem Lehrgang für Bischöfe teilnehmen und den Papst treffen. Ein großer Bogen ums Heimatland Einen Besuch in seiner Heimat hat Franziskus bislang nicht geplant. Bei vielen Argentiniern stößt das mittlerweile auf Erstaunen oder sogar Unverständnis. Bischof Carrara plädiert für weniger Engstirnigkeit: "Die Vorstellung, dass der Papst nur an Argentinien denkt, ist doch etwas beschränkt, nicht wahr? Wir Argentinier sollten mehr auf seine Botschaft hören. Ich sage immer, man muss versuchen, Franziskus Worte und Gesten so zu hören und zu lesen wie sie sind – also die Essenz, ohne Interpretationen. Ich glaube, dies ist ein großer Moment: Gottes Geist verkörpert sich in Franziskus', aber diese Dimension erfassen viele nicht." "Ich würde mich sehr freuen, wenn er käme. Ich bin sicher, dass Franziskus uns besuchen will, und wir werden ihn mit offenen Armen empfangen. Bis dahin müssen wir Geduld haben. In seinem Kopf und Herzen wird der Papst wissen, wann der richtige Moment gekommen ist", sagt Andrés Caminal, Schüler am Seminario Metropolitano in Buenos Aires. In das katholische Priesterseminar eingetreten ist er 2013 – dem Jahr, in dem Franziskus' Pontifikat begonnen hat. Der 32-jährige hat den Papst persönlich kaum gekannt, und seine Entscheidung, Priester zu werden, hatte nichts mit Jorge Bergoglios Wahl an die Kirchenspitze zu tun. Der argentinische Priesterseminarist Andrés Caminal (Deutschlandradio/Victoria Eglau) Aber Andrés Caminal fühlt sich durch Franziskus' Wirken in seiner Berufung bestärkt: "Ich glaube, seine Kirche ist die von Jesus. Der Papst lässt sich einzig und allein davon leiten, was Jesus im Evangelium sagt. Für mich ist dies ein attraktiver Moment. Dass ich weiter Ja zu Jesus sagen kann, liegt daran, dass ich eine lebendige Kirche sehe, die den Menschen nahe ist, die sie in ihrer individuellen Lebenssituation begleitet und nicht gleichgültig ist." Neun Jahre dauert die Priester-Ausbildung in Argentinien. Dazu gehören neben Theologie- und Philosophie-Studien ein praktisches Jahr in einer Gemeinde sowie der einjährige Einführungskurs mit einem großen spirituellen Anteil, der der Festigung der religiösen Berufung dienen soll. Als der heutige Papst das Erzbistum von Buenos Aires leitete, wurde am Seminar auch ein spezieller Einführungskurs für junge Männer aus den Elendsvierteln eingerichtet. Mit dem Ziel, ihr Bildungsniveau dem der anderen Seminaristen anzugleichen. Der Priesterschüler Joaquín Pousadela stammt zwar selbst aus einem Mittelklasse-Stadtteil, aber sein Wunsch, ein religiöses Leben zu führen, reifte in einem Armenviertel von Buenos Aires, wo er ehrenamtlich die Kirchengemeinde unterstützte. "Dank Franziskus habe ich Priester kennengelernt, die für mich Vorbild und Motivation waren. Denn hier in Buenos Aires hat er ja die Präsenz der Kirche in den Elendssiedlungen verstärkt, und es war ein Armenpriester, der mich in sein Viertel geholt hat. Dort habe ich Gott gefunden. Also, es hat schon etwas mit Franziskus' Einfluss zu tun, dass ich mich für ein Leben in der Kirche entschieden habe." Bergoglios politische Sympathien Die umstrittene Frage, wie Jorge Bergoglio sich als junger Jesuiten-Provinzial während der Diktatur verhielt, ob er zwei Padres seines Ordens den Schutz entzog und sie deshalb von den Militärs verschleppt wurden, ist für die Priester von heute kein Thema. Die argentinische Gesellschaft insgesamt interessiert sich kaum noch für dieses nicht abschließend geklärte Kapitel in Franziskus' Biografie. Marcelo Colombo ist Bischof der tief katholischen Provinz La Rioja im Nordwesten Argentiniens. 2013 hat der Papst ihn ernannt. Damit gehört Colombo, inzwischen auch Vize-Präsident der nationalen Bischofskonferenz, zur 'Generation Franziskus'. Er gilt als Verteidiger der Umwelt und liegt damit auf Papstlinie: In La Rioja vermittelte er in einem Konflikt zwischen Gegnern des Gold-Bergbaus, einem Minenbetreiber und der Provinzregierung. Das Ergebnis: Der geplante umweltschädliche Gold-Abbau fand nicht statt. Wie Franziskus selbst scheut auch Bischof Colombo keine Kritik an der Politik: So mahnte er 2016 in einer Predigt die Regierung des liberalen Präsidenten Mauricio Macri wegen ihrer Wirtschaftspolitik. Obwohl er Macri nicht beim Namen nannte, war klar, von wem der Bischof sprach. "Es ist dramatisch gefährlich, Maßnahmen nach der Methode 'Versuch und Irrtum' in Gang zu setzen. Bevor die Regierung wirtschaftspolitische Entscheidungen trifft, muss sie sicherstellen, dass diese keine negativen Folgen für die sozial Schwachen haben." Auch der Papst, glauben viele Argentinier, sympathisiere nicht mit dem Wirtschaftsliberalen Macri. Womöglich habe er seine Heimat deshalb noch nicht besucht. Die Kritiker Bergoglios, die es in Argentinien durchaus gibt, werfen ihm eine Nähe zur politischen Bewegung des Peronismus' vor: die linksperonistische Ex-Präsidentin Cristina Kirchner habe er viel zu oft empfangen. "Für oder gegen Kirchner, für oder gegen Macri – das ist meiner Meinung nicht die richtige Logik, um den Papst zu verstehen", gibt der von Franziskus ernannte Weihbischof Gustavo Carrara zu bedenken. "Der Papst sagt manchmal Dinge, die in der heutigen Zeit störend klingen. Aber er predigt nur das Evangelium, etwa Jesus' Worte aus Lukas 16: Ihr müsst Euch entscheiden, ob Ihr Gott oder dem Geld dienen wollt." Auch der junge Priester Patricio Etchepareborda zeigt sich irritiert. "Es gibt in unserem Land wirklich viel Kritik am Papst, und das gefällt mir nicht. Mir scheint, wir Argentinier sind wirklich sehr egoistisch", sagt er. "Uns beschäftigt, ob der Papst kommt oder nicht, wir haben diese Erwartungshaltung, statt uns zu fragen, was eigentlich Gott von uns erwartet. Die Argentinier sind gut darin, das Team auf dem Spielfeld zu kritisieren, aber selbst auf der Tribüne zu bleiben. Ich vertraue in die guten Absichten von Franziskus. Natürlich kann auch er sich mal irren, der Papst ist ja auch nur ein Mensch!" "Franziskus-Effekt" oder Priestermangel In seiner Heimat weiß der Papst einen großen Teil der Priester und Bischöfe hinter sich. Aber einen "Franziskus-Effekt" bei den geistlichen Berufungen hat es bislang zumindest nicht gegeben. Besorgt darüber ist Alejandro Giorgi, Weihbischof in Buenos Aires und Leiter der argentinischen Berufungspastoral: "2013 haben wir mit einer Welle von Eintritten in die Priester-Seminare gerechnet. Hier und da sind die Zahlen zwar etwas in die Höhe gegangen, aber einen Boom von Berufungen, ausgelöst durch Franziskus, nein, den erleben wir nicht. Die negative Tendenz hält an: In Argentinien und vielerorts in Lateinamerika sind die Berufungen seit mehr als einem Jahrzehnt rückläufig." Am Seminario Metropolitano von Buenos Aires gab es in den 1980er Jahren zeitweise mehr als 200 Seminarschüler, vor fünfzehn Jahren waren es nur noch rund hundert, heute sind es um die siebzig. In anderen Landesteilen sieht es kaum besser aus. Schon heute herrscht an einigen Orten Priestermangel, und dieses Problem könnte zunehmen. Argentinien ist zwar ein katholisches Land, aber viele Menschen praktizieren die Religion nicht, und ein großer Teil der jungen Generation hat gar keinen Bezug zum Glauben. Weil die Situation in vielen Ländern ähnlich ist, hat der Papst für den Herbst eine Jugendsynode einberufen. Weihbischof Giorgi ist in Argentinien mit der Vorbereitung beschäftigt. Er hat die Fragebögen gesehen, die junge Argentinier ausgefüllt haben, und ist ernüchtert: "Die Kirche und die Jugend sind weit voneinander entfernt. In den Gemeinden engagieren sich viel weniger junge Leute als früher. In den Fragebögen der Synode ist klar zu erkennen: Wir als argentinische Kirche müssen uns aktiv um Jugendliche bemühen." Wenn immer weniger Jugendliche mit Kirche etwas anfangen können, verwundert es nicht, dass die Priesterberufungen zurückgehen – das gilt für Argentinien genauso wie für viele europäische Länder. "Wir bieten momentan keinen Nährboden, in dem Berufungen wachsen können. Es fällt uns als Kirche sehr schwer, junge Menschen dabei zu begleiten, zu Jesus Christus zu finden und sich für ihn zu entscheiden." Zurück in der Kirche Nuestra Señora del Carmen. Vikar Patricio Etchepareborda weiß um das Nachwuchsproblem der argentinischen Kirche. Aber er ist weniger pessimistisch als der Bischof, was die Beteiligung der Jugend am kirchlichen Leben angeht. In seine Gemeinde kämen junge Menschen zum Beten und um sich sozial zu engagieren, erzählt der Priester. "Im Vergleich zu vielen anderen Ländern, wo das durchschnittliche Alter der Kirchenbesucher oft sehr hoch ist, geht es uns hier in Buenos Aires noch gut. Ich sehe durchaus auch eine junge, aktive Kirche. Das hat etwas mit dem Einfluss von Bergoglio zu tun, als er noch Erzbischof unserer Diözese war. Wenn jemand die Kirche öffnet und auf die Menschen zugeht, wenn Jugendliche sich geliebt und unterstützt fühlen, dann kommen sie. In diesem Sinne gab es hier einen Franziskus-Effekt."
Von Victoria Eglau
Blechkreuz, Kassenbrille, ausgelatschte Schuhe: Vor fünf Jahren staunte die Öffentlichkeit über den neuen Papst aus Argentinien. In seiner Heimat eifern junge Geistliche ihm nach und gehen an die Ränder der Gesellschaft. Die Kirche der Armen bleibt jedoch arm an Berufungen.
"2018-03-07T20:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:41:08.806000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katholische-kirche-generation-franziskus-100.html
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Überwachung in der "digitalen Diktatur"
Im Internet ist die Überwachung nicht so präsent wie hier am Kieler Landtag, die gesammelten Daten sind dafür umso umfangreicher. (picture alliance / dpa / Markus Scholz) Alle Jahre wieder ist es soweit. Im kalifornischen Cupertino hält die Firma Apple unter großer öffentlicher Anteilnahme eine als Hochamt des Technologiefortschritts getarnte Produktpräsentation ab. Tim Cook: "...the top selling smartphone in the world." Die nie zu erlahmen scheinende Begeisterung der Apple-Fans für die neuesten iPhones wirkt verstörend, wenn man sich gleichzeitig vor Augen hält, welche Möglichkeiten die Smartphone-Technologie, sei sie von Apple oder von anderen Anbietern, für die Überwachung jedes Einzelnen bereithält. Die Autoren Thomas Ammann und Stefan Aust schreiben: "Mit dem Smartphone tragen wir selbst den eifrigsten Spion ständig mit uns in der Tasche herum. Er sendet unter anderem permanent den Standort, liefert Mails, Fotos, persönliche Notizen und Listen aller Kontakte inklusive der dazugehörigen Daten. Ungebetenen Lauschern kann er als jederzeit an- und abschaltbares Mikrofon dienen. Und die Ortung mobiler Geräte ist eines der wichtigsten Instrumente für die Fahndung nach Zielpersonen – auch beim 'Targeted Killing', dem gezielten Töten mit Drohnen, in Afghanistan oder im Irak. Diese digitalen Begleiter senden einen nie endenden Strom an Informationen, ohne dass wir davon etwas bemerken. Oder wie es ein NSA-Analytiker in einer geheimen Präsentation im Jahr 2011 vor Kollegen ausdrückte: 'Sie sind alle Zombies, und sie zahlen sogar noch dafür'." Bürger im Unklaren Während die staatliche Volkszählung in den 80er Jahren noch auf großen Widerstand in der deutschen Bevölkerung stieß, überlassen die meisten Bürger heute freiwillig ihre privatesten Daten kommerziellen Firmen wie Google oder Facebook. Sie machen sich nicht klar, dass sich durch die Verknüpfung einzelner Datenspuren - also beispielsweise ihrer Buchvorlieben bei Amazon mit ihrem Freundeskreis in sozialen Netzwerken - Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit ziehen lassen. Mehr noch: das ganze Leben eines Menschen lässt sich durchleuchten, wie Ammann und Aust darlegen. Gegen Big Data, also den Datenberg, den jeder von uns mit seinen Aktivitäten im Internet hinterlässt, sei George Orwells Big Brother nur ein Zwerg, meinen die Autoren. Die vollständige Überwachung der Bevölkerung ist, das wissen wir spätestens seit den Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden, nicht mehr nur eine mögliche Zukunftsvision. Wie der NSA-Skandal gezeigt hat, haben große Firmen – teils freiwillig, teils unfreiwillig – die Daten ihrer Nutzer an den Geheimdienst weitergegeben – eine Public Private Partnership der besonderen Art. Vielen Bürgern sei immer noch nicht klar, was das bedeutet, sagte Stefan Aust in der ARD. "Diese totale Kontrolle, der der Mensch sich teils freiwillig, teils unfreiwillig unterwirft, ist, wenn Sie so wollen, eine Art von Diktatur. Und ich glaube, es ist wahrscheinlich die strengste Diktatur, was die Überwachung anbetrifft, die es jemals auf dieser Erde gegeben hat." Vor dieser Diktatur wollen der Publizist und ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust und sein Co-Autor, der stellvertretende Stern-Chefredakteur Thomas Ammann, warnen. Beide haben so gut wie alles zusammengetragen, was sich zu den Themen Internet und Überwachung finden lässt: von den Ursprüngen des Netzes aus einer Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums bis hin zur Subkultur der Hackerszene, die schon früh die Janusköpfigkeit des Internets erkannt hat – das Versprechen grenzenloser Informationsfreiheit gepaart mit der Angst um die Datensicherheit. Auch die Snowden-Enthüllungen werden noch einmal ausführlich referiert. Vieles ist natürlich schon bekannt, doch die Zusammenstellung ist wichtig, weil dadurch das ganze Ausmaß dessen, an was wir uns schon gewöhnt haben, deutlich wird. Es ist dabei das große Verdienst der Autoren, auch die beiden ersten Cyber-Dissidenten aus den Reihen der NSA, nämlich den ehemaligen Technischen Direktor William Binney und den Softwarespezialisten Thomas Drake, ausführlich zu würdigen. Sie hatten schon vor Snowden vor flächendeckender Überwachung ohne ausreichende Legitimierung gewarnt. Doch ohne Wirkung – wie der weitere Ausbau der NSA-Infrastruktur zeigt. Aust und Ammann schreiben. Das mächtigste Computerzentrum der Welt "Amerikas ehrgeizigstes Projekt liegt mitten im Niemandsland. Ein halbes Dutzend gigantischer Betonquader erhebt sich in der Wüste des Bundesstaats Utah, am Fuße der Rocky Mountains. Sie sind bogenförmig angeordnet auf einem Gelände, das so groß ist wie fünfzig Fußballfelder, abgeschirmt hinter Stacheldraht und hohen Mauern, rund um die Uhr bewacht von bewaffnetem Personal. Fremde sind hier unerwünscht. Die Anlage ist fünfmal so groß wie das Wahrzeichen der amerikanischen Demokratie, das Capitol in Washington. (...) Wie es innerhalb der Betonmauern aussieht, zählt zu den größten Staatsgeheimnissen der USA." Das mächtigste Computerzentrum der Welt kann, so Aust und Ammann, die elektronische Kommunikation des gesamten Planeten, die Telefonate, E-Mails, Kurznachrichten, Blogs, Chats und die dazugehörigen Metadaten speichern. Nicht ohne Grund nennen die Anwohner den Komplex "Spy-Center". Doch es wäre zu kurz gegriffen, nur vor den Amerikanern zu warnen, meint Thomas Ammann: "Das nächste große Technikversprechen unseres Jahrhunderts ist das 'Internet der Dinge'. Der Kühlschrank sendet Daten, die Zahnbürste sendet Daten, Ihre Kleidung. Armbänder gibt es schon, die den Puls messen. Wenn Sie das miteinander verknüpfen und überlegen, wo die Daten überall erscheinen können, könnte Ihre Krankenkasse beispielsweise Interesse daran haben, zu sagen: Was hat der eigentlich in seinem Kühlschrank?" Es wäre Zeit, so das Fazit dieses so gut geschriebenen wie aufrüttelnden Buches, den Datenschutz verstärkt auf die politische Agenda zu setzen. Das digitale Ich, so schreiben Ammann und Aust, müsse die gleichen Rechte bekommen wie das "reale Ich". Ergänzen sollte man noch, dass diese Rechte dann auch durchgesetzt werden müssen. Doch davon sind wir, so ist die politische Realität, leider noch weit entfernt. Stefan Aust und Thomas Ammann: "Digitale Diktatur. Totalüberwachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg"Econ Verlag, 352 Seiten 19,99 EuroISBN: 978-3430201827
Von Brigitte Baetz
Die Datenberge, die Unternehmen und Geheimdienste zusammentragen, sind immens. Diese Kontrolle führt in eine Diktatur, warnt der ehemalige Spiegel-Chef Stefan Aust. Zusammen mit dem stellvertretenden Stern-Chefredakteur Thomas Ammann hat er ein Buch geschrieben, das aufrüttelt.
"2014-10-27T19:15:00+01:00"
"2020-01-31T14:10:33.507000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/datenspuren-im-netz-ueberwachung-in-der-digitalen-diktatur-100.html
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Lückenhafte Versprechungen
Entfernter Computervirus (imago stock&people) Umfangreich sind die Versprechen, wenn man im Handel die Verpackungen von Sicherheitssoftware betrachtet. "Hält Ihren Computer frei von Viren und anderen Schadprogrammen. Alle unsicheren Links, Downloads und E-Mail-Anhänge werden geblockt." zum Beispiel. Oder: "Absolute Onlinesicherheit. Schützt Sie vor Hackern." "Also, Klappern gehört ja zum Handwerk eines Verkäufers. Und dass natürlich die Anti-Viren-Hersteller und andere Sicherheitslöser, praktisch Problemlöser, dort viel Versprechen ist vollkommen klar", sagt Arne Schönbohm, der Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik BSI. Schönbohm glaubt, dass die Hersteller in den vergangenen Jahren schon besser geworden seien. Aber halten sie ihre Versprechen auch? Recherchen von ZDF Frontal21 und Deutschlandfunk lassen daran Zweifel aufkommen. Test-Mails belegen Lücken "Die Antivirensoftware hat verschiedene Methoden, mit denen sie vorgeht. Allgemein wird damit gearbeitet, dass man bösartige Muster kennt, bösartige Programme kennt, und auch bösartiges Verhalten kennt," erklärt der Heidelberger Sicherheitsforscher Matthias Luft. Er ist Spezialist für das Erkennen von Onlinebedrohungen. Doch was passiert, wenn alte Viren umgeschrieben, neu verpackt werden und als neue Viren an Systeme geschickt werden? Luft baut aus altbekannten Bedrohungen neue Schadsoftware zusammen – zu Testzwecken. Per E-Mail schickt er die wenig verdächtig wirkende Software an einen Empfänger: "Das Opfer hat den Anhang in der E-Mail dann geöffnet. Das passiert leider häufig, weil viele Phishing-Mails sehr gut getarnt sind. Und weder die E-Mail noch das Öffnen der Datei wurde dann von der Antivirenlösung als bösartig markiert oder verhindert oder die Datei gelöscht." Keine der fünf aktuellen Sicherheitslösungen der Stichprobe hat Matthias Lufts Angriff aufhalten können, auch wenn manche Produkte ihm mehr Schwierigkeiten machten als andere. Matthias Luft sitzt vor seinem Rechner und sagt, er könne nun "im Prinzip die komplette Kontrolle übernehmen, ich kann Zugangsdaten abgreifen, Online-Banking-Daten abgreifen, ich kann Dateien herunterladen, ich kann auch den Rechner selbst wieder böse Aktionen ausführen lassen, so dass es so aussieht, als ob dieser Rechner diese Aktionen durchführen würde.. im Prinzip ist alles möglich." Ohne Virenschutz besser dran? Doch die Hersteller haben nicht nur mit immer neuen Viren, Mutationen und Angriffen zu kämpfen. Forscher haben in den vergangenen Jahren immer wieder Lücken in der Antivirensoftware selbst gefunden. Der BSI-Präsident Arne Schönbohm sieht die Hersteller in einer besonderen Verantwortung: "Wenn eine Sicherheitssoftware in jeden Raum, bildhaft gesprochen, ihres PCs hineingehen muss, um dort für Sicherheit zu sorgen, dann muss der natürlich auch eine besondere Sicherheitsüberprüfung haben, braucht der natürlich auch bestimmte Sicherheitszertifizierungen, Sicherheitszertifikate, muss dort eine besondere Sorgfaltspflicht walten lassen." Ganz ohne Antivirensoftware ins Netz zu gehen, davon rät der Sicherheitsforscher Matthias Luft Privatnutzern derzeit jedoch ab. Aber: "Spätestens wenn wir in Unternehmensnetze gehen würden, gäbe es absehbar Bereiche, in denen man ohne Virenschutz potenziell sogar besser unterwegs wäre." Hersteller schließen Haftung aus Arne Schönbohm fordert, angesichts zunehmender Digitalisierung die Hersteller von Software insgesamt stärker in die Pflicht zu nehmen. "Wir haben eine Vielzahl von Softwareprodukten, wo wir Lücken frühzeitig identifiziert haben, darauf hingewiesen haben, und die nicht geschlossen werden. Und warum? Weil das Schließen dieser Lücken Geld kostet. Und, entschuldigen Sie den Ausdruck, der doofe Verbraucher, der kann‘s dann am Ende zahlen. Es geht darum, dass der Softwarehersteller auch eine Verantwortung hat. Und die Verantwortung die er dafür übernimmt, dass sein Produkt fehlerfrei funktioniert, wird sichergestellt dadurch, dass er auch für Fehler dementsprechend haftet." Doch bislang schließen Hersteller jede Haftung für ihre Produkte in aller Regel aus. Und die Hersteller der Sicherheitssoftware, die Matthias Luft austrickste? In Stellungnahmen verwiesen einige darauf, dass die von ihm gewählte Angriffsmethode "ungewöhnlich" sei. Doch mit "Schützt vor gewöhnlichen Attacken" wirbt keiner von ihnen. Recherchen von Joachim Bartz und Falk Steiner. Mehr zu dem Thema heute Abend um 21 Uhr bei den Kollegen im ZDF-Magazin Frontal21.
Von Falk Steiner
Antivirenprogramme sollen Computer sicherer machen. Aber ihre großen Versprechungen halten der Realität nicht stand, so das Ergebnis von Recherchen des ZDF und des Deutschlandfunks. Der Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, fordert deshalb: Softwarehersteller sollen für ihre Produkte haften.
"2017-03-21T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:53.350000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/antivirus-software-lueckenhafte-versprechungen-100.html
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Eine Marswolke gibt Rätsel auf
Der Mars zählt zu den erdähnlichen Planeten (imago / StockTrek Images) Jorge Hernandez lag schon in seinem Bett, als er ein neues Forschungsthema entdeckte, und zwar auf dem Display seines Smartphones. "Ich hatte auf meinem Handy diese Benachrichtigung. Ich habe mir das angeschaut und gleich gesehen, dass am Marsvulkan Arsia Mons etwas Merkwürdiges passiert. Also stieg ich aus meinem Bett und fing an, die Bilder an meinem Computer zu analysieren. Und nach 40 Minuten war ich sicher: Das ist etwas." 100 Kilometer breit und bis zu 2.000 Kilometer lang Die Benachrichtigung stammte von der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, die aktuelle Bilder einer uralten Kamera bis heute auf Twitter verbreitet. Eigentlich war die Kamera an Bord der Raumsonde Mars Express nie für die Forschung gedacht und sollte vor vielen Jahren lediglich das Abtrennen des Marslanders Beagle 2 beobachten. Ihre Bilder zeigen den gesamten Mars in geringer Auflösung, sind reichlich unscharf und eigenen sich daher eigentlich nur als Webcam. Doch auf einem dieser gerade geschossenen Bilder am Mars sah der Doktorand an der Universität des Baskenlandes in Bilbao nun eine ziemlich große Wolke. "Diese Wolke ist 100 Kilometer breit und bis zu 2.000 Kilometer lang. Das ist eine sehr merkwürdige Wolkenform, die man weder auf der Erde noch auf dem Mars erwarten würde." Am nächsten Tag suchte der spanische Forscher im Büro auf seinem Computer nach früheren Anzeichen der langgestreckten Wolke. Die meisten wissenschaftlichen Kameras im Marsorbit haben einen kleinen Bildausschnitt und übersehen solche großräumigen Phänomene schnell. Jorge Hernandez wurde schließlich fündig. Mehrere Forscher hatten diese Wolke vor Jahren schon einmal beschrieben. Offenbar beginnt das Wolkenband am Vulkan Arsia Mons und erstreckt sich nach Südwesten. Der spanische Doktorand "erkannte" die Wolke und entdeckte sie dann auch auf mehreren älteren Bildern. Und er stellte fest: Die Wolke kehrt auf den täglichen Aufnahmen von Mars Express offenbar immer zur gleichen Zeit eines Marsjahres wieder. "Es herrscht dann Sommer in der südlichen Hemisphäre des Mars. Und eigentlich ist der Wasserdampfgehalt in der Atmosphäre zu dieser Zeit gering. Man würde also nicht viele Wolken erwarten. Aber diese Wolke ist da." Ist der uralte Vulkan Arsia Mons noch aktiv? Zeitgleich mit Jorge Hernandez entdeckten viele Raumfahrtinteressierte die auffällige Wolke und spekulierten: Könnte der Milliarden Jahre alte Vulkan Arsia Mons nicht noch aktiv sein? Der Planetenforscher hält das aber für ausgeschlossen. "Die Wolke entsteht jedes Jahr zur gleichen Jahreszeit und das ist für uns der offensichtlichste Hinweis darauf, dass es sich um kein geologisches Phänomen handelt, sondern um ein meteorologisches Phänomen in der Atmosphäre." Spektroskopische Aufnahmen zeigen außerdem, dass die lange Marswolke komplett aus Wasserdampf besteht und nicht auch aus anderen vulkanischen Gasen. Dennoch ist das Phänomen außergewöhnlich: Aus hintereinander geschossenen Aufnahmen ermittelte der Forscher eine Windgeschwindigkeit von bis zu 360 Kilometern pro Stunde. An drei anderen ähnlich großen Vulkanen der Region gibt es keine solchen Wolken. Warum das so ist, verstehen die Marsforscher noch nicht. Doch jetzt gibt es offenbar einen guten Ort, um das lokale Klima auf dem Mars besser zu verstehen. "Wahrscheinlich wird diese Wolke in Zukunft zurückkehren. Und wir werden versuchen, sie wieder zu beobachten. Unser Ziel ist es, dabei zu verstehen, wie sich das Klima des Mars von Jahr zu Jahr verändert."
Von Karl Urban
Eine merkwürdige Wolke am Vulkan Arsia Mons auf dem Mars fesselt die Aufmerksamkeit von Forschern: Sie ist 2.000 Kilometer lang und damit selbst nach irdischen Maßstäben außergewöhnlich. Sie könnte Astronomen dabei helfen, das Klima auf dem Mars besser zu verstehen.
"2019-11-18T16:49:00+01:00"
"2020-01-26T23:19:49.720000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/astronomie-eine-marswolke-gibt-raetsel-auf-100.html
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"Das ist eine ganz unerhörte Botschaft"
Der Sprecher und Kopf der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner (dpa / Tobias Hase) Jasper Barenberg: In den nächsten Minuten können wir darüber mit Christian Weisner sprechen, einem der Sprecher von "Wir sind Kirche", einer Reformbewegung katholischer Christen, die sich etwa für die Gleichstellung von Frauen einsetzt, oder auch die Gleichstellung von Laien mit dem Klerus. Schönen guten Abend, Herr Weisner. Christian Weisner: Grüß Gott. Barenberg: Papst Franziskus vergleicht einen Schwangerschaftsabbruch mit einem Auftragsmord. Ihre Bewegung hat dagegen ja sofort energisch protestiert. Was empört Sie an der Aussage des Papstes? Weisner: Ja, das ist ein diffiziles Thema. Papst Johannes-Paul II. hatte ja sogar mal vom Holocaust gesprochen und das so verglichen. Jeder Schwangerschaftsabbruch, jede Abtreibung ist ein Problem für die Frau, und das hat Papst Franziskus auch gesagt. Damit löst man keine Probleme. Aber das jetzt in einen Zusammenhang von Auftragsmördern zu stellen, das ist einfach eine ganz unerhörte Botschaft, und man muss sich mal fragen, wie das jetzt gerade auch für die Frauen wirkt – Frauen, die sich zu einer Abtreibung genötigt sehen, weil sie unendlich arm sind, weil sie von ihrer Familie dazu gedrängt werden. Das ist doch noch eine Botschaft eines alten Klerikers an die Frauen. Es wäre sehr viel besser oder diese Botschaft würde wahrscheinlich nicht mehr in dieser Form zustande kommen können, wenn im Vatikan endlich mehr Frauen auch Beraterin sind, auch Frauen sich mit einbringen in die katholische Lehre. Barenberg: Steht es dem Oberhaupt der katholischen Kirche nicht zu, Abtreibungen zu verurteilen und dafür auch durchaus hin und wieder drastische Worte zu wählen? Weisner: Ja. Aber was erreicht man damit? Es ist ja gut, dass Papst Franziskus vor ganz kurzer Zeit im Katechismus die Todesstrafe verdammt hat. Das heißt, dass an diesem Ende des Lebens die Kirche nicht mehr bereit ist, die Todesstrafe zu akzeptieren. Und es ist natürlich richtig, wenn die Kirche, wenn sich alle Religionen für das Leben in jeder Form einsetzen. Aber in Deutschland gerade haben wir natürlich doch eine ganz andere Erfahrung und es waren ja die katholischen Bischöfe in Deutschland, die damals in den 1990er-Jahren sich für Schwangerschaftskonfliktberatung eingesetzt haben. Denn nur wenn man erst mal eine Beratung anbietet, die offen ist, erreicht man die Frauen, die in einer Notlage sind. Das hat damals Johannes-Paul II. und Joseph Ratzinger als Glaubensprefekt in Rom, das haben die zehn Jahre lang hintertrieben. Der deutsche Kardinal Karl Lehmann hat noch darüber gekämpft, hat sich darüber verkämpft mit Rom. Es wäre also ein guter Weg hier in Deutschland gewesen. Und jetzt ist es so, dass es nur die katholischen Laien, die Frauen und Männer in der Kirche vom Zentralkomitee und auch von "Wir sind Kirche" bei Frauenwürde, dass wir diese Konfliktberatung anbieten, denn letztlich erreichen wir damit mehr Leben als mit dem absoluten Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung. Und man muss sagen weltweit: So viele Frauen werden dadurch medizinisch stark geschädigt oder sterben bei einer Abtreibung. Eine Abtreibung ist sicher keinesfalls ein Vergnügen. Ich würde mir wirklich sehr wünschen, dass Papst Franziskus wieder mehr Verständnis hat für Frauen, die in dieser Notlage sind. Er hat das vor einigen Jahren sogar schon mal ausgedrückt. Er hat gesagt, ich weiß um den Druck, der sie zu dieser Entscheidung geführt hat, und er hat ja damals auch den Priestern die Möglichkeit gegeben, in der Beichte von der Abtreibung eine Lossprechung, eine Entmoralisierung gewissermaßen durchzuführen. Insofern ist das heutige Wort vollkommen unverständlich. Barenberg: Aber noch mal vielleicht zurück zum Papst und zu der Abtreibungsfrage, denn es war ja offenkundig eine spontane Äußerung, jenseits des Manuskriptes bei der Predigt heute. Könnte man auch nicht umgekehrt argumentieren, dass er nicht seinen Kritikern entgegenkommt, sondern dass sich da hier der wahre, der wahrhaftige Papst zeigt und das, was er wirklich über dieses Thema denkt? Weisner: Das ist eine Möglichkeit der Interpretation. Ich glaube, da zeigt sich, dass so eine Kirche, dass die Kirchenleitung gerade dieser alten Männer – man muss es wirklich so deutlich sagen – viel zu wenig vom realen Leben weiß und viel zu wenig wirklich von der Not weiß, unter der Frauen gerade Kinder aufziehen, von der Not, in der Frauen ihr Leben gestalten müssen. Dann sind solche Bemerkungen so nebenbei, spontan heraus, dann doch gefährlich. Barenberg: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Herr Weisner. Dabei hatten doch viele die Hoffnung, dass gerade dieser Papst, dass gerade Franziskus einen erneuerten, einen weltoffenen Katholizismus begründen würde, einen, der auch näher an der Lebenswirklichkeit der Gläubigen ist. Ist Papst Franziskus doch kein Menschenfischer sozusagen? Weisner: Ich will es mal einfach so sagen: Ein Papst macht noch keine neue Kirche. Wir brauchen in der Kirche sehr viel mehr, die wirklich diesen neuen Kurs – und das ist ja kein neuer Kurs, sondern das ist der Kurs des Zweiten Vatikanischen Konzils vor gut 50 Jahren. Das ist eigentlich der Kurs, der jesuanische Kurs, der Kurs, der auf die Menschen zugeht, der die Menschen erst mal so annimmt, wie sie sind. Wir müssen auf diesen Kurs wieder zurückgehen. Da ist natürlich so eine 2000 Jahre alte Kirchenhierarchie, ein Kirchen-Beamtentum in Rom, weit ab und fern von der Realität, ein schlechter Ratgeber. Wir brauchen wirklich mehr Theologie, theologische Weiterentwicklung mit den modernen Wissenschaften. Wir brauchen mehr von den Bischöfen, dass sie die Situation, die pastorale Situation in den Ortskirchen in der Welt, die sehr unterschiedlich ist, dass sie das in den Blick nehmen und mehr Verantwortung übernehmen können. Wir brauchen eine weniger zentralistische Kirche; wir brauchen eine Kirche, die mehr bei den Menschen ist. Barenberg: Wenn Sie von Umbruch sprechen, von neuem Denken und von einem neuen Kurs, den Sie einfordern, dann erwarten Sie aber, um auf unser Thema zurückzukommen, nicht, Herr Weisner, dass der Papst jetzt nächste Woche eine zentrale Position der Kirche opfert und sagt, jeder Frau gehört ihr Bauch selber und sie kann darüber entscheiden und wir werden Abtreibungen künftig nicht mehr als das betrachten, was es bisher war in der Katholischen Kirche, nämlich eine schwere Sünde? Weisner: Aber Papst Franziskus hat selber gesagt, dass man über bestimmte Sachen nun nicht immer wieder reden muss, und ich glaube, es würde der Kirche gut tun, gerade der Kirchenleitung guttun, gerade angesichts auch der weltweiten Missbrauchsfälle, wenn sie in dem Bereich Sexualität im Augenblick doch ein Moratorium machen würde und jetzt nicht den Menschen wieder Lasten auflegen, Schuld zusprechen würden, sondern erst mal den eigenen Laden, will ich das mal salopp sagen, den eigenen Laden aufklären, denn da ist ja unendlich viel Leid verursacht worden. Da sind Seelen gemordet worden durch den sexuellen Missbrauch durch die Kleriker. Solange das nicht wirklich in der ganzen Welt aufgeklärt wird und aufgearbeitet wird, solange sollte die Kirche doch sehr vorsichtig sein, jetzt wieder den Menschen, gerade auch den Frauen Regeln aufzuoktroyieren. Barenberg: Christian Weisner von der Reformbewegung "Wir sind Kirche". Danke für das Gespräch, Herr Weisner. Weisner: Gerne, Herr Barenberg. Barenberg: Aus Termingründen haben wir dieses Gespräch vor dieser Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian Weisner im Gespräch mit Jasper Barenberg
Wenn Papst Franziskus Abtreibungen in einen Zusammenhang mit Auftragsmördern stelle, dann sei das die Botschaft eines alten Klerikers, sagte Christian Weisner von "Wir sind Kirche" im Dlf. Diese Kirchenleitung der alten Männer wisse viel zu wenig vom realen Leben. Im Bereich Sexualität sollte sie sich ein Moratorium auferlegen.
"2018-10-10T23:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:14:58.348000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/papst-zu-abtreibungen-das-ist-eine-ganz-unerhoerte-botschaft-100.html
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Hommage an die Rebellion
Der tschechisch-amerikanische Filmregisseur Miloš Forman im Jahr 2007. (imago/ZUMA Press) 1984 setzte Miloš Forman Mozart eine rosa Perücke auf und schuf ihm und seinem Gegenspieler Antonio Salieri mit "Amadeus" ein kongeniales filmisches Denkmal, in dem er eindrucksvoll demonstrierte, dass eine fast dreistündige "Komponistenbiographie" in historischem Gewand das Gegenteil von staubig und langweilig sein kann. Außenseiter, Künstler und Rebellen hatten es dem tschechisch-amerikanischen Regisseur seit jeher angetan. Diejenigen, die sich trauten, waren seine Helden, dass sei ganz natürlich, wenn man wie er, fast vierzig Jahre in totalitären Regimen gelebt habe, sagte er rückblickend. Ein göttlicher Regisseur Seinen Traumberuf fand Miloš Forman früh. Da sein älterer Bruder bei einer Tourneetheatertruppe als Bühnenbildner arbeitete, verbrachte der 10-jährige Miloš die Nächte bevorzugt in den Künstlergarderoben, wo er den Schauspielerinnen beim Umziehen zusah. Und feststellte, dass es einen Mann gab, zu dem die Schauspielerinnen alle aufsahen, als wäre er ein Gott. Er fragte seinen Bruder, wer dieser Mann sei. Der antwortete, das sei der Regisseur. Da wusste er, was er werden wollte, bekannte Forman anlässlich einer Retrospektive seines Werks 2009 in Minneapolis. Zensur in der Tschechoslowakei und amerikanisches Exil Sein Humor half ihm über die schweren Schicksalsschläge in seinem Leben hinweg. 1932 wurde Miloš Forman in der Tschechoslowakei als Sohn eines jüdischen Lehrers geboren. Seine Eltern starben im Konzentrationslager; die Kriegsjahre verbrachte er bei Verwandten; im Waiseninternat entdeckte er die Liebe zum Kino von Buster Keaton und Charlie Chaplin. Er absolvierte eine Ausbildung zum Drehbuchautor an der berühmten Prager Filmakademie und arbeitete beim tschechoslowakischen Fernsehen bevor er 1963 sein Spielfilmdebüt "Der schwarze Peter" drehte, eine, mit Laiendarstellern besetzte Komödie über einen sechzehnjährigen Lehrling. Formans filmische satirische Alltagsbeobachtungen waren den kommunistischen Machthabern in seiner Heimat ein Dorn im Auge, doch da die "Neue Tschechoslowakische Welle" internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, war der Filmemacher eine Zeitlang vor der Zensur sicher. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurden seine Werke verboten und er emigrierte in die USA. Durchbruch mit "Einer flog über das Kuckucksnest" Sein erster amerikanischer Film "Taking Off" über ausgebüxte Hippie-Teenager und deren Eltern erhielt beim Filmfestival in Cannes den großen Preis der Jury, fiel beim Publikum jedoch durch. Anfangs habe er sich nicht sonderlich für Dramaturgie interessiert, sagte Miloš Forman. Seine frühen Filme hörten einfach auf, den amerikanischen Zuschauern war das zu avantgardistisch. Die zweite, große Chance erhielt er, als ihm der Produzent und Schauspieler Michael Douglas die Verfilmung des Romans "Einer flog über das Kuckucksnest" anbot, in dem sich ein Außenseiter in einer Psychiatrie versteckt. Dass Miloš Forman ausgerechnet mit diesem Film der Durchbruch gelingen würde, hätte er selbst nie für möglich gehalten. 1976 erhielt er seinen ersten Regie-Oscar. Drei Jahre später lies er die langhaarigen Hippies in "Hair" auf den Tischen tanzen. Den Unkonventionellen, Umstrittenen und Randfiguren widmete Miloš Forman seine Filme: Dem Hustler-Herausgeber und Milliardär Larry Flynt, dem Komiker Andy Kaufman und einer Muse Goyas; ein publikumswirksamer Geniestreich wie "Amadeus" gelang ihm nicht mehr.
Von Noemi Schneider
"Die Träume des Menschen müssen immer über seine Fähigkeiten hinauszielen", sagte Miloš Forman. In seinen Filmen erzählte er von den Träumen der Außenseiter und Rebellen. Nun ist der preisgekrönte Regisseur von "Einer flog über das Kuckucksnest" und "Amadeus" mit 86 Jahren gestorben.
"2018-04-14T17:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:48.003000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zum-tod-des-filmregisseurs-milos-forman-hommage-an-die-100.html
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Wolffsohn: "Versager sind an der Regierung"
Historiker Wolffsohn sieht die Verantwortung für das Desaster in Afghanistan vor allem bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas (imago/F. Kern/Future Image) Nach dem Einmarsch der Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul versuchen weiter Tausende verzweifelt das Land zu verlassen – Botschaftspersonal, ausländische Helferinnen und Helfer, Ortskräfte und andere Afghaninnen und Afghanen, die sich vor Verfolgung und Racheakten der neuen Machthaber fürchten. Mit Evakuierungsflügen versuchen westliche Länder gefährdete Menschen in Sicherheit zu bringen. Am Flughafen von Kabul herrscht anhaltend Chaos, viele hoffen einen Platz in einem der Flugzeuge zu bekommen. Angesichts der dramatischen Lagen sieht sich die Bundesregierung, insbesondere Außenminister Heiko Maas (SPD) und Innenminister Horst Seehofer (CSU), mit wachsender Kritik konfrontiert. Im Raum steht der Vorwurf, dass Deutschland trotz seit Monaten bekannter Warnungen, eigene Staatsbürger nicht ausreichend geschützt und afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr tätig waren, nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat. Wer trägt die Verantwortung für das Versagen? Die politische Aufarbeitung der letzten Wochen in Afghanistan ist in vollem Gange. Warum Rücktritte angebracht wären. Außerdem: "2015 darf sich nicht wiederholen", fordert Armin Laschet. Aber passt dieser Vergleich überhaupt? Im Interview mit dem Deutschlandfunk attestiert der Historiker Prof. Michael Wolffsohn der Regierung in Berlin "kollektives Versagen", das die Glaubwürdigkeit des deutschen Staates "total" beschädigt habe. "Es hätte sich gehört, politisch, moralisch, in jeder Hinsicht", mit dem Abzug der Bundeswehrtruppen auch die Ortskräfte mit herauszunehmen, sagte Wolffsohn, der lange an der Bundeswehrhochschule in München gelehrt hat. In der Verantwortung dafür stünde "in erster Linie" Bundeskanzlerin Angela Merkel, unter deren Regierung sicherheitspolitische Fragen weitgehend vernachlässigt worden seien. Das Interview im Wortlaut: Dirk Müller: War das, was wir jetzt erlebt haben, das Ende der Verlässlichkeit? Michael Wolffsohn: Das Ende sollte man nie sagen, aber einstweilen auf jeden Fall. Und im gesamtwestlichen Zusammenhang, vor allem im amerikanischen, ist es ja nicht das erste Mal, dass holterdiepolter, auf chaotische Weise ein Partner fallengelassen wird mit chaotischen Folgen. Und für die Bundesrepublik Deutschland und die übrigen an dem Afghanistan-Einsatz Beteiligten in Europa ist das eine Premiere – und zwar eine ganz schreckliche Premiere. "Der Schaden ist enorm" Müller: Wie groß ist der Schaden? Wolffsohn: Der Schaden ist enorm, und zwar nicht nur außen- und regionalpolitisch, darüber ist ja sehr viel gesagt worden. Aber es ist im Grunde genommen total beschädigt, jedenfalls einstweilen, die Glaubwürdigkeit des deutschen Staates. Es geht hier nicht nur um Regierungspartei A oder B, sondern um die Zuverlässigkeit des deutschen Staates, der seiner Fürsorgepflicht nicht nachgekommen ist, den eigenen Staatsbürgern gegenüber und denen gegenüber, denen man sich praktisch verpflichtet hatte, also den Ortskräften. Müller: Sie sagen, es ist der ganze Staat, aber wir müssen dennoch über die Bundesregierung reden. Kann diese Bundesregierung noch regieren? Wolffsohn: Nun, das kann man ganz leicht beantworten. Sie muss es, sie wird es, sie tut es, zumindest bis sie abgewählt wird in dieser Konstellation - das scheint ziemlich sicher. Aber was bleibt uns übrig? Versager sind an der Regierung und sie werden jedenfalls teilweise weitermachen, ob nun Christdemokraten oder Sozialdemokraten oder beide, in welcher Konstellation auch immer. Ja, es wird weitergehen, das Personal wird weitgehend ausgetauscht, aber es wird regiert, eher schlecht als recht. Müller: Sie sagen Versager Bundesregierung, Herr Wolffsohn, wer hat alles versagt? Wolffsohn: Da kann ich nur wiederholen, was viele gesagt haben, im Grunde genommen geht es hier um ein kollektives Versagen, denn jedes Mitglied der Bundesregierung, jedes Kabinettsmitglied kann sich ja von einer getroffenen Entscheidung des Kabinetts distanzieren. Ich erinnere an Gustav Heinemann, der Anfang der 50er-Jahre wohlgemerkt als Innenminister zurückgetreten ist, als die Entscheidung zugunsten der Wiederaufrüstung gefallen ist. Also, Politiker, die ihre Werte ernst nehmen und in kollektiver Haftung stehen, können dann als Individuen durchaus sich distanzieren, indem sie auf ihren Posten verzichten. "Afghanistan leidet noch unter einer ganz anderen Katastrophe"Das wahre Gesicht der Taliban müsse sich noch zeigen, sagt der Afghanistan-Kenner Wolfgang Bauer. Er bezweifle aber, dass sie in der Lage seien, die eigentliche Katastrophe des Landes zu bewältigen: eine furchtbare Dürre und wachsende Armut. Kanzlerin trägt in erster Linie die Verantwortung Müller: Ich versuche es noch mal ein bisschen konkreter zu machen. Die Kanzlerin ist nicht mehr lange Kanzlerin, das ist das, was wir alle wissen. Ist das gut so? Wolffsohn: Ich würde sagen ja, aber nicht nur wegen Afghanistan. Aber das wäre dann im Zusammenhang mit dem Wahlkampf viel zu viel Tagespolitik. Und ich will auch gar nicht Ihre Frage, die Sie stellen, personenbezogen ausweichen, ich wollte nur das Grundsätzliche voranstellen: Ja, natürlich, die Kanzlerin in erster Linie. Die Kanzlerin ist ja nicht nur Kanzlerin, sondern faktisch, machen wir uns nichts vor, die ganze Zeit ihrer Amtszeit auch Außenministerin gewesen. Sie hat nicht nur die Sozialdemokraten quasi liebevoll umschlungen und auf diese Weise ihre Position gefestigt, sondern sie hat auch ihre Außenminister von Steinmeier bis eben jetzt Heiko Maas an die Wand gedrängt. Im Bezug auf Maas ist das kein Verlust, aber jedenfalls trägt die Kanzlerin hier in erster Linie die Verantwortung, keine Frage. Und sie hat sich, um das noch symbolisch zu ergänzen, in einer geradezu unglaublichen Weise benommen, indem sie am Tag dieses Desasters, also am vergangenen Sonntag, noch ins Kino gegangen ist und sich als Frauenrechtlerin hat feiern lassen. Müller: Da hat jeder Instinkt versagt? Wolffsohn: Oh ja, gar keine Frage. Mangelnde Fürsorgepflicht der Bundesregierung Müller: Die Militärs standen bereit, die Offiziere standen bereit, die Unteroffiziere auch. Das ist das, was wir zum Teil in diesen Wochen und Tagen nachgelesen haben. Sie haben nach wie vor auch gute Kontakte, auch zu hochrangigen Militäroffizieren. War das so? Wolffsohn: Ja, eindeutig. Aber man darf nicht vergessen, die Bundeswehr ist ja schon faktisch mit Ausnahme von einigen wenigen Soldaten aus Afghanistan draußen gewesen. Hier wurde noch darüber diskutiert, ob man Afghanen, die bei uns schon gewesen sind und sich strafbar gemacht haben, nach Afghanistan zurückschicken könne, ob denn Afghanistan sicher sei. Also kurzum: Die Bundeswehr war schon draußen, aber die politische Verantwortung trägt die Bundesregierung, denn wenn man selber rausgeht und Ortskräfte als Mitarbeiter hat, dann gebietet es die Fürsorgepflicht, auch diese Mitarbeiter mit rausgenommen zu haben – und zwar in dem Augenblick, wo man selber herausgeht. Denn dass die Taliban eher über kurz als über lang siegen würden, das war jedermann klar. Wie schnell es ging, das ist falsch eingeschätzt worden. Aber die Bundeswehr ist schon draußen gewesen, und es hätte sich gehört, politisch, moralisch, in jeder Hinsicht, die Ortskräfte mit herauszunehmen. Aber nein, es galt das St.-Florians-Prinzip: Lieber heiliger Florian, zünd' andere Häuser an, aber nicht meins. "Sicherheitspolitische Fragen sind weitgehend vernachlässigt worden" Müller: Also, da ist das zwischen den Ministerien einfach untergegangen, verschleppt worden. Ein fataler Fehler? Wolffsohn: Na ja, natürlich. Und ich meine, wir haben ja nur über die Kanzlerin gesprochen, und das Außenministerium mit einer fatalen Fehleinschätzung, wenngleich es, wie wir wissen, Meldungen auch aus der deutschen Botschaft in Afghanistan gab. Und noch ganz wichtig, es ist völlig klar, da kann auch die Verteidigungsministerin sich nicht herausreden, die Truppe hat immer wieder und schon seit Jahren auf die Defizite der deutschen Sicherheitspolitik in Afghanistan hingewiesen. Man wollte es einfach nicht wahrnehmen, man blieb in der Berliner Käseglocke und nahm die Warnungen, die es gab, einfach nicht wahr. Und dann kommen wir wieder zu einem fundamentalen strukturellen Versagen: sicherheitspolitische Fragen sind unter dieser Regierung weitgehend vernachlässigt worden, auch Fragen der inneren Sicherheit, ich nenne als Stichwort nicht nur das schreckliche Attentat von 2016 am Berliner Breitscheidplatz, wo ja das Versagen ganz eindeutig ist. Sicherheitspolitik hat auch die Kanzlerin durch Abwesenheit in den sicherheitspolitischen, wöchentlichen Runden dokumentiert. Das ist ganz eindeutig. Aber zugleich ist das ein gesellschaftliches Defizit, weil sich kaum jemand hier für Sicherheits- und Außenpolitik interessiert. Müller: Und auch die Bundeswehr ist ganz oft noch irgendwie ein unangenehmes Thema, Bundeswehreinsätze im Ausland. Jetzt wird der Bundeswehreinsatz in Mali vor dem Hintergrund der Entwicklung in Afghanistan auch noch einmal diskutiert. Aber wenn wir konkreter noch mal auf diese Woche zurückkommen: Da sagt der Außenminister, alle haben sich geirrt, deswegen ist das nicht ganz so schlimm, so interpretiere ich das jetzt, dass ich mich auch geirrt habe. Und er wirft den Geheimdiensten vor, nicht früh genug gewarnt zu haben. Jetzt hören wir von den Geheimdiensten, sie haben das schon Ende des Jahres getan. Was ist da glaubwürdig? Wolffsohn: Ja, nicht der Außenminister auf jeden Fall. Wenn die Nachrichtendienste nach außen anfänglich durchaus defensiv aufgetreten sind, das ist völlig falsch, alle diese Meldungen waren ja lesbar, nachlesbar, sozusagen vorlesbar, Herr Müller. Wer Zeitungen aufmerksam gelesen hat, wer beispielsweise sich mit Afghanistan in irgendeiner oberflächlichen Weise nur beschäftigt hat, der wusste, dass der Großteil der afghanischen Bevölkerung, natürlich nicht diejenigen, die heute raus wollen, die ausländischen Truppen draußen haben wollte. Nur 20 Prozent der afghanischen Bevölkerung – bei zuverlässigen Umfragen – haben gesagt, dass sie die Truppen, die ausländischen Truppen noch im Land behalten wollen. Und jeder, der auch nur kurz in Afghanistan war, der musste das gesehen haben. Und es wurde gemeldet. Und wenn heute gesagt wird, ich wusste das nicht, dann ist das schlicht und ergreifend eine Lüge. Mögliche Lehren aus dem Afghanistan-EinsatzAfghanistan ist kurz nach dem Abzug internationaler Truppen wieder in Taliban-Hand. Errungenschaften aus 20 Jahren sind in Gefahr. Sind militärische Nation-Building-Einsätze überhaupt sinnvoll, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? "Die Grünen sind erstaunlich realistisch" Müller: Sie haben gesagt Sicherheit, innere Sicherheit, äußere Sicherheit – schwierig für die gesellschaftliche Diskussion, die Deutschen sind da viel defensiver, beispielsweise als die Franzosen, die Engländer, vor allem auch als die Amerikaner. Jetzt haben wir gerade Wahlkampf, in fünf Wochen wird gewählt. Ich möchte Sie das trotzdem fragen, weil Sie haben ja jetzt zumindest die Kanzlerin, die Verteidigungsministerin, den Außenminister, und haben das aber ja nicht nur auf die Personen selbst bezogen, Herr Wolffsohn. Kennen Sie jemanden in Deutschland, der das besser machen könnte? Wolffsohn: Eine gute Frage. Nein, es geht ja nicht um Personen, es geht um die Strukturen. Es hat sich oft gezeigt, dass Personen, die man vorher unterschätzt hatte, großartige Politiker geworden sind.Nehmen wir nur Helmut Kohl, dass ausgerechnet er Kanzler der Einheit werden würde und dass er zu Beginn der 80er-Jahre die deutsche Wirtschaft in seiner Kanzlerschaft auf Vordermann gebracht hat, wer hätte das gedacht. Oder denken Sie in Israel an Golda Meir und, und, und. Also kurzum, Personen würde ich hier nicht reinstellen. Für mich ist es ganz grundsätzlich die totale Desillusionierung. Denn machen wir uns nichts vor, und jetzt wird es sehr konkret, wir haben über das Staatsversagen gesprochen. Es gibt eine Partei, die sozusagen eine Anti-System-Partei ist, das ist die AfD, aber die wollen und können wir natürlich nicht wählen, denn die, das ist auch jetzt erkennbar, auch ohne die rein ethische Seite zu sehen, die können es nun gar nicht. Die reden nur. Und wir wissen, dass sie konkret nichts zu bieten haben. Die Linke ist auch in Wolkenkuckucksheim. Und das Gefühl, dass man als guter, überzeugter, bundesrepublikanischer Demokrat eigentlich nur noch die Achseln zucken kann und fast resigniert sagt, muss ich denn eigentlich wählen - das finde ich katastrophal. Müller: Sind die Grünen jetzt übrig geblieben bei Ihnen? Wolffsohn: Die Grünen sind erstaunlich realistisch, aber wenn ich mir die Kanzlerkandidatin ansehe und mir überlege, dass diese völlig unerfahrene, dilettantische Politikerin uns steuern soll, dann wird mir auch ganz übel. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Wolffsohn im Gespräch mit Dirk Müller
Die Bundesregierung sei in Afghanistan ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Staatsbürgern und den Ortskräften nicht nachgekommen, sagte der Historiker Michael Wolffsohn im Dlf. Die Glaubwürdigkeit des deutschen Staates sei "total beschädigt". Verantwortung dafür trage in erster Linie die Kanzlerin.
"2021-08-21T08:10:00+02:00"
"2021-08-22T08:48:37.799000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-desaster-wolffsohn-versager-sind-an-der-100.html
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"Ein Endlager muss eine Million Jahre sicher sein"
"Bis dieses Endlager tatsächlich mal errichtet ist und betrieben wird, können noch mal einige Jahrzehnte ins Land gehen", sagte Beate Kallenbach vom Öko-Institut in Darmstadt im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / ncy) Georg Ehring: Atomkraft mit beschränkter Haftung. Die Betreiber von Kernkraftwerken haften zwar für den Abriss ihrer Meiler, aber das Risiko der Kosten der Endlagerung geht auf den Bund über. Die Atomkommission des Bundes empfahl gestern der Regierung einstimmig, die Konzerne dafür mit 23,3 Milliarden Euro zur Kasse zu bitten. Darüber, ob das reicht und welche Risiken es gibt, möchte ich jetzt Beate Kallenbach sprechen. Sie ist beim Öko-Institut in Darmstadt für das Thema zuständig. Guten Tag, Frau Kallenbach! Beate Kallenbach: Ja! Guten Tag, Herr Ehring. Ehring: Frau Kallenbach, was muss davon alles bezahlt werden? Kallenbach: Man hat das ja aufgeteilt, die Entsorgungsaufgaben, die anstehen. Zum einen den Rückbau und auch die Verpackung der Abfälle. Das bleibt bei den Betreibern. Und der Staat hat die Aufgabe übernommen, die Finanzierung der Zwischenlagerung zu übernehmen von diesen 23,3 Milliarden und die Endlagerung sowohl für die hoch radioaktiven Abfälle, insbesondere auch die abgebrannten Brennelemente, und die sogenannten schwach und mittel radioaktiven Abfälle, die aus dem Betrieb und auch aus dem Rückbau entstehen. Endlager für hoch radioaktive Abfälle: sicher für eine Million Jahre Ehring: 23,3 Milliarden Euro sind vorgesehen. Ist denn für eine Endlagerung über mindestens Zehntausende von Jahren, wenn nicht noch sehr viel länger, überhaupt eine seriöse Kostenschätzung möglich? Kallenbach: Das ist natürlich das Problem an der Sache. Nicht nur die Frage, wie lange muss denn ein Endlager sicher sein - das ist bei den hoch radioaktiven Abfällen sogar eine Million Jahre -, sondern auch die Dauer dieser Projekte als solche. Wir starten jetzt gerade in Deutschland einen Prozess neu in einer anderen Kommission, die das Verfahren für die Suche nach einem Endlagerstandort festlegt. Das heißt, bis dieses Endlager tatsächlich mal errichtet ist und betrieben wird, da können noch mal einige Jahrzehnte ins Land gehen. Wir reden da bestimmt über das Jahr 2050. Und das macht natürlich auch schon einen großen Teil der Unsicherheit aus, dass heute nur grobe Schätzungen darüber möglich sind, was dann tatsächlich bis dahin für Kosten angefallen sind und auch noch anfallen werden dann für den Betrieb und Verschluss eines solchen Endlagers. "Wenn ein Endlager tatsächlich mal fertig befüllt ist und verschlossen ist, dann soll es eigentlich nichts mehr kosten", sagte Beate Kallenbach im DLF. (dpa / picture-alliance / Wolfram Kastl) Ehring: Sind denn aus Ihrer Sicht Risiken absehbar, die diese Kostenschätzung sprengen würden? Kallenbach: Nun ja, was das konkrete Projekt betrifft, muss man sich das genau anschauen. Letztendlich haben wir aber natürlich die Situation, wenn wir uns andere Großprojekte anschauen in Deutschland aus den letzten Jahren, zeigt sich ja eigentlich eher die Tendenz, die Kosten werden deutlich überschritten, als dass wir eine Tendenz sehen würden, wo man sagt, alles prima geplant und das passt genau. Deshalb: Das Risiko ist mit Sicherheit da. Das kann heute mit Sicherheit keiner seriös beziffern, ob es denn nun bei diesen geschätzten zwölf Milliarden für die Endlagerung bleiben wird, oder ob das deutlich mehr wird. Letztendlich ist ja auch die Frage, wie würde sich die Haftung dann tatsächlich realisieren lassen in dem Fall, wie es bisher geregelt ist oder nach diesen neuen Regelungen. Das ist ja neben der Frage, wie hoch können die Kosten eventuell noch werden, eigentlich die Entscheidende, wenn es darum geht, wer zahlt denn letztendlich. Ehring: Wenn der Atommüll unrückholbar im Salzstock oder im Granit liegt, wo auch immer, dann kommt der Deckel drauf und eigentlich ist er dann hoffentlich sicher verschlossen. Kostet das dann überhaupt noch etwas? Kallenbach: Wenn ein Endlager tatsächlich mal fertig befüllt ist und verschlossen ist, dann soll es eigentlich nichts mehr kosten, außer man stellt eben fest, wir haben Fehler gemacht. Das heißt, man hat vielleicht noch geringe Kosten für eine Überwachung dieses Endlagers über einen gewissen Zeitraum, vielleicht von einigen Jahrzehnten. Aber das ist ja das Ziel der Endlagerung, dass man sagt, wenn wir den Müll dort verstaut haben, dann soll er kommenden Generationen keine finanziellen oder sonstigen technischen Lasten irgendwie mehr abverlangen. "Wer kann mir denn sagen, dass es RWE, E.ON in 50, 60 Jahren noch gibt" Ehring: Zum Schluss gefragt. Ist es insgesamt aus Ihrer Sicht ein gutes Geschäft für die Atomkraftbetreiber? Die fühlen sich ja in einer ersten Stellungnahme überfordert. Kallenbach: Ich denke, es gibt einfach für alle Seiten mehr Sicherheit. Insofern ist das mit Sicherheit besser als die Regelung, wie wir sie bisher hatten, die letztendlich schon darauf hinauslief, die Betreiber hätten auch noch in ferner Zukunft eine Nachhaftungspflicht gehabt. Nur ob sie dieser tatsächlich nachkommen könnten, weil wer kann mir denn sagen, dass es RWE, E.ON und so weiter in 50, 60 Jahren noch in dieser Form gibt und sie tatsächlich diese Lasten hätten zahlen können. Insofern ist es für alle Seiten etwas mehr Sicherheit und ich glaube, das wird auch von den Betreibern mit der Zeit dann so gesehen werden, auch wenn sie jetzt ein bisschen jammern. Ehring: Beate Kallenbach vom Öko-Institut in Darmstadt war das über die Folgekosten der Atomkraft und ihre Verteilung. Herzlichen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Beate Kallenbach im Gespräch mit Georg Ehring
Für den Rückbau und die Verpackung von Atomabfällen seien weiterhin die Betreiber zuständig, sagte Beate Kallenbach vom Öko-Institut in Darmstadt im DLF. Der Staat werde sich um die Zwischen- und Endlagerung kümmern. Die Empfehlung der Atomkommission biete für alle Seiten mehr Sicherheit, so Kallenbach. Denn keiner wisse, ob es RWE und E.ON in 50 Jahren noch gebe.
"2016-04-28T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:26:37.717000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atommuell-entsorgung-ein-endlager-muss-eine-million-jahre-100.html
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Wer gut wirtschaftet, wird "bestraft"?
200 Millionen Euro hat der Bund als Coronahilfen für den Profisport bereitgestellt (imago images / Pixsell) Die Eckpunkte für die Coronahilfen Profisport, die das Bundesinnenministerium im August veröffentlichte, ließen eigentlich keine Fragen offen. Damit sollten "unverschuldet entgangenen Einnahmen aus Ticketverkäufen abzüglich der darauf entfallenden Steuern ausgeglichen werden", hieß es wörtlich. Der Haushaltsausschuss des Bundestages genehmigte für dieses Programm insgesamt 200 Millionen Euro, um den Profiklubs in Mannschaftssportarten wie Hockey, Basketball und Handball 2020 durch die Pandemie zu helfen. Die Berechnung der Zuschüsse klang im Eckpunktepapier simpel. Sie richteten sich nach den Einnahmenverlusten aus den Ticketverkäufen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Ein Klub kann maximal einen Zuschuss in Höhe von 800.000 Euro bekommen. Darüber habe man sich gefreut, sagt Marc Weinstock, der Aufsichtsratsvorsitzende des THW Kiel, der pro Saison etwa fünf Millionen Euro durch Tickets erlöst: "Wir haben die Bundesmittel so verstanden, dass der Bund sagt: Wir helfen Euch, wenn Ihr weniger Tickets verkauft habt." Keine Verluste, kein Geld200 Millionen Euro hat der Bund in der Corona-Krise für den Spitzensport bereitgestellt, um entgangene Ticket-Einnahmen auszugleichen. Nun sorgen jedoch die Vergabe-Richtlinien für Kritik. Dennoch liegen nach Angaben eines BMI-Sprechers bis heute nur 16 Anträge für dieses Programm vor. Das liegt womöglich an den Tücken der Richtlinien, die das Bundesverwaltungsamt als ausführende Behörde Ende August veröffentlichte. Darin heißt es nämlich, dass die Klubs eine Erklärung abgeben müssten, wonach die Höhe der Zuschüsse den Verlust in 2020 nicht übersteige. Zusammengefasst: Nur wer Verluste macht, bekommt die Beihilfe. Daran wird sich wohl auch nichts ändern, wie das BMI gegenüber dem Deutschlandfunk durchblicken ließ. Es verwies hier auf den Beschluss des Haushaltsausschusses, wonach die Coronahilfen im Profisport für diejenigen Klubs aufgelegt wurden, die unverschuldet und Corona-bedingt in eine wirtschaftliche Notsituation geraten seien. Wenn aber die Klubs nur Beihilfen in Höhe der ausgewiesenen Verluste bekämen, würde kaufmännisch seriöses Handeln in der Pandemie bestraft, kritisiert nicht nur Weinstock. Womöglich führen die Beihilfen sogar zu Wettbewerbsverzerrung. So könnten Profiklubs vorsätzlich höhere Verluste schreiben, indem sie teure Spieler verpflichten, um so erst in den Genuss der Bundesbeihilfen zu kommen. Marc Weinstock, Aufsichtsratsvorsitzender des THW Kiel (imago images / Holsteinoffice) Es müsse aber, argumentieren Manager wie Weinstock, gutes Wirtschaften belohnt werden. So werde der THW Kiel sein Geschäftsjahr 2019/20 durch das Instrument der Kurzarbeit und eigenen Maßnahmen mit einem ausgeglichenen Ergebnis abschließen: "Da werden wir möglicherweise nicht die Verluste generieren, die man machen muss, weil wir eben frühzeitig über Lohnverzichte, Kostenreduzierung, Mehreinnahmen, über andere Dinge gesprochen haben. Und dass wird am Ende sanktioniert." "Wir sehen da ein relativ großes Risiko, dass Rückforderungsansprüche erhoben werden." BMI überarbeitet Richtlinien Weinstock kritisiert außerdem, dass der Bund bislang die Geschäftsjahre 2019/20 und 2020/21 als Maßstab nehme, obwohl die dramatischen Ausfälle erst ab diesem Herbst drohten: Die Klubs, die nun den Spielbetrieb wieder aufnehmen, können schließlich nicht mehr auf das Instrument der Kurzarbeit zurückgreifen. Das BMI bestätigte, dass die Richtlinien derzeit überarbeitet werden und teilte mit, dass die Antragssteller auch eine gesonderte "Gewinn-Verlust-Rechnung" nur für das Jahr 2020 vorlegen könnten. Dennoch dürften viele Profiklubs wohl nur eingeschränkt in den Genuss der Beihilfen kommen. Zudem können viele Profiklubs die erwarteten Verluste bis zum Jahresende 2020 kaum seriös vorkalkulieren, wie es die Richtlinien des Bundesverwaltungsamtes fordern. Und dies nicht nur, weil die tatsächlichen Zuschauerzahlen in der Pandemie völlig offen sind. Außerdem nämlich stehen die Sponsorenerlöse der Klubs zunehmend in Frage: "Es gibt eben auch immer mehr Sponsoren, die es wirtschaftlich trifft. Und die dann natürlich auch kommen und sagen: Leute, wir bleiben gerne bei Euch, aber wir müssen über die Konditionen auch reden. Das fängt jetzt gerade so an." Insofern könnten sich die "Coronahilfen Profisport" für alle Beteiligten zu einem riesigen bürokratischen Akt entwickeln.
Von Erik Eggers
200 Millionen Euro hat der Bund für den Profisport bereitgestellt, um den Vereinen durch die Pandemie zu helfen. Geld sollen jedoch nur die Klubs bekommen, die auch Verluste gemacht haben. Marc Weinstock, Aufsichtsratsvorsitzender des THW Kiel, fürchtet Wettbewerbsverzerrung.
"2020-09-26T19:27:00+02:00"
"2020-09-29T16:40:28.989000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coronahilfen-fuer-den-profisport-wer-gut-wirtschaftet-wird-100.html
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"Libyen ist ein anderes Kaliber"
Nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011 versank Libyen im Chaos. Unzählige Milizen kämpfen dort um Macht und Einfluss. (picture-alliance/dpa/Amru Salahuddien) Ein Vorfall im Mittelmeer hat im Juni eine schwere Krise zwischen den beiden NATO-Mitgliedern Türkei und Frankreich ausgelöst. Eine französische Fregatte wollte ein Frachtschiff kontrollieren wollte, das unter dem Verdacht steht, für türkische Waffenlieferungen in Richtung Libyen genutzt zu werden. Frankreich wirft der Türkei seit langem vor, die Truppen der libyschen Einheitsregierung mit Waffen zu versorgen. Die Türkei wiederum behauptet, dass Frankreich - neben einer Reihe weiterer Länder - mit der Lieferung von Waffen den aufständischen General Khalifa Haftar unterstützt. Beides wären Verstöße gegen das UN-Waffenembargo. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen hat nun für einen internationalen Militäreinsatz im Bürgerkriegsland Libyen unter Beteiligung der Bundeswehr plädiert. Nach dem diplomatischen Engagement der Bundesregierung zur Beilegung des Konflikts könne Deutschland sich nicht aus einer Militärmission heraushalten. In Berlin hatte im Januar eine internationale Libyen-Konferenz stattgefunden, bei der Schritte zur Deeskalation vereinbart worden waren. Dennoch verschärfte sich der Konflikt in dem nordafrikanischen Land zuletzt wieder. Inga Trauthig ist Konfliktforscherin am King's College in London sieht Libyen in einer Abwärtsspirale, zu der auch die Einmischung externer Akteure geführt habe. Die verworrene Lage in Libyen Seit dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi herrscht in Libyen Bürgerkrieg. Im Zentrum stehen die international anerkannte Einheitsregierung unter Fayez as-Sarradsch und ihr Gegenspieler, General Khalifa Haftar. Stephanie Rohde: Türkei und Frankreich haben unterschiedliche Seiten im Bürgerkrieg unterstützt. Wird jetzt auch über diese beiden die NATO reingezogen in den Bürgerkrieg? Inga Trauthig: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie hier ansprechen, und ich möchte vorausstellen, dass ich denke, dass die NATO versuchen wird, mit aller Kraft da nicht hineingezogen zu werden. 2011 hat immer noch Nachwirkungen. Dass 2011 die NATO-Intervention einfach für die beteiligten Staaten bis heute ja doch schwierig ist, gerade in Großbritannien, die ja wirklich vorangeprescht sind zusammen mit Frankreich, wurde schon 2015 eine parlamentarische Untersuchung durchgeführt, die letztlich zu dem Ende kam, dass die NATO-Intervention eigentlich negative Folgen hatte. Ich wollte jetzt aber im Sinne von Frankreich und der Türkei doch noch mal drauf eingehen: Diese Feindseligkeit ist ganz wichtig und zeigt auch größere Konfliktlinien und Allianzbildung internationaler Kräfte mit diesen lokalen libyschen Akteuren. Die werden da eingefangen. Zweitens, was Sie auch schon erwähnt haben, jetzt die Aktualität davon, also wirklich, dass sich ein französischer Präsident Emmanuel Macron dazu hinlässt, letzte Woche auch noch mal zu sagen, die Türkei würde Dschihadisten nach Libyen schicken und die Intervention sei kriminell. Also insgesamt sehr dringlich, sehr aktuelle Fragestellungen, die ein größeres Bild einfängt und, ich finde, eine gefährliche Abwärtsspirale zeigt, in der sich Libyen inzwischen befindet, auch schon das letzte Jahr befunden hat. Die ist darauf zurückzuführen – nicht nur, aber auch –, dass so viele externe Akteure in Libyen so heftig mitmischen. Wie Erdogan Libyen dominieren willVerschiedene Staaten versuchen im Bürgerkriegsland Libyen Einfluss zu gewinnen – so auch die Türkei. Sie hat die international anerkannte Regierung militärisch unterstützt. Rohde: Dann erklären Sie uns das mal, was steckt hinter diesem Streit von Türkei und Frankreich? Trauthig: Ja, ganz unterschiedliche Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen. Frankreich insgesamt ist ja in der Sahel-Region vor allem auch sehr aktiv. Da gehört dann Libyen auch in die Strategie mit rein, einfach die Antiterrorismusbekämpfung, und da hat Frankreich den Kommandeur der sogenannten libyschen nationalen Armee, Chalifa Haftar auserwählt als so in ihrem Bilde stabilen militärischen Partner, der in diesem Antiterrorismuskampf helfen soll. Der hat aber auch starke Verluste jetzt hinnehmen müssen. Die Türkei, ganz anders, der geht es vor allem auch um wirtschaftliche Interessen. Also die haben vor Ort schon gute wirtschaftliche Verbindungen. Die haben Ende letzten Jahres jetzt ein für sie ganz wichtiges Abkommen unterzeichnet mit der sogenannten Einheitsregierung, die in Tripolis sitzt, und diese unterstützen sie auch, weil wenn diese an der Macht bleibt, dann ist für die Türkei auch ganz viel an vermutlichem Profit und langen wirtschaftlichen Interessen gesichert. Rohde: Ja, und bei dem Streit geht es auch um Vorwürfe von Waffenlieferung. Es gibt jetzt immer wieder Medienberichte in den vergangenen Wochen, auch über deutsche Waffen, die gesichtet wurden auf beiden Seiten des Bürgerkriegs. Können Sie uns erklären, wie kommen denn Waffen nach Libyen? Trauthig: Da müssen wir den Blick jetzt noch mal weiten, wie wir auch vorhin schon erwähnt haben: Es sind nämlich nicht nur Frankreich und die Türkei in Libyen aktiv, sondern auch andere Länder. Also jetzt gerade die Rüstungsgüter, die aus Deutschland gesichtet wurden, also Militärfahrzeuge etc., da kann man jetzt einige Schlussfolgerungen ziehen. Also zum Beispiel es gibt ja – das ist ja auch öffentlich – den Rüstungsexportbericht von Deutschland, da ist Ägypten ganz vorne mit dabei, da ist die Türkei ganz vorne mit dabei, da sind auch die Vereinigten Arabischen Emirate, große Einkäufe der deutschen Rüstungsindustrie, und diese drei Länder alle brechen das Waffenembargo in Libyen. Das Geschäft mit den Flüchtlingen - Endstation LibyenFür die Menschen, die Tausende Kilometer nach Libyen gereist sind, um nach Europa überzusetzen, wird die EU-Grenzsicherung zunehmend zur Falle. Denn die Schleuser in Libyen haben ihr Geschäftsmodell geändert. Rohde: Ist das belegt, also wissen Sie das de facto? Trauthig: Also da gibt es eine Kommission, die nennt sich Panel of Experts, also praktisch ein Expertenkomitee der Vereinten Nationen, die bringen regelmäßig Berichte raus, und da ist das nachgewiesen, wie gerade von den Vereinigten Arabischen Emiraten über mehrere Wege Waffen nach Libyen kommen, und die Vereinigten Arabischen Emirate haben viele deutsche Rüstungsgüter gekauft, ja. Rohde: Auf der Libyenkonferenz in Berlin Anfang des Jahres haben ja die Beteiligten versprochen, dass sie sich an das Waffenembargo halten. Jetzt wird in der kommenden Woche eine Zwischenbilanz gezogen im UN-Sicherheitsrat. Was würden Sie sagen, diese Berliner Libyenkonferenz, die hat langfristig nichts verändert, weil weiterhin Waffen in diesen Krieg kommen? Trauthig: Ja, also das Einhalten des Waffenembargos war wirklich eines der zentralen Punkte. Also ich weiß noch, Außenminister Maas, der betont das immer wieder, dass das sehr wichtig ist. Natürlich ist ein Waffenstillstand und dann auch keine zusätzlichen Waffenlieferungen in das Land etwas wirklich Elementares. Da möchte ich jetzt gerne drauf hinweisen, das habe ich letzte Woche auch gehört, ein sehr langes Interview mit dem ja inzwischen abgetretenen Sondergesandten der Vereinten Nationen für Libyen, Ghassan Salamé, der große Bedrücktheit ausgedrückt hat darüber, dass er wirklich angelogen wurde eigentlich von Mitgliedern des Sicherheitsrates, von teilnehmenden Staaten der Berlinkonferenz, die ja auch unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen stattgefunden hat, dass man mündlich verspricht oder rhetorisch verspricht, sich daran zu halten und vor Ort die Kämpfe eskalieren und auch mit Munition weiter gefüttert werden. Brantner (Grüne) - "Europa lässt das Chaos in Libyen weitergehen"Die Grünen-Außenexpertin Franziska Brantner spricht sich für die Marinemission Sophia vor der Küste Libyens aus. Diese müsse das Waffenembargo überprüfen und Flüchtlinge retten, sagte sie im Dlf. Rohde: Die Türkei und Russland haben ja Fakten geschaffen in den vergangenen Monaten vor Ort und ein Vakuum gefüllt, was entstanden ist, weil die Europäer, wie man ja sagen muss, zugeschaut haben, auch weil sie gespalten waren wegen Frankreichs Politik. Jetzt fordert der Außenpolitiker von der CDU, Norbert Röttgen, einen Bundeswehreinsatz unter dem Dach entweder der EU oder der UN. Würde das etwas ändern? Trauthig: Also das ist jetzt eine ganz komplexe Frage. Da will ich ganz kurz mal auf die Türkei und Russland eingehen, also wie die in Libyen interagieren. Das möchte ich nicht von irgendeinem EU-Land sehen, um ehrlich zu sein. Also inzwischen sind wir wirklich in der Lage angekommen, wo die libyschen Akteure vor Ort im Westen und Osten des Landes sich eigentlich auf ausländische Backer, also auf ausländische Kräfte stützen müssen. Da sind tausende von Söldnern nach Libyen geflogen worden, syrische Söldner, teilweise aus der Türkei, diese russischen privaten Söldner, also die eigentlich wirklich, beide Kräfte, vor Ort ohne nicht mehr auskommen würden. Jetzt ist die Frage, deutscher Bundeswehreinsatz: mehrere Analyseebenen. Also wir haben ja eine Parlamentsarmee. Je nachdem wie dieses Mandat dann ausgestaltet sein muss, muss das ja vom Parlament bestätigt werden. Wir hatten Ende letzten Jahres die Diskussion mit Mali, dass es ein robusteres Mandat gibt und Frankreich bei der Terrorismusbekämpfung aktiv unterstützt werden soll. Das ist mit der aktuellen SPD-Spitze, denke ich, sehr unwahrscheinlich weiterhin, also wurde ja jetzt auch nicht so beschlossen Ende Mai. Dann die völkerrechtlichen Normen: Deutschland würde – also davon gehe ich aus und würde ich auch hoffen – nur auf Einladung des Heimatlandes oder unter einer VN-Resolution und dann EU-Mission etc. in Libyen agieren. Wir haben das jetzt schon mehrmals angesprochen, also sowohl der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist extrem gespalten. Da gibt es Kräfte – Russland, Frankreich –, die sicherlich davon ausgehen würden, dass bei so einem Militäreinsatz letztlich ihr ernannter Bündnispartner, nämlich Kalifa Haftar, eigentlich mehr zu Schaden kommen würde und dann sicherlich auch ihre Vetomacht benutzen würden. Dann würde ich jetzt noch wirklich auch ein bisschen warnend anstellen, dass es so viele andere Ebene eigentlich noch gibt, bevor man über einen Bundeswehreinsatz spricht. Also wir können das "naming und shaming" viel stärker machen. Es gab vor gut einem Jahr einen Angriff auf ein Flüchtlingslager außerhalb Tripolis, da wurde bis heute von keiner westlichen Regierung das Land eigentlich genannt, was dafür verantwortlich ist. Man könnte noch viel mehr mit Sanktionen arbeiten. Man müsste viel mehr dahinter sein, diese militärischen Lieferungen, also diesen ständigen Nachschub zu stoppen. Für die EU jetzt ganz speziell braucht es wirklich diplomatisch viel mehr diese eine Stimme, mit der gesprochen wird, bevor man über sowas wieder und auch noch Truppen zu entsenden nachdenken sollte. Putins Schattenarmee - Russische Söldner in AfrikaRussland will die Zusammenarbeit mit Afrika ausbauen. Bislang liefert Moskau Waffen und geht Militärkooperationen ein. Beobachtern zufolge kommen auch Söldner zum Einsatz, so etwa in Libyen. Rohde: Das heißt, Sie halten das für unwahrscheinlich und befürchten auch, dass die Lage noch eskalieren könnte, wenn man jetzt weitere Soldaten schickt. Trauthig: Ja, es würde die Lage auf jeden Fall noch mal unübersichtlicher machen, und ich bin mir auch wirklich nicht ganz im Klaren, wie die Bundeswehr da agieren sollte. Was ich auch noch mal in Erinnerung rufen möchte: Mali ist meines Erachtens der schwierigste Einsatz der Bundeswehr. 2019 war eins der gefährlichsten Jahre in Mali. Trotzdem ist Libyen noch mal ein anderes Kaliber. Also manche Beobachter nennen Libyen den neuen Waffenmarkt der Welt. Die Bundeswehr und auch andere europäische Soldaten da jetzt hinzuschicken, da muss ich doch viele Fragezeichen noch dahinstellen. Bundeswehr in Mali - Der unsichtbare Einsatz Der Einsatz der Bundeswehr in Mali bekommt relativ wenig öffentliche Aufmerksamkeit - zu Unrecht, kommentiert Marcus Pindur. Er hat es verdient, breit debattiert zu werden, denn die Sicherheitslage in Westafrika hat sich massiv verschlechtert. Rohde: Deutschland hat gerade die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, hat auch turnusmäßig den UN-Sicherheitsrat, ist Ausrichter der Berliner Konferenz im Januar gewesen. Was muss Deutschland jetzt tun, um die Lage in Libyen zu deeskalieren? Trauthig: Das ist natürlich eine Mammutaufgabe. Ich denke, positive Zeichen sind wirklich – das hatte ich vorhin auch schon mal erwähnt–, Deutschland war nicht an der NATO-Intervention beteiligt, wo ja andere westliche oder europäische Länder, vor allem auch Großbritannien und Frankreich, dabei waren. Da, würde ich sagen, haben die Deutschen immer noch eine Glaubwürdigkeitsvorsprung gegenüber anderen europäischen Kräften. Sie haben nicht die koloniale Geschichte Italiens etc. Positive Zeichen auch, würde ich sagen, Merkel selbst hat im Herbst letzten Jahres ja gesagt, Libyen darf nicht das neue Syrien werden, und dann wirklich aktiv mit den Vereinten Nationen gearbeitet, um diese Libyenkonferenz auf die Beine zu stellen. Ich würde jetzt sagen, ich muss jetzt mal im Kleinen anfangen, einfach weil die Lage gerade so schwierig ist in Bezug auf Libyen. Es wäre ja schon mal was gewonnen, wenn Deutschland schafft, im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Libyen wirklich auch auf die Tagesordnung zu setzen von den Sitzungen. Mitte Juli ist ein Treffen der EU-Außenminister. Wenn Libyen da auch thematisiert wird, wirklich genuin die europäischen Staaten versuchen, sich da auf eine Position zu einigen oder zumindest zusammenzufinden, weil meines Erachtens könnte Libyen zentral sein für ein stärkeres Europa in der Welt, was ja auch eins der Ziele oder zumindest Themen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist, und auch wichtig: die libyschen Akteure wären sicherlich mehr dazu geneigt, EU-Politikern zuzuhören, wenn nicht mehr diese großen Diskrepanzen und Gräben innerhalb der EU auftreten. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Inga Trauthig im Gespräch mit Stephanie Rohde
Die Konfliktforscherin Inga Trauthig sieht einen Bundeswehreinsatz in Libyen skeptisch. Dies würde die Lage unübersichtlicher machen. Die Situation sei ganz anders als etwa in Mali, wo die Bundeswehr auch aktiv ist, sagte sie im Dlf. Beobachter bezeichneten Libyen schon als neuen Waffenmarkt der Welt.
"2020-07-04T06:50:00+02:00"
"2020-07-06T17:12:00.150000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/moeglicher-bundeswehreinsatz-libyen-ist-ein-anderes-kaliber-100.html
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Sebastian Sternal & Jonas Burgwinkel
Sie sind eng befreundet und gehören zu den Lieblingsmusikern des jeweils anderen: Jonas Burgwinkel (l.) und Sebastian Sternal (Deutschlandradio / Odilo Clausnitzer) Dass Sebastian Sternal und Jonas Burgwinkel auf einer Wellenlänge liegen, haben sie schon in vielen gemeinsamen Projekten bewiesen, zuletzt etwa im Trio mit dem amerikanischen Bassisten Larry Grenadier. Bei ihrem erstmaligen Zusammentreffen als Duo verließen sie sich auf diese langjährige Erfahrung als eingespieltes Team. Als Repertoire-Grundlage wählten sie erprobte Eigenkompositionen Sternals. Aber statt angestrengt Kompensationsstrategien für den fehlenden Bass zu verfolgen, warfen sich hier zwei Meistermusiker leichthändig und voller Spielfreude die Bälle zu. Ein aufregendes Konzert im Zeichen von funkelnden Melodien, wendigen Rhythmen - und Freiheit. Sebastian Sternal, KlavierJonas Burgwinkel, Schlagzeug Aufnahme vom 19.6.2020 aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal, Köln Die Reihe „Cologne Duets“ entstand in Reaktion auf die Corona-Krise: Sie dokumentiert Duos Kölner Musikerinnen und Musiker mit Aufnahmen, die live, aber ohne Publikum eingespielt wurden. Die nächste "Cologne Duets" Aufnahme folgt in "Jazz Live" am 10. November 2020 mit Kristina Brodersen, Saxofon und Tobias Weindorf, Klavier.
Am Mikrofon: Odilo Clausnitzer
Klavier/Schlagzeug-Duos sind im Jazz rar gesät; die Besetzung lädt ein zum Experimentieren. Sebastian Sternal und Jonas Burgwinkel, zwei oft gepriesene Improvisatoren, kennen sich seit vielen Jahren aus zahlreichen Bands. Im Deutschlandfunk spielten sie erstmals zu zweit zusammen - Wagnis geglückt!
"2020-10-13T21:05:00+02:00"
"2020-10-07T11:37:35.285000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cologne-duets-sebastian-sternal-jonas-burgwinkel-100.html
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"Ritt auf der Rasierklinge"
Das domradio im Köln, finanziert aus Kirchengeldern, hat dennoch den Anspruch, journalistisch-kritisch auch über Kirchenthemen zu berichten (picture-alliance/ dpa | Rolf Vennenbernd) Das domradio in Köln sendet Kirchennachrichten, Gottesdienste und spirituelle Impulse. Finanziert wird es vom Bildungswerk des Erzbistums, also aus Kirchengeldern. Trotzdem habe der Sender immer eine gewisse Autonomie gehabt, findet Thomas Schüller, Kirchenrechtler aus Münster. "Die haben also auch kritische Stimmen aus allen Lagern – aus dem Linkskatholizismus, aus dem Rechtskatholizismus –, haben auch mal am Rande gelegene Themen aufgegriffen. Das fand ich immer gut. In den letzten zwei, drei Wochen beobachte ich, dass das domradio Beiträge aufnimmt, die natürlich in der Auseinandersetzung mit Kardinal Woelki von Bedeutung sind und wo man den Eindruck hat, sie werden zu einem offiziellen Presseorgan des erzbischöflichen Ordinariates. Das heißt, man findet dann Interviews mit Gesprächspartnern, die die Sicht des Erzbischofs stärken und unterstützen." Macht das domradio Öffentlichkeitsarbeit? Eines dieser Interviews ist das mit dem ehemaligen Bundesrichter Thomas Fischer, der die Darstellung der Ereignisse rund um Kardinal Woelki vergangene Woche als "Hysterisierung" bezeichnete. Macht das domradio also Öffentlichkeitsarbeit im Sinne des Erzbischofs? Ingo Brüggenjürgen, seit über 20 Jahren Chefredakteur des Senders, widerspricht vehement. Man sei weder Pressestelle noch Propaganda-Abteilung des Erzbistums: "Wir haben eine ordentliche Lizenz wie jeder andere Radiosender, und von daher werden wir einen Teufel tun und uns die Interviewpartner vorschreiben lassen. Wir wählen die Interviewpartner wie jede Redaktion selber aus. Wir werden finanziert von all den Kirchensteuerzahlern im Erzbistum Köln. Und wenn die breit aufgestellt sind, dann ist es auch unsere Aufgabe, diese Meinungsvielfalt, die es dort gibt, widerzuspiegeln im Programm. Klar, das ist eine Herausforderung jeden Tag, da die Balance zu halten. Das ist vielleicht manchmal auch ein Ritt auf der Rasierklinge, aber das ist letztendlich die Aufgabe von Journalisten." Keine Recherche zu umstrittenen Themen Dieser Ritt auf der Rasierklinge zeigt sich zum Beispiel in einem aktuellen Kommentar des Chefredakteurs. Dort wirft er der Kirche vor, zu mauern und zu lamentieren – versteckt ist diese Beobachtung allerdings in den letzten Versen eines humoristischen Karnevalsgedichts. Und auch wenn der Sender kritische Äußerungen gegen Woelki regelmäßig vermeldet, recherchiert er nicht selbst zu umstrittenen Themen. Wo Bischöfe Medienmärtyrer sein könnenIm Missbrauchsskandal kritisieren katholische Journalisten die Öffentlichkeitsarbeit im Erzbistum Köln. Das System der katholischen Kirche funktioniere nach einer eigenen Logik, sagte die Journalistin Christiane Florin im Dlf. Weil das domradio vom Bistum finanziell abhängt, überschreitet die Redaktion eine gewisse rote Linie nicht. Das zeigt sich auch darin, dass Woelki auf dem Webportal des Senders jede Woche eine Videokolumne veröffentlicht, die er schon mehrfach als Plattform genutzt hat, um sich zu rechtfertigen – ein Format, das die Redaktion bei aller erklärten Unabhängigkeit wohl zu akzeptieren hat. Kritischere Berichterstattung bei katholisch.de Mehr kritische Kirchenangehörige kommen beim Nachrichtenportal katholisch.de zu Wort. Das liegt auch daran, dass das es von allen deutschen Bistümern gemeinsam getragen wird, meint Redaktionsleiter Björn Odendahl: "Wenn man 27 Chefs hat, 27 Bischöfe, die mitfinanzieren, dann ist natürlich auch im deutschen Episkopat die Meinung sehr unterschiedlich zu diesen vielen verschiedenen Themen: Missbrauchsaufarbeitung, Strukturreformen, Frauen in der Kirche. Das verschafft uns dann vielleicht auch eine bisschen größere Freiheit, weil man da selbst unterschiedlicher Meinung ist. Ich glaube, dass die Kirche da in letzter Zeit und auch die Bischöfe nochmal verstärkter wahrgenommen haben, dass wir mit unserer kritischen Berichterstattung auch Teil der Transparenzoffensive der Kirche sind." Öffentlichkeitsarbeit als PR? "Das hat sich geändert" Diese Transparenzoffensive beobachtet auch Manfred Becker-Huberti, der unter dem Kölner Kardinal Meisner 15 Jahre lang Pressesprecher des Erzbistums Köln war und dessen Tochter heute stellvertretende Chefredakteurin des domradios ist. Bis Ende der 80er-Jahre habe die katholische Kirche ihre Öffentlichkeitsarbeit vor allem als PR angesehen. "Das hat sich inzwischen geändert. Man sieht ein, dass das ein Prozess ist, der abläuft, ein Kommunikationsprozess, in den man sich einbringen kann. Aber indem man sich als einseitig erkennbar gibt, hat man bereits verloren." Sendezeiten für die KirchenNur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer Kirche an. Trotzdem steht der katholischen und evangelischen Kirche per Gesetz Sendezeit im Rundfunk zu. Kritiker fordern, dass auch andere Gruppen ihre eigenen Radioformate bekommen. Die Debatten um Kardinal Woelki stellen diese Entwicklung nun noch einmal auf eine Probe. domradio-Chefredakteur Ingo Brüggenjürgen sagt, ein solches Medienecho habe er in seinen Berufsjahren noch nie erlebt. Dass das Thema bald wieder Schlagzeilen macht, ist absehbar. Denn am 18. März will Kardinal Woelki sein neues Gutachten zur Aufarbeitung sexueller Gewalt vorlegen.
Von Annika Schneider
Seit Monaten steht der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki in der Kritik. Dem katholischen Kirchenmann wird unter anderem vorgeworfen, ein selbst beauftragtes Gutachten zum Missbrauchsskandal unter Verschluss zu halten. In kirchlichen Medien stößt die Kritik daran immer wieder an Grenzen.
"2021-02-17T15:35:00+01:00"
"2021-02-18T12:18:58.076000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-kirchenmedien-ueber-die-causa-woelki-berichten-ritt-auf-100.html
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"Vergessen gehört zur Kehrseite des Deponierens"
Manche Schätze sind in Sonder- und Dauerausstellungen ständig zu sehen, andre geraten in Vergessenheit. (picture alliance / dpa / Ingo Wagner) Rainer Berthold Schossig: Was sind die Hausaufgaben jedes Museums? - Nicht nur Ausstellen, sondern auch Sammeln, Erforschen, Publizieren und – nicht zuletzt - Aufbewahren. Natürlich weiß jeder einigermaßen aufgeklärte Museumsbesucher, dass die Exponate, die er da gerade sieht, nur die Spitze des musealen Eisbergs sind. Ungleich mehr liegt in den Magazinen der Häuser. "Kunst auf Lager" - so heißt eine Initiative der Kulturstiftung der Länder zum Erschließen bedrohter Bestände in deutschen Museumsdepots, der wir uns zum Jahreswechsel anhand ausgewählter Beispiele widmen. Heute geht es um Kunstwerke, deren Schicksal es war, zum Teil viele Jahrzehnte lang im Depot zu lagern, und zwar im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Seit vier Jahren ist Rainer Stamm Direktor der weit verzweigten Museen in der ehemals herzoglichen Residenz, und inzwischen ist er daran gegangen, lange verborgene Stücke in Kellern und Schränken neu zu sichten. Ich habe ihn zunächst gefragt: Herr Stamm, gehört denn solches Graben und Forschen im Bauch des Museums mehr zur Last oder zu den Vergnügen eines Museumsleiters? Rainer Stamm: Ja ich musste und ich durfte. Das gehört eigentlich auch zu den inspirierendsten Teilen so eines Amtes. Man sieht einfach, was über die vielen Jahrzehnte des Sammelns und auch des Aufhäufens sich in den Depots abgelagert hat.Natürlich sind die schönsten Stücke, die bekanntesten Stücke in den Dauerausstellungen gelandet und fast allen zugänglich, aber die Qualität gerade bei so einem alten traditionsreichen Haus der Depotbestände, die ist eigentlich umwerfend, und es war eine Tätigkeit von meinen ersten Diensttagen und Wochen an, immer wieder zu gucken, immer wieder Kreise zu ziehen, zu entdecken und die vergessenen Schätze möglichst sichtbar zu machen und hervorzuholen. "Sehr spannend zu sehen, wie sich der Blick auf die Stücke wandelt" Schossig: Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Großherzöge von Oldenburg nicht davongejagt, aber zumindest kam alles in öffentlichen Besitz. Nun fragt man sich ja als Beobachter der Museumsszene: Wie kann es sein, dass dort in den Depots des Landesmuseums einfach Kunstwerke verloren gehen, vergessen werden, weg sind aus dem Bewusstsein und dann plötzlich wieder auftauchen? Stamm: Verloren gehen sie nicht, aber das Vergessen gehört fast zu dem Schicksal oder zu der Kehrseite des Deponierens. Man muss sich vorstellen oder auch kurz zurückblicken, wie sind diese Museen entstanden: Teilweise schon als Sammlungen um 1900, zum Beispiel die Kunstgewerbe-Museen und auch die großherzogliche Altertümersammlung - so hieß unser Vorläufer -, mit der Aufgabe, die Schätze, die in den Kirchen nicht mehr geschätzt wurden, zu sichern, zu bewahren und quasi als kulturelles Gedächtnis einer Region zu sichern und aufzuheben. Insofern haben diese Museen die Altertümer einer Region zusammengetragen, aufgehäuft, versammelt, und das ist gut, weil dadurch vieles vor dem Verkauf, vor dem Vernichten, vor der zweckentfremdeten Nutzung geschützt war. Aber in der Menge geht natürlich manches Stück unter und es ist auch sehr, sehr spannend zu sehen, wie sich der Blick auf die Stücke wandelt. Dinge, die mal geschätzt wurden, sind jetzt eher in der zweiten Reihe, andere Dinge entdeckten wir in den Sammlungen und sind erstaunt, was da für Qualität auch drinsteckt. Schossig: Sie haben mir eine Abbildung geschickt, die zeigt die sogenannte Vareler Prieche. Das ist ein, wie es aussieht - in dieser Schwarz-Weiß-Aufnahme relativ undeutlich, aber immerhin sieht man sehr viel -, eine prächtig geschnitzte, bemalte Art Empore, auf der wohl früher jemand Wichtiges gesessen haben mag. Nun ist die im Depot seit 1924 oder so. Wie kam es, dass die vergessen wurde, dass die plötzlich jetzt in Ihrer Ära wieder auftauchen konnte und wiedergefunden werden konnte? Stamm: Ja, das sind Ausstattungsstücke, die zu der Geschichte einer Kirche dazugehören. Aber die Kirchen sind natürlich im Unterschied zu den Museen in lebendiger Benutzung und der Geschmack wandelt sich. Durch die Reformation sind manche Dinge anders oder nicht mehr gewertschätzt. Und bei dieser sogenannten Prieche - auch ich musste dieses Wort erst lernen - handelt es sich um eine Emporenbrüstung, vielleicht für die herzogliche Familie, auf jeden Fall für die Honoratioren, die sehr reich und aufwendig ausgestattet war, mit Vergoldungen, mit Schnitzwerk, mit Malerei. Man muss dazu sagen: Die Malerei, das ist eine sehr einfache, fast bäuerlich anmutende grobe Malerei. Aber diese Stücke sind natürlich ganz typisch und exemplarisch für eine Zeit in einer Region, hier für den Barock im Nordwesten. Da gibt es nicht mehr viel von, denn mit den Moden wurde so etwas nach und nach immer wieder ausrangiert. Dieses Stück ist schon seit den 20er-Jahren im Landesmuseum, damals gesichert worden, hereingeholt worden in die Museumssammlungen und damals auch schon wertgeschätzt worden, und das Ernüchternde ist, dass eigentlich der Befund des Stückes, so wie es in das Museum gekommen ist 1924, sich nicht verändert hat. "Toll und heruntergekommen sah es aus" Schossig: Wie sieht es denn aus, Herr Stamm? Stamm: In einfachen Worten: Toll und heruntergekommen sah es aus. Es ist eine tolle Substanz. Da hat es auch den Vorteil, dass daran nicht herumgewerkelt worden ist. Es ist nicht überstrichen und tausendmal verändert worden, sondern dieser Zustand, der wohl aus der Zeit um 1615 stammt, ist im Wesentlichen erhalten. Natürlich: Inzwischen haben sich Farbpartikel gelöst, die Vergoldung ist stumpf geworden, teilweise abgefallen, Konsolfiguren, die von dem berühmten Bildschnitzer Münstermann aus Hamburg stammen, sind zwischendurch abgenommen worden und als Einzelstücke im Museum ausgestellt worden. Schossig: Die kannten Sie also, diese Einzel-Konsolfiguren? Die wurden gezeigt? Stamm: Ja, das ist auch merkwürdig. Die einzelnen Konsolfiguren sind sogar in einem Werkkatalog zu Ludwig Münstermann schon aufgenommen gewesen. Aber der Kontext war eigentlich zerstört. Offenbar war diese Prieche, diese Emporenbrüstung den Amtsvorgängern zu sperrig, zu aufwendig zu sanieren, der Zustand zu schlecht, als dass man es in die Dauerausstellung aufnehmen konnte, und das ist eigentlich der Klassiker für dieses Programm "Kunst auf Lager". Wir haben einfach viele tolle Sorgenkinder, um die muss man sich kümmern. Es ist nicht alles aus eigener Kraft zu schaffen. Es ist auch nicht einfach mit einer schnellen Reinigung getan, sondern das sind teilweise aufwendigere Projekte, und gemeinsam mit diesem Verbund kann man so etwas angehen, was wirklich in diesem Fall 90 Jahre lang vor sich hergeschoben wurde. Schossig: Was haben Sie konkret jetzt mit dem Stück vor? Das soll zurückgeholt werden ins öffentliche Gedächtnis? Stamm: Ja. Wir sind systematisch in den letzten Jahren durch die Depots gegangen. Im ersten Durchgang der Sichtung haben wir natürlich mit den Kollegen, mit den Sammlungsleitern und auch externen Fachleuten versucht, gemeinsam besonders qualitätvolle Stücke aufzuspüren. Dazu gehörte dieses Stück und das bekommt nun ab nächstem Jahr eine doppelte Verwendung. Zum einen planen wir eine Ausstellung zur Geschichte der Reformation hier in der Region, wie hat sich das Bildprogramm, wie hat sich die Darstellung von sakralen Themen durch die Reformation geändert in der Region. Da wird die Vareler Prieche - so nenne ich sie jetzt mal - als eines der Hauptexponate temporär zu sehen sein. Und dann geht es mir natürlich darum, so ein Stück, das wir wieder wertschätzen, das wir wieder in einen tollen Zustand zurückversetzt haben, dann nicht wieder ins Depot zurückzuräumen, sondern in die Dauerausstellung zu integrieren. "Das Stück ist schlichtweg in Vergessenheit geraten" Schossig: Sie haben von Sorgenkindern gesprochen. Ein anderes, was Ihnen auch Bauchdrücken bereitet, ist ein mittelalterlicher Passionsaltar, der Krapendorfer Altar heißt, ein Fragment oder zwei Fragmente. Auch völlig merkwürdig: Eines der beiden Fragmente steht schon in der Schau, das andere wurde jetzt im Keller gefunden. Wie kann das gehen? Stamm: Ja das ist schon kein Sorgenkind mehr, denn das Tolle ist eigentlich, dass wir es wiedergefunden haben. Ich habe in der Literatur gefunden, dass der Krapendorfer Alter, der wirklich ein bedeutendes Monument der gotischen Bildhauerei hier in der Region ist - und da gibt es nicht so viel von -, früher immer mit zwei Abbildungen abgebildet war. Das größere Stück kenne ich gut, das steht in der Dauerausstellung in der Landesgeschichte im Oldenburger Schloss, und das zweite Stück hatte von den Kollegen nie jemand gesehen und wir haben uns auf die Suche gemacht. Es war da. Die letzte Spur, dass es gezeigt, rezipiert worden ist, stammt aus den 50er-, 60er-Jahren, das ist lange her. Das Stück ist schlichtweg einfach in Vergessenheit geraten, aber in eigentlich einem ganz tollen Zustand. Dieser Krapendorfer Altar aus der Zeit um 1440 war, nachdem dieser Altar in der Kirche von Cloppenburg-Krapendorf nicht mehr geschätzt wurde, als Steinplatte im Boden eingelassen, aber mit der Bildseite nach unten. Das klingt schlimm, ist aber konservatorisch eigentlich ein Glücksfall gewesen, denn hier in der Region gibt es einen weichen, sandigen Boden. Das Relief ist toll erhalten und hier geht es darum, einfach das Stück wieder zu präsentieren, und da wird es sicherlich eine ganz wunderbare Überleitung von der plastischen Kunst zur Tafelmalerei oder zur Tafelretabel dann darstellen können. "Die Depots sind gewaltig, nicht alles kann man zeigen" Schossig: Das klingt alles relativ einfach, macht aber viel Mühe, denke ich, und ist auch mit Kosten verbunden. Was hilft Ihnen die Initiative "Kunst auf Lager" konkret, Herr Stamm? Stamm: Wir haben natürlich unser tägliches Geschäft, sage ich mal, aber es gibt natürlich Wunschlisten. Die Depots sind gewaltig, nicht alles kann man zeigen, und man braucht auch Sparringspartner, wenn man wirklich die Wünsche umsetzen will. Gemeinsam mit Vertretern der Hermann Reemtsma Stiftung sind wir durch die Depots gegangen. Ich habe meine Wunschstücke gezeigt und das Schöne ist, dass man da gar nicht mehr drüber nachdenken muss, ob das sich lohnt, ob das Sinn macht, die Stücke zu sichern, wiederherzustellen, sondern man hat einfach sofort den Impuls, man möchte die Dinge ans Licht holen, und zusammen mit der Reemtsma Stiftung konnten wir jetzt drei aufwendige Restaurierungsprojekte angehen und werden die sicherlich bis ungefähr Mitte 2015 auch umsetzen können. Schossig: Soweit Rainer Stamm, der Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, über aktuelle Sorgenkinder seiner Sammlung, die jetzt im Rahmen der Initiative "Kunst auf Lager" instandgesetzt werden, um auch gezeigt zu werden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rainer Stamm im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig
"Wir haben einfach viele tolle Sorgenkinder, um die muss man sich kümmern." Das sagte Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg im DLF. Dank der Initiative "Kunst auf Lager" sei es möglich, vieles wieder aus den Depots zu holen und vergessene Schätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
"2015-01-01T17:30:00+01:00"
"2020-01-30T12:15:08.638000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schaetze-im-museumskeller-vergessen-gehoert-zur-kehrseite-100.html
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Der Fall Buschkow und die DSV-Reaktion
Jan Hempel hat seinem ehemaligen Trainer sexuellen Missbrauch vorgeworfen - Bundestrainer Lutz Buschkow soll länger davon gewusst haben ohne zu handeln. (picture alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner)
Schültke, Andrea
Ex-Wasserspringer Jan Hempel hat massive Missbrauchsvorwürfe gegen seinen ehemaligen Trainer erhoben. Der Deutsche Schwimm-Verband hat nun reagiert. Wirkliche Emphatie fehle ihr dabei aber, sagt Sportjournalistin Andrea Schültke. Sie kritisiert, dass der DSV nicht transparent agiere und Athletinnen und Athleten nicht auf Mediennachfragen vorbereitet wurden.
"2022-08-20T19:15:05+02:00"
"2022-08-20T20:59:03.252000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexualisierte-gewalt-im-schwimmen-der-fall-buschkow-und-die-dsv-reaktion-dlf-ff9a51c7-100.html
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Wie nachhaltiger und fairer produzieren?
Nachhaltige, grüne und Fair-Trade-Mode hat auch auf den Laufstegen der Berlin Fashion Week eine große Rolle gespielt. (dpa / picture alliance / Jens Kalaene) Am Wochenende ist die Berlin Fashion Week zu Ende gegangen. Und neben dem üblichen Programm auf hat nachhaltige, grüne und Fair-Trade-Mode auf den Laufstegen eine große Rolle gespielt, etwa bei der "Ethical Fashion Show" mit Streetware-Mode oder dem "Greenshowroom" für die Luxusklasse. Unter den Besuchern der Fashion Week war eine Gruppe von Modedesignstudenten aus Bangladesch. Unseren Modemarkt und Bedürfnisse der Branche im Westen kennenzulernen und sich mit deutschen Nachwuchsdesignern über die Modeindustrie auszutauschen, darum waren sie in Berlin. Sie sind Teilnehmer des Projekts "Local - International", das bis zum Sommer läuft - organisiert durch das Goethe-Institut in Bangladesch, die Weißensee Kunsthochschule Berlin und die Universität der Künste. Die Mit-Organisatorinnen Professorin Heike Selmer aus Weißensee und Professorin Valeska Schmidt-Thomsen erklären die Hintergründe des Projektes. Das Gespräch können Sie mindestens fünf Monate in unserem Audio-Player nachhören.
Heike Selmer und Valeska Schmidt-Thomsen im Gespräch mit Adalbert Siniawski
Wie sieht der Modemarkt hierzulande aus? Wie kann man nachhaltiger produzieren? Darüber tauschten sich Modedesignstudenten aus Deutschland und Bangladesch im Rahmen des Projektes "Local-International" der UdK Berlin sowie der Weißensee Kunsthochschule Berlin aus. Die Initiatorinnen im Gespräch.
"2015-01-27T15:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:18:56.726000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mode-wie-nachhaltiger-und-fairer-produzieren-100.html
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Tusk-Partei wirbt um Wählerstimmen
Donald Tusk ist zurzeit EU-Ratspräsident (dpa) Als polnischer Ministerpräsident war Donald Tusk nicht eben bescheiden. "Es gibt ja keinen, gegen den wir verlieren könnten", tönte er vor der Parlamentswahl vor vier Jahren. Tusk, heute EU-Ratspräsident, nutzte die Schwäche der Opposition dazu, seine Partei umzubauen. Die "Bürgerplattform", kurz PO, die als liberale Formation begonnen hatte, sollte sich viel breiter aufstellen. Tusk band einerseits linke Politiker an die Partei, wie zum Beispiel Bartosz Arlukowicz, dem er das Amt des Gesundheitsministers übertrug. Andererseits durfte der nationalkatholische Flügel der PO mit Jaroslaw Gowin das Justizministerium stellen. Gescheitertes Projekt Doch dieses Projekt einer großen Volkspartei, beinahe einer Partei der nationalen Einheit, scheiterte. Die "Bürgerplattform" sei zu einer Formation ohne Profil geworden, sagt der Warschauer Soziologe Andrzej Rychard. "Keine eigene Meinung zu haben, wurde sogar zur unausgesprochenen Ideologie der Bürgerplattform. Ihre Anführer haben das nicht als Fehler betrachtet. Wir werden uns nicht über Themen streiten, die etwas mit Werten zu tun haben, haben sie sich gesagt. Da kommt man schwer zu Kompromissen. Die "Bürgerplattform" hat sich auf die Modernisierung des Landes konzentriert, die ja die allermeisten Menschen unterstützen."Erst jetzt, kurz vor der Parlamentswahl, besinnt sich die "Bürgerplattform" wieder auf ihre einstigen Stammwähler. Sie hat zumindest einige der liberalen Versprechen, mit denen sie vor acht Jahren an die Macht gekommen ist, erfüllt. Ende Juli zum Beispiel wurde das Gesetz zur künstlichen Befruchtung unterzeichnet. Bisher waren solche Eingriffe in Polen zwar nicht verboten, aber auch nicht gesetzlich geregelt. Nun dürfen Kliniken ganz offiziell Embryos einfrieren, um bei einem Fehlversuch weitere Eizellen einzupflanzen. Nicht benötigte Embryos können sie vernichten. Proteste der Kirche Die Entrüstung der katholischen Kirche ließ nicht lang auf sich warten. Denn für sie sind Embryos bereits Menschen. Hochstehende Geistliche gehen seitdem hart ins Gericht mit der Regierung, so Erzbischof Andrzej Dziega, Vorsitzender des Rechtsausschusses in der Bischofskonferenz. "Wenn ihr nur ein niederträchtiges Gesetz verabschiedet hättet, dann wäre die Frage, wie Gläubige es beurteilen sollen, eine Sache des Gewissens. Aber Ihr habt ein verbrecherisches Gesetz beschlossen. Es spricht dem Menschen das Menschsein ab. Man darf ein Kind ungestraft töten, nur weil es einem Professor im Labor nicht gelungen ist. Das ist ein Verbrechen." Andrzej Dziega ist der Ansicht, dass die gläubigen Abgeordneten der Bürgerplattform eine schwere Sünde begangen haben. Sie sollten nicht mehr am Abendmahl teilnehmen, erklärte er. Schon zuvor hatte die Regierung eine Konvention des Europarats angenommen, die Gewalt gegen Frauen bekämpft. Auch dagegen stellte sich die katholische Kirche, unter anderem, weil die Konvention die traditionelle Rollenverteilung in der Familie kritisiert. Doch die Regierung ging zuletzt noch einen Schritt weiter: Sie berief einen neuen Ombudsmann für Menschenrechte, der für eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften eintritt. Adam Bodnar, bisher Vize-Vorsitzender der Helsinki-Stiftung, hat auch kein Problem damit, sich als Atheist zu bezeichnen. Starker Gegenwind Ministerpräsidentin Ewa Kopacz von der Bürgerplattform nutzt die Empörung der rechtskonservativen Opposition, um die liberalen Wähler zu warnen. "Diese Politiker wollen den Menschen vorschreiben, wie sie leben sollen. Wenn sie die Wahl im Oktober gewinnen, dann werden wir ihr Diktat spüren. Ich finde das entsetzlich." Die "Bürgerplattform" präsentiert sich also wieder als mutige Partei der Freiheit. Bei den Wählern kommt das bisher kaum an. Im Gegenteil: Die rechtskonservative Oppositionspartei PiS legt in Umfragen weiter zu, für sie würden derzeit über 40 Prozent der Wähler stimmen. Der Soziologe Rychard erklärt das so: "Der Kandidat der PiS hat die Präsidentenwahl gewonnen - das war ein schwerer Schlag für die Bürgerplattform. Die PiS hat seitdem den Nimbus einer neuen politischen Kraft. Dagegen kommt die PO kaum an, wie sehr sie sich auch bemüht." Viel Zeit bleibt der "Bürgerplattform" nicht mehr: Noch genau zwei Monate sind es bis zur Wahl.
Von Florian Kellermann
Künstliche Befruchtung, Frauenrechte, mehr Rechte für Homosexuelle: Donald Tusks regierende Partei "Bürgerplattform" PO präsentiert sich im Wahlkampf als mutige Partei der Freiheit. Bei den Wählern kommt das bisher kaum an. Im Gegenteil: Die rechtskonservative Oppositionspartei PiS legt in Umfragen weiter zu.
"2015-08-25T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:43.473000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahlkampf-in-polen-tusk-partei-wirbt-um-waehlerstimmen-100.html
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Trotz Bienensterbens kein Pestizid-Verbot
Dr. Jay Evans hat einen idyllischen Arbeitsplatz. Eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Washington entfernt arbeitet er im ländlichen Beltsville in Maryland für das US-Landwirtschaftsministerium - und zwar im Bienenforschungslabor. Auf den bewaldeten Hügeln einer ehemaligen Tabakfarm betreiben er und seine Mitarbeiter Ursachenforschung. Für ein Problem, das immer dramatischer wird: Seit 2006 sind jeden Winter 25 bis 30 Prozent der Bienenvölker in Amerika gestorben, sagt Jay Evans: "In diesem Winter war es sogar noch schlimmer. Teilweise starben 40 Prozent der Bienenvölker. Die Situation verbessert sich einfach nicht."Das Bienenforschungslabor der US-Regierung sieht mehrere Gefahren für die Bienen. Die immer größeren Monokulturen aus Soja- und Maisfeldern sind für Bienen eine Wüste, in der kaum Klee oder sonstige Blüten zu finden sind. Geschwächte Bienen sind außerdem leichter angreifbar für Parasiten wie die Varroa-Milbe. Doch die Hauptursache für das Bienensterben vermuten die Forscher in bestimmten Pestiziden, die in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen: vor allem sogenannte Neonicotinoide, mit denen das Saatgut gegen Schädlinge gebeizt wird. Obwohl die Aussaat im Boden verschwindet, sind die "neonics", wie sie in Amerika heißen, auch später in den Pflanzen nachweisbar. Mit dem Nektar - so Bienenforscher Evans - sammeln die Bienen also auch Spuren dieser Pestizide ein: "Bienen hatten über Millionen von Jahren eine wunderbare Nahrung, die genau ihre Ansprüche erfüllt. Mit zusätzlichen Chemikalien kommen sie deshalb nicht klar."Evans und seine Kollegen wollen es genau wissen: Über 100 Bienenvölker in den umliegenden Wäldern werden unterschiedlichen Mengen an Pestiziden ausgesetzt. Auch wenn Hersteller der Neonicotinoide - wie der deutsche Bayer-Konzern - an andere Ursachen für das Bienensterben glauben, weiß Evans: Selbst kleinste Mengen von Chemikalien sammeln sich im Körper der Bienen an. Ein Verbot bestimmter Pestizide hält er in Amerika jedoch für kaum durchsetzbar. Dagegen würden die Farmer Sturm laufen. Dennoch erkennt der Bienenforscher auch bei Amerikas Landwirten ein Umdenken:"Wenn die Profi-Imker die Hälfte ihrer Völker verlieren, gibt es nicht mehr genügend Bienen, um die Mandel- und Obstbäume zu bestäuben. Das ist schlecht für ihre Ernte."Die Mandel-Farmer in Kalifornien haben dies im Frühjahr zu spüren bekommen. Weil das Angebot an Bienenvölkern so knapp war, mussten sie den dreifachen Preis für die Bestäubung ihrer Mandelblüte zahlen: "Wenn die Entwicklung so weitergeht"," prophezeit Evans, ""dann werden viele Farmer wirtschaftliche Probleme bekommen."Wer den Bienen schadet - so Evans - schadet am Ende sich selbst.
Von Martin Ganslmeier
Die Lage wird immer dramatischer: Seit 2006 sterben in den USA jeden Winter bis zu 30 Prozent der Bienenvölker. Ursache hierfür sind wohl unter anderem die in der Landwirtschaft eingesetzten Pflanzenschutzmittel. Verboten werden diese trotzdem nicht.
"2013-05-16T11:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:18:29.798000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trotz-bienensterbens-kein-pestizid-verbot-100.html
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Wohlfühl-Panzer für die indonesische Armee
62 Tonnen schwer, rund acht Meter lang, der Leopard 2 – Panzer ist ein ziemliches Ungetüm. Indonesiens Armee hat ihn trotzdem bestellt, gleich 103 Stück, bei Rheinmetall runderneuert und ein wenig umgebaut – dazu 50 kleinere Marder-Schützenpanzer. Indonesien ist ein von 240 Millionen Menschen bewohntes riesiges Inselreich in Südostasien, grundsätzlich kein Panzerland, meint der Militärexperte Bernhard Loo von der Singapurer Nanyang Universität."Militärisch gibt es für Indonesien ganz einfach keinen Grund, sich diese Panzer zuzulegen."Indonesien ist ein Inselreich mit schlechter Infrastruktur, sagt Loo. Was sollen da schwerfällige Panzer ausrichten?"Ich nehme an, dass die Panzer auf der Hauptinsel Java bleiben werden, weil sie auch kaum per Boot auf andere Inseln transportiert werden können. Mangels entsprechender Boote. Selbst auf Java ist die Infrastruktur schlecht."Indonesien ist seit dem Ende der Diktatur Suhartos auf einem guten demokratischen Weg. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono hat die Korruption in seinem Land bisher zwar nicht erfolgreich genug bekämpfen können, trotzdem aber eine gute, weltweit anerkannte Figur gemacht. Indonesien gilt als Musterland in Südostasien, sowohl politisch als auch ökonomisch. In den Großstädten wächst eine kaufkräftige Mittelschicht heran, der Binnenmarkt boomt, die Wachstumsraten liegen konstant bei gut sechs Prozent. Am Rande Indonesiens, in West-Papua allerdings gebärdet sich dieses demokratisch verfasste Land wie die alte Diktatur früherer Jahrzehnte. Menschenrechtsverletzungen der Armee sind dokumentiert, begangen an der dortigen Bevölkerung, die sich Autonomie oder besser einen eigenen unabhängigen Staat wünscht, und dabei Ost-Timor vor Augen hat, dass nach langem Bürgerkrieg seit gut zehn Jahren von Indonesien unabhängig ist.103 deutsche Leopard-Panzer, die Sorge liegt nahe, dass diese gegen die eigene Bevölkerung in West-Papua eingesetzt werden könnten. Das ist unwahrscheinlich, sagt Militärexperte Bernhard Loo, aus mehreren Gründen:"West-Papua ist die ärmste Provinz, ohne Straßen und die Panzer sind für einen Dschungelkampf gegen Rebellen nicht einsetzbar. Im Regenwald würden die ganz einfach stecken bleiben."217 Millionen Euro umgerechnet gibt Indonesien für die Panzer aus, immerhin 63 der bestellten Leopard-Gebrauchtmodelle sind vom Typ MBT Revolution, der für den Straßenkampf ausgerüstet sein soll. Also doch Einsatzort West-Papua? Nein, sagt Experte Loo, mit den Panzern werden keine Menschenrechte verletzt. Er hält die Anschaffung für ausschließlich machtpolitisch begründet. Um zwei Dinge gehe es dabei. Zum einen um die Machtbalance mit Malaysia, dem Nachbarstaat, dem einzigen, zu dem es eine Landgrenze auf Borneo gibt und dem Indonesien seit Jahrzehnten latent konfliktreich verbunden ist. Konfrontasi nennt man das in der indonesischen Landessprache Bahasa."Es geht um den einfachen Tatbestand, dass auch Malaysia etwa einhundert Panzer erhalten hat und Indonesien nicht zurückstehen wollte."Malaysia hat die Panzer in Polen gekauft, T 90 sowjetischer Bauart, viele letztlich erworben als Ersatzteillager für die Zukunft.Das Machtgleichgewicht in Südostasien, so Loo, wird durch die 103 eher unbeweglichen Leopard-Panzer aber nicht sehr berührt. Eben, weil sie unbeweglich bleiben werden, folgt man den Ausführungen des Militärexperten. Daher, so Loo, sind die Panzer, die Java wahrscheinlich mangels Infrastruktur niemals verlassen werden, ganz schlicht und einfach dazu da, das Militär und vor allem die Generalität glücklich zu machen:"Mehr als alles andere geht es um die Armee und deren Führung. Die soll sich gut fühlen."Und das Militär ist wichtig in Indonesien. 2014 wird ein neuer Präsident gewählt. Der Amtsinhaber darf dann nicht noch einmal antreten. Fünf Kandidaten werden derzeit gehandelt, alle sind hochrangige Militärs. Und auch der amtierende Präsident Yudhoyono ist ehemaliger General.
Von Udo Schmidt
Indonesien hat bei der deutschen Firma Rheinmetall mehr als 150 Panzer bestellt. Aber was will das Inselreich damit? Das südostasiatische Musterland mit prosperierender Wirtschaft hat zwar einen Konflikt mit West-Papua, aber dort im Regenwald würden die Panzer stecken bleiben. Offenbar handelt es sich um einen reinen Prestige-Kauf.
"2012-11-10T13:30:00+01:00"
"2020-02-02T14:33:29.613000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wohlfuehl-panzer-fuer-die-indonesische-armee-100.html
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"Viel Lärm um nichts"
Der einstige Strauß-Intimus Wilfried Scharnagl (imago/Sven Simon) Tobias Armbrüster: In wenigen Tagen, am 6. September, wäre Franz Josef Strauß 100 Jahre alt geworden. Ein wichtiger Termin, vor allem für seine Partei, die CSU, denn dort wird er nach wie vor verehrt. Strauß, so will es die Legende, hat Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg groß gemacht, hat Hochtechnologie und Industrie in den Freistaat gebracht und damit eine einzigartige deutsche Erfolgsgeschichte geschrieben. Aber aktuelle Enthüllungen im "Spiegel" zeigen nun auch ein anderes Bild von FJS. Demnach hat Strauß häufig auch die Hand aufgehalten und von vielen Industrieunternehmen Gelder ohne Gegenleistung kassiert. Der Verdacht der Korruption steht zumindest im Raum. Am Telefon ist jetzt Wilfried Scharnagl, ehemaliger Chefredakteur der CSU-Parteizeitung "Bayernkurier" und ein enger Weggefährte von Franz Josef Strauß. Schönen guten Morgen, Herr Scharnagl. Wilfried Scharnagl: Guten Morgen, Herr Armbrüster. Armbrüster: Herr Scharnagl, muss die Geschichte von Franz Josef Strauß neu geschrieben werden? Vergleich mit Hitler-Tagebüchern Scharnagl: Wissen Sie, als der "Stern" die größte Pleite seiner Geschichte erlebte, indem er gefälschte Hitler-Tagebücher auf den Markt brachte, geschah das mit dem Beiwort, die Geschichte müsste umgeschrieben werden. Ähnliches kommt mir hier vor, die Geschichte muss umgeschrieben werden. Zudem: Ich wundere mich, dass die größte, die historische Situation, die in dieser Ausgabe des "Spiegel" steht, nicht wahrgenommen wird, offensichtlich auch nicht von Ihnen und auch nicht von den Medien, die alle diese andere Geschichte nachgebetet haben. Denn in diesem "Spiegel" steht für meine Begriffe ungeheuer Aufregendes, Neues und Tolles drin. Da steht drin, dass der zentrale Vorwurf, den der "Spiegel" ein halbes Jahrhundert lang dem Franz Josef Strauß gemacht hat: A - er habe das Parlament belogen, B - er habe das juristische Agieren gegen Augstein in Gang gesetzt. Heute steht im "Spiegel", dass beides nicht zutrifft. Heute steht drin, dass er das Parlament nicht belogen hat. Heute steht drin, dass die Ermittlungen gegen das Magazin wegen Landesverrats bereits lange im Gange waren, bevor Strauß eingriff. Das ist für mich die Sensation dieser "Spiegel"-Ausgabe. Und dass man das natürlich in üblicher Weise mit einer der üblichen Vorwurfvermischungen versucht, ein bisschen zu vernebeln, weil es natürlich nicht angenehm ist, nach 50 Jahren diese zentrale Geschichte einzuräumen, das verstehe ich. Armbrüster: Ich schätze mal, Herr Scharnagl, das sehen die Kollegen vom "Spiegel" ein wenig anders. - Aber lassen Sie uns vielleicht bei dieser zentralen Geschichte bleiben. Scharnagl: Entschuldigung! Ich habe zitiert, das steht drin, können Sie nachlesen im "Spiegel" auf Seite 21. Armbrüster: Der neue Vorwurf lautet ja nun, Franz Josef Strauß hatte eine etwas dubiose Beratungsfirma, in die Unternehmen aus der gesamten deutschen Industrie eingezahlt haben, ohne dass sie dafür eine erkennbare Gegenleistung erhalten haben. Scharnagl: Erstens schreibt sogar zu diesem Vorgang der "Spiegel", dass strafrechtlich "korrupt" der Vorwurf überhaupt nicht zutrifft. Das steht selbst in der Geschichte drin. Zweitens wunder ich mich. Strauß ist wirklich wohl der einzige Mann, der eine Generation nach seinem Tod hinaus noch mit großer Hartnäckigkeit verfolgt wird. Okay, kann man tun, gegen Tote kann man ja relativ risikolos Krieg führen. Aber was ich besonders auch hier absurd finde, dass man so tut, als ob hier eine unglaubliche Novität auf den medialen Markt gekommen sei. Würden alle, die die Geschichte geschrieben haben, aber vor allem, die sie nachschreiben und kritiklos nachbeten, sich der Mühe unterzogen haben, die seit drei Monaten auf dem Markt befindliche umfängliche wissenschaftliche Biografie von Professor Horst Möller, lange Jahre, Jahrzehnte Präsident des Instituts für Zeitgeschichte in München, da steht diese Geschichte bereits drin. Man tut jetzt so, als ob hier was Neues war. Wenn man ein bisschen die Augen aufmachen würde, sich ein bisschen, was ich eigentlich zu seriösem Journalismus als dazugehörig empfinde, informieren würde, hätte man längst Bescheid gewusst und müsste jetzt nicht tun, aufgeregt mit den Flügeln flattern, als ob man irgendwas Tolles, Dramatisches entdeckt hätte. Armbrüster: Herr Scharnagl, wir können das ja ganz, ganz unaufgeregt machen. Und die Frage lautet einfach nur: Wenn wir das jetzt wissen. Egal ob diese Vorwürfe nun schon seit längerer Zeit bekannt sind und vielleicht in einigen kleinen Publikationen geschrieben wurden oder jetzt im "Spiegel" erscheinen, die Frage ist doch: Muss das Bild von Franz Josef Strauß neu gezeichnet werden, wenn wir von dieser dubiosen Treuhand-Firma wissen? "Überhaupt nichts muss neu geschrieben werden" Scharnagl: Die Frage, Entschuldigung, Herr Armbrüster, finde ich ein bisschen abstrus. Überhaupt nichts muss neu geschrieben werden. Ich habe Ihnen gesagt, was ich von diesen schrillen Trompetenschreien halte, es müsse die Geschichte neu geschrieben werden. Es ist ein Unternehmen, das beraten hat. In welcher Form, kann ich nicht beurteilen, aber die, die darüber schreiben, überhaupt nicht. Es ist alles ordentlich, wie ich auch handschriftlich Notizen entnehme, über die der Professor Möller berichtet und nicht etwa der "Spiegel". Da steht drin, es ist alles korrekt versteuert worden, es ist alles in Ordnung gegangen, es ist nicht geschmiert worden und es ist auch nicht korrupt. Es ist eine Gesellschaft gewesen zur Beratung, an der Strauß beteiligt war. Okay, Strauß war das - Sie haben das gerade von Peter Gauweiler gehört - in seiner Zeit als Abgeordneter, als er kein Staatsamt, kein Ministeramt hatte. Darum ist das wirklich viel Lärm um nichts. Und das ist meine Überzeugung. Es ist eine Nebelwerferaktion, um die zentrale Aussage, auf die Sie ja auch bemerkenswerterweise nicht näher eingehen: Das, was man Strauß ein halbes Jahrhundert angehängt hat, Parlament belogen und gegen Augstein juristisch vorgegangen, wird beides in diesem "Spiegel" widerrufen. Darüber würde ich gern auch irgendwas lesen in allen Zeitungen, die sich jetzt auf diese Veröffentlichung berufen. Armbrüster: Herr Scharnagl, was würde denn heute passieren, wenn beispielsweise über die Bundesverteidigungsministerin bekannt würde, dass sie eine derartige Treuhandgesellschaft betreibt und vor ihrer Zeit als Ministerin Gelder kassiert hat und möglicherweise auch nach ihrer Zeit als Ministerin weiter dort Gelder kassieren möchte? Scharnagl: Da kann ich Ihnen nur Folgendes sagen. Gehen Sie in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik zurück. Die ehemaligen Minister Schily, die ehemaligen Minister Fischer haben umgehend nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt umfängliche ökonomische, wirtschaftliche Tätigkeiten übernommen. Da habe ich nicht gehört, dass deren Geschichte neu geschrieben werden muss. Armbrüster: Hier im Zusammenhang mit Franz Josef Strauß und dieser Treuhandgesellschaft ist allerdings immer die Rede davon, dass er ja Gelder kassiert hat, diese auch ordentlich versteuert hat, aber niemand weiß, was genau er dafür geleistet hat. Scharnagl: Ja gut. Aber Sie liefern ja jetzt das beste Argument gegen diese Art von Journalismus. Sie schreiben, niemand weiß, was er dafür geleistet hat. Aber diejenigen, die Ihnen das jetzt bekübeln, wissen es auch nicht. Armbrüster: Muss einen das denn nicht zum Nachdenken bringen, wenn man Aktenordner findet voller Geldeinzahlungen und voller Steuerbescheide, dass alles zahlungsmäßig korrekt läuft, aber mit keinem Wort wird erwähnt, welche Gegenleistung erbracht wird. "Bei Strauß schafft auch der Tod keinen Frieden" Scharnagl: Sie kennen Sie wahrscheinlich auch nicht. Ich lese nur darüber. Und auf jeden Fall: Die Bilanz dieses Artikels, dieses Beitrags, auf dem Sie so verständlicherweise herumreiten, ist: Es war kein Fall von Korruption, es war nichts Strafrechtliches. All das steht da drin und das genügt mir. Nach 50 Jahren kann man leicht gegen jemand Vorwürfe erheben, der schon seit 27 Jahren tot ist. Dieser Kampf, diese Schlachten post mortem, dieser Kampf gegen einen Toten - normalerweise schafft der Tod irgendwo auch, dass man sagt, der Tod schafft Frieden. Bei Strauß schafft der Tod auch keinen Frieden und dem "Spiegel" fällt es schwer, obwohl ich wirklich diese historische Korrektur dem Blatt hoch anrechne, weil es ist sicherlich dem "Spiegel" nicht leicht gefallen zu sagen, mein Zentrales, was ich gegen den Strauß über 50 Jahre vorgetragen habe, war falsch. Das ist das richtige, aber sonst könnte man vielleicht auch sagen, hört mal auf. Aber gut, sie werden nicht aufhören. Das zeigt auch die Größe von Strauß, dass man sich heute noch an ihm reiben muss, dass man ihn nicht in Ruhe lassen kann, obwohl er seit 27 Jahren in Rott am Inn in seinem Grab liegt. Das ist so, das war ein kämpferisches Leben, dieser Kampf geht offensichtlich nach dem Tod weiter. Strauß, würde ich sagen, müsste damit leben, aber er wird es hinzunehmen wissen, dort wo er gerade ist. Armbrüster: Hat denn Ihrer Einschätzung nach, Herr Scharnagl, die CSU ein Interesse daran, diesen Vorwürfen weiter nachzugehen? Scharnagl: Überhaupt nicht. Die Vorwürfe, das ist alles klar, steht ja alles drin. Es steht drin, das ist strafrechtlich nichts, das ist kein Fall von Korruption. Es ist nichts passiert, es ist gar nichts, man weiß es nicht. Und was gemacht worden ist, soweit es bekannt ist, ist das alles in Ordnung gegangen. Die CSU hat Anlass, sich zu freuen über das, worauf Sie ja bewusst nicht eingehen, Herr Armbrüster - entschuldigen Sie bitte -, nämlich was sagen sie denn dazu, dass der "Spiegel" plötzlich nicht mehr seine zentralen Vorwürfe gegen Strauß, 50 Jahre erhoben, nicht mehr erhebt. Das ist doch eigentlich die Sensation. Aber das passt natürlich nicht in das Bild, das man sich gemacht hat. Okay, das ist so. Ich meine, auf Strauß trifft zu, was Friedrich Schiller über den großen Wallenstein gesagt hat: Von der Parteiengunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Für die einen wird Strauß zurecht und vor allem für seine Bayern, die ihn immer mit absoluter Mehrheit gewählt haben, und für seine große Anhängerschaft außerhalb Deutschlands ein Bild der Hoffnung, der Erwartung, der Zuversicht, des Vertrauens sein. Für die anderen der Dämon, der den Untergang mit sich hat. Das war sein Schicksal als Lebender und ist offensichtlich auch sein Schicksal als Toter. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wilfried Scharnagl im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der Ex-Chefredakteur der CSU-Parteizeitung "Bayernkurier", Wilfried Scharnagl, hat die aktuellen "Spiegel"-Enthüllungen über Franz Josef Strauß als längst bekannt dargestellt. Die eigentliche Sensation sei, dass der "Spiegel" seine zuvor jahrzehntelang erhobenen Vorwürfe gegen Strauß zurücknehme, sagte Scharnagl im DLF.
"2015-08-25T08:15:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:39.606000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/korruptionsvorwuerfe-gegen-franz-josef-strauss-viel-laerm-100.html
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Der letzte Rockstar
Dave Grohl, Kurt Cobain, Krist Novoselic von der Band Nirvana während eines Interviews zum Europa-Release des Albums "Nevermind" 1991 in London. (imago/Future Image) Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung sieben Tage in unserer Mediathek. Musik: "This Is A Call" Northridge, 45 Autominuten nördlich von Hollywood. Lagerhallen, riesige Malls - dazwischen Einfamilienhäuser mit gepflegtem Vorgarten und Pool, Kindergärten und Schulen. Ein gutbürgerlicher Randbezirk von Los Angeles. Nicht der Ort, an dem man einen Rockstar vermuten würde. Doch genau hier lebt Dave Grohl. Dave Grohl: "Es ist fast, als ob man gar nicht in Los Angeles wäre. Einfach, weil es hier wirklich nett ist. Und ruhig." Sein Studio 606 liegt gleich um die Ecke. Ein unauffälliges, zweistöckiges Gebäude, das als Lager, Proberaum, Hauptquartier und Spielwiese dient. Im Aufenthaltsraum, Billardtisch, Tischtennisplatte, diverse Flipper und Spielautomaten. Der Toilettensitz weist die Form eines Gitarrenkorpus auf. Die weitläufigen Gänge haben etwas von einem Museum. Gold- und Platin-Alben. Gerahmte Konzertposter. Fotos von Treffen mit befreundeten Künstlern und Tour-Souvenirs. Im Gegensatz zu vergleichbaren Einrichtungen im Großraum Los Angeles ist das Studio 606 immer gut gebucht - von Bands, die gerne in dieser Rock'n'Roll-Atmosphäre arbeiten. Und die wissen, ist Grohl nicht gerade auf Tournee, schaut er bei Gelegenheit vorbei und ist einer gemeinsamen Session nicht abgeneigt. Musik: Scream "Gods Look Down" Autodidakt mit Gespür für gute Melodien David Eric Grohl aus Springfiel, Virginia, ist ein Punk-Rock-Kid. Aus Rebellion gegen den Kleinstadt-Mief. Angestiftet von seiner älteren Schwester, rebelliert er gegen den Kleinstadtmief. Er liebt die Musik von Fugazi, Hüsker Dü, Circle Jerks und Black Flag. Sein erstes Konzert besucht er mit 13, wird Stammgast im 9:30 Club im nahegelegenen Washington, und startet High School-Bands wie Freak Baby oder Mission Impossible. Zuerst als Gitarrist, dann als Schlagzeuger. Natürlich ohne Unterricht zu nehmen. Grohl ist ein Autodidakt, der dieses Manko mit Leidenschaft und einem Gespür für gute Melodien ausgleicht. "Als Kind habe ich Schlagzeug gelernt, indem ich zu den Platten meiner Lieblingsbands gespielt habe. Weil ich kein Drumkit hatte, habe ich Kissen aufeinander gestapelt, die Musik aufgedreht und losgelegt. Außerdem habe ich mir Bands in kleinen Clubs angeschaut. Im Hinterkopf hatte ich immer diese Fantasie: "Was, wenn der Sänger auf die Bühne kommt und sagt: 'Sorry, wir können heute nicht auftreten, weil unser Drummer krank ist. Es sei denn, jemand im Publikum kennt die Songs.'" Dann wäre ich am Start gewesen." Mit 17 bewirbt er sich bei der Band Scream, gibt sich als 20 und somit fast volljährig aus - und wird genommen. Der Beginn seiner Karriere als Profi-Musiker. Er bricht die Schule ab, geht vier Jahre auf Tournee, nimmt zwei Alben auf und freundet sich mit den Kollegen der Melvins an. Die vermitteln ihn Anfang 1991 an eine Band aus Seattle, mit der Grohl Rockgeschichte schreiben wird. Als Mitglied von Nirvana nimmt er das Album "Nevermind" auf und wird zur Gallionsfigur des Grunge. Richtig glücklich ist er aber nicht. Der Gesundheitszustand von Sänger und Gitarrist Kurt Cobain, der unter Depressionen leidet und harte Drogen nimmt, belastet ihn. Der Erfolg der Band wächst ihm über den Kopf. Und er fühlt sich auf die Position des Trommlers reduziert. Dabei schreibt er auch eigene Songs, von denen aber nur zwei Verwendung finden. "Scentless Apprentice" und "Marigold". Musik: Nirvana – "Marigold" Entscheidung für eigene Band Anfang April 1994 begeht Kurt Cobain Selbstmord. Grohl ist 25 und verzweifelt. "Nevermind" hat unser aller Leben komplett verändert. Es war nichts, mit dem irgendjemand gerechnet hätte - sondern einfach verrückt. Und als Kurt starb, hat das unser Leben regelrecht zerstört." Tom Petty und Pearl Jam bieten ihm Jobs als Drummer an. Doch Grohl entscheidet sich für seine eigene Band. Die tauft er auf den Namen Foo Fighters - nach den Ufos, die im Zweiten Weltkrieg angeblich von alliierten Kampfpiloten gesichtet wurden. Zur Erstbesetzung der Foo Fighters zählen Pat Smear von den Germs und William Goldsmith und Nate Mendel von Sunny Day Estate. Ein Line-up, das sich im Laufe der Jahre mehrfach ändert und am 95er Debüt gar nicht beteiligt ist. Grohl nimmt es komplett alleine auf. "Das erste Foo Fighters-Album war eher ein Experiment. Natürlich wollte ich, dass es gut klingt, aber ich hatte nicht vor, "We Are The World" zu schreiben. Ich habe nur rumprobiert, und fand es cool, dass die Leute nicht wussten, worum es in den Texten ging, und dass einige keinen Sinn ergaben. Und zwar ganz bewusst, weil es das Erste war, was ich nach Nirvana gemacht habe. Dagegen sorgte das Cover für Fragen wie: "Wie kannst du es wagen, da eine Waffe abzubilden?" Es war lächerlich." Bei den Foo Fighters ist Grohl der uneingeschränkte Boss. Er singt, spielt Gitarre und ist verantwortlich für die Musik und Texte. Eine Rolle, die ihm seine Mitstreiter widerstandslos zugestehen. Sie beschränken sich darauf, Grohl beim Ausarbeiten der Arrangements zu helfen und setzen die fertigen Stücke live um. Wem das zu wenig ist, verlässt die Band. Oder sucht Ausgleich in Solo-Alben und Nebenprojekten - wie Bassist Nate Mendel und Gitarrist Chris Shiflett. Chris Shiflett: "Und Dave schreibt immer mehr, als letztlich auf den Alben landet. Es gab nie einen Moment, in dem er meinte: "Ich habe nur fünf Stücke, habt ihr Jungs noch welche auf Halde?" Das ist nie passiert." Gesicht, Kopf, Macher Dave Grohl ist das Gesicht, der Kopf, der Macher. Eine Rolle, die er seit 22 Jahren mit Erfolg ausfüllt. Die bisherige Bilanz der Foo Fighters: Neun Studio-Alben, eine Greatest Hits und ein Live-Album. Über zwölf Millionen verkaufte Tonträger allein in den USA, dazu elf Grammys und vier Brit-Awards. Musik: Foo Fighters – "Best Of You" Seit Mitte der 90er loten die Foo Fighters die Schnittmenge zwischen Punk, Rock der 70er und Pop aus. Dabei sind sie eher bodenständig als innovativ. Doch ihre starken Melodien machen die Songs zu echten Ohrwürmern - und bescheren der Band ein ständig wachsendes Publikum. Dave Grohl kennt das Erfolgsrezept. "Es ist die Liebe zur Musik. Der Spaß, sie gemeinsam mit Freunden zu kreieren – und dann auf die Bühne zu gehen, den Enthusiasmus zu spüren und eine Verbindung zu den Menschen aufzubauen. Wenn ich von einer Tour nach Hause komme, auf der ich das jeden Abend erlebt habe, fühlt es sich auch OK an, meine Kinder im Mini-Van zur Bushaltestelle zu fahren, Mittagessen zu kochen, Lebensmittel einzukaufen und den Hundekot im Garten aufzusammeln. Das ist eine nette Balance." (lacht) Grohl gelingt es, seinen musikalischen Output spannend zu halten. Etwa mit Gastauftritten von Led Zeppelins John Paul Jones, Josh Homme von Queens Of The Stone Age und Norah Jones auf "In Your Honor". Einer Mini-Nirvana-Reunion mit Produzent Butch Vig und Krist Novoselic auf "Wasting Light". Oder einer komplette TV-Serie, die während der Aufnahmen zu "Sonic Highways" entsteht. Auch beim neuen Album "Concrete And Gold" zaubert Grohl Gäste aus dem Hut, die man kaum auf einem Album der Foo Fighters vermuten würde. Darunter Justin Timberlake, Shawn Stockman von Boys II Men, Paul McCartney als Schlagzeuger auf "Sunday Rain" und Greg Kurstin als Produzent. Ein Mann, der sonst Pink, Adele oder Sia betreut. Von dem erhofft sich Grohl den perfekten Mix aus Harmonie und Härte. Oder wie er es formuliert. Motörhead trifft die Beatles. "Ich will etwas Brachiales und Lautes" "Ich wollte schon immer ein Album machen, das möglichst dynamisch und vielseitig ist. Und als ich Greg Kurstin traf, wurde mir klar. Er kriegt das viel besser hin als ich. Sagst du ihm: 'Ich will etwas Brachiales und Lautes', sorgt er für einen Song wie 'La Dee Da', der knallhart ist. Willst du etwas Bombastisches, verhilft er dir zu einem Stück wie "Concrete And Gold", das von einem düsteren Black Sabbath-Riff zu einer explodierenden Pilzwolke voller Chöre führt." Im Klartext: Die Melodien sind noch einprägsamer. Die harten Passagen noch frontaler. Der Effekt: Ein spannender Kontrast. In den Texten verarbeitet Grohl seine Unzufriedenheit mit der sozio-politische Situation in den USA. Wobei er nicht zur Rebellion aufruft, sondern zu grundlegendem Umdenken. Dann erübrige sich Trump von selbst. "Wenn ich Texte schreibe, bin ich nicht so direkt politisch wie Rage Against The Machine. Aber ich versuche sehr wohl, meinen Frust zu formulieren. Und ich will Menschen zusammenbringen und Hoffnung vermitteln. Bei einer Foo Fighters-Show ist es egal, welcher Rasse, Religion, Nationalität oder sozialem Background du angehörst – es geht um eine friedliche Co-Existenz. Gerade weil da Institutionen sind, die nur darauf abzielen, uns in so viele unterschiedliche Fraktionen zu teilen, dass wir vergessen, was menschliches Verhalten und Mitgefühl sind. Trotz gegensätzlicher Ansichten müssen wir einen Weg finden, miteinander klarzukommen. Das ermöglicht die Musik." Musik: Foo Fighters– "La Dee Da" Der Drang mit Jedem zu spielen Neben den Foo Fighters nutzt Dave Grohl jede Gelegenheit, um mit anderen Musikern zu arbeiten. Als Produzent oder Drummer - auf einzelnen Stücken, kompletten Alben und Tourneen. Erlaubt ist, was er spannend findet. "Würde ich mir AC/DC anschauen, und sie bräuchten an dem Abend zufällig einen Drummer, würde ich sofort einspringen. Genau wie bei Killing Joke und all meinen Lieblingsbands. Ich habe einfach diesen Drang, mit jedem zu spielen. Und manchmal bin ich enttäuscht, dass sie mich nicht anrufen. "Warum haben sie nicht angerufen? Verdammt, ich dachte, sie würden sich melden." Gemeldet haben sich: Garbage, The Prodigy, Tenacious D., Tony Iommi von Black Sabbath, Ghost, Queen, David Bowie oder Paul McCartney. Bei Queens Of The Stone Age ist er zwischenzeitlich sogar festes Mitglied. Und als wäre das nicht genug, nimmt er mit Probot ein lupenreines Metal-Album auf – mit Mitgliedern von Motörhead, Venom und Sepultura. Musik: Probot (Grohl & Lemmy) – "Shake Yor Blood" 2009 gründet er mit Josh Homme und John Paul Jones das Trio Them Crooked Vultures, wagt sich an herrlich verqueren Prog-Rock. Diese musikalische Freiheit wird er sich auch in Zukunft nehmen. Denn obwohl er die Foo Fighters nie aufgeben würde. Der Spaß, so Grohl, dürfe nie zu kurz kommen. Das habe er von Nirvana gelernt, die mit ihrem Erfolg nicht umzugehen wussten. Grohl gelingt das ohne Probleme. Musik: McCartney & Grohl/Novoselic/Smear – "Cut Me Some Slack" Tonstudios sind wie Museen Vielseitigkeit beweist Grohl auch mit seinen Filmprojekten. Dazu zählen Auftritte bei den Muppets und Tenacious D. Aber auch ambitionierte Projekte wie die Dokumentation "Sound City" - über ein Tonstudio, in dem seitenweise Musikgeschichte geschrieben wurde, aber trotzdem schließen musste. Ein Sinnbild für den Wandel der Musikindustrie, die immer weniger Geld generiert und deshalb mehr auf Home-Recording und Low Budget-Produktionen setzt. "Einer der Gründe, warum ich den Film gedreht habe, ist, weil Studios wie Sound City für mich wie Museen, Kirchen oder Kathedralen sind. Sie einfach verschwinden zu sehen, ist traurig. Ich meine, ginge es darum, das Haus von George Washington in Mount Vernon abzureißen - oh mein Gott, dann gäbe es Proteststürme. Warum ist das bei Sound City nicht genauso? Schließlich wurde die Welt durch diesen Raum verändert. Und ohne ihn wäre ich wahrscheinlich gar nicht hier. Von daher war es meine persönliche Mission, diesen Film zu drehen." Einen ähnlichen Anspruch verfolgt Grohl mit "Sonic Highways". Einer Reportage über die Aufnahmen zum achten Foo Fighters-Album. Musik: Foo Fighters – "Outside" Musik: Foo Fighters – "All My Life" Gitarrist mit geballtem Charisma Wenn er nicht im Studio ist, dann steht Dave Grohl auf der Bühne. Als Sänger und Gitarrist mit geballtem Charisma und echten Entertainer-Qualitäten. Er spielt gekonnt auf der Gefühlspartitur seines Publikums und findet den goldenen Mittelweg zwischen Rockspektakel und erdiger Performance. Zudem weist Grohl das richtige Maß an Verrücktheit auf. Als er sich 2015 bei einem Auftritt in Stockholm das Bein bricht, setzt er das Konzert im Rollstuhl fort. Den Rest der Tour bestreitet er mit einer Art Thron, auf dem er im Sitzen Gitarre spielt und singt. Den Thron verleiht er später an Axl Rose, den dasselbe Schicksal ereilt. "Ich habe Guns'n'Roses gesehen - und sie klangen wirklich gut. Eine fantastische Show. Der Thron ist die perfekte Lösung, um mit gebrochenem Bein zu touren. Die eingebauten Lichter, die Laser und die Nebelmaschine sind großartig. Aber gleichzeitig hat das Ganze auch etwas schreiend Komisches. Man wirkt wie ein König, der seine Untertanen dirigiert. Also ziemlich lustig." Wie verbunden sich Grohl seinem Publikum fühlt, zeigt seine Reaktion auf eine Aktion im italienischen Cesena. Hier versammeln sich 1000 Gitarristen und Schlagzeuger, um gemeinsam das Stück "Learn To Fly" zu spielen und per YouTube-Video um eine Visite der Band zu bitten. Grohl sagt spontan zu. Was seine Ausnahmestellung im modernen Rockzirkus unterstreicht. Der 48jährige verfügt über ein Privat-Vermögen von 260 Millionen Dollar. Aber: Er gilt auch als "Mr. Nice Guy" - als charmanter, witziger, ehrlicher Kumpeltyp, von dem sich viele Kollegen etwas abschauen könnten. Selbst, wenn er das gerne relativiert. "Ich bin kein Engel. Und kein Heiliger. Manchmal bin ich sogar ein ziemliches Arschloch. Aber meine Eltern haben mich so erzogen, dass ich Leuten mit Anstand und Respekt begegne. Meistens tue ich das auch. Ich höre zwar Punk-Rock, aber ich bin nett zu dir." (kichert) Musik: Foo Fighters- The Pretender
Von Marcel Anders
Als Nirvana-Schlagzeuger wurde Dave Grohl früh zur Legende. Seine Band Foo Fighters veröffentlichte soeben ihr neuntes Album. Unser Autor hat den 48-jährigen Musiker in seinem Studio in der Nähe von Los Angeles besucht. Ortstermin bei einem arbeitswütigen Rockstar, der keiner Session aus dem Weg geht.
"2017-10-08T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:38.602000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dave-grohl-von-den-foo-fighters-der-letzte-rockstar-100.html
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Triumph für Nigel Farage und seine Brexit-Partei
Chef-EU-Skeptiker Nigel Farage wird Abgeordneter des Europaparlaments (picture alliance/empics/PA Wire/Jonathan Brady) Da hat sich etwas verschoben in der britischen Parteienlandschaft – eine ganz neue Partei drängt sich hinein, die Brexit-Partei ist mit deutlichem Abstand die stärkste Kraft geworden bei dieser Wahl 32, Prozent der Stimmen – und das alles mit nur einer einzigen politischen Forderung, raus aus der EU. Ein großer Gewinn für die Brexit-Partei, und ein weiterer Triumph für den Spitzenkandidaten und Chef-Euro-Skeptiker Nigel Farage. Er wird einer der Brexit-Abgeordneten im EU-Parlament. "Für Labour und die Konservativen war das natürlich ein grauenhafter Abend – was wir hier erreicht haben ist ein deutliche Botschaft an unsere Parteien im Parlament – die große Frage ist: werden sie zuhören." Finstere Mienen bei Labour und Konservativen Für die beiden großen Parteien, Labour und die Konservativen war dieser Abend der erwartete Absturz. Schon die Umfragen in den letzten Wochen hatten darauf hingedeutet, aber als die Zahlen nach Mitternacht da waren, haben sich einige Mienen verfinstert. Labour landet hinter den Liberaldemokraten auf Platz drei, die Konservativen bekommen weniger Stimmen als die Grünen, sie landen bei neun Prozent. Alle Beiträge zur Europawahl in unserem Dossier (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld) Der Sieg der Brexit-Partei, da sind sich die meisten sicher, wird jetzt vor allem Auswirkungen auf das Rennen um die Nachfolge von Theresa May haben. Der nächste konservative Parteiführer und Nachfolger von Theresa May müsse pro Brexit sein, und im Notfall auch für einen No-deal-Brexit, sagt zum Beispiel der konservative Abgeordnete und Brexiteer Mark Francois: "Mit dieser Wahl hat die britische Öffentlichkeit Rache genommen am Establishment. Das Establishment versucht seit drei Jahren unseren Abschied von der EU zu verhindern – und mit diesem Wahlergebnis haben die Wähler uns eine Erfahrung geschenkt, die wir nicht vergessen werden." Corbyn bekommt zunehmend Gegenwind Freuen können sich die Liberal-Demokraten, sie sind mit der klaren Aussage gegen den Brexit und für ein zweites Referendum in diese Wahl gegangen, uns sie sind damit landesweit zweitstärkste Kraft geworden. Auch die Grünen haben hinzugewonnen. Bei der Labour-Partei muss man sich dagegen Fragen stellen. Kann die Partei es sich weiter leisten beim Brexit und auch bei der Frage nach einem zweiten Referendum keine klare Linie zu vertreten? Parteichef Jeremy Corbyn bekommt zunehmend Gegenwind, auch Alistair Campbell sieht das kritisch, er war der Chefstratege von Tony Blair: "Die Labour-Partei hat bei dieser Wahl ihre Wähler im Regen stehen lassen, die Partei hatte einfach keine einheitliche Strategie, keine Linie, und weil das fehlte, konnte es auch keine richtige Kampagne geben. Deshalb Glückwunsch an die Brexit-Partei, die hat zumindest eine ordentliche Kampagne hinbekommen." Trotz des Erfolgs der EU-Gegner, dieses Wahlergebnis ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich an den Meinungen zum Brexit wenig geändert hat. Das Brexit- und das Anti-Brexit-Lager halten sich noch immer ungefähr die Waage. Da steht es 50:50. Das stellt vor allem den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Theresa May vor ein großes Problem, denn in einem nach wie vor gespaltenen Land sind Kompromisse schwer möglich. Und der nächste Stichtag nach diesem Wahltag steht schon fest: Bis 31. Oktober hat die EU den Briten Zeit gegeben, um eine Lösung im Brexit-Kuddelmuddel zu finden.
Von Tobias Armbrüster
Obwohl Großbritannien eigentlich Ende März aus der EU austreten sollte, haben die Briten an der Europawahl teilgenommen. Die Brexit-Partei von Nigel Farage wurde mit deutlichem Abstand stärkste Kraft. Das wird Auswirkungen haben auf das Rennen um die Nachfolge von Premierministerin Theresa May.
"2019-05-27T06:19:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:05.169000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europawahlen-in-grossbritannien-triumph-fuer-nigel-farage-100.html
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Rosberg zum Dritten
Nico Rosberg gewinnt den Großen Preis von China. (EPA/WU HONG/DPA) Auffällig: Schon wieder ist das Rennen nach einem turbulenten Start entschieden worden. Als Grund dafür macht Anno Hecker dafür eine Regeländerung aus: Es gebe nur noch einen statt zwei Kupplungshebel am Lenkrad, was die optimale Kraftübertragung am Start schwerer mache. Das führe dazu, "dass der ein oder andere Pilot vielleicht in den Fingern nicht ganz das Gefühl hat", so Hecker. Für den Formel-1-Experten eine gelunegene Änderung, die zeige, "dass, wenn der Mensch wieder die Dinge übernehmen muss, sich auch wieder mehr Fehler einschleichen".
Anno Hecker im Gespräch mit Marina Schweizer
Drittes Saisonrennen, dritter Sieg für Nico Rosberg. Der deutsche Mercedes-Pilot war auch beim Großen Preis von China nicht zu schlagen. Saisonübergreifend sogar schon sein sechster Sieg in Folge. Formel-1-Experte Anno Hecker von der FAZ glaubt, "dass das im Kopf von Teamrivale Hamilton Spuren hinterlässt".
"2016-04-17T19:16:00+02:00"
"2020-01-29T18:24:35.316000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/formel-1-rosberg-zum-dritten-100.html
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Umbruch bei der "Kronen Zeitung"
Wie steht es um die Unabhängigkeit der "Kronen Zeitung" nach den Strache-Enthüllungen? (dpa / APA / Herbert Neubauer) In denen im Mai von "Spiegel" und "Süddeutscher Zeitung" verbreiteten Video-Ausschnitten, die ein Treffen des damaligen Oppositionspolitikers Heinz-Christian Strache im Gespräch mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen zeigen, geht es unter anderem um die Idee, die Berichterstattung der "Kronen Zeitung" zu beeinflussen. Strache schlägt der Frau vor, sie solle die "Krone" mehrheitlich erwerben und die FPÖ publizistisch fördern. Im Gegenzug könne sie öffentliche Aufträge erhalten. Kurz nach dem Bekanntwerden des Videos sagte der Chefredakteur der "Kronen Zeitung" Klaus Herrmann in @mediasres: "Ich bin heute auch schon gefragt worden, können wir jetzt überhaupt noch objektiv über die FPÖ berichten? Dazu muss ich sagen, nein, können wir nicht. Dazu sind wir viel zu sehr getroffen, als dass wir jetzt den Anspruch erheben könnten, objektiv über diese Partei zu berichten oder gar über den Herrn Strache (...) objektiv zu berichten. Das können wir nicht." "Die Chefs wissen, dass sie sich jetzt nicht mehr so viel erlauben können" Auch knapp drei Wochen nach den Enthüllungen habe die "Krone", die auflagenstärkste Zeitung Österreichs, noch nicht zur Normalität zurückgefunden, sagte ORF-Innenpolitik- und Medien-Redakteur Stefan Kappacher im Dlf. Er hat Chefredakteur Herrmann am Dienstag zum Gespräch getroffen: "Man merkt, dass bei der 'Krone' nun einiges in Bewegung ist. Es herrscht eine neue Offenheit." Zudem zeichneten sich Änderungen in der Berichterstattung ab, besonders was die Online-Ausgabe der Zeitung angehe, die als besonders FPÖ-nah galt. Auch die Zukunft einiger Redakteure sei noch ungewiss. "Die Chefs wissen, dass sie sich jetzt nicht mehr so viel erlauben können, wie das vielleicht früher möglich war", meint Kappacher. Auch über die Eigentümerverhältnisse werde derzeit noch diskutiert. Im Video von 2017 hieß es, dass der Investor Rene Benko Interesse an der "Krone" habe - öffentlich wurde der Deal zu der Zeit aber noch gar nicht diskutiert. Benko stieg erst später als Investor bei der "Krone" ein. "Jetzt wird natürlich vermutet, dass es Absprachen zwischen Politik und dem Investor gegeben haben könnte", so Kappacher.
Stefan Kappacher im Gespräch mit Antje Allroggen
Rund drei Wochen nach den Enthüllungen um den ehemaligen österreichischen Vizekanzler Strache habe die "Kronen Zeitung" noch nicht zur Normalität zurückgefunden, sagte ORF-Redakteur Stefan Kappacher im Dlf. Strache hatte Pläne geäußert, die Berichterstattung der Zeitung zu beeinflussen. Nun zeichneten sich dort Änderungen ab.
"2019-06-05T15:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:55:43.490000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-strache-enthuellungen-umbruch-bei-der-kronen-zeitung-100.html
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"Wir haben die Scoops"
Besuch in der Redaktion von "Politico Europe" in Brüssel (Pressematerial: Politico Europe) Dienstagmorgen in Brüssel, 8 Uhr 30. "Politico Europe" hat eingeladen. Kaffee, Croissants, Jazzmusik. Rechts ein kleines Podest mit zwei roten Sesseln. Links reihenweise schwarze Klappstühle für das Publikum, gut 50 geladene Gäste: Journalisten, Interessenvertreterinnen, Unternehmer, EU-Mitarbeiterinnen. Alles Brüssel-Insider. "Ich bin begeistert, dass wir das Playbook-Breakfast heute live übertragen können. Mit Valdis Dombrovskis, dem Mann mit dem längsten Titel...", stellt der "Politico"-Journalist Florian Eder seinen Gast an diesem Tag vor. Den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, zuständig für den Euro und sozialen Dialog. Das Interview wird live auf der Facebook-Seite von "Politico" übertragen. Anderthalb Stunden über EU-Finanzen, von Griechenland-Schulden über Kapitalmarktunion bis Brexit. Politik-Journalismus per E-Mail-Newsletter "Mein Name ist Florian Eder, ich schreibe unseren täglichen politischen Morgen-Newsletter 'Brussels Playbook’.""Politico" hat auch eine Webseite, eine gedruckte Wochenzeitung und ein Magazin. Aber Markenzeichen und Aushängeschild ist der englischsprachige Playbook-Newsletter, in Brüssel genauso wie in Washington. Geschrieben im spielerischen, persönlichen Ton einer Kolumne, gewürzt mit Humor und Klatsch. Der Newsletter bricht damit nicht nur bewusst mit der Trennung von Nachricht und Meinung. Sondern das Playbook bricht auch bewusst mit den Nachrichtenzyklen, erklärt Florian Eder: "Weil ich relativ wenig Zeit darauf verwenden muss, über den Tag, der zurückliegt, zu erzählen und sehr früh am Tag mich darum kümmern kann, was am nächsten Tag das große Thema ist. An guten Tagen ist es tatsächlich eine informierte und analytische Vorausschau auf den Tag, der da kommt." Politico-Journalist Florian Eder schreibt den Morgen-Newsletter "Brussels Playbook" (Pressematerial: Politico Europe) Drei Jahre "Politico Europe" in Brüssel Und diese Vorausschau bekommen 85.000 Leserinnen und Leser, morgens kurz vor 7 Uhr. Politik-Journalismus als Früh-Sport also. Und mit dem Motto: Spiel, Satz und Scoops. Denn über Exklusiv-Geschichten definiert sich die Brüsseler Politico-Mannschaft aus mittlerweile 60 Journalisten. Scoops gehören zum Geschäftsmodell von "Politico", sagt die Geschäftsführerin Shéhérazade Semsar-de Boisséson. "Ich bin die Geschäftsführerin von Politico Europe, das ja bekanntlich ein Gemeinschaftsunternehmen des Axel-Springer-Konzerns und Politico in Washington ist. Wir sagen immer, die Sterne für diese Zusammenarbeit hätten sich plötzlich in eine Reihe gefügt." Finanzierung über Abonnements für Insider "Politico" habe nach Brüssel expandieren wollen. Der Axel-Springer-Konzern habe sich Journalismus im Stil von "Politico" in Brüssel gewünscht. Und sie selbst hatte die Wochenzeitung namens "European Voice" gekauft, um sie nach dem Vorbild von "Politico" zu schmieden. Aus diesem Trio mit ein und derselben Idee entstand dann das Gemeinschaftsunternehmen "Politico Europe". Unter dem Strich bringt diese Idee noch kein Geld ein. 2019, im vierten Geschäftsjahr, soll "Politico Europe" erstmals kostendeckend arbeiten und beginnen, profitabel zu werden. Zurzeit kommen die Einnahmen aus der Werbung, den Veranstaltungen und zur Hälfte aus "Politico Pro". Das sind die Bezahl-Abos, die im Schnitt mindestens 7.000 Euro pro Jahr kosten. Mindestens. Shéhérazade Semsar-de Boisséson ist die Geschäftsführerin von "Politico Europe" (Pressematerial: Politico Europe / Axel Springer) Anonyme Kritik an Geschäftsmodell und Redaktion "Wir haben zur Zeit rund 700 Organisationen, die Politico Pro abonniert haben", berichtet die Geschäftsführerin. Darunter sind große Unternehmen und auch EU-Parlament, EU-Kommission und EU-Rat. Es gibt durchaus Journalisten-Kollegen in Brüssel, die sich kritisch äußern - zumindest anonym. Ein Kritikpunkt ist, dass "Politico"-Exklusiv-Infos zum Teil nur an seine Abonnenten weitergibt. Informiert werde dann nicht die breite Öffentlichkeit, sondern nur ein elitärer Kreis von Unternehmen und Organisationen, die sich die teuren Abos auch leisten können. Der andere Kritikpunkt: "Politico" lasse sich von der EU-Kommission instrumentalisieren. "Politico", das Sprachrohr der Kommission, heißt es. Denn viele Exklusiv-Infos aus Kommissionskreisen würden auffällig oft bei "Politico" landen und nicht bei anderen Medien, so der Vorwurf. Redaktion aus 60 Journalisten Diese Kritik überrascht Semsar-de Boisséson: "Das höre ich zum ersten Mal." Auch Florian Eder, der in Brüssel sehr gut vernetzt ist, hat diese Kritik noch nie persönlich gehört. Warum die Scoops in Brüssel ausgerechnet bei "Politico" landen - dafür hat seine Kollegin Semsar-de Boisseson eine Erklärung, die logisch und selbstbewusst klingt: "Wir haben die Scoops, weil wir eine Menge Leute vor Ort haben. Ich glaube, das ist einfach eine Frage der Zahlen." "Politico" habe einen Vorteil, den viele andere ausländische Redaktionen nicht haben: Man beschäftige nicht zwei, drei Korrespondenten, sondern 60 Journalisten in Brüssel. Und deren erste Aufgabe sei es nun mal, Scoops zu landen - auch im Auftrag der zahlenden Abonnenten. "Wir werben damit, dass unsere Abonnenten als erste infomiert sind", unterstreicht die Geschäftsführerin. Und da schließt sich der Kreis zum kostenlosen Newsletter von Florian Eder und zur Interview-Veranstaltung an diesem Morgen. Das alles soll natürlich ein Schaufenster sein, für die Arbeit von 60 "Politico"-Journalisten in Brüssel - und die lässt sich größtenteils nur mit Abos finanzieren. In Washington hat dieses Modell schon mal geklappt. In Brüssel muss sich "Politico Europe" weiter beweisen - finanziell und journalistisch.
Von Sandro Schroeder
In Washington ist die Berichterstattung von "Politico" längst Pflichtlektüre für Politik und Medien in der US-Hauptstadt. Vor drei Jahren ist die Redaktion nach Brüssel expandiert. Dort ist "Politico Europe" allerdings nicht unumstritten.
"2018-06-05T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:54:30.947000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/politico-europe-in-bruessel-wir-haben-die-scoops-100.html
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Musiktheater in der Baugrube
Schorsch Kamerun, Regisseur des Musiktheaterstücks "Motor City Super Stuttgart", steht bei der Generalprobe in der Baugrube für den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof (dpa (Bernd Weißbrod)) Seit die Elbphilharmonie in Hamburg fertig ist und die Zuschauer in Scharen strömen, sind die anderen kostenintensiven Großbaustellen ein bisschen aus der medialen Wahrnehmung verschwunden. Dabei wird in Stuttgart seit fast zehn Jahren jede Woche gegen den Umbau des ehemaligen Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof demonstriert wird. Für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgt von heute Abend bis zum Sonntag Schorsch Kamerun. So lange inszeniert der Autor, Regisseur, Clubbetreiber und Sänger der Goldenen Zitronen in der Baugrube von Stuttgart 21 nämlich das Musiktheaterstück "Motor City Super Stuttgart". Treffpunkt statt Konsumtempel Mit dem Titel "Motor City" beziehe er sich auf Detroit, denn die Baustelle in Stuttgart, so Kamerun, erinnere an den Niedergang der Autostadt in Detroit. Stuttgart wirke in seinem Herzen aufgerissen, "manche sagen sogar: Wunde", erklärte Kamerun im Dlf. Mit seinem Musiktheaterstück wolle er zeigen, dass der Ort vielleicht als Platz für Zusammenkünfte dienen könne, ohne dass man etwas konsumieren müsse. Außerdem gehe es darum, seinen Protest gegen den Wachstum deutlich zu machen. "Im Grunde ist es ein Stück weit Fridays for Future, wo ich Sympathien hege, aber auch der Meinung bin, ein Tag in der Woche nicht zur Schule gehen, reicht nicht, wenn man sagt, die Zukunft wird gerade verbaut. Dann müsste man eigentlich gar nicht zur Schule gehen." Unmodern und nicht zeitgemäß Kamerun wolle sich mit dem Projekt nicht auf das Pro und Contra zu Stuttgart 21 einlassen, auch wenn er persönlich dagegen sei. Ein Großprojekt dieser Art "scheint mir nicht mehr modern. Das ist keine Zukunftsbeschreibung mehr. Wenn sogar die Bahn damit wirbt: 'Nimm' dir Zeit, fahr' Bahn', das ist schon ein bisschen grotesk." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Schorsch Kamerun im Gespräch mit Fabian Elsäßer
Der künftige Durchgangsbahnhof Stuttgart 21 wird zur Theaterbühne: Der Regisseur und Sänger der Goldenen Zitronen, Schorsch Kamerun, bespielt den Ort mit Punk und Protest - und sieht Parallelen zum Niedergang der Autostadt Detroit. "Stuttgart wirkt in seinem Herzen aufgerissen", sagte er im Dlf.
"2019-09-19T15:05:00+02:00"
"2020-01-26T23:11:15.423000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schorsch-kamerun-bespielt-stuttgart-21-musiktheater-in-der-100.html
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"Kurz wird im Wahlkampf ein Siegläufer"
Sebastian kurz will auch nach Neuwahl Bundeskanzler sein (www.imago-images.de) Sarah Zerback: Nach nur anderthalb Jahren ist Sebastian Kurz gestürzt und mit ihm sein gesamtes Kabinett – ein Novum in der österreichischen Regierung, aber ein Szenario, politische Nachwehen quasi im Zuge der Ibiza-Affäre, ein Novum, aber ein Novum, auf das das Land vorbereitet ist. Alle Augen sind jetzt auf den Bundespräsidenten gerichtet. Der ist dabei, eine Art Provisorium fürs Provisorium auf die Beine zu stellen, dafür zu sorgen, dass Österreich bis zu Neuwahlen, die ja schon angekündigt sind im Herbst, gut und stabil über die Runden kommt, wie er sagt. Wie es politisch jetzt weitergehen könnte, das können wir besprechen mit Erhard Busek. Der ÖVP-Politiker war bis 1995 Vizekanzler und damals auch Chef seiner Partei, der österreichischen Konservativen. Ich freue mich, dass Sie da sind in der Leitung. Schönen guten Morgen, Herr Busek. Erhard Busek: Guten Morgen. "Eine Art Abreaktion, die hier passiert" Zerback: Was wir da gestern erlebt haben, dieser doppelte Misstrauensantrag, der durchgekommen ist durchs Parlament, ist das die Quittung für die Machtspiele des Kanzlers Sebastian Kurz? Erhard Busek, ehemaliger Vizekanzler von Österreich, ÖVP (AFP / Samuel Kubani) Busek: Ich glaube, das ist etwas zu kurz definiert. Natürlich auch, aber auf der anderen Seite ist es natürlich eine Art Abreaktion, die hier passiert, und zwar von den beiden Trägern, den Sozialdemokraten und der Freiheitlichen Partei, aus unterschiedlichen Gründen. Bei der Sozialdemokratie spielt natürlich eine Rolle, dass sie sich nicht entsprechend wertgeschätzt fühlt und in Wahrheit an die Macht will, und bei der Freiheitlichen Partei ist es die Gekränktheit, dass Kurz den Innenminister Kickl weg haben wollte und die Koalition hier auch aus guten Gründen beendet hat. Ich glaube, da ist sehr viel Psychologie. Zerback: Versuchen wir, das doch mal zu entschlüsseln. Hat Sebastian Kurz die Ibiza-Affäre genutzt, wie ihm das ja die FPÖ vorwirft, um sich auch noch das Innenministerium zu schnappen? Busek: Ich glaube, auch das ist etwas zu kurz gedacht. Die Koalition war nicht weiter haltbar und natürlich hat es auch jedenfalls intern in der Partei von Kurz sehr viel Kritik gegeben, was er, wie er es sagt, ausgehalten hat, an gegenwärtigen Positionen, die insbesondere vom Kickl kamen. Die auszuhalten und dann immer noch für die Koalition zu sein, war für ihn schon sehr schwierig, so dass in diesem Moment schlagend wurde, dass man sich Kickl entledigen muss. Zerback: Sie sagen, lange ausgehalten. Man könnte jetzt auch sagen, Sebastian Kurz hat einfach zu lange gezögert. Letzte Woche Samstag, da war das Ausmaß der sogenannten Ibiza-Affäre, des Strache-Videos ja schon bekannt. Aber die Koalition mit der FPÖ, die wollte er trotzdem weiterführen. Warum sonst hat er so lange gezögert, wenn es ihm da nicht um den eigenen Machterhalt gegangen ist? Busek: Er hat lange gezögert, weil er an sich von der Grundüberlegung ausgegangen ist, diese Koalition muss halten und soll zehn Jahre tätig sein. Das war die angesagte Länge quasi. Es ist ihm dann offensichtlich klar geworden und sehr viele haben auch die Stimme in die Richtung erhoben, dass der Preis schlicht und einfach zu hoch ist. "Es ist ihm vor allem um einen neuen Stil gegangen" Zerback: Warum ist ihm das in den anderthalb Jahren vorher nicht klar geworden? Da gab es ja Warnungen. Er hat nicht interveniert, als die FPÖ etwa Migranten mit Ratten verglichen hat, als die FPÖ die freie Presse in Frage gestellt hat. Warum hat er das alles mitgemacht? Busek: Weil er davon ausgegangen ist, dass man das politische System in Österreich ändern muss. Es war sozusagen ein Abschied an die große Tradition von Koalitionen mit der Sozialdemokratie. Hier ist es ihm vor allem um einen neuen Stil gegangen. Da hat er auch sehr gekämpft mit sich selber und auch mit anderen, das aufrecht zu erhalten, hat aber nicht begriffen, dass das nicht mehr aushaltbar war. Zerback: Ist das auch noch ein Wort, das gilt, wenn neu gewählt wird? Würden Sie da eine neue Koalition mit den ganz rechten, mit der FPÖ ausschließen? Busek: Ausschließen soll man an sich in der Politik gar nichts. Das wird man sicher sehen, wird aber auch davon abhängen, in welchem Stil sich die Freiheitliche Partei geriert. Im Moment ist Kickl, wie man auch beim Abwahlvorgang im Parlament gestern sehen konnte, offensichtlich die führende Stimme der Freiheitlichen Partei. Das führt sicher nicht in eine weitere Koalition mit der FPÖ. Zerback: Das wäre für Sie die rote Linie, Herr Kickl noch weiter in der FPÖ in führender Position? Dann haben die sich als Koalitionspartner in Zukunft disqualifiziert? Busek: Die Artikulation des Herrn Kickl ist natürlich so, dass es auch sehr schwer ist, über diese Worte hinwegzukommen. Er hat ja gestern die Rede gehalten, in der er weitere Drohungen ausstieß, was da alles noch herauskommen wird und dergleichen mehr. Also bitte sehr: Drohungen und dann nicht sagen, was eigentlich ist, ist nicht eine vertrauensbildende Maßnahme. Koalitonsfrage nach der Wahl, wird die entscheidende sein Zerback: Die Frage bleibt aber auch, warum sollte es ein anderer an der FPÖ-Spitze anders machen. Da wäre zum Beispiel Norbert Hofer. Der ist doch Strache-Mann. Warum sollte er die FPÖ, seine Partei in eine andere Richtung führen? Busek: Das ist eine gute Frage. Ich persönlich bin bei dem oft zornigen Bild, das von Hofer gezeichnet wird, nicht ganz der Meinung, weil der natürlich auch seine entsprechenden Tiefen hier hat. Man wird sehen, wie es überhaupt weitergeht. Die Koalitionsfrage nach der Wahl wird wahrscheinlich die entscheidende überhaupt sein. Zerback: Sebastian Kurz – ich höre es ein bisschen heraus, ich frage es trotzdem -, ist der denn noch der richtige Mann an der Spitze Ihrer Partei, der ÖVP? Busek: Im Moment gibt es wirklich nur ihn. Zerback: Die Partei hat es versäumt, sich da breiter aufzustellen? Busek: Na ja. Es ist überhaupt die Bereitschaft in der Politik, Funktionen zu übernehmen, nicht allzu groß. Ich kann nicht feststellen, dass es ein Wettrennen in der ÖVP gibt, hier Verantwortungen zu übernehmen. Insofern muss die ÖVP froh sein, Kurz zu haben, und ich bin überzeugt, dass er auch im Wahlkampf hier durchaus ein Siegläufer sein wird. Das kalkuliert die Sozialistische Partei zu wenig ein. Sie haben ihm in Wirklichkeit geholfen, zu dieser Position zu kommen. Zerback: Im Wahlkampfmodus ist er ja schon, haben wir auch gehört in der Berichterstattung. Aber man könnte auch sagen, es wird schwer, jetzt ohne Kanzlerbonus, auch ohne internationale Bühne, ohne Ressourcen. Busek: Ich würde sagen, da ist er eigentlich schon vertreten. Ich halte das, was da in den Kommentaren geschrieben wird, auch das, was Sie sagen, für nicht relevant. Dazu ist er zu stark da. Kurz hat der Sturz ganz entschieden geholfen Zerback: Dann kann man sagen, dieser Wahlkampf kann ihm sogar nützen, dass er gestürzt ist, und Sie würden sagen, da hat er sich sogar jetzt einen Vorteil freigestrampelt? Das ist Ihre Interpretation? Busek: In der ersten Reaktion, die ich erlebe in diesen Stunden hier - und ich war auf den Veranstaltungen -, hat es ihm ganz entschieden geholfen. Zerback: Jetzt haben wir einen Präsidenten van der Bellen - Sie werden ihn auch gehört haben -, der bei der ganzen Regierungskrise, die sich seit der Veröffentlichung des Videos in der letzten Woche durchzieht, von einem Schaden fürs Ansehen des Landes spricht. Teilen Sie diese Sorge? Busek: Ja, die ist seit dem Video zweifellos gegeben, war vorher auch schon in einigen Punkten der Fall. Das war mit vielleicht auch ein Grund, dass Kurz sich eines anderen besonnen hat. Zerback: Und dass das auch Konsequenzen für die Wirtschaft Ihres Landes haben könnte, wie schätzen Sie das ein? Busek: Das glaube ich nicht. Dazu ist die Geschichte zu kurzfristig. Und wie Sie richtig schon bei der Einleitung bemerkt haben: Auch in anderen Ländern sind die Dinge sehr bewegt. Zerback: Bleibt auch die Frage: Es stehen ja wichtige personelle Schlüsselfragen an für die nächsten Jahre in Brüssel. Wer berät denn da heute mit Merkel und Macron genau darüber? Busek: Der gegenwärtige Vizekanzler Löger, der Finanzminister, der auch aus dem EU-Vorsitz Österreichs einige Erfahrungen gewonnen hat. In Wahrheit steht für Österreich die Frage an, wer wird Kommissar. Das ist österreichintern zu klären. Das wird vielleicht schwierig werden aufgrund der Konstellation, dass wir keine klar aufgestellte Regierung haben. Alles andere sozusagen ist Mitberatung und ist in größeren Gruppen zu sehen. Es ist ja auch so, dass trotz der aufgestellten Kandidaten wie Weber und Timmermans ja nicht ganz klar ist, ob einer von denen überhaupt durchgeht. Zerback: Es bleibt spannend und auch, welche Stimme die neue Stimme Österreichs dann in Brüssel sein wird. Erhard Busek war das, ÖVP-Politiker und Ex-Vizekanzler Österreichs. Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Busek. Busek: Danke vielmals! Alles Gute. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Erhard Busek im Gespräch mit Sarah Zerback
Österreichs Ex-Vizekanzler Erhard Busek (ÖVP) glaubt, dass der gestürzte Bundeskanzler Sebastian Kurz als Sieger der Neuwahlen im Herbst hervorgehen wird. Es gebe zu wenig Kandidaten in der Partei, die Verantwortungen übernehmen. "Insofern muss die ÖVP froh sein, Kurz zu haben", sagte Busek im Dlf.
"2019-05-28T08:20:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:17.182000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erhard-busek-oevp-kurz-wird-im-wahlkampf-ein-sieglaeufer-100.html
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Neuregelungen in Sicht
Der Deutsche Presserat fordert neue Verhaltensgrundsätze für die Zusammenarbeit von Polizei und Presse (picture alliance/Robert Michael/dpa) Die Bekämpfung von Extremismus, die Zusammenarbeit in Pandemien und die Bedrohungen gegen Politiker – über all das diskutieren die Innenminister von Bund und Ländern bei ihrer diesjährigen Frühjahrstagung. Wenn es nach dem Deutschen Presserat geht, muss allerdings noch ein anderes Thema dringend besprochen werden: die Zusammenarbeit von Medien und Polizei. Die Medien-Wut der "Querdenker"Proteste rund um die Pandemie waren 2020 für Journalisten in Deutschland die gefährlichsten Einsatzorte. Und das, obwohl die Teilnehmenden sich mit ihren Forderungen immer wieder auf das Grundgesetz berufen – in dem auch die Pressefreiheit verankert ist. Viel diskutiert worden ist darüber im Zusammenhang mit Veranstaltungen von Corona-Leugnern. Für Journalistinnen und Journalisten in Deutschland seien pandemiebezogene Demonstrationen im vergangenen Jahr zum gefährlichsten Arbeitsort geworden, bilanzierte das European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) in einer Studie. Medienverbände fordern mehr Unterstützung Aus Sicht von Journalistenverbänden spielt die Polizei dabei bisweilen eine unrühmliche Rolle. Zum Teil werde die Pressefreiheit sogar aktiv behindert, heißt es. Der Deutsche Journalistenverband (DJV) berichtete, dass Polizistinnen und Polizisten Pressevertreter immer wieder davon abhalten würden, zu fotografieren und zu filmen. In einigen Fällen seien sogar Kameras und Speichermedien beschlagnahmt worden. Regelmäßig fordern Medienverbände mehr Unterstützung von Polizeikräften vor Ort ein. Wie die aussehen könnte, dazu hat der Deutsche Presserat, das Selbstkontrollorgan der Branche, einen Vorschlag gemacht: Im November 2020 legte er einen Entwurf für neue gemeinsame Verhaltensgrundsätze für Medien und Polizei vor. Daran mitgearbeitet haben Journalistengewerkschaften, Branchenverbände und die öffentlich-rechtlichen Sender, darunter auch das Deutschlandradio. Konflikte auch bei Umweltprotesten Nicht nur bei Corona-Demonstrationen bemängelten Medien die mangelnde Unterstützung durch Polizeikräfte, auch bei Umweltprotesten kollidieren die Interessen von Ordnungskräften und Berichterstattern immer wieder. Anfang Juni waren bei Protesten gegen den Ausbau der Bundesautobahn A100 in Berlin Journalistinnen und Journalisten an der Berichterstattung gehindert worden. Einige wurden zeitweise in Gewahrsam genommen – so berichtet es die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju). Festnahmen bei UmweltprotestenOb Hambacher Forst, Kraftwerk Datteln oder jetzt Ausbau der A100 in Berlin – immer wieder beklagen Medien, von der Polizei an Berichterstattung über Umweltproteste gehindert zu werden. Vor kurzem wurden einige Journalisten in Gewahrsam genommen. In einer Pressemitteilung forderte der Deutsche Presserat die Politik zu einem klaren Bekenntnis zu bundesweiten Regeln für die Polizei- und Pressearbeit auf. Das trage zu mehr Sicherheit und Verlässlichkeit auf beiden Seiten bei. Die bislang gültigen Grundsätze hatte die Innenministerkonferenz 1993 verabschiedet. Der neue Entwurf soll sicherstellen, dass Presse und Polizei beide ihren Aufgaben nachgehen können, ohne sich gegenseitig zu behindern. Ob die Innenministerkonferenz darüber nun in ihrer Frühjahrskonferenz berät, ist unklar, weil die Tagesordnung nicht öffentlich bekannt gegeben wird. Der DJV will erfahren haben, dass die Innenminister ein eigenes Papier zum Thema verfasst haben. Auskunftrecht der Presse bei Gericht Pressearbeit von Gerichten - braucht es einheitliche Regeln? Die Landesjustizministerinnen und -justizminister diskutieren derzeit, ob sie mehr Rechtssicherheit für die Medienarbeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften schaffen wollen. Denn für deren Pressestellen sind Auskünfte oft eine Gratwanderung. Auch die Landesjustizminister beschäftigen sich in ihrer Frühjahrskonferenz damit, wie die Zusammenarbeit mit der Presse in Zukunft gestaltet werden soll. Im Zentrum steht hier vor allem die Frage, welche Informationen Gerichte auf Presseanfrage herausgeben dürfen – eine Entscheidung, für die Pressesprecherinnen und Pressersprecher in der Justiz in oft kurzer Zeit öffentliches Informationsinteresse und Persönlichkeitsschutz der Betroffenen gegeneinander abwägen müssen. Hamburg schlägt vor, dafür einheitliche gesetzliche Regeln zu schaffen. Ob die bestehenden Regelungen ausreichen oder nicht, ist unter Experten umstritten.
Von Annika Schneider
Bei ihrer Frühjahrskonferenz beraten die Innenminister in Deutschland über neue Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien - ein entsprechender Entwurf des Presserats liegt seit Herbst auf dem Tisch. Auch die Landesjustizminister denken über neue Regeln zum Umgang mit der Presse nach.
"2021-06-16T15:35:00+02:00"
"2021-06-17T15:11:04.788000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zusammenarbeit-von-polizei-justiz-und-medien-neuregelungen-100.html
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"Wir lassen die Hochschulen nicht im Stich"
Regina Brinkmann: Packen es die Hochschulen langfristig, mehr Studierende aufzunehmen? Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht und durch die doppelten Abiturjahrgänge wird bereits in diesem Jahr die Nachfrage nach Studienplätzen womöglich rasant steigen. Um all das zu verkraften, reiche der bisherige Hochschulpakt zwischen Bund und Ländern finanziell überhaupt nicht aus, meinen Gewerkschafts- und Hochschulvertreter. Wie Bundesbildungsministerin Annette Schavan ihnen entgegenkommen will, werden wir gleich im Gespräch mit ihr erfahren, vorab fasst Jürgen König die Forderungen an eine Erweiterung des Hochschulpaktes zusammen .Mehr Studierende, mehr Geld – so sieht, kurz zusammengefasst, der Forderungskatalog aus. Bundesbildungsministerin Annette Schavan hat sich heute in Berlin zum Hochschulpakt geäußert und auch bilanziert, wie es Bund und Ländern bislang gelungen ist, mehr Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Und ich habe die Ministerin vor dieser Sendung gefragt: Womit können die Hochschulen und die Studierenden denn künftig rechnen?Annette Schavan: Wir haben ja zunächst in der Bilanz des Hochschulpaktes für die vergangenen vier Jahre festgestellt, dass wir 90.000 Studienplätze mehr geplant hatten, es tatsächlich aber 182.000 sind. Es studieren so viele wie nie zuvor. Und schon dieser Zuwachs ist ja vom Bund hälftig finanziert worden, wir haben nachgelegt. Und so wird das auch in den nächsten Jahren sein. Unsere Prognosen sind immer das eine, aber es gibt eine wachsende Neigung zum Studium – das ist in der Tat, im Blick auf unsere Fachkräftediskussion, eine positive Entwicklung. Und deshalb haben wir für die nächsten Jahre – 2011 bis 2015 – ein Plus von jetzt schon 275.000 Studienplätzen geplant. Dazu zählen zum Beispiel auch die Plätze, die notwendig sind wegen des doppelten Abiturjahrgangs in einigen Ländern. Und Bund und Länder haben sich im Dezember bei der Bundeskanzlerin geeinigt, dass wenn nun die Wehrpflicht ausgesetzt und mehr junge Leute früher ihr Studium beginnen, wir dann bereit sind, auch über diese Zahl hinauszugehen. Es wird weiterhin hälftig von Bund und Ländern bezahlt.Brinkmann: Wie konkret wollen Sie über diese Zahl hinausgehen?Schavan: Bedarfsgerecht. Ich hätte 2006 auch nicht ahnen können, dass wir auf eine Verdoppelung kommen, und so kann ich jetzt ja nur Anhaltspunkte sagen. Wir wissen, dass es mehr Studierende geben wird, früher, durch diese Aussetzung der Wehrpflicht. Ob das die bis zu 60.000 sein werden, wissen wir aber faktisch nicht, das ist alles Kaffeesatzleserei. Wir wissen nicht, wie viele unmittelbar nach dem Studium ihr Studium beginnen, wir wissen nicht, wie viele zur Bundeswehr freiwillig gehen oder einen der anderen freiwilligen Dienste machen, und es kann auch noch niemand genau sagen, wie wir von jetzt 46 Prozent eine Weiterentwicklung erleben werden – vielleicht wird das noch mehr. Also entscheidend ist ... Brinkmann: Ja, ich höre da raus so eine ganz große Zurückhaltung, dass Sie, ja, den Hochschulen noch ein bisschen mehr Geld zur Verfügung stellen wollen durch diesen Hochschulpakt, auch jetzt im Zuge der Wehrreform.Schavan: Keine Zurückhaltung, sehr offensiv und auch nicht ein bisschen Geld, sondern viel Geld.Brinkmann: Aber werden Sie doch mal konkreter, Frau Schavan!Schavan: Wir zahlen pro Studienplatz pro Jahr 13.000 Euro, das heißt, wir rechnen im Schnitt 26.000 Euro pro Jahr, und da kommt man schnell auf die Milliarde, das ist gar kein Problem. Der Hochschulpakt umfasst ja viele Milliarden, und 2015 wird wieder die nächste Vereinbarung bis 2020 getroffen. Wir lassen die Hochschulen nicht im Stich ... Brinkmann: Aber Sie nennen jetzt auch keine konkreten Zahlen und Zusagen, wenn ich das jetzt richtig verstehe und zusammenfassen kann.Schavan: Doch, ich sage ganz konkret, wir bleiben bei der Finanzierung von 26.000 Euro pro Jahr pro Studienplatz, hälftig zwischen Bund und Ländern.Brinkmann: Aber berechnet auf eine Prognose von 275.000 zusätzlichen Studienanfängern in den nächsten fünf Jahren?Schavan: Das ist die Prognose – so wie wir aber auch von 90- auf 180.000 gegangen sind, sind wir auch bereit, von 275.000 auf 350.000 zu gehen, so wie es sich dann tatsächlich ergeben wird.Brinkmann: Mehr Studierende heißt ja auch, die Hochschulen brauchen mehr Lehrpersonal, laut einer aktuellen Studie allein 16.000 Professoren. Wie wollen Sie diese Lücke schließen?Schavan: Wenn wir Studienplätze finanzieren, heißt das ja faktisch Geld für Personal, das ist die Hauptinvestition. Wir haben in den letzten Jahren Gott sei Dank eine leichte Verbesserung. Wir haben allein 4000 Professorenstellen, die durch die Exzellenzinitiative geschaffen wurden. Ein ganz wichtiges Thema dabei sind gute Berufsperspektiven für unsere Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, also nicht nur zeitlich befristete Stellen, sondern Perspektive auf eine wirkliche Berufslaufbahn.Brinkmann: Ein weiteres Problem ist ja die Vergabe der Studienplätze, die ja mit dem zentralen Portal hochschulstart.de bald in vernünftige Bahnen gelenkt werden soll, allerdings scheint hinter den Kulissen die Finanzierungsfrage noch gar nicht geklärt zu sein. Droht den Studierenden denn also am Ende doch wieder das Bewerbungschaos im kommenden Wintersemester?Schavan: Nein, wir sind technisch genau im Zeitplan, sodass das neue Verfahren zum Wintersemester in Gang kommt ... Brinkmann: Und finanziell?Schavan: ... und die Länder haben uns zugesagt, in einem Vertrag mit dem Bund, dass es finanziert wird. Und in Wirklichkeit bedeutet das nicht mehr Investitionen, bislang sind zehn Millionen jährlich seitens der Länder investiert worden, auch für die ZVS und die Vergabeverfahren bei den NC-Fächern. Wir reden jetzt von fünf Millionen, das heißt, in Wirklichkeit ist das nicht mehr, sondern weniger, und deshalb bin ich sehr zuversichtlich und werde auch den Ländern noch einmal schreiben, dass klar ist, dass dieser Vertrag eingehalten wird.Brinkmann: Bundesbildungsministerin Annette Schavan im Interview mit "Campus & Karriere".
Anette Schavan im Gespräch mit Regina Brinkmann
Durch das Aussetzen der Wehrpflicht und doppelte Abiturjahrgänge wird in Zukunft mit wesentlich mehr Studierenden gerechnet. Der Bund trage weiterhin die Hälfte der Kosten pro Studienplatz, sagt Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU).
"2011-01-25T14:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:13:58.896000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wir-lassen-die-hochschulen-nicht-im-stich-100.html
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Bühne für alte Thüringer-Genossen
Eine DDR-Fahne und eine Deutschland-Flagge (dpa / picture alliance / Stefan Sauer) Der seit Oktober 2014 durch neue Aktenfunde in der Stasi-Unterlagenbehörde schwer belastete Hauptgeschäftsführer desThüringer Landessportbundes Rolf Beilschmidt nutzte die gemeinsam mit Historikern des „Zentrums für deutsche Sportgeschichte" Berlin organisierte Buchvorstellung in der Uni Erfurt zur Vorwärtsverteidigung und Rechtfertigung seiner einstigen Stasi-Mitarbeit. Eine Entschuldigung bei den von ihm Bespitzelten oder ehrliche Reue waren indes nicht zu vernehmen. Seine intensive und langjährige Zusammenarbeit mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst sowohl als Leichtathlet und auch danach als leitender Funktionär, ab Januar 1989 sogar als Chef des dopingverseuchten Sportclubs Motor Jena, redete Beilschmidt in Erfurt zum wiederholten Male klein Er habe, so erklärte er öffentlich vor über 100 Zuhörern in der Uni, bei seinen Informationen an die Stasi, "es damals so angelegt, dabei niemandem zu schaden". Doch die Stasi-Akten belegen das Gegenteil. Die Berichte enthalten zahlreiche intimste, privateste Details, die Beilschmidt über Sportkameraden, Freunde und Klubangestellte an die Stasi weitergab. Daran indes könne er sich heute nicht mehr im Detail erinnern. In der Analyse der Causa Bellschmidt kommt die Berliner Sporthistorikerin Jutta Braun in der vorgestellten Studie zu einem klaren Ergebnis, dass Rolf Beilschmidt mit seinen Informationen an die Stasi nicht nur anderen Menschen geschadet, sondern bei seiner Darstellung der Dinge auch die Unwahrheit gesagt hat. Doch ausgerechnet zu der seit Monaten heftig diskutierten Stasi-Personalie Beilschmidt schwieg die Historikerin Braun nun aktuell in Erfurt bei der Veranstaltung. Fest steht: Im öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern mussten viele ehemalige inoffizielle Stasi-Mitarbeiter mit ähnlich dokumentierten Belastungen ihren Hut nehmen. Beilschmidt bekam in der Uni Erfurt zudem moralische Unterstützung von der Thüringer Sportministerin Birgit Klaubert von der Linkspartei, die ihm nach der Buch-Vorstellung aufmunternd auf die Schulter klopfte und nett mit ihm plauderte. Der amtierende Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, der von seinem damaligen Jugendfreund Beilschmidt einst bei der Stasi mehrfach denunziert wurde, hatte dem Thüringer Landessportbund im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen vom 10. Juli 2015 attestiert, dass es der Verband bisher nicht geschafft habe, sich eine Glaubwürdigkeit in Sachen Aufklärung der Vergangenheit zu erarbeiten.
Von Thomas Purschke
Es sollte ein Befreiungsschlag sein. Die erste Studie zur Aufarbeitung des DDR-Sports, die sich ausschließlich mit einem Bundesland beschäftigt. Thüringen war da der Vorreiter. Doch das Ergebnis, das jetzt in Erfurt vorgestellt worden ist, bleibt hinter den Erwartungen zurück. Vielmehr Instrumentalisierte der stasibelastete Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes Rolf Beilschmidt die Präsentation für seine Zwecke.
"2015-09-03T22:50:00+02:00"
"2020-01-30T12:57:41.734000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ddr-sportstudie-buehne-fuer-alte-thueringer-genossen-100.html
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Gericht stoppt Gemeinschaftsschule in Finnentrop
Die rot-grüne Landesregierung deklariert die neue Schulform als so genannten Schulversuch – das reiche aber nicht aus, so die Richter. Diese Entscheidung ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die eine flächendeckende Einführung von Gemeinschaftsschulen durch die Hintertür befürchten. Schulministerin Sylvia Löhrmann von den Grünen weist diesen Verdacht zurück:Das stimmt ja nicht, sondern wir wollen den Schulversuch bis maximal fünfzig führen, aber vorrangig wollen wir ja auch eine gesetzliche Grundlage für die Gemeinschaftsschule schaffen.Die Landesregierung kündigte an, die nächsthöhere Instanz, das Oberverwaltungsgericht in Münster, anzurufen. Für eine Änderung des Schulgesetzes, die Rechtssicherheit schaffen könnte, fehlt der Minderheitsregierung im Landtag die nötige Mehrheit. Die CDU-Opposition signalisiert zwar Kompromissbereitschaft, fordert aber eine Bestandsgarantie für die Gymnasien. 14 Gemeinschaftsschulen hat die Landesregierung bisher in NRW genehmigt, bis zum Jahr 2015 sollen es landesweit 30 Prozent aller Schulen der Sekundarstufe I sein. Kernelement der neuen Schule ist das gemeinsame Lernen mindestens bis zur sechsten Klasse.
Von Barbara Schmidt-Mattern
Die Entscheidung der Arnsberger Richter sorgt weit über das Sauerland hinaus für Unruhe, denn die landesweite Gründung von Gemeinschaftsschulen ist in Nordrhein-Westfalen umstritten. Den vorläufigen Stopp der geplanten neuen Schule in Finnentrop begründete das Verwaltungsgericht mit einer fehlenden Rechtsgrundlage.
"2011-04-13T14:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:14:14.674000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gericht-stoppt-gemeinschaftsschule-in-finnentrop-100.html
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Kommunisten wollen raus aus der Krise
Ministerpräsident Li Keqiang gab sich zum Ende des Volkskongresses optimistisch. (picture alliance / dpa / MAXPPP) Der Smog hatte sich mal wieder flächendeckend über Peking gelegt. Die gefährlichen Feinstaubwerte an diesem Morgen: zehn Mal so hoch wie der empfohlene Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation. Die fast 3.000 Delegierten des Volkskongresses wurden damit so verabschiedet wie sie vor knapp zwei Wochen begrüßt wurden: mit schmutzig-giftiger Luft. In der Großen Halle des Volkes kam Chinas Volkskongress zum letzten Mal dieses Jahr zusammen, um unter anderem den neuen Fünf-Jahres-Plan abzusegnen. Das Abstimmungsergebnis war beispielhaft für Chinas Scheinparlament: eine Zustimmung von über 97 Prozent. Der 13. Fünf-Jahres-Plan soll die politische und wirtschaftliche Entwicklung in China vorgeben. Überraschungen gab es dabei keine. Der Plan sieht ein Wachstum von mindestens 6,5 Prozent über die nächsten fünf Jahre vor. Und am Ende des Volkskongresses gab sich Ministerpräsident Li Keqiang optimistisch. "Wir haben volles Vertrauen in die strahlende Zukunft unseres Landes und unserer Wirtschaft. Und unser Vertrauen steht nicht auf wackligen Füßen. Wir sind so zuversichtlich, weil wir glauben: Wenn wir den Weg der Reformen und der Öffnung weiter gehen, steht Chinas Wirtschaft nicht vor einer harten Landung. Durch unseren riesigen Markt haben wir haben enormes Potenzial. Es gibt immense Kreativität in unserem Land." Kraftakt – ja, harte Landung – nein Das war die Botschaft, die vom Volkskongress 2016 in Erinnerung bleibt: Mögen die wirtschaftlichen Probleme auch groß sein, China wird das schon schaukeln. Kraftakt – ja. Harte Landung – nein. Und die Delegierten, egal wen man fragt, stoßen ins gleiche Horn wie die Parteiführung. Zhu Zhangjing ist Volkskongress-Abgeordneter aus der ostchinesischen Provinz Zhejiang. "Natürlich haben wir Vertrauen. Ich glaube unter der richtigen Führung unserer Regierung und der Kommunistischen Partei wird es Chinas Wirtschaft gut gehen. Auch wenn die Weltwirtschaft schwächelt. Der 13. Fünf-Jahres-Plan ist sehr klar. Darin sind mehr als 100 Großprojekte enthalten, die dem Markt viele Chancen bieten, für Investitionen und Geschäfte. Ich vertraue der Führung." Chinas Kommunisten wollen raus aus der Krise Mit einer Reihe von Förderprogrammen soll das Wachstum gestützt werden: Umgerechnet 110 Milliarden Euro soll in den Eisenbahn-Bau fließen, 230 Milliarden Euro stehen für neue Straßen bereit. China will mit einem neuen Wachstumsmodell die Wende schaffen. In den nächsten fünf Jahren soll der Übergang von einer exportorientierten Billig- und Schwerindustrie zu mehr Konsum, Dienstleistungen und Hochtechnologie gelingen. Die Schlagworte der Regierung: Innovation und grünes Wachstum. Aber Ministerpräsident Li Keqiang deutet an: Ganz einfach wird es nicht. "Die Weltwirtschaft wächst nur schleppend. Chinas Wirtschaft ist aber davon abhängig, wie sich die Weltwirtschaft entwickelt. Außerdem befinden wir uns in einer Übergangsphase. Es gibt einige tief verwurzelte Probleme im Land, die akut geworden sind. All das hat den Abwärtsdruck auf Chinas Wirtschaft verstärkt." Chinas Kommunisten wollen raus aus der Krise. Und geben die Zielmarke im neuen Fünf-Jahres-Plan vor: Durchschnittliches Einkommen und Wirtschaftsleistung sollen sich bis 2020 gegenüber 2010 verdoppeln. Viele Experten halten Chinas Wachstumsziele für zu ehrgeizig. Die Kritik: Es fehlt an marktwirtschaftlichen und strukturellen Reformen. Kritik wird aber auf Chinas Volkskongress allenfalls hinter verschlossenen Türen formuliert. Nach außen gab es vor allem verordneten Optimismus und Durchhalteparolen.
Von Axel Dorloff
Hohe Wachstumsziele, wachsende Einkommen und Reformen: Chinas neuer Fünf-Jahres-Plan soll der große Wurf sein. Doch kann Peking seine Versprechen halten? Nach den Turbulenzen in der zweitgrößten Volkswirtschaft herrscht Verunsicherung. Und so muss Premier Li Keqiang erstmal gute Stimmung verbreiten.
"2016-03-16T13:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:18:57.700000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/volkskongress-in-china-kommunisten-wollen-raus-aus-der-krise-100.html
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Straßenverkäufer wollen Bürgerrechte
Auf den rund 1,5 Kilometern zwischen der Placa de Catalunya im Norden und dem Placa Portal de la Pau im Süden, den "Les Rambles" tummeln sich die Touristen. (picture alliance / dpa / Thorsten Lang) "Rassistische Polizei, raus aus meinem Leben", skandieren die zirka 150 Straßenverkäufer zusammen mit ihren Unterstützern. Sie demonstrieren vor dem Rathaus der katalanischen Hauptstadt Barcelona. Mitten im Zentrum, im Barrio Gotico, dem gotischen Viertel. Genau da, wo sich im Sommer jeden Tag zehntausende Touristen durch die engen Gassen drängeln. Am Haupteingang hat die neue Regierungspartei Barcelona en Comú nach ihrem Einzug im vergangenen Jahr ein Banner befestigt: "Refugees Welcome" steht da in großen Lettern. Eine klare und positive Botschaft. Aber für viele Flüchtlinge in der Stadt hat sich nichts geändert, beklagt Lamine. "Bis jetzt wurde noch nichts Konkretes für die Straßenverkäufer gemacht. Wenn man hier steht und verkauft, dann wird man ständig nach seinen Papieren gefragt. Man wird geschlagen und bekommt Strafzettel. Wie kann es sein, dass ein Mensch für illegal erklärt wird?" Lamine ist einer von acht Sprechern der ersten Straßenverkäufer-Gewerkschaft der Welt: Sindicato Popular de los Vendedores Ambulantes. Er trägt Shorts, Sport-Sandalen und ein Trikot vom Fußballklub FC Barcelona. Das ist auch einer seiner Bestseller; mit der Nummer 10 von Stürmerstar Messi natürlich. Harte Arbeit der Straßenhändler Lamine ist vor zehn Jahren aus dem Senegal geflüchtet. Seit 2007 lebt er in der Metropole am Mittelmeer. Illegal, ohne Aufenthaltsgenehmigung. Eine andere Arbeit findet der 33-Jährige nicht. Die Straßenhändler werden Manteros genannt, wegen der Mantas, der Decken, auf denen sie ihre Waren auslegen. Ein harter Job. Jeden Tag ist Lamine mehr als zehn Stunden auf den Beinen. Meist auf der Rambla, der bekanntesten Einkaufsmeile der Stadt. Viel verdient man mit dem Straßenhandel nicht. Dazu kommen tägliche Kontrollen durch die Stadtpolizei Guardia Urbana. Die Manteros wollen sich nicht mehr schikanieren lassen, sie wollen Rechte und Teilhabe in ihrer neuen Heimat. Daher haben sie sich organisiert und im Oktober vergangenen Jahres eine Basisgewerkschaft gegründet. "Das Wichtigste ist, dass die Polizeirepression aufhört. Gebrochene Knochen, etc. Außerdem wollen wir von der Straße weg, diese Arbeit ist ziemlich hart. Wir wollen eine richtige, würdige Arbeit. Eine Ausbildung und natürlich Papiere. Außerdem wollen wir als ganz normaler Bürger hier anerkannt werden." Im Sommer 2015 ist unter bisher ungeklärten Umständen ein senegalesischer Mantero-Kollege im Polizeigewahrsam gestorben. Kurz darauf kam die Idee zu der Gewerkschaft bei einem Treffen mit der selbstorganisierten Migrantenvereinigung Espacio del Inmigrante. Unterstützung von mehr als 100 Gruppen Unterstützt werden die Manteros von mehr als 100 Gruppen aus sozialen Bewegungen und NGO. Durch die Aktionen der Basisgewerkschaft gerät das linke Bündnis in Barcelona zunehmend unter Druck. Sozialpolitik stand bei dem Regierungsantritt der Koalition ganz oben auf der Liste. Jetzt bekommt die Koalition ausgerechnet den Konflikt mit den Straßenhändlern nicht in den Griff. Jordi Rabassa, Sprecher der Regierungspartei Barcelona en Comú, verweist auf die strukturellen Probleme des Landes. "Es gibt bestimmte Fragen, da sind uns auf kommunaler Ebene einfach die Hände gebunden. Viele Probleme können wir einfach nicht lösen. Das geht nur auf nationaler Ebene. Deswegen finden wir die Vorwürfe auch sehr ungerecht. Wir würden den Manteros ja Aufenthaltsgenehmigungen geben. Das sind eben die Grenze einer Stadtregierung." So hofft er, dass der konservative Ministerpräsident Rajoy Mitte Juli nicht noch einmal den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt. Aber Kritiker von Tras la Manta und der Gewerkschaft halten das für eine schlechte Ausrede. Es sei ein alter Trick von Politikern, die Verantwortung einfach auf die nächste höhere Stufe zu schieben. So gehöre neben den Forderungen nach einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis auch konkret die Vergabe von Verkaufslizenzen dazu. So würde wenigstens der polizeilichen Repression ein Riegel vorgeschoben. Vorerst sieht es nicht nach einer einfachen Lösung aus. Und der Sommer ist die Hochsaison für die Straßenverkäufer. Lamine vom Sindicato Popular de los Vendedores Ambulantes bleibt kämpferisch – und hat auch ganz konkrete Pläne für die Zukunft. "Ich würde gerne eine gute Ausbildung machen und einen guten Job haben. Außerdem will ich meine Geschichte aufschreiben. Von meiner Flucht aus dem Senegal und auch von unserem Arbeitskampf. Daraus könnte dann ein Buch oder Film werden."
Von Steen Thorsson
In Barcelona regiert seit der Kommunalwahl ein linksgerichtetes Parteienbündnis. Dieses möchte mehr soziale Stadt erreichen und den Kampf gegen Ungleichheit aufnehmen. Ausgerechnet den Konflikt mit den Straßenhändlern bekommt es aber nicht in den Griff - die protestieren mit einer neu gegründeten Gewerkschaft lautstark.
"2016-07-11T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:40:22.463000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arbeitskampf-in-barcelona-strassenverkaeufer-wollen-100.html
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Verfassungsschutz-Chef hält Snowden für russischen Agenten
Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen musste dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zur NSA-Spähaffäre Fragen beantworten. (picture alliance / dpa/ Reiner Jensen) Es ist ein überaus bemerkenswerter Auftritt des amtierenden Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Bundestags-NSA-Untersuchungsausschuss. Mit einem Frontalangriff auf die Parlamentarier und auf Edward Snowden eröffnet Hans-Georg Maaßen seine Zeugenvernehmung, die bis Mitternacht andauert. Er teilt den Abgeordneten mit, dass der Untersuchungsausschuss die Kapazitäten der Behörde in hohem Maße binden würde – und dass dies die Terorrismusbekämpfung einschränke, auch wenn er nicht hoffe, dass es zu einem Anschlag komme. Die Parlamentarier sind daraufhin erzürnt: Was er denn damit sagen wolle, fragt etwa Christian Flisek von der SPD. Maaßen antwortet: Er könne sich vorstellen, dass im Falle eines Anschlages die Frage komme, wie das passieren konnte, was das BfV, statt diesen zu verhindern, denn gemacht hätte. Derzeit hätte aber die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses Priorität. Damit hatte der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der in anderem Zusammenhang für seine Amtsführung stark in der Kritik steht, eine gefährliche Strategie gewählt: "Herr Maaßen hat heute keinen Anfall von Demut hier gehabt in einer solchen Situation. Er hat vielleicht gedacht, dass die Strategie, sich offen nach vorne zu verteidigen, die beste sei", schätzt SPD-Obmann Christian Flisek zum Ende der Sitzung Maaßens Auftritt ein. Maaßen: Snowden ein russischer Agent? Auch Edward Snowden griff Deutschlands Inlandsgeheimdienstchef frontal an: Die Veröffentlichungen seien der Versuch gewesen, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben. Ob Snowden ein Agent des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR oder des Inlandsgeheimdienstes FSB sei, könne derzeit nicht belegt werden. Auch ob manche Dokumente – wie die zum Kanzlerinnen-Handy – überhaupt echt seien, wäre nicht klar, nicht überprüfbar, vielleicht seien sie auch Operationen anderer Geheimdienste unter falscher Flagge. Konstantin von Notz, Grünen-Obmann: "Dass man bis heute nicht weiß, wie das nun genau mit dem Kanzlerinnen-Handy ist, ist eigentlich ein Armutszeugnis." Das Echo auf Maaßens Aussagen kommt prompt: Der Grüne Hans-Christian Ströbele fragt den Verfassungsschutzchef, ob er sich nicht selbst an der Spitze einer Desinformationskampagne sehe, hält ihm Interviewaussagen vor. Der weist den Vorwurf scharf zurück. Auch André Hahn, Linke, fragt, welche Tatsachen Maaßen denn vorbringen kann. Deutschlands oberster Verfassungsschützer führt vor allem an, dass Edward Snowden sich in Russland aufhalte – was die Parlamentarier für wenig stichhaltig erachten. Snowden selbst schaltet sich per Twitter aus seinem russischen Exil ein: Ob Maaßen Agent des SWR oder des FSB sei, könne derzeit nicht belegt werden, spielt er den Ball zurück - gefolgt von einem achselzuckenden, lächelnden Smiley. Fromm: Fehler gemacht bei der Datenweitergabe Doch auch inhaltlich gibt es einiges zu klären: Während Heinz Fromm sagt, dass es sein könne, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Weitergabe von Daten zu Extremismusverdächtigen an US-Dienste auch Fehler gemacht worden sein könnten, ließ sein Nachfolger Hans-Georg Maaßen wenig Raum für Selbstkritik: Aus seiner Sicht seien die Datenweitergaben korrekt erfolgt – und vor allem Handynummern reichten auch heute nicht zur Lokalisierung von Verdächtigen aus, trotz gegenteiliger Aussagen eines US-Drohnen-Bedieners im Untersuchungsausschuss. Ein halbes Dutzend Fälle Tötungen nach einer Datenweitergabe sind bislang bekannt. Sowohl Maaßen wie auch sein Amtsvorgänger Fromm erläutern, warum die Spionageabwehr eine Baustelle sei: Maaßen sagt, dass es keine befreundeten, sondern nur "verpartnerte" Geheimdienste gebe und dies allen Beteiligten klar sei. Insbesondere Fromm legt Wert darauf, dass auch Entscheidungen der Politik die Spionageabwehr geschwächt hätten. Allerdings würden Staaten wie die USA stets nur bei konkreten Anlässen Aktivitäten der Spionageabwehr auslösen – systematisch überprüft wurde nie, was Briten, Amerikaner, Neuseeländer, Australier und Kanadier in Deutschland tun. Linkenpolitikerin Martina Renner fasst es so zusammen: "Man ist fast auf beiden Augen blind, was dort passiert."
Von Falk Steiner
Ein bemerkenswerter Auftritt: Eigentlich habe er Wichtigeres zu tun, als hier Rede und Antwort zu stehen. Das ließ der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, den Bundestags-Untersuchungsausschuss zur NSA-Spähaffäre wissen. Und dass er die Echtheit der Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden anzweifele. Maaßen verdächtigte ihn gar, ein russischer Agent zu sein.
"2016-06-10T05:07:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:26.731000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nsa-untersuchungsausschuss-verfassungsschutz-chef-haelt-100.html
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"Wir sind reich, wir müssen auch geben"
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschen Bundestag (dpa / Rainer Jensen) Capellan: Gerd Müller - "Wir leben in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint", das haben Sie gesagt, als Sie in New York zunächst am Klimagipfel und dann an der Generaldebatte der Vereinten Nationen teilgenommen haben. Als Entwicklungsminister haben Sie mit dieser Welt naturgemäß täglich zu tun. Ebola, IS-Terror, der Ukraine-Konflikt - das Krisengeschäft bestimmt derzeit wohl auch Ihren politischen Alltag. Sie reisen nun diesen Montag nach Kiew, um dort einen deutschen Hilfskonvoi in Empfang zu nehmen. Die Ukraine ist nicht unbedingt ein Entwicklungsland, warum fühlen Sie sich dennoch berufen, dort zu helfen? Müller: Die Ukraine ist für uns ein ganz wichtiger Partner. Und auch dort gibt es aufgrund dieser Kämpfe und Auseinandersetzungen in der Ostukraine circa 400.000 bis 500.000 Binnenvertriebene, die keine Heimat mehr haben. Ein strenger Winter steht bevor - die Kanzlerin hat Hilfe zugesagt. Und die bringen wir jetzt mit einem Hilfskonvoi - 112 Lkws, das Notwendigste, was man braucht -, um, wenn man vertrieben ist, den Winter zu überleben. Capellan: Putin hatte ja einen Hilfskonvoi auf den Weg geschickt, der von vielen eher als Unterstützungskonvoi für die Separatisten angesehen wurde. Ist der deutsche Konvoi, der in Ihrer Regie da auf den Weg geschickt wurde, ist das nun der "gute Konvoi"? "Wir sind reich, wir können geben" Müller: Ja, bei uns sind nicht nur Mehlsäcke dabei, sondern wir bringen das, was die Menschen jetzt ganz notwendig brauchen: Winterquartiere, Sanitätsausrüstung, Medizin, Winterkleidung, Baumaterial. Also direkt praktisch. Und wir werden das dezentral an die Bürgermeister in Charkow und verschiedenen Städten dort, wo die Flüchtlinge aus der Ostukraine ankommen, verteilen. Ich erinnere mich schon an die große Wirkung der, sage ich mal, Carepakete aus den USA. Ich möchte auch die Bevölkerung in Deutschland ansprechen: Die Menschen in der Ukraine sind uns ganz nahe, und wir haben viel, wir sind reich, und wir können und müssen in einer solchen Notlage auch ein Stück geben. Capellan: Ist das auch ein Zeichen dafür, dass Deutschland mehr Verantwortung in dieser Welt trägt, was ja nicht nur vom Bundespräsidenten angemahnt worden ist? Müller: Ja, selbstverständlich. Wir sind führende Industrienation. Die Krisen um uns herum fordern uns. Wir müssen Verantwortung übernehmen. Und Verantwortung aus meiner Sicht heißt: Jetzt, dort wo Not ist. Wir haben Krieg in Syrien - Assad gegen das eigene Land, die IS. Wir haben allein im Syrien-Umfeld, im Irak-Umfeld zehn Millionen vertriebene Flüchtlinge in Notunterkünften oder einfach auf dem Boden lagernd. Ich habe das in Erbil, in Dohuk gesehen. Und wir können da nicht die Augen verschließen, denn wir können ja und müssen helfen, dass diese Leute über den Winter kommen, überleben. Das ist auch eine menschliche Verpflichtung, eine christliche Verpflichtung. Wer reich ist, kann auch ein Prozent, würde ich mal sagen, - jeder von uns auch persönlich, nicht nur der Staat - abgeben, um diese Not, dieses Elend zu lindern. Auch Deutschland müsse den Flüchtlingen aus Syrien helfen, sagte Entwicklungsminister Müller (CSU) im DLF. (picture alliance / dpa / Sedat Suna) Capellan: Also Sie persönlich sehen dann diese humanitäre Hilfe auch gewissermaßen als Kontrapunkt zu den Waffenlieferungen, etwa an die kurdischen Peschmerga? Mit denen waren Sie anfangs ja auch nicht so ganz einverstanden. Oder eben auch als Kontrapunkt zu der Tatsache, dass Deutschland ja jetzt zumindest indirekt auch militärisch in den Ukrainekonflikt involviert werden könnte, indem man den Waffenstillstand dort mit deutschen Drohnen überwachen möchte? Müller: Also grundsätzlich sind natürlich zu viele Waffen in der Welt. Waffen schaffen keinen Frieden - sie schaffen vielleicht Stabilität jetzt. Und die Peschmerga-Kämpfer kämpfen auch für uns. Die Anschläge, die Verfolgung der Christen, der Jesiden im kurdischen Irak, in Syrien, das ist auch ein Anschlag auf uns, auf die Kultur, religiöse ethnische Minderheiten auszurotten. Es ist dramatisch, was dort abgeht. Ich hatte die Gelegenheit, persönlich mit fünf jungen Frauen zu sprechen, die sich mir geöffnet haben und erzählt haben von einem Vergewaltigungslager. Sie haben richtig gehört! Ein Dorf, 1.400 Einwohner, das vor Kurzem überfallen wurde. 600 Männer rechts heraus - alle erschossen, vor den Augen ihrer Frauen. Die Frauen aufgeteilt in Frauen und Mädchen - die Mädchen den Kämpfern sozusagen geschenkt als Trophäe. Und da dürfen wir nicht zuschauen! Das ist ein Genozid! Und deshalb habe ich auch zugestimmt, dass wir Waffen an die Peschmerga-Kämpfer liefern, denn das ist Hilfe zur Notwehr. Capellan: Und hat das bei Ihnen eine gewisse Zeit auch gedauert, bis Sie zu diesem Schluss gekommen waren? Ich sagte es eingangs, Sie waren anfangs gegen diese Waffenlieferungen. Sie sagten Mitte August: "Ich sehe uns nicht in der Verpflichtung, im Nordirak mit Waffenlieferungen einzugreifen. Ich bin für die Lieferung von Medizin, von Lazaretten, von Krankenwagen, aber nicht für die Lieferung von Waffen." Wir müssen immer auch diplomatisch handeln Müller: Ja, die IS-Milizen morden Kinder, Frauen in bestialischer Weise. Und da können wir nicht nur Mitleid zeigen, sondern wir müssen die Notwehr auch organisieren. Aber hier darf man natürlich nicht stehenbleiben. Es sind Hunderttausende hinter der Front vertrieben. Es fehlen von den 26 Flüchtlingscamps im Nordirak derzeit zehn. Wir haben vielleicht noch vier oder acht Wochen, bis der Winter kommt. Diese Camps müssen gebaut werden. Das World Food Programme ist nicht durchfinanziert. Es kann noch sechs Wochen Nahrung ausgegeben werden. Die Säuglingsrationen werden bereits gekürzt. Das heißt, die humanitäre Hilfe, dass Hunderttausende von Flüchtlingen überleben, ist ebenso wichtig und ein diplomatischer Vorstoß. Wir müssen bei allen Kriegshandlungen immer auch diplomatisch handeln, das heißt, die UN, die Europäische Union. Es ist eine diplomatische Offensive und Initiative erforderlich, dieses Morden in Syrien, im Irak zu stoppen. Capellan: Diplomatisch handeln, das führt mich noch einmal zurück zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach denn die Gefahr, dass Deutschland noch mehr Partei werden könnte im Konflikt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, auch dadurch, dass man sich nun mit dieser Hilfslieferung engagiert? Müller: In der Ukraine zeigt sich klassisch, dass auf der einen Seite die Sanktionen gegen Russland Wirkung zeigen, wenn wir sehen, der Druck auf den Rubel und Abzug von Investitionen in Russland schaffen Putin erhebliche Probleme. Das war richtig. Aber auf der anderen Seite hat die Bundeskanzlerin ständig und immer wieder auch den diplomatischen Kanal gesucht und offen gehalten, mit Putin den Kontakt, ihm auch einen Weg offen gehalten, nicht weiter zu eskalieren, sondern am Verhandlungstisch, wenn auch eine nicht ganz faire Waffenruhe jetzt zu schließen. Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Herr Müller, lassen Sie uns weiter über die Flüchtlingssituation sprechen. Sie haben den künftigen EU-Kommissionspräsidenten, Jean-Claude Juncker, auch dazu aufgefordert, einen EU-Flüchtlingssonderkommissar einzurichten. Man müsse sogar eine "Sondermilliarde" bereitstellen, also sehr viel Geld in die Hand nehmen, um den Flüchtlingen in aller Welt zu helfen. Gibt es bereits eine Reaktion von Juncker? Waffen für die kurdischen Peschmerga im Irak seien "Hilfe zur Notwehr", sagte Entwicklungsminister Müller (CSU) im DLF. (afp/Lopez) Müller: Also, 17 Millionen der Europäischen Union bisher in dieser dramatischen Lage, das ist nahezu nichts. Ich bin mehr als enttäuscht. Seit den Europawahlen und Monate davor, das heißt seit März, bewegt sich offensichtlich nichts in Brüssel. Die Kommission wird jetzt gebildet, und wir können nicht weitere Monate warten, bis Europa operationsfähig ist. Wir erleben derzeit eine Herausforderung, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben in der Frage von Vertreibung, Hunger, Elend, Not. Das heißt, Brüssel muss reagieren. In Erbil wehen die UN-Flaggen. Die Europäische Union ist nicht präsent. Und deshalb muss sofort gehandelt werden. Die EU hat Geld, es sind Töpfe vorhanden, die sind voll. Ich fordere deshalb eine "Sondermilliarde", die sofort jetzt eingesetzt wird, um Winterquartiere zu bauen, um Not und Elend zu mildern. Und dazu bedarf es auch eines Sonderbeauftragten des Kommissionspräsidenten. Denn wir haben in der neuen Kommission leider wieder vier verschiedene Kommissare, die sich um dieses Thema nicht streiten, aber die Abstimmungsprozesse werden wieder kompliziert sein. Deshalb muss dieses Thema beim Kommissionspräsidenten direkt angegliedert werden. Capellan: Großes Gewicht in Brüssel hat die Kanzlerin. Haben Sie mit ihr darüber gesprochen? Wird es da Druck geben? Müller: Ich habe mit der Kanzlerin darüber gesprochen. Sie sieht den Handlungsdruck ebenso. Capellan: Das Bundesentwicklungsministerium braucht im Grunde, nehme ich an, mehr Geld, um die Flüchtlingssituation vor Ort, in den Regionen, in den Griff zu bekommen. Bekommen Sie dieses Geld? Müller: Ja, wir haben die Freigabe für 60 Millionen zusätzlich bekommen. Wir werden in Fluchtursachen in den Ländern, in denen die Krisen entstehen und wo die Flüchtlinge zu Hause sind, investieren. Wir können nicht alle Menschen hier aufnehmen. Und eines ist auch klar: Weder in Syrien, noch in Libyen, noch in Eritrea - wo wir uns auch engagieren -, die Menschen wollen zu Hause eine Perspektive. Aber darüber hinaus müssen wir natürlich auch in Deutschland und in Europa Flüchtlinge und Asylbewerber aufnehmen - in diesem Jahr voraussichtlich 200.000. Und dazu ist es notwendig, dass wir auch eine gerechte Verteilung unter den 28 EU-Staaten erreichen. Die einen zeigen Solidarität - Deutschland in herausragender Weise, auch die nordischen Länder - und andere ducken sich weg. Auch hier ist Brüssel gefordert, eine gleichwertige Verteilung der Flüchtlinge, der Solidarität in Europa zu organisieren. Die Klagen deutscher Kommunen sind nicht ganz nachvollziehbar Capellan: Könnte Deutschland denn noch mehr tun? Wie viele Flüchtlinge könnten wir aufnehmen? Müller: Wir sind sicherlich noch nicht an der Grenze. Man muss auch die Relation sehen. Wenn ein deutscher Landkreis 300 oder 500 Flüchtlinge aufnimmt - in den Städten sind es dann mal 2.000 -, dann klingt das nach viel, aber ich habe Städte gesehen in Jordanien, an der syrischen Grenze eine Stadt, die 60.000 Einwohner hat, die in den vergangenen zwölf Monaten 120.000 Menschen aufgenommen hat. Ich habe einen jordanischen Bauern, einen Ziegenhirten besucht, der hat seinen Stall ausgeräumt und darin eine achtköpfige syrische Familie aufgenommen. So war das bei uns - die Solidarität - nach dem Kriege auch. Ich sehe, dass die Ärmsten am meisten tun. Die Klagen deutscher Kommunen sind nicht ganz nachvollziehbar. Capellan: Glauben Sie denn, dass auch die deutsche Bevölkerung bereit ist, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als mancher Politiker auch suggeriert? Müller: Ja, das glaube ich. Wir müssen, erstens, die Bundesliegenschaften, die zur Verfügung stehen, schnell und unbürokratisch dafür nutzen - ich denke an freie Bundeswehrkasernen. Auch die Kirchen haben Räume, Plätze und Möglichkeiten. Und ich sage noch einmal: Das Entwicklungsministerium beispielsweise, wir bauen im Nordirak in sechs Wochen dort mit UNICEF ein Flüchtlingscamp auf, für 10.000 Menschen, dann sollten es auch in der hochzivilisierten Bundesrepublik den Landkreisen gelingen, innerhalb von sechs Wochen 200 oder 500 Flüchtlinge unterzubringen. Capellan: Eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den IS-Terror spielt derzeit auch die Türkei, ein NATO-Partner. Die Türkei allerdings - Ankara - hat Angst, dass der Kurdenkonflikt wieder in die Türkei getragen werden könnte. Würden Sie dafür plädieren, dass sich die türkische Regierung engagieren müsste im Kampf gegen die islamistischen Terroristen? Müller: Die Türkei ist in einer schwierigen Situation. Das Parlament hat dem Präsidenten nun die Möglichkeit gegeben, dort mit einzugreifen. Wir hoffen und erwarten, dass sich die Türkei an der internationalen Allianz zur Bekämpfung des IS-Terrors beteiligt. Eine friedliche Welt mit weniger Waffen wäre das Ziel Capellan: Wir haben die Waffenlieferung und die Diskussion darüber angesprochen. Wir erleben derzeit eine heftige Diskussion über Rüstungsexporte. Als Entwicklungsminister sind Sie da direkt involviert, als Mitglied des Bundessicherheitsrates, der über solche Exporte entscheidet. Da gab es in der Vergangenheit das Beispiel Katar, das vielen als Unterstützer des IS-Terrors galt. Wir liefern nun Panzer. Da müssen Sie als Entwicklungsminister doch immer wieder mal wütend werden? Müller: Selbstverständlich. Mit weniger Waffen die Welt friedlich und stabil zu gestalten, das wäre das Ziel - Waffen schaffen keinen Frieden. Aber ich bin natürlich auch kein Illusionist. Ganz besonders zurückhaltend sollten wir in der Frage der Verteilung und der Genehmigung von Exporten im Bereich der Kleinwaffen sein. Überall auf der Welt tauchen diese Waffen in regionalen Konflikten auf. Ich bin zurückhaltend und werde auch weiterhin einen zurückhaltenden Kurs bei den Exporten von Waffenlieferungen halten. Capellan: Was halten Sie denn dann von dem Vorschlag, eine neue Rollenverteilung im Bundessicherheitsrat vorzunehmen? Also die Federführung für solche Exporte, für die Entscheidung darüber, müsse beim Auswärtigen Amt liegen, damit es nur um politische Entscheidungen und nicht um industriepolitische Entscheidungen geht. Müller: Ich teile die Auffassung von Wirtschaftsminister Gabriel, der ja deutlich gesagt hat, "'industriepolitisch' darf nicht die grundlegende Motivation sein". Und er hat ja selber vorgeschlagen, dass der Außenminister hier die Kompetenz erhalten sollte. Entscheidungen über Rüstungsexporte dürften nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten fallen, sagte Entwicklungsminister Müller (CSU). (AFP / Christof Stache) Capellan: Nun sind Sie ein Minister, der ja aus Bayern kommt. In Bayern ist die Rüstungsindustrie sehr stark vertreten. Da geht es eben auch um ganz handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen von der CDU, hat nun gesagt, es gibt nur noch ganz, ganz wenige Schlüsseltechnologien, U-Boote beispielsweise zählt sie nicht mehr dazu. Können Sie dem folgen? Müller: Also wir müssen mehrere Konsequenzen aus der aktuellen Situation ziehen. Im Bereich der Rüstung bietet sich längst an, dass wir europäisch koordiniert vorgehen. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass die NATO-Staaten, dass jeder alles produziert und die einzelnen Techniken miteinander nicht kompatibel sind. Man könnte hier Milliarden sparen, wenn wir in der Rüstungsfrage in Europa uns enger abstimmen würden. Wir brauchen darüber hinaus aber einen neuen Vorstoß im zivilen Bereich. Das zeigen die Krisen. Wir sind auch dort nicht ausreichend handlungsfähig, zivile, technische, medizinische Krisenreaktion mobil einzusetzen. Capellan: Sie reden jetzt auch von der Ebola-Bekämpfung? Müller: Von der Ebola-Bekämpfung oder ich denke an die Zentralafrikanische Republik, die dieser Tage wieder in den Schlagzeilen ist oder an den Südsudan. Dort sind schnelle mobile Einsatzteams gefordert, die im Land Hilfe leisten können. Also wir brauchen eine neue Krisenreaktionsstrategie in Europa und in Deutschland. Ich meine, in der Europäischen Union ein stehendes, ziviles Krisenreaktionsteam, das auf der Welt schnell und entschieden effektiv eingreifen kann. Capellan: Brauchen wir das, weil sich gerade zeigt - wir haben die Diskussion -, dass die Bundeswehr dem Ganzen nicht mehr gewachsen ist, dass sie bedingt einsatzbereit ist, auch was die humanitäre Hilfe angeht - Stichwort: "Ebola-Luftbrücke" beispielsweise? Müller: Ja, selbstverständlich. Bei den heutigen technologischen Möglichkeiten ist es fast nicht nachvollziehbar, dass wir Wochen und Monate brauchen, um Hilfsteams in die Krisenregionen zu bekommen. Hier müssen wir zivil nachrüsten. Technische zivile Einsatzteams mobil, wie beispielsweise Humedica das privat organisiert, die innerhalb von drei Tagen Mediziner, Krankenschwestern, mit der kompletten Ausrüstung, mit mobilen Operationssälen und der gesamten Technik in die Welt fliegen können. Das brauchen wir stehend bei der Europäischen Union, um, ich sage mal, innerhalb von zwei Tagen in Krisengebieten reagieren zu können. Dies ist bei Naturkatastrophen notwendig und dies ist in Kriegsszenarien und in Vertreibungsszenarien notwendig. In Afrika Strukturen aufbauen Capellan: Jetzt bei der Hilfe für die Ebola-Kranken reagiert Deutschland, die westliche Welt insgesamt sehr spät. Und jetzt muss man die verschiedenen Hilfsansätze zwischen verschiedenen Ministerien koordinieren. Das alles, so sagen Hilfsorganisationen, dauert viel zu lang. Es dauert noch vier, fünf, sechs Wochen, bis deutsche Helfer wirklich vor Ort sein können. Müller: Ja, und daraus müssen wir die Konsequenz ziehen, dass wir nicht stehen bleiben, sondern für kommende Krisen - es wird immer wieder Krisen geben, auch im Seuchen-, Epidemie- und Krankheitsbereich - uns technologisch auf den Stand der Zeit zu bringen. Das ist absolut notwendig. Aber auch die Entwicklungspolitik - unsere Arbeit -, Entwicklungszusammenarbeit, muss einen ganz neuen Stellenwert bekommen. Ebola zeigt beispielsweise, dass die Investitionen, der Aufbau von grundlegenden Gesundheitsstrukturen in Afrika Voraussetzung ist, um solche Epidemien, die auch den Westen, die auch Europa, die auch Deutschland gefährden, in Zukunft zu verhindern. Capellan: Das hat auch der Altbundespräsident Horst Köhler gesagt, der meinte, diese Ebola-Epidemie müsse ein "Weckruf" sein, endlich ein Weckruf für die internationale Staatengemeinschaft, eben Afrika als "Kontinent der Chancen" zu sehen. Müller: Selbstverständlich. Afrika wird sich die nächsten 50 Jahre verdoppeln bevölkerungsmäßig, von einer auf zwei Milliarden. Es liegt unmittelbar über das Mittelmeer vor der Haustüre. Hier müssen wir investieren in Gesundheit, in Bildung, in Arbeit, in Zukunft, ansonsten kommen die Menschen zu uns. Sie warten auf unsere Hilfe, und wir können auch eine Win-win-Situation schaffen. In vielfacher Weise ist Afrika heute schon ein Chancen-Kontinent. Sechs der zehn wachstumsstärksten Wirtschaften sind afrikanische Länder. Wir dürfen nicht nur die fünf oder sechs Kriegsländer, Kriegsszenarien Afrikas sehen, es gibt viele Aufsteigerländer - gute Chancen, auch für Deutschland, dort aktiv zu werden. Gerechte Löhne in der Textilindustrie Capellan: Ein großes Thema für Sie ist auch, bessere Sozialstandards in der Textilindustrie durchzusetzen. Die Lage in den Fabriken von Bangladesch oder in Pakistan ist katastrophal. Es hat schreckliche Unglücke gegeben. Sie setzen da auf die Macht der Verbraucher. "Wir alle müssen umdenken", haben Sie gesagt, "bewusster einkaufen." Andererseits haben auch Sie selbst eingeräumt, wenn Sie sich einen neuen Anzug kaufen, dann ist es oftmals schwer nachzuvollziehen, ob der fair hergestellt wurde. Sie wollten im Grunde ein Gütesiegel einführen. Eine schöne Idee - aber jetzt gestorben? Müller: Nein, nächsten Donnerstag kommt es zum Schwur. Ich fordere und bitte die deutsche Textilwirtschaft jetzt, auch wirklich mitzumachen. Wir haben fünf Monate miteinander jetzt verhandelt für einen Standard, einen Weg, auf den wir uns machen wollen sozusagen, vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Die Situation ist heute so, dass die Näherin in Bangladesch 15 Cent bekommt für die Stunde. Damit kann sie mit ihrem Lohn ihre Kinder nicht ernähren, nicht zur Schule schicken, Medizin, Krankenhausaufenthalte nicht finanzieren. Wenn wir existenzsichernde Löhne bezahlen, bedeutet das in Bangladesch nicht fünf Euro, sondern die 15 Cent auf 30 Cent zu erhöhen. Das bedeutet aber beim Kleidungsstück nahezu nichts. Das heißt, das Hemd oder der Anzug, der wird vielleicht um einen Euro teurer, aber für die Näherin vor Ort bedeutet das, sie kann leben. Und das muss es uns wert sein, dass wir zu fairen, gerechten Löhnen in der Kette kommen und auch ökologische Standards umsetzen. Capellan: Sie haben da immer wieder gerne plastische und drastische Beispiele gewählt - ein Trikot der Fußballnationalmannschaft. Das können wir uns in Deutschland leisten und legen 84 Euro dafür hin - und die Näherin in China - in dem Fall ist es wohl so - bekommt 50 Cent dafür. Sie haben dafür direkt Prügel bekommen von Adidas. "Der Minister ruft zum Boykott von Adidas-Produkten auf", so hieß es da. Bleiben Sie trotzdem standhaft? Eine Näherin in der "New Island Clothing"-Fabrik am Flughafen von Phnom Penh in Kambodscha (picture alliance / dpa / Christiane Oelrich) Müller: Ja, selbstverständlich. Und ich habe zu keinem Boykott aufgerufen. Ich habe an dem Beispiel nur aufgezeigt: Am Beginn der Kette stehen Menschen, die leben müssen. Das Endprodukt kostet 84 Euro und die Näherin bekommt 50 Cent. Und auch Adidas ist bereit, sie gehen voran in der Entwicklung der Standards. Und das erwarte ich von allen in der Textilbranche. Capellan: Aber glauben Sie wirklich, dass man mit freiwilligen Selbstverpflichtungen weiter kommt? Müller: Ja. Freiwilligkeit ist der erste Schritt. Ich glaube, wir kommen einen wesentlichen Schritt weiter. Ich möchte auch sagen: Textil ist nur ein Beispiel, wir können das bei der Handyproduktion genauso sehen. Handys, die heute in China produziert werden, der Monatsmindestlohn liegt unter 200 Euro. Capellan: Sie sagten eben: "Freiwilligkeit ist der erste Schritt" - wenn man nicht weiter kommt mit Freiwilligkeit, was dann? Müller: Freiwilligkeit ist der erste Schritt und Verantwortung der Verbraucher. Auch jeder Verbraucher muss, wenn er einkauft, es sich überlegen. "Geiz ist geil" ist naiv, ich meine auch, verantwortungslos. Nur noch auf billig zu schauen heißt, dass am Anfang der Kette wir sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse akzeptieren. Also der Verbraucher hat auch eine Eigenverantwortung. Aber es müssen auch gesetzliche Rahmenbedingungen nicht nur angedacht, sondern umgesetzt werden - weltweit. Für mich gilt nicht der Freihandel als Leitprinzip, sondern der faire Handel. Wir können dazu den Test in der Praxis jetzt machen beim Abschluss des TTIP-Abkommens mit den Amerikanern. Die USA haben die ILO-Kernarbeitsnormen nicht beziehungsweise nur zwei unterschrieben. Machen wir dies zur Basis zum Abschluss des TTIP-Abkommens, dann wäre das ein ganz wesentlicher Schritt in die Richtung, die ich aufzeige. China muss in neue Technologien investieren Capellan: Viel Billiges kommt auch aus China. Wir hatten in dieser Woche die deutsche-chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin. Auch Sie werden demnächst nach China reisen. Was haben Sie vor mit China? Müller: Ich werde eine neue Regierungskommission mit dem Handelsminister umsetzen. Wir müssen die Chinesen als Partner zur Lösung der globalen Fragen, der Überlebensfragen der Menschheit gewinnen. Ich nenne das Klimathema, aber auch die Frage der Welternährung. Gerade bei der Frage "Klima" müssen wir China gewinnen, in neue Technologien zu investieren, erneuerbaren Energien, Energieeffizienz umzusetzen. Hier werden wir Technologiepartnerschaften, Forschungspartnerschaften auf den Weg bringen. Denn wenn wir das "Zwei-Grad-Ziel" erreichen wollen, dann darf China nicht auf der Basis alter Kohletechnologie seinen Energiehunger sozusagen stillen. Das sind Themen, wo wir miteinander Win-win-Situationen schaffen können. Capellan: Kann man da auch Tacheles reden mit Blick auf die Menschenrechtssituation, mit Blick auch auf die Einhaltung von Sozialstandards? Müller: Ja. Das ist ein weiteres Thema. Ich werde beispielsweise bei meinem Chinabesuch die Produktion von Adidas in Shanghai besuchen. Dort sind solche Mindeststandards bereits umgesetzt. Auch China, die Chinesen können sich dies nicht mehr leisten und sind offen, bewegen sich ein Stück weit in unsere Richtung. Und dazu ist der Dialog, das Gespräch und der Austausch von Wissenschaftlern, von Wirtschaft und insbesondere von Jugend notwendig. Ich werde eine Diskussion mit Studenten führen, und wir werden den Jugendaustausch verstärken. Capellan: Entwicklungsminister Gerd Müller im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank. Müller: Vielen Dank.
Gerd Müller im Gespräch mit Frank Capellan
Syrien, Irak, Westafrika, Ukraine: Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat angesichts der "Krisen um uns herum" mehr Solidarität mit den Flüchtlingen und Notleidenden angemahnt. Müller sagte im Deutschlandfunk, nicht nur der Staat, jeder Einzelne müsse "in einer solchen Notlage auch ein Stück geben".
"2014-10-12T11:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:07:56.431000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-der-woche-wir-sind-reich-wir-muessen-auch-geben-100.html
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"Integration erfordert viel Arbeit, Geduld und Kraft"
Der Präsident des DIHK, Eric Schweitzer (dpa/picture alliance/Wolfgang Kumm) Schweitzer betonte, da viele Flüchtlinge noch unter 25 Jahren alt seien, könne man gut bei der Schulbildung ansetzen. Zugleich warnte Schweitzer vor überzogenen Erwartungen. Seiner Ansicht nach sind Flüchtlinge nicht als Rezept für den bevorstehenden Fachkräftemangel zu sehen. Es handele sich um keine gezielte Zuwanderung, sondern um Menschen, die vor Bürgerkriegen flüchteten, sagte er. Das Interview in voller Länge: Mario Dobovisek: Ein Flüchtling, der nach Deutschland kommt, der kostet Geld. Ein Flüchtling, der nach Deutschland kommt und arbeitet, der bringt am Ende sogar Geld für das Unternehmen, für das er tätig ist, für den Fiskus, weil er Steuern zahlt, für den Einzelhandel, weil er dort sein Geld ausgibt im besten Fall. Integration in den Arbeitsmarkt scheint, einer der Schlüssel zu sein bei der Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft. Der Bundeswirtschaftsminister und die deutschen Industrie- und Handelskammern starten heute eine Initiative mit dem Titel "Unternehmen integrieren Flüchtlinge". Den Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Schweitzer. Eric Schweitzer: Guten Morgen. Dobovisek: Flüchtlinge in Arbeit bringen, wie wollen Sie das schaffen? Schweitzer: Zunächst mal muss man wissen, das ist ein sehr langer Weg. Das heißt, die Integration beginnt über Sprache - das ist der erste Punkt, der den Flüchtlingen beigebracht werden muss -, und anschließend über Ausbildung und den Arbeitsmarkt. Was wir uns vorgenommen haben, dass wir ein Netzwerk gründen, gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsminister, von dem es gefördert wird auch, in dem wir Unternehmen zusammenbringen, die sich gemeinsam austauschen über die Schwierigkeiten, über die Problemlösungen und über die Erfahrungen bei der Ausbildung von Flüchtlingen als auch bei der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Dobovisek: Wie groß ist da bisher die Resonanz? Schweitzer: Die Resonanz ist sehr groß. Wir haben ja ähnliche Beispiele auch aus einem Netzwerk für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wo wir über 5000 Mitgliedsunternehmen haben. Wir haben das jetzige neue Netzwerk zur Integration von Flüchtlingen vor kurzem gestartet, haben bisher schon 300 Mitgliedsunternehmen und streben an, jährlich 500 neue Mitgliedsunternehmen aufzunehmen. Dobovisek: Initiativen gibt es viele, zum Beispiel in Rosenheim. Dort werden jugendliche Flüchtlinge und junge Erwachsene auf eine Ausbildung in Deutschland vorbereitet. Die Chefin dieser Initiative "Junge Arbeit" sagt inzwischen resigniert: Bei rund 80 Prozent der Jugendlichen fehlen fast komplett neun Jahre Schulbildung. "Eine Ausbildung ist nicht realistisch." Die Probleme sind gravierend, die Bildungsunterschiede auch, nicht nur bei den Jugendlichen. Es kommen eben nicht bloß Ingenieure nach Deutschland. Wie wollen Sie dieses ausgleichen? "Schulbildung ist Voraussetzung für die berufliche Ausbildung" Schweitzer: Diese Erfahrungen teile ich. Man muss einfach wissen: Die Integration von Flüchtlingen in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erfordert unglaublich viel Arbeit, unglaublich viel Geduld und Kraft. Das wird dauern zwischen fünf und zehn Jahre. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind, dass nach einem Jahr nur zehn Prozent in den Arbeitsmarkt integriert sind, nach fünf Jahren 50 Prozent und nach 15 Jahren 70 Prozent. Das heißt, das ist ein Prozess, der dauert zwischen sieben und zehn Jahren und beginnt mit der Schulbildung. Das Gute ist, dass über 50 Prozent der Flüchtlinge unter 25 sind. Das heißt, da können Sie noch mit der Schulbildung ansetzen, weil die Schulbildung ist Voraussetzung für die berufliche Ausbildung und die wiederum Voraussetzung für den Arbeitsmarkt. Wir teilen aber wie gesagt die Auffassung, das ist ein langer Weg, das geht nicht schnell. Deswegen auch das Netzwerk, um möglichst auch Best-Practice-Beispiele aus den Unternehmen miteinander auszutauschen. Dobovisek: Wer muss diese Lücken schließen, gerade in der Qualifikation, die Unternehmen oder die Politik? Schweitzer: Zunächst mal ist das eine Aufgabe der Schulbildung und des Staates, weil Bildung ist eine der Kernaufgaben des Staates, neben der inneren und der äußeren Sicherheit. Dann anschließend beginnt das Thema, wenn denn die Schulbildung da ist und der Schulabschluss vorhanden ist, der beruflichen Ausbildung bei den Unternehmen, und das ist dann eine gemeinsame Aufgabe. "Wir werden auch von einem 20-Jährigen verlangen müssen, dass er noch mal zur Schule geht" Dobovisek: Nun wird ein 25-jähriger Flüchtling sicherlich nicht noch einmal die Schulbank drücken, um seinen Realschulabschluss zu machen. Welche Lösung kann da die Industrie bieten? Schweitzer: Ich glaube, er wird es tun müssen, weil Sie müssen wissen: In Deutschland, in einem Hochlohnland, was wir sein wollen, mit sehr, sehr innovativen Produkten brauchen wir sehr qualifizierte Arbeitnehmer. Und wenn jemand nicht ausgebildet ist, dann besteht die Gefahr, dass er in einer konjunkturellen Krise oder wenn es nicht so gut läuft sofort arbeitslos wird. Deswegen ist es unglaublich wichtig, dass sie die berufliche Bildung brauchen und dass sie die Schulbildung brauchen, und wir werden auch verlangen müssen von einem, der 20 ist, dass er noch mal zur Schule geht. Das wird nicht anders gehen, wenn er beruflich in diesem Land eine Chance haben will und wenn er sich integrieren will und muss, was zwingend notwendig ist, um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu gewährleisten. Dobovisek: Schulbank drücken und gleichzeitig am Fließband stehen, eine Möglichkeit? Schweitzer: Das wird wahrscheinlich weniger gehen. Sie werden erst mal die Schulbildung machen müssen. Daran werden sie sehr, sehr intensiv arbeiten müssen. Dann anschließend die berufliche Bildung, um dann wie gesagt in den Arbeitsmarkt gehen zu können. Aber sowohl am Fließband zu stehen wie in die Schule zu gehen, ich glaube, das ist so nicht möglich. "Wir werden das Thema der Demographie in Deutschland nicht über Flüchtlinge lösen" Dobovisek: Zwei Drittel aller Flüchtlinge hätten keinerlei Qualifikation, haben Sie in früheren Interviews gesagt. Sozusagen ein Rohdiamant für die Industrie, oder doch dann am Ende eher ein Klotz am Bein, wenn wir über einen derart langen Weg reden, fünf bis zehn Jahre? Schweitzer: Wir werden über Flüchtlinge das Thema der Demographie in Deutschland, das heißt, dass wir mehr Menschen aus dem Arbeitsprozess verlieren, weil sie in Rente gehen, als junge Menschen nachkommen, dieses Problem werden wir dadurch nicht lösen, weil es nämlich keine gezielte Zuwanderung ist, sondern weil es halt Flüchtlinge sind, die aus Gründen der politischen Verfolgung oder aus Bürgerkriegsgründen nach Deutschland kommen. Dobovisek: Kein Rezept gegen den Fachkräftemangel, von dem viele träumen? Schweitzer: Nein. Aber wir werden uns der Aufgabe stellen müssen der Integration von Flüchtlingen und wie gesagt in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, und das wollen wir als deutsche Wirtschaft auch tun. Da wollen wir uns sehr stark engagieren, weil das auch eine Frage des Zusammenhalts unserer Gesellschaft ist. Dobovisek: Sie leiten in Berlin das Recycling-Unternehmen ALBA. Was tun Sie für die Integration von Flüchtlingen im Unternehmen? Schweitzer: Wir haben ja als ALBA insgesamt zirka 8000 Mitarbeiter und wir sind hier über unsere Personalabteilung sehr intensiv im Austausch mit der Agentur für Arbeit, sowohl im Bereitstellen von Einstiegspraktika für Flüchtlinge, die die Voraussetzung haben, als auch der Bereitstellung von Mentorenprogrammen. Das heißt, dass Auszubildende, die bei uns im Unternehmen bereits sind, Mentor sind für einen jungen Flüchtling, der beispielsweise Einstiegspraktika macht oder eine Einstiegsqualifizierung. Dobovisek: Welche finanziellen Hilfen erwarten Sie da von der Politik? Schweitzer: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die immer wieder nach neuen Subventionen rufen, sondern was wir brauchen, um als Wirtschaft das Thema berufliche Bildung als auch Integration in den Arbeitsmarkt stellen zu können, ist, dass wir die Voraussetzung dafür bekommen, dass wir gute Investitionsmöglichkeiten in Deutschland haben und dass wir nicht bürokratisch drangsaliert werden, dass wir steuerliche Voraussetzungen haben, die es uns ermöglichen, auch Geld zu verdienen, was wir anschließend investieren können und uns die Möglichkeit gibt, uns auch dem Thema der Integration stellen zu können. Dobovisek: Stichwort Investitionsmöglichkeiten und auch Investitionsbereitschaft. Schauen wir uns die wirtschaftliche Lage, das wirtschaftliche Umfeld an. In China brechen die Exporte ein, die Märkte sind extrem nervös, hängen scheinbar am Tropf der Notenbanken. Der Ölpreis liegt am Boden. Machen Sie sich Sorgen um die Weltwirtschaft? "Wir sind bei jeder Krise, die es in dieser Welt gibt, mit dabei" Schweitzer: Es gab schon beruhigtere Zeiten bei den Rahmenbedingungen. Die Situation in Deutschland ist momentan so, dass wir als DIHK von einem Wachstum dieses Jahr von 1,3 Prozent ausgehen. Wir müssen aber auch wissen, wir sind ja eine der Exportnationen dieser Welt. Das heißt, wir verkaufen unsere Produkte in alle Welt. Und wir sind bei jeder Krise, die es in dieser Welt gibt, auch mit dabei, indem wir dorthin weniger exportieren. China ist zurzeit dabei, sein Wirtschaftsmodell umzustellen, wobei wir wissen müssen, wir reden in China immer noch über 6,5 Prozent Wachstum pro Jahr. Das ist im Übrigen so viel, nur das Wachstum alleine, wie die Schweiz insgesamt an Bruttoinlandsprodukt pro Jahr produziert. Natürlich sind auch die Krisen im Nahen Osten eine sehr, sehr starke Herausforderung, die Russland-Krise nicht zu vergessen auch mit den Sanktionen. Also es gab schon einfachere Zeiten. Dobovisek: Stehen wir vor einer neuen Wirtschafts- und Finanzkrise weltweit? Schweitzer: Ich glaube nein. Ich glaube nicht, dass wir davor stehen. Aber wir müssen wie gesagt aufpassen, dass wir auch in der Welt wieder ein stärkeres Wachstum generieren. Man muss wissen: Wenn wir in der Welt unter drei Prozent wachsen, dann haben wir eine Rezession. Wir liegen zurzeit noch über drei Prozent. Das kommt aber nicht von alleine, dafür müssen auch die Voraussetzungen geschaffen werden. Dobovisek: Eric Schweitzer ist Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Ich danke Ihnen für das Interview. Schweitzer: Vielen Dank. //Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht
Eric Schweitzer im Gespräch mit Mario Dobovisek
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, hat für mehr Geduld bei der Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt geworben. Der Prozess koste viel Kraft und werde zwischen sieben und zehn Jahren dauern, sagte Schweitzer im Deutschlandfunk. Er stellt heute in Berlin das Netzwerk "Unternehmen integrieren Flüchtlinge" vor.
"2016-03-09T08:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:17:44.372000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-unternehmen-integration-erfordert-viel-100.html
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Posten, Panzer und ein zögerlicher Bundeskanzler
Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister (Michael Kappeler/dpa)
Capellan, Frank;Pindur, Marcus;Adler, Sabine
Die Woche begann mit einem neuen Verteidigungsminister, den wohl niemand auf dem Schirm hatte, und endete ohne eine Entscheidung, deutsche Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern. Warum zögert Olaf Scholz schon wieder? Und wird sich Boris Pistorius alles vom Kanzler sagen lassen?
"2023-01-20T17:20:00+01:00"
"2023-01-20T17:21:18.089000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-politikpodcast-folge-299-posten-panzer-und-ein-zoegerlicher-kanzler-dlf-6dd5c85d-100.html
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Politische Ratlosigkeit nach Hooligan-Demo
Hooligan-Demo gegen Salafisten am 26.10.2014 in Köln (Caroline Seidel / dpa) Die politischen Reaktionen auf den Gewaltausbruch nach dem Ende der offiziellen Demonstration "Hooligans gegen Salafisten" in Köln am Sonntag zeugen nach wie vor von politischer Ratlosigkeit. Es bestehe Anlass zur Sorge, dass sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Extremisten auf unseren Straßen weiter aufschaukelten, sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, heute in Berlin. Der Innenminister Thomas de Maizière sagte gestern Abend in den ARD-Tagesthemen: "Hier war eine gezielte Aktion, es wurde bundesweit mobilisiert in diesen Netzwerken, die haben ja selber schon 1.500 angemeldet, die Polizei hat dann 4.000 geschätzt, das war also eine gezielte Provokation und deshalb braucht sie eine klare Antwort." Wendt: "Unter polizeilichen Aspekten ist das ein gelungener Einsatz" Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt sagte im ZDF-Morgenmagazin, dass die Kölner Demonstration aus seiner Sicht gut verlaufen sei - trotz der verletzten Polizisten und der Gewalt: "Unter polizeilichen Aspekten ist das ein gelungener Einsatz. Die Polizei war nicht überrascht, weder von der Zahl der anwesenden Leute noch von der Gewaltbereitschaft, das wusste man vorher und hat sich darauf eingestellt. Und die wesentlichen polizeilichen Ziele, das darf man auch mal sagen, nämlich der Schutz der Gegendemonstration und der Schutz der Kölner Innenstadt, die sind erreicht worden." Änderungen des gesetzlichen Rahmens sieht Wendt nicht als notwendig an: "Da sind ja jetzt viele Wünsche im Raum, die einen wollen ein Demonstrationsverbot, die nächsten wollen, dass ganz ganz schnell angeklagt wird, und die nächsten wollen wieder viele Festnahmen, ich sag das mal in der Fernsehsprache: Wir sind hier nicht bei 'Wünsch dir was', sondern bei 'Hätten Sie's gewusst'. Das heißt: Ein Demonstrationsverbot verlangt harte Fakten und die haben bis zum Sonntag nicht vorgelegen." Grünen-Politikerin Mihalic: "Eigentlich kein neues Phänomen" Die Obfrau der Grünen im Innenausschuss Irene Mihalic forderte im Deutschlandfunk, die Geschehnisse vom Sonntag genau zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen. "Dass sich Hooligans und Rechtsextremisten gezielt zusammenschließen, das ist ja eigentlich kein neues Phänomen, sondern das ist deutschlandweit bekannt, das tritt an vielen Stellen auf, und dass es enge Verbindungen zwischen Hooligans und Neonazis gibt, das wissen wir jetzt auch schon seit Jahren." Im Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz für das Jahr 2013 wurde noch von "einzelnen Personenzusammenschlüssen" berichtet, die als "rechtsextremistisch beeinflusst" einzuschätzen wären. Strukturelle und flächendeckende Zusammenarbeit auf ideologischer Ebene sei jedoch nicht erkennbar, so die Verfassungsschützer. Innenminister Thomas de Maizière sagte, die enge Kooperation habe sich erst in diesem Jahr ergeben - und für die Ereignisse in Köln gelte: "Neu war die Dimension und die Verbindung mit den Rechtsextremen in diesem Ausmaß und das hat die neue Qualität ausgemacht." Die Grünen-Politikerin Irene Mihalic forderte, bei angemeldeten Demonstrationen künftig genauer hinzuschauen: "Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, wie auch schon vorgeschlagen wurde, zu prüfen, ob man solche Versammlungen, wo erkennbar nur die Gewalt im Vordergrund steht, künftig leichter wird verbieten können. Es wird natürlich schwierig, auch die Gerichte davon überzeugen zu können, aber ich halte das in diesem Fall für einen notwendigen Schritt." Weitere angemeldete Demos von "Hooligans gegen Salafisten" Genauer hinzusehen, das hat der Berliner Innensenator Frank Henkel, CDU, nun angekündigt: Eine für den 15. November in Berlin angemeldete Demonstration der Gruppierung "Hooligans gegen Salafisten" werde intensiv geprüft. Für eine von einzelnen Medien berichtete Demonstration der Gruppierung am 9. November in Berlin liege derzeit jedoch noch keine Anmeldung vor. Ebenfalls für den 15. November ist laut Polizei eine Demonstration der Gruppierung in Hamburg angemeldet.
Von Falk Steiner
Nach der Eskalation bei einer Demonstration von Rechten und Hooligans in Köln am vergangenen Sonntag sind die politischen Reaktionen geprägt von Ratlosigkeit: Innenminister Thomas de Maizière forderte "eine kleine Antwort" und Irene Mihalic von den Grünen verlangte, dass die Geschehnisse genau analysiert werden müssten.
"2014-10-28T12:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:10:41.379000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/krawalle-in-koeln-politische-ratlosigkeit-nach-hooligan-demo-100.html
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Von Initiativen, Bedarf und Praxiserfahrungen
Ab Januar 2019 gilt das neue Qualifizierungschancengesetz der Bundesregierung (Imago) Um die Qualifizierungschancen auch in der Breite zu stärken, hat die Bundesregierung ein neues Gesetz verabschiedet, dass ab 2019 mehr Beratungsmöglichkeiten und mehr Geld in den Fortbildungsbereich bringen soll. Campus & Karriere fragt: Welche Anstrengungen sind zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung im digitalen Wandel nötig? Ist das neue Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung? Und, wie kann es gelingen, auch Geringqualifizierten durch Fortbildung Jobperspektiven zu schaffen? Gesprächspartner sind u.a.: Dr. Simon Janssen, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (Telefon) Rolf Klatta, Regionalleiter des Bildungswerkes Hessische Wirtschaft in Darmstadt Anke Breitkopf, Bildungsberaterin und Fachbereichsleiterin an der Volkshochschule in Münster Eine Sendung ohne Hörerbeteiligung Weitere Themen: Volker FinthammerArbeitsagentur soll künftig mehr Weiterbildung fördernAb Januar 2019 gilt das neue Qualifizierungschancengesetz der Bundesregierung Susanne Lettenbauer Wie läuft es an?In Bayern haben Landesregierung und Wirtschaftsverbände im Sommer einen "Pakt für Weiterbildung 4.0" geschlossen, um die Bereitschaft für Weiterbildung zu stärken Marco Poltronieri Weiterbildung – was planen Sie für sich, wie stellen Sie es an?Straßenumfrage in Münster Ludger Fittkau Geringqualifizierte beim digitalen Wandel mitnehmen!Besuch in einem Weiterbildungskurs des Bildungswerkes der Hessischen Wirtschaft
Moderation: Kate Maleike
Vorreiter der Digitalisierung investieren stärker in die Fortbildung ihrer Mitarbeiter als andere Unternehmen, so eine aktuelle Studie des Institutes für Arbeitsmarkt -und Berufsforschung. Aus gutem Grund: Die Qualifizierung von Beschäftigten ist der Schlüssel für die digitale Fitness ganzer Betriebe.
"2018-12-15T14:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:25:41.488000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digitale-fortbildung-von-initiativen-bedarf-und-100.html
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"Es geht um politische Interessen"
Die Schweitzer Musiker Tobias Jundt alias Bonaparte (r.) und Julian Pollina alias Faber (DPA) Es ist ein Thema, das ganz schnell auch noch Deutschland kommen könnte - das erst mal aber in der Schweiz die Stimmung aufheizt: In knapp zwei Wochen, am 4. März, wird abgestimmt. Es wird kein neuer Nationalrat gewählt, es geht um die Frage, ob es weiterhin einen öffentlich finanzierten Rundfunk geben soll. "No Billag" heißt die Initiative gegen die Rundfunkgebühren. Deren Verantwortliche wollen ins Gesetz schreiben, dass der Bund keine Radio- und Fernsehstationen subventioniert. Und man wirbt damit, dass jeder Haushalt über 450 Franken pro Jahr zusätzlich für den Konsum zur Verfügung hätte. Aber es gibt auch die Gegenposition. Musiker, Schauspieler, Theatermacher, Produzenten - viele Kulturschaffende haben ihre Statements auf einer Internetseite "No Billag - No Culture" zusammengefasst. "Die Initiative bedroht die öffentlich-rechtliche Kulturplattform." Oder: "Hier geht es um die geistige und kulturelle Substanz unseres Landes." Auch der Schweizer Musiker Tobias Jundt, der mit seiner Band unter dem Namen Bonaparte auftritt, und der Singer-Songwriter Julian Pollina alias Faber sagen Nein zu "No Billag". Bonaparte: "Wenn es um Profit geht, färbt es auch den Inhalt" Sören Brinkmann: Warum engagieren Sie sich als Künstler bei so sehr bei einem medienpolitischen Thema? Tobias Jundt: Grundsätzlich gibt es ja mal die Frage: Soll ein Künstler eine Meinung haben? Oder soll er einfach Musik machen und unterhalten? Und ich glaube, dass meine Haltung ja in meiner Musik auch sehr gut durchkommt, weil ich in meinen Texten auch sehr viele Dinge anspreche. Aber manchmal gibt es halt Situationen, wo man halt sagt: Okay, hier will ich jetzt ein bisschen ins Detail gehen. Und bei dieser Abstimmung - natürlich betrifft es die Schweiz -, aber am Ende geht es ja darum, über die Sachlage nachzudenken und was da genau abgeht. Und das kann man ja am Ende auf verschiedene Länder oder auch andere Sparten oder andere Prozesse dann überleiten. Und bei der Sache war es mir halt mal wichtig, dass viele Leute, auch in der Schweiz selber, haben gar nicht genau verstanden, um was es geht. Und dann finde ich es halt schon mal gut. Ich habe kein Problem wenn eine Abstimmung - das ist ja das Schöne an einer direkten Demokratie -, wenn die so ausfällt oder so ausfällt. Na gut, damit lebt man. Aber ich finde es schwierig, wenn man den Leuten etwas verkauft, aber in Wahrheit geht es eigentlich um etwas ganz anderes. Und deshalb habe ich da auch ein Statement geschrieben. Brinkmann: Ja, Sie schreiben: "Ich will als Vater und Mensch eine Zukunft, in der möglichst frei und objektiv recherchiert und informiert, unterhalten und diskutiert werden kann". Ist das das, was die SRG leistet? Jundt: Ich schreibe auch weiter oben, dass man sehr wohl über den Inhalt von öffentlich-rechtlichen Sendern diskutieren darf und soll, so wie alles eigentlich immer im Wandel der Zeit auch wieder neu überdacht und angepasst werden sollte - das finde ich richtig. Aber die Abschaffung von Öffentlich-Rechtlichen finde ich absolut falsch. Weil ich finde es total gut, dass es private Sender gibt - und ich finde es aber sehr wichtig, dass es Öffentlich-Rechtliche gibt. Und ich finde schon, dass - da kann man jetzt natürlich die Nadel im Heuhaufen suchen -, aber ich finde schon, dass die SRG sehr wohl das tut - oder versucht. Ich meine, es werden eh nie alle Interessen bedient. "Die SRG hat einen sehr hohen Anteil an lokaler, nationaler Musik" Brinkmann: Aber das heißt, Sie stört diese grundsätzliche Infragestellung des öffentlichen Rundfunks? Jundt: Mein Hauptproblem ist, man versucht den Leuten, indem man ihnen sagt, ihr könnt ein bisschen Geld sparen. Nämlich einen Franken pro Tag, den jeder Schweizer ja bezahlt als Beitrag, damit es öffentlich-rechtliche Sender gibt, dass es zum Beispiel den rätoromanischen Sender gibt, dass es Nachrichten gibt, Sportberichterstattung, was auch immer, Filmförderung – dieses Geld geht ja in ganz, ganz viele Töpfe. Man gaukelt den Leuten vor, dass sie ein bisschen Geld sparen können und dass man das dann irgendwie anders löst, über Steuern oder so. Gleichzeitig sagt aber der Abstimmungstext, dass man das gar nicht darf. Der Staat darf danach gar keinen öffentlich-rechtlichen Sender mehr bedienen, sprich: Es darf am Ende eigentlich nur Privatwirtschaft sein, sprich: Leute mit viel Geld. Und dann geht es um politische Interessen. Ich finde das halt sehr, sehr schwierig, dass es eigentlich hinten durch ganz klar um ein politisches Werkzeug geht, dass aber den Leuten gesagt wird: Hey, Du kannst hier einen Franken pro Tag sparen. Und damit kriegst du natürlich die Leute schnell. Aber ich finde nicht, dass es ehrlich argumentiert wird. Brinkmann: Sie meinen, dass es natürlich Interesse gibt, eben auch alles in die private Welt zu verlagern sozusagen? Jundt: Klar. Und wenn ein Sender... wenn es um Profit geht, dann färbt das einfach auch den Inhalt, das ist überall so. Die Rolle, die Geld spielt, ist immer extrem wichtig. Und die färbt halt einfach den Inhalt oder auch die Motivation. Und man weiß ja, welche Politiker welche Medienhäuser aufgekauft haben, welche Zeitungen, welche Regionalzeitungen, welche Gratis-Blätter, welche Radiostationen. Und es werden Leute - böse gesagt - sich Sender kaufen können. Und man sieht es ja in Italien oder Amerika relativ klar, was dann passiert. Brinkmann: Sie haben eben angesprochen: die Kunst, die Kultur. Was leistet denn der öffentliche Rundfunk für diesen Bereich, für Kunst, Kultur? Jundt: Der Jugendsender zum Beispiel, "Virus", die machen sehr, sehr viel - ob das jetzt um Hip-Hop-Battles geht oder so, ob das drum geht, jüngeren Bands eine Plattform zu geben, definitiv. Ich finde, auch die anderen Sender machen relativ viel. Die SRG hat einen sehr, sehr hohen Anteil an lokaler, nationaler Musik, was zum Beispiel wichtig ist, weil das viele Privatradios gar nicht machen können. Aber ich finde, das ist etwas sehr Wichtiges, ehrlich gesagt. Weil ich glaube auch, dass das extrem die Kultur färbt, wie viele Künstler von ihrer Musik leben können, böse gesagt. Wir haben noch länger mit Tobias Jundt gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Faber: "Es ist viel mehr Leuten bewusst, dass es wichtig ist, dass man abstimmen geht" Brinkmann: Auch so kann Protest klingen. Bei "Clap 4 Culture" - Klatsch für die Kultur - haben mehrere Künstler Videoclips veröffentlicht. Einer von ihnen: Faber. Was sagen Sie in dem Video? Julian Pollina: Wenn ich den Text richtig im Kopf habe, ist der gesungene Part: "Deine Sendung, meine Sendung, unsere Schweiz. Wir teilen das." Brinkmann: Das heißt, die Botschaft ist, unsere Sprachen, unsere Meinungen - es ist eine Vielfalt in der Schweiz. Pollina: Genau. Es wird auch sehr konkret gegen Schluss: "Deshalb stimme 'Nein' am 4. März." Brinkmann: Zeigt die Kampagne eben diese Vielfalt? Wollen Sie bewahren, und der öffentliche Rundfunk trägt dazu bei – oder was steckt dahinter? Pollina: Natürlich ist es nicht nur der öffentliche Rundfunk, der dazu beiträgt, aber es ist sicher ein wichtiger Punkt, dass jede Region, jede Sprachregion die Möglichkeit hat, da Sendungen, da Kultur zu produzieren. Und dass es da auch in entlegenen Gegenden ein Angebot gibt in der jeweiligen Sprache. "Eine sehr, sehr wichtige Abstimmung" Brinkmann: Was war dann Ihr Grund - oder Ihre Motivation -, an diesem "Clap 4 Culture" teilzunehmen? Pollina: Ich denke, es ist eine sehr, sehr wichtige Abstimmung, es ist eine sehr wichtige Initiative. Und ich hätte es zwar nicht gedacht, aber nach ersten Einschätzungen sah es schon sehr krass danach aus, dass das angenommen werden würde. Und da war schon, finde ich als Künstler … wenn man auch eine kleine Bühne hat, dass man die auf jeden Fall nutzen sollte für Sachen, für die man einstehen will. Und in dem Fall ist es halt, gegen etwas zu sein. Schöner ist es natürlich, für etwas zu sein. Aber in diesem Fall halt so rum. Brinkmann: Und jetzt, in diesem Fall, mobilisieren Sie eben auf musikalische Art und Weise, mit Klatschen auch in Videos. Was konkret befürchten Sie denn, wenn diese Initiative durchkäme? Pollina: Die Auswirkungen sind halt einfach, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der Rundfunk, dass das eingehen wird - was die Initianten zwar bestreiten zum Teil, aber das ist ein bisschen lächerlich. Sie sagen halt: "Wir wollen einfach nicht dafür zahlen - jeder soll nur das bezahlen, was er will, was er auch sehen und konsumieren will. Wir wollen das nicht abschaffen, das Öffentlich-Rechtliche, wir wollen einfach die Gebühr abschaffen." Was natürlich ein bisschen ein Irrwitz ist. Brinkmann: Und die regionale Identität, wenn wir bei der noch mal bleiben: In Graubünden zum Beispiel mit der rätoromanischen Sprache - da ist es natürlich auch eine sehr kleine Sprachgruppe -, aber es gibt ja auch, um mal beim Rätoromanischen zu bleiben, es gibt ja zum Beispiel auch Zeitungen, die auch tatsächlich ohne Subventionen erscheinen. Das heißt, es geht ja auch, ohne dass es eine Förderung gibt. Pollina: Natürlich gibt es Zeitungen, die ohne Subventionen auskommen. Aber ich glaube, ein Großteil des Angebots würde natürlich schon eingehen - sagen wir mal, in Regionen, wo "es sich nicht lohnt". Vielleicht bin ich da schlecht informiert? Was kennen Sie für rätoromanische Zeitungen - oder Fernsehen - was ohne Unterstützung … Brinkmann: … beim Fernsehen ist das sicherlich was Anderes, ja. Pollina: Also, ich kann mir das, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass man schon für die italienische Schweiz ein Fernsehen produzieren könnte, was qualitativ gut ist, hochwertig und ausgeglichen, ohne Subventionen. "In der Schweiz ist man politikmüde geworden" Brinkmann: Ich finde interessant, dass ja gerade auch in der Kulturszene der Widerstand gegen "No Billag" so groß ist. Woran liegt das aus Ihrer Sicht? Pollina: Ich glaube, das ist schon in sehr verschiedenen Teilen der Gesellschaft so. In der Kultur kann man es einfach ein bisschen mehr sehen, weil da verschiedene Videos von Künstlern gedreht wurden. Keine Ahnung, unter den Bäckern oder den Bankern ist das, glaube ich, nicht anders, aber die machen vielleicht weniger ein Video von sich. Brinkmann: Sind Sie zufrieden mit der Resonanz? Pollina: Ja, ich finde schon. Ich finde es schön. Tatsächlich ist man in der Schweiz politikmüde eigentlich - wie grundsätzlich ein bisschen in Europa. Und seit … es war, ich glaube, 2015, da gab es eine sehr krasse Initiative, die "Masseneinwanderungs-Initiative", die dann angenommen wurde. Und ich glaube, da war so der Weckruf für alle, weil - also ich mit - habe einfach geglaubt: Das wird eh nie angenommen, so dumm sind wir Schweizer nicht. Und dann hat man mal gemerkt, was passiert, wenn es eben doch angenommen wird. Und ich glaube, seit da ist auf jeden Fall viel passiert, und es mobilisieren sich doch viel mehr Leute. Und es ist viel mehr Leuten jetzt doch bewusst, dass es wichtig ist, dass man abstimmen geht. Wir haben noch länger mit Julian Pollina gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Schweizer Kulturmacher trommeln im Netz gegen die No-Billag-Initiative zur Abschaffung der Rundfunkgebühren für die SRG. "Man gaukelt den Leuten vor, dass sie ein bisschen Geld sparen können", kritisierte Musiker Bonaparte im DLF. Sein Kollege Faber warnt: „Ein Großteil des Angebots würde eingehen."
"2018-02-20T15:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:40:09.489000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kuenstlerprotest-gegen-no-billag-votum-es-geht-um-100.html
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Hinterm Horizont geht's weiter
Auferweckung des Propheten Ezechiel. Relief an der Knesset-Menora in Jerusalem, Israel. (imago / imagebroker) Ein Weiterleben nach dem Tod oder die Auferstehung der Toten - das sind Themen, von denen Juden oft vage und auch widersprüchlich sprechen. Wer die christliche Beschäftigung mit dem Jenseits kennt, ist erstaunt, wie wenig Juden dazu zu sagen haben. Eines aber ist sicher: Dem wichtigsten jüdischen Gebet zufolge, dem Achtzehnbittengebet, dem Schmone-Esre, macht Gott Tote wieder lebendig. Juden sollen den Text drei Mal täglich sprechen. "Gelobt seist du Ewiger, der die Toten wieder belebt." Pharisäer contra Sadduzäer In der hebräischen Bibel sind nur wenige Andeutungen zum Thema zu finden. Doch in der späteren jüdischen Traditionsliteratur ist die Vorstellung weit verbreitet. Wahrscheinlich hat eine jüdische Laienbewegung zur Zeit Jesu die Idee der Auferstehung entwickelt: die Pharisäer. Ihre Gegner, die Sadduzäer, lehnten die Auferstehung wohl ab, nach allem, was wir wissen. Doch die Sadduzäer sind Geschichte, die Pharisäer haben das rabbinische Judentum bis heute geprägt. Maimonides, der wichtigste jüdische Religionsphilosoph, der im Mittelalter als Arzt in Kairo lebte, zählt die Auferstehung zu seinen 13 jüdischen Glaubenssätzen. "Ich glaube mit voller Überzeugung, dass die Toten wieder belebt werden zur Zeit, da es der Wille des Schöpfers, gelobt sei sein Name, sein wird, Seine Allgegenwart sei erhoben für immer und in alle Ewigkeit." Viele Antworten gibt es auf die W-Fragen: Wann, wo und wie soll die Auferstehung der Toten stattfinden? Die Vorstellung von einem Weiterleben direkt nach dem Tod inklusive Gericht gibt es genauso, wie diejenige, dass alle Toten später auferstehen und dann ihrem Gericht entgegensehen. Am Ende der Tage kommt der Gesalbte, der Maschiach oder Messias, nach Jerusalem. Er richtet den Tempel wieder auf und befreit das Land von der Fremdherrschaft, eine Vorstellung, der man deutlich anmerkt, dass sie lange vor Gründung des modernen Staates Israel entstanden ist. Die Toten werden wieder lebendig, wenn der Messias kommt. Pragmatische Anhänger dieser Idee lassen sich übrigens in Jerusalem beerdigen – damit es der Körper nicht so weit hat. Hölle auf Zeit Außerdem gibt es im Judentum die Vorstellung von einer Art Hölle auf Zeit - ein Ort, wo Sünder nach dem Tod so lange bleiben, bis sie gereinigt sind. Und es gibt die Vorstellung eines Garten Eden, in den die Gerechten kommen. Gut ist, wer gute Taten vollbringt, schlecht, wer frevelt. Der Garten Eden für die Gerechten ist keineswegs auf Juden beschränkt. Immer wieder fällt auf, wie wenig Raum wichtige jüdische Denker dem Thema geben. Das Leben vor dem Tod scheint ihnen wichtiger als das Leben danach. Andere können sich eher eine unsterbliche Seele denken als eine Wiedergeburt des Körpers. Das sehen auch viele Reformjuden heute so. Orthodoxe Rabbiner äußern sich zurzeit wenig zum Thema. Übrigens, im traditionellen Judentum herrscht die Vorstellung: Wir erstehen täglich auf. Da der Schlaf als kleiner Tod gilt, bei dem das Leben aus dem Körper weicht, bedanken sich Juden morgens bei Gott, dass er sie wieder zum Leben erweckt hat.
Von Gerald Beyrodt
Die Vorstellung von der Auferstehung der Toten ist aus dem Judentum ins Christentum gelangt. Kein Wunder: Jesus war Jude und stand der Bewegung der Pharisäer nahe. Auch Juden sind davon überzeugt, dass es nach dem Tod weitergeht. Wie es danach aber weitergeht, darüber finden sich in den hebräischen Schriften nur wenige Hinweise.
"2017-04-18T09:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:20:06.186000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auferstehung-im-judentum-hinterm-horizont-geht-s-weiter-100.html
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Steinmeier wirbt für Reformen
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (l) traf bei seinem ersten Kuba-Besuch Präsident Raúl Castro. (picture alliance / dpa / Thomas Imo) Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat in Kuba Präsident Raúl Castro getroffen und in der fast zweistündigen Unterredung auch das Thema Menschenrechte angesprochen. "Man muss der kubanischen Regierung eigentlich Mut wünschen, um diesen ermutigenden Öffnungsprozess tatsächlich auch fortzusetzen", erklärte Steinmeier nach dem Gespräch. Zusammenarbeit ausbauen Steinmeier ist der erste bundesdeutsche Außenminister, der Kuba besucht. Der SPD-Politiker warb auch für eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder. "Deutschland ist hier bekannt für seine wirtschaftliche Stärke und Qualität seiner Produkte", sagte er. "Raúl Castro wünscht sich deutlich mehr Interesse insbesondere seitens der deutschen Wirtschaft." Bisher sind nur 30 Unternehmen und Banken auf Kuba tätig. Bei den deutschen Exporten lag Kuba 2014 auf Platz 101, bei den Importen auf Platz 125. Sie beklagen Investitionshemmnisse wie bürokratische Hürden oder die staatliche Zuteilung von Arbeitskräften. Gleichzeitig habe der SPD-Politiker deutlich gemacht, dass Deutschland die Öffnung des sozialistischen Karibikstaates unterstützen wolle, hieß es nach dem Treffen aus Teilnehmerkreisen. Der 84-jährige Castro habe die Bedeutung Deutschlands für Kuba als eines der wichtigsten europäischen Länder hervorgehoben. Bekenntnis zur Wahrung der Menschenrechte Bei seinem Treffen mit dem kubanischen Außenminister Bruno Rodríguez hatte Steinmeier zwei Abkommen über die politische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder unterzeichnet. Darin ist auch ein Bekenntnis zur Wahrung der Menschenrechte enthalten. Mit seinem Amtskollegen Bruno Rodriguez führte Steinmeier Gespräche. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Organisationen wie Amnesty International werfen der Regierung in Havanna eine massive Einschränkung der Meinungsfreiheit vor. Steinmeier hatte bereits zu Beginn seines Kuba-Besuchs deutlich gemacht: "Wenn wir hier sind, kann die Frage der Menschenrechte nicht ausgeschlossen bleiben." (pg/bn/fwa)
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Frank-Walter Steinmeier ist der erste bundesdeutsche Außenminister, der Kuba besucht. Bei seinem Treffen mit Staatschef Raúl Castro ermutigte er Havanna zu weiteren Reformen. Er habe den Eindruck, in Kuba werde Neues gewagt, sagte der SPD-Politiker.
"2015-07-17T06:04:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:19.280000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kuba-steinmeier-wirbt-fuer-reformen-100.html
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Die angeschlagene Megacity
Tagelang versuchten Rettungskräfte, Verschüttete zu finden (MAXPPP) Entsetzt und panisch reagierten die Hauptstädter, als am 19. September um 13.14 die Erde unter ihren Füßen zu beben begann, Bücherregale umkippten, sich Gipsplatten von den Wänden und Decken lösten. Fassungslos rannten die Menschen hinaus auf die Straßen, weil es doch erst zwei Stunden zuvor eine Alarm-Übung zur Erinnerung an die Erdbebenkatastrophe von 1985 gegeben hatte, und nur 12 Tage zuvor ein schweres Beben im Süden des Landes, dessen Erschütterungen die Hauptstadt aus dem Schlaf gerissen hatte. Da gab es kaum Zerstörungen in Mexiko-Stadt. Doch am 19. September hüllten sich viele Straßen der Millionenmetropole in den Staub der eingestürzten Gebäude. Etwa 40 hatten den schweren Erschütterungen nicht Stand gehalten. Besonders in den schicken Innenstadtbezirken sind die Zerstörungen groß. Etwa 40 Minuten nach dem Beben filmt ein junger Mann die Menschenmassen auf den Straßen und die Gebäudeschäden, als es direkt neben ihm plötzlich zu Krachen beginnt. Ein mehrstöckiges Wohnhaus fällt in sich zusammen. Tagelang versuchten Rettungskräfte, Verschüttete zu finden. Bewohner waren nach dem Beben schon wieder in das Gebäude zurückgegangen, weil sie es für sicher hielten. Darunter auch Erick Gaona. Zwei Tage lang stand seine Schwester mit dem Megafon vor dem Gebäude, rief ihm zu, er solle durchhalten: "Ich werde erst gehen, wenn du draußen bist und ich dich mitnehmen kann. Ich liebe dich mein Bruder", ruft die junge Frau. Aber Erick Gaona hält nicht durch. Das Megafon verstummt. Suche nach Verschütteten 25 Meter unter dickem Beton Ein Feuerwehrmann sucht nach Überlebenden. Aber zehntausende Freiwilligte waren nach dem Beben im Einsatz. (pa/dpa/El Universal via ZUMA Wire/Blanquet) In der Nacht kommen deutsche Helfer der Organisation ISAR zu dem Trümmerberg, der mit Flutlicht angestrahlt wird. Mit einem speziellen Bio-Radar suchen sie Lebenszeichen. Das Gerät kann menschliche Herztöne bis zu 25 Meter unter dickem Beton ausfindig machen. Der Gründer und Geschäftsführer von ISAR, Michael Lesmeister, steigt von den Trümmern herab und zündet sich eine Zigarette an. Das Radargerät hat kein Leben mehr entdeckt. Jetzt ist die Frage: Trotzdem weitersuchen oder Schutt abtragen? "Das ist immer eine schwere Entscheidung. Wir haben auch keine Anzeichen auf Leben. Das ist dann die Entscheidung des Einsatzleiters hier vor Ort." Erst mehr als 50 Stunden nach dem Beben hatten mexikanische Behörden die Hilfe der Deutschen bei der Rettung angefordert. An vielen Einsturzstellen nahmen Zivilisten die Rettung in den ersten Stunden nach dem Beben selbst in die Hand: Zu traumatisch ist die Erinnerung an das Versagen der Behörden nach der Erdbebenkatastrophe von 1985, bei der nach geschönten offiziellen Angaben 10.000, nach Angaben von Hilfsorganisationen bis zu 40.000 Menschen ums Leben kamen – auch weil die Rettung erst spät begann. Und dieses Mal? "Die Gesellschaft überholt die Behörden" – titelte das wichtigste Wochenmagazin Proceso. Eine beispiellose Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft hat das Land erfasst. Auch, weil die Bürger ihren Behörden nicht vertrauen und ihnen wenig zutrauen. Nach diesem Beben waren in Mexiko-Stadt Zivilschutz, Spezialkräfte und die Armee gemeinsam im Einsatz, unterstützt von zehntausenden Freiwilligen. Vor allem junge Mexikaner standen Schlange vor den Trümmern um zu helfen: Helm, Mundschutz, Spaten und Handschuhe musste jeder selber mitbringen. Der Student Yosimar Morales teilt einige Brigaden ein. Seit 24 Stunden hat er keine Pause gemacht. "Ich bleibe bis zum Schluss, solange ich gebraucht werde. Alle wollen das. Sie ruhen nur mal eine halbe Stunde aus, trinken Wasser und wechseln den Mundschutz. Alle sind hoch motiviert. Alles, was sie wollen, ist: helfen. Mich treibt die Hoffnung, noch jemanden in den Trümmern zu finden. Es wäre schrecklich die Hoffnung aufzugeben. So hat meine Mutter mich erzogen." Es sind die Kinder der Mexikaner, die das verheerende Beben von 1985 miterlebten, die sich heute besonders engagieren. Nach dem Erdbeben kam ans Licht, dass viele Gebäude nicht den Sicherheitsvorschriften entsprechen. (AP) So wie Ana Gabriela: Die junge Architektin überprüft, ob beschädigte Gebäude noch bewohnbar sind oder abgerissen werden müssen. Tausende Bauten, darunter hunderte Schulen, haben tiefe Risse in den Wänden, Teile sind herabgestürzt. Einige Tage nach dem Schock des Bebens wird die Frage lauter, wie es überhaupt zu so großen Schäden und totaler Zerstörung kommen konnte. "Jetzt kommt ans Licht, dass viele Gebäude nicht den Sicherheitsvorschriften entsprachen. Zum Beispiel ist eine Grundschule eingestürzt. Die Baustruktur war schlecht, sie hatte keine tragenden Säulen, und die Betonfundamente waren nicht tief genug. In der Theorie gibt es Sachverständige, die prüfen, ob die Bauvorschriften eingehalten werden. Aber viele versuchen, Material zu sparen oder stecken Beamten Geld zu, damit sie Konstruktionen genehmigen. Diese Sachverständigen müssen jetzt zur Rechenschaft gezogen werden." Mindestens 19 Kinder kamen in der Grundschule ums Leben, auf deren dünnen Wänden die Besitzerin ihre private Wohnung aufs Dach hatte bauen lassen – mit Marmorplatten und Whirlpool. Genehmigungen für den Betrieb der Privatschule sollen gefälscht gewesen sein. Am 19. September 2017 rächten sich Betrug, Pfusch und Korruption brutal und ohne Ankündigung in nur wenigen Sekunden – ausgerechnet am Jahrestag des Bebens von 1985. Der Schock sitzt tief, denn die Millionenmetropole fühlte sich eigentlich sicher und gewappnet. Unzählige mittelschwere Beben hatten scheinbar bewiesen, dass heute die Bausubstanz den Naturgewalten trotzen kann. Erdbebenalarmübungen hatten schon den Kindern eingeschärft, wie sie sich zu verhalten haben. Doch dann kam der 19. September und mit den Gebäuden zerfiel das Vertrauen zu Staub.
Von Anne-Katrin Mellmann
Zwei starke Beben in nur zwei Wochen, mindestens 430 Tote. Zehntausende Gebäude in Mexiko-Stadt wurden zerstört oder so stark beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Erneut wurde dem Land vor Augen geführt, wie groß seine Defizite beim erdbebensicheren Bauen noch immer sind.
"2017-09-29T07:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:29.417000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mexiko-stadt-die-angeschlagene-megacity-100.html
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EU will Neonicotinoide teilweise verbieten
Selbst wenn aber der zuständige EU-Ausschuss in der kommenden Woche dem Verbot zustimmt, kommt das Verbot für die Bienen in diesem Jahr zu spät (picture alliance/dpa/Foto: Patrick Pleul) Ein massives Bienensterben im Rheintal 2008 schreckte Imker und Forscher auf. Als Verursacher wurden schnell die sogenannten Neonicotinoide ausgemacht. Mit ihnen wird das Saatgut behandelt. Saat beigemischt und dienen der Schädlingsbekämpfung. Inzwischen hat aber die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, kurz EFSA, in mehreren Studien nachgewiesen, dass die Neonicotinoide auch Schmetterlinge und vor allem Bienen töten. In manchen europäischen Ländern sind die Bienenbestände schon um 60 Prozent zurückgegangen. Die EU-Kommission will jetzt reagieren. Sie will, dass die Pestizide nicht mehr auf Feldern also im Freiland eingesetzt werden dürfen. In der kommenden Woche steht das Verbot im zuständigen EU-Ausschuss zur Abstimmung. Eigentlich hätte das Verbot bereits im März beschlossen werden sollen. Deswegen dränge jetzt die Zeit, meint der CDU-Umweltexperte im Europaparlament Peter Liese. "Das Insektensterben ist ein ernstes Problem und wir müssen alles tun, um es zu verhindern. Neonicotinoide spielen offentsichtlich eine Rolle. Die Stellungnahme der Europäischen Lebensmittelagentur ist klar. Und deswegen hoffe ich, dass die Mitgliedsstaaten inklusive Deutschland jetzt sehr schnell ein Verbot beschließen." Schädlingsbekämpfungsmittelhersteller klagte vor dem EuGH Bereits nach dem massiven Bienensterben 2008 wurde der Einsatz der Neonicotinoide 2013 eigeschränkt. So dürfen die Pestizide nicht mehr auf Raps ausgebracht werden oder auf Kirschen und Äpfel gesprüht werden. Die Schädlingsbekämpfungsmittelhersteller Bayer und Syngenta haben gegen diese Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt. Sie fordern von der EU Schadensersatz. Das Urteil in dem Verfahren steht noch aus. Lange sah es danach aus, dass sich, ähnlich wie beim Verbot des Unkrautvernichters Glyphosat, das Bundesumweltministerium und das Bundeslandwirtschaftsministerium nicht auf eine einheitliche Linie einigen könnten. Doch inzwischen will auch Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner nach langem Zögern ein Verbot der Neonicotinoide und legt sich so mit der mächtigen Agrarlobby an. Die setzt weiter auf die Neonicotinoide. Der Agrarexperte der Grünen im Europaparlament, Martin Häusling, fordert deshalb ein grundsätzliches Umdenken der Branche. "Natürlich ist es so, die konventionelle Landwirtschaft hat sich in eine Sackgasse manövriert. Es gibt kaum noch Stoffe, die stattdessen eingesetzt werden können. Das heißt, man müsste tatsächlich in der Landwirtschaft einiges ändern - an der Art und Weise, wie man wirtschaftet, um anders reagieren zu können, außer mit dem Ersatz dieser Stoffe oder mit der Hoffnung, dass es andere neue Stoffe gibt. Es muss sich tatsächlich etwas in der Produktionsweise der Landwirtschaft ändern." Selbst wenn aber der zuständige EU-Ausschuss in der kommenden Woche dem Verbot zustimmt, kommt das Verbot für die Bienen in diesem Jahr zu spät. Die Saat, die mit den Pestiziden behandelt wurde, ist in diesem Frühjahr schon längst auf den Äckern und kann dort ihre tödliche Wirkung entfalten.
Von Pascal Lechler
Die zur Schädlingsbekämpfung eingesetzten Neonicotinoide sind für Bienen schädlich. Um dem Bienensterben in Europa entgegen zu wirken, will die EU-Kommission den Einsatz dieser Pestizide im Freiland verbieten. Kommende Woche stimmt der zuständige EU-Ausschuss darüber ab.
"2018-04-20T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:48:47.291000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bienensterben-eu-will-neonicotinoide-teilweise-verbieten-100.html
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Das Gewissen kauft mit
Fair gehandelte Schokolade, Tee oder Kaffee gibt es heute auch in den Regalen der großen Lebensmittelläden und Discounter. (dpa / picture alliance / Bernd Weissbrod) "Strohsterne, die gab es hier, …gibt's nimmer, Renate? … Dieses Jahr nicht, nee haben wir nicht gehabt dieses Jahr…" Renate Neumann schüttelt den Kopf. Nicht jeden Kundenwunsch kann sie erfüllen. Dabei ist ihr Angebot ziemlich ungewöhnlich: Alpaka-Ponchos aus Bolivien, Filz-Nadelkissen und Schlüsselanhänger aus Nepal, Bastkörbe aus Tansania. Seit bald 40 Jahren betreibt sie den Eine-Welt-Laden im Glockenturm der Berliner Gedächtniskirche. Der Rundbau mit dem dicken Pfeiler in der Mitte verströmt den Charme der Dritte-Welt-Läden aus den 80ern. Nicht auf das Design, nur auf den Inhalt kommt es an. Die Wände sind grob verputzt. Die Regale reichen bis unter die Decke, vollgestopft mit Lebensmitteln, Schmuck, Spielzeug, Kunsthandwerk, Kleidung. Renate Neumann sagt: "Wir haben auch immer noch keine dolle Ausstattung, wir wollen gerne hier mal alles erneuern, aber wir haben obwohl wir hier von den 41 Jahren 39 Jahre drin sind, immer noch keinen Vertrag von der Kirche, wir sind geduldet. Und auf Duldung gibt uns die Bank keine Darlehen." "Die Leute haben damals mit mehr Bewusstsein gekauft" Trotzdem ist sie stolz auf den Weltladen, schließlich ist er einer der ältesten Deutschlands. Ihr Ehemann, ein Pfarrer, gründete ihn mit entwicklungspolitisch und kirchlich engagierten Freunden. Das Ziel: den fairen Handel unterstützen. Ausländischen Produzenten die Chance geben, ihre Waren zu angemessenen Preisen anzubieten. Damit sie sich langfristig eine wirtschaftliche Existenz aufbauen können - trotz Missernten. In den 70er- und 80er-Jahren ging es den Kunden vor allem noch um die gute Sache, erinnert sich Renate Neumann: "Ich muss sagen, die Leute haben damals mit mehr Bewusstsein gekauft. Die haben es extra gekauft, weil es fair war und weil sie was Gutes tun wollten, heutzutage achten sie doch noch mehr auf Qualität." Dass der Nicaragua-Kaffee anfangs noch wie eine bittere Brühe schmeckte - Nebensache, sagt Renate Neumann und macht eine wegwerfende Handbewegung. Erst im Laufe der Jahre habe man sich getraut, den Produzenten beim Design zum Beispiel Vorschriften zu machen. "Zum Beispiel haben wir Pullover aus Bolivien bekommen, die waren so schrecklich kratzig und hatten so kleine Ärmellöcher, dass kein Mensch reingepasst hat und da haben wir gesagt, das geht nicht. Wir haben die ganze Ware vorher bezahlt, und dann haben wir gesagt, nein, wir bezahlen nur noch die Hälfte vorher und wenn das wieder nicht in Ordnung ist, ziehen wir etwas ab." Etwa 800 Weltläden gibt es in Deutschland. Die Zeiten bitterer Kaffeebrühe sind längst vorbei. Fair gehandelte Schokolade, Tee oder Kaffee gibt es auch in den Regalen der großen Lebensmittelläden und Discounter. "Also fairer Handel kann man sagen, wenn man es positiv sieht, ist aus der Nische getreten und in der Gesellschaft angekommen. Es ist eine Erfolgsgeschichte, zu der die Weltläden ganz erheblich beigetragen haben, weil sie selbst als Pioniere des fairen Handels seit 40 Jahren dafür eintreten, dass fairer Handel aus der Nische kommt", sagt Nadine Berger, Mitarbeiterin beim Baobab Infoladen. Der Berliner Verein setzt sich für fairen Handel ein, steht Weltläden beratend zur Seite. Statt von Problemen, redet Nadine Berger lieber von Herausforderungen. Es gebe mehrere Gründe, warum Eine-Welt-Läden schließen müssten. Eine Herausforderung sei die Gentrifizierung, eine andere der Wandel des Ehrenamtes: "Damals war Ehrenamt zeitlich länger angelegt. Heutzutage ist es einfach so, dass Formen von aktuellem Ehrenamt kürzer und projektspezifischer sind, das heißt sie eigenen sich nicht mehr, zuverlässig einen Ladendienst abzudecken." Ein professioneller Auftritt gehört mittlerweile zum Weltladen dazu Wer heutzutage einen Weltladen eröffnet, muss modern denken. Das fange bei der Ladengestaltung an und ende mit dem Auftritt in sozialen Netzwerken. Kunden locke man nicht nur mit einem wechselnden Sortiment an, sondern auch mit Workshops und Info-Veranstaltungen rund um das Thema fairer Handel. Genau so ein Laden liegt in der Wörther Straße im hippen Bezirk Prenzlauer Berg. Im Schaufenster steht eine Deko-Puppe, ein grau-weiß gemusterter Poncho hängt von ihren Schultern, eine modische Leinen-Handtasche trägt sie am Arm. An der Tür hängt ein Schild: Unsere Produkte haben einen Migrationshintergrund. Der Laden ist schick eingerichtet mit Schmuck, Spielzeug, Kunsthandwerk und Lebensmitteln, aber nicht vollgestopft. Die Wände sind in einem cremigen Farbton verspachtelt, Halogenlampen verströmen ein angenehmes Licht. Geschäftsführerin Claudia Strauß sagt: "Ich kenne das alte westdeutsche Vorurteil und ich kenne auch noch den Nicaragua-Kaffee Marke Schleimhautablösung, habe ich selber getrunken, danach ne Magentablette, dann war gut (lacht). In vielen westdeutschen Gehirnen gibt es noch die Vorstellung, ein Weltladen, da sitzen ein paar Leute auf einem Sack Reis und freuen sich, wenn mal einer reinkommt. Das hat sich stark geändert. Wir haben einfach gemerkt, dass wir den Produzenten nur dann etwas Gutes tun, wenn wir ihre Ware auch gescheit verkaufen." Dazu gehöre natürlich auch ein professioneller Auftritt, sagt Claudia Strauß vom Weltladen "Zeichen der Zeit". Aber auch, dass man sich auf den Geschmack der Nachbarschaft einstellt. Alle Produkte seien handgemacht, das schätzten auch die vielen jungen Familien, die hier lebten und hip sein möchte, sagt Strauß. "Das bedeutet für uns, dass wir immer auch die neuesten Trends mitmachen müssen, die Gottseidank vom fairen Handel jetzt inzwischen auch gut bedient werden. Dass wir einen Newsletter haben, auf Facebook aktiv sind, um unsere Kunden anzusprechen, dass wir Events anbieten müssen, die jetzt nicht nur bildungspolitischen Inhalt haben müssen. Das müssen wir hier auch machen, um unsere Kundschaft nicht zu langweilen." Aber wie Renate Neumann macht auch Claudia Strauß den Job aus Überzeugung. Ihren Lebensunterhalt verdient sie damit nicht. Denn beiden Frauen geht es letztlich um eine gerechtere Welt.
Von Susanne Arlt
Der Name verströmt das Achtzigerjahre-Aroma aus Nicaragua-Kaffee und Befreiungstheologie: Eine-Welt-Laden. Mit bitterer Brühe und kratzigen Ponchos lässt sich allerdings kein Geschäft mehr machen. Moderne Weltläden haben deshalb den Hipster mit Gerechtigkeitssinn im Blick.
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"2020-01-28T09:33:30.699000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fairer-handel-das-gewissen-kauft-mit-100.html
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"Wir wollen kein Anti-Nackt-Strafrecht"
Beamte des Landeskriminalamts München ermitteln wegen Kinderpornografie im Internet. (dpa / Peter Kneffel) Umstritten ist vor allem, ob bereits das reine Fotografieren von nackten Kindern und Jugendlichen strafbar sein soll. Högl betonte: "Wir werden keine Eltern kriminalisieren, die ihre Kinder beim Baden fotografieren." Aber es bestehe die Gefahr, dass ein Foto ohne Einwilligung der Eltern verbreitet werde. Leutheusser-Schnarrenberger betonte, Eltern würden mit dem Gesetz verunsichert und die Anwendung sei schwierig. Gerade wenn zum Beispiel auf einem Bild vom Planschbecken ein befreundetes Kind anderer Eltern nackt zu sehen sei, könne das direkt in den Bereich der Kriminalität kommen. "Hier sind Grenzen überschritten worden. Die Strafbarkeit wird zu sehr ins Vorfeld verlagert." Friedbert Meurer: Es gab einmal eine Zeit, da hatte der Vater eine schöne, wertvolle Leitz-Kamera. Im Urlaub wurden vom Strand drei, vier Bilder gemacht; mehr als 36 Fotos passten ja auf eine Filmrolle nicht drauf. Heute in der digitalen Welt schießen wir allein mit unserem Handy massenweise Fotos von den Kindern, wenn sie zum Beispiel Nackt mit Schippe und Eimer am Nordseestrand buddeln. Wenn jetzt ein anderes fremdes Kind mit auf dem Bild ist, dann wird es brisant. Ein Kind nackt zu fotografieren, das nicht mein eigenes ist, kann mich hinter Gitter bringen. Das Sexualstrafrecht soll verschärft werden als Konsequenz aus der Affäre rund um den SPD-Politiker Sebastian Edathy. Im Edathy-Untersuchungsausschuss werden heute Gutachten zu den Änderungen gewälzt und morgen gibt es dann die erste Lesung im Bundestag zur Verschärfung des Sexualstrafrechts.Eva Högl ist die Vorsitzende des Edathy-Untersuchungsausschusses und stellvertretende SPD-Fraktionschefin, die das neue Gesetz verteidigt. Guten Morgen, Frau Högl! Eva Högl: Schönen guten Morgen, Herr Meurer. Meurer: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war Bundesjustizministerin. Die FDP-Politikerin sieht das neue Gesetz in Teilen kritisch. Guten Morgen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ja! Guten Morgen, Herr Meurer und Frau Högl. Högl: Strafbarkeitslücken im Bereich der Kinder- und Jugendpornografie Meurer: Frau Högl, man soll nicht jeden Skandal zum Anlass nehmen, das Strafrecht zu verschärfen. Der Satz stammte anfänglich von Bundesjustizminister Heiko Maas. Warum tun Sie es jetzt doch? Högl: Ja, das ist ein richtiger Satz, der auch nach wie vor gilt. Wir sind alle sehr vorsichtig, wenn wir das Strafrecht ändern. Mit dem Strafrecht dürfen wir keine symbolische Politik machen. Und deswegen überlegen wir uns jede Änderung des Strafrechts sehr gut. Wir haben jetzt aber festgestellt, dass wir tatsächlich Strafbarkeitslücken haben im Bereich der Kinder- und Jugendpornografie. Das werden auch die Gutachter heute bestätigen, die wir im Untersuchungsausschuss im Bundestag hören, insbesondere der ganze Bereich des sogenannten Posings, wo nicht ganz klar ist, ob es einen sexuellen Bezug zu der dargestellten Handlung oder der Person gibt, die unbekleidet oder bekleidet ist, und deswegen haben wir gesagt, diese Strafbarkeitslücken wollen wir schließen. Högl: "Wir werden keine Eltern kriminalisieren" Meurer: Was müssen Eltern beachten, Frau Högl, wenn sie jetzt ihre Kinder beim Baden nackt fotografieren? Högl: Wir werden keine Eltern kriminalisieren und mit dem Strafrecht bedrohen, die nach wie vor - und das soll auch so sein -, ob mit einer Leica oder ohne, ihre Kinder beim Baden fotografieren. Worum es aber geht ist, dass die Fotos von Kindern, die nicht eingewilligt haben und deren Eltern nicht eingewilligt haben, dass die verbreitet, werden über den privaten Bereich hinaus ins Internet gestellt werden. Wir wissen, wie das geht. Das ist häufig nur ein Klick und dann können die Bilder weiterverbreitet werden, und deswegen stellen wir diese Weitergabe und Verbreitung unter Strafe, und zwar nur dann selbstverständlich, wenn die Eltern nicht eingewilligt haben. Das übliche Fotografieren der Kinder beim Baden, beim Spielen in der Sandkiste wird nicht unter Strafe gestellt. Leutheusser-Schnarrenberger: "Ich halte diesen Teil der Regelung für wirklich problematisch" Meurer: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, können wir beruhigt sein? Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke nicht, dass wir so beruhigt sein können. Ich möchte vorab sagen, wir reden jetzt ja über einen wichtigen Aspekt dieser Strafrechtsverschärfungen. Es gibt dort viele andere Regelungen auf Umsetzung internationaler Konventionen, wo man was tun musste, sodass das ein doch Zusammenspiel ganz vieler Regelungen ist. Aber jetzt gerade zu diesem entscheidenden Punkt: Es geht ja nicht darum, dass Eltern ihre Kinder auch nackt fotografieren. Aber gerade Bilder am Strand, am Planschbecken - das hat ja der Juristentag jetzt problematisiert -, wo auch nur ein Kind, eine Freundin, was nicht das Kind der Eltern ist, mit drauf ist, das kann dann schon gleich in den Bereich führen, dass es unbefugte Aufnahmen sind von nackt spielenden Kindern, und die können dann in den Bereich der Kriminalität kommen. Ich denke, Frau Högl, Sie haben richtig gesagt: Strafrecht soll nur als Ultima Ratio, also als allerletztes Mittel genutzt werden. Das ist unser schärfstes Reaktionsmittel im Rechtsstaat, weil es ausdrückt, was die Gesellschaft für kriminell hält. Hier, denke ich, sind Grenzen auch überschritten worden, wird auch Strafbarkeit zu sehr ins Vorfeld verlagert. Von daher halte ich diesen Teil der Regelungen für wirklich problematisch, denn sie betreffen ja nicht in einzelnen Punkten nur Nacktaufnahmen oder Aufnahmen von Kindern, die zu erheblichem Schaden führen können, sondern sogar auch von Erwachsenen. Högl: Fotografieren fremder Kinder am Strand soll unter Strafe gestellt werden Högl: Ja, ich kann die Kritik selbstverständlich gut verstehen, und wir müssen da auch vorsichtig sein, dass wir nicht zu weit gehen mit den strafrechtlichen Regeln und das Verhalten, was wünschenswert und gewollt ist, plötzlich unter Strafe stellen. Aber genau das, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, was Sie jetzt als Beispiel anführen, nämlich das Fotografieren fremder Kinder am Strand, genau das haben wir uns gut überlegt. Das wollen wir unter Strafe stellen, und zwar vor dem Hintergrund, dass es dann unbefugtes Fotografieren ist. Wenn man vorher die Eltern fragt, wenn es sich aus der Situation ergibt, kein Problem. Da würde ich gern mal ein Beispiel aus meiner Arbeit als Politikerin schildern, und das wird Ihnen bestimmt genauso gehen. Wenn wir in einer Schule sind und vorlesen und am Ende soll es ein Abschlussbild geben, dann dürfen nur die Kinder auf das Bild, von denen eine schriftliche Einwilligungserklärung der Eltern vorliegt, dass sie auf ein Bild dürfen. Ich darf so ein Bild nicht mal auf meine Homepage stellen als Erinnerung. Und ich finde das durchaus richtig. Leutheusser-Schnarrenberger: Damit werden Eltern verunsichert Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, das ist das Recht am eigenen Bild. Das ist in Ordnung. Hier geht es aber darum, dass wir mit dem Strafrecht, mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren, bis zu drei Jahren, je nach Konstellation reagieren. Das heißt, ist das ein Verhalten, unbefugt, weil Kinder am Strand spielen, die die Eltern gar nicht kennen, wo ich keinen fragen kann, wo dann mit einem Mal vielleicht in einem Streit diese Bilder ins Internet kommen. Auch das wissen wir nicht, was es da für Situationen gibt. Ich denke, dass das wirklich zu weit geht, dass jetzt wirklich Eltern auch damit verunsichert werden, und ich denke, man sollte ernst nehmen, wenn man ein Strafrecht verschärft, was dazu auch Experten sagen, wie problematisch und schwierig die Anwendung ist. Man kann Zielrichtungen, Motive verstehen. Die Debatte um Herrn Edathy war ja sehr aufgewühlt. Ich kann nicht beurteilen, was für Bilder er sich da runtergeladen hatte. Aber ich meine, man sollte jetzt mit Abstand dazu wirklich in Ruhe das machen, was dann auch in der Praxis handhabbar ist und was nicht, ich sage mal ein bisschen überspitzt, zu so einem Anti-Nackt-Strafrecht wird. Das, denke ich, passt nicht in unsere aufgeklärte heutige Gesellschaft. Högl: "Auch wir möchten selbstverständlich kein Anti-Nackt-Strafrecht" Meurer: Mal kurz eine Frage, Frau Högl. Das Gesetz sieht vor, dass alleine das Herstellen von solchen Fotos bestraft werden kann. Warum schon das Herstellen und nicht erst das Verbreiten? Högl: Weil wir damit natürlich direkt die erste Stufe auch unter Strafrecht stellen, nämlich schon das Knipsen, denn es besteht ja die Gefahr, wenn man diese Fotos herstellt, dass sie dann auch an Unbefugte weitergegeben werden und sich so verbreiten. Vielleicht darf ich noch mal ganz kurz sagen: Auch wir möchten selbstverständlich kein Anti-Nackt-Strafrecht. Aber genau das, was jetzt beschrieben wird, nämlich das Fotografieren fremder Kinder und das dann Verbreiten, das wollen wir tatsächlich unter Strafe stellen. Genau das ist mit dem Gesetzentwurf gemeint. Aber was wir selbstverständlich machen im weiteren parlamentarischen Verfahren - wir haben ja morgen die erste Lesung im Deutschen Bundestag -, wir werden ganz sorgfältig mit den Expertinnen und Experten in einer Anhörung, wie das üblich ist, noch mal uns genau die Regelungen anschauen und gucken, ob wir über das Ziel hinausschießen mit dem Gesetzentwurf, ob die Regelungen notwendig sind, ob wir sie gut formuliert haben, damit wir selbstverständlich nicht flächendeckend Eltern verunsichern. Das soll mit dem Gesetzentwurf natürlich auch nicht passieren. Leutheusser-Schnarrenberger kritisiert, dass bereits das Herstellen von Bildern schon zur Strafbarkeit führen kann Meurer: Wieweit, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, darf und soll das Recht auf das eigene Bild gehen? Leutheusser-Schnarrenberger: Da gibt es natürlich jetzt auch schon im Urheberrechtsgesetz und in anderen Bestimmungen Regelungen, die, wie Frau Högl eben in dem Fall Klassenbesuch gesagt hat, es nur mit Einwilligung erlauben, dass ich andere selbst auf einem Bild habe und dieses Bild dann auch verbreite. Aber Sie haben ja und Frau Högl hat das auch noch mal, denke ich, zu Recht problematisiert: Es geht ja gerade darum, dass das Herstellen von Bildern schon zur Strafbarkeit führen kann, wenn - und das ist wohl nachträglich erst noch in den Gesetzentwurf gekommen; das war im Referentenentwurf nicht enthalten - es zu erheblichen Schäden von Personen - und da gibt es keine Altersbegrenzung - führen kann. Das halte ich für eine Regelung, die kann so in meinen Augen nicht im Strafgesetzbuch bleiben. Ich hoffe, dass in Expertenanhörungen, die ja immer sehr gut sind, das dann wirklich auch zur Sprache kommt, da gehe ich von aus, aber dann auch aufgenommen wird. Denn hier in diesem Punkt wird eindeutig weit übers Ziel hinausgeschossen. Es wird jedem unterstellt, wenn er ein Bild macht, und zwar, ohne dass das pornografisch oder in ungewöhnlich sexueller Haltung ist, dass er dieses verbreiten will in böser Absicht, und das wird dann auch schon kriminalisiert. Ich denke, das ist eine Vorfeldverlagerung, die geht nicht. Vergleich mit Verhältnissen in den USA Meurer: Schlussfrage noch an beide; Ich beginne jetzt mit Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Mir hat einmal ein langjähriger Korrespondent in den USA gesagt: Wenn man da Kinder, kleine Kinder im eigenen Garten nackt spielen lässt, und nur die, dann rufen die Nachbarn die Polizei. Drohen uns amerikanische Verhältnisse in Deutschland? Leutheusser-Schnarrenberger: Ich hoffe nicht, dass wir in diese Zeiten der Prüderie, wie sie in Amerika ja bestehen, zurückfallen. Aber wir sollten auch nichts tun, was Verunsicherung und Verängstigung von Eltern befördert, und mit diesem Gesetzentwurf in Teilen gehen wir in Bereiche vor, was undenkbar gewesen wäre, jemals unter Strafbarkeit zu stellen. Meurer: Frau Högl, was meinen Sie? Högl: Nein, Herr Meurer. Genau diese Verhältnisse, wie sie in den USA waren und sind, wollen wir nicht. Wir wollen kein Anti-Nackt-Gesetz, wir wollen Eltern nicht kriminalisieren. Aber ich sage es zum Schluss auch noch mal ganz deutlich: Wir wollen Kinder schützen und wir müssen Kinder auch davor schützen, dass ihre Bilder unbefugt verbreitet werden, ins Netz gestellt werden und dann von anderen genutzt werden zu Zwecken, zu denen sie nicht gemacht wurden. Das ist letztendlich das Ziel dieses Gesetzentwurfes. Meurer: Das Sexualstrafrecht soll verschärft werden - ich sprach mit Eva Högl, sie ist die Vorsitzende des Edathy-Untersuchungsausschusses und stellvertretende SPD-Fraktionschefin. Danke schön, Frau Högl. Und danke schön auch an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die frühere Bundesjustizministerin. Danke Ihnen beiden und auf Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eva Högl und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Friedbert Meurer
Die Bundesregierung will das Sexualstrafrecht verschärfen. Ziel sei es, "Strafbarkeitslücken in der Kinder- und Jugendpornografie zu schließen", sagte SPD-Fraktionsvize Eva Högl im DLF. Die Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hielt dagegen: In einem Punkt schieße das Gesetz "weit übers Ziel hinaus".
"2014-09-24T08:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:09.319000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexualstrafrecht-wir-wollen-kein-anti-nackt-strafrecht-100.html
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Deutsche Lehrkräfte in der Ferne
Schüler bei der Eröffnung der Deutschen Internationalen Schule in Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate (imago / Thomas Koehler) Als verbeamtete Lehrkräfte werden sie beispielsweise beim Wechsel über die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen vermittelt. Was erleben sie an kulturellen und pädagogischen Unterschieden und Herausforderungen? Und warum möchten sie in anderen Ländern unterrichten, wo doch in Deutschland Lehrermangel herrscht und Lehrkräfte händeringend gesucht werden? In Campus und Karriere geht es um Wunschziele, Motive und Erfahrungen für einen Auslandsaufenthalt. Deutsche Lehrkräfte und eine österreichische Erzieherin berichten über ihren Gang in ein anderes Land und geben Tipps zur Vorbereitung. Gesprächsgäste: Heike Toledo, Leiterin der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA), die Lehrkräfte ins Ausland vermittelt Cathrin Sauret, Mittelstufenkoordinatorin an der deutschen Schule in Moskau Paul Richter, Grundschulleiter in der dt. Sektion der Taipei European School in Taiwan Senay Guen, Kindergartenleiterin an der Dt. Internationalen Schule in Doha im Emirat Katar Jens Erner, Vorstandsreferent des Verbandes Dt. Lehrer im Ausland (VDLiA), der mit seiner Familie vor kurzem nach acht Lehrer-Jahren in Peru nach Deutschland zurückgekehrt ist
Moderation: Kate Maleike
Sie packen ihre Koffer und unterrichten in Russland, Peru, Taiwan oder gehen in einen Kindergarten nach Katar. Oft sind es deutsche Schulen oder Bildungseinrichtungen, die sie dafür ansteuern. Warum zieht es Lehrkräfte ins Ausland und welche Erfahrungen bringen sie zurück?
"2018-03-31T14:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:37.034000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ab-ins-ausland-deutsche-lehrkraefte-in-der-ferne-100.html
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Schweden will Importwaren in Emissionen einrechnen
Nach der neuen Berechnung liegt der Klima-Fußabdruck eines Schweden bei neun Tonnen CO2 pro Jahr, so Klimaforscherin Katarina Axelsson im Dlf (picture alliance / dpa / TT NEWS AGENCY | Anders Wiklund/TT) Der Klima-Fußabdruck eines Deutschen beträgt knapp zehn Tonnen CO2 pro Jahr. Schwedische Bürgerinnen und Bürger kommen auf die Hälfte. Das Land gilt als Vorreiter im Klimaschutz und kann dank Wasser- und Atomkraft sowie Windenergie eine umweltfreundliche Stromerzeugung vorweisen. Die Statistiken sind allerdings unvollständig. Emissionen, die auf den Konsum von Produkten zurückzuführen sind, die im Ausland hergestellt wurden, werden in der Berechnung bisher ausgespart. Dabei importieren alle Industrieländer gewaltige Mengen an Konsumgütern, von der Hose bis zum Computer – mit dem damit verbundenen hohen CO2-Ausstoß. Der CO2-Fußabdruck eines durchschnittlichen Menschen in Deutschland 2018 (Umweltbundesamt/Deutschlandfunk) Schweden will diese importierten Emissionen künftig einberechnen. Das Vorhaben ist derzeit in der parlamentarischen Diskussion. Katarina Axelsson forscht beim Stockholm Environment Institute zum Thema Klima und Lebensstil. Sie sagte im Dlf, Schweden gehe diesen Schritt, um die langfristigen Klimaziele des Pariser Abkommen einzuhalten: „Daraus wird oft errechnet, dass die Emissionen pro Kopf bis 2050 auf eine Tonne pro Person reduziert werden müssen. Schwedens Emissionen pro Kopf liegen aber bei neun Tonnen pro Person, wenn man auch den kompletten Konsum berücksichtigt.“ Klima und Konsum Die Macht und Ohnmacht der Verbraucher Klima und Konsum Die Macht und Ohnmacht der Verbraucher Nahezu alle Wissenschaftler sind sich einig, dass die Klimakrise von uns Menschen verursacht wird. Um etwas zu verändern, müssen wir anders wirtschaften. Und gerade Konsumenten in den Industrieländern können dazu einen Beitrag leisten, indem sie ihren CO2-Fußabdruck verringen - leicht wird das nicht. Weil Schweden über die Emissionen der herstellenden Länder keine Kontrolle habe, könne zunächst der Konsum heruntergefahren werden, erläuterte die Klimaforscherin; etwa durch weniger Fahrzeuge, weniger Konsum von Fleisch und der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Durch internationalen Druck, etwa die EU, könne Einluss auf die Hersteller im Ausland ausgeübt werden: „Wir könnten strengere Richtlinien darüber verfassen, wie Waren hergestellt werden müssen, die in die EU importiert werden.“ Axelsson hofft, dass sich andere Länder an Schweden ein Beispiel nehmen. Das Interview im Wortlaut: Georg Ehring: Das Vorhaben ist derzeit in der parlamentarischen Diskussion und worum es dabei genau geht, das habe ich Katarina Axelsson gefragt, sie forscht beim Stockholm Environment Institute zum Thema Klima und Lebensstil.  Katarina Axelsson: Schweden beschäftigt sich schon lange damit die CO2-Emissionen beim Konsum umfassend zu berücksichtigen. Trotzdem legt Schweden bisher nur Rechenschaft über die Emissionen ab, die auf dem eigenen Territorium anfallen. Doch es gibt auch die Emissionen für Produkte, die im Ausland hergestellt, aber nach Schweden eingeführt werden. Wenn man dies alles berücksichtigt, kommen wir auf etwa neun Tonnen pro Kopf und Jahr, nach herkömmlicher Zählweise kommen wir nur auf rund fünf Tonnen. Es würde also dazu führen, dass wesentlich höhere Emissionen berücksichtigt werden müssten. Ehring: Um welche Emissionen geht es dabei vor allem?  Axelsson: Ein wichtiger Posten sind die Emissionen aus Fahrzeugen. Ein weiterer sind Flugreisen. Außerdem Lebensmittel und natürlich Kleidung, Elektronik und so weiter. Auch davon werden viele Produkte importiert. Schweden hat über diese Emissionen natürlich keine Kontrolle, auch das muss man berücksichtigen. "Haben erkannt, dass wir das Klima-Problem global angehen müssen" Ehring: Was ist der Grund für diese Veränderung? Axelsson: Wir haben die langfristigen Klimaziele des Pariser Abkommens, also die Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad verglichen mit dem Niveau der vorindustriellen Zeit. Daraus wird oft errechnet, dass die Emissionen pro Kopf bis 2050 auf eine Tonne pro Person reduziert werden müssen. Schwedens Emissionen pro Kopf liegen aber bei neun Tonnen pro Person, wenn man auch den kompletten Konsum berücksichtigt. Es ist also ein sehr großer Schritt, von neun auf eine Tonne zu kommen. Auch wenn Schweden einen großen Teil davon nicht direkt kontrollieren kann, finde ich es sehr gut, dass wir jetzt erkannt haben, dass wir das Klima-Problem global angehen müssen und dazu gehören auch die Emissionen, die anderswo entstehen, aber durch Schwedens Konsum verursacht werden. Ehring: Wie kann der CO2-Fußabdruck des Konsums und auch von Produkten, die auswärts produziert worden sind, am besten reduziert werden? CO2-Kompensation bei FlügenKosten unterscheiden sich je nach Anbieter 05:17 Minuten06.02.2020 Nachhaltiger Konsum"Der Verbraucher ist mitverantwortlich" Klimaschutz"Auf Flugreisen in Europa zu verzichten, ist sinnfrei" 08:23 Minuten15.08.2019 Axelsson: Es geht zum Beispiel um Autos: Wenn die nicht mehr mit fossilen Energien angetrieben werden, sondern elektrisch, dann wäre das ein wichtiger Schritt. In unserem Energiemix ist der Anteil erneuerbarer Energien sehr hoch. In Ländern, die noch stark fossile Energien einsetzen, ist das nicht unbedingt so eine gute Sache, aber für Schweden wäre das gut. Auch wenn wir zum Elektroauto wechseln, müssen wir immer noch die Gesamtzahl der Fahrzeuge verringern. Sie beeinflussen das Klima ja auch durch ihre Herstellung ganz erheblich. Ein anderer Schritt wäre: Weniger Flugverkehr. Außerdem wäre es gut, den Konsum von Lebensmitteln tierischer Herkunft zu verringern und mehr Gemüse zu essen und nicht mehr so viele Lebensmittel zu verschwenden. Die Verschwendung von Lebensmitteln ist ein großes Problem, denn das heißt ja, dass sie unnötig hergestellt wurden.   "Eine Kombination von öffentlichem Druck und Marktregulierung" Ehring: Wie kann Schweden die CO2-Intensität von Produkten beeinflussen, die im Ausland hergestellt wurden? Axelsson: Das ist eine interessante Frage. Schweden hat keinen direkten Einfluss darauf, wie Produkte im Ausland hergestellt werden. Aber es wäre natürlich möglich, über internationale Organisationen Druck auszuüben, etwa über die Europäische Union. Wir könnten strengere Richtlinien darüber verfassen, wie Waren hergestellt werden müssen, die in die EU importiert werden. Außerdem: Wir können mit den Unternehmen arbeiten und sie auffordern, Bericht zu erstatten und die Folgen offenzulegen, die ihre Produktionsweise mit sich bringt. Hier haben die Menschen, die Verbraucherinnen und Verbraucher, eine wichtige Rolle, wenn sie Interesse daran zeigen, wie die Produkte hergestellt worden sind. Es ist also eine Kombination von öffentlichem Druck und Marktregulierung. Das würde Erfolge bringen. Wir müssen die Kräfte bündeln und uns gegenseitig helfen, um den nötigen Wandel zu schaffen – zumindest in der Europäischen Union. Und natürlich ist der Energiemix in den verschiedenen Ländern wichtig. Wir müssen andere Staaten dabei unterstützen, ihre Energieversorgung zu verbessern. Das wird allerdings nicht ausreichen, wir müssen noch mehr tun. Co2-Fußabdruck Was bringt es, sich privat um das Klima zu kümmern? Co2-Fußabdruck Was bringt es, sich privat um das Klima zu kümmern? Jeder Einzelne kann seinen CO2-Ausstoß verbessern, nur wie? Es gibt viele Möglichkeiten: Sehr radikal durch eine Ernährungsumstellung oder einfach auch nur, indem investiert oder ein wenig die Gewohnheit geändert wird. Sechs Beispiele von Menschen, die was umsetzen. Ehring: Wird Schweden damit zum Modell für andere Länder? Axelsson: Das hoffe ich. Ich bin sehr positiv gestimmt in Bezug auf diesen Schritt, den Schweden jetzt geht und ich hoffe, dass das andere Länder dazu inspirieren wird, dasselbe zu tun. Wir haben im Juni eine große Umweltkonferenz in Stockholm und auch da werden Konsum-Muster eine große Rolle spielen. Das wird eine gute Gelegenheit für Schweden, seine Erfahrungen und Pläne vorzustellen und ich hoffe, das wird andere Länder inspirieren, so dass sie davon lernen können.  Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katarina Axelsson im Gespräch mit Georg Ehring
Bisher kommen importierte Produkte wie Fahrzeuge oder Kleidung in den Emissionsbilanzen der Länder nicht vor. Schweden will das ändern. Laut Klimaforscherin Katarina Axelsson erhöht sich dadurch der CO2-Fußabdruck jedes Schweden deutlich. Der Schritt sei aber eine Chance, Druck auf die Hersteller-Länder aufzubauen.
"2022-05-02T11:35:00+02:00"
"2022-05-02T14:43:28.543000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/co2-bilanz-schweden-importprodukte-100.html
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"Man weiß gar nicht, wofür die Partei steht"
Gregor Gysi hat eine klare Meinung, was bei der Linkspartei zuletzt falsch lief (picture alliance / dpa / Jan Woitas) Fehleranalyse und gegenseitige Schuldzuweisungen laufen bei der Linkspartei auf Hochtouren: Nur mit Ach und Krach und beinahe halbiert ist sie wieder in den Bundestag eingezogen. Die Fünf-Prozent-Hürde übersprang sie nicht, konnte aber drei Direktmandate holen. Eines davon gewann Gregor Gysi, früher Parteichef und Fraktionsvorsitzender, im Wahlkreis Berlin-Treptow/Köpenick. Warum hat seine Partei diesmal so schlecht abgeschnitten? Für Gysi hat sie zuletzt ein wirres Bild abgegeben. In vielen Fragen – soziale, ökologische, friedenspolitische oder beim Thema Flüchtlinge – wüssten Medien und Bevölkerung nicht mehr, wofür die Partei stehe, was Mehrheits- und was Minderheitsmeinung sei. Ja-Stimmen, Nein-Stimmen und Enthaltungen bei der Abstimmung beim Bundeswehrmandat zur Evakuierung in Afghanistan – wer solle denn damit etwas anfangen können? Nach der Wende und dem Ende der SED sei die Vielfalt der Linkspartei begrüßt worden, heute sei das nicht mehr der Fall. Das Wahlprogramm der LinksparteiDas zentrale Thema im Programm der Linken für die Bundestagswahl hieß soziale Gerechtigkeit, sowohl für Klima und Vermögenssteuer als auch beim Gesundheitssystem. Ein Überblick. Ostidentität wiederfinden Gysi wünscht sich eine Rückbesinnung auf Kernthemen. "Die Geburtsurkunde der Linken ist die soziale Frage, die muss immer im Mittelpunkt stehen", sagte Gysi. Zudem müsse die Linkspartei ihre "Ostidentität" wiederfinden, aus der Opposition regelmäßig Anträge zu ostdeutschen Themen in den Bundestag einbringen. Dieses Feld dürfe man nicht der AfD überlassen. Parteiinterne Kritik, die Linke habe sich zu stark an SPD und Grüne angebiedert, gehe ihm auf die Nerven, sagte Gysi. Sie sei vor allem von jenen zu hören, die das nicht wollten, damit sie keine Selbstkritik üben müssten. Gysi kritisierte auch, dass die Linkspartei öffentlich so stark auf Anti-Nato-Positionen festgenagelt werde. Bei einem so schlechten Verhältnis zwischen Nato und Russland wie derzeit sei das keine Option. Aber als langrfristige Vision – in 20 oder 30 Jahren – sei vielleicht ein Verteidigungsbündnis unter Einschluss Russlands denkbar. Das Interview in voller Länge: Dirk-Oliver Heckmann: Herr Gysi, Sie und Ihre beiden anderen direkt Gewählten haben Ihrer Partei also die parlamentarische Existenz als Fraktion gerettet, ansonsten hätten Sie da sehr einsam gesessen. Wie sehr ist Ihnen vor diesem Hintergrund zum Feiern zumute? Gregor Gysi: Zum Feiern natürlich nicht. Ich war natürlich genauso frustriert wie viele über das desaströse Ergebnis meiner Partei. Auf der anderen Seite hab ich mich natürlich über meinen Erfolg gefreut, in Treptow-Köpenick, und hab gesagt, ich hab also zwei Gründe, zum Alkohol zu greifen – einmal der Frust und dann die Freude –, aber ich hab mich beherrscht. Heckmann: Sie haben sich beherrscht, wir haben es gerade im Beitrag gehört, der ein oder andere stellt die Existenzfrage. Steht Ihre Partei vor dieser Frage, sein oder nicht sein? Gysi: Nein, ich glaube nicht, weil wenn sie sich spaltet, können beide damit rechnen, dass sie nicht die fünf Prozent erreichen. Das ist sehr, sehr schwierig, deshalb denke ich, dass doch versucht wird, einen Weg zu finden, damit umzugehen. Viele Stimmen an SPD und Grüne verloren Heckmann: Die Frage ist ja, was ist der Grund dafür, dass die Linke dann doch so enttäuschend – aus Ihrer Sicht jedenfalls – abgeschnitten hat. Es gibt den ein oder anderen, der sagt, die Partei habe sich zu stark SPD und Grünen angeboten, gerade in den letzten Wochen und Monaten, als Koalitionspartner, als potenzieller. Ist da was dran? Gysi: Es gibt mehrere Gründe, es gibt äußere und innere Gründe. Einen äußeren Grund kann ich sagen: Scholz hat immer gesagt, er will zusammen mit den Grünen eine sozialökologische Wende herbeiführen, und eigentlich will er uns nicht dabei haben, wenn es nicht sein muss et cetera. Und das Ergebnis war, dass wir sehr viele Wählerinnen und Wähler an die SPD und die Grünen verloren haben, weil die ja eben die sozialökologische Wende herbeiführen wollten. Dafür können wir relativ wenig. Und bei den Dreierrunden waren wir eben nicht zugegen, aber da sage ich mal meinen Leuten, die FDP war auch nicht zugegen, hat trotzdem zugelegt. Also das reicht mir auch als Begründung nicht aus. Jetzt die inneren Gründe: Da hat zunächst Dietmar Bartsch völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir unsere Ostidentität nicht gesichert haben. Obwohl wir jetzt bundesweit organisiert sind, müssen wir die Ostidentität wieder finden, da können auch alle mit leben, denn sonst überlassen wir das der AfD – das geht auf gar keinen Fall. Also hier müssen wir wirklich jeden Monat den Bundestag mit einem Antrag ein bisschen quälen, sage ich mal, wo es um die Situation in Ostdeutschland geht. Politikpodcast: AfD, Linke und der OstenDie Linke stürzt ab, die AfD wird in Sachsen und Thüringen bei der Bundestagswahl zur stärksten Kraft: Was steckt hinter dieser Entwicklung – und wohin entwickeln sich die beiden Parteien? Das Zweite ist ein folgendes Moment, was ich auch interessant finde: 90, 91, 92 war unsere Vielfältigkeit ein positives Element, und zwar weil die Leute von der Einheitspartei, der SED, wirklich die Nase voll hatten. Da ist es begrüßt worden, dass es so unterschiedliche Auffassungen bei uns gibt. Jetzt ist das nicht mehr der Fall, jetzt nervt es sie, und zwar, weil es auch keine richtige Mehrheitsentscheidung gibt. Man weiß gar nicht, wofür die Partei steht – steht sie nun für den Kurs oder für jenen Kurs oder für diesen Kurs et cetera. Und das ist ganz interessant, wenn man sich das anschaut, und deshalb sage ich, hier brauchen wir eine andere Methode, wenn es keine Spaltung geben soll, brauchen wir Mehrheitsentscheidungen. Dann muss die Bevölkerung und auch die Medien, auch der Deutschlandfunk, immer wissen, aha, das ist die Mehrheitsmeinung der Partei und das ist die Minderheitsmeinung der Partei. Das ist in den letzten Jahren überhaupt nicht deutlich geworden. Heckmann: Weshalb nicht? Gysi: Ja, weil man sich einfach damit abgefunden hat. Die eine sagt die Meinung, der andere sagt die andere Meinung, und man macht gar keine Abstimmung darüber. Egal ob ich Flüchtlinge nehme, ob ich bestimmte soziale Fragen nehme, ob ich ökologische Fragen nehme, friedenspolitische Fragen nehme, man hat sich einfach damit abgefunden, und so entstand ein völlig wirres Bild. Das werfe ich mir ja auch vor. Ich werfe mir auch vor, dass ich nicht darauf bestanden habe, dass die Ostidentität aufrechterhalten wird und dass ich auch nicht die Auseinandersetzung gesucht habe und gesagt habe, wir brauchen klare Mehrheitsverhältnisse. Und das muss sich jetzt ändern. Heckmann: Weshalb haben Sie das nicht gemacht? Gysi: Ja, weil ich mich nicht so einmischen wollte. Wissen Sie, wenn Sie mal Vorsitzender der Partei waren und dann Vorsitzender der Fraktion waren und dann sind es andere, und die stellen sich hin und wissen immer alles besser, das geht einem auch auf die Nerven. Heckmann: Haben Sie nicht eine Verantwortung? Gysi: Ja, deshalb habe ich ja auch Selbstkritik geübt. Und das ist das, was mich stört bei denen, die Sie jetzt zitieren, die sagen, wir haben uns zu sehr SPD und Grünen angebiedert. Das sagen ja nur diejenigen, die das nicht wollten. Das heißt, sie sagen es ja nur, um keine Selbstkritik üben zu müssen, sondern zu sagen, die anderen sind schuld, wir sind unschuldig. Das geht mir so auf die Nerven in meiner Partei. Dass man mal selbstkritisch ist, wie ich es auch war in der Fraktionsversammlung, da haben sie auch gestaunt, aber nein, so was kommt bei ihnen nicht vor. Natürlich, da kann auch ein Umstand gesetzt worden sein, dass man den einen oder anderen Satz vielleicht so hätte nicht sagen sollen, aber das ist dann nur ein kleines Puzzlestück bei den verschiedenen Ursachen, die ich Ihnen gerade genannt habe, die dazu führten, dass wir jetzt so wenig gewählt worden sind. Und daran müssen wir wirklich konsequent und schnell und zügig arbeiten. Setzt die Linke auf die falschen Themen? Heckmann: Ein Stichwort, Herr Gysi, haben Sie nicht genannt, nämlich das Stichwort Sahra Wagenknecht. Die hat ja ihrer eigenen Partei vorgeworfen, dass sie sich mit den falschen Themen befasse. Da hat sie genannt die Genderdebatte beispielsweise, Antirassismus, Feminismus, das alles sei nicht wirklich relevant für die Anhängerinnen und Anhänger und potenziellen Wähler der Partei. Hatte sie im Nachhinein recht? Gysi: Ich hab damals schon gesagt, sie hat in einem Punkt recht, die soziale Frage muss im Mittelpunkt unserer Politik stehen. Aber ich sehe das im Unterschied zu ihr nicht alternativ, man kann die anderen Fragen auch diskutieren. Wir können ja dazu nicht schweigen, das wäre ja völlig daneben. Aber, und da hat sie recht, es schien so, als ob uns die letzteren Fragen mehr beschäftigen als die soziale Frage, und das geht nicht, da hat sie recht. Nur ob man so ein Buch nur drei Monate vor der Wahl veröffentlicht und so weiter, das ist auch noch eine Frage, und dieses klassische Klientel, wie es Oskar immer sieht, das baut sich ja immer mehr ab. Wie viel Braunkohlekumpel, Steinkohlekumpel haben wir denn noch, wie viel Stahlarbeiterinnen und Stahlarbeiter haben wir denn noch? Da entsteht ja so eine digitale Wirtschaft, die Leute, die dort arbeiten, denken wieder anders, also wir müssen auch die Veränderung in der Gesellschaft berücksichtigen. Trotzdem sage ich, die soziale Frage, das ist nun mal die Geburtsurkunde der Linken, ist die soziale Frage, die muss immer im Mittelpunkt stehen. Und da teile ich Ihre Kritik, dass das weggerutscht ist, aber ich sage nicht, wir dürfen uns mit den anderen Themen nicht beschäftigt, sondern da müssen wir uns auch mit beschäftigen. Man muss immer wissen, das Hauptthema ist die soziale Politik. Heckmann: Sahra Wagenknecht und die Exchefin der Linken, Katja Kipping, die haben sich ja ein ständiges öffentliches Gefecht geliefert über Monate hinweg – wie hilfreich war das? Gysi: Das war überhaupt nicht hilfreich. Diese Gefechte sind wirklich – die sind auch so selbstsüchtig, wissen Sie. Es geht dann immer nur um die Person selbst, es geht ja gar nicht darum, wirklich Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, also bei bestimmten Leuten, wobei ich Katja Kipping immer wirklich zugutehalte, sie geht wirklich zum Jobcenter, sie setzt sich dort ein für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, sie redet auch mit ihnen. Das macht ja nun Sahra nicht. Insofern, Lifestyle-Linke haben wir wirklich mehrere, kann ich nur sagen. Ich erinnere mich zum Beispiel, kommunistische Plattform hatten wir ja mal, ich glaube, da gibt’s Reste immer noch, aber entscheidend ist, als ich bei den Kalikumpeln war in Bischofferode, die hungerstreikten für ihre Jobs, nie kamen die mit. Also revolutionäre Reden konnten sie halten auf dem Parteitag, aber da waren sie nie. Also das kenne ich, dass man sich dann um die konkreten Umstände nicht kümmert. Nur wir müssen... Heckmann: So was wie eine Salonbolschewistin im Prinzip, Sahra Wagenknecht? Gysi: Ja, so werde ich das nicht nennen, aber Sie dürfen es so nennen. Ich sage nur Folgendes: Wissen Sie, das muss aufhören, wobei Katja natürlich auch weniger dafür konnte. Sie hat einfach ihren Politikstil gemacht, und zum Ausgleich hatte sie ja Riexinger. Riexinger sollte sich ja um die Gewerkschaften und diese Fragen kümmern. Man wollte ja sozusagen beide Seiten erreichen. Das war ja, wenn Sie so wollen, der Kompromiss, und das ist eben nicht ausreichend gelungen, das ist wahr. Aber ich werde mich jetzt nicht zur Person äußern, weil das halte ich auch für falsch. "Abstimmungschaos" beim Thema Afghanistan Heckmann: Deswegen werden wir jetzt einen weiteren inhaltlichen Punkt vielleicht einführen, nämlich, Herr Gysi, zuletzt hatte ja die Linke das Mandat für die Rettungsaktion in Afghanistan abgelehnt. Das hat in weiten Teilen der Bevölkerung, würde ich mal sagen, Kopfschütteln ausgelöst. War das ein Fehler, der die Linke noch mal so richtig unter die fünf Prozent drückte? Gysi: Also ich meine ja. Es sehen natürlich die anders, aber ich meine ja, und ich sag Ihnen auch warum. Ich habe 21 Jahre gegen diesen Krieg gekämpft, ich habe immer gesagt, man kann einer anderen Bevölkerung nicht eine andere Religion und eine andere Kultur aufzwingen und schon gar nicht mittels Krieg. 59 unserer Soldaten kamen ums Leben, über tausend Menschen sind von unseren Soldaten auch getötet worden. Viele Soldaten sind übrigens geschädigt, psychisch und auch physisch – übrigens kommen die kaum vor in den Medien. Ich würde gerne mal über diese geschädigten Soldaten einen Bericht hören, weil ich finde, das gehört mit zur Informationspflicht. So, und dann kommt der Antrag der Regierung, und wir haben noch keine Hoheit, hab ich ihnen erklärt, zu interpretieren den Antrag – unsere Bedenken, weiß ich was, Umfang des Mandats, Zeitpunkt, robust und so weiter. Für die Leute ist es ein Antrag zur Beendigung des Krieges. 21 Jahre lang kämpfen wir für die Beendigung des Krieges, und dann enthalten wir uns oder stimmen sogar dagegen und nur ganz wenige dafür. Heckmann: Und Sie, wie haben Sie abgestimmt? Gysi: Ich hab mich enthalten aus Kompromissgründen, aber das hab ich auch gesagt, schon damals hab ich es gesagt, und ich hab’s jetzt auch wieder gesagt, das mache ich nicht wieder. Ich hab nichts dagegen, dass wir Kompromisse finden, aber dann müssen alle zu dem Kompromiss stehen. Und wenn einige mit Ja stimmen, weil sie sagen, ich halte mich nicht dran, und dann andere sagen, dann stimme ich mit Nein, ich halte mich auch nicht daran, dann werde ich nie wieder eine Stimmabgabe machen, die ich eigentlich nicht richtig finde. Ich hätte es viel besser gefunden, wir hätten geschlossen gesagt, ja, das ist ein Antrag, wir haben unsere Kritik dran, aber er beendet den Krieg, und da wir immer für die Beendigung des Krieges waren, stimmen wir dafür. Heckmann: Hatten Sie sich so eingebracht und waren unterlegen sozusagen in der Fraktion? Gysi: Ja, na klar hab ich mich so eingebracht, und das wusste auch Dietmar Bartsch, und der hat mich sehr gebeten, doch den Kompromiss mitzutragen, weil sonst alles noch schlimmer wird, was ich auch verstehen kann. Ich hab ihn ja dann auch mitgetragen, aber im Nachhinein sage ich, wissen Sie, das hätte uns keine Stimme gebracht, wenn wir mit Ja gestimmt hätten – vielleicht sogar, wenn wir geschlossen mit Enthaltung gestimmt hätten und das erklärt hätten oder meinetwegen sogar geschlossen mit Nein, wobei das schwierig gewesen wäre, es zu erklären. Aber drei Abstimmungsvarianten hinzulegen, also ein Abstimmungschaos, ja, nein und Enthaltung, wer soll denn damit etwas anfangen können. Mit anderen Worten: Wenn wir einheitlich abgestimmt hätten, hätte es uns nichts gebracht, aber wir hätten nicht verloren. Aber so haben wir verloren. Linke "muss jetzt klare Oppositionspolitik machen" Heckmann: Herr Gysi, die Linke lehnt ja Kampfeinsätze der Bundeswehr, seit man denken kann, ab, seit Jahren. Sie fordert eine Auflösung der NATO, ist für ein Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands. Glauben Sie, dass diese Positionierung hinreichend viele Wählerinnen und Wähler überzeugt? Gysi: Also, wir sind gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr, das stimmt, und ich finde, auch völlig zu Recht. Unsere Aufgabe, nach unserer Geschichte, auch wenn ich an die Geschichte von 1945 denke, nach Beendigung des Kalten Krieges, muss die Vermittlung sein. Wir können nicht einerseits zwischen Russland und der Ukraine versuchen, in Minsk zu vermitteln und andererseits unsere Soldaten an die russische Grenze schicken. Wir müssen einfach mal wissen, welche Position wir haben wollen. "Man braucht auch einen Dialog mit Russland und China"Linken-Außenpolitiker Gregor Gysi plädiert für ein besseres Verhältnis zu den USA, Russland und China. "Wir haben zu allen drei Staaten keine guten Beziehungen", sagte Gysi im Dlf. Das Zweite, was Sie genannt haben, steht doch aktuell gar nicht zur Debatte. Ich hab mich immer über die Medien geärgert, die gesagt haben, wir wollen den Austritt aus der NATO. Das haben wir nie gefordert, aber wir kamen gegen die Meldung nicht an. Und die Sache, die Sie beschreiben, das ist eine Vision. Das steht ja auch nicht in unserem Wahlprogramm, sondern in unserem Parteiprogramm. Und aktuell, bei dem schlechten Verhältnis der NATO zu Russland und zu Putin, brauchen wir doch darüber gar nicht zu diskutieren. Aber wissen Sie, in 20, 30 Jahren ersetzen wir vielleicht die NATO durch eine Sicherheitsstruktur unter Einschluss von Russland. Ich meine, ich will nur darauf hinweisen: Anfang der 90er-Jahre habe ich auf einer Bundespressekonferenz in Bonn einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Alle waren dagegen und haben mich ausgelacht – oder fast alle, drei Gewerkschaften waren an meiner Seite, die anderen nicht –, und es gibt ihn inzwischen. Also, ab und zu muss man auch mal eine Vision entwickeln, die dann Jahrzehnte später Realität wird. Gegenwärtig... Heckmann: Letzte Frage, Herr Gysi, kurz vor den Nachrichten: Für Rot-Rot-Grün gibt es ja keine rechnerische Mehrheit, wie sollte sich die Linke jetzt in der Opposition im Bundestag aufstellen? Gysi: Ich glaube, sie muss jetzt klare Oppositionspolitik machen, sie muss vergleichen, was die Regierung nachher beschließt, oder die Mehrheit des Bundestages, wie das übereinstimmt mit den Wahlversprechen oder nicht übereinstimmt. Sie muss die Ostidentität zurückgewinnen, sie muss Mehrheitsbildung machen und dann auch zu den Mehrheiten stehen. Und wenn sie dieses Bild hinbekommt und wir wieder ein einheitliches Bild abgeben gegenüber der Außenwelt, den Medien, der Bevölkerung, dann können wir auch wieder uns stabilisieren. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gregor Gysi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der Linken-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi bescheinigt seiner Partei, vor der Wahl ein wirres Bild abgegeben zu haben, etwa beim uneinheitlichen Abstimmungsverhalten zu Afghanistan. Die Öffentlichkeit brauche Klarheit, was in der Partei Mehrheitsmeinung sei und was Minderheitsmeinung, sagte Gysi im Dlf.
"2021-10-02T08:15:00+02:00"
"2021-10-03T09:17:13.367000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gregor-gysi-ueber-die-linke-man-weiss-gar-nicht-wofuer-die-100.html
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Prävention heißt, Kinder stark und selbstbewusst machen
In Prävention-Workshops lernen Schüler, dass sie "Nein" sagen sollten, wenn eine andere Person eine Grenze überschreitet (imago stock&people) "Wir haben festgestellt, dass über diese Information hinaus eigentlich gar nichts passiert ist. Wir halten es für erforderlich, dass in den Schulen für diese Arbeit auch Zeitressourcen zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, dass Kolleginnen und Kollegen, die das zu ihrer Herzensangelegenheit machen, dass die dafür auch Anrechnungsstunden bekommen. Das ist aber überhaupt gar nicht passiert", sagt Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW. Das Landesschulministerium in NRW bestätigt diese Einschätzung sogar und weißt die Verantwortung für die Art der Prävention den Schulen zu. Aus dem Ministerium heißt es: "Die Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" bietet Informationen und Hilfestellungen, damit die Schulen Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt erarbeiten können. Die Schulen in NRW entscheiden in eigener Verantwortung, welche Projekte sie zu dem Thema umsetzen möchten", so Ministeriumssprecher Moritz Börner. Schulen sollten Ansprechperson benennen Das Land hat keine zusätzlichen Stellen in den Schulen geschaffen oder Gelder vor Ort bereitgestellt. Genau das wird auch von der bundesweit bekannten Präventionsstelle "Zartbitter" in Köln scharf kritisiert. Andere Bundesländer, wie Bremen, hätten im Gegensatz zu NRW in die Kampagne tatsächlich investiert. Auch die Lehrergewerkschaft GEW sieht hier das größte Problem. "Ganz konkret stellen wir uns vor, dass in den Schulen eine Ansprechperson gibt, das klar ist, wenn Schülerinnen und Schüler sich belästigt fühlen, dass sie wissen, wen sie sich wenden können." Immerhin gibt es trotzdem Schulen in NRW, die solche Anlaufstellen für Schüler eingerichtet haben. Aus Eigenantrieb, abseits der großen Kampagne. Eine dieser engagierten Schulen ist in Lindlar, einer kleinen Gemeinde im Bergischen Land. Stefan Wittkampf leitet hier eine Grundschule. Für seine Schüler gibt es jedes Jahr Workshops oder Theaterstücke, die er zusammen mit der Beratungsstelle "Zartbitter" organisiert. "Die Kinder der zweiten Klassen, haben ein Programm durchlaufen, Mut tut gut, heißt das. Da bekommen die Kinder drei Tage in spielerischen Workshops vermittelt, dass sie Rechte haben, wie man sich schützen kann", erzählt Stefan Wittkampf. Kinder lernen, eigenen Grenzen aufzuzeigen In dem Kurs lernen die Kinder laut "Stopp" zu sagen, wenn ihnen ein Kind oder ein Erwachsener zu nahe kommt. Auch der achtjährige Philipp hat den Workshop besucht. "Wir haben gelernt, dass wir nicht so "He he, Stopp…" sagen sollen, sondern man mit einem ernsten Gesicht Stopp sagt. Weil man nämlich lacht, dann denkt der andere "hä, der findet das doch witzig". Dann macht er weiter." Philipps Klasse hat außerdem ein Theaterstück angeschaut. In dem Stück spielen die Schauspieler "Arzt und Patient". Auf der Bühne wird klar gesagt, dass kein Kind dem anderen etwas in den Po, die Scheide oder in die Nase stecken darf. Und auch, dass die Kinder "Nein" sagen sollten, wenn ein anderes Kind eine Grenze überschreitet, erklärt die siebenjährige Sophia. "Da ging’s um drei Kinder, die waren im Kindergarten. Da haben die mit ihren Freunden gespielt. Und da wollte dann auch ein Großer mitspielen. Und der wollte immer bestimmen und seinen Penis zeigen und das wollten die nicht und dann haben die das der Kindergartenerzieherin gesagt. Dann hat die das mit dem abgeklärt und dann hat er das auch nicht mehr gemacht." Prävention leider noch kein Standard In der Präventionsarbeit gehe es besonders darum, die Kinder stark und selbstbewusst zu machen, sagt Schulleiter Wittkampf. So könnten die Kinder klar sagen, was sie wollen. "Dass dann Kinder kommen und sagen: Frau Lehrerin, das und das ist mir passiert. Ich will das nicht und das andere Kind hat nicht gehört. Das heißt, die Kinder fordern dann von den Erwachsenen Hilfe und Unterstützung ein", sagt Wittkampf. So viel Präventionsarbeit ist allerdings kein Standard an NRWs Schulen. Die lehrernahen Gewerkschaften sagen, vielen Schulen fehle dafür das Geld dafür. Das kann der Zweitklässler Philipp nicht verstehen. Er findet, alle Lehrer und Schüler sollten Workshops und Theaterstücke gegen sexuelle Gewalt besuchen. "Dann würden die Erwachsenen nämlich auch mal sehen, dass man dann auch aufhört. Also, dass man dann nicht direkt weitermacht: der ist ja eh kleiner als ich. Dass man dann auch aufhört."
Von Meriem Benslim
Handyfotos aus der Umkleide, begrapschen in der Klasse - sexuelle Gewalt macht vor Schulen nicht Halt. Damit Schulen mehr Präventionsarbeit leisten können, wurde in vielen Bundesländern Infomaterial verschickt. Einige Schulen haben mittlerweile Anlaufstellen für Schüler eingerichtet, doch vielen fehlt das Geld.
"2018-11-06T14:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:19:14.537000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/initiative-gegen-sexuelle-gewalt-praevention-heisst-kinder-100.html
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Am Pult der Zeit
Bevor Jonathon Heyward Dirigent wurde, war er Cellist und passionierter Kammermusiker. Diese frühe Prägung beeinflusst seine dirigentische Arbeit mit Orchestern bis heute. (Laura Thiesbrummel) Vorgezeichnet war sein Weg als Dirigent nicht. Den ersten Kontakt mit klassischer Musik hatte Jonathon Heyward in der Schule. Ein Schock, als er entdeckte, wie essenziell Mozart und Mahler für ihn sind, sagt der Sohn einer alleinerziehenden Mutter mit osteuropäischen Wurzeln und eines Vaters aus Harlem heute. Per Zufall ans Pult Jonathon Heyward lernte Cello, spielte Kammermusik. Ein Zufall wollte, dass er das Schulorchester dirigierte. Der erste Blick auf die Orchesterpartitur war für ihn ein magischer Moment. Und so tauschte Jonathon Heyward den Cellobogen gegen den Dirigentenstab. Inzwischen ist der selbstbewusste 28-jährige Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie. Im Herbst tritt er die Nachfolge von Marin Alsop an und wird neuer Musikdirektor des Baltimore Symphony Orchestra, als derzeit einziger US-Amerikaner an der Spitze eines großen amerikanischen Orchesters. Führungsstil Richtung Vielfalt Jonathon Heyward sucht den Austausch mit dem Orchester, dem Publikum, mit Kindern und Jugendlichen. Als Person of colour setzt er sich für mehr Vielfalt und Inklusion im Klassikbetrieb ein. Was ihn erdet, sind lange Spaziergänge in der Natur und Meditation.
Am Mikrofon: Sylvia Systermans
Zuhören ist für ihn das Gebot der Stunde. Nicht nur der Musik, sondern auch in der Gesellschaft, meint Jonathon Heyward, der neben seiner Stelle bei der Nordwestdeutschen Philharmonie im Herbst auch Chefdirigent des Baltimore Symphony Orchestra wird.
"2023-06-13T22:05:00+02:00"
"2023-06-13T15:57:42.075000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dirigent-jonathon-heyward-100.html
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Ein musikalisches Schattenspiel
Auf einer dunklen Bühne steht ein altmodischer Musik-Pavillon, in dem ein kleines Orchester sein Quartier aufgeschlagen hat. Nur der Platz am Piano bleibt bis zum Beginn der Vorstellung leer. Es ist der Platz des Meisters. Der Platz von Chilly Gonzales, der wie ein Dirigent auf die Bühne kommt und unter tosendem Applaus zu spielen beginnt. Bereits während der ersten Takte der Partitur wirft das Licht plötzlich einen überlebensgroßen Schatten. Es ist der Schatten von Chilly Gonzales, der in Kampnagel einmal nicht als Showmaster, sondern als seriöser Pianist auftritt. Eine neue Seite dieser Kunstfigur, die Jason Charles Beck, wie Gonzales mit bürgerlichem Namen heißt, geschaffen hat. Und während man noch überlegt, ob jetzt der Schatten oder Gonzales selber dieses geisterhafte Orchester antreibt, entsteht vor unseren Augen eine Welt, die an das Set eines Stummfilms erinnert. Rechts und links, neben Gonzales Konzert-Pavillon, sind zwei Leinwände aufgebaut. Auf denen wird, erst als Schattenspiel, dann auch mit Menschen aus Fleisch und Blut, Andersens Märchen zu einer greifbaren Wirklichkeit. Andersens Märchen ohne Worte Jene Geschichte von einem Gelehrten, der seinen Schatten erst verliert, und dann, als dieser eines Tages wieder vor seiner Tür steht, von ihm beherrscht wird. Beherrscht von jener dunklen Seite seiner Persönlichkeit, die, ganz in Schwarz gekleidet, fast genauso aussieht, aber doch erkennbar von einer Frau getanzt wird. Schemenhafte, weibliche Formen, Sinnlichkeit und Sex, die verdrängten Sehnsüchte eines Menschen, der sich lange vergeblich bemühte, diese Leidenschaften von sich abzuspalten. Und jetzt von ihnen beherrscht wird. Kein Wort sprechen diese Figuren und doch meint man in ihren ausdrucksstarken Gesten die Worte zu hören, die als ornamentierte Tafeln auf den beiden Leinwänden eingeblendet werden. Die Realitäten verschwimmen zwischen dem Kampf des Schattens mit seinen Herren vor dem Musikpavillon und den Schattenspielern hinter den Leinwänden. Mit Gonzales Schatten-Komposition verhält es sich wie mit dem von ihm vor kurzem veröffentlichtem Übungsbuch für Klavierschüler. Nichts von dem, was wir auf der Bühne hören und sehen, ist wirklich neu und unbekannt, aber die Komposition der bekannten Elemente versetzt den Zuschauer in ein rauschhaftes und auch ein wenig gruseliges Vergnügen. Wo sitzt mein eigener Schatten, fragt sich unwillkürlich, wer den Kampf des Gelehrten mit jener schwarz gekleideten Gestalt verfolgt, die all seine unterdrückten Sehnsüchte verkörpert. Und damit so vital und lebensfreudig aussieht, dass die angebetete Prinzessin viel lieber mit dieser Version des eigenen Selbst einen erotischen Walzer tanzt, als mit dem braven Bücherfreund. Ob damit wie im Märchen das Böse triumphiert, lassen Chilly Gonzales und sein Regisseur Adam Traynor bewusst offen. Es könnte in ihrer Version auch sein, dass diese vitale, weibliche Schattentänzerin tatsächlich die lebensfähigere Version des blutleeren Wissenschaftlers ist. Und hier beide Teile eines Ich zu einer neuen, starken Persönlichkeit zusammenfinden. Als Gonzales jedenfalls ganz zum Schluss den Musikpavillon verlässt und mit einer Art Handpiano durch diese faszinierende Geisterwelt schreitet, wirft sein massiger Körper auf der Bühne einen großen, dunklen Begleiter. Und wir wissen immer noch nicht, ob die Kunstfigur Chilly Gonzales nun der Herr oder nur sein überlebensgroßer Schatten ist.
Von Alexander Kohlmann
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"2014-08-07T17:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:57:17.023000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chilly-gonzales-ein-musikalisches-schattenspiel-100.html
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Italiens Migrationspolitik auf die harte Tour
Italienischer Hardliner: Innenminister Matteo Salvini (imago / Xinhua) Matteo Salvini, Italiens neuer Innenminister, ist kein Diplomat. Dabei hat er sich fest vorgenommen, weitere Verträge mit Ländern auszuhandeln, aus denen Migranten nach Italien kommen, zum Beispiel mit Tunesien. Doch schon gleich nach Amtsantritt hat er dort mit markigen Worten für Verstimmung gesorgt: Tunesien würde willentlich Strafgefangene exportieren, sagte Salvini. Tunesiens Regierung hat daraufhin den italienischen Botschafter einbestellt. Vielleicht muss Salvini erst noch aus dem Modus des Wahlkämpfers in den des Ministers kommen – andererseits: mit solchen Aussagen ist ihm in diesen Tagen sogar auf Sizilien der Applaus gewiss: "Für die illegalen Migranten ist das schöne Leben vorbei" "Wichtig ist, dass für die illegalen Migranten weniger Geld ausgegeben und weniger Zeit investiert wird. Für die illegalen Migranten ist das schöne Leben vorbei. Bereitet Euch darauf vor, die Koffer zu packen!" In der "Baobab Experience", einem improvisierten Flüchtlingslager gleich neben einem der großen Bahnhöfe von Rom, haben die meisten gar keine Koffer. Rund 300 Menschen, meist ohne Papiere, leben hier in Zelten, die die Pfadfinder gebaut haben. Sie stehen auf Palletten, damit der Regen nicht alles wegschwemmt. Matteo Salvini hat öfter gesagt, bei solchen Orten helfe nur die Planierraupe, dabei wurde das Lager schon 20 Mal geräumt, musste immer wieder umziehen. Aber für die, die hier wohnen, ist das ein trotzdem ein sicherer Ort. Viele sind auf der Durchreise, es gibt einige sogenannte "Dublinati", die wegen des Dublin-Abkommens aus Ländern wie Deutschland zurückgeschickt wurden nach Italien und die nun wieder hier gestrandet sind. Andrea Costa, der eigentlich historische Fenster restauriert aber hier alles koordiniert, sagt: viel schlimmer könne es mit dem Innenminister Salvini auch nicht werden: "Diese Aussagen beunruhigen uns. Aber ich fürchte, das ist nur eine Verschlechterung einer Migrationspolitik, die schon in den letzten Jahren falsch war, sowohl in Europa als auch in Italien. Diese Menschen hier leben auf der Straße – nur Freiwillige helfen ihnen, und das schon seit drei Jahren, als die Lega noch nicht an der Regierung war." Er schürt Ängste vor Verbrechen, Terror und Krankheiten Salvini will jetzt Milliarden einsparen, 500 bis 600.000 Menschen abschieben. In jeder Region soll es ein Abschiebezentrum geben. Er kriminalisiert hunderttausende, schürt Ängste vor Verbrechen, Terror und Krankheiten. Andrea Costa, der erlebt wie in seinem Zeltlager Menschen aus ganz verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Religionen meist friedlich zusammenleben, sagt, Salvini habe nichts verstanden: "Wir fänden es gut, wenn die Politik verstehen würde, dass Investitionen in die Aufnahme von Migranten die beste Art sind, um in Sicherheit zu investieren. So nimmt man dem organisieren Verbrechen seine Handlanger. Mafia, Camorra, 'Ndrangheta, die in Italien so mächtig sind, nutzen diese Menschen, denn wenn Du keine Papiere hast, dann bekommst Du nur bei der Mafia Arbeit. Wer in die Aufnahme investiert, entzieht auch dem Fundamentalismus den Boden und dem potentiellen Terrorismus." Nie hatten sie hier so viele Menschen in den Zelten, wie in diesem Winter. Auch deshalb ist sich Andrea Costa in einem Punkt mit Matteo Salvini einig: Europa muss gemeinsam handeln. Allerdings nicht so, wie Italiens neuer Innenminister das will – der die EU vor dem heutigen Treffen der Innenminister unter Druck setzt: "Anstatt Italien zu helfen, wollen sie uns noch mehr belasten und uns für bis zu zehn Jahre zehntausende weitere Migranten schicken. Wir sagen nein zur Reform des Dublin-Abkommens und der Asylpolitik. Denn so werden die Mittelmeerländer Italien, Spanien, Griechenland, Zypern und Malta bestraft und allein gelassen. Es braucht eine europäische Antwort." Abschottung, Abschreckung und Abschiebung Für den neuen italienischen Innenminister Salvini ist klar, wie diese Antwort aussehen muss: in Form von Abschottung, Abschreckung und Abschiebung. Dabei ist Folter in Libyen, von wo aus immer noch die meisten aufbrechen, an der Tagesordnung. Es gibt Berichte von regelrechten Hinrichtungen. Und es gibt auch weitere Tote auf dem Mittelmeer. Gerade erst am Wochenende war ein Schiff gesunken – die Internationale Organisation für Migration befürchtet, dass über 110 Menschen ertrunken sein könnten. Aufgebrochen waren sie in Tunesien, also aus dem Land, dem Salvini unterstellt, es exportiere Strafgefangene.
Von Jan-Christoph Kitzler
Italiens neuer Innenminister Matteo Salvini will Milliarden Euro in der Flüchtlingspolitik einsparen. Bis zu 600.000 Einwanderer sollen das Land verlassen, jede Region soll ein Abschiebezentrum erhalten. Das Land muss sich auf einen harten Migrations-Kurs einstellen.
"2018-06-05T05:16:00+02:00"
"2020-01-27T17:55:26.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-innenminister-salvini-italiens-migrationspolitik-auf-100.html
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Wie Erdogan Libyen dominieren will
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Khalid Al-Mishri, Vorsitzender des Hohen Staatsrats von Libyen in Tripolis am 17.06.2020 (AFP/Türkisches Außenministerium) Spontaner Ausflug nach Libyen: Zwei türkische Minister und der Geheimdienstchef steigen aus dem Auto. Sie werden herzlich empfangen, kein Wunder – der libysche Premierminister Fayez al-Sarraj hat es der Türkei zu verdanken, dass die Truppen des abtrünnigen Generals Chalifa Haftar zurückgedrängt werden konnten. Die militärische Unterstützung ist aber kein alleiniges Zeichen islamsicher Nächstenliebe unter Muslimbrüdern. Worum es geht, fasste der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach dem Besuch zusammen: "Die Geschäfte türkischen Firmen wurden wegen des Krieges unterbrochen. Es gibt aber Projekte und Investitionen, die abgeschlossen werden müssen." Konkret ging es natürlich nicht nur um wirtschaftliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit. Die Türkei möchte in Libyen nämlich einen Luft- und einen Marine-Militärstützpunkt errichten. Russland will dasselbe und dürfte sich über die Reise der türkischen Delegation nach Libyen nicht gefreut haben. Zumal ein paar Tage vorher ein Besuch zweier russischer Minister in der Türkei spontan abgesagt wurde. Einer der Gründe: Die Türkei habe sich geweigert, ihren Angriff auf die wichtige Hafenstadt Sirte im Osten des Landes zu unterbrechen. Sirte liegt in gerader Linie etwa 300 km entfernt von al-Dschufra im Landesinneren. Das ist der Ort, an dem Russland gerne einen Militärstützpunkt hätte, erklärt Ercan Çitlioğlu, Sicherheitsexperte vom Zentrum für Strategische Forschung an der Baskent Universität in Istanbul. Für ihn ist klar: Fällt Sirte, fällt auch al-Dschufra. "Russland will den Angriff der nationalen Einheitsregierung auf Sirte stoppen, weil es eine dauerhafte Basis in dieser Region bekommen möchte. Deswegen will Russland auch eine Waffenruhe. Die Türkei will ihre gewonnenen Vorteile aber nicht verlieren und eine vorübergehende Waffenruhe würde nur den Streitkräften Haftars helfen, sich zu erholen. Deswegen lehnt die Türkei eine Waffenruhe ab." "Indirekter Krieg" zwischen Russland und der Türkei Für Russland und die Türkei stehe in Libyen die nationale Sicherheit auf dem Spiel, betont der Experte. Damit befinden sich die beiden Mächte in Libyen – und zeitgleich im syrischen Idlib – im Krieg miteinander, aber nicht direkt und offiziell: Die Auseinandersetzung werde vor allem über die private russische Wagnergruppe und syrische Söldner ausgetragen. Und sie sei auch nicht auf Libyen begrenzt, meint Çitlioğlu: "Wenn zwischen Russland und der Türkei kein Abkommen über Sirte und Alcufra in Libyen zustande kommt, hat das negative Auswirkungen auf Syrien und auf Idlib. Denn Russland hat in Syrien Marine- und Luftwaffenbasen. Wenn es die auch in Libyen bekommt, kann es das gesamte Mittelmeer kontrollieren." Der Krieg in Libyen ist nämlich auch Ausdruck des Kampfes um die Hoheit im Mittelmeer. Vor der griechischen Insel Kreta und vor Israel gibt es mehrere Erdgasfelder. Israel will das Gas über eine Pipeline in etwa 3.000 Meter Tiefe nach Europa bringen. Über den Bau gibt es einen Vertrag zwischen Griechenland, Zypern und Israel. Vorher haben sich die drei Länder plus Ägypten, Jordanien und Palästina zu einem Gas Forum zusammengetan. Nicht mit dabei ist in jedem Fall die Türkei. Um nicht völlig aus dem Mittelmeer, zu dem die Türkei eine lange Küste hat, ausgegrenzt zu werden, schloss das Land mit Libyen ein Seerechtsabkommen. "Das gibt der Türkei auch ein Mitspracherecht in den Regionen. Wenn wir dieses Abkommen nicht unterzeichnet hätten, hätte die Türkei keinen Einfluss auf die Route der Pipeline." Die Türkei will zum Gashandelsplatz in der Region werden, sie will mitreden und Kontrolle ausüben. Zwar wird das türkisch-libysche Abkommen als völkerrechtswidrig eingeschätzt, ernste Konsequenzen hatte das aber bisher nicht. Der Wettbewerb um Energiereserven Abseits von juristischen Streitigkeiten ist die Situation gerade nicht besonders vorteilhaft: Die Felder vor Zypern, von denen oft behauptet wird, dass die Türkei um ihretwillen sich in Libyen einmischt, sind viel zu klein und unwirtschaftlich, um den Erdagasstreit zu rechtfertigen. Anders die Vorkommen vor Israel. Allerdings kostet der Bau der Pipeline ein Milliardenvermögen. Außerdem würde das Gas über diesen Weg aus komplizierten technischen Gründen am Ende an Wert verlieren. Mit anderen Worten: Die Türkei auszuschließen ist für vielleicht alle Beteiligten, auch für Europa, sehr teuer und wenig effizient. Das dürfte auch Deutschlands Zurückhaltung im Mittelmeerstreit erklären, genauso wie in Libyen. Ein Sieg Russlands dort würde ebenfalls Nachteile für Europa, etwa in Form von mehr Abhängigkeit von einem für die EU ohnehin schwierigen Partner bedeuten – militärisch, wie geo- und energiepolitisch. Die verlässlichere Variante dürfte die Türkei sein. Und die hat in Libyen noch ein weiteres Interesse, sagt der Sicherheitsexperte Çitlioğlu: "Libyens größter Reichtum ist Öl. Die Türkei hat kein Öl. Daher denke ich, dass die militärischen und politischen Kooperationen eine Infrastruktur schaffen werden, auch um wirtschaftlich zusammenzuarbeiten." Davon könnte zum Beispiel auch Deutschland profitieren. Çitlioğlu schmunzelt und fügt hinzu: Auch Deutschland habe keine eigenen Ölvorkommen.
Von Marion Sendker
Verschiedene Staaten versuchen im Bürgerkriegsland Libyen Einfluss zu gewinnen - so auch die Türkei. Sie hat die international anerkannte Regierung militärisch unterstützt. In dieser Woche haben türkische und libysche Regierungsvertreter über Kooperationen in den Bereichen Öl und Infrastruktur gesprochen.
"2020-06-19T09:10:00+02:00"
"2020-06-23T09:21:09.619000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-geopolitik-wie-erdogan-libyen-dominieren-will-100.html
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Erdoğans Arm soll draußen bleiben
Islamischer Religionsunterricht an einer Grundschule (picture alliance / dpa / Oliver Berg) Freitagvormittag in der dritten Klasse der Goethe-Schule im Wiesbadener Stadtteil Biebrich. Zehn Kinder aus fünf verschiedenen Ländern haben sich hier zum islamischen Religionsunterricht zusammengefunden. Das Fach, das in deutsche Sprache unterrichtet wird und sich großer Nachfrage erfreut, gilt unter Experten als wichtige Stütze bei der Integration muslimischer Schülerinnen und Schüler in die hiesige Gesellschaft. So weist die Koordinatorin für den islamischen Religionsunterricht im hessischen Kultusministerium, Nurgül Altuntas, daraufhin, dass die Kinder hier oft zum ersten Mal die Zusammenhänge und Hintergründe ihres Glaubens kennenlernten. "Es ist eine reflektierte religiöse Bildung der muslimischen Schülerinnen und Schüler. Dass sie ganz genau sagen können: Das ist der politische Islam. Das ist der Islam, den wir ausüben zuhause. Und das ist der Islam, den die Gesellschaft in verschiedenen Facetten, in verschiedenen Formen ausübt. Weil es gibt nicht den einen Islam." Ähnlich äußert sich Musa Bagrac, der Vorsitzende des Verbandes der Islamlehrerinnen und -lehrer. Für ihn ist der Unterricht eine ebenso wichtige wie notwendige Ergänzung zum religiösen Leben in den Moscheen. Denn dort, so sagt er, lernten die Kinder zwar die rituelle Seite ihres Glaubens kennen. Das eigenständige religiöse Denken und Argumentieren aber würde in Moscheen so gut wie gar nicht gefördert. Und genau dies sei die zentrale Aufgabe des Islamunterrichts in der Schule. "Darin sollen Schüler lernen, verantwortlich mit ihrem Glauben umzugehen und auch mit anderen Lebensweisen, Weltanschauungen und Religionen. So lernen Schüler nicht nur die Vielfältigkeit des eigenen Glaubens kennen, sondern auch mit dieser Vielfältigkeit umzugehen. Und wenn sie das einmal gelernt haben, sind sie dann auch eher bereit, mit der Vielfalt der anderen Religionen und Weltanschauungen klarer umzugehen." Hessen bietet bekenntnisorientierten Islamunterricht Der Religionsunterricht für muslimische Schülerinnen und Schüler, den das Bundesland Hessen zurzeit anbietet, nennt sich "bekenntnisorientiert". Damit hat Hessen bundesweit eine Sonderrolle. Denn dort hat der Islamunterricht denselben Status und dieselben Rahmenbedingungen wie der Religionsunterricht für evangelische und katholische Schulkinder. Seine rechtliche Grundlage findet sich im Grundgesetz – und zwar in Artikel 7, Absatz 3. Dort heißt es: "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen (…) ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt." Da der Staat weltanschaulich neutral ist, braucht er für die inhaltlichen Fragen des Religionsunterrichts Ansprech- und Kooperationspartner in Form der Religionsgemeinschaften. Auf christlicher Seite sind dies die evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümer. Sie erteilen den Religionslehrerinnen und -lehrern, die in ihrem Namen unterrichten, auch die jeweilige kirchliche Unterrichtserlaubnis. Wer diesen Part auf islamischer Seite übernehmen kann und soll, ist umstritten. Bislang nämlich gibt es dort kaum offiziell von den Bundesländern anerkannte Religionsgemeinschaften. Denn die Kriterien, die eine Religionsgemeinschaft ausmachen, griffen hier nur bedingt, sagt Georg Wenz, der Islambeauftragte und stellvertretende Akademiedirektor der evangelischen Kirche der Pfalz: "Eine Religionsgemeinschaft muss eine gewisse Zeit schon existieren. Das tut der Islam. Es muss absehbar sein, dass durch die Mitgliederanzahl auch noch eine gewisse weitere Phase diese Religion existiert. Das dürfte beim Islam auch der Fall sein. Allerdings ist die Frage der Verfasstheit, also, wie kann eine Religion, die sehr den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, wie der Islam, eine Organisationsform kreieren, die dann dem deutschen Religionsrecht gerecht wird." Auch wenn es in kaum einem Bundesland eine offiziell anerkannte islamische Religionsgemeinschaft gibt, haben sich in den vergangenen Jahren die großen islamischen Verbände – also Ditib, der Zentralrat der Muslime, der Islamrat und der Verband der islamischen Kulturzentren – stets selbst so bezeichnet. So betont Zekeriya Altug, der Außenbeauftragte der Ditib: "Wenn eine Religionsgemeinschaft sich so tituliert, sich so aufstellt, und vom Selbstverständnis her eine Religionsgemeinschaft ist, dann ist sie auch als eine solche anzusehen. Der Staat bescheidet eigentlich nur in dem Bereich, wo er mit dieser Religionsgemeinschaft zusammenarbeiten soll, ob er diese auch als Partner für sich sieht." Das Ditib-Logo an der Zentralmoschee in Köln. (dpa / Oliver Berg) Rechtlicher Status als Religionsgemeinschaften umstritten Dennoch ist es umstritten, ob die islamischen Verbände wirklich Religionsgemeinschaften sind. Es ist nämlich ungeklärt, für wen sie eigentlich sprechen. Betrachtet man die Zahl ihrer Mitglieder, repräsentieren sie maximal ein Viertel der in Deutschland lebenden Muslime. Gleichwohl behaupten sie, für die Mehrheit zu sprechen. Ihr Argument hierfür lautet, dass – auch wenn oft nur der Vater einer Familie eingetragenes Mitglied sei – eigentlich alle Familienangehörigen mitzuzählen seien. Der Göttinger Verfassungsrechtler Hans Michael Heinig hält das für problematisch: "Das Familienoberhaupt kann nicht den ganzen Stamm einer Religionsgemeinschaft zugehörig erklären. Das geht mit unseren Rechtsprinzipien eben nicht. Und wir brauchen hinreichende Klarheit, dass für den Staat als Gegenüber klar ist, wer spricht für wen mit hinreichender Beglaubigung. Und darin sehen Staat und staatliche Gerichte bei einigen Verbänden Probleme." Es herrscht also eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Eigeneinschätzung der islamischen Verbände und ihrem offiziellen rechtspolitischen Status. Hinzu kommt, dass die meisten Verbände den Großteil ihres Geldes sowie ihre Imame aus dem Ausland beziehen. Das nährt den Zweifel, ob sie sich wirklich mit Deutschland und dem Grundgesetz identifizieren. Deshalb betont Musa Bagrac, der Versitzende des Verbandes der Islamlehrerinnen und -lehrer: "Bei keinem dieser Verbände - egal, ob konservativ oder liberal - handelt es sich um eine rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes. Das ist das jetzige Problem, wovor wir stehen. Wenn islamische Verbände Geld und Personal aus dem Ausland bekommen, dann sind sie auch offen für ausländische Einflüsse. Und wenn wir als hiesige Gesellschaft einen islamischen Religionsunterricht für junge Muslime in Deutschland haben wollen, der auch noch ihre Beheimatung hier in Deutschland stärken soll, dann wird man auch verständlicherweise von islamischen Verbänden erwarten dürfen, dass sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes aufhalten und deutschlandorientiert handeln. Und nicht im Auftrag eines ausländischen Landes." Dass sie in den meisten Bundesländern bislang nicht als offizielle Religionsgemeinschaft anerkannt sind, ärgert die islamischen Verbände. Deshalb erheben sie – mit Blick auf den Religionsunterricht und seine rechtlichen Rahmenbedingungen – immer wieder den Vorwurf, die Politik fordere vom Islam in Deutschland eine Art Verkirchlichung. Das sei aber nicht möglich, da man ganz andere Strukturen habe als die christlichen Religionsgemeinschaften. Bekim Agai, Professor für islamische Theologie an der Uni Frankfurt, kann diese Argumentation durchaus nachempfinden. "Die Frage ist: Geben Muslime bestimmte Formen ihrer Selbstorganisation auf und gehen in organisatorische Strukturen, die viel eindeutiger, aber damit auch viel hierarchischer sind. Und das Andere ist natürlich ein bisschen die Frage: Müssen wir uns dann auch gesellschaftlich so aufstellen wie Kirchen, und entspricht das unserem Selbstverständnis. Und das ist eine offene Frage." Islamischer Religionsunterricht (picture alliance / dpa / Roland Holschneider) Unklar, wer Ansprechpartner des Staats ist Dennoch bleibt ungeklärt, wer auf islamischer Seite in verfassungsrechtlich adäquater Weise Ansprechpartner des Staates bei der Gestaltung des Religionsunterrichts sein kann. Denn die Schulbehörden sind laut Grundgesetz auf diese Instanzen angewiesen. In den meisten Bundesländern aber fehlen sie. Lediglich in Hessen gibt es zwei Verbände, die als Religionsgemeinschaften anerkannt sind und somit über die Inhalte und Lehrbefugnisse für den konfessionellen Islamunterricht entscheiden können. Es ist zum einen die Ditib, also der deutsche Arm des türkischen Religionsamtes Diyanet. Zum anderen ist es die Ahmadiyya-Muslim-Jamaat, eine kleine Gemeinschaft pakistanischer Herkunft. Während die Zusammenarbeit mit der Ahmadiyya seit der Einführung des Fachs im Jahr 2013 weitgehend unproblematisch verläuft, ist die Zusammenarbeit mit Ditib ins Stocken geraten. Dies liege vor allem am starken politischen Einfluss, den die türkische Regierung auf den Verband ausübe, erläutert Susanne Schröter, die Direktorin des Forschungszentrums Globaler Islam an der Uni Frankfurt: "Die Ditib hat sich unter Erdogan ganz stark zu einem Instrument, einem politischen Instrument, der türkischen Regierung entwickelt. Wenn Sie in die Satzung schauen, dann sehen Sie, dass Diyanet-Funktionäre in allen wichtigen Gremien eine erschlagende Präsenz haben, so dass keinerlei Entscheidung getroffen werden kann, die Diyanet nicht gefällt. Dazu kommt die bekannte finanzielle Abhängigkeit. Und wir sehen es auch ideologisch: Wichtige Themen, die der türkischen Regierung jetzt am Herzen liegen, die finden Sie auch immer wieder als Themen der Freitagspredigten." Zudem habe der Verband noch Anfang des Jahres bei einer internationalen Islamkonferenz, die er zusammen mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet ausrichtete, zu verstehen gegeben, wie er zu Kooperationen mit anderen stehe – erklärt Georg Wenz von der Evangelischen Akademie der Pfalz: "Es wurde ein Dokument verabschiedet, das ganz eindeutig formuliert, dass man sich allgemeinen Integrationsprojekten nicht mehr anschließen möchte, sondern einen eigenen islamischen Beitrag in die Gesellschaft hineintragen möchte. Da muss man jetzt mit Ditib ins Gespräch kommen, was sie darunter versteht." Diskussion um die Ausrichtung von Ditib Dass die Türkei für die inhaltliche Ausrichtung von Ditib wichtiger sei als Deutschland, verneint der Islamverband. Gleichwohl sagt sein Außenbeauftragter, Zekeriya Altug: "Wir haben eine religiöse Zusammenarbeit mit der Diyanet. Sie ist sogar unsere theologische Referenz." Und ergänzt mit Blick auf den Vorwurf, die Ditib habe auch politische Verbindungen nach Ankara: "Dass alle Untersuchungen, die über Ditib bisher gelaufen sind, dort tatsächlich keine politische Einflussnahme direkter Art sehen." Dennoch ist die hessische Landesregierung skeptisch. Denn sie möchte nicht, dass der umstrittene türkische Präsident Erdogan quasi in ihre Klassenzimmer hineinregiert. Daher hat sie die Ditib aufgefordert, sich neu auszurichten. Falls der hessische Landesverband künftig nicht autonom handle – also ohne politische und finanzielle Abhängigkeit von der Türkei – könne der Islamunterricht in seiner jetzigen Form nicht weiterexistieren, unterstreicht Nurgül Altuntas, die Koordinatorin für den islamischen Religionsunterricht. Zekeriya Altug, Außenbeauftragter der Ditib (picture alliance / /dpa/ Soeren Stache) "Wir wünschen uns von Ditib erstens, dass die Satzungsänderung vorgenommen wird in Bezug auf die Unabhängigkeit von der türkischen Religionsbehörde, zweitens, dass professionelle Verwaltungsstrukturen aufgebaut werden und drittens ein Mitgliedsregister vorhanden ist." Ob die Ditib den Forderungen der hessischen Landesregierung nachkommt, ist momentan noch offen. Das Wiesbadener Kultusministerium jedenfalls will bis zum Ende dieses Jahres bekanntgeben, ob das bisherige Modell weiterlaufen kann oder nicht. Für alle Fälle aber, so der stellvertretende Pressesprecher Philipp Bender, arbeite man bereits an einem Plan B: "Wir sind verhalten skeptisch, ob Ditib dieser Partner noch sein kann. Wir wollen aber auch keine voreiligen Urteile jetzt an dieser Stelle fällen. Aber wir wollen auf jeden Fall uns anschauen, ob eine alternative Unterrichtsform funktionieren kann. Deswegen testen wir es an einigen Schulen. Und das kann dann auch der Unterricht sein, der dann im Schuljahr 2020/21 den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht mit Ditib ersetzt." Religionskundlicher Unterricht als Alternative in Hessen Das neue Modell wäre dann kein bekenntnisorientierter Unterricht, bei dem sich Staat und Religionsgemeinschaften ergänzen, wie es Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3 vorsieht, sondern ein religionskundlicher, der allein vom Kultusministerium verantwortet wird. Damit würde der Großteil des Islamunterrichts in Hessen lediglich den Charakter eines Provisoriums bekommen, wie in anderen Bundesländern. So hat Bayern ebenfalls einen religionskundlichen Islamunterricht, dessen Verantwortung einzig in der Hand des Kultusministeriums liegt. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg versucht man zwar eine Art bekenntnisorientieren Islamunterricht anzubieten, greift jedoch mangels anerkannter islamischer Religionsgemeinschaften zu einem Ersatzkonstrukt. So entscheidet in Nordrhein-Westfalen über Unterrichtsinhalte und Lehrbefugnisse ab diesem Schuljahr eine sogenannte Kommission, in der die meisten islamischen Verbände vertreten sind. In Baden-Württemberg hat man – ebenfalls seit diesem Sommer – eine öffentliche Stiftung ins Leben gerufen, die die Position der fehlenden islamischen Religionsgemeinschaften übernehmen soll, sagt Michael Hermann, der Leiter des Bereichs Religionsangelegenheiten im Stuttgarter Kultusministerium: "In dieser Stiftung gibt es zwei Organe: einen Vorstand und eine Schiedskommission. Der Vorstand ist durch fünf muslimische Expertinnen und Experten besetzt, die durch die Verbände im Zusammenwirken mit dem Land benannt werden. Dieser Vorstand ist für alle Fragen der fachlichen Schulaufsicht zuständig. Die von den Entscheidungen Betroffenen haben die Möglichkeit eine innere, interne Gerichtsbarkeit anzurufen. Das ist die Schiedskommission, die aus drei besonders ausgewiesenen muslimischen Experten bestehen wird." Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Nordrhein-Westfalen gibt es ebenfalls Schwierigkeiten mit der Ditib. Hintergrund ist – wie in Hessen – die Abhängigkeit des Verbandes vom türkischen Religionsamt Diyanet und der Politik in Ankara. Ob sich diese Spannungen in absehbarer Zeit aus der Welt schaffen lassen, ist ungewiss. Denn die Forderungen der zuständigen Ministerien auf der einen sowie des Islamverbandes auf der anderen Seite klaffen erheblich auseinander. Dies wird deutlich, wenn Zekeriya Altug, der Außenbeauftragte der Ditib, sagt: "Unstrittig ist bei allen, dass die Ditib mittlerweile eine deutsche Religionsgemeinschaft, also eine Organisation in, aus und für Deutschland ist. Unstrittig ist auch, dass Ditib auf absehbare Zeit - und zwar noch eine sehr lange Zeit - auf die Zusammenarbeit mit der Diyanet angewiesen sein wird, weil wir die Strukturen und die Expertisen, die dort bestehen, in Deutschland noch aufbauen müssen. Und das wird noch Jahre und in einigen Bereichen Jahrzehnte brauchen. Und das schaffen wir bisher sehr gut." Ditib ist der größte Islamverband in Deutschland Gleichwohl dürfte es schwierig sein, die Ditib auf Dauer unberücksichtigt zu lassen. Denn sie betreibt nach eigenen Angaben über 900 Moscheen in Deutschland und ist somit der mit Abstand größte Verband innerhalb der islamischen Community. Die Gesamtzahl der Moscheen in Deutschland wird auf etwa 2.600 geschätzt. Diese Situation dürfte auch einen Einfluss auf ihre Rolle beim Islamunterricht haben. Andererseits aber scheint es für die meisten Muslime in Deutschland kaum eine Rolle zu spielen, welcher Verband – oder im Idealfall: welche Religionsgemeinschaft – Ansprechpartner beim Islamunterricht ist. Das ist die Erfahrung von Musa Bagrac, dem Vorsitzenden des Verbandes der Islamlehrerinnen und -lehrer: "Die Eltern gehen zwar in die Ditib-Moschee, Islamrat-Moschee, Milli-Görüs-Moschee und so weiter und sofort, aber letztendlich spielt das auf den islamischen Religionsunterricht bezogen überhaupt keine Rolle." Mittelfristig dürfte es deshalb für die großen islamischen Verbände – also für Ditib, den Islamrat, den Zentralrat der Muslime oder den Verband der islamischen Kulturzentren – von Vorteil sein, wenn sie sich bei der Organisation des islamischen Religionsunterrichtes zusammenschließen würden. Denn dadurch könnten sie ihrer Rolle als Ansprechpartner der Landesregierungen deutlich mehr Gewicht verleihen. Zudem dürfte es wenig Sinn machen, wenn künftig Islamunterricht von mehreren Verbänden parallel angeboten würde - zumal den Organisationen hierfür das nötige Personal fehlen dürfte. Deshalb sagt Georg Wenz von der Evangelischen Akademie der Pfalz: "Ich glaube, dass es notwendig ist, dass der innerislamische Diskurs endlich gefördert wird. Es gibt viel zu wenig Räume, in denen die unterschiedlichen Interessenslagen auf islamischer Seite in einen Austausch oder auch in einen Diskurs treten können. Und es wäre, glaube ich, politisch zu überlegen, ob man ein innerislamisches Gespräch auch fördern kann." Verbände agieren meistens alleine Momentan jedenfalls agieren die meisten islamischen Verbände noch weitgehend alleine. So haben beispielsweise in Nordrhein-Westfalen sowohl der Islamrat als auch der Zentralrat der Muslime auf ihre Anerkennung als Religionsgemeinschaft juristisch geklagt, und in Kürze steht die letztinstanzliche Entscheidung vom Oberverwaltungsgericht in Münster an. Schaut man in die Zukunft, so dürfte wohl noch ein langer und mitunter beschwerlicher Weg beschritten werden, bis das Fach Islam als bekenntnisorientierter Religionsunterricht standardmäßig angeboten werden kann. Bekim Agai, Professor für Islamische Theologie in Frankfurt, appelliert an den Konsenswillen aller Beteiligten: "Also an zwei Enden muss sich das aufeinander zu bewegen. Man kann Muslime nicht in zu starre Formen pressen, aber Muslime können eben auch nicht auf immer sagen: Ja, wir sind eben so ganz anders. Wir wissen aber auch nicht, wie wir damit umgehen, wenn wir sagen, wir wollen einen mehrheitsfähigen Islamunterricht haben." Es heißt also: Geduld und einen langen Atem haben bei der Installation eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichtes in den Kanon der Schulfächer. Entsprechend resümiert der Göttinger Staatsrechtler Hans Michael Heinig: Der Frankfurter Islamwissenschaftlet Bekim Agai (picture alliance / dpa / Boris Roessler) "Wir werden 20 bis 30 Jahre Krampf und Kampf vor uns haben auf diesem Feld. Mit kleinen Fortschritten und Rückschlägen. Das ist zu erwarten. Eine größere Dynamik wird es nach meiner Wahrnehmung erst geben, wenn wir eine andere Generation von Verbandsfunktionären haben und auch noch mal eine andere Bereitschaft im Politischen, auf staatlicher Seite neue Dynamiken zu entfalten. Beides ist im Moment nicht absehbar."
Von Ulrich Pick
Der islamische Religionsunterricht in deutschen Schulen steht vor einem Dilemma: Einerseits sollen Islamverbände ihn mitgestalten, andererseits werden manche von ihnen - wie die türkische Ditib - aus dem Ausland finanziert. Das deutsche Religionsverfassungsrecht erschwert die Zusammenarbeit zusätzlich.
"2019-09-05T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:19.077000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/islamischer-religionsunterricht-erdogans-arm-soll-draussen-100.html
93
Zeitverträge als Hindernis für die Wissenschaft
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz legt fest, wie lange wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland befristet beschäftigt werden dürfen. (imago images / Rupert Oberhäuser)
Meyer, Anneke
Über den Vorschlag zur Erneuerung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wurde nun erneut beraten. Formal standen Zeitverträge für promovierte Forschende zur Debatte. In Wirklichkeit geht es damit auch um die Zukunft der Wissenschaft in Deutschland.
"2023-03-30T16:36:14+02:00"
"2023-03-30T17:20:11.837000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wissenschaftszeitvertragsgesetz-zeitvertraege-als-hindernis-fuer-die-wissenschaft-dlf-951050c8-100.html
94
Der "Deutschland-Kurier" als Sprachrohr der AfD?
Im Zeitungskiosk gibt es künftig ein Wochenblatt mehr - den Deutschland-Kurier. (imago/ZUMA Press) "Der ganze Ton, aber auch die Inhalte sind sehr AfD nah", erklärt der Medienexperte Lutz Frühbrodt im Gespräch mit mediasres. Allein die Auswahl der Kolumnisten Konrad Adam aus der AfD Führungsriege und die aus der CDU ausgetretene Erika Steinbach seien Indizien dafür, dass die Zeitung mit der AfD verbunden ist. Frau Steinbach habe ja auch schon bekannt gegeben, dass sie die AfD im Wahlkampf unterstützt. Was die Finanzierung der Zeitung angeht, sind die Quellen weitgehend unklar, so Frühbrodt. Er meint, dass Gelder aus der Schweiz fließen könnten. Eine PR-Agentur, die enge Verbindungen mit der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) hat, sei im Gespräch. Außerdem soll die Zeitung Verbindungen zu dem sogenannten Studienkreis Weikersheim haben – ein rechtskonservativer Thinktank. Ob die AfD-nahe Wochenzeitung auch noch nach der Wahl eine Zukunft hat, kann der Medienexperte nicht genau einschätzen. Vor dem Hintergrund, dass "Breitbart" vorerst nicht nach Deutschland komme, könne man davon ausgehen, dass über den "Deutschland-Kurier" versucht wird eine rechte Gegenöffentlichkeit zu etablieren, prognostiziert Frühbrodt.
Lutz Frühbrodt im Gespräch mit Sebastian Wellendorf
Die "Bild-Zeitung" von rechts nennt der Chefredakteur David Bendels die neue Wochenzeitung. Heute wurde sie gratis verteilt – künftig soll das Blatt 30 Cent pro Ausgabe kosten. Und wie finanziert sich der "Deutschland-Kurier"?
"2017-07-12T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:36:40.435000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-wochenzeitung-der-deutschland-kurier-als-sprachrohr-100.html
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Sanders Poesie und Clintons Prosa
Hillary Clinton und Bernie Sanders bei einer TV-Debatte der Demokraten. (imago/stock&people/UPI photo) Den wahrscheinlich wichtigsten Debattenbeitrag lieferte jemand, der auf der Bühne gar nicht vertreten war. Barack Obama hatte vor dem sogenannten Townhall Meeting ein Interview gegeben, das eine klare Unterstützung für Hillary Clinton darstellt. Obama griff Clintons Konkurrenten Sanders nicht explizit an, doch Clintons Botschaft sei eindeutig besser in der Realität verankert. "Sie ist außerordentlich erfahren, sehr intelligent und kennt jede Politik in- und auswendig – und das macht sie manchmal etwas vorsichtiger – ihre Wahlkampagne ist mehr Prosa als Poesie. Aber sie wäre zum Regieren qualifiziert vom ersten Tag an." Hillary Clinton war sichtlich dankbar für diese Unterstützung. "I was really touched and gratified when I saw that." Sie sei berührt und dankbar gewesen, als sie das gesehen habe. Und: Ihre Argumentation gegen ihren Konkurrenten von links, Bernie Sanders kommt immer wieder auf Obamas Argumente zurück: auf ihre Erfahrung, Kompetenz und Wählbarkeit. Genau dort griff Sanders sie an. Hillary Clinton habe allzu oft Fehlurteile gefällt – das unterfütterte er mit Clintons Stimme im Senat vor 13 Jahren für den Irak-Krieg. "Ich habe gegen den Krieg im Irak gestimmt. Und ich habe damals schon gesagt, es ist leicht, einen Diktator zu stürzen, aber danach gibt es große Instabilität." Das Votum für den Irak-Krieg hatte Hillary Clinton schon vor Jahren als Fehler bezeichnet. Sie habe aber auch noch weitaus mehr schwierige Entscheidungen getroffen, und diese auch richtig. Sie verwies unter anderem auf das Nuklearabkommen mit dem Iran, dass auf ihrer Politik aufbaue. Mit Donald Trump und dessen muslimfeindlicher Rhetorik ging Hillary Clinton hart ins Gericht. "Wir können so etwas nicht tolerieren. Wir müssen aufstehen und sagen: Jeder in diesem Land verdient es, mit Respekt behandelt zu werden." Bernie Sanders Hauptthema war auch am gestrigen Abend die wachsende Einkommensungleichheit in den USA. Das, so Clinton, sei ein ehrenwertes Anliegen, das sie teile, aber als Präsident habe man nicht den Luxus, sich auf ein Thema zu kaprizieren. Sie habe 40 Jahre Erfahrung mit Fragen der Gleichheit, das beschränke sich aber nicht nur auf die Einkommensungleichheit. Sie habe auch gegen die Ungleichbehandlung von Schwarzen, von Frauen oder von Homosexuellen gestritten. (Wahlspot Sanders) Was sie zu diesem gefühligen Werbespot von Bernie Sanders sage, wollte der CNN-Moderator Chris Cuomo von ihr hören. Sie fände den Spot sehr schön, so Hillary Clinton. Aber: "You campaign in poetry, you govern in prose." Wahlkampf führe man mit Poesie – regieren müsse man hinterher in Prosa, so Hillary Clinton.
Von Marcus Pindur
In sechs Tagen findet in Iowa die erste Vorwahl in den USA statt. Die Kandidaten reisen noch kreuz und quer durch das Bundesland, um Wähler zu überzeugen. Gestern Abend trafen die demokratischen Kandidaten Bernie Sanders und Hillary Clinton ein letztes Mal vor der Wahl bei einem sogenannten Townhall Meeting aufeinander.
"2016-01-26T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:31.278000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-wahlkampf-sanders-poesie-und-clintons-prosa-100.html
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Dem Bundestag droht der digitale Totalschaden
Sind die Computernetze des Bundestages noch zu retten? (picture-alliance / dpa / Lukas Schulze) Hintergrund der neuen Berichte ist offenbar eine Analyse des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, kurz BSI. Dessen Fachleute kamen augenscheinlich zu dem Ergebnis: Das Netz ist nicht zu retten. Es kann nicht mehr gegen den Angriff verteidigt werden. Es muss aufgegeben werden. Was sich wie ein nüchterner Befund liest, bedeutet aber auch: Möglicherweise dauert der Angriff sogar noch an. Auch "Spiegel Online" meldet, dass immer noch Daten abfließen, Ziel unbekannt. Das Ausmaß des Angriffs ist kaum zu übertreffen: Laut NDR, WDR und SZ haben die Hacker wohl auch Administratoren-Rechte erobert. Das heißt: Sie haben womöglich Zugriff auf jedwedes System des Bundestages, sie haben Zugriff auf alle Zugangsdaten der Fraktionen, der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert den CDU-Innenpolitiker Armin Schuster mit den Worten: "Das Haus brennt." Der SPD-Netzpolitiker Lars Klingbeil stellte die Informationspolitik der Bundestagsverwaltung zur Debatte. Er sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", man habe das Thema im Ausschuss Digitale Agenda zwei Mal auf die Tagesordnung gesetzt. Es sei aber niemand von der Verwaltung gekommen und habe Bericht erstattet. Auch finanziell wäre der digitale Totalschaden kein kleiner Posten: Müssen wirklich alle Rechner ausgetauscht werden, würde das Monate dauern und einen mehrstelligen Millionenbetrag kosten. (jcs/jan)
null
Vor einigen Wochen begann der Angriff der Hacker auf das deutsche Parlament. Stück für Stück kam heraus, dass ein Trojaner sein Unwesen im System trieb und fleißig Daten sammelte und abzweigte. Neue Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigen nun: Das Computer-Netzwerk im Deutschen Bundestag ist womöglich am Ende, kaputt, nicht mehr zu retten - möglicherweise muss nicht nur die Software, sondern auch jeder Rechner ausgetauscht werden. Das Wort Totalschaden kursiert.
"2015-06-10T19:56:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:29.721000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hackerangriff-dem-bundestag-droht-der-digitale-totalschaden-100.html
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Im Zweifel hat der Radfahrer Schuld
Nach einem Unfall: Ein zerstörtes Fahrrad liegt auf einer Straße in Berlin, die Polizei ist am Unfallort (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Paul Zinken) "Die Polizei gibt ja selbst Meldungen heraus, wo sie berichten, was auf der Straße passiert ist. Und insbesondere haben wir uns über einen Fall sehr aufgeregt, es war eine Meldung von der ‚Neuen Westfälischen‘, die hatten getitelt: ‚Radfahrerin kracht ohne Helm gegen Auto‘. Und was wirklich passiert war, war, dass die Autofahrerin der Radfahrerin die Vorfahrt genommen hat", erklärt Stephanie Krone, die Pressesprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs, ADFC. In dem konkreten Fall allerdings hatte die fragwürdige Überschrift der "Neuen Westfälischen" mit der Polizeimeldung nichts zu tun. Die Polizei in Gütersloh – dort war der Unfall passiert, titelte lediglich: "77-jährige Fahrradfahrerin bei Unfall schwer verletzt", Stunden, nachdem die Zeitung bereits online berichtet hatte. Der Verkehrsreporter Thorsten Hess war vor Ort gewesen und hatte die Redaktion telefonisch informiert. Text und die fragwürdige Überschrift entstanden dann ohne ihn in der Redaktion, erinnert er sich heute. Nach massiver Kritik änderte die Zeitung ihre Überschrift am nächsten Tag in "Autofahrer übersieht Radfahrerin". Journalist oder Gaffer?Bei Unfällen oder Katastrophenereignissen sind Berichterstattende meist schnell vor Ort. Doch zunehmend kommen auch Menschen, die Bilder und Videos über Social Media verbreiten wollen - und nutzen die Informationen der Polizeipressestellen. Eine Überschrift, die den Unfall also nicht richtig wiedergibt, von einer Redaktion verfasst. Trotzdem, Unfallmeldungen in Zeitungen basieren fast immer auf denen von Polizeidienststellen. Und die formulieren häufig einseitig, findet ADFC-Sprecherin Krone. "Die Polizeimeldungen sind ganz oft so geschrieben und formuliert, dass man das Gefühl hat, hier ist überhaupt keine Person im Auto. Also da heißt es dann, Radfahrerin von Pkw erfasst, als ob da ein Pkw auf der Straße unterwegs ist, der einen Menschen erfasst. Der Junge geriet unter einen LKW." "Unterbewusst die Sicht des Autofahrers widerspiegeln" Tatsächlich sei auch ihm aufgefallen, dass Polizeimeldungen häufig eine verharmlosende Sprache verwenden, meint Stefan Jacobs, der beim Berliner "Tagesspiegel" seit Jahren über Verkehrsthemen berichtet. "Ich glaube, dass es daran liegt, dass einfach diese Meldungen tatsächlich geschrieben werden von Leuten, die Jahre ihres Lebens im Streifenwagen verbracht haben, d. h. denen einfach die Autofahrerperspektive die vertrauteste ist." Und das führe offenbar dazu, glaubt Stefan Jacobs, dass die polizeilichen Unfallberichte häufig unterbewusst die Sicht des Autofahrers widerspiegeln. "Krasse Dinge gab es, die hatte ich ja mal gesammelt für den ‚Tagesspiegel‘, beispielsweise, dass eben stand, dass ein Linksabbieger ein Ehepaar übersehen hat. Dieses Ehepaar hatte Vorrang, und dieser Linksabbieger hatte nicht mal einen Führerschein." Dabei sind die Zahlen der Verletzten und Getöteten im Straßenverkehr seit Jahren massiv rückläufig. Nur nicht bei Radfahrerinnen und Radfahrern betont Stephanie Krone vom ADFC. "Die Zahl der verunglückten Autofahrer geht seit Jahrzehnten zurück. Der Radverkehr ist die einzige Verkehrsart, die sich gegen den Trend negativ entwickelt." Polizei will Vorverurteilungen vermeiden Dass die Polizei ihre Meldungen recht vage formuliert, liege daran, dass man keine frühzeitigen Vorverurteilungen vornehmen wolle, erklärt Anja Dierschke, die Leiterin der Pressestelle der Berliner Polizei. "Wir als Polizei Berlin, und nur für die kann ich sprechen, erfassen all das, was wir aus den ersten Informationen haben, was auf neutralem Boden steht in unserer Meldung. Schuldfragen werden nur dann mit hineingenommen, wenn sie tatsächlich ganz klar sind." Wenn die Polizei Berichterstattung behindertImmer wieder beklagen Medien, von der Polizei an Berichterstattung über Umweltproteste gehindert zu werden. Im aktuellen Fall wurde rund ein Dutzend Journalisten teilweise eingekesselt und in Gewahrsam genommen. Zu Recht? Natürlich müsste die Polizei neutral bleiben, aber trotzdem den Sachverhalt konkret beschreiben, fordert Stephanie Krone. "Das bedeutet, wenn ich so eine Meldung auf dem Tisch habe, dann muss ich sehen können, hier handelt eine Person im Auto, und das fängt damit an, dass man eine Person benennt, also die Autofahrerin oder den Autofahrer, und da einen Aktivsatz daraus baut." Früher Meldungen ohne eigene Recherchen übernommen Auch Stefan Jacobs sieht viele Begriffe der Polizeimeldungen als irreführend an. Wie zum Beispiel: "touchiert". Wenn Rad- und Autofahrer kollidieren, heißt das häufig in Polizeiberichten, der Autofahrer habe den Radfahrer "touchiert". "Aber touchiert klingt ja dann doch irgendwie so etwas flauschig und wird also der Brutalität, die da passiert, nicht gerecht, ich würde sagen: gerammt. Vielleicht rammen sich nicht Fußgänger, aber mindestens, wenn Kraftfahrzeuge involviert sind, wird gerammt." Bei tödlichen Unfällen übernahmen die Redaktionen früher fast immer die Polizeimeldungen ohne eigene Recherchen, erinnert sich der Journalist vom "Tagesspiegel". Das habe sich gänzlich geändert. Bei schweren Unfällen verlasse man sich längst nicht mehr nur auf die Pressemeldungen der Polizei. "Da ist auch ein paar Stunden lang gesperrt, weil dann erst mal alles digital vermessen und mit Drohne dokumentiert wird und so. Also da guckt nach Möglichkeit schon jemand an der Unfallstelle vorbei." Das rät auch die Pressesprecherin des ADFC den Journalistinnen und Journalisten: zumindest bei schweren Unfällen sich selber vor Ort ein Bild machen und nachrecherchieren.
Von Dieter Wulf
In ihren Pressemitteilungen zu Unfällen stellt die Polizei es häufig so dar, als hätten Radfahrer Fehler gemacht. Das kritisiert der Fahrradclub ADFC. Die Person im Auto dagegen bleibe oft "unsichtbar". Ein weiteres Problem: Medien übernehmen häufig diese Perspektive.
"2021-09-08T15:35:00+02:00"
"2021-09-09T08:59:05.835000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polizei-und-presseberichte-ueber-unfaelle-im-zweifel-hat-100.html
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"Das ist eine Farce, Farce, Farce"
Gewinner: Vizepräsident Michel Temer, einer der politischen Gegner von Ex-Präsidentin Rousseff, rückt automatisch in das höchste Staatsamt auf. (imago / Xinhua) Das Ergebnis fiel deutlicher aus als erwartet. Senatspräsident Lewandoski verkündete die Entscheidung der Senatoren zur Amtsenthebung der Präsidentin "Es gab keine Enthaltung. Mit Ja stimmten 61 Senatoren, mit Nein 20 Senatoren." Das heißt, die Gegner Rousseffs erreichten nicht nur die nötige zwei Drittel-Mehrheit, sondern sogar eine Drei-Viertel-Mehrheit im Senat. Damit ist Dilma Rousseff endgültig abgesetzt. Vizepräsident Temer rückt automatisch in das höchste Staatsamt auf. Rousseffs Parteifreunde werfen der neuen Regierung, die seit Mai die Geschäfte führt, einen Staatsstreich vor. Das Amtsenthebungsverfahren sei nicht korrekt geführt worden, sagte Senator Lindbergh Farias von der Arbeiterpartei in der leidenschaftlich geführten Debatte. "Das hier ist eine Farce, Farce, Farce. Alle wissen, dass dieser Prozess nur ein Vorwand ist. Die Beweise sind total irrelevant. Hier gibt es zwei Typen von Senatoren. Die, die wissen, dass kein Amtsmissbrauch begangen wurde und sie deshalb freisprechen. Und die anderen, die ebenfalls wissen, dass kein Amtsmissbrauch begangen wurde, aber die trotzdem für ihre Absetzung stimmen." Und die, die für ihre Absetzung gestimmt hatten seien Kanaillen, sagte der Senat - allerdings verbrämt als historisches Zitat aus der Zeit der Diktatur. Letztlich eine politische Entscheidung Formal wurden Rousseff Rechentricks zur Last gelegt, mit denen die Haushaltszahlen geschönt wurden. Das war Grundlage des Verfahrens, denn die Verfassung sieht kein Misstrauensvotum vor, nur eine Absetzung bei schweren Amtspflichtverletzungen. Letztlich ging es aber um eine politische Entscheidung: Viele einstige Verbündete hatten sich von Rousseff abgewandt. Sie hatten sie als kalt, arrogant und unnahbar beschrieben. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftskrise ihre Zustimmungswerte bei den Wählern abstürzen ließ. Konservative Politiker warfen Rousseff unmittelbar vor der Abstimmung Senatssitzung noch einmal vor, für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu sein. Und Senator Ronaldo Caiado einer der erbittertsten Gegner Rousseffs, griff das Schimpfwort "Canalhas" – Kanaillen - auf. "Wir müssen hier klarmachen, wer die wahrhaftigen Canalhas der brasilianischen Politik sind. Canalhas sind die, die zwölf Millionen Brasilianer arbeitslos gemacht haben. Canalhas sind die, die ohne Zweifel Brasilien in eine kritische Situation gebracht haben, wirtschaftlich, sozial und was das internationale Ansehen angeht." Rousseffs Arbeiterpartei habe öffentliche Gelder für teure Wahlgeschenke verschleudert. Mit der endgültigen Absetzung der Präsidentin geht eine Ära zu Ende: Fast 14 Jahre lang hat die Arbeiterpartei das Land regiert. Umstritten ist noch, ob Rousseff in den nächsten acht Jahren für politische Ämter kandidieren darf. Im Senat entschied gab es zwar eine Mehrheit dafür, ihr die Wählbarkeit zu entziehen - allerdings nicht die erforderliche zwei Drittel-Mehrheit. Der neue Präsident Temer darf wegen verbotener Wahlkampfspenden übrigens nicht kandidieren.
Von Ivo Marusczyk
Mit einer überraschenden Drei-Viertel-Mehrheit im Senat wurde Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff endgültig ihres Amtes enthoben. Damit geht ein erbitterter politischer Machtkampf zwischen den Konservativen und der seit 14 Jahren regierenden Arbeiterpartei zu Ende. Rousseffs verbleibende Anhänger sprechen von einem Staatsstreich.
"2016-09-01T05:08:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:46.528000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/machtwechsel-in-brasilien-das-ist-eine-farce-farce-farce-100.html
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Mit dem Heißluftballon in den Westen
Die Familie Strelzyk mit einem Heißluftballon 1979, mit dem sie eine Flucht aus der DDR unternommen hatte. (16.09.79) (dpa) "Wir fliegen in den Westen" "Aber was, wenn die Soldaten auf uns schießen?" "Wir müssen höher, durch die Wolken!" Ein Ausschnitt aus dem Film "Ballon" aus dem Jahr 2018. Das Drama erzählt die spektakuläre Flucht mit einem Heißluftballon über die deutsch-deutsche Grenze. Ende der 1970er Jahre entschlossen sich zwei Familien aus Thüringen, die DDR zu verlassen; illegal, da ihnen eine legale Ausreise verwehrt wurde. Sie empfanden das Leben in der DDR als unbefriedigend, fühlten sich gegängelt und bespitzelt. Günter Wetzel, einer der beiden Familienväter: "Ich habe von einer Verwandten eine Zeitschrift aus dem Westen geschenkt bekommen. Und da war ein Bericht drin über das Ballonfahrertreffen, das alljährlich in Albuquerque in New Mexico stattfindet. Und da habe ich gedacht, das kann doch gar nicht so schwer sein, so ein Ding zu bauen. Und die Idee habe ich dann dem Peter Strelzyk vorgestellt, und dann haben wir uns am 8. März `78 entschieden, dass wir es gemeinsam versuchen werden, mit dem Ballon in den Westen zu fahren." Erster Versuch misslingt Günter Wetzel und Peter Strelzyk waren Arbeitskollegen in einer Thüringer Kunststofffabrik, technisch begabt, aber blutige Laien im Umgang mit Heißluftballons. Monatelang beschafften sie mit ihren Ehefrauen die notwendigen Utensilien. Um nicht beim Kauf großer Stoffmengen aufzufallen, fuhren sie in über 100 Orte, um insgesamt 1.200 Quadratmeter Regenschirmseide, Zeltnylon und Taftstoff zu besorgen. Hinzu kamen Flammenwerfer, Propangasflaschen und die Materialien für eine selbstgeschweißte Plattform. Dann stiegen die Wetzels jedoch aus, die Strelzyks machten allein weiter und unternahmen einen ersten Versuch. Der Ballon stürzte aber kurz vor der Grenze im Sperrgebiet ab. Die zerstörte Hülle blieb zurück, woraufhin die Stasi Ermittlungen aufnahm. Am 14. August erschien ein Aufruf in der thüringischen SED-Zeitung Volkswacht: "Nach Begehen einer schweren Straftat wurden vom Täter die nachfolgend abgebildeten Gegenstände am Tatort zurückgelassen: Montagezange, Wasserpumpenzange, Länge 250 mm, Taschenmesser mit einer Klinge und kombiniertem Schraubenzieher, Barometer, goldfarbenes Gehäuse. Zweckdienliche Hinweise werden auf Wunsch vertraulich behandelt." Aus Angst vor einer möglichen Verhaftung stieg die Familie Wetzel wieder in das Unternehmen ein, gemeinsam nähte man eilends eine neue Ballonhülle. In der Nacht vom 15. auf den 16. September 1979 stiegen vier Erwachsene und vier Kinder im Alter von zwei bis 15 Jahren um 2.30 Uhr auf einer Lichtung bei Heinersdorf auf die gerade einmal 1,40 mal 1,40 Meter große Plattform; in der Mitte vier große Propangasflaschen, um den Brenner zu betreiben. Der Wind kam günstig aus Nordost, der Ballon gewann rasch an Höhe. "Ich würde sagen, dass mein Freund Günter Wetzel und ich damit beschäftigt waren, diesen Ballon zu fliegen. Er hat sich speziell um die Navigation gekümmert, und ich hab‘ mich um die Brennersysteme gekümmert, und die Frauen waren damit beschäftigt, die Kinder zu beruhigen." Nach knapp einer halben Stunde landete der Ballon in einem 18 Kilometer entfernten Waldstück bei Naila im bayrischen Landkreis Hof. Bis auf einige kleinere Verletzungen überstanden die Flüchtlinge das Abenteuer unversehrt. "Hätte ich vorher gewusst, was hätte passieren können, alles Mögliche, ne, bei dem nicht TÜV-geprüften Ballon, da wäre ich sicher nie eingestiegen, niemals", so Petra Wetzel. Die Einwohner von Naila waren erstaunt, wer da vor ihren Augen gewissermaßen aus dem Himmel gefallen war. Sie bewunderten den Todesmut der DDR-Flüchtlinge, denn immerhin starben von 1961 bis 1989 über 300 Menschen an der innerdeutschen Grenze. Spektakuläre Flucht wurde verfilmt "Also ich habe gedacht im ersten Moment, das ist doch fast unmöglich in der DDR so nah an der Grenze erstmal so einen Ballon aufzublasen, das dauert doch eine gewisse Zeit, bis der überhaupt in der Luft ist und über die Grenze. Also ich hätte gedacht, dass das scheitern würde." – "Der hat den Mut gehabt, da rüberzukommen. Gefahr auf sich genommen, find ich eigentlich ganz prima." "Gefährlich war’s auf jeden Fall, aber wenn man in die Freiheit will." - "Kreative Leute, habe ich gedacht." - "Finde ich klasse, Respekt, echt wahr." Die spektakuläre Flucht mit dem damals größten Heißluftballon Europas wurde zu einem Medienereignis und in den USA und Deutschland verfilmt. Noch im Westen setzte die Stasi Spitzel auf die "Republikflüchtlinge" an. Mitte der 1990er Jahre kehrten die Strelzyks in ihr altes Haus in Thüringen zurück, die Wetzels fanden eine neue Heimat in Bayern. Die Ballonhülle ist heute im Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen, die Gondel im Berliner Mauermuseum am Checkpoint Charlie.
Von Otto Langels
Im September 1979 wagten zwei Familien aus Thüringen eine spektakuläre Flucht aus der DDR - mit Erfolg. Mit ihrem selbstgebauten Heißluftballon ließen sie sich vom Wind über die Grenze hinweg in den Westen tragen.
"2019-09-16T00:05:00+02:00"
"2020-01-26T23:10:40.573000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/flucht-aus-der-ddr-vor-40-jahren-mit-dem-heissluftballon-in-100.html
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Eine sehr gründliche Biografie
Der Literaturtheoretiker Roland Barthes. Aufgenommen 1970 in Paris. (imago) Manchmal darf man es auch gleich zu Anfang sagen. Dies ist eine sehr gründliche Biografie. Voller Empathie, zugleich aber mit dem nötigen Abstand geschrieben. Zwar gab es Anfang der Neunzigerjahre schon eine auch ins Deutsche übersetzte Biographie von Louis-Jean Calvet – doch eine neue war überfällig. Dabei standen Tiphaine Samoyault, Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin, erheblich mehr Archivmaterialien zur Verfügung als ihrem Vorgänger. Dass sie, Jahrgang 1968, kaum mehr Barthes' Zeitgenossin ist, verschafft ihr die nötige Distanz, die sie dennoch nicht daran gehindert hat, uns deutlich zu machen, dass Roland Barthes auch 35 Jahre nach seinem tragischen Tod gleichwohl unser Zeitgenosse ist. Bloß keine Biographie Dabei wog ihre Aufgabe doppelt schwer, weil doch fast jeder, der sich irgendwann mit Barthes beschäftigt hat, diesen berühmten Satz aus dem Buch Sade Fourier Loyola kennt: "Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biografen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf 'Biografeme' reduzieren würde." Vier Jahre später ist der Autor seinem Vorschlag noch zu seinen Lebzeiten gefolgt, als er in seinem Buch "Roland Barthes par Roland Barthes", deutsch "Über mich selbst", eben solche Biografeme auf fast zweihundert Seiten zusammengestellt hat. Fragmente, die sich seiner Kindheit, seinen Vorlieben, seiner Arbeit widmen, ergänzt durch Fotos und Abbildungen, die keineswegs als Illustrationen misszuverstehen, sondern integraler Bestandteil des Textes sind: Schnittstellen, an denen die Schrift ins Bild oder in die Zeichnung übergeht und umgekehrt. Damit diese Fragmente nicht als Enthüllungsliteratur gelesen werden, steht dem Buch zudem die Aufforderung voran: "All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird." Das ist natürlich eine Anweisung, die den spielerischen Zugang des Lesers und seine Lust am Text, um einen berühmten Titel von Barthes zu nennen, fördert. "Eindruck falscher Evidenz vermeiden" Die Biografin aber steht vor einer doppelten Aufgabe. Sie muss einerseits Barthes' Vorliebe für das Fragmentarische, das Offene und seine Abneigung gegen das, was er einmal den "arroganten Diskurs" genannt hat, sehr ernst nehmen. Zugleich aber muss sie uns ein Bild dieses Autors liefern, das mehr als impressionistisch ist und den Strukturen, die seiner Arbeit und seinem Leben möglicherweise zugrunde liegen, auf die Spur kommt. Dabei muss sie sich nota bene davor hüten, dieser Arbeit und diesem Leben einen gleichsam schicksalhaften und sinnerfüllten Verlauf zu unterstellen – bei einem Autor, dessen Streben sich explizit auf die "Befreiung vom Sinn" richtete. Kurz, die Biografin muss uns mehr liefern als Biografeme, darf aber nicht in die Falle tappen, uns Barthes zu erklären, sondern muss ihn uns zeigen. Die Prinzipien, nach denen sie das versucht, legt sie in ihrer Einleitung offen: "Das vorliegende Buch folgt in seinem Verlauf der Chronologie, doch werden wir, um den Eindruck falscher Evidenz zu vermeiden, die strenge Jahresabfolge durch andere Prinzipien lockern: Parallelen zwischen Barthes und für sein Leben entscheidenden Wegbegleitern werden es hier und da erlauben, bestimmte Motive anhand von Begegnungen und nicht nur gemäß der Jahresabfolge zu behandeln." Um den Eindruck falscher Evidenz zu vermeiden – das heißt also: um das Leben und das Werk nicht auf eine Verlaufsform zu reduzieren, die sich schnell nach einem der gängigen Muster, etwa dem psychoanalytischen oder dem marxistischen, interpretieren ließe. Dabei bieten sich schon die Lebensumstände des ganz kleinen Roland Barthes dafür geradezu an, das Faktum der Vaterlosigkeit nämlich. Bekanntlich ist Barthes' Vater, Offizier der Handelsmarine und im Ersten Weltkrieg selbstverständlich zur Kriegsmarine eingezogen, bei einer Seeschlacht im Pas-de-Calais ums Leben gekommen; da war sein Sohn elf Monate alt. Geboren in Cherbourg, hat er nach eigenen Worten buchstäblich nie einen Fuß in die Stadt gesetzt, weil er damals noch nicht laufen konnte. Bevor er das lernte, zog seine Mutter Henriette mit ihm zur Verwandtschaft – zur väterlichen wohlgemerkt – nach Bayonne, in den französischen Südwesten, den Barthes zeit seines Lebens als seine Landschaft betrachtet und über den er Texte und Fragmente voller Zärtlichkeit geschrieben hat, in etwa so: "Bayonne, Bayonne, vollkommene Stadt: am Fluss liegend, durchweht von klangreicher Umgebung (Mousserolles, Marrac, Lachepaillet, Beyris) und dennoch eine eingeschlossene Stadt, romanhaft: Proust, Balzac, Plassans. Erstes Imaginarium der Kindheit: die Provinz als Schauspiel, Geschichte als Geruch, die Bourgeoisie als Redeweise." "Eine Haltung des Ausweichens" Kleiner Exkurs: Dieses Fragment aus einer der ersten Seiten von "Über mich selbst" reicht völlig aus, um die so oft gestellte Frage zu beantworten, was denn dieser Roland Barthes nun eigentlich genau war: Philosoph, Linguist, Semiologe, Kulturwissenschaftler, Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler, Strukturalist, Biograf? Die Antwort ist einfach: Roland Barthes war Schriftsteller, dessen bevorzugte, aber nicht ausschließliche Formen der Essay im Wortsinn war - also der Versuch, jene sich vorantastende Sprache, die sucht, ohne von vornherein zu wissen, was sie finden wird. Der Gegensatz dazu wäre das Thesenpapier, das fertige Gedankengebäude. Das ist das Geschäft der Meisterdenker, und ein solcher war Barthes nicht. Er war nicht einmal ein Experte, zu seinem Glück und zum Glück seiner Leser. Ende des Exkurses. Tiphaine Samoyault liest Barthes' Vaterlosigkeit so: "Keinen Vater zu haben, der getötet werden muss, kann von Vorteil sein. Aber es determiniert auch eine Haltung des Ausweichens, einen komplexen Bezug zu Konfrontation und Subversion." Ein Hinweis, der für die weitere Entwicklung von Barthes sehr wichtig ist. Gegen Ende seines Lebens, als vorletzte Vorlesung in seiner viel zu kurzen Zeit am Collège de France, sprach Barthes über das Neutrum. Gemeint war damit nicht das grammatische Geschlecht, sondern der sogenannte "dritte Begriff", der das Prinzip des "Entweder oder" unterläuft, und der anhand verschiedener Phänomene erörtert wird: etwa das Wohlwollen, das Zartgefühl, das Schweigen, der Schlaf, der Rückzug. Das Neutrum unterläuft auch die binäre Opposition des Strukturalismus, dem Barthes ja lange zugerechnet wurde. Roland Barthes: Vers le neutre heißt ein leider immer noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch von Bernard Comment, also Roland Barthes: Auf dem Weg zum Neutrum. Samoyaults nicht aufdringlich propagierter, aber umso konsequenter verfolgter Ansatz in ihrer Biografie ist es gerade, diesen Weg nachzuzeichnen. Künstlerkrankheit par excellence Ein Weg, der außer durch die Vaterlosigkeit auch durch ein anderes Ereignis in Barthes' früher Lebensphase geöffnet wird, den Ausbruch der Tuberkulose. Im Mai 1934, achtzehn Jahre alt, hat er den ersten Bluthustenanfall. Hier wird noch keine Tuberkulose diagnostiziert, aber Barthes muss zur Kur und sein Abitur verschieben. Das ist eine erste einschneidende Erfahrung mit der Krankheit und mit ihren sozialen Folgen. Später werden jahrelange Aufenthalte in Sanatorien folgen. Die Tuberkulose wird ihm den Zugang zur École Normale Superieure in der Pariser Rue d'Ulm verwehren. Damit ist ihm der übliche Weg der französischen intellektuellen Elitezüchtung versperrt, wie ihn etwa Michel Foucault beschritten hat und Jahrzehnte später auch Tiphaine Samoyault, die Autorin dieser Biografie. "Diese Erfahrung von Abgeschiedenheit ... stellt die Weichen für sein späteres Leben: für seine Marginalität, sein Gefühl der Hochstapelei, seine Zuflucht in die Literatur und das Schreiben. (...) Während er darunter leidet, nicht den ihm gebührenden Platz einnehmen zu können, erfindet er Orte anderer Art, im Abseits oder am Rande, wo er der sein kann, der er zu werden hofft. (...) Unzweifelhaft ist die Tuberkulose das Ereignis seines Lebens." Sie ist natürlich auch ein Mythos, was der künftige Autor der Mythen des Alltags sehr wohl weiß. Sie ist die Künstlerkrankheit par excellence und vielfacher Gegenstand der Literatur. In seiner ersten Vorlesung am Collège de France,Wie zusammen leben, wird Barthes ausführlich auf die Lebensform des Sanatoriums eingehen, anhand eigener Erfahrungen und natürlich anhand der Lektüre von Thomas Manns Zauberberg. Daran, dass diese Lebensform, die er selbst über Jahre sowohl genossen wie erlitten hat, aber sein Denken und sein Verhalten in der Öffentlichkeit schon Jahrzehnte vorher geprägt hat, lässt Samoyault keinen Zweifel: "Die Paradoxie des Ortes (der Abgeschiedenheit schafft und zugleich zum Gemeinschaftsleben zwingt) unterstreicht eine bereits bestehende Widersprüchlichkeit in Barthes' sozialem und politischem Verhalten: einen starken Wunsch nach Zugehörigkeit, doch ohne vollständige Teilnahme, eine distanzierte Parteinahme statt eines wirklichen Engagements. Dieses Moment wird sicherlich noch dadurch verstärkt, dass Barthes während des Krieges, in der Besatzungszeit, im Abseits lebt." Erfahrungen in der Résistance Das erschwert nach dem Krieg zumindest den Anschluss an den herrschenden politischen Diskurs und an Generationsgenossen, die Erfahrungen in der Résistance gemacht haben. Später wird er sich meistens weigern, politische Aufrufe, Appelle und Manifeste zu unterschreiben. Er passt immer auf, nicht der doxa zu verfallen, also dem jeweils herrschenden Diskurs, der herrschenden Meinung, die sich nicht so sehr durch ihren Inhalt, sondern durch ihre ständige Wiederholung durchsetzt. Barthes bahnt sich seinen Weg ins Zentrum der Pariser Intellektuellenszene, der er spätestens ab den sechziger Jahren angehören wird, im doppelten Sinn vom Rande aus, geografisch wie von den Institutionen her betrachtet. Er arbeitet zunächst am Französischen Kulturinstitut in Bukarest und ist sogar für kurze Zeit Französischer Kulturattaché. Danach ist er an der neu gegründeten französischen Bibliothek in Alexandria tätig. Erst 1950 kehrt er nach Paris zurück und wird nun an verschiedenen Hochschulen ein durchaus überzeugender und beliebter Lehrer sein. Zahlreiche Freunde bezeugen, dass Barthes gern gelehrt hat, und die Zahl seiner Studenten, die ihm in ihrer späteren Arbeit Reverenz erwiesen haben, ist beachtlich. Dabei war es gerade seine Suche nach dem nichtautoritären Diskurs, die seine Wirkung ausmachte. Die Stadien seiner Lehrtätigkeit hat er ganz am Ende der berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France so charakterisiert: "Es gibt ein Alter, in dem man lehrt, was man weiß; doch danach kommt ein anderes, in dem man lehrt, was man nicht weiß: das nennt man Forschen. Es kommt jetzt vielleicht das Alter einer anderen Erfahrung: der des Verlernens ... Diese Erfahrung hat, glaube ich, einen berühmten und altmodischen Namen, den ich hier ohne Komplexe am Kreuzungspunkt seiner Etymologie aufzugreifen wage: Sapientia: keine Macht, ein wenig Wissen, ein wenig Weisheit und so viel Würze wie möglich." Den Ruhm genossen Das ist 1977, als all seine Umwege und Abweichungen, die erzwungenen wie die bewusst gewählten, ihn schließlich bis zur prestigereichsten Adresse des intellektuellen französischen Betriebs geführt haben. Es war Michel Foucault, der seine Berufung an das Collège am hartnäckigsten betrieb. Das war ein hartes und langwieriges Stück Arbeit, weil es innerhalb der Institution gegenüber diesem merkwürdigen Künstler-Wissenschaftler Roland Barthes, von dem man nie genau wusste, womit er sich als nächstes beschäftigen würde, erhebliche Vorbehalte gab. Samoyault widmet dem Verhältnis von Barthes und Foucault gegen Ende ihrer Biografie ein eigenes Kapitel, in dem sie ihre Gegensätze und Gemeinsamkeiten herausarbeitet und beiden Polen Gerechtigkeit widerfahren lässt. "Der besondere Platz dieser beiden Denker im Schlagschatten der Sechziger- und Siebzigerjahre erklärt sich zum Teil dadurch, dass ihr Werk die Form einer Doxa angenommen hat, gegen die sie stets angekämpft haben. Beide kennen den Mechanismus dieser Umkehrung, den Barthes explizit kritisiert hat. Der Viersilber "Barthes und Foucault" steht für eine Epoche, für die Ausstrahlung des französischen Denkens, die Erneuerung der Humanwissenschaften, für einen Moment, in dem die Theorie "große Namen" oder "große Figuren" hervorgebracht hat." Barthes und Foucault, um den Viersilber noch einmal aufzugreifen, waren zu ihrer Zeit in der Tat Medienikonen. Eine solche Position geht immer, darauf verweist Samoyault, auf Kosten einer Reduktion und Simplifizierung des Werks. Sie entbehrt außerdem gerade im Fall Barthes, der auf seiner Marginalität beharrte und den Schriftsteller als "Mensch des Zwischenraums" definierte, nicht einer gewissen Ironie. Dabei kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Roland Barthes, der durch seine Krankheit beinahe frühzeitig aussortiert worden wäre, den Ruhm genossen hat, und mindestens ebenso die finanzielle Sorglosigkeit, die damit verbunden war, nach den Erfahrungen einer eher durch permanenten Geldmangel gekennzeichneten Jugend. Es ist auch nicht ohne Symbolwert, dass Barthes' Mutter, mit der er fast sein ganzes Leben lang zusammenlebte, die Rumpffamilie anfangs mit ihrer Arbeit als Buchbinderin ernährte. Wie ein Medienstar Die strahlenden Helden der französischen Theorie, Barthes und Foucault, verband aber noch mehr als der Status von Medienstars. "Das hat mit der (relativen) Marginalität zu tun, die durch ihre Homosexualität bedingt ist: Ihre kritische Intelligenz führte sie dazu, ihr Begehren nicht vom Objekt ihrer Studien zu trennen und die Homosexualität nicht als Orientierung zu begreifen, sondern als eine Art und Weise, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Das trifft dem Anschein zum Trotz für Barthes vielleicht noch in stärkerem Maße zu als für Foucault. Wenn er im Gegensatz zu Foucault seine Sexualität nie zu einem Thema der Forderung oder des Kampfes machte (...), so hat er doch etwas sehr weit vorangetrieben, das seinem kritischen Programm entsprach: die Ablehnung des 'Natürlichen', des Selbstverständlichen, der als gegeben erscheinenden bürgerlichen Ordnung, aber auch die Vorliebe für das Fragmentarische, das Indirekte, die Entscheidung für eine alternative, der Logik, Kontinuität und Progression widersprechende Schreibweise." Das Lesen gelehrt Es ist ganz wesentlich diese Schreibweise, die Roland Barthes, der ja das digitale Zeitalter nicht mal mehr in den Anfängen erlebt hat, heute noch zu unserem Zeitgenossen macht. Seine Texte haben den Gestus der Meisterdenker weit hinter sich gelassen und ringen auch nicht mehr um eine Totalität, um die es noch Sartre ging. Diese Meisterdenker, das wissen wir heute, haben die Intellektuellen damals mit Haut und Haaren vereinnahmen wollen und uns zum Teil in tödliche Sackgassen geführt. Barthes Texte wollen den Leser nie vereinnahmen. Barthes schlägt eine Lektüre vor, die "fortwährend den Kopf hebt, um zu träumen", die sich also jederzeit vom Text lösen, eigene Wege gehen und dann wieder zum Text zurückkehren kann. So hat er nach eigenem Bekunden auch selbst gelesen. "Ich bin ein ungezwungener Leser, insofern ich schnell das Maß meiner Lust anlege. Im Verhältnis zu Büchern befreie ich mich immer mehr von jeglichem Über-Ich." Roland Barthes, so steht es im Klappentext der Biografie von Tiphaine Samoyualt gleich am Anfang, habe die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Lesen gelehrt. Ob das wirklich für die ganze Welt gilt, sei dahingestellt, uns aber, die wir mit seinen Büchern groß geworden sind, hat er es in der Tat gelehrt. Und mehr: Er hat den Leser von der Vormundschaft des Autors befreit und die langweilige Schulfrage, was der Autor sagen wollte, durch die viel spannendere und wichtigere Frage abgelöst, was der Leser versteht. Er hat uns als Leser also vom Über-Ich befreit und uns die Lust am Text gebracht. - 1971 hat Barthes in einem Interview gesagt, jede Biographie sei ein Roman, der es nicht wage, seinen Namen zu nennen. Da eine Biographie um die erzählerische Form nicht herumkommt – jene Form, die Barthes in seinem Debüt Am Nullpunkt der Literatur so konzis analysiert hat – kann man diesem Satz die Wahrheit nicht ganz absprechen. Wenn es sich also auch bei Tiphaine Samoyaults Biografie so verhält, dann darf man immerhin sagen, dass ihr Buch überaus lesenswert und – auch dank der Übersetzerinnenleistung – ebenso lesbar ist. Noch Besseres lässt sich über eine Arbeit von so immensem Umfang wohl kaum sagen. Man könnte noch hinzufügen, dass dieses Buch ein absolutes "Muss" ist – aber dann wäre das Über-Ich aus dem Hinterhalt zurückgekehrt, und das hätte Roland Barthes gewiss nicht gefallen. Tiphaine Samoyault: Roland Barthes. Die Biographie.Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli.Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 870 Seiten, geb., 39,95 €.
Von Jochen Schimmang
Wenn ein Schriftsteller schon zu Lebzeiten skizziert, wie er sich eine geschmeidige Biografie über sich selbst vorstellt, dann ist das keine leichte Aufgabe für den Biografen. Der Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault ist eine sehr gründliche Biografie gelungen, meint unser Rezensent Jochen Schimmang.
"2015-12-13T16:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:13:56.112000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tiphaine-samoyault-roland-barthes-eine-sehr-gruendliche-100.html
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Frangi: Trumps Unterstützung war Netanjahus eigentlicher Erfolg
Benjamin Netanjahu reiste Ende März in die USA und traf Donald Trump und Mike Pence. Der Rückhalt aus den USA sei hilfreich gewesen, sagt Abdallah Frangi (AFP / Saul Loeb) Sandra Schulz: Es war ein spannender Wahlkampf. Endspurt vor der Parlamentswahl gestern in Israel wegen der knappen Umfragewerte. Und jetzt war es auch ein ganz ausgesprochen spannender Abend, eine spannende Nacht. So eng lagen der Likud von Amtsinhaber Benjamin Netanjahu und das Bündnis Blau-Weiß von Benni Gantz in den Hochrechnungen der vergangenen Stunden beieinander. Inzwischen sind mehr als 96 Prozent der Stimmen ausgezählt und danach hat Benjamin Netanjahu gute Chancen auf eine fünfte Amtszeit als israelischer Ministerpräsident. Der Vollständigkeit halber müssen wir dazu sagen, dass immer noch nicht entschieden ist, welche Partei jetzt als stärkste Kraft die Nase vorn hat. Klar ist aber, dass der Likud von Benjamin Netanjahu gestärkt aus der Wahl hervorgeht. Wir können darüber in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Abdallah Frangi, Berater von Palästinenser-Präsident Abbas für europäische Angelegenheiten, und als Vertreter der als gemäßigt geltenden Fatah war er lange Gouverneur von Gaza. Schönen guten Morgen! Abdallah Frangi: Guten Morgen, Frau Schulz. Schulz: Wie hat Netanjahu das gemacht? Frangi: Ich meine, er ist sehr geschickt und er macht das immer mit den kleinen Gruppen und Gruppierungen, um die Mehrheit zu schaffen. Die meisten Gruppen sind radikal und die sind rechts und sie haben ihm bis jetzt geholfen, diese Politik weiterhin zu betreiben. Und er betreibt eine Politik von mehr Siedlungen in dieser Region, und diese mehr Siedlungen ist praktisch seine Stärke, dass er die Gruppen weiterhin auf seiner Seite behält. Aber trotzdem: Diese Wahlen zeigen auch, dass die israelische Gesellschaft nicht mehr so weiter diese Politik machen kann, weil die Entwicklung innerhalb Israels wird nicht mehr so bleiben, wie Netanjahu es wünscht und wie die Gruppierungen, die rechten Gruppierungen auch weiterhin Politik betreiben. Schulz: Es wäre schön, Herr Frangi, wenn Sie mir auch die Gelegenheit zu Nachfragen geben würden. Frangi: Ja! "Rassistische Politik gegen ein ganzes Volk" Schulz: Sie sagen, Netanjahu habe geholfen oder hilft jetzt, dass er mit diesen Kleinstparteien zusammenarbeitet. Hat ihm dann auch die jüngste Aggression, die wir kürzlich gesehen haben, der Beschuss aus dem Gazastreifen auf Israel, die militärische Antwort dann, hat auch das Benjamin Netanjahu jetzt in dieser Wahl geholfen? Frangi: Ich glaube, die Hauptunterstützung bekommt er von der Politik, die er in der Westbank macht, indem er mehr Siedlungen baut. Er hat immer wiederholt betont, keine Siedlungen werden verschwinden und kein Siedler wird sein Haus oder seine Siedlung verlieren. Dort war eigentlich der Kampf der Israelis und dort hat Netanjahu die stärkste, sagen wir, Gruppe hinter sich und nicht mit dem Gaza. Mit dem Gaza war es im Grunde genommen kein echter Krieg, so dass man sagen kann, er hat einen Krieg gemacht, um die Wahlen zu gewinnen. Ich glaube, wenn er den Krieg gewagt hätte, er hätte diesmal nicht so siegreich da rauskommen können. Schulz: Aber die Angriffe kamen ja aus dem Gazastreifen. Wenn wir jetzt noch mal schauen: Wir wissen, dass die Sicherheit, die Sicherheitspolitik wie immer in Israel auch jetzt bei dieser Wahl ein großes Thema war. Liegt die Ursache nicht darin, dass Israel massiv auch in dieser Sicherheit immer wieder bedroht ist? Frangi: Wissen Sie, Israel ist bedroht durch ihre eigene Politik. Die Israelis besitzen ein Land von Menschen, sie besitzen so viele Menschen unter ihrer Kontrolle, halten so viele Menschen unter ihrer Kontrolle, fast so viele wie die Israelis selbst. Sie halten das Land der Palästinenser. Sie kontrollieren das Wasser der Palästinenser. Im Grunde genommen betreiben sie eine rassistische Politik gegen ein ganzes Volk in dieser Region. Solange die Israelis als Besetzer weiterhin existieren wollen und sich auf ihre eigene Armee stützen, solange werden wie keinen Frieden in der Region haben und solange kann auch Israel nicht eine große Rolle spielen in dieser Region. "Die arabische Welt ist bedroht" Schulz: Israel ist umgeben von Nachbarn, die sein Existenzrecht anzweifeln. Wir sehen jetzt, dass Benjamin Netanjahu sehr gute Chancen hat auf eine fünfte Amtszeit als Ministerpräsident. Wir sprechen über einen Kandidaten, der im Wahlkampf mit ganz massiven Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hatte. Aber das scheint – da komme ich jetzt noch mal zurück aufs Thema Sicherheit – viele Wähler oder eine entscheidende Mehrheit der Wähler deswegen nicht gestört zu haben, weil sie sagen, wir können uns darauf verlassen, dass der Mann sich für uns einsetzt, der hat wichtige und mächtige Partner, der arbeitet eng mit US-Präsident Donald Trump zusammen. Ist das nicht nachvollziehbar? Frangi: Ich glaube, er hat die Unterstützung direkt vom amerikanischen Präsidenten. Das hat eine große Rolle gespielt. Denn der amerikanische Präsident hat ihn unterstützt in der Frage Jerusalem, dass die Hauptstadt Israels Jerusalem ist, obwohl die Mehrheit der Menschen dort in Ost- und Westjerusalem Palästinenser sind, und die wurden total ignoriert von dem amerikanischen Präsidenten. Das war eigentlich der Erfolg, den Netanjahu hat – noch dazu, dass der amerikanische Präsident ihm die Golanhöhen geschenkt hat. Er hat praktisch die Golanhöhen annektiert, und so was ist einmalig in der Geschichte. Ich glaube, die arabische Welt ist bedroht. Die arabische Welt ist gegenüber Israel militärisch gesehen so gut wie unterlegen, weil die Israelis die Atomwaffen haben und die Atomwaffen besitzen, und kein Mensch sagt irgendwas in dieser Richtung. Schulz: Jetzt pocht Israel natürlich konsequent auf sein Selbstverteidigungsrecht. Das ist dann diese unterschiedliche Sichtweise. Sie haben jetzt die Unlogik der Gewalt noch mal geschildert. Wir sehen jetzt mit Netanjahu die Bestätigung eines Ministerpräsidenten, der in seinem Land viele Probleme hatte, die ihn aber nicht daran gehindert haben, noch mal Präsident zu werden. Auf Ihrer Seite, auf palästinensischer Seite steht Mahmud Abbas. Sollte der sich nicht auch einmal zur Wahl stellen? Frangi: Ich meine, Präsident Abbas will auch Wahlen demnächst machen wollen. Nur jetzt die Entwicklung innerhalb der Palästinenser, dass Westbank und Gazastreifen praktisch geteilt sind, da ist das sehr schwer, dass man jetzt die Wahlen durchsetzt. Präsident Abbas will nicht die Trennung zwischen Westbank und Gazastreifen machen wollen. Deswegen hat er jetzt die Frage der Wahlen noch mal ein bisschen zurückgehalten. "Mehr Geld für Siedlungen" Schulz: Was kann Israel für die Feindschaft zwischen Fatah und Hamas? Frangi: Ich glaube, Netanjahu hat vor einer Woche, bevor die Wahlen stattgefunden haben bei ihm, gesagt, er freut sich über diese Entwicklung. Schulz: Wie schauen Sie jetzt auf die Ankündigung, die Netanjahu jetzt im Wahlkampf gemacht hat, die Annektierung auch von Siedlungen oder von Siedlungsgebieten im Westjordanland? Frangi: Natürlich, das war auch ein Grund, dass er mehr Stimmen bekommen hat von diesen kleinen Gruppen, die ihn mit den Siedlern und der Siedlungspolitik unterstützen. Deswegen hat er sehr, sehr oft betont, in seinen Reden und überall hat er das gesagt, dass er keine einzige Siedlung wegschafft von der Westbank. Im Gegenteil: Er hat jetzt mehr Geld und mehr Wasser und mehr Straßen für die Siedlungen unterstützt und mit finanziellen Mitteln. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Abdallah Frangi im Gespräch mit Sandra Schulz
Die Anerkennung der Golanhöhen als Teil Israels durch die US-Regierung habe Benjamin Netanjahu im Wahlkampf geholfen, sagt Abdallah Frangi, Berater des palästinensischen Präsidenten Abbas, im Dlf. Israel betreibe in der Region eine "rassistische Politik" und bedrohe als Atommacht die arabische Welt.
"2019-04-10T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:46:33.276000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/palaestinenser-zu-wahlausgang-in-israel-frangi-trumps-100.html
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"Man hätte der Krise zuvorkommen können"
Die Coronakrise ist Teil einer Rechnung unseres "nicht stabilisierungsfähigen Wohlstandsmodells", sagt Niko Paech. Das moderne Leben müsse künftig genügsamer werden. (Imago/ Jochen Tack) Deutschland befindet sich im Shutdown. Das Ziel der weitgehenden Maßnahmen ist, die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, um das Gesundheitssystem vor dem Corona-bedingten Kollaps zu bewahren und so Leben zu retten. Für die Wirtschaft bedeutet der Zustand empfindliche Wachstumseinbußen. "Das ist jetzt ein Lerneffekt", sagt Niko Paech, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Siegen und Wachstumskritiker. Schulz: Nach allem, was wir wissen, stehen wir jetzt vor einer tiefen Rezession. Ist das aus Ihrer Sicht jetzt eine gute Nachricht? Paech: Nein! Das ist deshalb keine gute Nachricht, weil ein Bruch mit dem Wachstumsdogma natürlich im geplanten Sinne danach verlangt, dass in angemessenen Schritten und nicht als Schocktherapie oder Rosskur die Wirtschaft in einen Shutdown versetzt wird. Das heißt, die sozialpolitische Angemessenheit einer Rücknahme von Wachstumsraten muss schon gegeben sein. Was wir jetzt erleben ist natürlich, dass eine Krise zum Lehrmeister jenes Wandels wird, vor dem wir uns die ganze Zeit gedrückt haben. Und jetzt erkennen wir, dass auch für die Wirtschaft oder für die Wirtschaftspolitik leider gilt: Wer nicht hören will, muss fühlen. Man hätte einer Krise wie die, die wir jetzt gerade erleben, natürlich immer auch zuvorkommen können, indem man über Globalisierungsstrukturen nachdenkt, die nicht zukunftsfähig sein können, weil es nur eine Frage der Zeit ist, dass diese komplexen Gebilde, die wir da aufgebaut haben und die zum Fundament auch unseres Wohlstands geworden sind, früher oder später erschüttert werden würden durch irgendeine Krise. Das ist jetzt in diesem Fall eine Corona-Pandemie geworden. Das hätte aber auch eine Verteuerung der Erdölpreise sein können. Das hätte eine weitere Finanzkrise sein können. Das hätte auch eine Krise sein können, die daher rührt, dass ganz bestimmte essentielle Ressourcen, Mineralien beispielsweise, knapp werden. Folgen der Pandemie - Finanzmärkte in TurbulenzenWegen der Corona-Pandemie sind derzeit viele Unternehmen zum Stillstand gezwungen. Die Börsen reagierten darauf mit dem größten Kurssturz seit der Finanzkrise von 2008. Wie gefährlich das Virus für die weitere Entwicklung ist, lässt sich kaum erahnen. "Wenn sie weniger investieren, gibt es weniger Einkommen" Schulz: Was jetzt immer wieder gesagt wird, das ist, dass viele Verbraucher im Moment in dieser Krisensituation sich im Konsum auf das Nötigste beschränken, vielleicht wenn wir mal vom Klopapier absehen. Wieso bringt das die Wirtschaft zum Einsturz? Paech: Weil wenn auf einem bestimmten Markt die Nachfrage prägnant und auch dauerhaft zurückgeht, dann heißt das, dass die Unternehmen natürlich ihre Produktionskapazität anpassen. Sie investieren weniger. Und wenn sie weniger investieren, gibt es weniger Einkommen. Wenn dann auf diesem betreffenden Markt weniger Einkommen da ist, heißt das, dass die dort beschäftigten Menschen auch auf anderen Märkten dann weniger kaufen können oder wollen. Man spricht von Multiplikator-Effekten. Man könnte auch sagen, das ist wie so ein Domino-Spiel. Das heißt, dass damit andere Märkte mitgerissen werden, und das ist eine Abwärtsspirale und die darf natürlich nicht zu schnell verlaufen. Sonst ist es gefährlich, weil dann die Wirtschaft so weit in den Keller sinkt, dass dann sozialpolitisches Ungemach droht. Das ist schon richtig. Schulz: Was jetzt aus aller Welt gemeldet wird, das sind auch Rückgänge bei den CO2-Emissionen. Wäre das, was jetzt gerade passiert, für Sie eine Folie auch für den Klimaschutz? Paech: Wissen Sie, wenn man irgendwo in einer modernen Gesellschaft das Minimum dessen umgesetzt hätte, was als Überlebensprogramm bezeichnet werden kann, angesichts des Wegbrechens unserer ökologischen Lebensgrundlagen, dann hätte das langfristig ein ähnliches Aussehen gehabt wie das, was jetzt die Coronakrise herbeiführt. Nur ich betone das ausdrücklich: Es hätte gestreckt werden müssen. Es hätte sozialpolitisch abgefedert werden müssen. Und man hätte vor allem wirtschaftspolitisch erreichen können, dass die Nachfrage nicht sofort überall so stark reduziert wird. Aber um die Ökosphäre überleben zu lassen, wäre ohnehin im Prinzip das, was man jetzt kurzfristig als Shutdown bezeichnet, ein Rückbau globalisierter industrieller Strukturen vonnöten gewesen, vor allem auch ein Rückbau des Verkehrs. Wir wissen ja, dass Weltreisen oder die globale Mobilität im Hinblick auf ökologische Schädlichkeit den Konsum schon fast abgelöst haben. Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) "Jetzt holt uns das Schicksal ein" Schulz: Aber Sie sagen, es ist ein Minimum dessen umgesetzt worden, was eigentlich nötig gewesen wäre. Wir wissen aber gleichzeitig, in allen Volkswirtschaften, in allen freiheitlichen Ländern ist genau das durchgesetzt worden, was gesellschaftlich mehrheitsfähig war. Ist da nicht das Maximum geleistet worden? Paech: Das ist richtig. Wir halten uns für so wahnsinnig modern und progressiv und glauben, dass wir unsere Mittelalterlichkeit, die Schicksalsabhängigkeit unserer Existenz überwunden haben, indem wir demokratisch über Mehrheitsentscheidungen das Geschick unseres Lebens, vor allem unserer Gesellschaft bestimmen. Aber das hat wohl nicht so ganz geklappt. Das heißt, jetzt holt uns das Schicksal ein, weil wir unkluge Entscheidungen getroffen haben. Das ist schade. Das ist auch nicht das Ende der Demokratie. Aber das ist jetzt ein Lerneffekt. Ich sagte es bereits: Wer nicht lernen will, muss fühlen. Dieser Lerneffekt hat vielleicht den Vorteil, dass zukünftig demokratische Entscheidungen oder auch individuelle Lebensentscheidungen anders ausfallen, weil klar ist, dass nach der Krise vor der Krise ist. Selbst die Wahrscheinlichkeit, dass nach der Überwindung dieser Corona-Pandemie eine neue Pandemie ausbricht – denken wir alleine an die afrikanische Schweinepest, über die jetzt keiner redet, die aber auch schon Mitteleuropa erreicht hat -, allein darüber können natürlich auch immense Schäden etwa in der Landwirtschaft ausgelöst werden und auch gesundheitliche Folgen sind nicht gänzlich auszuschließen. Und ich sagte bereits ja auch schon, dass neben reinen Virus-basierten Pandemien ganz andere Sollbruchstellen unseres globalisierten, auf Wachstum beruhenden Wirtschaftssystems erkennbar sind. Das heißt, wir fangen inzwischen an zu begreifen, dass Corona Teil einer Rechnung ist, Teil einer Rechnung unseres nicht stabilisierungsfähigen Wohlstandsmodells, und wir tun gut daran, vorsorglich dieses Modell kleinschrittig zurückzubauen auf ein Maß, das uns immer noch verhilft zu einem modernen Leben, das frei und demokratisch ist, aber das muss wesentlich genügsamer sein, denn sonst stellen wir fest, dass wir zugrunde gehen an einem Zielkonflikt. Der Zielkonflikt ist, wenn wir Effizienz, wenn wir materiellen Wohlstand und immer mehr Digitalisierung und auch sonstigen technischen Fortschritt voranbringen, dann geht das logischerweise zu Lasten der Krisenstabilität und damit auch der Sicherheit. Coronabonds - Streit um EU-Finanzhilfen Gemeinschaftliche Anleihen aller EU-Staaten oder ESM, der Rettungsmechanismus aus der Finanzkrise – in der EU ist ein Streit darüber entbrannt, wie die immensen finanziellen Herausforderungen der Coronakrise bewältigt werden sollen. Ein Überblick. Stunde der Wahrheit nach der Krise Schulz: Herr Paech, jetzt müssen wir an der Stelle ein bisschen aufpassen, dass wir nicht zynisch werden. Wir sprechen ja über ein Virus, das weltweit schon viele zehntausende Menschenleben gefordert hat, weil Sie sagen, wer nicht hören will, muss fühlen. Wir sehen, dass in dieser konkreten Situation mit dieser konkreten Bedrohung Menschen auch dazu in der Lage sind, den von Ihnen ja auch an anderer Stelle geforderten Verzicht zu üben. Ist das nicht der Beweis dafür, dass die Menschen nach Priorität auch differenzieren können? Paech: Noch nicht ganz, weil unter Zwang in der Lage zu sein, sich auf das Nötige zu beschränken oder etwas genügsamer zu werden, das ist die eine Sache. Aber wenn diese Krise vorbei ist, dann wird auch eine Art Stunde der Wahrheit aus der Sicht einer nachhaltigen Entwicklung in Erscheinung treten, weil dann werden wir sehen, ob wir wirklich das, was wir in der Krise geübt haben, auch fortsetzen, oder ob Leute umgekehrt sagen und sich dann in Wohlstandstrotz üben, jetzt haben wir nach dieser Zwangspause eigentlich unseres Steigerungsprozesses das Recht damit auch erworben, jetzt wieder richtig zu prassen und weiter loszulegen. Ich würde sagen, die Antwort liegt irgendwo in der Mitte. Ich glaube, dass ein großer Teil der jetzt von den Corona-Maßnahmen betroffenen Bevölkerung sicherlich in der Lage sein wird, vielleicht etwas kritischer zu reflektieren, was wir da eigentlich treiben. Aber es wird auch andere Teile der Gesellschaft geben, die sich nicht so leicht davon abbringen lassen, alles zu tun, um zum Business as usual zurückzukehren. Aber noch mal zu dem Zynismus. Es war nicht so gemeint, dass ich kein Mitleid mit den Menschen habe, die von der Corona-Krise betroffen sind. Dieses "wer nicht hören will, muss fühlen" oder "nicht lernen will, muss fühlen" bezieht sich auf die Gesellschaft als Ganzes, und dasselbe hätte man auch sagen können, als die Lehman-Brothers-Krise ausbrach. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Niko Paech im Gespräch mit Sandra Schulz
Die Coronakrise wird nach Ansicht des Ökonoms und Wachstumskritikers Niko Paech zum Lehrmeister eines Wandels, vor dem sich die Gesellschaft lange Zeit gedrückt habe. Die Erschütterung der Globalisierungsstrukturen durch eine Krise sei nur eine Frage der Zeit gewesen, sagte Paech im Dlf.
"2020-04-08T08:10:00+02:00"
"2020-04-09T10:06:45.675000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-folgen-fuer-die-wirtschaft-man-haette-der-krise-100.html
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Welt befürchtet Eskalation zwischen Nordkorea und den USA
Der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-Un (m.) und seine Entourage bei einer Feier anlässlich einer Straßeneinweihung in Pjöngjang. (AFP) Was ist dran an den Berichten über die Vorbereitungen der US-Regierung für einen Angriff auf Nordkorea? Ein Vertreter der US-Regierung hat einen entsprechenden TV-Bericht von NBC zurückgewiesen - er sei schlicht falsch. Ein anderer Vertreter der Regierung sagte, der Beitrag sei bestenfalls spekulativ. NBC hatte unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise berichtet, die USA seien zu einem konventionellen Angriff auf Nordkorea bereit, wenn die Verantwortlichen von einem bevorstehenden neuen Atomwaffentest überzeugt seien. Zwei US-Zerstörer, bewaffnet mit Marschflugkörpern des Typs "Tomahawk", halten sich bereits in der Nähe der koreanischen Halbinsel auf. Einer davon sei etwa 480 Kilometer von dem mutmaßlichen Atomtestgelände entfernt. Hinweise auf nordkoreanischen Atomtest Zuletzt hatte es Hinweise gegeben, dass Nordkorea nach mehreren Raketentests einen neuen Atomwaffentest unternehmen könnte - möglicherweise sogar schon morgen - zum 105. Geburtstag des Staatsgründers Kim Il Sung. Das US-Korea-Institut der Johns-Hopkins-Universität berichtete, Satellitenbilder des Testgeländes im Nordosten zeigten anhaltende und neue Aktivitäten. China und Russland warnen vor Eskalation China warnte vor einer Eskalation und rief alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf. Außenminister Wang Yi sagte in Peking: "Wir fordern ein Ende der Provokationen und Drohungen, bevor die Lage nicht mehr zu retten ist." Wer Probleme auf der koreanischen Halbinsel mache, werde die Verantwortung übernehmen müssen. Ähnlich äußerte sich der Kreml: Man sei besorgt über die Spannungen und rufe alle Seiten zur Zurückhaltung auf. Japan bereitet sich nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters darauf vor, seine rund 60.000 Staatsbürger im Krisenfall aus Südkorea herauszuholen. Gestern warnte der japanische Premierminister Shinzo Abe sein Parlament davor, dass Nordkorea in der Lage sei, Geschosse mit dem Nervengas Sarin Richtung Japan zu schicken. Nordkorea-Experte warnt vor "rauchendem Trümmerfeld" Der Nordkorea-Experte Rüdiger Frank äußerte im DLF die Überzeugung, dass Nordkorea gewiss seine Langstreckenwaffen einsetzen werde, sollte man sie angreifen. Unter Verweis auf den jüngsten US-Beschuss einer Luftwaffenbasis in Syrien führte Frank aus: "In dem Moment, wo die Amerikaner 59 Raketen in Richtung Nordkorea schicken, liegt ein solcher Angriff vor, und dann werden die Nordkoreaner ohne jeden Zweifel mit allem, was sie haben, zurückschlagen." Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur warnte Frank: "Am Ende wird die koreanische Halbinsel ein rauchendes Trümmerfeld mit Millionen von Leichen sein, von den geopolitischen Konsequenzen ganz zu schweigen." (vic/tgs)
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Sorgenvoll schaut die Welt derzeit zur koreanischen Halbinsel: Plant das Regime des Machthabers Kim Jong Un einen neuen Atomversuch? Und sind die USA tatsächlich bereit, diesen zu verhindern? China und Russland warnen bereits: Ein Konflikt könne jederzeit losbrechen.
"2017-04-14T12:07:00+02:00"
"2020-01-28T10:23:30.783000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-atomversuch-welt-befuerchtet-eskalation-zwischen-100.html
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Ladenhüter für den Tank
Super, Super Plus, Super E10, viele Autofahrer sind verunsichert. Dieser Mann tankt Super E10 und schüttelt den Kopf. Was genau drin ist, weiß er nicht. Ob E10 der richtige Treibstoff für seinen Kleinwagen ist, weißer er auch nicht. "Ich tank auch gerade E10. Das normale Superbenzin gibt es ja nicht mehr und da muss ich jetzt dieses tanken. Da steht auch immer, verträgt ihr Fahrzeug E10, da habe ich auch noch nicht nachgeschaut. Ich tanke das jetzt einfach mal. Ich weiß selber noch nicht, was das genau ist. Ich finde es teuer. Abzocke, die älteren Wagen vertragen das nicht, also muss man sich auch einen neuen Wagen besorgen, wenn man E10 tanken möchte."Etwa drei Millionen Autos, vor allem ältere Modelle vertragen kein E10. Nur für diese Pkw stellen die Tankstellen nach wie vor Super Plus bereit, ein Superbenzin mit fünfprozentigem Ethanolgehalt, teurer als E10, aber garantiert für alle Benziner verträglich. Mehr als 90 Prozent der Fahrzeuge lassen sich ohne Probleme mit dem neuen Agrokraftstoff E10 betanken, heißt es bei der Mineralölwirtschaft. Trotzdem tanken etwa 60 Prozent der Autofahrer das sogenanntes Super Plus. Ein Problem für die Raffinerien, erklärt Klaus Picard, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Mineralölwirtschaft."Wir können gar nicht so viel produzieren, deshalb nimmt man die Produktion aus ganz Deutschland zusammen und konzentriert sie auf die Regionen wo auf E10 umgestellt worden ist und dann kommt man soeben über die Runden. Heißt aber trotzdem, dass wir statt alle drei Tage die Tankstelle zu beliefern, drei bis viermal am Tag kommen müssen. Sie können sich die Kosten und auch den Aufwand vorstellen und es gibt gar nicht so viele Tanklastzüge um dieses in ganz Deutschland zu bewältigen. Trotz dieser Anstrengung laufen Tankstellen immer wieder mal leer." Die Präferenzen der Autofahrer könnten sowohl der Politik als auch den Mineralölkonzernen einen Strich durch die Rechnung machen. Klaus Picard weiß von Lieferengpässen in Baden-Württemberg und Franken. Dabei ist E10 noch nicht einmal flächendeckend in ganz Deutschland eingeführt. Die Branche setzt nun auf Beratung. "Es ist sehr schwer, weil es ja auch ziemliche Verwirrung gegeben hat. Ein Autoclub, der eigentlich sich Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat, hat eigentlich nur Kritik geübt und das ist falsch. Denn objektiv gesehen können über 90 Prozent der Autofahrer E10 tanken und sollten dies auch tun. Das ist das Ziel der Bundesregierung, wir setzen dieses Ziel um." Im Rahmen der Biokraftstoffstrategie der Bundesregierung sollen die etwa 15.000 Tankstellen in Deutschland eine gesetzlich vorgeschriebene Biokraftstoff-Quote von über sechs Prozent erfüllen. Wenn nicht ausreichend viele Autofahrer das Superbenzin mit zehnprozentigem Ethanolgehalt tanken, müssen die Tankstellen Strafe zahlen."Sie erfüllen die Quote des Gesetzes, um es einfach zu sagen, wenn sie in jeden Liter Diesel, 7 Prozent Biodiesel beimischen und jedem Liter Benzin, zehn Prozent Ethanol. Wenn sie drunter bleiben, zahlen sie pro fehlendem Liter Ethanol 40 Cent Strafe, das macht pro Liter, zwischen E5 und E10, zwei Cent aus. Der Verbraucher zahlt ja noch die Mehrwertsteuer drauf, sind wir bei etwa 2,5 Cent, das sind die Kosten." Kosten, die letztendlich der Verbraucher zahlt. Axel Bülow, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes freier Tankstellen."Wichtig ist, dass wir das jetzt abstellen und dass der Kunde umfassend über die Verträglichkeit seines Fahrzeuges für E10 informiert wird. Warum soll er Geld verschenken und warum soll er weiter die Umwelt belasten mit alten Kraftstoffen." Die Informationszentrale für die europäische Automobilwirtschaft DAT bietet eine ständig aktualisierte Broschüre zur E10-Verträglichkeit der Autos an.
Von Verena Kemna
Was der Autofahrer nicht kennt, tankt er nicht. Super E10, der neue Sprit mit zehn Prozent Bioethanol aus nachwachsenden Rohstoffen, ist bislang der Ladenhüter an den Tankstellen.
"2011-03-02T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:22:02.238000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ladenhueter-fuer-den-tank-100.html
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Ex-Polizeipräsident Albers entschuldigt sich bei Opfern
Wolfgang Albers, ehemaliger Polizeipräsident von Köln, sagte vor dem Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag aus. (dpa/picture alliance/Oliver Berg) "Ich bitte die betroffenen Frauen um Verzeihung," sagte Albers. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung seien Taten, die in ganz besonderem Maße verletzten und demütigten. Albers war nach der eskalierten Silvesternacht mit den massenhaften sexuellen Übergriffen auf Hunderte Frauen, Diebstählen und dem viel kritisierten Polizeieinsatz in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Albers wurde vorgeworfen, die Öffentlichkeit nach den Vorfällen nicht rechtzeitig informiert und Details über die Herkunft der Verdächtigen zurückgehalten zu haben. Der Polizei in Köln wurde unter anderem auch vorgehalten, keine Einsatzkräfte nachgefordert zu haben und dass einige Mitarbeiter vor Mitternacht in den Feierabend gegangen seien. Polizei, Bundespolizei und Ordnungsamt spielen "Schwarzer Peter" Im Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags sagte Albers als Zeuge aus. Er gab an, zwischen Weihnachten und Neujahr im Urlaub gewesen zu sein. "Insofern war ich in die konkrete Vorbereitung dieses Einsatzes nicht eingebunden", sagte er. In bisherigen Zeugenaussagen vor dem Ausschuss ist deutlich geworden, dass die Kölner Polizei, die Bundespolizei sowie das Ordnungsamt in der Nacht wohl schlecht kommuniziert hätten, berichtet unsere Korrespondentin Vivien Leue. So habe kein übersichtliches Bild der Lage entstehen können. Jeder habe nur seinen Bereich überwacht. Das führe derzeit zu einem "Schwarze-Peter-Spiel", wer schuld sei: So habe beispielsweise Wolfgang Wurm, der Präsident der Bundespolizei-Stelle in St. Augustin, ausgesagt, seine Beamten hätten lediglich den Bahnhof und die Bahnbrücken im Blick gehabt. Seine Behörde sei zudem auf eine größere terroristische Bedrohung eingestellt gewesen - jedoch nicht auf einen Anstieg von Delikten wie Diebstahl. (cvo/kis)
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Kölns ehemaliger Polizeipräsident Wolfgang Albers musste nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht seinen Posten räumen - nun hat er sich bei den Opfern entschuldigt. Dass die Polizei Köln unter seiner Führung den Frauen nicht ausreichend Schutz geben konnte, bewege ihn seit diesem Tag, sagte er vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf.
"2016-06-13T17:45:00+02:00"
"2020-01-29T18:35:04.492000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/koelner-silvesternacht-ex-polizeipraesident-albers-100.html
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